Affektive Erkrankungen und Lebensalter [1 ed.] 9783896448231, 9783896730626

Der Umgang mit depressiven Erkrankungen und anderen Störungen erfordert eine kritische diagnostische Auseinandersetzung.

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German Pages 164 Year 1999

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Affektive Erkrankungen und Lebensalter [1 ed.]
 9783896448231, 9783896730626

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H

Peter Hartwich ♦ Steffen Haas Konrad Maurer ♦ Burkhard Pflug (Hrsg.)

Affektive Erkrankungen und Lebensalter Mit Beiträgen von: J. Eckert, P. Fey, J. Fritze, M. Grube, S. Haas, P. Hartwich, S. Krämer, K. Maurer, W. E. Müller, B. Pflug, F. Poustka, K. Schwarzenau, H.-W. Travers, S. Volk, B. Weber, E. Weinei, T. Wetterling, F. T. Zimmer

Verlag Wissenschaft & Praxis

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Affektive Erkrankungen und Lebensalter : hrsg. von P. Hartwich ... Mit Beiträgen von: J. Eckert... - Sternenfels ; Berlin : Verl. Wiss, und Praxis, 1999 ISBN 3-89673-062-2 NE: Hartwich, Peter [Hrsg.]; Eckert, Joachim [Mitverfasser];

ISBN 3-89673-062-2 © Verlag Wissenschaft & Praxis

Dr. Brauner GmbH 1999 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­ tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über­ setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektro­ nischen Systemen. Wichtiger Hinweis - Produkthaftung: Der Verlag kann für Angaben über Dosierungs­ anweisungen und Applikationsformen keine Gewähr übernehmen. Da trotz sorgfältiger Bearbeitung menschliche Irrtümer und Druckfehler nie gänzlich auszuschließen sind, müssen alle Angaben zu Dosierungen und Applikationen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Printed in Germany

Inhalt Jürgen Fritze Diagnostische Einteilung der Affektiven Störungen.....................................11 Fritz Poustka Gibt es Verlaufsbesonderheiten bei bipolaren Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter................................................................................ 21

Tilman Wetterling Besonderheiten affektiver Störungen im Alter..............................................29

Burkhard Pflug Zur Bedeutung der inneren Uhr bei affektiven Störungen............................39 Stephan Volk Schlafstörungen und Altersdepression...........................................................53

Heinz-Werner Travers Frühe Symptome bei Depressionen.............................................................. 59

Sabine Krämer ♦ Elke Weinel ♦ Burkhard Pflug Bornavirus und Depression........................................................................... 67 Walter E. Müller Pharmakologische Grundlagen der neueren Antidepressiva und ihre Bedeutung für die therapeutische Anwendung.............................................75

Steffen Haas Klinische Auswahlkriterien beim Einsatz von Antidepressiva...................... 87

Friederike T. Zimmer Verhaltenstherapeutische Strategien bei Depressionen unter dem Gesichtspunkt der Zeit..................................................................113

Joachim Eckert ♦ Katrin Schwarzenau Bernhard Weber ♦ Konrad Maurer Repetitive transkranielle Magnetstimulation zur Therapie depressiver Erkrankungen................................................................................. 129 Michael Grube ♦ Peter Hartwich Läßt sich der Schlafentzugseffekt durch Augmentation mit Lithium verbessern?....................................................................................137

Peter Fey ♦ Wilfried Köhler ♦ Burkhard Pflug Lichttherapie bei Depressionen...................................................................147 5

Autoren Joachim Eckert, Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I, J.-W.Goethe-Universität, Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt/Main Peter Fey, Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Klinikum der J.-W.-Goethe-Universität Frankfurt/Main, Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt/Main Jürgen Fritze, Prof. Dr. med., Zentrum der Psychiatrie, Klinikum der J.-W.Goethe-Universität Frankfurt/Main, Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt/Main

Michael Grube, Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psycho­ therapie, Städt. Kliniken, Gotenstraße 6-8, 65907 Frankfurt a.M.-Höchst

Steffen Haas, Dr. med., Ärztlicher Direktordes Psychiatrischen Krankenhauses Eichberg, Klosterstraße 4, 65346 Eltville a. Rh. Peter Hartwich, Prof. Dr. med., Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psycho­ therapie, Städt. Kliniken, Gotenstraße 6-8, 65907 Frankfurt a.M.-Höchst

Sabine Krämer, Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindesund Jugendalters, Deutschordenstraße 50, 60528 Frankfurt/Main KonradMaurer, Prof. Dr. med., Leiter der Abteilung Klinische Psychiatrie I des Zentrums der Psychiatrie, Klinikum der Universität Frankfurt/Main, HeinrichHoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt/Main

Walter E. Müller, Prof. Dr., Pharmakologisches Institut für Naturwissenschaftler, Biozentrum Niederursei, Universität Frankfurt, Marie-Curie-Straße 9, 60429 Frankfurt/Main Burkhard Pflug, Prof. Dr. med., Leiterder Abteilung Klinische Psychiatrie II des Zentrums der Psychiatrie, Klinikum der J.-W.-Goethe-Universität Frank­ furt/Main, Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt/Main Fritz Poustka, Prof. Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Klinikum der J.-W.-Goethe-Universität Frankfurt/ Main, Deutschordenstraße 50, 60590 Frankfurt/Main

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Autoren

Katrin Schwarzenau, Ärztin, Abteilung Klinische Psychiatrie I des Zentrums der Psychiatrie, Klinikum der Universität Frankfurt/Main, Heinrich-HoffmannStraße 10, 60528 Frankfurt/Main

Heinz-Werner Travers, Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum der J.-W.-Goethe-Universität Frankfurt/Main, Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt/Main Stephan Volk, PD Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum der J.-W.-Goethe-Universität Frankfurt/Main, Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt/Main

Bernhard Weber, Dr. med., Oberarzt der Abteilung Klinische Psychiatrie I des Zentrums der Psychiatrie, Klinikum der Universität Frankfurt/Main, HeinrichHoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt/Main Elke Weinel, Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Klinikum der J.-W.-Goethe-Universität Frankfurt/Main, Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt/Main

Tilman Wetterling, Prof. Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I, Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum der J.-W.-Goethe-Uni­ versität Frankfurt/Main, Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt/Main

Friederike T. Zimmer, Dipl. Psych., Private Tübinger Akademie für Verhaltens­ therapie TAVT GmbH, David-von-Stein-Weg 26, 72072 Tübingen-Bühl

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Einleitung Das Buch faßt die überarbeiteten Beiträge des 4. Frankfurter Psychiatriesympo­ sions zusammen. Die wichtigsten Themen der Affektiven Erkrankungen und ih­ ren Bezug zum Lebensalter, die den behandelnden Arzt bewegen, werden ak­ tuell dargestellt. Dazu gehört eine kritische Auseinandersetzung mit unseren diagnostischen Systemen. Weiterhin erfordert die große Verbreitung der Affekti­ ven Erkrankungen eine Differenzierung nach dem Lebensalter hinsichtlich Vor­ kommenshäufigkeit, Verlaufsgestaltung und inhaltlich-psychopathologischer Ausformung. Hierzu werden neben dem mittleren Lebensalter sowohl aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch aus der Gerontopsychiatrie die typi­ schen Variationen und Therapieangebote ihrer Altersgruppe behandelt und wei­ tere Aspekte, wie Innere Uhr, Schlafarchitektur, Borna-Virus und Erstsymptome in ausgewogener und sachlicher prägnanter Weise mit einbezogen. Einen größeren Raum nehmen die Therapiemöglichkeiten ein, sie beziehen sich jedoch auf schwere depressive Erkrankungen und manische Zustände. Die neueren Antidepressiva werden in nach Wirksamkeit differenziertem Einsatz und Nebenwirkungsprofil kritisch und ausführlich dargestellt, wobei neben dem psychopharmakotherapeutischen Aspekt andere ergänzende Therapieverfahren, wie Verhaltenstherapie, Magnetstimulation, Lichttherapie und eine Variante des Schlafentzugs, die mit Lithium kombiniert wird, beschrieben werden.

Peter Hartwich

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Jürgen Fritze

Diagnostische Einteilung der Affektiven Störungen Einführung Traditionell werden in der Medizin Diagnosen auf der Basis der Anamnese und klinischer Untersuchungsbefunde gestellt. Eine diagnostische Entität wird dann angenommen, wenn sich bestimmte Symptome und Beschwerden zu charakte­ ristischen Syndromen mit charakteristischen Verläufen gruppieren (Abb. 1). Im optimalen Fall läßt sich eine umschriebene Ätiologie identifizieren, für die es spezifische Marker gibt, die eine externe Validierung der klinisch identifizierten Entität erlauben. Für die Mehrzahl der heute der Psychiatrie „verbliebenen" Krankheiten fehlen externe Validierungskriterien, wenn man von familiärer Häufung als Ausdruck z.B. genetischer Einflüsse und vom Langzeitverlauf ab­ sieht. Deshalb bleiben psychiatrische Diagnosen Konventionen.

D ia g nos e- Kr ite r ie n in Anlehnung an Kahlbaum

klinische Symptomatik (Histo-)Pathologie Pathophysiologie Ätiologie Verlauf Prognose therapeutisches Ansprechen_

> sind gleich

Abbildung 1: Für die Annahme einer diagnostischen Entität zu erfüllende Kriterien

Desto wichtiger ist es im Interesse der Kommunikation und der Entwicklung ei­ nigermaßen verläßlicher, vor allem aber verifizierbarer und falsifizierbarer Handlungsanweisungen, diese Konventionen möglichst zweifelsfrei festzulegen, d.h. für Reliabilität zu sorgen. Dieser Schritt wurde erstmals u.a. unter dem Druck amerikanischer Krankenversicherer mit der dritten Version des Diagno­ stic and Statistical Manual (DSM-Ill) der American Psychiatrie Association voll­ 11

Jürgen Fritze

zogen. Dabei wurde im Grundsatz - wenn auch nicht durchgehend - auf die bisherige ätiologische Klassifikation (Abb. 2) verzichtet, d.h. die klinische Phä­ nomenologie steht im Fokus. Die Logik dieses Vorgehens liegt darin, daß keine der bis dahin diskutierten, mutmaßlichen Ätiologien tatsächlich bewiesen ist, und andererseits, daß das Haften an geglaubten Ätiologien die ÄtiologieForschung hemmt.

Abbildung 2: Traditionelles ätiologisches Klassifikationskonzept affektiver Störungen am Beispiel des hypothetischen Konzepts von Kielholz (1957) einer Kontinuität zwischen psychogener und somatogener Dimension.

Dieser Schritt zu phänomenologischen Diagnostik wurde von der internationa­ len Klassifikation der Krankheiten (ICD; WHO) mit dem Übergang von ICD-9 zur derzeit gültigen ICD-10 (Dilling et al. 1991) nachvollzogen. Das amerikani­ sche Klassifikationssystem hat diesen Weg über DSM-IIIR zum derzeit gültigen DSM-IV (APA 1994) weiterentwickelt. Das Aufgeben der mutmaßlichen Ätiolo­ gie als Klassifikationskriterium bedeutet aber im Umkehrschluß nicht, diese mutmaßlichen Ätiologien wären falsifiziert worden. Die als Konvention festge­ legten diagnostischen Entitäten bedürfen der Validierung (Abb. 3). Insofern ist sehr wohl zu erwarten, daß die Klassifikationssysteme weiteren Wandel erfah­ ren werden. Angesichts dessen können die Diagnosen nur „in aller Bescheiden­ heit" (K. Schneider) gestellt werden. Um diesen Prozeß zu fördern, ist die Diagnostik multiaxial strukturiert, d.h. es können neben der psychischen Hauptdiagnose ggf. Persönlichkeitsstörungen und körperliche Krankheiten kodiert werden, außerdem das soziale Funktions­ niveau, schließlich psychosoziale Belastungsfaktoren. Die Diagnostik erlaubt so viele comorbide Diagnosen (z. B. parallele Persönlichkeitsdiagnose, Störungen durch psychotrope Drogen, somatische Comorbidität) wie für die umfassende Beschreibung des Einzelfalls notwendig. Für die affektiven Störungen ist dies auch insofern bedeutsam, als sich einer anhaltenden, subsyndromalen Störung 12

Diagnostische Einteilung

der

Affektiven Störungen

wie der Dysthymie (s.u.) eine zusätzliche Depression überlagern kann („double depression"). Der Schweregrad wird in ICD-10 nicht konsequent nach einem System festgelegt, sondern ergibt sich z.T. aus der Anzahl erfüllter Kriterien (z.B. bei der Depression), z.T. nach dem Ausmaß der sozialen Beeinträchtigung (z.B. Hypomanie versus Manie). Die Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens darf hin­ terfragt werden. Es ist auch fraglich, ob tatsächlich das Ausmaß der Beeinträch­ tigung mit der Anzahl realisierter Symptome korreliert (Faravelli et al. 1996). DSM-IV spezifiziert demgegenüber den Schweregrad nur nach der Beeinträchti­ gung sozialer (inkl. beruflicher) Funktionen.

Die vorgegebenen Operationalisierungen tragen nur zur Reduktion der Kriterienvarianz (Abb. 3) bei. Strategien zur Reduktion weiterer Varianzquellen (Abb. 3) wie die Verwendung strukturierter Interviews, die derzeit häufig z.B. im Rahmen epidemiologischer Untersuchungen eingesetzt werden, leisten der Deprofessionalisierung der psychiatrischen Diagnostik Vorschub. Ob sie die psych­ iatrische Erfahrung im einzelnen Behandlungsfall ersetzen können, ist zweifel­ haft. Jedenfalls sind psychiatrische Diagnosen kaum durch Abfragen von Items zu stellen. Diese können die sorgfältige Beobachtung z.B. von Verhalten und Motorik nicht ersetzen.

Diagnose Validität externe: prädiktiv:

Kriterienvarianz

Operationalisierung - Einschlußkriterien - Ausschlußkriterien - Symptomintensität - Symptomdauer

Beurteilervarianz

Training

Verlauf Prognose

konstruktiv: Genetik Pathophysiologie

interne:

Reliabilität

Konsistenz Übereinstimmung Stabilität

Informationsvarianz (halb-) strukturiertes Interview Situationsvarianz

(halb-) strukturiertes Interview

Abbildung 3: Kriterien für diagnostische Validität und die diagnostische Reliabilität einschränkende Varianzquellen

13

Jürgen Fritze

Prinzipien der Diagnostik affektiver Störungen nach ICD-10 und DSM-IV Im Sinne der Abkehr von einer ätiologischen und Zuwendung zu einer phäno­ menologischen Diagnostik wurde die traditionelle Unterscheidung der neuroti­ schen und endogenen Depression aufgegeben. Ordnungsprinzipien sind allein Schweregrad und Verlaufstyp. Für diesen Paradigmenwechsel spricht, daß bei depressiven Störungen aversive Lebensereignisse („reaktiv", „psychogen") kei­ nen prädiktiven Wert für den Schweregrad, für die Therapieresponse, den Krankheitsverlauf haben. Außerdem findet sich eine familiäre Häufung glei­ chermaßen bei Kranken mit und ohne solche Lebensereignisse. Bezüglich der Verlaufstypen wird die (auch spontan) reversible Einzelepisode von den anhal­ tenden und den rezidivierenden Störungen unterschieden. Abweichend von DSM-IV erlaubt ICD-10 unabhängig vom Schweregrad einer depressiven Episo­ de die Spezifizierung eines „somatischen Syndroms" (Tab. 1), „das ebenso me­ lancholisch, biologisch, vital oder endogenomorph genannt werden" (ICD-10) könne. Entsprechend kann im DSM-IV eine Depression mit melancholischen Merkmalen spezifiziert werden. Tabelle 1

ICD-10 Das „somatische" Syndrom

ist nur zu diagnostizieren, wenn wenigstens vier der folgenden Sym­ ptome eindeutig feststellbar sind, wie 1. 2.

3. 4. 5. 6. 7. 8.

Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten, Mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder günstige Ereignisse emotional zu reagieren, Früherwachen (> 2 h), Morgentief, objektivierte deutliche psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust (> 5 % in 1 Monat), Libidoverlust.

Für die Episodendauer und die Dauer anhaltender Störungen werden letztlich willkürlich Mindestzeiten gefordert. Unter den rezidivierenden Störungen wird nur die bipolare (manisch-depressive) von der depressiven (früher unipolar­ depressiven) Störung unterschieden (abgesehen von Restkategorien, auf die 14

Diagnostische Einteilung der Affektiven Störungen

nicht näher eingegangen werden soll). Die anhaltenden, syndromal am ehesten den früheren „neurotischen" Depressionen entsprechenden Störungen sind die Dysthymie (subsyndromale, anhaltende unipolare Depression) und die Zyklo­ thymie (subsyndromal bipolar). Ein Teil der früheren „neurotischen" Depressio­ nen wird sich auch in der ICD-10 Kategorie der gemischten Angst-Depression wiederfinden, die in DSM-IV einer Restkategorie subsumiert wird. Abweichend vom DSM-IV erlaubt ICD-10 die Diagnose der rezidivierenden kurzen depressi­ ven Störung (F38.1). Während DSM-IV die rezidivierende Depression mit Hy­ pomanien als gesonderte Kategorie (bipolar II) ausweist, erscheint diese in ICD10 nur als Restkategorie. DSM-IV erlaubt als weitere Verlaufscharakteristika die saisonale Bindung und das Rapid Cycling (>4 Episoden pro Jahr), in ICD-10 er­ scheint die saisonale Bindung nur als u.a. zur rezidivierenden depressiven Stö­ rung dazugehöriger Begriff.

Abbildung 4 versucht, einen synoptischen Überblick über die affektiven Störun­ gen zu geben. In Tabelle 2 werden ICD-10 und DSM-IV bezüglich der affekti­ ven Störungen einander gegenübergestellt. Tabelle 3 vergleicht die diagnosti­ schen Kriterien für die depressive Episode in ICD-10 und DSM-IV.

Ätiologie

Verlauf

Schweregrad

symptom. Besonder­ heiten

Abbildung 4: Versuch einer Synopsis der affektiven Störungen

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Jürgen Fritze

Tabelle 2: Gegenüberstellung der Einteilung affektiver Störungen in ICD-IOund DSM-IV DSM-IV

ICD-10 F30 Manische Episode Inklusive: Bipolare Störung, einzelne manische Episode F30.0 Hypomanie F30.1 Manie ohne psychotische Symptome F30.2 Manie mit psychotischen Symptomen • Manie mit parathymen psychotischen Symptomen • Manie mit synthymen psychotischen Symptomen • Manischer Stupor F31 Bipolare affektive Störung F31.0 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig hypomanische Episode F31.1 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig manische Episode ohne psychotische Symptome F31.2 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig manische Episode mit psychotischen Symptomen F31.3 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig m/tte/gradige oder leichte depressive Episode F31.4 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome F31.5 Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen F31.6 Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig gemischte Episode Exklusive: F38.0 Einzelne gemischte affektive Episode F31.7 Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig remittiert F31.8 Sonstige bipolare affektive Störungen Bipolare II Störung Rezidivierende manische Episoden F31.9 Bipolare affektive Störung, nicht näher bezeichnet F32 Depressive Episode • F32.0 Leichte depressive Episode: mindestens 2 oder 3 Symptome. Der betroffene Patient ist im allgemeinen davon beeinträchtigt, aber oft in der Lage, die meisten Aktivitäten fortzusetzen. • F32.1 Mittelgradige depressive Episode: 4 oder mehr Symptome und der Patient hat meist große Schwierigkeiten, alltägliche Aktivitäten fortzusetzen. • F32.2 Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome: Eine depressive Episode mit mehreren, quälenden Symptomen. Typischerweise bestehen ein Verlust des Selbstwertgefühls und Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld. Suizidgedanken und -handlungen sind häufig und meist liegen einige somatische Symptome vor. • F32.3 Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen F33 Rezidivierende depressive Störung • F33.0 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode • F33.1 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode • F33.2 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome • F33.3 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen • F33.4 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert • F33.8 Sonstige rezidivierende depressive Störungen • F33.9 Rezidivierende depressive Störung, nicht näher bezeichnet F34 Anhaltende affektive Störungen • F34.0 Zyklothymia (Zykloide Persönlichkeit; Zyklothyme Persönlichkeit) • F34.1 Dysthymia (Depressive Neurose, Neurotische Depression) F38.1 Rezidivierende kurze depressive Episoden F41.2 Angst und depressive Störung, gemischt

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__________ Mood Episodes: • Major Depressive Episode • Manie Episode • Mixed Episode • Hypomanie Episode

• • •

Mood Disorders: Depressive Disorders:____________ Major Depressive Disorder Dysthymie Disorder Depressive Disorder Not Otherwise Specified

Bipolar Disorders:_______________ • Bipolar I Disorder • Bipolar II Disorder • Cyclothymic Disorder • Bipolar Disorder Not Otherwise Specified

Other Mood Disorders:_____________ • Mood Disorder Due to... • (Indicate the General Medical Condition) • Substance-Induced Mood Disorder • Mood Disorder Not Otherwise Specified

Specifiers describing the most recent mood episode____________________ • Mild • Moderate • Severe Without Psychotic Features • Severe With Psychotic Features • In Partial Remission • In Full Remission (for Major Depressive Episode, for Manic Episode, for Mixed Episode)

• • • • •

Chronic With Catatonic Features With Melancholic Features With Atypical Features With Postpartum Onset

Specifiers describing course of recur­ rent episodes Longitudinal Course Specifiers (With or Without Full Interepisode Recovery) • With Seasonal Pattern • With Rapid Cycling

Diagnostische Einteilung

der

Affektiven Störungen

Tabelle 3: Gegenüberstellung der Kriterien für eine depressive Episode in ICD-10 und DSM-IV

DSM-IV

ICD-10

F32 Depressive Episode über mindestens zwei Wochen fast täglich und über die meiste Zeit des Tages anhaltend eine Mindestzahl (davon abhängig der Schweregrad) der folgenden ersten drei und der weiteren sieben Symptome 1. gedrückte Stimmung, reagiert nicht auf Lebensumstände 2. Verminderung von Antrieb und Aktivität; Müdigkeit 3. Minderung der Fähigkeit zu Freude, des Interesses und der Konzentration 4. Verlust von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen 5. Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit 6. Wiederkehrende Todes-oder Suizidgedanken oder suizidales Verhalten 7. Subjektiv oder objektiv vermin­ dertes Denk- oder Konzentrati­ onsvermögen, Unschlüssigkeit oder Unentschlossenheit 8. Subjektive oder objektive psy­ chomotorische Agitiertheit oder Hemmung 9. Schlafstörungen jeder Art 10. Appetit vermindert oder gestei­ gert mit entsprechender Gewichtsänderung

Major Depressive Episode Episode Features

• •

period of at least 2 weeks during which there is either de­ pressed mood



or the loss of interest or pleasure in nearly all activities.

In children and adolescents, the mood may be irritable rather than sad. The individual must also experience at least four additional symptoms 1. changes in appetite or weight, 2. changes in sleep, 3. changes in psychomotor activity; 4. decreased energy; tiredness, and fatigue 5. feelings of worthlessness or guilt; 6. difficulty thinking, concentrating, or making decisions; 7. or recurrent thoughts of death or suicidal ideation, plans, or at­ tempts. The symptoms must persist for most of the day, nearly every day, for at least 2 consecutive weeks.

The episode must be accompanied by clinically significant distress or im­ pairment in social, occupational, or other important areas of functioning.

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Jürgen Fritze

Schlußfolgerungen Der weitgehend atheoretische Ansatz der ICD-10 und des DSM-IV erleichtert die Diagnostik und Therapie insbesondere der Depression, indem Hypothesen zur Ätiologie nicht mehr kurzschlüssige therapeutische Schlußfolgerungen (z.B. reaktive Depressionen bedürften nur der wohlmeinenden Beratung und Hilfe bei der „Aufarbeitung"; psychogene Depression sei ausschließlich psychothera­ peutisch zu behandeln) nach sich ziehen. Auch hilft der phänomenologische Ansatz falsche Kausalketten vermeiden: z.B. kann ein chronischer Partnerkon­ flikt zwar eine Depression mitbedingen, ebenso ist es aber umgekehrt möglich, daß eine autochton entstandene Depression einen Partnerkonflikt bedingt. Inso­ fern können beide neuen Klassifikationssysteme helfen, der bisherigen Unter­ diagnostik und Untertherapie (Lepine et al. 1997) entgegenzuwirken, auch wenn die Ausweitung der Diagnose Depression und die damit verbundene, scheinbare Prävalenzzunahme kritisiert wird (Gross & Huber 1996). Zweifellos darf die operationalisierte Diagnostik nicht zu einer „Kochbuch-Psychiatrie" füh­ ren, was sich schon aus Gründen der weiteren Varianzquellen neben der Kriterienvarianz (Abb. 3) ausschließt. Die „Depres"-Studie (Lepine et al. 1997) offenbarte anhand einer europaweiten Repräsentativerhebung, daß nur 57% Hilfe suchten, überwiegend beim Allge­ meinarzt, wobei nur 31 % irgendeine Pharmakotherapie, nur 25% ein Antide­ pressivum erhielten. Hierbei lagen die Zahlen für Deutschland deutlich unter den wiedergegebenen Mittelwerten für Europa (Abb. 5). Entsprechend der WHO-Versorgungsstudie machen psychische Störungen ca. 25% der Klientel von Haus- und Allgemeinärzten aus. Dabei werden nur bis zu 60% der psychi­ schen Störungen tatsächlich als solche identifiziert, nur Amitriptylin (Taragano et al. 1997)

Clomipramin (Petracca et al. 1996)

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Besonderheiten affektiver Störungen im Alter

Es fällt auf, daß generell bei depressiven Störungen bei einer organischen Er­ krankung vor allem Medikamente mit geringen anticholinergen Nebenwirkun­ gen empfohlen werden. Es ist aber anzumerken, daß kaum kontrollierte Studien bei Altersdepression existieren. Die hier dargestellten Therapieempfehlungen beruhen daher vorwiegend auf tradierten Erfahrungen.

Zum Schluß noch einige grundsätzliche Empfehlungen zur medikamentösen Therapie bei Altersdepression: Wegen der erhöhten Nebenwirkungsrate bei älteren Patienten sollte



einschleichend aufdosiert werden, ebenso sollte nur sehr langsam abge­ setzt werden, abrupte Medikamentenwechsel sind zu vermeiden



nach bzw. vor Gabe von MAO-Hemmer ist eine längere Medikamenten­ pause, besonders vor Gabe von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern ein­ zuhalten



wegen des verringerten Metabolismus sollten (in Abhängigkeit vom Alter) niedrigere Dosierungen als bei jüngeren Patienten verordnet werden (1/3 bei über Achtzigjährigen)

Zusammenfassend ist festzustellen, daß im Alter an affektiven Störungen vor­ wiegend depressive Verstimmungen auftreten. Diese werden aber häufig nicht diagnostiziert, da die Symptomatik oft wenig charakteristisch ist. Da in vielen Fällen körperliche Beschwerden im Vordergrund stehen, ist der Einsatz spezifi­ scher Instrumente zur Diagnostik zu empfehlen. Die Behandlung sollte sich vor allem nach den Leitsymptomen und nach den Kontraindikationen richten. Im Alter sind an Kontraindikationen insbesondere körperliche Störungen zu be­ rücksichtigen.

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Tilman Wetterling

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Burkhard Pflug

Zur Bedeutung der inneren Uhr bei affektiven Störungen Der Psychiater sieht sich in seiner täglichen Praxis häufig mit Angaben und Be­ schwerden seiner Patienten konfrontiert, die auf das tagesrhythmische System (das circadiane System) hinweisen. Klagen über Schlafstörungen und Tages­ schwankungen von Stimmung und Antrieb sind prominente Symptome depres­ siver Erkrankungen. Als 1968 die therapeutischen Effekte des Schlafentzugs, den man als Eingriff in den 24-Stunden-Rhythmus auffassen kann, bekannt wurden, begann das Interesse stark zuzunehmen, gerade bei den phasischen Depressio­ nen das Verhalten des circadianen Systems genauer zu beobachten. Hierzu tru­ gen mehrere weitere Faktoren bei: 1.

Die Kenntnis des circadianen Systems war im Rahmen der Grundlagen­ wissenschaften weit fortgeschritten.

2.

Methoden zur Messung und Analyse bestimmter circadianer Parameter waren entwickelt worden und

3.

entsprechende Untersuchungen, die sich über ein bis mehrere Tage er­ strecken und viele zeitlich genaue Daten erfordern, kommen depressi­ ven Patienten aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur entgegen. Bei schi­ zophrenen oder manischen Patienten ist das nach eigenen Erfahrungen ein großes Problem.

Im folgenden sollen zunächst allgemeine Aspekte der inneren Uhr beschrieben werden, um dann auf Untersuchungen im Rahmen der Psychiatrie einzugehen.

1. Circadiane Rhythmen In einer Vielzahl biologischer Rhythmen bei Pflanzen und Tieren nehmen eini­ ge eine Sonderstellung ein, weil ihre Perioden denen rhythmischer Vorgänge in der geo-physikalischen Umwelt entsprechen. Dies trifft für die Tagesrhythmik zu, ebenfalls für die Gezeiten-, Mond- und Jahresrhythmen bestimmter Orga­ nismen. Man nennt diese Rhythmen auch „circa"-Rhythmen, weil sie endogen vorprogrammiert sind mit einer etwas abweichenden Periodenlänge und von Außenfaktoren synchronisiert werden können. Solche Außenfaktoren bezeich­ net man als Zeitgeber.

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Burkhard Pflug

Die circadianen Rhythmen (circa - etwa, dies - Tag) sind die für den Menschen wichtigsten Circa-Rhythmen. Sie wurden in den letzten drei Jahrzehnten inten­ siv untersucht (Wever 1979). Dabei stellte sich heraus, daß unter Ausschluß äußerer Zeitgeber im sog. Frei­ lauf (z. B. in Höhlen, in Bunkern) der circadiane Rhythmus des Menschen länger als 24 Stunden ist (etwa 25 +/- 0,5 Stunden).

Täglich wird diese etwas langsamer gehende innere Uhr durch äußere Zeitgeber auf eine Periode von 24 Stunden einreguliert. In den ersten Bunkerexperimen­ ten nahm man an, daß für den Menschen vor allem soziale Signale als Zeitgeber fungieren (z.B. Kenntnis der Uhrzeit, regelmäßige Aktivitäten), während für die Tiere das Tageslicht der wichtigste Steuerfaktor ist. In den letzten Jahren konnte gezeigt werden, daß Licht auch für den Menschen ein wichtiger Zeitgeber ist. Es ist jedoch notwendig, daß das Licht eine bestimmte Helligkeit nicht unterschrei­ tet oder charakteristische Übergänge von dunkel zu hell oder umgekehrt (also Dämmerung) zeigt (Boivin et al. 1996). Biologisch aktives Licht bedarf einer Be­ leuchtungsstärke von mindestens 2000 Lux. Zum Vergleich: an sonnigen Tagen können bis zu 100.000 Lux herrschen, unter üblicher künstlicher Beleuchtung im Wohnraum etwa 300 bis 500 Lux. Man kann daraus ableiten, daß ständiger Aufenthalt in künstlich beleuchteter Umgebung nicht ohne Einfluß auf das cir­ cadiane System des Menschen und auf seine Befindlichkeit sein könnte. Auch therapeutisch kann helles Licht genutzt werden (s. u.).

In der Anpassung des Organismus an die im 24-Stunden-Rhythmus sich ändern­ de Umgebung (externe Synchronisation) kommt dem Nucleus suprachiasmatikus (SCN) die Rolle als Koordinator zu; er hat weiterhin die Aufgabe, die ein­ zelnen rhythmisch ablaufenden Körperfunktionen aufeinander abzustimmen (interne Synchronisation). Die innere Uhr beim Menschen (und bei Säugetieren) besteht aus kleinen Kern­ gebieten im zentralen Nervensystem die oberhalb des Chiasma fasciculorum opticorum liegen und deshalb Nucleus suprachiasmatikus genannt werden; sie haben sich als circadiane Schrittmacher spezialisiert und zeigen alle Komponen­ ten einer Uhr (Fleissner 1996): Die Unruhe (entspricht dem circadianen Oszillator) von welcher über ein Ge­ triebe (die Kopplungsbahnen) die Zeigerstellung (circadiane Effektoren wie z.B. Antriebsverhalten) kontrolliert wird. Die Zeigerstellung muß über eine entspre­ chende Vorrichtung korrigierbar sein (welche bei der inneren Uhr der Zeitge­ bereingang ist). Der circadiane Oszillator schwingt mit einer Periodenlänge (t), die ungefähr 24 Stunden beträgt (beim Menschen 25 Stunden + /- 0,5). Die Schwingung ist selbsterregend und läuft unter konstanten Bedingungen mit der ihr eigenen und temperaturkompensierten Periodenlänge frei, zugrunde liegen 40

Zur Bedeutung der

inneren

Uhr bei affektiven Störungen

ihr Rückkopplungsprozesse in der Proteinbiosynthese. Ihre Phase ist durch Zeit­ geber verschiebbar und dadurch kann der endogene Rhythmus an eine äußere Zeitgeberperiodik (z.B. Hell-Dunkel-Wechsel im 24-Stunden-Rhythmus) ange­ paßt, also synchronisiert werden. Die Frage, warum die innere Uhr einen Circa-Rhythmus hat und nicht dem ge­ nauen geo-physikalischen 24-Stunden-Rhythmus entspricht, hat zu vielen Über­ legungen und Untersuchungen geführt. So konnte man zeigen, daß die Phasen­ beziehungen instabil werden, wenn die Periodenlängen von innerer Uhr und exogener Rhythmik sehr nahe oder genau beieinander liegen. Mittels Computer­ simulation konnte nachgewiesen werden, daß die Präzision eines Systems zu­ nimmt, wenn die Zahl von gekoppelten Oszillatoren mit ungenauen und zufäl­ lig streuenden Periodenlängen ansteigt (Enright 1980). Winfree (1986) bemerkt hierzu: „Eine begrenzte Inkonstanz mag sogar wünschenswert sein, besonders in einer konstanten Umgebung ... Warum sollte man versuchen, alles zur gleichen Zeit zu tun ? Wer sich gleichzeitig setzen und erheben will, erreicht keines von bei­ den. Ein gleichmäßiger Druck auf einen Nagel bewirkt weniger als ein Hagel kurzer Hammerschläge ... Mit einem Segelboot kann man direkt gegen den Wind vorankommen, wenn man hin- und herkreuzt; in einem Boot mit konstant festgestelltem Steuerruder ist dies nicht möglich ... Es ist besser, zu getrennten Zeiten zu schlafen und wach zu sein, als müde und benommen beides zu mi­ schen. ... Die Freiheit, sich von der Konstanz zu lösen, eröffnet Gelegenheiten, Wege zu finden, auf denen sich Aufgaben besser bewältigen lassen. In kompli­ zierten Reaktionen mögen Abstecher zu Extrembedingungen alle Teilprozesse zum Zuge kommen lassen; ein Zyklus erlaubt die zeitliche Trennung unverträg­ licher unvereinbarer Reaktionen. In solchen Anpassungsleistungen liegen die auffallendsten Vorteile circadianer Rhythmik".

Man geht davon aus, daß die Körperfunktionen beim Menschen verschiedenen circadian gehenden Uhren/Unteruhren unterliegen (Oszillatoren), die unter­ schiedliche Stärke haben und miteinander gekoppelt sind (multioszillatorisches System). Die Körpertemperatur beispielsweise folgt einem starken, die RuheAktivitätsrhythmik einem schwächeren Oszillator. Unter bestimmten Bedingun­ gen wie Erkrankungen, Alter, Einfluß von Medikamenten und Umwelteinflüs­ sen, kann die innere Abstimmung verändert und gestört werden. Als Parameter für Messungen im circadianen System werden neben der Körper­ temperatur, der Melatoninsekretion und der motorischen Aktivität die unter­ schiedlichsten physiologischen, psychologischen und biochemischen Funktio­ nen herangezogen. Als besondere Schwierigkeit ist dabei zu beachten, daß Messungen wie Blutabnahmen und Tests zu bestimmten Zeiten das circadiane 41

Burkhard Pflug

System als Zeitgeber beeinflussen können. Deshalb kommt kontinuierlichen Messungen von einigen wenigen Parametern über eine längere Zeitstrecke ohne wesentliche Beeinflussung der Versuchsperson oder des Patienten eine beson­ dere Bedeutung zu.

2. Depression und circadianes System Die Studien über das circadiane System während depressiver Episoden haben zu verschiedenen Modellvorstellungen geführt. Diese beziehen sich auf Verän­ derungen der Phasenpositionen zueinander oder zur 24-stündigen Periode, auf die Amplituden der Oszillatoren (Schwingungsbreite), auf unterschiedliche Pe­ riodenlängen (Desynchronisation) und auf Rückkopplungsprozesse z.B. von Oszillator und Effektorrhythmen. a) Im phase-advance ist die Phasenlage eines oder mehrerer circadianer Körper­ funktionen im Verhältnis zum 24-Stunden-Rhythmus der Umgebung vorver­ schoben. Solche Befunde beschrieben Wehr et al. 1980 anhand der circadianen MHPG-Exkretion, die im Vergleich zu Kontrollen bei bipolaren Patienten in der Depression etwa drei Stunden früher lag. Eine Analyse von 19 Studien in der Literatur zeigte für verschiedene physiologische und biochemische Parameter ähnliche Vorverschiebungen von Phasenpositionen in der Depression (Wehr und Goodwin 1981).

Wenn man nun annimmt, daß eine Beziehung zwischen diesem phase-advance und der Depression besteht, müßte ein Wechsel in die richtige Phasenposition einen therapeutischen Effekt haben. In einem solchen Experiment an sechs de­ pressiven bipolaren Patienten ergab sich durch Vorverlagerung der Schlafzeit bei zwei Patienten eine komplette Remission, zwei Patienten besserten sich teilweise. Dabei näherten sich die neuen Phasenpositionen der Körpertempera­ tur im Verhältnis zur Schlaf-Wach-Periode bei den remittierten Patienten denen gesunder an (Wehretal. 1979).

Auch für den Schlafentzug wird angenommen, daß er bei Patienten mit phase­ advance zu einer Korrektur der Phasenbeziehungen führen kann. In Freilaufun­ tersuchungen an gesunden Versuchspersonen zeigte der Schlafentzug eine Ver­ längerung unterschiedlicher circadianer Funktionen somatischer und psychi­ scher Parameter (Ringer 1972).

Bestimmte trizyklische Antidepressiva und MAO-Hemmer können im Tierver­ such die circadiane Periodik der Aktivität verlängern bzw. die Phasenlage nach hinten verschieben. Auf Rezeptorebene verzögern sich die Phasen verschiede­ ner Neurotransmitterrhythmen (Wirtz-Justice et al. 1982). Diese Befunde unter­ stützen die phase-advance-Hypothese. 42

Zur Bedeutung

der inneren

Uhr bei affektiven Störungen

Lithiumsalze sind chronobiologisch aktiv. Sie verlängern die circadiane Periodik im Freilauf, unter normalen Umgebungsbedingungen können sie die Phasenla­ gen nach hinten verschieben. Dies würde ebenfalls für einen Effekt sprechen, der über die Beeinflussung der verfrühten Phasenlage zu einer Stabilisierung bei depressiven Erkrankungen führt. Experimente mit hellem Licht (über 2000 Lux) bei Depressiven weisen darauf hin, daß der Zeitpunkt für eine optimale therapeutische Wirkung von der Pha­ senlage abhängig ist.

Diese liegt nach Lewy et al. (1985) bei Patienten mit einem phase-advance in den Abendstunden. Die Lichttherapie ist nach den bisherigen Untersuchungen vor allem an Depressionen gebunden, die jahreszeitabhängig (saisonal affective disorder) im Herbst/Winter auftreten.

b) Die Beschreibung der Winterdepression und die Untersuchungen zur circadianen Melatonin-Sekretion und Körpertemperatur haben eine weitere Verände­ rung von Phasenbeziehungen aufgezeigt. Beim phase-delay sind die circadianen Rhythmen nach hinten verlagert. Die meisten Winterdepressionen sollen nach Lewy derartige Phasenverschiebungen aufweisen. Die Applikation von hellem Licht bewirkt bei diesen eine Besserung. Auf Grund zweier Studien (Le­ wy et al. 1985, Sack et al. 1986) hat die morgendliche Exposition von hellem Licht (von 6.00 bis 8.00 Uhr) bei diesen Patienten den besten antidepressiven Effekt. Die Photoperiode wird also nach vorn verschoben. Dies steht im Ein­ klang mit der phase-delay-Hypothese.

In einer eigenen Untersuchung unserer Arbeitsgruppe erhoben wir bei neun Winterdepressiven den Chronostatus der Körpertemperatur und der RuheAktivitäts-Rhythmik durch kontinuierliche Registrierung von Rektaltemperatur und Bewegungsaktivität mit einem tragbaren Meßsystem. Dabei ergab sich ein differenziertes Bild hinsichtlich der Phasenverhältnisse, indem wir sowohl Pati­ enten mit Phasenvorverlegungen (phase advance) als auch Patienten mit pha­ senverspätetem (phase delay) Rhythmus der Körpertemperatur in bezug auf den Schlaf-Wach-Rhythmus, fanden.

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Burkhard Pflug

Abbildung 1: Phase-advance-Situation in der Winterdepression Die Abbildung zeigt drei Durchschnittszyklen der Kerntemperatur (dargestellt mit Standard­ abweichungen) eines Patienten vom advance-Typ unter verschiedenen Bedingungen. Die Minima sind mit Pfeilen gekennzeichnet. Mit Sternen ist die maskierungsbedingte Einschlafsenke markiert. Die schwarzen Balken stellen die Schlafzeit dar.

Die obere Kurve entspricht einer Messung unter dunklen gelben, die mittlere einer unter hellen wei­ ßen Lichtbedingungen morgens und abends. Die untere Kurve wurde im beschwerdefreien Sommer­ halbjahr erstellt. Neben der in allen drei Kurven deutlich zu erkennenden Einschlafsenke vor 24.00 Uhr, bildet sich in der mittleren Kurve ein weiteres deutliches Temperaturminimum in der zweiten Hälfte der Schlafpha­ se aus, das auch in der unteren Kurve zu finden ist. Daran ist zu erkennen, daß der obere Durch­ schnittszyklus gegenüber den anderen eine phase-advance-Beziehung einnimmt.

Die unter hellen weißen Lichtbedingungen erstellte Kurve zeigt eine weitgehende Übereinstimmung im Verlauf mit der des Sommerhalbjahres, abgesehen von den durch die Lichtbehandlung bestimmten Senken.

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Zur Bedeutung

der inneren

Uhr

bei affektiven

Störungen

Abbildung 2: Phase-delay-Situation in der Winterdepression Die Abbildung zeigt anhand dreier Durchschnittszyklen der Kerntemperatur (dargestellt mit Standard­ abweichung) phase-delay-Phasenbeziehungen des Temperatur- gegenüber dem Schlaf-WachRhythmus und die phasenverschiebende Wirkung von hellem weißen Licht. Die durchschnittliche Schlafzeit ist als Balken markiert. Die Lage der Minima ist mit Pfeilen gekennzeichnet, die Sterne ent­ sprechen der maskierungsbedingten Einschlafsenke. Die obere Kurve entspricht einer Messung unter dunklen gelben Lichtbedingungen morgens und abends, die mittlere einer ohne Lichtbehandlung, die untere einer mit hellem weißen Licht morgens und abends. Der obere und mittlere Durchschnittszyklus ist, wie anhand der Lage der Minima deutlich erkennbar, gegenüber dem Schlaf-Wach-Rhythmus verzögert. Der untere Durchschnittszyklus ist im Vergleich mit den beiden anderen Kurven in der Zeit der Wirkung des hellen weißen Lichts in seiner Phase ge­ genüber dem Schlaf-Wach-Rhythmus vorverlegt.

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Burkhard Pflug

Die Besserung der Depression ging bei diesen Patienten unter zwei Stunden Lichttherapie morgens und abends mit einer Rückbildung der phase-advanceund der phase-delay-Beziehung einher. Bei beiden Gruppen stellten sich Pha­ senbeziehungen ein, die denen im depressionsfreien Sommer entsprachen. Wir interpretieren diese phasenkorrigierende Lichtwirkung als Ausdruck der Zeitge­ berwirkung auf das circadiane System. Weiterhin gibt es auch Arbeiten, die darauf hinweisen, daß Licht zu anderen Tageszeiten (z.B. mittags) einen therapeutischen Effekt hat und daß der Lichtef­ fekt dosisabhängig sei.

Die Frage eines direkten Zusammenhanges von Stimmung und Auffälligkeiten im System der inneren Uhr bleibt daher offen. Das gilt auch für die beiden fol­ genden Hypothesen, der Instabilität und der Desynchronisation.

c) In mehreren Langzeitstudien zum Verhalten der circadianen Temperatur­ rhythmik bei mono-und bipolaren Depressionen wurde eine Instabilität des cir­ cadianen Systems beobachtet. Diese Phasenbeziehungen zeigten Auslenkun­ gen, die mit der Schwere der Depression (Selbsteinschätzung) korrelierten (Pflug et al. 1983). In diesem Modell haben verschiedene therapeutische Verfahren zum Ziel, das circadiane System zu stabilisieren. Für die Wirkung von Lithiumsalzen konnte dies gezeigt werden (Pflug 1987).

In einer Untersuchung über mehrere Monate bei drei gesunden und drei de­ pressiven Frauen im Alter zwischen 37 und 53 Jahren unter Alltagsbedingungen ergab sich, daß Lithiumsalze in prophylaktischen Dosen bei den Gesunden das circadiane System destabilisierte, gleichzeitig traten vegetative Beschwerden auf. Bei den depressiven Frauen stabilisiert sich das vorher gestörte circadiane System verbunden mit zunehmender Beschwerdefreiheit. Diese Befunde weisen auf die Bedeutung der Ausgangslage hin, die die Richtung einer chronobiologischen Wirkung bestimmen kann. In der Neigung zur Instabilität wird ein Dispositionsfaktor vermutet, der in Kombination mit äußeren Einflüssen zur Ausbildung einer depressiven Phase führt; auch zunehmendes Lebensalter beeinträchtigt die Stabilität der inneren Uhr (Wever). Es ist jedoch auch daran zu denken, daß die depressive Erkran­ kung eine Instabilität des circadianen Systems zur Folge haben kann.

d) Die Hypothese der Desynchronisation ist die älteste. Sie geht auf Halberg (1968) zurück. Man versteht darunter, daß bestimmte circadiane Funktionen

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Zur Bedeutung

der inneren

Uhr bei affektiven Störungen

sich nicht mehr an den 24-Stunden-Takt des äußeren Zeitgebers koppeln, son­ dern mit einer eigenen Periodik weiterlaufen. Das Auftreten einer depressiven Phase wird dabei als Schwebungsphänomen zwischen äußerer und autonomer Rhythmik angesehen. Für diese Hypothese gibt es nur Hinweise aus älteren Un­ tersuchungen (z.B. Kripke et al. 1978) und Einzelbeobachtungen (z.B. Pflug et al. 1982). Ein häufiges und allgemeines Phänomen depressiver Phasen ist die Desynchronisation nicht. Hierfür sprechen auch Untersuchungen an Blinden mit Desynchronisationsphänomenen, die jedoch keinesfalls damit gekoppelt depressiv sind.

e) Neben den unterschiedlichen Veränderungen des circadianen Systems in de­ pressiven Phasen gibt es auch Untersuchungen, die keine der beschriebenen Auffälligkeiten finden (Lund et al. 1983, von Zerssen 1988).

Sowohl während der Phase als auch im beschwerdefreien Intervall zeigten ver­ schiedene gleichzeitig bestimmte Parameter keine Unterschiede im circadianen Verhalten. Daraus leitet nun Giedke die sogenannte Assoziationshypothese ab. Sie besagt, daß es in jedem Organismus Periodizitäten gebe, die bei vielen kör­ perlichen und mentalen Abläufen des gesunden Lebens eine Rolle spielen und die auch im Erscheinungsbild mentaler Erkrankungen zum Ausdruck kommen können. So erfordern die im Rahmen der Depression beschriebenen Auffälligkeiten im Bereich eines Tages, eines Monats und eines Jahres keine Suche nach eigener zeitlicher Pathologie, sondern stellen bloße Assoziationen der anderweitig ver­ ursachten psychopathologischen Symptomatik an schon vorhandene (präfor­ mierte) externe oder interne Rhythmen dar (Giedke 1995).

f) Der von uns aufgestellten chronobiologischen Hypothese, daß die Lichtwir­ kung auf der Zeitgebereigenschaft des Lichtes beruht, wird in der wissenschaft­ lichen Diskussion die Annahme entgegengestellt, es handele sich um eine all­ gemeine „tonisierende" Wirkung des Lichts. Zur Überprüfung unserer Hypothe­ se haben wir deshalb Winterdepressive einem Nicht-Licht-Zeitgeber in Form von regelmäßiger körperlicher Aktivität (Ergometertraining) von 6.00 Uhr bis 8.00 Uhr während zweier Wochen ausgesetzt.

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Burkhard Pflug

Tageszeit (h) Abbildung 3: Phasenvorverlegung des circadianen Temperaturrhythmus unter Anwendung eines Aktivitäts-Zeitgebers bei einem winterdepressiven Patienten Obere Kurve: Mittlerer Temperaturverlauf vor Behandlungsbeginn. Untere Kurve: Mittlerer Temperaturverlauf während der Anwendung täglicher Aktivitätspulse. Schwarzer horizontaler Balken: Schlafzeit. Pfeil: Circadianes Temperaturminimum vor Behandlungsbeginn. Sternchen: Einschlafminimum.

Die Temperaturmessung erfolgte jeweils sieben Tage lang in Zweiminutenabständen mit Rektalson­ den, die Schlafzeit wurde aus dem Beschleunigungsaufnehmer des am nicht dominanten Handgelenk ermittelten Aktivitätsrhythmus abgeleitet (Aktometer und Termoport-Ceräte der Firma ZAK, Simbach/ Inn).

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Zur Bedeutung

der inneren

Uhr

bei affektiven

Störungen

Unter der Behandlung mit körperlicher Aktivität reduziert sich die depressive Stimmung von 22 (Tag 7) auf 15 (Tag 14) und 11 (Tag 21) Hamilton-Punkte (siehe Abb. 2c im Beitrag Fey et. al.). Abbildung 3 zeigt die chronobiologische, phasenverschiebende Wirksamkeit des periodischen zweistündigen Aktivi­ tätspulses. Nach sieben Tagen körperlicher Aktivität verlagert sich das circadia­ ne Minimum der Körpertemperatur vom Ende der Schlafzeit um etwa drei Stun­ den nach vorne in die Schlafmitte.

Unsere Ergebnisse bestätigen die aus dem Tiermodell (Mrosovsky et al. 1989) abgeleitete Zeitgeberwirkung von periodischer körperlicher Aktivität auch beim Menschen.

Abbildung 4 veranschaulicht, wodurch diese Zeitgeberwirkung sich von ande­ ren Zeitgebermodalitäten unterscheidet: die Lokomotion wird einerseits in ihrer Zeitstruktur von dem circadianen Oszillator gesteuert und wirkt andererseits auf den Oszillator zurück.

Psychomotorische Hemmung und damit verringerte körperliche Aktivität sind bei saisonalen Depressionen häufig ausgeprägt. Andererseits hat die körperliche Aktivität einen antidepressiven Effekt. Damit ist das circadiane System über zwei Rückkopplungsschleifen in den pathogenen oder pathoplastischen Mechanis­ mus der Erkrankung eingebunden. Das Modell erlaubt, die unfruchtbare Fixie­ rung auf eine unidirektionale Ursache-Wirkung-Beziehung von circadianer Uhr und Depression zu verlassen und eröffnet eine neue Sicht auf die Zusammen­ hänge zwischen circadianem System und affektiven Erkrankungen (Köhler et al. 1993). Rosenwasser und Wirtz-Justice (1995) haben anhand einer Zusammen­ fassung von klinischen und tierexperimentellen Studien darauf hingewiesen, daß Netzwerke interagierender Rückkopplungsschleifen geeignet sind, Stimmungs- und Verhaltensauffälligkeiten im Zusammenhang mit circadianer Rhythmik zu erklären und daß sie sowohl von kausaler als auch von covariabler Bedeutung für die depressive Erkrankung sein können.

3. Konklusion Es gibt nach dem derzeitigen Stand der Forschung keine einheitlichen Verände­ rungen des circadianen Systems in depressiven Phasen. Dies kann mehrere Gründe haben, von denen die wichtigsten sind: 1.

Einer depressiven Phase können unterschiedliche Veränderungen des circadianen Systems zugrunde liegen, die von komplexer Natur sind.

2.

Mit zunehmender Länge der Depression ändern sich die circadianen Pa­ rameter. 49

Burkhard Pflug

Effektorrhythmen

Cortisol Melatonin Temperatur Lokomotion cd

E (Antrieb) Stimmung E Kognition etc.

Abbildung 4: Strukturmodell der Wechselwirkungen zwischen circadianem System und affektiver Erkrankung

3.

Unterschiedliche Parameter müssen nicht gleichgerichtete circadiane Veränderungen aufweisen.

4.

Wir kennen keine Kennparameter.

5.

Methodische Einflüsse sind schwierig zu kontrollieren.

6.

Einflüsse medikamentöser und anderer Behandlungsverfahren sind zu berücksichtigen.

Die Wirkung von Therapieverfahren ist nicht nur abhängig von ihrer im Versuch an Tieren und gesunden Kontrollpersonen gefundenen Richtung der Verände­ rung u.a. des circadianen Systems, sondern im gleichen Maß auch von der je­ weils unterschiedlichen Ausgangssituation des Organismus. Die Frage ist ungeklärt, ob die beschriebenen Auffälligkeiten circadianer Rhythmen pathogenetische Bedeutung haben oder ob sie symptomatischer Na­ tur sind.

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Zur Bedeutung

der inneren

Uhr bei

affektiven

Störungen

Wahrscheinlich wird sich herausstellen, daß Veränderungen des circadianen Systems, also der inneren Uhr, im Rahmen eines sehr komplexen Geschehens (Netzwerke interagierender Rückkopplungsschleifen) Bedingungen darstellen, die unterschiedliches Gewicht bei den verschiedenen depressiven Patienten und Erkrankungen haben. Dies ist eine Aufgabe künftiger Forschung.

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Burkhard Pflug

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Stephan Volk

Schlafstörungen und Altersdepression Bei der überwiegenden Mehrzahl depressiver Erkrankungen treten Schlafstörun­ gen auf. 90% aller depressiven Patienten leiden unter Ein- bzw. Durchschlafstö­ rungen und/oder morgendlichem Früherwachen. Bei bis zu 10% der Patienten besteht ein Hypersomnie.

Eine zutreffende Beschreibung depressiver Patienten, die zwar über Müdigkeit klagen aber keinen Schlaf finden, hatte bereits Kraepelin (1909) abgegeben: „... ganz ähnlich verhalten sich die Depressionszustände. Hier kann zwar die gemütliche Spannung die Müdigkeit verscheuchen; oft genug aber fühlen sich die Kranken auf das äußerste müde und schlafbedürftig, ohne jedoch Schlaf fin­ den zu können. Vielfach ist das Einschlafen verzögert, erfolgt erst nach langem, vergeblichem Zuwarten oder immer wieder wiederholtem, ruckartigem Auf­ schrecken".

Sehr häufig ist die Klage über gestörten Nachtschlaf als ein Initialsymptom einer Depression aufzufassen. Die Häufigkeit von Durchschlafstörungen und mor­ gendlichem Früherwachen steigt mit zunehmender Schwere der Depression an. Sie zeigt aber auch eine Abhängigkeit vom Lebensalter der Patienten. So klagen ältere Patienten häufiger über morgendliches Erwachen. Die meisten depressiven Patienten erleben die Störung des Nachtschlafs als ausgesprochen unangenehm. Besonders das Erwachen in den frühen Morgen­ stunden mit der Unfähigkeit wieder einzuschlafen geben besonders Patienten mit morgendlichem Stimmungstief als besonders quälend an. Die Annahme, daß endogen depressiv Erkrankte eher morgendliches Früherwachen und neuro­ tisch Depressive mehr Einschlafstörungen beklagen, konnte durch entsprechen­ de Studien nicht belegt werden.

Schlaf-EEG-Untersuchungen haben die Störung der Schlafkontinuität als ein we­ sentliches Charakteristikum des Schlafes depressiver Patienten objektivieren können. Die polysomnographisch registrierte Verlängerung der Einschlaflatenz und das häufigere Aufwachen in der Nacht, welches in einer niedrigeren Schlafeffizienz zum Ausdruck kommt, korreliert einerseits mit der Schwere einer Depression, andererseits nimmt die Störung der Schlafkontinuität im höheren Lebensalter im Zusammenhang mit der Altersinvolution des Schlafes zu (Tabelle 1).

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Stephan Volk

Tabelle 1: Altersphysiologische Veränderungen des Schlafes

Polysomnographisch objektivierbare Veränderungen

Subjektive Klagen Schlaf weniger tief

TiefschlafStadien (vor allem S4) verringern sich mit zunehmendem Alter.

Schlaf häufig unterbrochen

Schlafunterbrechungen nehmen in ihrer Anzahl und Dauer zu. Abnahme der Schlafeffizienz, oft verkürzte REM-Latenz.

Schlaf weniger erholsam

Deutlicher als bei jüngeren Depressiven kommt es bei Altersdepressionen zu einer Desinhibition des REM-Schlafes. So haben zahlreiche Studien (s. Reynolds und Mitarbeiter 1988) zeigen können, daß es zu einer deutlichen Verkürzung der Latenz vom Schlafbeginn bis zum Auftreten der ersten REM-Phase kommt. Eine weitere Eigenschaft des veränderten REM-Schlafes in der Depression be­ steht in einer höheren Dichte schneller Augenbewegungen vor allem in der er­ sten REM-Phase. Tabelle 2: Charakteristische Veränderungen bei Altersdepressionen

Störungen der Schlafkontinuität - verlängerte Einschlaflatenz

- häufige Schlafunter brech ungen mit Früherwachen

Störungen des REM-Schlafes

- verfrühtes Auftreten der ersten REM-Phase* - längere Dauer der ersten REM-Phase* - höhere Augenbewegungsdichte in REM-Phasen* - Abnahme des REM-Schlafanteils insgesamt

* - Desinhibition des REM-Schlafes

Im Gegensatz zu jüngeren Depressiven findet man bei älteren depressiven Pati­ enten gehäuft sogenannte sleep-onset-REM-Episoden, d.h. diese treten schon innerhalb von 20 Minuten nach dem Einschlafen auf. Kontrovers wird eine Verringerung des Tiefschlafanteiles in der Depression dis­ kutiert. Aufgrund der vorliegenden Untersuchungen kann jedoch davon ausge­

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Schlafstörungen und Altersdepression

gangen werden, daß eine in der Depression zu beobachtenden Abnahme des Tiefschlafes am ehesten mit der altersphysiologisch bedingten Abnahme des langsamwelligen Schlafes zu erklären ist. Aus dem klinischen Querschnittsbild ergibt sich immer wieder die Frage, ob bei einem älteren depressiven Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen eine depressive Pseudodemenz oder eine sich entwickelnde dementielle Erkrankung vorliegt. Hier kann die Schlafpolygraphie einen wichtigen differentialdiagnosti­ schen Beitrag leisten. So konnten Hoch und Reynolds (1989) aufzeigen, daß ei­ ne verkürzte REM-Latenz, ein höherer REM-Anteil und ein deutlicher ausgepräg­ tes frühmorgendliches Erwachen bei depressiven Patienten mit gleichzeitig be­ stehenden kognitiven Störungen diejenigen Parameter darstellen, die diese Pati­ enten zuverlässig von dementen Patienten mit sekundärer Depression unter­ scheiden. Den Ergebnissen einer umfangreichen Reanalyse von Schlafdaten bei psychiatrischen Erkrankungen (Benca 1992) zufolge sind die Veränderungen des REM-Schlafes bei Depressionen am deutlichsten ausgeprägt und deshalb zur Abgrenzung gegenüber anderen psychiatrischen Störungen besonders geeignet.

Die derzeit favorisierten theoretischen Hypothesen zur Genese der Schlafstö­ rungen bei depressiven Patienten sollen an dieser Stelle kurz aufgeführt werden. Den Annahmen von Borbely (1982) folgend ist die Verringerung des Tiefschlaf­ anteils bei depressiven Patienten als Hinweis auf eine Störung eines homöostati­ schen Prozesses in der Nacht zu werten. Dadurch komme es dann zu einer zeit­ lichen Vorverlagerung der ersten REM-Phase.

Die Transmitterimbalance-Hypothese (Hobson und Mitarbeiter 1986, siehe auch: Steiger und Berger 1992) geht davon aus, daß unterschiedliche Nerven­ zellgruppen im Hirnstamm das Auftreten von REM- und NON-REM-Schlaf durch wechselseitige Hemmung und Aktivierung regulieren. Für die Informationsver­ mittelung spielen Noradrenalin, Serotonin und Acethylcholin eine wichtige Rol­ le. Die bei der Depression zu beobachtende REM-Schlaf-Desinhibition wird, so die Überlegungen, durch eine Imbalance der Transmitter erklärt, wobei es in der Depression zu einem Übergewicht von Acethylcholin gegenüber Norad­ renalin kommt (Abbildung 1).

Nur wenige Befunde unterstützen die Hypothese einer Störung von Phasenbe­ ziehungen biologischer Rhythmen als Erklärung für den veränderten Schlaf in der Depression (Wehr and Wirz-Justice 1981). Dieser Hypothese folgend kommt es bei Depressiven zu einer Phasenvorverlagerung einer von zwei bio­ logische Rhythmen steuernden „inneren Uhren". Diese verstellte Uhr, verant­ wortlich für die periodischen Schwankungen der Körpertemperatur, der Aus­ schüttung von Kortisol und der REM-Schlaf-Bereitschaft, würde so die Vorverla­ gerung der ersten REM-Phase in der Nacht erklären. 55

Stephan Volk

Reziprokes Interaktionsmodell der REMund NON-REM-Schlafregulation

cholinerges System Aminerges System Serotoneiges System

REM-an Neuronf (aminfrg, locus coerulus)

on

reziproke Interaktion REM/NON-REM-Zyidus: 90-120 mim.

REM-off Neurone (cholic erg, raphe nuclei)

REM-Schlaf-Desinhibition - Verkürzte REM-Latcnz - Verlängerte ante REM-Epiiodc - Zunahme der Augenbewegungen in REM - ChoSnergie Simulation reduziert die REM-Latcnz

Abbildung 1: Transmitterimbalance-Theorie

Am Beispiel einer Polysomnographie einer 72jährigen Patientin, die sich mit zunächst ganz im Vordergrund stehenden Ein- und Durchschlafstörungen mit Früherwachen vorstellte, und bei welcher nach eingehender psychiatrischer Ex­ ploration die Diagnose einer Depression gestellt werden konnte, sollen die typi­ schen Veränderungen des Schlafes in der Depression verdeutlicht werden. Die Patientin benötigte 45 Minuten bis sie einschlief. Die erste REM-Phase trat 12 Minuten später auf. Im Verlauf der Nacht wachte die Patientin immer wieder kurz auf, teilweise aus den folgenden REM-Phasen. Deutlich reduziert war der Tiefschlafanteil (S3 und S4). Am frühen Morgen gegen 4.25 Uhr wachte sie wieder auf und konnte nicht mehr einschlafen (Abbildung 2).

Bedenkt man die Tatsache, daß Altersdepressionen eine ausgesprochene Ten­ denz zur Symptompersistenz über längere Zeiträume haben bzw. eine Neigung zur Chronifizierung zeigen, so verlief die Besserung der Patientin unter einer Behandlung mit Trimipramin erfreulich rasch. Ein Anhalten der Schlafstörung, wie diese Patientin nach Besserung ihrer depressiven Symptomatik weiterhin beklagte, d.h. über die akute depressive Erkrankung hinaus, wurde von ver­ schiedenen Untersuchergruppen (siehe: Berger und Steiger 1992) beobachtet. Aus diesen Beobachtungen wurde gefolgert, daß der anhaltend gestörte Schlaf eine biologische Narbe darstelle, die erst nach Monaten vollständig abheile.

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Schlafstörungen und Altersdepression

2. Ableitungsnacht; Licht aus: 22.30 Uhr, Licht an: 6.30 Uhr; MT = Movement time (große Körperdrehbewegungen); REM- REM-Schlaf; S1-4 = NON-REM-Stadien (S1 und S2: leichter Schlaf, S3 und S4 - tiefer Schlaf)

Abbildung 2: Schlafpolygramm einer 72jährigen depressiven Patientin

Die Behandlung der Schlafstörungen sollte immer in den Gesamtbehandlungs­ plan depressiver Erkrankungen eingebettet werden. Wird ein trizyklisches Anti­ depressiva eingesetzt, können sedierende Substanzen wie Trimipramin, Amitryptilin oder Doxepin in höherer Dosierung am Abend zahlreichen Patienten zu einem verbesserten Schlaf verhelfen. Mianserin bzw. neuere Antidepressiva wie Mirtazapin oder Nefazodon, die für ältere depressive Patienten in der Regel aufgrund fehlender anticholinerger Nebenwirkungen besser verträglich sind, haben ebenfalls einen den Schlaf verbessernden Effekt. Wird ein SerotoninWiederaufnahme-Hemmer ausgewählt, kann sich als Nebenwirkung anfänglich der Schlaf noch verschlechtern, weshalb eine vorübergehende Kombination mit einem Hypnotikum notwendig werden kann. Benzodiazepin-Hypnotika sollten aber vor allem beim älteren Patienten wegen der Gefahr der Provokation von Verwirrtheitszuständen, paradoxen Wirkungen bzw. Tagesüberhang-Effekten vorsichtig eingesetzt werden. Mittellang wirksame Substanzen wie Lormetaze­ pam sollten bevorzugt werden. Alternativ kommen die neueren NichtBenzodiazepin-Hypnotika wie Zolpidem oder Zopiclon in Betracht. Schließlich kann auch die Kombination mit einem am Abend gegebenen, sedierenden An­ tidepressivum sinnvoll sein.

57

Stephan Volk

Zusammenfassung •

Altersdepressionen, bei denen im Verlauf der Erkrankung keine Schlafstö­ rungen auftreten, sind selten.



Gestörter Nachtschlaf ist häufig als ein Initialsymptom depressiver Erkran­ kungen aufzufassen.



Das oft beklagte frühmorgendliche Erwachen wird von vielen Patienten als ausgesprochen quälend erlebt.



Die wesentlichen Charakteristika des Schlafes depressiver Patienten sind die Störung der Schlafkontinuität und die Desinhibition des REM-Schlafes (verfrühte und verlängerte erste REM-Phase, erhöhte Dichte schneller Au­ genbewegungen).



Bei der oft schwierigen Differenzierung kognitiver Beeinträchtigungen im Verlauf depressiver von dementiven Erkrankungen kann die Schlafpoly­ graphie wertvolle Hilfe leisten.



Die Behandlung von Schlafstörungen sollte immer in den Gesamtbehand­ lungsplan einer Depression eingebettet werden.

Literatur Benca RM, Obermeyer WH, Thisted RA, Gillin JC (1992): Sleep and psychiatric disorders - A metanalaysis. Arch Gen Psychiatry 49:651-670

Berger M, Steiger A (1992): Schlaf bei psychiatrischen Erkrankungen. In.Berger,M. (Hrsg.) Handbuch des normalen und gestörten Schlafes. Springer Berlin - Heidelberg - New York, S. 140-165

Borbely AA (1982): A two process model of sleep regulation. Hum Neurobiol 1:155-204 Hoch CC, Reynolds CF(1989): Electroencephalographic sleep in late-life neuropsychiatric disorders. International Psychogeriatrics 1:51-62 Hobson JA, Lydie R, Baghdon HA (1986): Evolving concepts of sleep cycle generation: From brain centers to neuronal populations. Behav Brain Sei 9:371-448

Kraepelin E (1909): Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 8. Auflage, Barth Leipzig

Reynolds CF, Kupfer DJ, Houck PR, Hoch CC, Stack JA, Berman SR, Zimmer PR (1988): Re­ liablediscrimination of elderly depressed and demented patients by electroencepha­ lographic sleep data. Arch Gen Psychiatry 45:258-264

Wehr TA, Wirz-Justice A (1981): Internal coincidence model for sleep deprivation and de­ pression. In: Sleep 1980, 5th Eur Congr Sleep Res Amsterdam 1980. Karger Basel, pp 26-33

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Heinz-Werner Travers

Frühe Symptome bei Depressionen Einleitung Dem Beginn einer Depression wird in der Literatur wenig Beachtung geschenkt, die überwiegende Mehrzahl der Studien beschäftigt sich mit der Phasenanzahl, der Dauer und dem Herausgeraten aus der depressiven Phase (4;6). Wir gingen ursprünglich von der Hypothese aus, daß es in der zeitlichen Abfolge depressi­ ver Symptome während einer depressiven Erkrankung eine idealtypische über­ individuelle Abfolge der Symptome geben könnte. So ist z. B. aus der klinischen Praxis bekannt, daß der depressive Wahn in der Regel erst in der vorangeschrit­ tenen depressiven Phase, zu einem Zeitpunkt auftritt, wenn die nicht­ psychotischen depressiven Symptome bereits voll entwickelt sind.

Differenzierungskriterien für ätiologisch unterschiedliche Depressionen sind das Vorhandensein bzw. Fehlen von definierten Symptomen. Der Zeitpunkt des Auftretens der Symptome innerhalb der depressiven Phase wird in den ver­ schiedenen Klassifikationssystemen von Depressionen dabei wenig beachtet (3). Wir untersuchten unsere Patientengruppe, nach der Aufteilung unter nosologi­ schen Gesichtspunkten (in Anlehnung an Kielholz) (5) in psychogen und endo­ gen bedingte Depressionen, dahingehend, ob bei den beiden Gruppen unter­ schiedliche Initialsymptome der Depression bestanden. Dabei berücksichtigten wir die „Melancholischen Merkmale" nach DSM-IV, die am Symptomkatalog der endogenen Depression orientiert ist. Besondere Beachtung fanden die Sym­ ptome Tagesschwankungen der Stimmung und das Früherwachen vor der ge­ wohnten Zeit, da diese Symptome sich qualitativ von den sich sonst nur quanti­ tativ unterschiedlichen Definitionskriterien von einer „Major depression" (DSMIV) abheben.

Methodik Es wurde 17 männliche und 30 weibliche Patienten untersucht, deren Durch­ schnittsalter 52 Jahre betrug. Das Kriterium für die Auswahl der Patienten war eine anamnestisch bekannte depressive Erkrankung, die den Kriterien einer „Major Depression" nach DSM-IV entsprach. Nach der Datenerhebung wurden die Patienten in zwei Gruppen unterteilt. Wir unterschieden die Gruppen nach nosologischen Gesichtspunkten in endogene und psychogene Depressionen.

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Heinz-Werner Travers

Bei 24 Patienten wurde eine endogene und bei 15 Patienten eine psychogen bedingte Depression diagnostiziert. Zum Zeitpunkt der Untersuchung befanden sich die Patienten in der Remission. Remission wurde definiert durch einen Punktwert kleiner 10 Punkte in der Fremdeinschätzung mittels Hamilton-De­ pressionsskala (21 Item-Version) und die subjektive Selbsteinschätzung der Pati­ enten mittels einer visuellen Analogskala, wo sie sich in demjenigen Drittel der Gesamtstrecke, das sich dem Maximalpunkt Gesundheit anschloß, einordneten.

Die Patienten markierten anhand einer Liste, die an den Kriterien der „Major Depression" nach DSM-Ill-R einschließlich des somatischen Syndroms orientiert war, ihre individuellen Symptome der letzten Krankheitsphase. Danach wurde den Patienten die wiedererkannten individuellen Beschwerdemerkmale auf Kar­ teikärtchen vorgelegt. Sie sollten die Karteikärtchen in der zeitlichen Reihenfol­ ge des Auftretens der Symptome während der depressiven Phase anordnen. Wir untersuchten die Patienten im Intervall, da während der depressiven Phase die kognitiven Funktionen der Patienten beeinträchtigt und die Wahrnehmun­ gen verzerrt sein können. Hierbei ist im Besonderen das Kurz- und Mittelzeitgedächnis beeinträchtigt, während das Langzeitgedächnis weniger betroffen ist (2;7). Außerdem ist zu berücksichtigen, daß der Affekt die Selbstbeobachtung einengt. Wir überprüften die Konstanz der Angaben bei 14 Patienten durch eine wiederholte Untersuchung nach 4 bis 6 Monaten unter den gleichen remittier­ ten Bedingungen. Dabei gaben die Patienten die zeitliche Symptomabfolge je­ doch in veränderter Reihenfolge an. Der retrospektive Ansatz war demnach zur Erfassung einer komplexen Symptomabfolge nicht geeignet.

Ergebnisse 8 Patienten sahen sich nicht in der Lage, sich an die zeitliche Abfolge ihrer Symptome während der letzten depressiven Phase zu erinnern. 39 Patienten gaben mit Hilfe der ausgewählten Karteikärtchen eine zeitliche Abfolge an. Da­ bei zeigte sich jedoch die intraphasische Symptomabfolge derart individuell, daß eine überindividuelle idealtypische Abfolge nicht zu erkennen war.

Im Gegensatz zu den bei der wiederholten Untersuchung nicht reliablen Anga­ ben zum Verlauf der Symptome während der depressiven Phase wurden die Symptome zu Beginn der letzten Phase zwar nicht übereinstimmend, aber mit einer Konstanz von 65% (9 von 14 Patienten) erinnert. Es war eine Mehrfach­ benennung der Erstsymptome möglich. Dabei wurden die Symptome in folgen­ der Häufigkeit angegeben:

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Frühe Symptome bei Depressionen

Frühe Symptome depressiver Phasen in absteigender Reihenfolge: • 15

Durchschlafstörungen

• 14

Morgendliches Früherwachen

• 12

Einschlafstörungen



9

Verlust der Freude



8

gewohnte Tätigkeiten bereiten vermehrt Mühe



6

Grübeln, Müdigkeit während des Tages



5

Gefühl der Trauer, Lustlosigkeit, innere Unruhe, Konzentrations­ störungen, Appetitreduktion



4

Hilflosigkeit



3

Angst, Entschlußunfähigkeit, Gedächtnisleistung ist reduziert



2

Hoffnungslosigkeit, Gefühl der Gefühllosigkeit, Kontakt zu Bekannten vernachlässigt, Schuldgefühle, Denken ist mühevoll, Palpitationen



1

Gefühl der Wertlosigkeit, Übelkeit, Reifgefühl im Kopfbereich, Mund­ trockenheit

Mit deutlichem Abstand wurden Schlafstörungen und das morgendliche Früh­ erwachen vor emotionalen und Antriebsstörungen angegeben. Ordnet man die einzelnen Symptome inhaltlich zu Syndromgruppen und be­ zieht sie auf die Gesamtzahl der ausgewählten Items, so ergibt sich die folgende Verteilung: In 26% wurden initial Schlafstörungen, 22% emotionale Störungen, 15% ko­ gnitive Störungen, 14% Antriebsstörungen und jeweils 11% vegetative und Angstsymptome als Erstsymptom angegeben.

61

Heinz-Werner Travers

Vegetative Störungen 10,9% Angstsymptome 10,9% Antriebs reduktion 14,1%

Emotionale Störungen 21,9%

Schlafstörungen 26,6%

HÖF Kognitive Störungen 15,6%

Unterteilt man die Patienten nach dem Geschlecht, ergibt sich folgende Auftei­ lung:

Bei Männern dominierten Schlafstörungen den Anfang einer depressiven Phase deutlich mit 35%. Emotionale und kognitive Beeinträchtigungen folgten mit je­ weils 22%. Weiterhin wurden Angstsymptome in 14% und Störungen des An­ triebs in 7% angegeben. Bei Frauen wurden Schlafstörungen mit 24%, gefolgt von emotionalen Beeinträchtigungen in 22% zu Beginn der depressiven Phase angegeben. Es folgten Antriebsstörungen mit 16%, vegetative Störungen und kognitiven Beeinträchtigungen in 14%. In 10% wurden Angstsymptome am Anfang der depressiven Phase angegeben. 62

Frühe Symptome bei Depressionen

Schlafstörungen dominierten mit 38% bei beiden Geschlechtern den Beginn der depressiven Phase, sie wurden jedoch von Männern deutlich häufiger ange­ geben. Emotionale Beeinträchtigungen am Anfang der Phase wurden von bei­ den Geschlechtern gleich häufig angegeben. Während Männer neben den do­ minierenden Schlafstörungen keine vegetativen Beeinträchtigungen angaben, wurden diese von Frauen in 14% angegeben.

42 % der endogen erkrankten Patienten und 33 % der psychogen erkrankten Pa­ tienten gaben Schlafstörungen am Anfang der Depression an. Davon gab die überwiegende Mehrzahl (80%) sowohl Ein- als auch Durchschlafstörungen an. Durchschlafstörungen ohne gleichzeitig bestehende Einschlafstörungen wurden nur von endogen erkrankten Patienten angegeben (5 Patienten). Schuldvorwürfe gegen die eigene Person und Selbstentwertungen wurden von insgesamt 38 % der Patienten angegeben. Mit 53 % wurden von den endogenen bzw. 46% von den psychogen erkrankten Patienten, Schuldvorwürfe gegen die eigene Person von beiden Gruppen in annähernd gleicher Häufigkeit angege­ ben. Lediglich 1 Patient gab bereits am Anfang der Depression Schuldgefühle an.

Insgesamt 46% der Patienten gaben Appetitreduktion und Gewichtsverlust an. Von 66% der endogen und 33% der psychogen erkrankten Patienten wurden Appetitstörungen angegeben. In 30% waren Appetitstörungen bereits Frühsym­ ptom, hierbei ergab sich jedoch kein Unterschied zwischen den beiden Grup­ pen.

38% der Patienten klagten über Störungen der Libido. Von diesen Patienten waren 53 % psychogen und 47% endogen bedingte Depressionen. Störungen der Libido stellten kein Frühsymptom dar. Insgesamt 29 Patienten gaben tageszeitliche Schwankungen der Symptomatik während der depressiven Episode an. 68% der Patienten mit Tagesschwankun­ gen hatten eine psychogene, 78% eine endogene Depression. Alle Patienten gaben die stärkste Ausprägung ihrer Symptome am Morgen an, kein Patient be­ richtete über eine Stimmungsverschlechterung in den Abendstunden. Tages­ schwankungen wurden von den Patienten erst im Verlauf der depressiven Phase bemerkt, sie stellten bei den untersuchten Patienten kein Frühsymptom dar.

Früherwachen (definiert als Erwachen 2 Std. vor der gewohnten Zeit), wurde von den endogen erkrankten Patienten in 66% und von den psychogen er­ krankten Patienten in 60% angegeben. Von diesen Patienten gaben 81 % der endogen und 33 % der psychogen erkrankten Patienten an, daß das Symptom Früherwachen die Depression eingeleitet habe.

63

Heinz-Werner Travers

Zusammenfassung und Diskussion In Übereinstimmung mit der Literatur (z.B. 4) wurden Schlafstörungen auch in unserer Untersuchung als häufigstes Erstsymptom einer Depression bestätigt. Faßt man Schlafstörungen und vegetative Störungen zu einem Syndrom-Cluster zusammen, so ergibt sich, daß bei ca. 35 % der Patienten psychovegetative Stö­ rungen den eigentlichen emotionalen Störungen vorauseilen. Emotionale Stö­ rungen wurden von beiden Geschlechtern nur in einem Viertel der Fälle bereits zu Beginn der Erkrankung geklagt. Dies unterstreicht die klinische Erfahrung bei diffusen, nicht direkt organischen Ursachen zuzuordnenden somatischen Be­ schwerden, auch differentialdiagnostisch an einen affektiven Hintergrund zu denken. Betrachtet man die Symptome des somatischen Syndroms hinsichtlich ihres Auf­ tretens in den beiden Patientengruppen, ergibt sich folgendes: Ein- und Durchschlafstörungen wurden von beiden Patientengruppen in annä­ hernd gleicher Häufigkeit angegeben. 80% der Patienten, die Schlafstörungen zu Beginn der Depression hatten, gaben sowohl Ein- als auch Durch Schlafstö­ rungen an. Schlafstörungen sind demnach unspezifisch und tragen nicht zum Differenzieren verschiedener Depressionsformen bei.

Appetitreduktion wurde in der Gruppe der endogen Erkrankten häufiger ange­ geben. Zu Beginn der Depression bestand kein Unterschied. Schuldvorwürfe gegenüber der eigenen Person traten während der Depression in beiden Gruppen annähernd gleich auf und wurden nicht als Frühsymptom angegeben. 64

Frühe Symptome bei Depressionen

Reduktion der Libido war kein Frühsymptom und wurden von beiden Patien­ tengruppen in ähnlicher Häufigkeit angegeben. Tagesschwankungen wurden von den psychogen erkrankten Patienten in einem ähnlichen Prozentsatz wie von den endogen erkrankten Patienten angegeben. Sie waren bei den untersuchten Patienten kein Frühsymptom.

Berücksichtigt man die während der gesamten Zeitspanne der Depression aufge­ tretenen Symptome, so ergibt sich hinsichtlich des Symptoms Früherwachen zwischen den endogen und psychogen verursachten Depressionen kein Unter­ schied. Während jedoch nur 33% der psychogen bedingt erkrankten Patienten Früherwachen als Frühsymptom angaben, wurde das Symptom von den endo­ gen depressiv erkrankten Patienten in über 80% als Frühsymptom angegeben. Dies könnte als Hinweis darauf gewertet werden, daß Früherwachen im Verlauf von unterschiedlich bedingten depressiven Erkrankungen auftritt, daß es jedoch bei den endogen bedingten Depressionen zeitlich früher auftritt. Früherwachen und tageszeitliche Schwankungen der Stimmung wurden von beiden Patientengruppe nicht unterschiedlich angegeben, was sich dadurch er­ klären könnte, daß viele Patienten der Untersuchung bereits langjährig erkrankt waren, das Antwortverhalten der Patienten im Sinne eines methodischen Bias, durch Wiedererkennungseffekte (durch die wiederholten psychiatrischen Explo­ rationen) modifiziert wurde. Es ist jedoch auch möglich, daß die Items Früherwachen und morgendliche Verschlimmerung der depressiven Stimmung an sich noch nicht zur Unterscheidung von mehr endogen oder psychogen verursach­ ten Depressionen verwendet werden können. Darauf hat auch Angst (1) hinge­ wiesen, er erachtete die Rolle des Früherwachens und der tageszeitlichen Stimmungsschwankungen als für den diagnostischen Prozeß noch nicht ab­ schließend geklärt. In unserer Untersuchung ergab sich jedoch ein Unterschied zwischen den beiden Patientengruppen, wenn man den zeitliche Verlauf der Symptome während der Depression berücksichtigt. Bei den endogen erkrankten Patienten scheint das Symptom Früherwachen sehr viel häufiger bereits zu Be­ ginn der Depression aufzutreten als dies bei anderen Depressionen der Fall ist.

Wir versuchen diesen Ansatz mit veränderten methodischen Bedingungen wei­ ter zu untersuchen.

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Heinz-Werner Travers

Literatur (1) Angst J (1987): Verlauf affektiver Psychosen in: Affektive Psychosen; Psychiatrie der Ge­ genwart, Band 5, 3. Auflage (2) Brescow R, Kocsis J, Belkin B (1981): Contribution of the Depressive to Memory Function in Depression, Am J Psychiatry 138: 2, 2/81, pp 227-230

(3) Davidson J, Turnbull C, Strickland R, Belyea M (1984): Comparative Diagnostic Criteria for Melancholia and Endogenous Depression, Arch Gen Psychiatry, Vol 41, 5/84, pp 506-511 (4) Huber G (1994): Psychiatrie, Schattauer-Verlag, 5. Auflage, S. 188

(5) Kielholz P (1971): Diagnose und Therapie der Depression für Praktiker, Lehmanns-Verlag, München

(6) Peters UH, Glück A (1972): Die Problematik der ausklingenden depressiven Phase, Ner­ venarzt 43, S. 505-511 (7) Sternberg DE, Murray EJ: Memory Functions in Depression, Arch Gen Psychiatry, Vol 33, 2/76, pp 219-224

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Sabine Krämer ♦ Elke Weinel ♦ Burkhard Pflug

Bornavirus und Depression 0 Der Nachweis bornavirusspezifischer Serumantikörper bei depressiven Patien­ ten fand in der letzten Zeit auch in der Laienpresse Beachtung, und entspre­ chend groß ist das Interesse der betroffenen Patienten an diesem Thema. In dem Heft 31/96 der Zeitschrift „Stern" heißt es unter anderem „Und schließlich das aufregendste Resultat: Die Konzentration des Virus im Blut der Kranken schwankte mit ihrem Befinden. Ging es den Patienten schlecht, war die gemes­ sene Aktivität des Erregers besonders hoch. Begannen die in der Klinik einge­ setzten Medikamente lindernd zu wirken, sank auch die Virusaktiviät. Bei sym­ ptomfreien Patienten war der Erreger praktisch nicht mehr nachzuweisen". Mit solchen oder ähnlich sensationell klingenden Nachrichten wird man als Psych­ iater gelegentlich von Patienten konfrontiert. In der Fachpresse dagegen wird das Thema Borna-Virus und Depression kontro­ vers diskutiert. Im folgenden soll zunächst der aktuelle Stand der Forschung zu diesem Thema zusammengefaßt und anschließend anhand einer Kasuistik eini­ ge klinische Überlegungen angestellt werden.

Borna Disease Virus (BDV) ist ein streng neurotropes, einzelsträngiges RNA Vi­ rus, das eine nicht-eitrige Enzephalitis bei Pferden und Schafen in Mitteleuropa hervorruft. Die Borna'sehe Krankheit wurde erstmals 1766 diagnostiziert und sie stellt derzeit die häufigste Meningoenzephalitis beim Pferd in Deutschland dar. Vermutlich wird die Infektion nasal übertragen; über olfaktorische Neurone gelangt BDV intraaxonal ins Riechhirn und breitet sich von dort in weitere Hirn­ regionen aus. Histologisch findet man in der akuten Entzündungsphase vor al­ lem im limbischen System Infiltrationen mononukleärer Zellen. Pathogenetisch handelt es sich nach tierexperimentellen Untersuchungen an der Ratte um eine T-zel[vermittelte, immunpathologische Reaktion.1 Die Symptomatik infizierter Tiere ist außerordentlich variabel und die Tatsache, daß BDV-spezifische Antikörper häufig auch bei gesunden Pferden gefunden werden, läßt den Schluß zu, daß die Infektion meist subklinisch verläuft. Virus0 Überarbeitete und um eine Kasuistik erweiterte Fassung des Vortrags im Rahmen des 4. Frankfurter Psychiatrie-Symposions „Affektive Erkrankungen und Lebensalter" am 21.11.1997 1

Immunsupprimierte Tiere werden im Gegensatz zu immunkompetenten trotz Virusreplika­ tion im ZNS nicht krank

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Sabine Krämer ♦ Elke Weinel ♦ Burkhard Pflug

isolat sowie Alter, Immunstatus und genetische Faktoren des Wirts scheinen eine Rolle bei der Pathogenese zu spielen, letztlich ist aber nicht klar, warum ein in­ fiziertes Tier erkrankt und ein anderes nicht. Neben unspezifischen Symptomen wie Hyperthermie, Anorexie und Koliken werden bei erkrankten Tieren Ataxie, Zwangsbewegungen, Erregungszustände und Krämpfe beobachtet. Die Krank­ heit dauert 1 bis 3 Wochen an und verläuft in 80 % der Fälle tödlich.

Bis 1985 galt BDV als nicht humanpathogen. Diese Annahme wurde erschüt­ tert, als Rott und Mitarbeiter 1985 erstmals über den Nachweis BDVspezifischer Serumantikörper bei Patienten mit depressiven Erkrankungen be­ richteten (12). Inzwischen wurden zahlreiche seroepidemiologische Studien durchgeführt, von denen wir nur einige erwähnen möchten. Übereinstimmend konnte in diesen Untersuchungen eine erhöhte Prävalenz von BDV-SerumAntikörpern bei psychiatrischen Patienten im Vergleich zu gesunden Kontroll­ personen nachgewiesen werden (z. B. 7; 14; 15 Übersichten bei 5; 13). Bode und Mitarbeiter fanden eine erheblich erhöhte Seroprävalenzrate bis zu 30% (7) und 70% (zitiert nach Bechter: 6) bei depressiven Patienten. Diese Resultate konnten von Bechter und Mitarbeitern, die die derzeit umfangreichsten Studien vorlegten, nicht bestätigt werden: In einer ersten Untersuchung (2) die an 1003 unausgelesenen psychiatrischen Patienten durchgeführt wurde, wurden bei 6,8% der Patienten BDV-Serum-Antikörper gefunden, hingegen nur bei 3% chirurgischer Patienten. Das Verteilungsmuster psychiatrischer Diagnosen bei den seropositiven Patienten unterschied sich dabei nicht signifikant von dem der seronegativen psychiatrischen Patienten. In einer zweiten Studie an 2377 neu aufgenommenen psychiatrischen Patienten (3) konnten die Ergebnisse der ersten Untersuchung im wesentlichen bestätigt werden: 5,9% waren BDVseropositiv, hingegen nur 3,5% der chirurgischen Patienten. Ferner wurden 1791 neurologische Patienten untersucht, die in 4,9% der Fälle BDV-SerumAntikörper aufwiesen. Bechter formulierte eine interessante Interpretation der altersgestuften Querschnittsanalyse der Seroprävalenzraten: „ In der Population chirurgischer Patienten fand sich das bei Virusinfektionen bekannte Muster ei­ ner altersabhängigen Dynamik der Seroprävalenzentwicklung bei niedrigen Cesamtdurchseuchungsraten, nämlich ein allmählicher Anstieg der Seroprävalenz bis in die höheren Altersgruppen. Eine gleichartige Dynamik zeigte sich bei den neurologischen Patienten, allerdings erfolgte der Anstieg etwas früher und die Seroprävalenz war insgesamt höher. Eine gänzlich andere Dynamik fand sich hingegen bei den psychiatrischen Patienten: Das jüngste Quartil psychiatrischer Patienten (17-30 Jahre) zeigte bereits eine hohe Seroprävalenz und zugleich die größte Differenz zur chirurgischen Vergleichsgruppe. Dies ist als ein starker Hinweis dafür zu werten, daß BDV eine pathogene Bolle für die Entstehung

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Bornavirus und Depression

psychiatrischer Krankheiten spielen kann, zumal in dieser jungen Altersgruppe (zwischen 17 und 30 Jahren) psychiatrische Krankheiten häufig beginnen." (6). In einer laufenden Untersuchung an unserer Klinik, im Rahmen derer depressive Patienten auf BDV Antikörper und Antigen getestet werden 2, fanden wir bei den bisher 13 untersuchten Patientin nur ein einzigen Fall, der sowohl Antigen als auch Antikörper negativ war (Abb. 1). n=13

Agpcs/Akpos Agpos/Akneg Agneg^kpcs Agneg'Akneg

Abbildung 1: Vorläufige Ergebnisse aus einer laufenden Untersuchung

In unserer Stichprobe handelte es sich diagnostisch um 6 Patienten mit Ma­ nisch-Depressiver Krankheit, 1 Patient mit Endogener Depression sowie 3 Pati­ enten, die unter einer schizoaffektiven Psychose litten, und um ebenfalls 3 Pati­ enten mit Dysthymie. Das Überwiegen der seropositiven Depressiven überrascht auch bei dieser noch sehr geringen Fallzahl. Alle Patienten wiesen einen chronischen Krankheitsver­ lauf auf, d.h. die letzte Krankheitsphase dauerte länger als 6 Monate. Diese Be­ sonderheit paßt gut zu der Beobachtung von Bechter und Mitarbeitern, daß BDV-seropositive Patienten eine Tendenz zu ungünstigeren Verlaufsformen zei­ gen (6).

Um die Bedeutung von BDV als einen ätiologischen Faktor für eine psychiatri­ sche oder auch neurologische Krankheit bewerten zu können, ist aber letztend­ lich die Isolierung des Erregers aus dem Gehirn oder dem Liquor cerebrospinalis

2

in Zusammenarbeit mit der Abt. für Virologie des Zentrums der Hygiene (Leiter: Prof. Dr. H.W. Dörr), Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt.

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Sabine Krämer ♦ Elke Weinel ♦ Burkhard Pflug

erforderlich. Hierzu liegen noch nicht viele Untersuchungen vor. Rott, Herzog und Bechter verimpften Liquor von 40 BDV-seropositiven Patienten auf Ver­ suchstier und Zellkulturen. Sie erhielten bei 2 neurologischen Patienten mit aku­ ter lymphocytärer Meningoenzephalitis und bei einer psychiatrischen Patientin in der akuten Phase einer schizophrenen Psychose positive Resultate, d.h. Hinweise für eine ursächliche Beteiligung von BDV. Im Liquor der psychiatri­ schen Patientin fanden die Autoren außerdem eine pathologische Erhöhung des BDV-spezifischen IgG, welches nach 5 Jahren - die Patientin war zu diesem zweiten Untersuchungszeitpunkt psychopathologisch unauffällig - nicht mehr nachweisbar war. Die Autoren interpretieren diesen Befund im Sinne einer zeit­ lichen Korrelation der BDV-Enzephalitis mit der psychotischen Phase (5). In ei­ ner anderen Untersuchung wiesen dieselben Autoren in 25% der Fälle eine BDV-spezifische intrathekale Immunreaktion nach (4). Erst vor kurzem konnte die Arbeitsgruppe um De la Torre sowohl BDVspezifisches Antigen als auch BDV-RNA bei vier Autopsiefällen von menschli­ chen Gehirnen mit Hippocampussklerose und Astrocytose nachweisen3 (10). Dies belegt, daß BDV humanes Gehirngewebe infizieren kann, läßt aber zu­ nächst noch keinen Rückschluß auf die pathogenetische Bedeutung des Erregers zu. Über die Isolierung von BDV aus peripheren Blutmonocyten berichteten Bode und Mitarbeiter 1996 (8); dieser Nachweis gelang allerdings einer ande­ ren Forschergruppe in einer Mehrzenterstudie nicht (11).

Im Hinblick auf mögliche therapeutische Implikationen präsentierte kürzlich die Arbeitsgruppe um Bode in der Zeitschrift „The Lancet" eine Kasuistik einer BDVpositiven manisch-depressiven Patientin, die unter der Behandlung mit Amanta­ din nach dem 11. Behandlungstag symptomfrei wurde. BDV war nach dreiwö­ chiger Therapie nicht mehr nachweisbar (9). Die Autoren sprachen in diesem Zusammenhang von einer antidepressiven Wirksamkeit des Virostatikums. Das Problem eines möglichen Placebo-Effektes wurde allerdings nicht diskutiert. Im folgenden möchten wir eine eigene Kasuistik präsentieren: In diesem Fall wurde eine BDV-Antikörperpositive manisch-depressive Patientin mit Amanta­ din behandelt4. Es ließ sich hier der positive Effekt der antiviralen Therapie nicht bestätigen. 3

Die Autoren suchten unter 600 Autopsie-Fällen nach Gehirnen mit Hippocampussklerose und Astrocytose - den histopathologischen Kennzeichen der BDV Infektion beim Tier. Un­ ter diesen 600 Fällen fanden sie 5 entsprechende Gehirne. Von diesen waren bei 4 Fällen mit immunhistochemischen Methoden sowie RT-PTCR BDV-Antigen und RNA nachweis­ bar. Klinisch zeigten die Pat. zu Lebzeiten Gedächtnisstörungen und depressive Symptome.

4

In Kooperation mit der Poliklinik des Zentrums. Wir danken Herrn Dr. Jens Wenke für die freundliche Überlassung der Ambulanzakte.

70

Bornavirus

und

Depression

Kasuistik Die heute 59 Jahre alte Frau B. erkrankte erstmals 1964 im Alter von 26 Jahren an einer Depression. In der Familie der Patientin sind keine psychischen Krank­ heiten bekannt. Sich selbst schildert Frau B. als einen eher ernsten, sensiblen und zurückhaltenden Menschen, immer - wie sie sagt - „nahe am Wasser ge­ baut". Schon als Kind scheu und zurückgezogen, hatte sie nur wenig Freunde. In ihrem Erleben war das Klima im Elternhaus geprägt durch die emotionalen Eigenarten beider Eltern: So verhielt sich ihr Vater, ein Straßenbahnschaffner, übervorsichtig und ängstlich. Ständig befürchtete er, daß der Familie etwas pas­ sieren könne. Immer wieder kontrollierte er, ob die Türen abgeschlossen und die Wasserhähne zugedreht waren. Die Mutter legte stets größten Wert auf Sau­ berkeit und Ordnung und Frau B. konnte es ihr in dieser Hinsicht nie recht ma­ chen. Noch heute neigt die Patientin zu einem schlechten Gewissen in bezug auf ihre eigene Haushaltsführung und fragt sich oft, was ihr die Mutter wohl an­ kreiden könnte. Nach ihrem Hauptschulabschluß absolvierte Frau B. eine Lehre zur Stenotypistin, heiratete dann und arbeitete bis zur Geburt ihres ersten und einzigen Kindes in dem gelernten Beruf.

Eineinhalb Jahre nach der Geburt ihres Sohnes kam es erstmals zu einer plötz­ lich eintretenden, tiefen depressiven Verstimmung, die eine stationäre Behand­ lung erforderlich machte. Bei der Klinikaufnahme im Jahr 1964 bestand ein ängstlich-depressives Syndrom, inhaltlich geprägt durch Selbstvorwürfe, ihrem eineinhalbjährigen Sohn keine gute Mutter zu sein. Der Ehemann der Patientin ergänzte, daß die Symptomatik seiner Ansicht nach ihren Anfang nahm, als der kleine Sohn erstmals „nein" sagte und anfing, eigensinniger und auch eigen­ ständiger zu werden. Nach einem längeren stationären Aufenthalt heilte diese erste depressive Phase unter der Therapie mit einem tricyclischen Antidepressi­ vum vollständig aus, und die Patientin war über mehrere Jahre annähernd be­ schwerdefrei. Etwa zehn Jahre später kam es zu einer „Ehekrise": Frau B. hatte in einer Phase euphorischer Stimmung und Überaktivität ohne Wissen des Ehemannes eine Wohnung angemietet und ihn mit dem Entschluß überrascht, daß sie ihn verlas­ sen werde, da er sich nicht mehr genügend um sie kümmere. Dieses manische Syndrom kippte abrupt. Es kam zu einer erneuten Depression, die ambulant gut behandelt werden konnte. In den folgenden Jahren war Frau B. unter einer Lithium-Prophylaxe bis auf leichteredepressiveVerstimmungen psychisch stabil.

1984 wurde Frau B. zum zweiten Mal stationär aufgenommen: Vermutlich hatte ein Umzug des Ehepaares und der damit verknüpfte Auszuges des Sohnes aus der elterlichen Wohnung eine erneute depressive Phase ausgelöst. Zusätzlich zu der depressiven Symptomatik entwickelte Frau B. nun phobische Ängste davor, 71

Sabine Krämer ♦ Elke Weinel ♦ Burkhard Pflug

die Wohnung zu verlassen, und Kontrollzwänge. Sie war ständig beunruhigt, „irgendetwas" könne passieren. Vor dem Verlassen der Wohnung kontrollierte sie immer wieder die Elektrogeräte, schließlich konnte sie sogar nur noch in Be­ gleitung ihres Mannes aus dem Haus gehen. Nach einem Einbruch in die Woh­ nung verstärkten sich ihre Ängste. Frau B. wurde beherrscht von dem Gedan­ ken, daß wieder eingebrochen werden könne. Eine verhaltenstherapeutischkognitive Psychotherapie besserte die Zwänge und die Angstsymptomatik au­ ßerhalb der depressiven Phasen. In Zusammenhang mit neuerlichen Verstim­ mungen traten die Zwänge und Ängste jedoch wieder verstärkt auf. Trotz fortgeführter Lithium-Prophylaxe erlitt Frau B. 1996 erneut eine schwere depressive Phase, die etwa ein Jahr andauerte. Medikamentöse Therapieversu­ che mit verschiedenen tri- und tetracyclischen Antidepressiva sowie SerotoninWiederaufnahmehemmern blieben ohne wesentlichen Erfolg. Auf Wunsch der Patientin wurde ein BDV-Antikörper-Test (ELISA) durchgeführt, der mit 1:20 po­ sitiv ausfiel; Antigen war im ELISA nicht nachweisbar. Mit dem Test verknüpfte Frau B. die Hoffnung, nun endlich einen faßbaren Grund für ihre Erkrankung gefunden zu haben, und gleichzeitig den Wunsch nach einer kausalen Thera­ pie. Überwiegend auf ihr Drängen wurde die Patientin ambulant mit Amantadin in folgender Dosierung behandelt: 2 Tage 100 mg oral, dann 8 Tage 200 mg oral. In der Kontrolluntersuchung nach der Behandlung waren BDV-Serumantikörper nicht mehr nachweisbar. Am psychischen Zustand der Patientin hatte sich jedoch nichts geändert, und Frau B. mußte erneut stationär aufgenommen werden. Erst unter der Behandlung mit Tranylcypromin kam es dann im Verlauf von 3 Wochen zu einer deutlichen Besserung des psychopathologischen Bildes, so daß Frau B. schließlich in beschwerdefreiem Zustand wieder entlassen wer­ den konnte.

Wie viele der depressiven Patienten, die wir auf eine Infektion mit Borna-Viren untersuchten, brachte auch Frau B. ihre Hoffnung zum Ausdruck, mit der Testuntersuchung endlich ein „schuldiges Agens" für die Erkrankung zu finden. Dem herkömmlichen somatischen Krankheitskonzept entsprechend wäre eine Infektion als ausschließliche Ursache einer Depression für Patienten leichter verstehbar und würde sie zumindest teilweise von Schuld- und Insuffizienzge­ fühlen entlasten. Gerade diese Tatsache scheint uns im Hinblick auf einen mög­ lichen Placebo-Effekt bei der Behandlung mit Amantadin bedeutsam. Die vorgestellte Kasusitik läßt erkennen, daß die Auslösesituationen und der Verlauf der Manisch-Depressiven Krankheit von Frau B. nicht nur durch biologi­ sche Faktoren determiniert zu sein scheinen, sondern eng mit der primärpersön­ lichen Entwicklung und den Lebensumständen verknüpft sind. Unter dem Ein­ fluß zwanghaft-kontrollierender Eltern entwickelte die Patientin Persönlich­ keitseigenschaften, die durch Anpassung, Zurückhaltung und Ängstlichkeit ge72

Bornavirus

und

Depression

prägt sind. Sie ist ordentlich, korrekt, stellt hohe Ansprüche an sich und weist somit viele der Eigenschaften auf, die von Tellenbach unter dem „Typus melancholicus" subsummiert wurden. Psychodynamisch betrachtet, ist ihr intrapsychi­ scher Konflikt vor allem um Abhängigkeit und Autonomie zentriert. Es läßt sich vor dem Hintergrund eines eher zwanghaft rigiden Elterhauses vermuten, daß ihre eigene Autonomieentwicklung bis heute hoch konflikthaft ist und ihre Wünsche nach Selbständigkeit schuld- und schambesetzt sind. Die damit ver­ bundenen aggressiven Tendenzen werden abgewehrt und gegen die eigene Per­ son gewendet. Wie ihre Lebensgeschichte zeigt, werden jeweils in Trennungsund Veränderungssituationen diese Konflikte aktiviert, zum Beispiel erkrankte die Patientin an einer Depression, als ihr Sohn in ein Lebensalter entritt, in dem Ablösung, Selbstbehauptung und die damit verbundene Aggression eine große Rolle spielen. Auch die zweite und dritte depressive Phase traten in engem zeit­ lichen Zusammenhang mit eigenen Autonomiestrebungen und denen des Soh­ nes auf.

Abschließend möchten wir darauf hinweisen, daß trotz zahlreicher, vorwiegend epidemiologischer und laborchemischer Untersuchungen zu dem Thema Bor­ navirus und Depression die klinisch-psychiatrische Relevanz einer BDVInfektion zur Zeit noch unklar ist. Bemüht man sich im Verständnis und in der Behandlung einer depressiven Erkrankung um eine multifaktorielle Sicht, scheint eine direkte Korrelation zwischen BD-Virusproduktion im peripheren Blut und Psychopathologie -wie sie von Bode und Mitarbeitern impliziert wirdzu einseitig. Die zum Teil widersprüchlichen Forschungsergebnisse lassen für den klinischen Umgang mit dem Problem viele Fragen offen. Dies bringt auch ein Zitat von Bechter aus einer aktuellen Arbeit (6) gut zum Ausdruck: „Nach unserer Beurteilung ist bei der offensichtlich erheblichen Zahl gesunder BDVseropositiver Personen anzunehmen, daß eine humane BDV-Infektion in der Mehrzahl der Fälle inapparent verläuft. In manchen Fällen sind aber neu­ ropsychiatrische Störungen mit einiger Wahrscheinlichkeit auf eine Infektion mit BDV zurückzuführen. Die Situation könnte insofern vergleichbar der Po­ liomyelitis sein, bei der nur ca. 4 % der Infizierten die gefürchteten Lähmungen entwickeln. Zweifellos sind weitere Forschungen zur Frage der Humanpatho­ genität von BD-Virus dringend angezeigt."

73

Sabine Krämer ♦ Elke Weinel ♦ Burkhard Pflug

Literatur (1) Amsterdam JD, Kao M, Shankar V, Koprowski H, Dietzschold B (1993): Detection of Bor­ na-disease virus-reactive antibodies from patients with affective disorders by western immunoblot technique. Journal of Affective Disorders 27 (1 ):61-68 (2) Bechter K, Herzogs, Fleischer B, Schüttler R, Rott R (1987): Magnetic resonance imaging in psychiatric patients with and without serum antibodies against Borna disease. Ner­ venarzt 58:617-624. (3) Bechter K, Herzog S, Schüttler R (1992): Possible significance of Borna disease for hu­ mans. Neurol Psychiatry Brain Res 1:23-29

(4) Bechter K, Herzog S, Behr W, Schüttler R (1995): Investigations of cerebrospinal fluid in Borna disease virus seropositive psychiatric patients. Eur Psychiatry 10:250-258 (5) Bechter K, Herzog S, Schüttler R (1996): Borna-disease virus-possible cause of human neu­ ropsychiatric disorders. Neurol Psychiatry Brain Res. 4:45-52 (6) Bechter Kz Herzog S, Richt JA, Schüttler R (1997): Zur Pathogenität von Borna-diseaseVirus für psychiatrische und neurologische Störungen beim Menschen. Nervenarzt 68:425-429 (7) Bode L, Ferszt R, Czech G (1993): Borna disease virus infection and affective disorders in Man. Archives of Virology-Supplementum 7:156-167

(8) Bode L, Dürrwald R, Rantam FA, Ferszt R, Ludwig H (1996) First isolates of human borna disease virus from patients with mood disorders. Mol Psychiatry 1:200-212 (9) Bode L, Dietrich DE, Stoyloff R, Emrich HM, Ludwig H (1997): Amantadine and human Borna disease virus in vitro and in vivo in an infected patient with bipolar depressi­ on. Lancet 349:178-179 (10) De la Torre JC, Gonzales-Dunia D, Cubbitt B, Mallory M, Müller-Lantzsch N, Grässer FA, Masliah E (1996): Detection of Borna disease virus antigen and RNA in human autopsy brain samples from neuropsychiatric patients. Virology 223:272-282

(11) Richt JA, Alexander RC, Herzog S, Hooper DC, Kean R, Spitsin S, Bechter K, Schüttler R, Feldmann H, Heiske A, Fu ZF, Dietzschold B, Rott R, Koprowski H (1997): Failure to detect Borna disease virus infection in peripheral leukocytes from humans with psychiatric disorders. J. Neurovirol 3:174-178 (12) Rott R, Herzogs, Fleischer B, Winokur A, Amsterdam J, Dyson W, Koprowski H (1985): Detection of serum-antibodies to Borna disease virus in patients with psychiatric di­ sorders. Science 228:755-756 (13) Rott R, Herzog S, Bechter K, Frese K (1991): Borna disease, a possible hazard for man? Arch Virol 118:143-149

(14) Sauder C, Müller A, Cubitt B, Mayer J, Steinmetz J, Trabert W, Ziegler B, Wanke K, Mueller-Lantzsch N, de la Torre JC, Grasser FA (1996): Detection of Borna disease vi­ rus (BDV) antibodies and BDV RNA in psychiatric patients: evidence for high se­ quence conservation of human blood-derives BDV RNA. J Virol 70 (11) 7713-7724. (15) Waltrip RW, Buchanan RW, Summerfelt A, Breier A, Carpenter WT Jr, Bryant NL, Rubin SA, Carbone KM (1995): Borna disease virus and schizophrenia. Psychiatry Research 56 (1) 33-44.

74

Waltere. Müller

Pharmakologische Grundlagen der neueren Antidepressiva und ihre Bedeutung für die therapeutische Anwendung 1. Gemeinsame Aspekte im Wirkungsmechanismus, viele Wege führen zum gleichen Ziel Zur Behandlung depressiver Störungen stehen heute eine Reihe von Substanzen mit unterschiedlichem pharmakologischem Wirkungsmechanismus zur Verfü­ gung. Auf der klinischen Ebene ist es aber bis heute nicht gelungen, diese Sub­ stanzen im Hinblick auf die eigentliche antidepressive Wirkung grundlegend zu differenzieren (1,11,20,21). Dem widerspricht nicht, daß der individuelle Pati­ ent auf eine Substanz besser als auf eine andere anspricht. Versucht man nun diese Diskrepanz, eher gleiche klinische Wirkung auf der einen Seite gegen un­ terschiedliche, aber spezifische pharmakologische Wirkungsmechanismen auf der anderen Seite zu verbinden, dann muß man letztlich zu einem Erklärungs­ muster der antidepressiven Wirksamkeit der heute zur Verfügung stehenden Substanzen finden, wie es in dem Schema in Abb. 1 dargestellt ist. Antidepres­ siva kommen über eine ganze Reihe unterschiedlicher Primäreffekte im zentra­ len Nervensystem zur Wirkung. Die in Abb. 1 dargestellten z.T. sehr spezifi­ schen Primärmechanismen sind eher restriktiv betrachtet und beziehen sich nur auf in ihrer klinischen Wirksamkeit belegte Substanzen. Sie könnten heute noch durch eine ganze Reihe anderer Mechanismen ergänzt werden, über die man möglicherweise auch akut eine antidepressive Wirksamkeit am Patienten initiie­ ren kann. Gemeinsam ist allen diesen akuten Wirkungsmechanismen, daß sie, wie schon der Name sagt, direkt nach Applikation auftreten und damit nicht mit der verzögerten Ausbildung der antidepressiven Wirkung am Patienten überein­ stimmen. Man geht daher heute davon aus, daß sekundär zu diesen akuten Be­ einflussungen der zentralen Neurotransmission es vor allen Dingen auf der Ebenevon Rezeptoren und Rezeptor-gekoppelten Transduktionsmechanismen zu adaptiven Veränderungen als Antwort auf den akuten Eingriff in die zentrale Neurotransmission kommt, von denen eine Down-Regulation von Dichte und Empfindlichkeit zentraler ß-Rezeptoren am besten untersucht ist (ß-Downregulation) (Abb. 1). Nicht alle Antidepressiva bewirken eine ß-Downregulation und viele Antidepressiva bewirken neben der ß-Downregulation noch zusätzli­ che adaptive Veränderungen im Bereich der serotonergen und auch der dopa75

Walter E. Müller

minergen Neurotransmission (Abb. 1). Neuesten Untersuchungen nach sind von solchen adaptiven Veränderungen möglicherweise auch GABAerge Mechanis­ men, glutamaterge Mechanismen und wahrscheinlich auch die Empfindlichkeit von Glukokortikoid-Rezeptoren betroffen. Wir sind heute nicht in der Lage, eine dieser adaptiven Veränderungen ausschließlich mit der antidepressiven Wirk­ samkeit in Verbindung zu bringen, sondern sehen diese im Tierexperiment be­ stimmbaren adaptiven Veränderungen eher als Ausdruck einer Anpassung oder funktionellen Plastizität die möglicherweise als direktes Korrelat der antidepres­ siven Wirkung angesehen werden kann. Auf der anderen Seite haben sich diese adaptiven Veränderungen als wichtiger Baustein erwiesen, gemeinsame und unterschiedliche Aspekte des biochemischen Wirkungsmechanismus von Anti­ depressiva zu charakterisieren (13, 16). Auch Elektrokrampftherapie und Schlaf­ entzug lassen sich hier einpassen, da auch hier im biochemischen Experiment entsprechende adaptive Veränderungen gesehen wurden.

Akute Effekte

NA-WiederaufnahmeHemmung

5-HT-WiederaufnahmeHemmung

MAOHemmung

02-

Blockade

5-HTiHemmung

Adaptive Veränderungen

ß-DownRegulation

ai-UpRegulation

5-HT2DownRegulation

5-HTiEmpfindlichkeitszunahme

D2Empfindlichkeitszunahme

D1DownRegulation

Antidepressive Wirkung

Abbildung 1: Generelle Bedeutung von akuten Effekten und adaptiven Veränderungen im biochemischen Wirkungsmechanismus von Antidepressiva (nach (16))

76

Pharmakologische Grundlagen

der neueren

Antidepressiva und ihre Bedeutung

FÜR DIE THERAPEUTISCHE ANWENDUNG

Dieser eher unspezifische gemeinsame Wirkungsmechanismus der Antidepres­ siva läßt natürlich die Frage aufkommen, warum soll man überhaupt pharmako­ logisch spezifischere Substanzen entwickeln und in die Therapie einführen, wenn wir in den pharmakologisch gesehen äußerst unspezifischen älteren triund tetrazyklischen Antidepressiva eigentlich schon gut wirksame Substanzen in der Hand haben. Der Grund dafür liegt weniger im Bereich einer Verbesserung der antidepressiven Wirksamkeit, sondern auch in Verbesserungen der Verträg­ lichkeit. Dies ist dadurch möglich geworden, daß die zum Teil erheblichen un­ erwünschten Arzneimittelwirkungen der alten Trizyklika (UAW) zum großen Teil auf Mechanismen zurückgehen (antagonistische Effekte an verschiedenen Neurotransmitterrezeptoren, Natriumkanal-antagonistische chinidinartige Effek­ te), die mit dem eigentlichen antidepressiven Wirkungsmechanismus nichts zu tun haben (Tab. 1). Viele dieser UAW's der trizyklischen Antidepressiva sind bei älteren Patienten besonders ausgeprägt (Tab. 2) was in der Empfehlung seinen Ausdruck findet, „ältere Patienten möglichst nicht mit Trizyklika zu behandeln." Diese Empfehlung hat bei uns leider nicht dazu geführt, ältere depressive Pati­ enten vermehrt mit den neueren, nebenwirkungsärmeren Antidepressiva zu be­ handeln, sondern hat dazu geführt, daß ältere Patienten nicht oder mit nicht ausreichenden Dosen der älteren Trizyklika behandelt werden. Tabelle 1: Mögliche unerwünschte Arzneimittelwirkungen durch Blockade von Neurorezeptoren

M

-

-

Trockener Mund Verschwommenes Sehen Akkomodationsstörungen Sinustachykardie Verstopfung Harnretension Miktionsstörungen Gedächtnisstörungen

Hi

-

Sedierung, Müdigkeit Schläfrigkeit Verstärkung anderer zentral dämpfender Substanzen Gewichtszunahme (?)

ai

-

Orthostase, Blutdrucksenkung Schwindel, Benommenheit Schwindel, Benommenheit Sedation

77

Walter E. Müller

Reflextachykardie Verstärkung der Wirkung anderer ai-B locker

D2

Extrapyramidal-motorische Störungen Prolactin-Erhöhung Sexuelle Funktionsstörungen

5-HT2

Appetitzunahme Gewichtszunahme Blutdrucksenkung

5-HT3

Antiemetische Wirkung Anxiolyse (?)

Tabelle 2: Bei älteren Patienten besonders ausgeprägte und besonders ernst zu nehmende UAW's der trizyklischen Antidepressiva —

— — — —

— -

— — -

Sedation Hypotension, Orthostase Kardiotoxizität Überleitungsstörungen Abnahme der Kontraktilität (meist erst bei toxischen Dosen) peripher: trockener Mund (Probleme mit Prothesen) Tachykardie, Obstipation, Miktionsstörungen Akkomodationsstörungen (cave: Glaukom) zentral: kognitive Störungen, Verwirrtheit, anticholinerges Delir

Vor diesem Hintergrund muß man es sehr begrüßen, daß es in den letzten Jah­ ren gelungen ist, eine ganze Reihe neuer Substanzen zu entwickeln, die über spezifischere und damit nicht so nebenwirkungsbefrachtete Wirkungsmecha­ nismen letztlich doch eine den trizyklischen Antidepressiva vergleichbare anti­ depressive Wirksamkeit aufweisen. Dazu gehören neben den reversiblen spezi­ fischen MAO-A-Hemmern wie Moclobemid (16) vor allem die folgenden Sub­ stanzklassen, bei denen schon allein die Terminologie, aber dann auch der un­ terschiedliche Wirkungsmechanismus dem nicht in der Materie stehenden gro­ ße Verständnisprobleme bereiten.

78

Pharmakologische Grundlagen der neueren Antidepressiva und ihre Bedeutung FÜR DIE THERAPEUTISCHE ANWENDUNG

2. Die spezifischen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) Die SSRIs hemmen die neuronale Wiederaufnahme von Serotonin schon bei sehr viel niedrigeren Konzentrationen als die Noradrenalin-Wiederaufnahme (Tab. 2). Die einzelnen SSRIs zeigen allerdings sehr unterschiedlich Selektivitä­ ten für die Serotonin-Wiederaufnahme. Gerade ältere Substanzen wie das Fluo­ xetin sind deutlich weniger selektiv als die neueren Verbindungen Citalopram und Sertralin. Allen SSRIs ist aber gemeinsam, daß sie in den Konzentrationsbe­ reichen, die zu einer deutlichen Beeinflussung der Serotonin-Wiederaufnahme führen, praktisch keine relevanten Interaktionen mit den NeurotransmitterRezeptorsystemen zeigen (Tab. 2), die wie wir im vorangegangenen gehört ha­ ben, für die unerwünschten Arzneimittelwirkungen der Trizyklika verantwort­ lich sind (Tab. 1). Darüber hinaus fehlen den SSRIs auch die chinidinartigen und damit direkt kardiotoxischen Eigenschaften, die vor allen Dingen bei Überdosie­ rungen mit den Trizyklika fatal sein können. Die SSRIs haben sich aufgrund die­ ser Eigenschaften in den letzten Jahren als gute, von vielen als gleichwertig an­ gesehene Antidepressiva etabliert, die viele der sehr häufig für den Patienten unangenehmen zum Teil aber auch gefährdenden Arzneimittelwirkungen der Trizyklika nicht zeigen. Auf der anderen Seite führt der spezifische Wirkungs­ mechanismus der SSRIs aber auch zu klassenspezifischen und quantitativ rele­ vanten Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Unruhe und Schlaflosigkeit (1,10,11,19).

Im Hinblick auf den biochemisch-pharmakologischen Wirkungsmechanismus lassen sich die SSRIs auch in das Standardschema (Abb. 1) einordnen. Bei den adaptiven Veränderungen von ß-Rezeptoren und 5-HT2-Rezeptoren gibt es deut­ liche Überlagerungen zwischen Trizyklika und einigen SSRIs, wobei allerdings nicht alle SSRIs hier aktiv sind wie z. B. Citalopram und Paroxetin. Beide zeigen aber auf der anderen Seite bei adaptiven Veränderungen von DopaminRezeptoren Parallelen zu den Trizyklika und lassen sich damit dann doch in das in Abb. 1 dargestellte allgemeine Schema einpassen (13,14,17,19).

79

Walter E. Müller

3. Gemeinsame Hemmung der Serotonin- und NoradrenalinWiederaufnahme, das duale Wirkungsprinzip des spezifischen Serotonin- und Noradrenalin-Wieder­ aufnahmehemmers (SSNRI) Venlafaxin Wie im vorangegangenen ausgeführt, ist es mit der Entwicklung der SSRIs ge­ lungen Substanzen zu entwickeln, die viele der unerwünschten Arzneimittel­ wirkungen der Trizyklika nicht mehr aufweisen und aus dem Bereich der für die antidepressive Wirkung relevanten Mechanismen nur noch die neuronale Sero­ tonin-Wiederaufnahme beeinflussen. Die Hoffnung allerdings, hier nun auch spezifisch Patienten mit einer „Serotonin-betonten depressiven Störung" errei­ chen zu können, hat sich in allen klinischen Untersuchungen der letzten Jahre im wesentlichen nicht bestätigen lassen. Wir müssen vielmehr heute davon ausgehen, daß global gesehen spezifische SSRIs, spezifische MAO-A-Inhibitoren und unspezifische Trizyklika in etwa eine gleiche therapeutische Wirkung ha­ ben und dem gleichen Prozentsatz der Patienten helfen (1,5,8,12). Die Annah­ me einer Serotonin-betonten Depression auf der einen Seite und einer Norad­ renalin-betonten Depression auf der anderen Seite muß daher heute immer kri­ tischer gesehen werden. Parallel dazu weisen Meta-Analysen der vorliegenden klinischen Daten, in denen SSRIs mit Triyzklika verglichen wurden, darauf hin, daß beide Substanzklassen auch bei schwer depressiven Patienten als therapeu­ tisch gleichwertig angesehen werden können (1,11). Dies ist allerdings nicht unbestritten, da es auch eine Reihe von Studien gibt, die eher von einer thera­ peutischen Überlegenheit der Trizyklika, besonders bei schwereren depressiven Störungen ausgehen (5,6,9,20). Diese differenzierte Betrachtung, die sich auch mit dem individuellen Eindruck vieler Kliniker deckt, hat in letzter Zeit auch von pharmakologischer Seite eine gewisse Unterstützung bekommen, da ge­ zeigt werden konnte, daß die Down-Regulation von ß-Rezeptoren im frontalen Kortex der Ratte durch die Kombination eines SSRI (Fluoxetin) und eines Norad­ renalin-betonten Trizyklikums (Desipramin) additiv beeinflußt werden kann (3). Unter der Kombination war die ß-Downregulation schneller nachweisbar und war auch im absoluten Ausmaß eher verstärkt. Diese Befunde, die parallel ge­ hen mit klinischen Beobachtungen einer verstärkten antidepressiven Wirksam­ keit einer Kombination eines Serotonin- und eines Noradrenalin-betonten Anti­ depressivums (18) waren letztlich das Rational, daß man sich in den letzten Jah­ ren bemüht hat, Antidepressiva zu entwickeln, die ähnlich wie die Trizyklika die neuronale Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme hemmen, die aber nicht das störende Rezeptorprofil dieser älteren Substanzen aufweisen. Die erste kürzlich bei uns in die Therapie eingeführte Substanz dieser neuen Klasse der Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRls) (2) wurde in 80

Pharmakologische Grundlagen

der neueren

Antidepressiva und ihre Bedeutung

FÜR DIE THERAPEUTISCHE ANWENDUNG

Form des Venlafaxins kürzlich eingeführt (8,15). Verschiedene andere Substan­ zen sind in der Entwicklung (2). Venlafaxin hemmt ähnlich wie die Trizyklika die neuronale Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin mit einem Se­ lektivitätsfaktor von nur ca. 5. D. h. auch Venlafaxin beeinflußt zwar die Seroto­ nin-Wiederaufnahme etwas stärker als die Noradrenalin-Wiederaufnahme, was vor allen Dingen bei niedrigeren Dosierungen bedeutsam ist. Bei höheren Do­ sierungen muß darüber hinaus mit zusätzlichen Effekten auf die NoradrenalinWiederaufnahme gerechnet werden. Im Hinblick auf Rezeptor-antagonistische Eigenschaften verhält sich aber Venlafaxin wie ein klassischer SSRI und hat dar­ über hinaus keine Natriumkanal-antagonistische chinidinartige Eigenschaften. Kurz zusammengefaßt ist es damit im Venlafaxin gelungen, die beiden für die antidepressive Wirksamkeit relevanten pharmakologischen Eigenschaften der traditionellen Trizyklika in einem Molekül zu vereinigen, ohne hier auch gleich­ zeitig die negativen Eigenschaften dieser sehr erfolgreichen Substanzklasse in Kauf nehmen zu müssen (8). Auf der anderen Seite lassen sich die wesentlichen Nebenwirkungen von Venlafaxin entweder über die Serotonin-Wiederauf­ nahmehemmung erklären und sind SSRI-analog (Übelkeit, Erbrechen, Unruhe, Schlafstörungen) oder über die Noradrenalin-Wiederaufnahme, wie die bei ei­ nigen Patienten unter höheren Dosierungen auftretende Erhöhung des Blut­ drucks, die auch bei den Trizyklika gesehen wird. Die aus diesen pharmakolo­ gischen Eigenschaften ableitbare Spekulation, daß Venlafaxin möglicherweise besser antidepressiv wirksam ist als reine SSRIs konnte tatsächlich in einigen Untersuchungen bestätigt werden, wo vor allen Dingen ein schnelleres Anspre­ chen im Einzelfall aber auch eine global etwas bessere antidepressive Wirksam­ keit gezeigt werden konnte (2,8). Die Zukunft und die Breite täglicher Anwen­ dung werden allerdings zeigen müssen, ob die neue Rückbesinnung auf die al­ ten Wege auch in der täglichen Praxis das hält, was einige der oben erwähnte klinischen Untersuchungen annehmen lassen.

4. Mirtazapin als erster Vertreter der Noradrenalin- und Serotonin-spezifischen Antidepressiva (NaSSA) Die Entwicklung des kürzlich bei uns neu eingeführten Mirtazapins (7,11) läßt sich auf die schon lange bei uns in die Therapie eingeführte strukturanaloge Substanz Mianserin zurückführen. Beim Mianserin geht man davon aus, daß die antidepressive Wirksamkeit letztlich über zwei primäre Eingriffe in die zentrale Neurotransmission zustandekommt, nämlich über die klassische Hemmung der neuronalen Noradrenalin-Wiederaufnahme und zusätzlich durch antagonisti­ sche Effekt an zentralen a2-Autorezeptoren (Abb. 1), die bei überschießender noradrenerger Aktivierung von synaptischem Noradrenalin erregt werden und

81

Walter E. Müller

dann die Noradrenalin-Freisetzung reduzieren. Wird dieser interne Bremsme­ chanismus ausgeschaltet (z.B. durch a2-Antagonisten) kommt es zu einer Akti­ vierung der noradrenergen Neurotransmission (12). Mirtazapin ist ein stark wirksamer a2-Rezeptorantagonist, der nur noch über diesen Mechanismus akti­ vierend in die zentrale noradrenerge Neurotransmission eingreift. Weiterfüh­ rende Untersuchungen haben aber zusätzlichen gezeigt, daß es zu ähnlichen Effekten auch im Bereich der serotonergen Neurotransmission kommt, die man dadurch erklären kann, daß zumindest ein Teil der serotonergen Neurone der Raphekerne von a2-Heterorezeptoren inhibiert werden. Werden diese Rezepto­ ren wiederum durch den a2-Antagonisten Mirtazapin ausgeschaltet, entfällt auch hier der Hemmechanismus und die Aktivität serotonerger Neurone und damit der serotonergen Neurotransmission nimmt zu (4,6). Im Hinblick auf die sonst gewählte Terminologie, die sich immer auf den Primärmechanismus be­ zieht, ist Mirtazapin damit eigentlich ein zentral-wirksamer oi2-Rezeptor-Antagonist. Mirtazapin hat damit funktionell gesehen gewisse Ähnlichkeiten zu den Substanzen aus der Gruppe der SSNRls, nämlich zumindest eine Verstärkung der beiden für die Depression wichtigen Neurotransmissionssysteme Norad­ renalin und Serotonin. Aufgrund dieser funktionellen Analogien zu den SSRIs würde man eigentlich vom Mirtazapin auch deren typische unerwünschte Arz­ neimittelwirkungen erwarten wie Übelkeit, Erbrechen, Unruhe und Schlafstö­ rungen. Daß trotz serotonerger Aktivierung diese Nebenwirkungen relativ un­ bedeutend sind, hat zwei pharmakologische Ursachen: Zum einen ist Mirtaza­ pin ein mittelstarker Antagonist an Histamin-Hi-Rezeptoren, so daß die Sub­ stanz zu den sedierenden Antidepressiva ähnlich wie verschiedene Trizyklika gerechnet werden kann, was in Abhängigkeit von der individuellen Symptoma­ tik ein Vorteil oder auch ein Nachteil sein kann. Darüber hinaus ist Mirtazapin auch ein relativ starker Antagonist an 5-HT2- und 5-HTa-Rezeptoren, so daß die auf Erregung von 5-HT2- und 5-HTa-Rezeptoren zurückgehenden Nebenwirkun­ gen wie Übelkeit, Erbrechen, Unruhe und Schlafstörungen selten auftreten. Die Verstärkung der serotonergen Neurotransmission durch Mirtazapin macht sich an der Postsynapse im wesentlichen durch eine vermehrte Aktivierung von 5-HTiA-Rezeptoren bemerkbar. An diesen wirkt Mirtazapin nicht als Antagonist. Damit scheint die Aktivierung der 5-HTiA-Rezeptoren für die Ausbildung der antidepressiven Wirksamkeit von Mirtazapin von besonderer Bedeutung zu sein, die in einer Reihe von kontrollierten Vergleichsuntersuchungen belegt werden konnte (8,11). Die unter Mirtazapin häufiger gesehenen unerwünschten Arzneimittelwirkungen lassen sich auch aus den pharmakologischen Eigenschaf­ ten ableiten wie Müdigkeit, Schläfrigkeit und übermäßige Sedierung (H1Antagonismus) und wie Appetitzunahme und damit verbunden Zunahme des Körpergewichts (5-HT2-Antagonismus). Nicht in Beziehung zum eigentlichen

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Pharmakologische Grundlagen

der neueren

Antidepressiva und

ihre

Bedeutung

FÜR DIE THERAPEUTISCHE ANWENDUNG

pharmakologischen Wirkungsmechanismus aber in Analogie zu der chemischen Muttersubstanz Mianserin ist die Empfehlung zu sehen, beim Einsatz von Mirta­ zapin wegen der wohl sehr seltenen Gefahr einer Leukopenie bzw. Agranulo­ zytose das Blutbild zu kontrollieren. Spezifische Nebenwirkungen aufgrund der a2-antagonistischen Eigenschaften sind nicht bekannt. Tabelle 3: Biochemische Profile wichtiger TCAs, SSRIs und von Venlafaxin und Mirtazapin. Inhibitionskonstanten für die Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin (NA) und Serotonin (5-HT) beziehen sich auf Rattenhirn-Synaptosomen (5,12) und die Hemmkonstanten für spezifische Ligandenbindung an den Histamin-Hi, den Muskarin (M), den ai-adreno-, den az-adreno- und an den 5-HTz-Rezeptor beziehen sich auf Untersuchungen an humanem Hirnmaterial (15,17).

Inhibitionskonstanten (nmol/l)

NA-Auf-

5-HT-Auf-

nahme

nahme

Hi

a2

ai

M

5-HT2

Amitriptylin

14

84

1

10

24

940

18

Clomipramin

28

5

31

37

38

>1000

54

0.6

180

60

66

100

>1000

350

Doxepin

18

220

0.2

23

24

>1000

27

Imipramin

14

41

37

46

32

>1000

150

Maprotilin

7

>1000

2

570

90

>1000

120

Mianserin

42

>1000

0.4

820

34

73

7

2

154

6

37

55

>1000

41

510

>1000

0.3

58

24

680

32

Desipramin

Nortriptylin Trimipramin

Citalopram

>1000

1

470

>1000

>1000

>1000

>1000

Fluoxetin

143

14

>1000

590

>1000

>1000

280

Fluvoxamin

500

7

>1000

>1000

>1000

>1000

>1000

Paroxetin

33

0.7

>1000

110

>1000

>1000

>1000

Sertralin

220

3

>1000

630

380

>1000

>1000

Venlafaxin

210

39

>1000

>1000

>1000

>1000

>1000

Mirtazapin





0.5

500

500

10

5

83

Walter E. Müller

5. Zusammenfassung Die Ausführungen haben gezeigt, daß im Bereich der Neuroleptika und der An­ tidepressiva die Entwicklung moderner Substanzen mit nur noch einem für die primäre klinische Wirkung verantwortlichen Wirkungsmechanismus nicht alle Probleme gelöst hat. Daher ist man im Prinzip wieder einen Schritt zurückge­ gangen und hat in der letzten Zeit wieder Substanzen entwickelt, die neben dem primär für die Wirkung relevanten Mechanismus noch zusätzliche Mecha­ nismen beeinflussen. Im Gegensatz zu den Altsubstanzen hat man aber hier versucht, gezielt nur noch solche Mechanismen in die Molekülstruktur einzu­ bauen, die bestimmte Nebenwirkungsqualitäten abdämpfen. Damit sind die neueste Generation der Antidepressiva im pharmakologischen Sinne „dirty drugs", also Substanzen mit mehr als einem Wirkungsmechanismus. Allerdings spielen die meisten dieser Effekte im Gesamtspektrum der therapeutischen und unerwünschten Wirkungen positiv zusammen, so daß diese neuen Substanzen unter dem Strich dann doch deutliche therapeutische Fortschritte darstellen mit gut klinisch wirksamen Substanzen mit erheblich reduziertem Nebenwirkungs­ profil.

Literatur (1) Anderson IM, Tomenson BM (1994): The efficacy of selective serotonin re-uptake inhibi­ tors in depression: a meta-analysis of studies against tricyclic antidepressants. J Psychopharmacol 8:238-249

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84

Pharmakologische Grundlagen der neueren Antidepressiva und ihre Bedeutung FÜR DIE THERAPEUTISCHE ANWENDUNG

(8) Freisieder FJ, Schmaub M (1996): Venlafaxin. Stellenwert in der psychiatrischen Pharma­ kotherapie. Psychopharmakotherapie 3:152-157 (9) Gastpar M (1987): Wie ist die antidepressive Wirkung und die Verträglichkeit der klassi­ schen, trizyklischen Antidepressiva im Vergleich zu neueren Antidepressiva zu beur­ teilen? In: Hippius H, Rüther E (Eds.) 1. Psychiatrische Gespräche am Gasteig. Anti­ depressiva und Depressionsbehandlung in der ärztlichen Praxis. Springer Berlin, Heidelberg.

(10) Johnson AM (1991): The comparative pharmacological properties of selective serotonin re-uptake inhibitors in animals. In: Feighner JP, Boyer WG (Eds.) Selective serotonin re-uptake inhibitors. John Wiley & Sons, Chichester New York.

(11) Kasper S (1996): Mirtazapin. Klinisches Profil eines noradrenalin- und serotoninspezifi­ schen Antidepressivums. Psychopharmakotherapie 3:158-160 (12) Kasper S, Heiden A (1995): Do SSRIs differ in their antidepressant efficacy. Human Psy­ chopharmacology 10:163-S172

(13) Leonard BE (1995): Mechanisms of action of antidepressants. CNS Drugs 4 (suppl. 1):112 (14) Maj J, Rüther E, Dieterle D (1995): Beurteilung von Antidepressiva mit dem AsoloSchema. II. Ist eine pharmakologische Differenzierung der Antidepressiva möglich? Psychopharmakotherapie 2:170-176

(15) Müller WE (1997): Wie wirken die neueren Antidepressiva? Psychopharmakotherapie 4:2-5

(16) Müller WE, Baier D, Dingemanse J (1994): Pharmakodynamische und pharmakokineti­ sche Grundlagen der Therapie mit Moclobemid. Psychopharmakotherapie 1 (suppl. 2):4-8 (17) Müller WE, Eckert A (1997): Pharmakodynamische Grundlagen der Therapie mit spezifi­ schen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern. Psychopharmakotherapie 4 (Suppl. Nr. 7):2-8 (18) Nelson JC, Mazure CM, Bowers MBJ, Jatlow PI (1991): A preliminary open study of the combination of fluoxetine and desipramine for rapid treatment of major depression. Arch Gen Psychiatry 48:303-307 (19) Richelson E (1996): Synaptic effects of antidepressants. J Clin Psychopharmaco! 16 (suppl. 2):1 S-7S (20) Roose SP, Glassman AH, Attia E, Woodring S (1994) Comparative efficacy of selective serotonin reuptake inhibitors and tricyclics in the treatment of melancholia. Am J Psychiatry 151:1735-1739

(21) Stassen HH, Angst J, Delini-Stula A (1996): Delayed onset action of antidepressant drugs? Survey of results of Zurich meta-analyses. Pharmacopsychiat 29:87-96

85

Steffen Haas

Klinische Auswahlkriterien beim Einsatz von Antidepressiva Einleitung Im klinischen Sprachgebrauch wird der globale Begriff Depression verwandt, obwohl es notwendig ist, diese nach verschiedenen Formen, Ursachen, Verlauf und Beschwerdebildern zu unterscheiden. Die klassische Einteilung der Depression wurde abgelöst durch moderne Klassi­ fikationssysteme, wobei besonders die Einteilung der WHO mit ihren interna­ tionalen Klassifikationen psychischer Störungen (ICD 10) von Bedeutung ist. Hierbei werden die depressiven Symptome nach praktischen Gesichtspunkten eingeteilt, so z.B. nach dem Zeitverlauf einzelner Episoden wie z.B. rezidivie­ rend oder anhaltend sowie nach dem Schweregrad und ferner nach dem Vor­ handensein oder Fehlen von psychotischen Symptomen, z.B. Wahnbildung. Ebenfalls sind für die Therapiefestlegung die Ursachen der Depression von Be­ deutung, und zwar ob es sich um die Folge einer körperlichen Erkrankung han­ delt oder um eine sogenannte endogene Psychose oder um neurotische Belastungs-, Persönlichkeits- oder Verhaltensstörungen.

Bis zur Einführung der sogenannten zweiten und dritten Generation der Antide­ pressiva gestaltete sich der Einsatz der klassischen Antidepressiva im klinischen Alltag relativ einfach. Zur Anwendung gelangten die trizyklischen und die tetra­ zyklischen bzw. atypischen Antidepressiva. Als Richtschnur für deren Einsatz wurde teilweise das Kielholzschema mit der Einteilung nach mehr sedierenden, mehr antriebssteigernden oder eher psychomotorisch neutralen Antidepressiva angewandt (siehe später). Infolge ihrer zum Teil relevanten Nebenwirkungen sind vor allem die im ambulanten Bereich eingesetzten trizyklischen und tetrazyklischen Antidepressiva nicht unproblematisch und grenzen die psychophar­ makologischen Therapiemöglichkeiten in unterschiedlichem Maße ein. Vor al­ lem die sogenannten neurotischen oder reaktiv ausgelösten depressiven Sym­ ptome waren einer psychopharmakologischen Beeinflussung weniger zugäng­ lich, wobei insbesondere die ausgeprägten Nebenwirkungen die Compliance der betroffenen Patienten einschränkten. Bei ihrem Einsatz waren Kostenge­ sichtspunkte von geringer Bedeutung.

87

Steffen Haas

In den letzten Jahren konnte durch die Einführung der Antidepressiva der neuen Generation - insbesondere durch die Implementierung der selektiv den Seroto­ nin- und/oder Noradrenalinstoffwechsel beeinflussenden Medikamente - die Therapie depressiver sowie verwandter Störungen umfassend erleichtert und optimiert werden.

Es ist davon auszugehen, daß zur Zeit alle verfügbaren Antidepressiva (25 Generica) nach dem heutigen Kenntnisstand gleichermaßen antidepressiv wirksam sind, allenfalls von der Ausnahme abgesehen, daß die neue Generation der An­ tidepressiva sich zusätzlich bei der Therapie von Zwangsstörungen und bei aty­ pischen Depressionen als teilweise besser wirksam erwiesen hat. Es stellt sich somit für die Praxis die Frage, welche Antidepressiva bei welchen Störungen eingesetzt werden sollten oder müßten. Als Entscheidungshilfe wird somit bei weitgehend gleicher Wirksamkeit der Antidepressiva nach deren chemischer Struktur, psychopharmakologischer Spezifität, Verträglichkeit, dem schnellen Wirkungseintritt, insbesondere nach unerwünschten oder wenigen Nebenwirkungen, fehlender Toxizität bei Überdosierung sowie nach dem Do­ sierungsschema und vor allem nach den Behandlungskosten zu fragen sein.

Nach diagnostischer Abklärung sowie Beurteilung der Prägnanztypen und der Schwere der Symptomatik der Depression kann der Einsatz der Antidepressiva nach drei grundsätzlichen Überlegungen erfolgen:

1.

nach ihren psychopharmakologischen Wirkmechanismen und nach ih­ ren Nebenwirkungsprofilen und

2.

nach Ausgestaltung der verschiedenen Depressionsformen bzw. depres­ siven Syndrome im Rahmen verschiedener psychischer Störungen und

3.

im Rahmen von Komorbidität bei somatischen Erkrankungen unter Be­ rücksichtigung von Medikamenteninteraktionen und Kontraindikationen.

1. Einteilung der Antidepressiva Die tri- und tetrazyklischen Antidepressiva werden als die der ersten Generation bezeichnet, die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer als die der zwei­ ten und das Venlafaxin, Mirtazapin und das Nefazodon als Medikamente der dritten Generation.

88

Klinische Auswahlkriterien

beim

Einsatz von Antidepressiva

1.1 Einteilung nach strukturchemischen Merkmalen



modifizierte trizyklische Antidepressiva



tetrazyklische Antidepressiva



Chemisch neuartige/andersartige, sogenannte atypische Antidepressiva



Monaminoxydasehemmer (MAO-Hemmer)



Aminpräkursoren 1.2 Einteilung nach pharmakologisch-biochemischen Wirkeigenschaften

In der medikamentösen Depressionstherapie existieren bislang vier pharmako­ logische Wirkmechanismen:



unselektive und selektive Hemmung der Wiederaufnahme von Noradrenalin und/oder Serotonin aus dem synaptischen Spalt



Hemmung von MAO-A im synaptischen Spalt



Blockade/Beeinflussung von präsynaptischen sowie postsynaptischen Rezeptoren



Substitution von Serotonin durch Präkursoraminosäuren

In der Tabelle 1, modifiziert nach Fritze (1998), sind die Gruppen der Antide­ pressiva nach ihren entscheidenden neuropharmakologischen Wirkungen auf die für die Depression verantwortlichen Neurotransmittersysteme aufgelistet. Als sogenannte atypische Antidepressiva können Substanzen zusammengefaßt werden, die keine primäre Beeinflussung noradrenerger und/oder serotonerger Neurotransmitter bewirken. Zu nennen wären hier die Medikamente



Alprazolam (Tafil)



Trimipramin (Stangyl)



Sulpirid (Dogmatil/Neogama)

In letzter Zeit erhalten zunehmend auch die sogenannten pflanzlichen oder Phytotherapeutika, insbesondere das Hypericin (teilweise in hoher Dosierung dargeboten), Bedeutung.

Ihre genaue pharmakologische Wirkung sowie ihre antidepressive Wirksamkeit ist bis jetzt noch nicht genügend erforscht. Ihr Einsatz empfiehlt sich bei leichte­ ren depressiven Verstimmungszuständen. 89

Steffen Haas

Tabelle 1: Cruppen von Antidepressiva (modifiziert nach Fritze 1998) •





















unselektive Aufnahmehemmer von Noradrenalin und Serotonin (z. B. Imipramin, Amitriptylin) unselektive Aufnahmehemmer von Dopamin (z.B. Bupropion, Amineptin, Nomifensin, in Deutschland nicht bzw. nicht mehr verfügbar)

unselektive Aufnahmehemmer von Noradrenalin (z.B. Maprotilin, Desipramin) unselektive Antagonisten präsynaptischer, noradrenerger Rezeptoren (Mianserin, Mirtazapin) unselektive Aufnahmehemmer von Serotonin (z. B. Clomipramin, Trazodon, Nefazodon) unselektive irreversible Inhibitoren der Monoaminoxidase (z. B. Tranylcypromin) selektive reversible Inhibitoren der MonoaminoxidaseA (MAOa; Moclobemid)

selektive Aufnahmehemmer von Noradrenalin und Serotonin (Venlafaxin)

selektive Aufnahmehemmer von Noradrenalin (Viloxazin)

selektive Aufnahmehemmer von Serotonin (Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin) selektiv postsynaptische 5HT2A-Blockade und schwache prä­ synaptische Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Nefazodon)

1.3 Einteilung nach klinisch-therapeutischem Wirkprofil

Lange Zeit fand das sogenannte Kielholz-Schema (1971) mit den drei Zielsyn­ dromen:



ängstlich-psychomotorische Erregtheit



vital-depressive Verstimmung



psychomotorische Gehemmtheit

große Akzeptanz.

90

Klinische Auswahlkriterien

beim

Einsatz von Antidepressiva

Nach dem sogenannten Drei-Komponenten-Schema wurden innerhalb der Gruppe der Antidepressiva aufgrund ihres klinisch-therapeutischen Wirkprofils drei Grundtypen unterschieden:



Desimipramin-Typ: psychomotorisch aktivierend, antriebssteigernd



Imipramin-Typ: psychomotorisch neutral/stabilisierend



Amitriptylin-Typ: sedierend, dämpfend, angstlösend

Riederer und Laux (1993) weisen darauf hin, daß dem Versuch, neuartige Anti­ depressiva in das von Kielholz vorgeschlagene Schema einzuordnen, allenfalls nur eine grob orientierende Bedeutung zukommen könne, wobei offensichtlich individuelle Persönlichkeitsmerkmale im Einzelfall von Bedeutung seien und aktivierende bzw. sedierende Antidepressiva gegenteilige Wirkeffekte entfalten können. Von den nichttrizyklischen Antidepressiva besitzen Mirtazapin, Mapro­ tilin und Mianserin eine deutliche sedierende Komponente.

2. Auswahlkriterien für den Einsatz von Antidepressiva Das Profil eines idealtypischen Antidepressivums müßte folgendermaßen aus­ sehen: •

spezifischer Wirkmechanismus



rascher Wirkeintritt



dosisabhängige Wirkung mit breitem Dosierungsspielraum



gute Handhabbarkeit durch optimale Dosierung, z. B. tägliche Einmalgabe



gute Verträglichkeit und Wirksamkeit, auch bei der Langzeitprophylaxe



akzeptables Nebenwirkungsprofil



nur geringe Wechselwirkung bei sonst guter Kombinierbarkeit



eingeschränkte Kontraindikationen



Wirtschaftlichkeit



Sicherheit (fehlende Toxizität)



gute Akzeptanz durch die Patienten und somit hohe Compliance

Diese Anforderungen erfüllt zur Zeit kein auf dem Markt befindliches Antide­ pressivum.

Im Vergleich zu den klassischen trizyklischen Antidepressiva besitzen die neuen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) den Vorteil, daß ihnen fast alle vege­ tativen unerwünschten Nebenwirkungen der trizyklischen Antidepressiva fehlen.

91

Steffen Haas

Es stellt sich jedoch bei den SSRI die Frage, ob tatsächlich ausschließlich serotonerg- bzw. serotoninbetonte depressive Störungen vorliegen oder ob nicht doch vielmehr beide Systeme, also das noradrenerge und das serotonerge im Rahmen der Depressionsbehandlung von Bedeutung sind. Nach verschiedenen Untersuchungen muß davon ausgegangen werden, daß eine Kombination von SSRI und stark noradrenalinwirksamen trizyklischen An­ tidepressiva ein Additativ besitzen und eine bessere Beta-down-Regulation im frontalen Cortex bewirken. 2.1 Überlegungen bei der Einleitung einer Behandlung mit Antidepressiva

In den USA wurde von Preskorn (1994) ein sogennantes 5 STEPS-Schema als Auswahlkriterium empfohlen, und zwar: •

Safety (Sicherheit)



Tolerability (Verträglichkeit)



Efficacy (Wirksamkeit)



Payment (Nützlichkeit/Kosten-Wirksamkeitsrelation) sowie



Simplicity (Handbarkeit)

In der deutschen Psychiatrie haben sich eher folgende Auswahlkriterien be­ währt: Schweregrad der Störung, Patientenpräferenz bzw. Modellvorstellung der Erkrankung durch den Patienten, Kontraindikation für trizyklische Antidepressi­ va, frühere Response auf bestimmte Präparate, aktuelle Psychopathologie wie z.B. Angst, Unruhe, Hemmung, Zwang sowie Nebenwirkungsprofil/Toleranz der Medikamente und ihr Preis.

Zu Behandlungsbeginn wird von Möller et al. (1989), modifiziert nach Schmauß (1997) folgende Checkliste empfohlen:

92

Klinische Auswahlkriterien

beim

Einsatz von Antidepressiva

Tabelle 2: Checkliste bei Behandlungsbeginn (modifiziert nach Möller et al. 1989) 1. Welches Präparat hat dem Patienten früher geholfen?

Früher erfolgreiches Präparat jetzt zuerst versuchen

ängstlich-agitiert oder suizidal 2. Jetziger Querschnittsbefund?

3. Kontraindikationen für Trizy­ klika? (Voruntersuchungen!)

1 2 3

1--------- > Amitriptylintyp1

vital-depressiv verstimmt oder , psychomotorisch gehemmt

Imipramintyp2

Antidepressiva der zweiten und dritten Generation3, par­ tieller Schlafentzug, EKT

z. B. Amitriptylin (Saroten®, Doxepin (Aponal®) z.B. Imipramin (Tofranil®, Dibenzepin (Noveril®), Clomipramin (Anafranil®), Maprotilin (Ludiomil®) z.B. Mianserin (Tolvin®), Trazodon (Thombran®), Citalopram (Cipramil®), Paroxetin (Seroxat®, Tagonis®), Moclobemid (Aurorix®), Mirtazapin (Remergil®)

Es wird hierbei eine mögliche Medikamentenvorerfahrung und vor allem der psychopathologische Querschnitt der aktuellen Phase berücksichtigt. Zugrunde wurde die Tatsache gelegt, daß Antidepressiva - bei weitgehend identischer an­ tidepressiver Wirksamkeit - gewisse Unterschiede hinsichtlich ihrer sedieren­ den Eigenschaften aufweisen. Diese sind in der Tabelle 3 (Übersicht nach Schmauß 1997) aufgelistet. Entsprechend dem psychopathologischen Bild, wie z.B. Ausprägung von Schlafstörungen, Auftreten von psychomotorischer Erregung, Angst und dem Grad der Suizidalität wird sich der Einsatz der Antidepressiva entsprechend ih­ rer sedierenden Komponente richten. Im klinischen Alltag hat es sich bewährt, die Antidepressiva nicht nur nach ihrer möglichen sedierenden, mehr antriebs­ neutralen oder antriebssteigernden Potenz, sondern auch nach ihren Nebenwir­ kungsprofilen auszuwählen. Die generell besser verträglichen Antidepressiva der neuen Generation sind wegen ihrer fehlenden anticholinergen Nebenwir­ kungen bei ambulanter Gabe als Antidepressiva der ersten Wahl, insbesondere hinsichtlich der Compliance, wie z.B. Fahrtauglichkeit und Maschinentauglich­ keit, anzusehen.

93

Steffen Haas

Tabelle 3: Initiale Sedierungspotenz der Antidepressiva

Amitriptylin Amitriptylinoxid Doxepin Trimipramin Dosulepin Mianserin Trazodon

Clomipramin Imipramin Lofepramin Maprotilin Mirtazapin

Paroxetin Citalopram Sertralin Dibenzepin Desipramin Nortriptylin Viloxazin Fluvoxamin Fluoxetin Venlafaxin Moclobemid

Tranylcypromin

Sollte in der Akutbehandlung eine Sedierung erwünscht sein, können z. B. auch weniger sedierende Antidepressiva mit sedierenden oder tranquilierenden Sub­ stanzen kombiniert werden. Auswahlkriterien hinsichtlich der Wirklatenz liegen nicht vor. Es ist davon auszugehen, daß alle zur Zeit verfügbaren Antidepressiva ihr Wirkspektrum in der Regel erst nach 2 Wochen entfalten, wobei es auch Hinweise gibt, daß möglicherweise die neuen Medikamente, wie z.B. das Mir­ tazapin, ihre Wirksamkeit schneller entfalten. Durch Schlafentzüge kann ver­ sucht werden, die Wirkung eines Antidepressivums zu verbessern und den Wir­ kungseintritt zu beschleunigen.

2.2 Anmerkungen zu Nebenwirkungen und Toxizität

Aus der klinischen Praxis wissen wir, daß die unerwünschten Wirkungen aller Antidepressiva - sowohl der trizyklischen als auch der Antidepressiva der zwei­ ten und dritten Generation - individuell in unterschiedlichem Maße auftreten können. (Tab. 4)

94

Klinische Auswahlkriterien beim Einsatz von Antidepressiva

Tabelle 4: Nebenwirkungen und Risiken der neuen Antidepressiva (modifiziert nach Laux 1997) Modifizierte trizyklische Antidepressiva: Amitriptylinoxid

geringe anticholinerge Nebenwirkungen dosisabhängig

Tetrazyklische Antidepressiva:

Maprotilin

allergische Hautreaktionen, Kohlehydrat­ hunger, erhöhte cerebrale Erregbarkeit

Minanserin

Wirkungsäquivalenz? Arthralgie, Leukopenie

Monaminoxydasehemmer: (MAOH/RIMA) Moclobemid

Wirkungsäquivalenz? Schlafstörungen, Unruhe

Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI): Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin

Wirkungsäquivalenz? gastrointestinale Ne­ benwirkungen: Nausea, Erbrechen, Unruhe

Noradrenerges und spezifisches serotonerges Antidepressivum (NaSSA): Mirtazepam

Müdigkeit, gesteigerter Appetit, Hypertonie, Granulozytopenie

Spezifische Serotonin- und NoradrenalinWiederaufnahmehemmer (SNRI):

Venlafaxin

Übelkeit, Schwindel, Unruhe, Blutdruck­ erhöhung, Anorexie

Aus den Ergebnissen des Arzneimittelüberwachungsprojektes (AMüP) geht her­ vor, daß unter den Antidepressiva in 52% der Fälle Nebenwirkungen auftreten, die bei knapp 22 % zu therapeutischen Konsequenzen führten und bei weiteren 8% zum Absetzen. Bei 2% wurden die unerwünschten Arzneimittelwirkungen als bedrohlich charakterisiert.

In der Regel ist innerhalb der ersten und allenfalls noch zweiten Behandlungs­ woche mit Nebenwirkungen zu rechnen. Durch langsames Herauftitrieren der Medikation, vor allem bei trizyklischen Antidepressiva, können diese in vielen Fällen vermieden werden. Die klinische Erfahrung zeigt, daß Patienten mit sogenannten endogenen De­ pressionen (schwere depressive Episoden mit psychotischer Ausgestaltung nach ICD 10) auf die Gabe von trizyklischen Antidepressiva besser und mit weniger

95

Steffen Haas

Nebenwirkungen reagieren als solche mit den sogenannten reaktiven oder neu­ rotischen Depressionen oder depressiven Verstimmungszuständen. Problematisch sind die Nebenwirkungen, die im Verlauf der Therapie auftreten, oft erst nach Wochen, wie z.B. Gewichtszunahme oder sexuelle Funktionsstö­ rungen.

Der Toxizität kommt in Anbetracht des hohen Suizidrisikos depressiver Erkran­ kungen eine besondere Bedeutung zu.

Neuere Antidepressiva der dritten Generation besitzen weniger relevante Ne­ benwirkungen und Risiken. Aus diesem Grunde sollte ihr Einsatz bei suizidalen Patienten erwogen werden.

Wegen des Auftretens eines Entzugssyndromes oder Absetzsyndromes sollte ein langes Ausschleichen der Antidepressiva bis zu 4 Wochen entsprechend ihrer relativ geringen Halbwertzeit erfolgen.

2.3 Therapieprädiktoren bei depressiven Syndromen

Als potentielle Prädiktoren für den Therapieerfolg auf bestimmte Antidepressiva sind verschiedene Variablen wie Diagnose, Verlauf, psychopathologischer Querschnittsbefund und neurobiologische Parameter untersucht worden. Als allgemeine Prädiktoren gelten:



die Behandlungsvorgeschichte



syndromatologischer Querschnittsbefund wie psychomotorische Gehemmt­ heit, Anhedonie, Gewichtsverlust, frühmorgendliches Erwachen (besseres Ansprechen auf trizyklische Antidepressiva)



schwere depressive Episode oder melancholischer Prägnanztyp (wieder­ um besseres Ansprechen auf trizyklische Antidepressiva)



Depressive Symptome mit Angst oder Panikattacken sprechen besser auf MAOI an



Atypische Depressionen sprechen ebenfalls besser auf MAOI an.

Die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Antidepressivatherapie nimmt ab mit:

96



Zahl der durchgemachten Episoden



Chronizität des depressiven Syndromes



Ausmaß neurotischer Persönlichkeitszüge

Klinische Auswahlkriterien

beim

Einsatz von Antidepressiva



Ausmaß von chronischen Störungen der sozialen Adaptation sowie



Vorliegen wahnhafter Symptome

Biochemische, neurobiologische Parameter wie



der Dexametasonsupressionshemmtest



elektrophysiologische Prädiktoren und



das klinische Ansprechen auf Schlafentzug

besitzen zur Zeit für die Praxis keine Relevanz.

3. Empfehlungen zum Einsatz von Antidepressiva Wie eingangs erwähnt wurde, sollte sich das ideale Antidepressivum durch eine breite therapeutische Wirksamkeit, einen schnell eintretenden therapeutischen Effekt, eine gute Verträglichkeit, eine leichte Dosierung und einen günstigen Kosten-Nutzen-Effekt auszeichnen. Alle zur Zeit auf dem Markt befindlichen Antidepressiva unterscheiden sich weniger durch ihre Wirksamkeit als durch ihre Wirkungen.

Unter dem Aspekt der höheren Tagesbehandlungskosten für die Antidepressiva der sogenannten zweiten und dritten Generation im Vergleich zu trizyklischen, tetrazyklischen und atypischen Antidepressiva, wird der behandelnde Arzt nicht umhinkommen, Richtlinien für den Einsatz von Antidepressiva zu erstellen. Der differentielle Einsatz von Antidepressiva soll nachfolgend in Anlehnung an ein Modell von Rosenbaum (1997) vorgestellt werden.

3.1 Einsatz von trizyklischen, tetrazyklischen und atypischen Antidepressiva

MitSicherheit kann im klinischen Alltag-auch unter ambulanten Bedingungen nicht auf ihren Einsatz verzichtet werden. Dabei sollten jene Medikamentengruppen bevorzugt eingesetzt werden, die wenig Nebenwirkungen bei einer breiten Wirksamkeit entwickeln.

Im klinischen Alltag haben sich bewährt (Tabelle 5): •

Amitriptylin (z. B. Saroten)



Amitriptylinoxid (Equilibrin)



Doxepin (Aponal) 97

Steffen Haas



Desipramin (Pertofran)



Dipenzipin (Noveril)



Imipramin (Tofranil)



Clomipramin (Anafranil)



Nortriptylin (Nortrilen)



Trimipramin (Stangyl)

Ihre praxisrelevanten Nebenwirkungen leiten sich u.a. aus ihren anticholinergen Eigenschaften und ihrer Toxizität ab. Unter ihrer Gabe kann es zur Entwick­ lung von Deliren, zur Gewichtszunahme, zu pharmakologischen Interaktionen und dem sogenannten Rapid Cycling kommen. Tabelle 5: Differentielle Indikation für Antidepressiva (I) (modifiziert nach Rosenbaum 1997) Wirkmechanismus

Indikation

Probleme/Nebenwirkungen Interaktion

Trizyklische Antidepressiva (TCA)

schwere bis mittelschwere Depressionen

Anticholinerge NW Toxizität, Delir, Gewichtszunahme

wahnhafte Depressionen

Panik-, Angst- und Zwangsstörung chron. Schmerzsyndrom Entzug und Abhängigkeit Schlafstörungen Tetrazyklische und atypische Antidepressiva

Pharmakologische Interaktionen

Rapid Cycling

mittelschwere (bis schwere) Depressionen

Erniedrigung der Krampf­ schwelle

Dysthymien, Schlafstörungen

Allergische Hautreaktionen

Entzug und Abhängigkeit

Blutbildveränderungen

Angst und Zwangsstörungen

Kohlehydrathunger

Eine besondere Zwischenstellung besitzen die tetrazyklischen oder atypischen Antidepressiva der sogenannten zweiten Generation. Sie sind antidepressiv wirksam mit zum Teil sedierender und schlafanstoßender Komponente.

Im Gegensatz zu den trizyklischen Antidepressiva besitzen sie geringe anticho­ linerge Nebenwirkungen und im Vergleich zu den SSRI weniger gastrointestina­ le Nebenwirkungen. Außerdem sind sie preiswert. Bei den tetrazyklischen Antidepressiva empfiehlt sich der Einsatz von:

98

Klinische Auswahlkriterien

beim

Einsatz von Antidepressiva



Maprotilin (Ludiomil) als unselektiver Aufnahmehemmer von Noradrenalin



Minanserin (Tolvin) als unselektiver Antagonist präsynaptischer noradrenerger Rezeptoren

und von den atypischen Antidepressiva:



Sulpirid (Dogmatil) und das



Amisulpirid (zur Zeit noch nicht im Handel befindlich) als selektive Dopamin d2- und d3-Rezeptoren-Blocker.

Nach den Empfehlungen von Rosenbaum (1997) für eine differentielle Indika­ tion von Antidepressiva ergeben sich folgende Indikationsgebiete für den Ein­ satz trizyklischer sowie tetrazyklischer Antidepressiva (Tab. 5)



schwere und mittelschwere Depressionen



wahnhafte Depressionen



Panik-, Angst- und Zwangsstörungen



chronische Schmerzsyndrome



Entzugs- und Abhängigkeitssyndrome



Schlafstörungen

Indikationsgebiete für die tetrazyklischen und atypischen Antidepressiva sind:



mittelschwere bis allenfalls in Ausnahmefällen schwere Depressionen



Dysthymie



Schlafstörungen



Entzugserscheinungen



Angst- und Zwangsstörungen

3.2 Zum Einsatz der Antidepressiva der sogenannten dritten

Generation wie SSRI, NaSSA, SN RI, SARI und MAOI

In der nächsten Tabelle werden die verschiedenen Neurotransmittersysteme und Rezeptoren sowie ihre klinische Relevanz vorgestellt (Tabelle 6). Aus dieser Übersicht wird erkennbar, daß neben den gewünschten antidepressiven Effek­ ten, die durch die Stimulation des Noradrenalins und Serotonins verursacht werden, die Beeinflussung weiterer Neurotransmittersysteme zu unerwünschten Wirkungen führen kann.

99

Steffen Haas

Tabelle 6: Neurotransmitter, Systeme, Rezeptoren und ihre klinische Relevanz Neurotrans­ mitter Systeme

Rezeptor­ aktion

Stimulation

Klinisch relevanter Effekt

Art des Sei­ teneffekts/ der Neben­ wirkung

Acetyl­ cholin

Serotonin

Noradrenalin

5-HTj-

Alphal Blockade

5-HTiStimulation

5-HT2Stimulation

Stimulation

Antidepres­ siver Effekt/ Wirkung

Antiadrenerger Sei­ teneffekt/ NW.

Antidepres­ Serotonerger-Seitensiver Effekt u. Anxiolyse effekt/NW.

Tachykardie Tremor Übermäßige Antriebs­ steigerung

Orthostati­ sche Hypo­ tension Reflex­ tachykardie Benommen­ heit

Histamin

ACTHBlockade

Hi-Blockade

Serotonerger-Seiteneffekt/NW.

Anticholinerger Sei­ teneffekt/ NW.

Antihistaminerger Seiteneffekt/NW.

Agitation Nervosität Schlaflosig­ keit Sexuelle Dysfunktion

Übelkeit Erbrechen Kopf­ schmerzen

Sedierung Tagesmü­ digkeit Gewichts­ anstieg

5-HT2Blockade

5-HT3Blockade

Reduzie­ rung obiger Neben­ wirkungen SchlafInduk­ tion

Reduzie­ rung obiger Neben­ wirkungen

Verstopfung Trockener Mund evtl. Gebißstatusänderung Druckulzera bei Gebißträgem mögl. Tachykardie Akkomodationsst. Benom­ menheit Harnverhalt Konfusion (bei älteren Menschen Sturzgefahr) Augenin­ nendruck­ erhöhung

Günstige Eigenschaft der HiBlockade

Reduzie­ rung der noradrenergen Neben­ wirkungen

Hyperstimulation 5-HT2 + 5-HT3

Mögliche Entstehung eines Serotonin-Syndroms (5-HT3 Durchfälle)

Als praxisrelevante akute Nebenwirkungen dieser Medikamente sind zu nen­ nen: Kopfschmerzen, Nervosität, trockener Mund, Übelkeit, Durchfall, Schlaf­ störungen. In der Regel werden diese Medikamente jedoch besser als die trizy­ klischen Antidepressiva vertragen. Später einsetzende Nebenwirkungen sind sexuelle Dysfunktionen, Entzugserscheinungen, Vergeßlichkeit und Gewichts­ zunahme. Durch eine Hyperstimulation von 5-HT2- und 5-HT3-Rezeptoren kann es zur Auslösung eines Serotoninsyndromes kommen. Dieses ist gekennzeichnet durch folgende Syndrome: Myoklonus, Hyperreflexie, Schwitzen, Koordinationsstö­ rungen und psychische Auffälligkeiten wie Agitiertheit, Verworrenheit und Hy­ pomanie. 100

Klinische Auswahlkriterien beim Einsatz von Antidepressiva

Medikamente mit einer selektiven Blockade von postsynaptischen 5-HT2Rezeptoren, wie z.B. das Nefazodon, können diese typischen Nebenwirkungen wie Agitation, Nervosität, Schlaflosigkeit und sexuelle Dysfunktion reduzieren bzw. vermeiden.

Die Blockade von 5-HT3-Rezeptoren führt zu einer Verminderung serotonerger Nebeneffekte wie z. B. gastrointestinale Beschwerden und Vermeidung von Ge­ wichtszunahme. Die Beeinflussung bzw. Blockierung von Histamin-Hi-Rezep­ toren kann eine Reduzierung der noradrenergen Nebenwirkungen bewirken.

In der folgenden Übersicht (Tab. 7) sind die zur Zeit verfügbaren neuen Antide­ pressiva nach ihrer Wirkung, ihrer Pharmakokinetik, ihrem klinischem Profil, ihrer Nebenwechselwirkung und ihrer Dosierung aufgelistet (W. Sperling und J. Demling 1997). Aus diesen Überlegungen heraus läßt sich der Einsatz der Anti­ depressiva der dritten Generation für folgende Indikationsgebiete ableiten: •

Kontraindikation für trizyklische und tetrazyklische Antidepressiva wie Glaukom, Prostatahypertrophie, Hypertonie, Überleitungsstörungen, in­ nerorganische Schäden, Pylorusstenose



Unverträglichkeit von tri- oder tetrazyklischen Antidepressiva



Wechselwirkung von tri- oder tetrazyklischen Antidepressiva mit besonde­ ren Medikamenten, z.B. Blutdrucksenker



Wirkungslosigkeit von tri- oder tetrazyklischen Antidepressiva



Erhalten der Fahrtauglichkeit und Arbeitsfähigkeit im Gegensatz zu sedie­ renden tri- oder tetrazyklischen Antidepressiva, die die psychomotorische Leistung herabsetzen und zu einer Störung der kognitiven Funktion führen können.



Geriatrische Patienten: Diese reagieren häufiger auf die unerwünschten Nebenwirkungen der Trizyklika, insbesondere durch die anticholinergen und antiadrenergen Wirkungen



Ü berdos i eru ngsgefah r



Alkoholkonsum (tri- und tetrazyklische Antidepressiva führen zu einer Al­ koholinteraktion)



Übergewicht (die Gewichtszunahme unter tri- und tetrazyklischen Anti­ depressiva ist ausgeprägter als unter den SSRI)

101

Steffen Haas

Tabelle 7: Neue Antidepressiva

Citalopram

Venlafaxin

Mirtazapin

Wirkung

Pharmako­ kinetik

Klinisches Wirkungs­ profil

Neben­ wirkungen

Wechsel­ wirkungen

Dosis

SSRI keine Affinität zu Di, D2, 5-HTi, 5-HT2, Alphai, Alpha2, Mi, M2, Mx geringe Affinität zu Hi, Sigma SN RI Keine MAOBlockade Keine Affinität zu Mi, Alphai, Alpha2 Schwache Affinität zu Hi Alpha2-Antagonist, 5-HTiAgonist Noradrenerg Serotonerg 5-HT2-, 5-HT3Blockade

tmax: 2-4 h PB: 80 % ti/2: 36 h

Depression Angst Zwang Sucht

Speichelfluß Erbrechen Kopfschmerz Trockener Mund

Keine gesicherten

20 bis 60 mg

tmax: 2-4 h PB:30 % ti/2: 5-11 h

Depression (schneller Wirkungsein­ tritt)

Nausea Kopfschmerz Trockener Mund

Cave: Kombination mit MAOHemmer

75 bis 375 mg

tmax: 2 h PB: 85 % ti/2: 21-38 h

Depression Angst Schlafstörung

Sedierung Trockener Mund Gewichts­ zunahme

Keine gesicherten

15 bis 60 mg

tmax: 4-8 h PB:99 % ti/2: 24-25 h

Depression Zwang Phasen­ prophylaxe

Nausea Kopfschmerz Trockener Mund Tremor Gastrointesti­ nale Störun­ gen Ejakulations­ störungen Nausea Hypertension Kopfschmerz Trockener Mund Nausea Hypotension Trockener Mund Kopfschmerz Nausea Sedierung Kopfschmerz

Tolbutamidclearance sinkt

50 bis 200 mg

Keine gesicherten

6 bis 10 mg

Keine gesicherten

50 bis 300 mg

Sertralin

SSRI Keine Affinität zu HiRezeptoren

Reboxetin

SSRI tmax: 1-2 h Keine Affinität PB:97 % zu DAti/2: 13,2 h Rezeptoren

Milnacipran

SN RI

Nefazodon

Postsynapti­ tmax: 1 h scher 5-HT2PB: < 50 % Blocker, SSRI ti/2: 2-4 h Keine Affinität zu Hi

tmax: 2 h PB: < 13 % ti/2: 8 h

Depression (schneller Wirkungsein­ tritt) Depression (schneller Wirkungsein­ tritt) Depression

Cave: Ter­ 300bis 600mg fenadin und Astern izolKardiotoxizität

(SSRI - Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SN RI - Seroton in-Noradrenalin-Wiederauf-nahmehemmer, tmax Zeit bis zum Erreichen der maximalen Plasmakonzentration, PB - Proteinbindung, ti/2 - Halbwertszeit)

Quelle: W. Sperling, J. Demling in Arzneimitteltherapie/15. Jahrgang/Heft 3/1997

102

-

Klinische Auswahlkriterien beim Einsatz von Antidepressiva

In den folgenden Tabellen (8 + 9) sind differentielle Indikationsgebiete zur Anti­ depressivabehandlung, modifiziert nach Rosenbaum, (1997) für die SSRI, SNRI, NaSSA, SARI und MAOI aufgelistet. Letztendlich unterscheiden sich diese ver­ schiedenen Medikamentengruppen in ihrer Wirksamkeit nicht wesentlich von­ einander. Einsatzgebiete sind neben mittelschweren, in Einzelfällen - insbeson­ dere unter ambulanten Bedingungen - auch schweren depressiven Formen, Angst, Unruhe und Schlafstörungen, Persönlichkeitsstörungen und das Auftreten von Nebenwirkungen unter trizyklischen Antidepressiva sowie deren Kontrain­ dikationen. Tabelle 8: Differentielle Indikation für Antidepressiva (II) (modifiziert nach Rosenbaum 1997) Wirkmechanismus

Serotonin-Wiederaufnahme­ hemmer (SSRI)

Indikation mittelschwere (bis schwere) Depressionen

Dysthymien TCA-Nebenwirkungen bipolare Depressionen atypische Depressionen (?) Depressionen im Alter

postpsychotische Depressionen

Probleme/Nebenwirkungen Interaktion

5-HT2-Rezeptorstimulation: Unruhe, Angst, Panik, Schlafstörungen Akathisie sexuelle Dysfunktion

5-HT3-Rezeptorstimulation: gastrointestinale Nebenwir­ kungen

Zwang-, Angst- und Panikstörungen Eßstörungen

Serotonin- und Noradrenalin Reuptakehemmer (SNRI):

in hohen Dosen: schwere Depression

SSRI-Nebenwirkungen Hypertonie

Venlafaxin

in normalen Dosen: wirksam wie SSRI

Eßstörungen (Anorexie) Auftitrierung notwendig

Zusammengefaßt erweisen sich die Antidepressiva der zweiten und dritten Ge­ neration für den klinischen Alltag als bedeutsam wegen: •

der Möglichkeit der schnellen Hochdosierung und deshalb möglicherwei­ se des schnelleren Wirkungseintrittes



ihrer überlegenen Wirksamkeit bei bestimmten psychischen Störungen, ggf. wegen geringer Nebenwirkungen, z.B. bei Zwängen, Ängsten, Dy­ sthymien und Persönlichkeitsstörungen



geringerer Toxizität

103

Steffen Haas

Tabelle 9: Differentielle Indikation für Antidepressiva (III) (modifiziert nach Rosenbaum 1997) Wirkmechanismus

Noradrenalin und spez. serotonerges Antidepressivum (NASSA): Mirtazapin

Mianserin

Indikation mittel schwere (bis schwere) Depressionen

Probleme/Nebenwirkungen Interaktion Gewichtszunahme Müdigkeit

Dysthymien SSRI-Nebenwirkungen Angst, Unruhe, Schlafstörungen Person I ichkeitsstörungen reduziert spezifische SSRINebenwirkungen infolge 5-HT-Rezeptor-B lockade

Seroton i n-RezeptorAntagonist und SerotoninReuptakehemmer (SARI):

Nefazodon

mittelschwere (bis schwere) Depressionen

Müdigkeit Gewichtszunahme

Dysthymien SSRI-Nebenwirkungen spez. 5-HT-RezeptorB lockade

Auftitrierung notwendig

Reduzierung von SSRINebenwirkungen

Angst- und Unruhezustände Schlafstörungen



fehlender anticholinerger Nebenwirkungen



der besseren antidepressiven Wirksamkeit bei den dual wirksamen Sub­ stanzen durch gleichzeitige Noradrenalin- und Serotoninwiederaufnahme­ hemmung



nur geringer Beeinträchtigung kognitiver und psychomotorischer Leistun­ gen, insbesondere bei Alterspatienten



geringerer Überdosierungsgefahr



fehlender Interaktion mit Alkohol



geringerer Gewichtszunahme im Vergleich zu den trizyklischen Antide­ pressiva

Der differenzielle Einsatz von MAO-Hemmern ist aus Tabelle 10 ersichtlich.

104

Klinische Auswahlkriterien beim Einsatz von Antidepressiva

Tabelle 10: Differentielle Indikation für Antidepressiva (IV) (modifiziert nach Rosenbaum 1997) Wirkmechanismus Irreversible Monaminoxyda­ sehemmer (MAO-I): Tranylcypromin

Indikation

Probleme/Nebenwirkungen Interaktion

schwere Depressionen

Tyraminfreie Diät

atypische und bipolare Depressionen

Hypertension

TCA-Resi stenz + NW

posttraumatische Belastungsstörung

Interaktion mit SSRI, TCA

Schlafstörungen Unruhe

Panik, phobische Störungen Persönlichkeitsstörung

Reversible Monaminoxydase­ hemmer (RIMA):

leichte bis mittelschwere Depressionen

Moclobemid

atypische und bipolare Depressionen (?)

keine Sedierung

Soziale Phobien TCA-Neben Wirkungen

Die irreversiblen Monaminoxydasehemmer wie z.B. das Tranylcypromin be­ währen sich bei der Behandlung von mittelschweren und schweren Depressio­ nen, bei atypischen und bipolaren Depressionen, bei Resistenz auf trizyklische Antidepressiva bzw. bei deren ausgeprägten Nebenwirkungen, bei posttrauma­ tischen Belastungsstörungen, bei Angst und phobischen Persönlichkeitsstörun­ gen. Beim Einsatz der MAOAI muß jedoch eine besondere tyraminfreie Diät einge­ halten werden und die Interaktion mit SSRI und TCA verbieten eine Kombina­ tion mit diesen Medikamenten. Als Nebenwirkungen treten u.a. Schlafstörun­ gen und Unruhe auf.

Einsatzgebiete der reversiblen MAOA-Hemmer wie Moclobemid sind leichte und mittelschwere Depressionen, möglicherweise atypische bipolare Depres­ sionen und vor allem soziale Phobien. Ebenfalls kann ihr Einsatz bei dem Auf­ treten von Nebenwirkungen bei Trizyklikagabe erwogen werden und auch in solchen Fällen, wo eine Sedierung nicht erwünscht wird.

105

Steffen Haas

4. Einsatz der Antidepressiva entsprechend des psychopatho­ logischen Befundes bzw. der psychischen Störung Es hat sich bewährt, nosologische Klassifikationen zugunsten des vorausset­ zungsfreien Bezugsrahmens der Zielsymptome zu verlassen (Benkert et al. 1995). Skizzenhaft wurde in dem schon vorgestellten differenziellen Indikati­ onsmodell nach den Richtlinien der APA (1993) und von Rosenbaum (1997) auf den Einsatz von unterschiedlichen Antidepressivagruppen auf psychische Stö­ rungen hingewiesen. Ein spezifisches Wirkspektrum für die Antidepressiva ist nicht endgültig festzulegen, weil gerade die neu entwickelten Medikamente Hinweise dafür geben, daß sie nicht nur bei verschiedenen Subtypen depressi­ ver Symptome, sondern auch bei generalisierter Angststörung, Panikstörung, Zwangsstörung, phobischen Störungen und anderen psychischen Erkrankungen, z.B. im Rahmen von Komorbidität bei somatischen Störungen wirken können. Zur Festlegung differenzieller Indikationen der verschiedenen Antidepressiva müssen im Einzelfall sowohl die Zielsymptome als auch die nosologische Zu­ gehörigkeit des zu behandelnden Syndromes berücksichtigt werden. Die Do­ mäne der Antidepressiva sind selbstverständlich die depressiven Syndrome, und zwar nosologieunabhängig. In den folgenden Tabellen (11+12) sind die Indika­ tionen für die Antidepressiva im Sinne der Diagnosenverschlüsselung nach IDC 10 tabellarisch aufgelistet.

Bei der Indikationsstellung für eine Antidepressivatherapie sind der Schwere­ grad einer Depression, das Krankheitskonzept des Patienten und eine ggf. be­ gleitend durchgeführte Psychotherapie zu berücksichtigen. Je schwerer das de­ pressive Syndrom ausgeprägt ist, desto mehr ist die Gabe eines Antidepressi­ vums indiziert und desto deutlicher und verläßlicher ist der Nachweis der Anti­ depressivawirkung. Schwere depressive Syndrome sollen in der Regel mit Antidepressiva behandelt werden, während bei leichten subsyndromalen depressiven Störungen mit ei­ nem Hamiltonscore unter 13 Punkten ggf. auf Antidepressiva verzichtet werden kann. Im Hinblick auf die Compliance sollten besonders bei leichten Depressionen gut verträgliche Antidepressiva eingesetzt werden.

106

Klinische Auswahlkriterien beim Einsatz von Antidepressiva

Tabelle 11: Indikationsgebiete von Antidepressiva (I) Auswahl TCA

Tetrazykl. und atypi­ sche AD

SSRI

5-HTRezeptor Modulator

SNRI

NASSA

MAOWiederaufnahmehemmer (MAO-H)

schwere depres­ sive Episode (ICD 10)

+ +

+

+

+

+

+

+

mittelschwere bis leichtere Depres­ sionen

+ +

++

+ +

+ +

++

+ +

+

Dysthymien

(+)

+

+ +

+ +

+

+

++

0

+

+ +

wahnhafte De­ pressionen*

+ +

+ Trimipra­ min

+

atypische Depres­ sionen

(+)

rezidivierende kurze Depressio­ nen

Depressionsbe­ handlung im Alter

+

++

+

+ +

0

+

mit geringem Neben­ wirkungsprofil +

+

+

+

prämenstruelles Syndrom

*

+

+

Depressionen in der Schwanger­ schaft* (nicht im 1. Trim.) im Wo­ chenbett (stillen­ de Pat. Keine AD)

postpsychotische Depressionen*

+

+ +

+ +

0

++

in Kombination mit anderen Psychopharmaka (Neuroleptikum, Benzodiazepinderivat oder Lithium)

++

überlegen wirksam (1. Wahl)

+

gesichert wirksam

(+)

fraglich zu bevorzugen

o

ungeeignet, bzw. als 2. Wahl einzusetzen Einsatz sollte nicht erwogen werden

107

Steffen Haas

Tabelle 12: Indikationsgebiete von Antidepressiva (II) Auswahl TCA

Tetrazykl. und atypi­ sche AD

SSRI

Panikstörungen

+ +

(+)

+

Angststörungen*

+ +

+

+

Zwangsstörungen

+ +

+

+ +

phobische Störungen*

+ +

0

5-HTRezeptor Modulator

SNRI

NASSA

+

+

+

+ +

0

Eßstörungen

+

+

+ +

+ +

+

+

+ +

+ +

chronische Schmerzsyndro­ me* u. somatoforme Störungen

+ +

+

0

Schlafstörungen*

+ +

+ +

o

Entzugssymptome und Abhängigkeit

+ +

+

+

0

(+)

+ +

* ++ + (+) o

+

+ +

Persönlichkeits­ störungen*

Demenz

MAOWiederaufnahmehemmer (MAO-H)

+

+ +

+ +

+

+ +

+

+

-

+ +

(+)

in Kombination mit anderen Psychopharmaka (Neuroleptikum, Benzodiazepinderivat oder Lithium) überlegen wirksam (1. Wahl) gesichert wirksam fraglich zu bevorzugen ungeeignet, bzw. als 2. Wahl einzusetzen Einsatz sollte nicht erwogen werden

Weitere praxisrelevante Indikationsgebiete für den Einsatz von Antidepressiva sind:



Angststörungen: Bei ihnen sowie bei Panikstörungen mit und ohne Agarophobie (bei gene­ ralisierten Angststörungen) hat sich der Einsatz sowohl von trizyklischen Antidepressiva wie Imipramin, Clomipramin, aber auch von den SSRI und den Monaminoxydasehemmern bewährt. • Zwangstörungen: In den letzten Jahren konnte überzeugend belegt werden, daß als Mittel der ersten Wahl Clomipramin als potenter Serotoninrückaufnahmehemmer anzusehen ist. Ebenfalls haben sich bei den SSRI Fluvoxamin, Fluoxetin sowie Paroxetin als wirksam erwiesen. Der Einsatz und die Wirkung er­ folgt später als bei Depressionen und bei Panikstörungen, teilweise erst in höheren Dosierungen. 108

Klinische Auswahlkriterien beim Einsatz von Antidepressiva



Eßstörungen: Bei der Anorexia nervosa ist ein genuiner therapeutischer Effekt der Anti­ depressiva nicht belegt, wohl aber eine positive Wirkung auf eine beglei­ tende depressive Symptomatik. Bei der Bulimia nervosa wurden in ver­ schiedenen Studien, insbesondere mit Fluoxetin, darüber hinaus auch mit trizyklischen Antidepressiva und MAO-Hemmern therapeutische Wirkun­ gen nachgewiesen.



Chronische Schmerzsyndrome und somatoforme Störungen: Diese können, unabhängig von der Ätiologie, eine Indikation für eine An­ tidepressivabehandlung darstellen. Clomipramin, Doxepin und Trimipra­ min sind in diesen Indikationen zugelassen. Bei somatoformen Störungen besteht häufig eine Komorbidität mit depressiven bzw. Angststörungen, die dann ebenfalls einen Einsatz mit Antidepressiva rechtfertigen.



Entzugssyndrome: Bei der Behandlung von Entzugssyndromen liegen insbesondere Erfahrun­ gen mit Doxepin vor, jedoch sind therapeutische Wirkungen, Nutzen und Nebenwirkungen empirisch nicht gesichert. Der Einsatz von Antidepressi­ va bei Opiatabhängigkeit oder Benzodiazepinentzug ist ebenfalls wissen­ schaftlich nicht ausreichend gestützt. Zwischenzeitlich liegen Befunde vor, die den Einsatz von SSRI, zum Teil mit oder ohne Psychotherapie, insbesondere bei der Beeinflussung des Cravings, positiv beeinflussen.



Schlafstörungen: Bei ihnen ist der Einsatz von sedierenden Antidepressiva möglich, insbe­ sondere können Trimipramin wegen fehlender REM-Subpression, geringer Beeinflussung der Schlafstruktur, Doxepin sowie Amitryptilin gegeben werden. Neuerdings wird auch das Nefazodon empfohlen.



Persönlichkeitsstörungen: Antidepressiva, insbesondere MAO-Hemmer, aber auch SSRI und NaSSA können z.B. bei Borderline-Störungen angewandt werden. Bei MAOHemmern sind paradoxe Reaktionen möglich.

Weitere mögliche psychiatrische Indikationen fürden Einsatz von Antidepressiva: •

postpsychotische Depressionen, z. B. Imipramin



posttraumatische Belastungsstörungen, z. B. MOA-Hemmer



praemenstrulles Syndrom, z. B. Fluoxetin



rezidivierende kurzzeitige Depression: hier muß der Effekt von Antide­ pressiva noch weiter evaluiert werden

109

Steffen Haas



Depressionsbehandlung im Alter: Depressive Syndrome im Alter sind häu­ fig mit körperlichen Erkrankungen assoziiert. Aus diesem Grunde sollte im Alter besonders das Nebenwirkungsrisiko der trizyklischen Antidepressiva berücksichtigt werden und nur solche Medikamente mit geringen Neben­ wirkungen eingesetzt werden, wie z.B. das Nortriptylin, Desipramin oder das Amitriptylinoxid. Der Einsatz von tetrazyklischen atypischen Antidepressiva ist zu erwägen und insbesondere von Antidepressiva der dritten Generation. Unter Paroxetin, Fluoxetin und Citalopram kann es bis zu einem 100%igen Anstieg des Plasmaspiegels kommen, was zu erhöhten Nebenwir­ kungen führen kann. Unter Fluvoxamin sind solche Plasmaerhöhungen nicht beschrieben wor­ den. Die Anwendung von Monaminoxydasehemmern wird im Alter häufig durch eine orthostatische Hypotonie belastet. Vor allem bei Patienten nach Schlaganfall (post-stroke-Depression) hat sich der Einsatz von Citalo­ pram bewährt. Weitgehend fehlende anticholinerge Nebenwirkungen begünstigen den Einsatz von Mianserin und Velafaxin. Patienten mit einer Demenz reagieren empfindlicher auf Effekte der Muscarinblockade, vor allem im Bereich des Gedächtnisses und der Auf­ merksamkeit. Aus diesem Grunde sollte auf Antidepressiva mit geringen anticholinergen Potenzen, wie die der zweiten und dritten Generation, zurückgegriffen werden. Von den trizyklischen Antidepressiva haben sich das Desimipramin, das Nortriptylin als erfolgreich erwiesen. Umstritten ist noch ein gewisser akti­ vierender Effekt durch den reversiblen MAO-Hemmer Moclobemid.



Einsatz von Antidepressiva bei zusätzlich internistischen Erkrankungen und Komplikationen: Bei zugrunde liegender Komorbidität muß bei dem Einsatz von Antidepressiva ggf. auf Interaktion mit z.B. sympathomemetischen Bronchodilatoren oder auf Antihypotonika geachtet werden. Grundsätzlich sollten bei internistischer Komorbidität wegen der antimuscarinischen Effekte die trizyklischen Antidepressiva nicht als Medikamen­ te der ersten Wahl eingesetzt werden, sondern eher die der zweiten und dritten Generation. Eine genaue Überprüfung der Kontraindikation bei jedem einzelnen Prä­ parat ist notwendig, wie z.B. bei den modernen Antidepressiva ihre mög­ liche Interaktion mit Marcumar.

110

Klinische Auswahlkriterien

beim

Einsatz von Antidepressiva

Zusammenfassung Das ideale Antidepressivum sollte sich durch eine breite therapeutische Wirk­ samkeit, einen schnell eintretenden therapeutischen Effekt, eine gute Verträg­ lichkeit, eine einfache Dosierung und einen günstigen Kosten-Nutzen-Effekt auszeichnen.

Bis zum jetzigen Zeitpunkt verfügen wir nicht über ein solches Medikament. Vielmehr ist davon auszugehen, daß sich alle auf dem Markt befindlichen Anti­ depressiva weniger durch ihre Wirksamkeit als mehr durch ihre unerwünschten Nebeneffekte und Nebenwirkungen’unterscheiden. Die Antidepressiva der sogenannten zweiten und dritten Generation besitzen im Gegensatz zu den trizyklischen, tetrazyklischen und atypischen Antidepres­ siva weniger klinisch relevante Nebenwirkungen und eigenen sich somit mehr für die Behandlung im ambulanten Bereich, bei Komorbidität oder im Alter. Durch sie sind auch zunehmend mehr Verhaltensstörungen zu behandeln, bei denen in der Regel die klassischen Antidepressiva wegen ihrer Nebenwirkun­ gen nur schlecht vertragen und akzeptiert werden. U.a. auch wegen der hohen Tagesbehandlungskosten der Antidepressiva der neuen Generation wird der behandelnde Arzt nicht umhinkommen, Richtlinien für ihren Einsatz zu erstellen. Mit Sicherheit kann im klinischen Alltag - auch unter ambulanten Bedingungen - auf den Einsatz der trizyklischen, tetrazykli­ schen und atypischen Antidepressiva nicht verzichtet werden, insbesondere nicht bei positiver Medikamentenvorgeschichte. Bei den Substanzen sollte je­ doch auf Medikamente zurückgegriffen werden, die relativ wenig Nebenwir­ kungen entwickeln und eine breite Wirksamkeit entfalten.

Insgesamt kann festgehalten werden, daß wir durch die Verfügbarkeit der Anti­ depressiva der ersten, zweiten und dritten Generation hochpotente Medikamen­ te besitzen, die in der Lage sind, ein breites Spektrum von psychischen Auffäl­ ligkeiten und Verhaltensstörungen positiv zu beeinflussen, zum Teil auch von sogenannten Persönlichkeitsstörungen, die früher als nicht pharmakotherapeu­ tisch behandelbar angesehen wurden. Bei leichtgradigen Depressionen ist der Einsatz von Sulpirid, Moclobemid, ggf. auch von hochdosiertem Hypericin ge­ rechtfertigt. Bei mittelschweren bis schweren Depressionen empfiehlt sich der Einsatz der Antidepressiva der zweiten und dritten Generation im Sinne von Breitbandantidepressiva und bei schwergradigen Depressionen sollte vorerst auf den Einsatz von trizyklischen Antidepressiva zurückgegriffen werden. In Kombination mit psychotherapeutischen Verfahren haben die neuen Antide­ pressiva zu einer wesentlichen Verbesserung der Lebensqualität psychisch Kranker geführt.

111

Steffen Haas

Literatur 1. Übersichtsarbeiten (Auswahl) 1. Advances in Antidepressant Pharmacotherapy, 1 Clin Psychiatry 1997:58 (suppl.) 2. Benkert O, Hippius H (1996): Psychiatrische Pharmakotherapie, Springer Verlag Berlin Heidelberg New York 3. Empfehlungen Therapie Depression, Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, AVP Sonderheft Therapieempfehlungen 1. Auflage, Sept. 1997, Depression: Sonder­ ausgabe psycho 23 (1997)

4. New Approaches to the Concept of Antidepressant, European Neuropsychopharmacology 7(1997) 5. Offene Fragen der Antidepressivatherapie, Psychopharmakotherapie Supplement Nr. 6 (1997)

6. Practice Guideline for Major Depression Disorder in Adults (APA), Am J Psychiatry 150:4, April 1993 Supplement

7. Practice Guideline for the Treatment of Patients with Bipolar Disorder (APA) Am J Psychia­ try 151:12, December 1994, Supplement 8. Riederer P, Laux G und Pöldinger W (Hrsg) (1993): Neuropsychopharmaka, Bd. 3, Antide­ pressiva und Phasenprophylaktika, Springer Verlag Wien New York

II. Einzelarbeiten (Auswahl) 1. Fritze J (1998) in: Psychopharmaka im Kinder- und Jugendalter, Fischer Verlag

2. Jungkunz G (1993): Besonderheiten in der Antidepressivabehandlung bei bestimmten Sub­ typen der Depression. In Therapie psychischer Erkrankungen, Möller HJ (Hrsg) S. 301-304, Enke Verlag Stuttgart 3. Laux G (1997): Bessere Verträglichkeit neuer Antidepressiva, Mythos oder Wirklichkeit? Psychopharmakotherapie Supplement Nr. 6, S. 8-11

4. Möller HJ, Kissung W, Stoll KD, Wendt G (1989): Psychopharmakotherapie, Kohlhammer Stuttgart 5. Preskorn SH (1997): Selection of an Antidepressant: Mirtazapine, J Clin Psychiatry 1997:58 (suppl. 6) p 3-7 6. Robinson RG, Starkstein SE (1990): Current research in affective disorder; J Neuropsychia­ try Clin Neurosci

7. Rosenbaum GF (1997): Subtypes of Depression 150 APA-Meeting, May 8, San Diego - USA 8. Schmauß M, Erfurth A (1993): Prädiktion des antidepressiven Behandlungserfolges - kriti­ sche Übersicht und Perspektiven, Fortschr Neurol Psychiatr 61:274-283 9. Schmauß M (1997) in: Antidepression - Behandlung depressiver Episoden in Möller, HJ (Hrsg): Therapie psychischer Erkrankungen (2. Auflage), Enke Verlag (in Druck) 10. Sperling W, Demling J (1997): Neue Antidepressiva Arzneimitteltherapie/15. Jg./Heft 3 11. Wolfersdorf M, Hess H (1992): Aktuelle Therapie der Depression; extracta psychiatrica, Jg. 11, Heft 5

112

Friederike T. Zimmer

Verhaltenstherapeutische Strategien bei Depressionen - unter dem Gesichtspunkt der Zeit „Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde ... weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit..."

Prediger Salomo 3.1-3.4

1. Alles hat seine Zeit Depressive Erkrankungen und ihre verhaltenstherapeutische Behandlung sollen im Folgenden unter dem Aspekt der Zeit betrachtet werden. Dabei lassen sich unterschiedliche Raster der Zeitstruktur denken: die Zeit einer Stunde, einer Therapiestunde, die Tageszeit, die Lebensphasenzeit, die Lebenszeit. Es mag wohl ungewöhnlich sein, bei dem Thema mit einem Bibelzitat zu beginnen. Dennoch scheint mir dieser über nun bald 2000 Jahre überlieferte Text geeig­ net, unsere heutige Fragestellung auf einem weiteren, übergeordneten Hinter­ grund zu betrachten. In dem oben zitierten Ausspruch werden viele Gegensatz­ paare genannt, die auf die lebendige Vielfalt menschlichen Erlebens hinweisen. In der Depression sind häufig beide Pole beeinträchtigt, ob weinen oder lachen, lieben oder hassen, pflanzen oder ausreißen usw. In der Depression ist oft bei­ des nicht möglich und das Leben entsprechend eingeschränkt.

2. Depression und Chronifizierung Symptome und Zeiterleben: In der Depression sind Patienten, dem kognitiven Modell von Beck (1974) folgend, in ihrem Se/bst-Erleben, ihren Beziehungen zur Umwelt und ihrer Wahrnehmung der Zukunftsperspektive beeinträchtigt, was sich auf der affektiven Ebene, der imaginativ-kognitiven, der Verhaltens-, der somatischen und der motivationalen Ebene in den bekannten Symptomen niederschlägt. In dieser als „kognitive Triade automatischer Gedanken" be­ schriebenen Inhaltsebene der Depression ist die Zeitdimension im angstvollen Erleben der Zukunft bereits enthalten, während anhaltendes Grübeln über aver­ sive Ereignisse der Vergangenheit, Selbstwert und Schuld die ’unglückliche’ Zeit subjektiv z.T. als endlos erscheinen lassen. Die gegenwärtige Denk- und Hand­ lungsfähigkeit (Konzentration, Entscheidungsschwierigkeiten, Psychomotorik) ist häufig verlangsamt bzw. gehemmt. Morgentief und Tagesschwankungen weisen 113

Friederike T. Zimmer

auf die Rhythmik in der Tageszeit, saisonale Depressionen auf die Rhythmik der Jahreszeiten hin.

Begriffsdefinition und Zeit: Die heute übliche Klassifikation im ICD-10 der WHO (Dilling et al. 1993) wie auch das amerikanische DSM-IV (Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders, fourth Edition, American Psychiatrie Association, 1994) richten sich nach den beschreibenden Merkmalen im Quer­ schnittsbefund und nach dem Verlauf. Die Diagnose einer ’Major Depression’ setzt eine Dauer von mindestens 2 Wochen voraus. Es wird zwischen depressi­ ven Episoden ohne auffällige Vorgeschichte und wiederkehrenden (rezidivie­ renden) depressiven Episoden sowie über Jahre anhaltenden leichteren (Dy­ sthymie) von mindestens 2jähriger Dauer differenziert. Historisch wird der Be­ griff der Depression auch dann angelegt, wenn die Zeit eine übliche Trauerreak­ tion überschreitet.

Der Begriff der Chronifizierung leitet sich vom griechischen Wort „chronos" ( = die Zeit, Dauer, Weile; aber auch: Lebenszeit, Alter, Zeitverlust) (Langenscheidt, 1953) ab, womit auf ein Überschreiten einer als üblich angesehenen Zeitgrenze verwiesen wird. Zeit als „chronos" wird hier im Sinn von Aristoteles als linearer Vektor zu den Himmelskörpern verstanden und bezieht sich bei der diagnosti­ schen Verwendung jeweils auf die Vergangenheit. Im Wesentlichen Zeit, möchte man meinen, beschreibt die Depression, ganz abgesehen von den Modellen der Phasenverschiebung, -Verlängerung, -Ver­ kürzung (vgl. Pflug i.d. Band). Oder ist es ein unglückliches Umgehen mit der Zeit, auch dem Ende, den Trennungen: von Bindungen (Bowlby 1980), vom Tag, von Lebensphasen, das Festhalten an Bekanntem, Sicherem, auch wenn es nicht glücklich macht? Die psychologischen Depressionsmodelle versuchen nun alle, dieses unglückli­ che Umgehen mit der Zeit zu erklären, die Unfähigkeit zur guten Verarbeitung von Verlusten, zum heilsamen Trauern, zu Trennungen oder begrenzten Tren­ nungen, oder die Schwierigkeiten, sich als lebenslang lernendes Wesen neuen Entwicklungsaufgaben im Verlauf des Lebensprozesses zu stellen, dazuzuler­ nen, Neues zu wagen, die Angst, die das natürlicherweise bei der Bewältigung größerer Life-events mit sich bringt, zu überwinden.

Im Folgenden wird (1) der theoretische Hintergrund kognitiv-verhaltensthera­ peutischer Strategien skizziert, (2) der Behandlungsansatz für Depressive unter dem Gesichtspunkt der Zeit beschrieben, um auf der Basis des (3) derzeitigen Forschungsstandes die (4) Indikation bzw. Kontraindikation zusammenzufassen.

114

Verhaltenstherapeutische Strategien

bei

Depressionen -

UNTER DEM GESICHTSPUNKT DER ZEIT

3. Theoretischer Hintergrund kognitiver Verhaltenstherapie bei Depressionen

„Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Bedeutung, die wir ihnen geben."

Epiktet (50-138 n.Chr.)

Die theoretischen Wurzeln kognitiver Verhaltenstherapie reichen ca. 2000 Jahre in die griechische Philosophie der Stoiker zurück, zu dem o.g. Ausspruch Epiktets „Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Bedeutung, die wir ihnen geben". Und ich möchte hinzufügen, die Bedeutungen, die im Lauf der Biographie und der Geschichte gewachsen sind. In der therapeutischen Pra­ xis reichen die Wurzeln zurück zu Sokrates, der Fragen mit weiteren gezielten Fragen beantwortete, und dem sog. „sokratischen Dialog", der heute die grund­ legende therapeutische Technik kognitiver Therapie darstellt und den Patienten anregt und ihm hilft, seinen eigenen Weg herauszufinden und seine eigenen Schlußfolgerungen aus den gemachten Erfahrungen zu ziehen.

Von den psychologischen Erklärungsmodellen zur Ätiologie und Aufrechterhal­ tung von Depressionen sind insbesondere zu erwähnen: Das an schwer depres­ siven Patienten entwickelte kognitive Modell von Beck (1974), das Modell der gelernten Hilflosigkeit von Seligman (1975, 1993), das Verstärkerverlustmodell von Lewinsohn (1974), das Modell der Selbstregulation von Kanfer u. Hager­ mann (1982, s. auch Kanfer et al. 1996). Neuere komplexere Modelle wurden im Bemühen entwickelt, die Einzelzusammenhänge der erstgenannten zu inte­ grieren, so im multifaktoriellen Erklärungsansatz von Lewinsohn et al. (1985), Hautzinger (1991), im Modell der Chronifizierung bzw. Remission von Zimmer (1991), im kognitiv-interpersonalen Modell von Gotlib u. Hammen (1992) und im „Bezugsrahmen interagierender kognitiver Subsysteme" von Teasdale u. Bar­ nard (1993). Für eine detaillierte Diskussion sei auf Hautzinger (1997) verwiesen. Unter dem in diesem Zusammenhang gewählten Aspekt der Zeit, d.h. dem Prozesscharakter depressiver oder chronifiziert depressiver Entwicklungen soll auf das o.g. Modell der Chronifizierung bzw. der Remission von Depressionen (Zimmer 1991) eingegangen werden. Es wurde im Rahmen eines Projektes zur

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Friederike T. Zimmer

chronischen Depression2 (Zimmer u. Heimann 1992) entwickelt und bezieht aufgrund des jahrelangen Austauschs mit J.Teasdale seine sehr interessanten Ar­ beiten ein.

Interaktioneile Probleme; Defizite sozialer Kompetenz

Soziale Wahrneh­ mung

Genetische Prädisposition; Physiologische Stressoren

Informations­ verarbeitung (Selektive Aufmerksamkeit; Attributionen, Bewertungen; Schlußfolgerungen)

Körperwahr­ nehmung

Depressiver Affekt

Partnerschaft - Konflikte - Verluste

A

Anhedonie; Rückzug Reduzierte Motorik; Defizite pos. Erlebnisse

Abbildung 1: Modell des Chronifizierungsprozesses von Depression, Teil A3

2

Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) im Schwerpunkt „Therapie und Rückfallprophylaxe chronischer psychischer Erkrankungen im Erwachsenenalter" gefördert (PSF 12).

3

Die Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlags aus Zimmer (1991) übernommen.

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Verhaltenstherapeutische Strategien

bei

Depressionen -

UNTER DEM GESICHTSPUNKT DER ZEIT

Abbildung 1 verdeutlicht im inneren Zirkel den Zusammenhang von Affekt und Informationsverarbeitungsprozessen als zentrales Element. Das Individuum nimmt eine Situation affektiv getönt wahr und erfährt sie mit seiner subjektiven Bedeutungen auf der Basis der vorhandenen Gedächtnisrepräsentation vorheri­ ger Lebenserfahrungen. Im Falle der depressiven Tönung entweder unter dem Aspekt der gelernten Hilflosigkeit von Seligman, der kognitiven Theorie von Beck, dem verhaltensorientierten Verstärkerverlustmodell, unter der paardyna­ mischen Perspektive oder unter der Annahme primär somatischer Prozesse und Vulnerabilitätsfaktoren, die auf die anderen Ebenen Einfluß nehmen. Unabhängig von der ursprünglichen Genese der Depression oder der aktuellen depressiven Episode wird davon ausgegangen, daß es wesentlich von den auf­ rechterhaltenden Mechanismen, d.h. von den gegenwärtig in der Situation zeit­ gleich (re-)aktivierten kognitiven Prozessen und neuronalen Strukturen abhängt, wie eine derzeitige depressive Verstimmung sich weiterentwickelt (vgl. auch Aldenhoff 1997).

Gedächtnisrepräsentation Frühe kognitive und soziale Schemata Affektiv getönte Erinnerungen

(+)

Bewertungskonzeptg

Remissions' zirkel (+)

Chronifizierungszirkel (-)

Verarbeitung Milde Verstimmung

B

Depressive? Affekt Chronifizierung

Abbildung 2: Modell des Chronifizierungsprozesses von Depression, Teil B3

Abbildung 2 zeigt, daß zwei mögliche kognitiv-emotionale Zirkel aktiviert wer­ den können: a) Ein Chronifizierungszirkel oder b) ein Remissionszirkel. Im Chronifizierungszirkel lösen leichte Verstimmungen im Sinne einer assoziativen Netzwerktheorie (Bower 1981) gespeicherte negative Vorerfahrungen aus, de117

Friederike T. Zimmer

ren affektive Tönung wiederum weitere depressiogene Erlebnisse ins Bewußt­ sein bringt. Beck (1974) und Piaget (1966, 1981) sprechen hier vom Begriff zen­ traler Schemata, die als kognitiv-affektive Strukturen Filterfunktion besitzen und beeinflussen, wie nachfolgende Ereignisse wahrgenommen, interpretiert, ge­ speichert und wiedererinnert werden. Ausgelöst werden Schemata nach laten­ tem Vorhandensein bei bedeutsamen, als Stress erlebten Ereignissen (oft interaktioneller oder beruflicher Art) im Sinne eines „Vulnerabilitäts-Stress-Modells". Im Remissionszirkel dagegen richtet sich die Aufmerksamkeit auf positiv getönte Erinnerungen oder neue positiv erlebte, bewertete Ereignisse, die in einen posi­ tiven recursiven Prozess einmünden. Dieser Zirkel mit seinem zentralen Ele­ ment von Affekt und kognitiver Bedeutung ist der Schwerpunkt therapeutischer Arbeit. Er kann nach heutigem Stand der Wissenschaft durch kognitive Neube­ wertungen und Finden alternativer Bedeutungen, aber vor allem auch durch neue reale Erfahrungen, eigene Verhaltensweisen und deren Konsequenzen, Affekte oder somatisches Erleben angeregt werden. Daraus ergeben sich als Ziele der Therapie, wie Kanfer (1961) bereits vor über 30 Jahren formulierte: (1) Kognitiv-emotionale Änderungen im Erleben der eige­ nen Person wie der Umwelt und (2) Entwicklung neuen reiferen Verhaltens für die Auseinandersetzung mit der Umwelt. Dies impliziert notwendig (a) die Ak­ zeptanz diskrepanter Informationen und Bewertungen, d.h. Änderung kognitiv­ emotionaler Schemata und (b) die Entwicklung neuer Handlungsentwürfe und deren Umsetzung in reale Erfahrung. Folgen wir der Entwicklungstheorie von Piaget (1966), so sind die ganz frühen Erfahrungen sensu-motorisch gespeichert (0-2 Jahre), spätere visuell-imaginativ, erst noch spätere verbal-begrifflich. Das bedeutet für die Therapie (vgl. auch die Ausführungen von van der Kolk und van der Hart (1991): Je früher die maladap­ tiven Schemata entstanden sind, desto wichtiger ist es, daß die alten Erfahrun­ gen auf der sensu-motorischen bzw. visuell-imaginativen Ebene überschrieben werden.

4. Strategien kognitiver Verhaltenstherapie Auf den genannten Modellen basierend wurden im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie komplexe Behandlungsstrategien entwickelt. Kennzeichen verhaltenstherapeutischen Vorgehens ist eine grundsätzliche Begrenztheit der vereinbarten Zeit, insofern insgesamt auch Beispiel für den Lebensprozeß. Eine Auswahl der zu bearbeitenden Themen, die Entscheidungen impliziert, ist daher immer notwendig, insgesamt über den Therapieprozeß und pro Sitzung, pro Tag oder Woche des Patienten.

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Verhaltenstherapeutische Strategien bei Depressionen UNTER DEM GESICHTSPUNKT DER ZEIT

Im Folgenden werden Schwerpunkte des therapeutischen Vorgehens verdeut­ licht, die entsprechend der individuellen Zusammenhänge unterschiedlich zur Geltung kommen, daran anschließend der Prozeß der Durchführung.

4.1. Am Anfang steht der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung durch eine empathische und geduldige, Vertrauen bildende und den Patienten wertschätzende Haltung sowie kurzfristig entlastende Maßnahmen und die Vermittlung eines Therapiekonzepts. Im Hinblick auf die depressiven Zielsym­ ptome geht der Therapeut strukturiert, zielorientiert und schrittweise vor, um möglichst früh dem Patienten kleine Erfolge zu vermitteln, die seiner Hoffnungs­ losigkeit entgegenwirken und damit auch die Therapiemotivation erhöhen. Ge­ genwärtiges Erleben mit den zugehörigen Kognitionen und Verhaltensweisen steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In dieser ersten Phase geht es darum, neben der Symptomatik interaktionelle Besonderheiten sensibel wahrzuneh­ men, Hoffnungen und Befürchtungen zu klären. Aufgrund der oft jahrelangen Therapievorerfahrungen ist es besonders wichtig, das subjektive Krankheitsmo­ dell des Patienten zu erfassen und sich sukzessiv über ein Therapiekonzept zu verständigen. Hierzu gehört auch die oft vielfältige familiäre Dynamik und u.U. auch die Einbeziehung des engsten Angehörigen. Wesentliche Gesprächsfüh­ rungstechniken sind der „sokratische Dialog" gelenkter Fragen, der die vorherr­ schende Emotion und die subjektiven Bedeutungen von Ereignissen für den Pa­ tienten einbezieht, und der „empirische Dialog", mit dem die in der Regel nega­ tiv verzerrten Wahrnehmungen und Bewertungen immer wieder an der objekti­ ven Realität überprüft werden. Therapie ist ein fortlaufender rekursiver Prozeß von Adaptationen im Vorgehen und ein Anknüpfen an die vorhandenen Ressourcen des Patienten. Immer wie­ der stellt sich die Frage, was der mögliche nächste Schritt ist, damit zunehmend Hoffnung oder Vertrauen in die eigene Selbstachtung, Kompetenz und Entwick­ lungsmöglichkeiten erfahren werden können. 4.2. Die Anregung befriedigender und verstärkender Aktivitäten in kleinen Schritten zielt insbesondere auf die Symptome der Hemmung, Passivität, der Anhedonie, den Interesseverlust und Verlust der Genußfähigkeit und auf moti­ vationale Probleme. Es wird versucht, an vorhandene Ressourcen des Patienten für Lebensfreude anzuknüpfen. Dies ist besonders indiziert, je schwerer die De­ pression und je größer die Demoralisierung ist. Je schwerer die Krise ist, desto wichtiger sind dabei haltgebende Maßnahmen wie Strukturierung des Tages und konkretes Handeln. Der Patient wird durch die genaue Beobachtung seiner alltäglichen Aktivitäten angeleitet, Zusammenhänge zwischen seinem Tun, sei­ ner Bedeutung und seiner Stimmung zu finden. Da hierbei sowohl unausge­ 119

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schöpfte Möglichkeiten wie auch Konflikte deutlich werden, kann gemeinsam überlegt werden, welche ersten Schritte mit Hoffnung auf Erfolg und Stim­ mungsbesserung einhergehen könnten. So kann durch die damit verbundene Verstärkung a) das Aktivitätsniveau, wenn nötig, gesteigert, b) das hedonische Repertoire erweitert und c) längerfristige Lebenspläne mit einbezogen werden, während gleichzeitig versucht wird, belastende Aktivitäten und Bedingungen zu reduzieren und erneut Vertrauen in die eigene Person zu entwickeln (Zimmer 1990). Unter dem Aspekt der Zeit wird Patienten oft erstmals deutlich, wieviel Zeit sie mit Dingen verbringen, die sie gar nicht wollen, sich aber nicht abgren­ zen können; oder es kann durch die Distanz des Aufschreibens wahrgenommen werden, wieviel doch gute, sinnvolle Dinge wider Erwarten bewerkstelligt wer­ den können.

4.3. Die Änderung kognitiv-emotionaler Schemata, d.h. verzerrter Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster, beginnen mit den als „kognitive Triade" be­ zeichneten negativen automatischen Gedanken bzgl. Selbst, Umwelt und Zu­ kunft. Hierzu zählen auch die Rolle als Patient („Ich bin ein hoffnungsloser FaiI"), der Therapeut als unmittelbare Umwelt und der Ausgang der Therapie als Zukunftsperspektive. Das zentrale Ziel jedoch sind die kognitiv-emotionalen Schemata, der strukturelle Aspekt, die unabhängig von der Genese für die Auf­ rechterhaltung der Depression und damit für die Chronifizierung eine wesentli­ che Rolle spielen (s.o). Es gilt, die im Verlauf der Biographie entstandenen Schemata systematisch zu analysieren und den Patienten alternative Erfahrun­ gen machen zu lassen bzw. ihn anzuleiten, an Stelle der depressiogenen Bewer­ tungsprozesse der Selbstabwertung bezüglich eigener Leistungsanforderungen und sozialer Anerkennung moderatere und der Realität angemessenere Kogni­ tionen und Kriterien zu erarbeiten (Beck et al. 1994). Da sich affektrelevante Kognitionen meist auf interaktioneile Zusammenhänge beziehen, spielt dabei die innere (oder auch äußere) Auseinandersetzung in der Beziehung zum The­ rapeuten und mit den entsprechenden Bezugspersonen natürlich eine wichtige Rolle. Im Einzelnen gibt es hierzu eine Vielzahl von Interventionen, jeweils mit ihrer problemspezifischen Indikation. 4.4. Die Erweiterung sozialer Fertigkeiten, die Förderung der Beziehungsfähigkeit ist wichtiger Bestandteil einer verhaltenstherapeutischen Behandlung depressiver Patienten, da interaktionelle Kompetenzdefizite sich als Ursache wie auch als Folge der länger andauernden Erkrankung finden lassen. Ziel ist dabei der Auf­ bau langfristig beidseitig verstärkender Beziehungen. Häufig beobachtete Pro­ blembereiche sind Wahrnehmung und Ausdruck von Ärger, Umgang mit Kritik, Grenzen und Ablehnen von Forderungen sowie das Äußern von Wünschen und 120

Verhaltenstherapeutische Strategien

bei

Depressionen -

UNTER DEM GESICHTSPUNKT DER ZEIT

Bedürfnissen. Mit der Methode des Rollenspiels, dem Lernen am Modell, der systematischen Rückmeldung und Verstärkung, aber auch in der Erfahrung mit dem Therapeuten, etc. können Patienten ihr soziales Repertoire erheblich er­ weitern. Rollenspiele bieten erfahrungsgemäß die Chance einer intensiven Aus­ einandersetzung mit nicht-anwesenden Interaktionspartnern, Ehepartnern und Elternfiguren, mit hohem affektiven Lerngewinn, indem wichtige Bedürfnisse und Gefühle erstmals formuliert werden und damit später mit größerer Sicher­ heit in die Realität umgesetzt werden. Letztlich entscheidend sind neue interaktionelle Erfahrungen, innerhalb der the­ rapeutischen Beziehung wie auch in den realen Beziehungen im Sinn eines Transfers. Eine Änderung kognitiv-emotionaler Schemata findet dann statt, wenn durch Eingehen neuer Risiken Gegenerfahrungen zu alten Befürchtungen ge­ macht und in die bestehenden Schemata integriert werden können. In diesem Schritt des Transfers liegt wohl ein wesentliches Problem chronisch depressiver Patienten. Fennell u. Teasdale (1982) fanden in einer empirisch sauber kontrol­ lierten Studie, daß Patienten ihr Befinden wohl in der Sitzung änderten, dies je­ doch nicht nach Hause übertragen konnten. In diesem Sinn ist die Zeit zwi­ schen den Therapiesitzungen auch ein Beispiel für die Zeit nach der Therapie und ein Prädiktor dafür, wie es gelingt, alte Muster abzubauen und neue Res­ sourcen zu entwickeln. Die Hinführung auf diesen Transfer ist ein wesentliches Kennzeichen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehens.

4.5. Eine Weiterführung des Gesagten kann die Einbeziehung des engsten An­ gehörigen im Sinne einer Paartherapie, in der Regel mit dem Ehepartner, sein. Sie ist dann indiziert, wenn interaktioneile Verhaltensmuster der Partner sich wechselseitig mitbedingen und beide Leidende wie Verursacher des Leidens sind, oft ohne es zu wissen. Inhaltliche Konflikte können zu einem negativen Aufschaukelungsprozess führen, wenn sie aufgrund fehlender sozialer Kompe­ tenzen der Partner nicht konstruktiv bearbeitet werden können. Das klagende Verhalten des chronisch Depressiven führt häufig kurzfristig zu vermehrter Aufmerksamkeit, wobei der Partner eigene Bedürfnisse zurücksteckt und sich zunehmend unwohl fühlt, bis er mit sozialem Rückzug reagiert. Dieser Wechsel zwischen komplementärer Helferrolle und Überforderung ist besonders bei un­ sicheren und besonders hilfsbereiten Partnern zu beobachten. Unter lerntheore­ tischer Betrachtung unterliegen die Patienten dadurch einem Prozeß intermittie­ render Verstärkung, der Verhaltensweisen bekanntlich besonders löschungsresi­ stent macht und zu stabilisieren vermag. Diese Zusammenhänge stehen in Einklang mit der mehrfach berichteten kurzfri­ stigen stationären Besserung der Symptomatik chronisch depressiver Patienten, die jedoch bei Rückkehr in das ursprüngliche Milieu trotz intensiver therapeuti­ 121

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scher Anstrengung nicht nachhaltig aufrechterhalten werden kann. Oft ergibt sich ein circulus vitiosus zwischen Jammern, Zuwendung und sozialem Rück­ zug (Coyne 1976), den es gilt, in einen konstruktiven Dialog zu überführen, in dem die unausgesprochenen Emotionen wie häufig Trauer, Verzweiflung, Ärger erfahren und besprochen werden können. Die systematisch angeregte Rück­ meldung zwischen Patient und Therapeut als durchgehende Methode nach Beck ist für diesen Prozess eine wichtige Hilfe.

5. Der Prozess der Therapie Nachdem nun die vorgestellten Schwerpunkte die Struktur der Behandlung ver­ deutlicht haben, soll nochmals auf den prozessualen Charakter jeder kognitiv­ verhaltenstherapeutischen Behandlung eingegangen werden. Zusammenfassend ergeben sich folgende Aspekte der Durchführung im Therapieverlauf (vgl. auch Zimmer 1996):

5.1. Zeit, Ziel und der Affekt als Leitlinie: Kognitive Verhaltenstherapie ist als Kurzzeitpsychotherapie konzipiert. Die meisten kontrollierten Studien umfassen 16-25 Sitzungen. Da die Zeit einer Therapievereinbarung jedoch auch im Falle längerer Vereinbarungen (45-60 Stunden) in jedem Fall begrenzt ist, ist eine Auswahl der anzugehenden Symptome und Situationen notwendig, für die die Intensität des Affekts, seine Aktualität und sein Beginn maßgeblich sind. Sei es, daß er in der Sitzung auftritt oder sich auf Situationen/Beziehungen außerhalb bezieht. Voraussetzung dafür ist, daß der Therapeut offen und sensibel das emo­ tionale Befinden des Patienten wahrnehmen kann und durch seine halt- und vertrauensgebende Funktion freie emotionale Äußerungen zu fördern imstande ist. Hierzu gehört auch ein guter Umgang mit der Zeit der Therapiestunde: prä­ zises Einhalten der Zeitgrenzen und innerhalb derer ein ausgewogenes Verhält­ nis von prozessual-empathischem Mitgehen und aktiver Strukturierung. 5.2. Exploration von Situation, Affekt, Kognition (Bilder), Verhalten(-simpuls): Um affektiv relevante Situationen und die dazugehörenden Kognitionen, Ver­ halten und evtl, physiologische Reaktionen zu erfassen und um etwaigen Disso­ ziationen der Ebenen entgegenzuwirken und die innere „Stimmigkeit" im Sinn der Kohärenz (Grawe 1998) zu fördern, existieren verschiedene Methoden.

Kognitionen, automatische Gedanken und Bedeutungen laufen im Sinne eines uns ständig begleitenden 'Bewußtseinsstroms' reflexhaft, unfreiwillig und häufig vorbewußt zwischen einem inneren oder äußeren Ereignis und dem nachfol­ genden emotionalem Erleben ab und erscheinen subjektiv plausibel. Sie drük-

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Verhaltenstherapeutische Strategien bei Depressionen UNTER DEM GESICHTSPUNKT DER ZEIT

ken sich in Bildern, Phantasien, Selbstgesprächen, Selbstinstruktionen, persönli­ chen Interpretationen und idiosynkratischen Bewertungen von Situationen oder Ereignissen ab. Analysieren lassen sie sich anhand einer emotional bedeutsa­ men auslösenden Situation, wie oben beschrieben, zu der sie direkt erfragt wer­ den können. Im Laufe dieser Exploration werden in der Regel vorbewußte Inhal­ te und Zusammenhänge deutlich. Verhaltensweisen des Patienten in der Situation und bisherige Bewältigungsver­ suche spiegeln das Verhaltensrepertoire und die Angstvermeidungstendenzen, aber möglicherweise auch den realen Mangel sozialer Kompetenz wider.

5.3. Entwicklung des nächsten Schrittes: Immer wieder stellt sich die Frage, was der eine nächste Schritt ist, um Vertrauen in sich selbst und die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten zu gewinnen? Die Kunst ist es, aus großen Wün­ schen und langfristigen, schwierigen Zielen den nächsten erreichbaren Schritt abzuleiten. Welches Risiko müßte, könnte eingegangen werden, um einer rele­ vanten Gegenerfahrung zu bestehenden Schemata (s.o.) eine Chance zu geben und die Befürchtungen an der Realität zu prüfen? 5.4. Hausaufgaben als Hilfe zum Transfer: Wichtige Erfahrungen machen Pati­ enten nicht nur in der Therapiestunde mit dem Therapeuten, sondern im Alltag mit wichtigen Bezugspersonen. Der langfristige Therapieerfolg hängt wesentlich davon ab, ob ein Transfer der neuen Erfahrungen in das alltägliche Leben mög­ lich ist. Das Grundprinzip besteht in der Anregung von Gegenerfahrungen zu zentralen kognitiv-emotionalen Schemata. Entscheidend ist aus dieser Sicht nicht die Länge der Therapie, sondern ob schema-relevante Gegenerfahrungen oder Neuerfahrungen gemacht werden können. Darüber hinaus ist nicht nur die Depressionsabnahme das Ziel, sondern die Rezidivprophylaxe. Hausaufgaben im Sinne 'geleiteter Erfahrungen zwischen den Sitzungen' sind daher neben Transparenz und zunehmender Einbeziehung des Patienten wichtiges Hilfsmit­ tel für die Bewältigung von Stimmungsschwankungen nach Therapieende. 5.5. Widerstand und kognitive Mikroanalyse: In der Regel treten im Laufe der Behandlung auch Widerstände und Vermeidungsverhalten auf. Es ist einfacher, über Themen zu sprechen als neue Erfahrungen zu riskieren und über den eige­ nen Schatten zu springen. Der Fortschritt und die Bearbeitung der Schemata ist jedoch ohne neu 'erlebte' Erfahrungen nicht möglich. Wie oben ausgeführt, sind zentrale Schemata durch starkes Vermeidungsverhalten gekennzeichnet.

Wir betrachten Therapie als ein Prozess fortlaufender Adaptationen. Die inter­ essantesten Informationen sind dort zu gewinnen, wo es nicht so läuft, wie wir 123

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erwarten. Einbrüche und Widerstände sollten daher nicht übergangen, sondern frühzeitig beachtet und ernst genommen werden, da sie ein Zeichen für hohe affektive Beteiligung sind. Eine genaue gemeinsame Analyse dient der Heraus­ arbeitung z.B. von Überforderungsängsten, motivationalen Unklarheiten, Aspekten der therapeutischen Beziehung wie Mißverständnissen, Verletzungen etc. oder zentralen Schemata, die im Anschluß an diese Mikro-Problemanalyse bearbeitet werden können.

6. Indikation und Kontraindikation als Ergebnis des aktuellen Forschungsstandes kontrollierter Therapiestudien Fassen wir die kontrollierten Therapievergleichsstudien zusammen, so ergibt sich heute folgender Stand der Wissenschaft: Kognitive Verhaltenstherapie als Kurzzeitpsychotherapie hat sich gut bewährt und ist bei unipolaren, nicht­ psychotischen Depressionen und chronifizierten Krankheitsverläufen indiziert (Depressive Episode, einfach u. rezidivierend, Major Depression, Dysthymia, nach ICD-10 und DSM-IV), in ihrer Wirkung vergleichbar mit trizyklischen An­ tidepressiva (Überblick u.a. in Zimmer 1989; Zimmer & Heimann 1995, Hautzinger 1997). 1-2jährige Katamnesestudien haben einen rezidivprophylak­ tischen Effekt gegenüber trizyklischen Antidepressiva gezeigt. Die Therapie kann in der akuten Krise begonnen werden sowie auch bei schweren Depres­ sionen mit medikamentöser Behandlung kombiniert werden, wobei auf ein ein­ heitliches Konzept für den Patienten zu achten ist. Die meisten Studien bezie­ hen sich auf ambulante Einzeltherapien, jedoch gibt es inzwischen auch für die stationäre Anwendung sowie für die Durchführung in Gruppen positive Belege. Chronisch depressive Krankheitsverläufe können, wenn auch langsamer und in geringerem Umfang, positiv beeinflußt werden und vollständig remittieren (Zimmer u. Heimann 1995).

Es hat sich außerdem gezeigt, daß vor allem mit den Stärken als mit den Schwä­ chen eines Patienten gearbeitet werden kann (Sotsky et al. 1991). Depressive Residualsymptomatik, dysfunktionale Grundeinstellungen und residuale Anhedonie sind Risikofaktoren für spätere Rückfälle. Daher sollten Genußfähigkeit auf der Verhaltens- und kognitiven Ebene sowie die Änderung kognitiv­ emotionaler Schemata als Zielvariablen in der Therapieplanung besonders be­ rücksichtigt werden und vor Beendigung in diesen Bereichen Besserungen er­ zielt werden.

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bei

Depressionen -

UNTER DEM GESICHTSPUNKT DER ZEIT

Tabelle 1: Indikation kognitiver Verhaltenstherapie

Indikationen

Kontraindikationen



reaktive Depressionen



neurotische Depressionen



atypische Depressionen



bipolare Depressionen



chronischer Verlauf



extreme Retardierung o. Stupor



Therapieresistenz auf Anti­ depressiva



gleichzeitige EKT-Therapie



ambulantes wie stationäres Setting



Einzel- und Gruppensetting



geriatrische Patienten mit Modifikationen



psychotische Symptome (Wahn, Halluzinationen)

7. Die Zeit: Abschied und Neubeginn Stufen der Entwicklung In einer wegweisenden Arbeit über die Rolle der Psychotherapie chronifizierter Depressionen haben Weissman u. Akiskal (1984) die Beziehungen von chro­ nisch Depressiven als „feindselig abhängig" bezeichnet, was wohl dem genann­ ten 'unglücklichen Verharren' entsprechen mag. Aufgrund der empirischen Ba­ sis legen sie sowohl Kognitive Verhaltenstherapie nach Beck et al. (1974, 1994) wie auch Interpersonale Therapie nach Klerman u. Weissman (1984), u.U. kombiniert mit Pharmakotherapie, nahe. Unter den wenigen sorgfältigen empi­ rischen Studien zur Remission chronischer Depressionen ist die Arbeit von Brown, Adler u. Bifulco (1988) aus England in diesem Zusammenhang von be­ sonderem Interesse. Aus einer Vielzahl von Variablen, die in die Untersuchung eingingen, wurden sog. „fresh start events" als wesentlicher Faktor für Remissi­ on gefunden. Diese neuen Startpunkte zeichnen sich durchaus nicht nur durch glückliche life-events aus, sondern auch unglückliche, aber in jedem Fall sol­ che, die einen „neuen Start" ermöglichen bzw. notwendig machen, der aus der Depression herausführt. Abschließend führt ein Gedicht des Dichters Hermann Hesse noch einmal zum Anfang zurück, zur Zeit und der immer wiederkehrenden Chance des Neuan­ fangs, dem „fresh start event", sofern die vorherigen Verluste verarbeitet und durch Neuerfahrungen überschrieben werden können, so daß der Depressive 125

Friederike T. Zimmer

zwischen dem Verharren in der Vergangenheit und seinen Zukunftsängsten in der Gegenwart ankommen kann und der linear dahinfließenden Zeit „chronos" das griechische „o kairos" (die Sternstunde, der günstige Augenblick, die gute oder rechte Zeit, auch: rechtes Maß, richtiges Verhältnis) im Handeln, Wahr­ nehmen und Erleben wieder entgegensetzen kann.

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu Ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten, Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewobnt, so droht Erschlaffen, Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegen senden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden... Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse

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Verhaltenstherapeutische Strategien

bei

Depressionen -

UNTER DEM GESICHTSPUNKT DER ZEIT

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Joachim Eckert ♦ Katrin Schwarzenau Bernhard Weber ♦ Konrad Maurer

Repetitive transkranielle Magnetstimulation zur Therapie depressiver Erkrankungen Einleitung Die nahezu schmerzfreie Methode der transkraniellen magnetoelektrischen ce­ rebralen Stimulation wurde 1985 von Barker und Mitarbeitern erstmals präsen­ tiert. Diese Technik erzeugt intracerebral Entladungen der kortikalen Pyrami­ denzellen, die descendierende Erregunssalven über die Pyramidenbahn generie­ ren, die sich von der peripheren Muskulatur mit handelsüblichen Neurographieoberflächenelektroden oder mit konventionellen EMG - Nadelektroden als Muskelsummenpotentiale oder Potentiale motorischer Einheiten von fast allen quergestreiften Muskeln abgreifen lassen. Die Amplituden der Antwortpotentia­ le liegen im Millivoltbereich, was in der Regel eine Aufsummierung mittels Averaging erübrigt. Die Magnetstimulation (TMS) fand rasch Eingang in die neurologische Diagno­ stik, weil mit ihr erstmals eine quantifizierbare Methode zur Verfügung stand, die die Pyramidenbahn objektiv vermessen konnte. Es lag nahe, die Wertigkeit TMS, die intracerebral Ströme erzeugt, in der antidepressiven Therapie zu eva­ luieren, da eine gewisse Ähnlichkeit des Wirkprinzips mit der antidepressiv wirksamen Elektrokrampftherapie nicht zu verkennen war. Doch bevor näher auf den Einsatz der TMS in der Depressionstherapie eingegangen wird, sollen zunächst die biologischen und biophysikalen Grundlage der TMS im allgemei­ nen besprochen werden.

Physikalische Grundlagen Die transkranielle Magnetstimulation (TMS) basiert auf dem Prinzip der elektro­ magnetischen Induktion: Werden zwei elektrisch leitende Spulen (S1 und S2) parallel zueinander ausge­ richtet, wobei S1 von einem elektrischen Strom durchflossen wird, so wird S1 von einem stationären magnetischen Feld umgeben, ohne daß in S2 ein elektri­ scher Strom entsteht. Werden S1 und S2 jedoch gegeneinander bewegt oder ändert sich der Stromfluß in S1, dann wird mit der Änderung des magnetischen

129

Joachim Eckert ♦ Katrin Schwarzenau ♦ Bernhard Weber ♦ Konrad Maurer

Feldes bei Stromzunahme ein gegenüber S1 in entgegengesetzter Richtung flie­ ßender Strom in S2 induziert („Lenz-Regel"). Bei Stromabfall in S1 fließt der Strom in S2 umgekehrt zu seiner ursprünglichen Richtung. Die Stärke des induzierten Stromes ist dabei von folgenden Faktoren abhängig: •

zeitliche Änderung der Stromstärke in S1 (je höher die zeitliche Änderung der Stromstärke in S1, um so größer ist die Induktion in S2)



Spulenradius und Windungszahl



Änderungsgeschwindigkeit des magnetischen Feldes in S1 (jeschnellersich das magnetische Feld um S1 ändert, desto mehrStrom wird inS2 induziert)



Induktivität der Spulen (materialabhängig)



Winkel zwischen den magnetischen Feldlinien um S1 und der Empfänger­ spule (die Größe des induzierten Stromes ist am größten, wenn die Feldli­ nien des magnetischen Feldes um S1 und die Schnittstelle der Empfänger­ spule im rechten Winkel zueinander stehen)



Abstand zwischen Reizspule und Empfängerspule

Die räumliche Konfiguration des Magnetfeldes um S1 wird durch die Spulen­ form bedingt, wobei in der Regel die höchste Magnetfelddichte nicht im Zen­ trum einer kreisförmigen Spule sondern unter den Spulenwindungen liegt. Viele Magnetstimulatoren verwenden zirkulär konfigurierte Kupferspulen, über die durch einen Triggerimpuls mehrere kapazitative Elemente des Reizgerätes gleichzeitig entladen werden. Dadurch baut sich um die Spule ein sich rasch änderndes Magnetfeld auf, das im Gewebe die elektromagnetische Induktion bewirkt. Die zeitliche Änderung des induzierten Stroms ist proportional zur zeit­ lichen Änderung des Magnetfeldes.

Bei der magnetoelektrischen Kortexreizung repräsentiert das Hirngewebe die Spule 2 und die Stimulaturspule die Spule 1. Da die Stärke des Induktionsstro­ mes der Gewebsleitfähigkeit direkt proportional ist, entstehen in Gewebsstruk­ turen mit einem hohen spezifischen Widerstand (Haut-, Fett-, Knochengewebe) nur geringe Induktionsströme. Hohe Ströme und damit hohe Stromdichten (1020 mA/cm2) treten dagegen in Geweben mit einer großen elektrischen Leitfä­ higkeit auf (Liquor, Nervenzellen, Nervenfasern). Im ZNS wird durch die indu­ zierten Ströme eine Erregung neuronaler Strukturen möglich, wobei die physika­ lischen Abläufe der elektromagnetischen Induktion bewirken, daß bei der ma­ gnetoelektrischen Kortexstimulation der Reizstrom am Wirkort, also im Hirnge­ webe selbst, entsteht. Die Reizimpuls in Spule 1 (Reizspule) hat eine sehr ra­ sche Anstiegssteilheit (< 10 Mikrosekunden), wobei er nur langsam abfällt (300-500 Mikrosekunden). Während der schnellen Anstiegsphase des Reizes 130

Repetitive transkranielle Magnetstimulation zur Therapie depressiver Erkrankungen

wird intracerebral ein kurzer Induktionsstrom generiert, der das Nervengewebe erregt. Der zweite Induktionsstrom, der während der langen Reizabfallphase dem ersten Induktionsstrom entgegenfließt, ist dann nicht mehr stark genug, um nochmals neural reizwirksam zu sein. Einige Geräte verwenden biphasische Reize, die im Gewebe eine Änderung der Stromflußrichtung in der entgegenge­ setzten Schwingungsphase des Stromflusses bedingen.

Die Höhe, der zeitliche Verlauf und die lokale Verteilung des induzierten Reiz­ stromes wird durch biologische Parameter beeinflußt, wobei die lokalen anato­ mischen Verhältnisse eine große Rolle spielen. So werden die Stromlinien z.B. in biologischen Kanälen (z.B. Foramina intervertebral ia u.a.) fokussiert, so daß dort auf kleinem Raum eine höhere Stromdichte als in der Umgebung erreicht wird. An dieser Stelle wird das Nervengewebe (Spinalnerven) bevorzugt gereizt.

Biologische Grundlagen Die physikalischen Eigenschaften der elektromagnetischen Induktion bedingen, daß Magnetfelder durch Schädelstrukturen (Haare, Haut, Knochen) nicht we­ sentlich abgeschwächt werden. Die Schmerzlosigkeit der Methode ist bedingt durch die hohen spezifischen Widerstände der Haut- und Schädelstrukturen. Es enstehen dort nur äußerst geringe Induktionsströme, die nicht ausreichen, um Schmerzrezeptoren elektrisch zu erregen. Am leichtesten lassen sich die kortika­ len motorischen Repräsentationsareale der Handmuskeln reizen. Die Reiz­ schwellen der Motorkortexareale der proximalen Arm- und Beinmuskulatur hin­ gegen liegen deutlich höher, weswegen zur transkraniellen magnetoelektrischen Reizung dafür höhere Reizstärken verwendet werden müssen. Liegt die Stimulatorspule auf der Schädelkonvexität, werden Ströme induziert, deren Stromlinien parallel zur Reizspule in einer konzentrischen Bewegung durch beide Hirnhälften fließen, wobei die Flußrichtung des Stromes in der Reizspule darüber entscheidet, welche Hirnhälfte vorzugsweise stimuliert wird. Ein Reizstrom, der im Uhrzeigersinn in der Stimulatorspule fließt, erregt in erster Linie linksseitige Kortexstrukturen. Zur Reizung der kontralateralen Hirnhälfte genügt es, die flache Stimulatorspule einfach umzudrehen Während der Reiz­ applikation ist zu beachten, daß die flache Stimulatorspule der Schädeloberflä­ che direkt aufliegt, um eine möglichst hohe Eindringtiefe des Magnetfeldes in das Hirngewebe zu gewährleisten. Mit zunehmendem Abstand von der Reiz­ spule nimmt die Stärke des Magnetfeldes rasch ab.

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Joachim Eckert ♦ Katrin Schwarzenau ♦ Bernhard Weber ♦ Konrad Maurer

Sicherheit für Patient und Untersucher Bei einer Reizfolge in 3-Sekundenabständen wirkt auf das Gewebe bei höchster Stimulationsintensität des Magnetstimulators eine Energie von ca. 53 Mikrojoule/ see. Dies ist 105 mal weniger Energie, als der Wert des basalen Hirnstoffwech­ sel, der bei 13 J/sec liegt. Mit dieser Energie kann eine maximale Gewebser­ wärmung von 2 x 10'6 Grad Celsius verursacht werden. Die beim diagnosti­ schen Routineeinsatz der transkraniellen Magnetstimulation verwendeten Reiz­ parameter haben keinen Einfluß auf die Gedächtnisleistung.

Im Tierversuch wurden Hörschäden durch wiederholte Reizung in der Nähe des Ohres verursacht. Grund waren nicht die magnetoelektrischen Impulse, sondern lediglich die Lautheit der Reizspulenentladung. Obwohl beim Menschen Hör­ schädigungen bislang nicht nachgewiesen werden konnten, ist das Tragen von Ohrstöpseln bei Patient und Untersucher anzuraten. Die Entladung der Stimula­ tionsspule führt zu einer deutlich spürbaren abrupten Kontraktion der Gesichts­ muskeln und der paravertebralen Muskulatur. Als Folge können die Untersu­ chung überdauernde Kopfschmerzen und Wirbeldislokationen bei vorbestehen­ den instabilen Wirbelsäulenfrakturen entstehen. Da die transkranielle Magnet­ stimulation potentiell epiletische Herde aktivieren kann und die Auslösung ei­ nes cerebralen Krampfanfalles bei bekanntem Anfallsleiden nicht auszuschlie­ ßen ist, ist eine erhöhte Krampfbereitschaft eine relative Kontraindikation, zur Untersuchung des motorischen Systems. Ausgenommen ist selbstredend eine Magnetstimulation zur Aktivierung epileptischer Foci aus diagnostischen Grün­ den z.B. prächirurgische Epilepsiediagnostik. Wegen denkbarer Effekte auf das kardiale Reizverarbeitungssystem ist die Magnetstimulation bei frischem Myo­ kardinfarkt oder bei höhergradigen kardialen Arrhythmien ebenfalls nicht einzu­ setzen. Genausowenig darf sie bei Trägern von Herzschrittmachern eingesetzt werden. Wegen der möglichen Kraftwirkung auf Metallimplantate darf die Ma­ gnetreizung nicht bei Trägern von intrakraniellen Metallclips oder metallischen Ohrimplantaten eingesetzt werden. Hörgeräte sind vor der Reizapplikation ab­ zulegen. Auf metallische Zahnfüllungen hat die transkranielle Magnetstimulatio­ nen keine Auswirkungen.

Während die voranstehenden Ausführungen für den Einsatz der TMS in der neurologischen Diagnostik im Sinne von seltenen Einzelreizen gelten, sind Überlegungen bezüglich etwaiger negativer Effekte der repetitiven Magnetstimu­ lation (rTMS), wie sie zur antidepressiven Therapie Verwendung findet, noch nicht endgültig abgeschlossen. Die rTMS kann sowohl bei Gesunden als auch beim Kranken die kortikale Erregungsschwelle soweit herabsetzen, daß epilepti­ sche Anfälle ausgelöst werden können. Dies geschieht wohl am ehesten dann, wenn mit hohen Reizfrequenzen und hohen Reizstärken gearbeitet wird oder 132

Repetitive transkranielle Macnetstimulation

zur

Therapie

depressiver

Erkrankungen

wenn die Reizserien in kurzem zeitlichen Abstand hintereinander appliziert werden. Bleibende neuropsychiatrische oder gar neuropathologische Verände­ rungen nach rTMS-Applikation wurden bisher nicht gesehen. Fast immer treten bei der motorisch überschwelligen rTMS gesundheitlich unbedenkliche Schmerzen im Gesicht- und Nackenbereich auf, die durch eine Mitaktivierung der Nacken- und Kopfmuskulatur und der Schmerzrezeptoren in der Kopfhaut entstehen und die in manchen Fällen die reine Stimulationsphase auch um eini­ ge Stunden überdauern können. Die Spule heizt sich während wiederholter rTMS-Reizung rasch auf. Die in Deutschland zugelassenen Geräte werden jedoch vor Erreichen einer gefährli­ chen Spulentemperatur automatisch abgeschaltet. Gefährlich kann die rTMSReizung über metallenen EEG-Elektroden werden, da verschiedene Metallegie­ rungen die elektrischen Feldlinien so stark fokussieren, daß unter EEG-Elektrode dermatologisch kritische Temperaturen erreicht werden können. Um Gerätestörungen zu vermeiden, soll der Magnetstimulator nicht in der Nähe von z. B. Quarzuhren oder Taschenrechnern entladen werden. Elektronische Speichermedien (z.B. Computerdisketten), die sich in der Nähe einer entladen­ den Reizspule befinden, können beschädigt werden. Sowohl Anwender als auch Untersuchte sollten deshalb vor den Untersuchungen entsprechende Ge­ genstände, z.B. auch elektronische Scheckkarten, ablegen. Um Unfälle zu ver­ meiden, darf die Reizspule niemals in der Nähe von leitenden Metallen betätigt werden.

Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) ist ein in den letzten 4-5 Jahren neu entwickeltes Magnetstimulationsverfahren, das sich dadurch aus­ zeichnet, daß zur Kortexreizung Reizfrequenzen bis zu 60 Hz verwendet wer­ den, wodurch sich völlig neue Anwendungsgebiete der transkraniellen Magnet­ stimulation erschliessen. So läßt diese neuartige Reizmodalität des Gehirns die berechtigte Hoffnung zu, daß mit ihrer Hilfe ein wesentlicher Beitrag zur Auf­ klärung des Verhältnisses zwischen biologischer Hirnfunktion und beobachtba­ rem Verhalten geleistet werden kann. Nicht geringzuschätzende Anwendungs­ gebiete hat sie in der Erforschung der neurobiologischen Grundlagen der Epi­ lepsie, der Migräne sowie bei der Untersuchung und Therapie von Bewegungs­ störungen sowie von Gemüts- und Gedächtniserkrankungen gefunden.

Grundsätzlich unterscheidet sich die rTMS methodisch und bioelektrisch nicht von der vorangehend vorgestellten konventionellen magnetoelektrischen Hirn­ reizung, bei der aufgrund des technischen Hintergrundes der Reizgeräte (lange 133

Joachim Eckert ♦ Katrin Schwarzenau ♦ Bernhard Weber ♦ Konrad Maurer

Wiederaufladezeit) Stimuli nur alle zwei bis vier Sekunden geliefert werden können. Durch eine neuartige mikroprozessorgesteuerte Zusammenschaltung mehrerer Kapazitatoren in einem Reizgerät, die alternierend auf- und entladen werden, werden hohe Reizfolgen bis zu 60 Hz möglich. Diese hohen Reizfre­ quenzen der rTMS haben entscheidende Auswirkungen auf die Hirnfunktion. Im Gegensatz zur konventionellen Einzelreizung ist die rTMS beispielsweise in der Lage, die Hirntätigkeit temporär lokal zu unterbrechen oder die lokale Hirn­ tätigkeit zu potenzieren. So war eine der ersten dramatischen Beobachtungen von lokal applizierten rTMS-Reizfolgen, daß hochfrequente rTMS-Reizung über der Sprachregion eine vollständige Unterbrechung der Sprachproduktion wäh­ rend der Reizphase verursachte. Somit wurde zum ersten Mal nicht-invasiv eine direkte Lokalisation der sprachdominanten Hemisphere möglich.

Bei der repetitiven magnetoelektrischen Reizung des Motorkortex beeinflussen sich die Reize gegenseitig, wenn die Reizfolge genügend schnell gewählt wird. So produzieren Reizfrequenzen über dem motorischen Kortex zwischen 1 und 5 Hz konstant gleichförmige MEP (magnetoelektrisch evozierte Potentiale) in den Zielmuskeln, bei einer Frequenz von 10 Hz verstärken sich die Reize ge­ genseitig (Amplitudenzunahme). Ab etwa 20 Hz trifft jeder zweite Impuls auf refraktäres Kortexgewebe, die MEP-Amplitude nimmt wieder ab. Hohe Reizfol­ gen (ab 20 Hz) ermöglichen somit lokal durch die „Gleichrichtung" der Erregungs- und Refraktärphasen außerordentliche Synchronisierung der kortikalen Aktivität, die in einem so großen Ausmaß bisher weder therapeutisch noch dia­ gnostisch erreicht werden konnte. Im Gegensatz zur transkraniellen magneto­ elektrischen Einzelreizung, wo die meisten biofunktionellen Auswirkungen durch die Reizstärke entstehen, ist bei der rTMS die Stimulationsrate deshalb der entscheidene biofunktionell wirksame Parameter, der in manchen Experi­ menten die Zeitdauer der rTMS-Reizung sogar noch überdauern kann. So konn­ ten im Tierversuch durch wiederholte höherfrequente rTMS-Applikationen über identischen Hirnregionen Veränderungen beobachtet werden, die neurophysio­ logisch als Äquivalent zur experimentell bekannten „Long-term-Potentiation" zu interpretieren waren. Niederfrequente rTMS-Reizung (1-2 Hz) führte im Tierver­ such dagegen eher zu einer Suppression kortikaler Antworten auf einen zuvor gegebenen Testimpuls.

Bisher existieren für die rTMS drei wesentliche klinische Anwendungsgebiete:

1.

134

Mittels der rTMS-Reizung über der linken frontotemporalen Regionen des wachen Patienten, der vorgegebenen Sprachaufgaben ausführt, kann in 85-100% die Sprachregion seitenrichtig lokalsiert werden. Die Grundlage der hemisphärenselektiven Lokalisation des Sprachzentrums ist die stimulationsbedingte Inhibition sprachaktiver Kortexareale.

Repetitive transkranielle Macnetstimulation

zur

Therapie

depressiver

Erkrankungen

2.

In ersten Ansätzen ist die rTMS in der Lage, bei unmedizierten Parkin­ son-Patienten die motorische Leistung passager zu verbessern, wobei der Effekt aber bisher nur kurz nach der Reizphase anhält.

3.

Sehr ermutigende Ergebnisse existieren für die therapeutische rTMSReizung depressiver Patienten, wo die tägliche rTMS-Applikation über frontozentralen Hirnregionen zu einer dramatischen Verringerung de­ pressiver Symptome führte. Hervorzuheben ist in diesem Zusammen­ hang, daß die rTMS auch Patienten heilen konnte, die gegenüber ande­ ren Therapieverfahren, auch der Elektrokrampftherapie, refraktär waren.

Die bisherigen Voruntersuchungen zur antidepressiven Wirksamkeit der rTMS zeigen sowohl in offenen als auch in placebokontrollierten Studien, daß von der cerebralen rTMS ein antidepressiver Effekt ausgeht. Trotz einer inzwischen gro­ ßen Anzahl von Untersuchungen herrscht jedoch bisher keine Einigkeit über die optimalen Reizparameter, weder bezüglich der Häufigkeit der Reizapplikatio­ nen, noch über besten Reizort, noch über Häufigkeit der rTMS-Stizungen. Überlegungen über die zugrundeliegenden biochemischen, bioelektrischen oder neurophysiologischen Effekte der rTMS in der Depressionstherapie bleiben bisher reine Spekulation. Möglicherweise kommt es durch die rTMS spulenfern zu Rezeptor- oder Membranveränderungen, die mit den Wirkungen der EKT vergleichbar sind. Denkbar wäre auch, daß die rTMS am optimalen Applikati­ onsort zu neurochemischen und neurophysiologischen Veränderungen führt, die die krankhaften cerebralen Dysbalancen der neurochemischen und neuro­ elektrischen Aktivität während der depressiven Episode durchbrechen. Interes­ santerweise sind im Tierversuch die elektrochemischen Effekte der Elektro­ krampftherapie und der rTMS (Verminderung der kortikalen Krampftätigkeit nach der Reizapplikation) und die endokrinen Wirkungen beider Verfahren (Er­ höhung des Serumspiegels des TSH) identisch. In einer eigenen Therapiestudie zur Depressionstherapie mittels der rTMS, die von der lokalen Ethikkomission geprüft wurde, verwenden wir gegenwärtig eine biphasische 10 Hz Stimulation mit Reizzugdauern von 3,5 Sekunden, die wir bei einem Interstimulusintervall von 30 Sekunden pro Sitzung 20 mal mit einer großen Rundspule über dem linken frontalen Kortex applizieren. Als Reizstärke verwenden wir die in Ruhe bestimmte motorische Schwelle der M. abductor pollicis brevis (siehe Lehrbücher „Evozierte Potentiale"). Der Stimulationsort der rTMS liegt 6 cm frontal der optimalen Spulenposition zur Reizung des M. abuctor pollicis brevis. Die Patienten erhalten an maximal 20 Tagen (jeweils von Montag bis Freitag) ein Stimulationssetting unter Beibehaltung der vor der ersten Reizsitzung für wenigstens für 2 Wochen konstant gehaltenen antidepressiven Medikation (Amitryptilin, Mianserin, Venlafaxin).

135

Joachim Eckert ♦ Katrin Schwarzenau ♦ Bernhard Weber ♦ Konrad Maurer

Nach den bisherigen Resultaten profitierten zwischen 70 und 80% aller Patien­ ten, die an einer therapierefraktären „major depression" litten, von dem neuen Therapieverfahren. Der BDI (Index Beck-Depressions-Inventar) sank statistisch signifikant von einem Mittelwert von 34 vor Therapiebeginn auf 13 nach Stimu­ lationsende. Der Score der Hamiltion-Depressionsskala reduzierte sich von mitt­ leren 23,2 vor Therapieanfang auf mittlere 8,8 nach Therapieende (p jeweils < 0,001). Interessanterweise zeigte sich bisher bei jedem Patienten, auch bei den globalen Non-Respondern auf die rTMS, ein kurzfristiger stimmungsaufhellen­ der Effekt der rTMS, wenn die Werte des Items „Niedergeschlagenheit" in den „Profile-of-mood-states", die direkt vor der täglichen Reizserie mit denen direkt nach Reizapplikation verglichen werden. Direkt nach der Reizung lagen die Scores dieses Subitems 5 bis 25 % niedriger als vor der jeweiligen Stimulations­ sitzung. Bei allen bisher mit dieser neuen Methode behandelten Patienten wur­ de vor der Applikation der ersten Reizserie und jeweils zu Wochenbeginn wäh­ rend der Reizsitzung das Oberflächen-EEG registriert. Die visuelle und die quan­ titative Auswertung des EEG erbrachte keine Hinweise dahingehend, daß durch die rTMS mit unseren Parametern eine kurz- oder längerfristige Variation der EEG-Aktivität oder die Ausbildung kortikaler Krampfaktivität gefördert werden. Zusammenfassend zeigt unsere Studie, daß die tägliche rTMS mit der großen Rundspule über dem linksfrontalen Kortex sowohl kurz- als auch langfristige an­ tidepressive Therapieeffekte hat und daß die Anwendung der Methode mit den obigen Parametern bisher als weitgehend nebenwirkungsfrei und als risikolos eingestuft werden kann. Damit stellt dieses neue interventionelle Verfahren eine sinnvolle Erweiterung der Therapiepalette pharmakoresistenter depressiver Er­ krankungen dar. Zur Evaluierung der optimalen Reizparameter, des besten kor­ tikalen Reizortes, der nebenwirkungsärmsten Kombination mit anderen antide­ pressiven Therapieverfahren und des Erhaltes des Therapieeffektes bedarf es je­ doch weiterer placebokontrollierter Studien, die zur Zeit in unserer Klinik be­ ginnen.

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Michael Grube ♦ Peter Hartwich

Läßt sich der Schlafentzugseffekt durch Augmentation mit Lithium verbessern? „Die Schlafentziehung... ein Mittel, welches grausam scheint aber doch wohlthätig wirkt: die Kranken werden von Zeit zu Zeit, wenn sie sich dem Schlafe überlassen wollen, geweckt." J. C. Heinroth, 1818

Einleitung Seit der therapeutische Schlafentzug (SE) in die Behandlung endogen Depressi­ ver eingeführt wurde, konnte bei vielen Patienten ein eindrucksvoller positiver Effekt am ersten Tag nach SE beobachtet werden (Pflug, Tölle 1969,1971, Kas­ per 1990, 1993). Andererseits wurde auch bald deutlich, daß die Wirkung des SE nicht selten be­ grenzt ist: Viele der primär respondierenden Patienten schwingen am zweiten oder dritten Tag nach SE in die Depression zurück (Gillin 1983, Papousek 1978, Wu, Bunney 1990). Manchmal kann diese Oszillation die krankheitsimmanent ohnehin schon bestehenden Risiken verstärken. Bei wenigen Patienten stellt sich der antidepressive Effekt erst am zweiten Tag nach SE ein, sog. „day two responders" (Kuhs, Tölle 1986, Berger, Riemann 1988). Aus diesen Gründen hat man mit unterschiedlichen Strategien versucht, den positiven SE-Effekt über den ersten Tag danach aufrechtzuerhalten oder sogar zu verlängern.

Versuche, den SE-Effekt zu verlängern: • Kombination mit unterschiedlichen Antidepressiva (Wirz-Justice et al. 1976, Amin 1978, Loosen et al. 1976, Elsenga, Hoofdakker 1983), wobei zusätzlich versucht wurde, zu einer prädiktiven Aussage in Bezug auf den SE-Effekt zu kommen (Wirz-Justice et al. 1979, Phillip, Werner 1979).



Kombination eines kompletten SE mit einem partiellen SE in der Folge­ nacht (Bemmel, Hoofdakker 1981).



Kombination mit biologisch wirksamen Licht (Wehr et al. 1985, Neumei­ ster et al. 1996).



Kombination eines kompletten SE mit Schlafphasenvorverlagerung (Rie­ mann et al. 1995, Merz et al. 1996, König et al. 1996, Albert et al. 1998).

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Michael Grube ♦ Peter Hartwich

Bei chronifizierten depressiven Verläufen wurden nahezu alle genannten Ansät­ ze alleine oder in Kombination eingesetzt (Haie et al. 1978, Schöpf 1989, Schmauss, Meller 1989, Kasper 1990). Aufgrund von Beobachtungen einiger unserer Patienten sowie einer mündlichen Mitteilung von Pflug 1989 und einer Darstellung von Baxter 1985 ausgehend, sind wir in einer systematischen Untersuchung der Hypothese nachgegangen, ob innerhalb der depressiven Phase die zusätzliche Einstellung auf Lithiumcar­ bonat einen positiven Effekt des SE verlängern kann.

Eigener Ansatz Die unmittelbare positive Reaktion auf SE und das Zurückschwingen am ersten Tag nach SE kann als „,Mini manisch depressive Episode" angesehen werden. Demzufolge ist es konsequent, Lithiumsalze in der Prävention eines solchen Vorgangs zu nutzen, da sie einen gesicherten phasenprophylaktischen Effekt bei „Maxi manisch depressiven Phasen" haben (Schou 1983,1997, Müller-Oer­ linghausen, Greil 1986)

Hypothese Eine Lithium-Augmentation verlängert den positiven Schlafentzugs-Effekt bei endogen Depressiven. Untersuchte Gruppe und Methodik: Wir untersuchten 26 stationär aufgenommene endogen Depressive, die alle ei­ ne kontinuierliche thymoleptische Medikation erhielten (tri- oder tetracyclische Präparate; Dosis: 150-200 mg/die).

Patientencharakteristika

N: 26; Geschlecht: 18 Frauen, 8 Männer; Alter: AM 53,7 J., R: 30-77 J. Diagno­ sen nach ICD 10: F 31.4, 31.5, 32.2, 32.3, 33.2, 33.3

Wir erhoben die Depressions-Scores mittels der Hamilton Depression Rating Scale (HAMD, Hamilton 1960) und der Brief Depression Rating Scale (BDRS, Kellner 1986) am Tag vor, am ersten, zweiten und dritten Tag nach SE. Ausge­ wertet wurde jeweils der erste komplette SE nach Aufnahme in die Klinik um 10.00 Uhr morgens. 13 Patienten wurden vorher auf Lithiumcarbonat eingestellt (Dosis: 200-800 mg/die, Blutspiegel bei Durchführung des SE: 0,4-0,8 mval/l), die anderen 13 Patienten erhielten kein Lithium. 138

LÄßT sich der Schlafentzugseffekt durch Augmentation mit Lithium verbessern?

Die Summenscores der Depressionsskalen wurden mit einer zweifaktoriellen Varianzanalyse (split-plot design mit Meßwiederholungen auf Faktor B) zufalls­ kritisch verrechnet. Faktor A hatte zwei treatments: AI ohne und A2 mit Lithi­ um; Faktor B hatte vier treatments: BI vor, B2 erster, B3 zweiter und B4 dritter Tag nach Index-SE.

Ergebnisse 1. HAMD (siehe Tabelle 1)

Es ergibt sich für den Faktor A (ohne Lithium vs. mit Lithium) ein signifikanter FWert. Der F-Wert für den Faktor B (unterschiedliche Zeitpunkte der Depressi­ onssummenscores) wird signifikant. Da die A x B Interaktion ebenfalls signifi­ kant ist, beziehen sich die Signifikanzen von Faktor A und B nur auf Teilberei­ che. Diese werden in den Berechnungen der einfachen Haupteffekte dargestellt. Sie sind signifikant für A auf B2 und A auf B3. In Verbindung mit den Mittelwer­ ten (siehe Abb. 1) heißt dies, daß die HAM-D Summenscores in der Lithium augmentierten Gruppe am zweiten und dritten Tag nach SE signifikant unter denen der Gruppe ohne Lithium lagen. Die initiale Reaktion auf SE war in bei­ den Gruppen gleich gut.

Abbildung 1: Schlafentzugseffekt mit vs. ohne Lithium (HAMD)

139

Michael Grube ♦ Peter Hartwich

2. BDRS (siehe Tabelle 2)

In der Berechnung auf der Grundlage der BDRS ergibt sich ein ähnlicher Inter­ aktionseffekt mit signifikant niedrigen Depressionssummenscores-Mittelwerten am zweiten und dritten Tag nach SE in der Lithium augmentierten Gruppe (sie­ he Abb. 2). Allerdings war hier schon am Tag vor SE ein signifikant niedrigerer BDRS Summenscore im Gruppenmittelwert zu erheben.

Abbildung 2: Schlafentzugseffekt mit vs. ohne Lithium (BDRS)

140

LAstsich der Schlafentzugseffekt durch Augmentation mit Lithium verbessern?

Tabelle 1: HAMD, Varianzen, Einfache Haupteffekte, Mittelwerte

Varianzen HAMD SS

DF

MS

F

P

325.5

1

325.5

5.3

0.03

1464.5

24

61.0

Source A

Subj. w.

Croups B

793.4

3

264.5

48.0