Alterszäsuren: Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte 9783110254792, 9783110254785

How people relate to time is one of the oldest questions of mankind. This book centers on ‘life phases’ to show how the

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German Pages 460 [464] Year 2011

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Table of contents :
Einleitung
Der Wandel des menschlichen Lebenszyklus – religiöse und theologische Implikationen
Das hohe Alter als Herausforderung der theologischen Anthropologie
Altersstufen als Narrative und Metaphern in mittelalterlichen Wissens- und Erziehungsdiskursen
A Time to Read. Reflections on Narrative Openness in Later Life
Erwachsenwerden – Entwicklung oder Vollendung? Perspektiven der Hebräischen Bibel
»Jung bin ich gewesen und alt geworden«. Lebenszeit und Alter in den Psalmen
Das Gedicht über Freude, Alter und Tod am Ende des Koheletbuches (Prediger Salomonis)
»Wer, der über 50 Jahre alt ist, will sprechen?« (Aischin. 1,23). Überlegungen zu einer Zäsur und ihrem Verschwinden im Lebenslauf attischer Bürger
Dehnung der Akmé, Eukrasie und Zeitlosigkeit: Entwürfe des guten Alterns im griechisch-römischen Zeitaltermythos
Die Entgrenzung des Alter(n)s: Zur Kaiserpanegyrik in der Dichtung des Statius und Martial
Erneuerung im Alter: Augustins aetates-Lehre
Zeit, Alter und Gewissheit im Hildebrandlied
Schere, Stein, Papier. Alterszäsuren, Autorschaft und Werk in der mittelalterlichen Liebeslyrik
für singen hüst ich durch die kel. Das Memento mori in den Liedern Oswalds von Wolkenstein
»Alles ohne Hexerei«. Verjüngungsmedizin in Kunst und Literatur seit der Frühen Neuzeit
Urszenen, Schwellenlektüren und ›Wünschperioden‹ – zu Kindheitszäsuren in Erzähltexten um 1800
Schwellenjahre – Zeitreflexion im Altersnarrativ. Arthur Schnitzlers Erzählung Frau Beate und ihr Sohn
Zu den Autorinnen und Autoren
Autoren- und Werkregister
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Alterszäsuren: Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte
 9783110254792, 9783110254785

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Alterszäsuren

Alterszäsuren Zeit und Lebensalter in Literatur, Teologie und Geschichte

Herausgegeben von Torsten Fitzon, Sandra Linden, Kathrin Liess und Dorothee Elm

De Gruyter

ISBN 978-3-11-025478-5 e-ISBN 978-978-3-11-025479-2 Bibliografsche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografe; detaillierte bibliografsche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Einbandabbildung: Illustration nach einem Holzschnitts des Monogrammisten MB nach Zeichnung von Tobias Stimmer: „XXX Jar ain Man / XL Jar haushalten kan und XXX Jar im Hauß die Frau / XL Jar ein Matron genau“. Satz: Sandra Linden Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

INHALT THORSTEN FITZON / SANDRA LINDEN / KATHRIN LIESS / DOROTHEE ELM /

Einleitung

VII

FRIEDRICH SCHWEITZER

Der Wandel des menschlichen Lebenszyklus – religiöse und theologische Implikationen

1

GÜNTER THOMAS

Das hohe Alter als Herausforderung der theologischen Anthropologie

17

U D O FRIEDRICH

Altersstufen als Narrative und Metaphern in mittelalterlichen Wissens- und Erziehungsdiskursen

49

WILLIAM RANDALL

A Time to Read. Reflections on Narrative Openness in Later Life

81

ANDREAS KUNZ-LÜBCKE

Erwachsenwerden – Entwicklung oder Vollendung? Perspektiven der Hebräischen Bibel

103

KATHRIN LIESS

»Jung bin ich gewesen und alt geworden«. Lebenszeit und Alter in den Psalmen

131

THOMAS HIEKE

Das Gedicht über Freude, Alter und Tod am Ende des Koheletbuches (Prediger Salomonis)

171

JAN TIMMER

»Wer, der über 50 Jahre alt ist, will sprechen?« (Aischin. 1,23). Überlegungen zu einer Zäsur und ihrem Verschwinden im Lebenslauf attischer Bürger 193 ANJA WOLKENHAUER

Dehnung der Akmé, Eukrasie und Zeitlosigkeit: Entwürfe des guten Alterns im griechisch-römischen Zeitaltermythos

221

DOROTHEE ELM

Die Entgrenzung des Alter(n)s: Zur Kaiserpanegyrik in der Dichtung des Statius und Martial

237

THERESE FUHRER

Erneuerung im Alter: Augustins aetates-Lehre

261

UTA STÖRMER-CAYSA

Zeit, Alter und Gewissheit im Hildebrandlied

289

MANFRED KERN

Schere, Stein, Papier. Alterszäsuren, Autorschaft und Werk in der mittelalterlichen Liebeslyrik 299 SANDRA LINDEN

für singen hüst ich durch die kel. Das Memento mori in den Liedern Oswalds von Wolkenstein

323

ALEXANDER KOŠENINA

»Alles ohne Hexerei«. Verjüngungsmedizin in Kunst und Literatur seit der Frühen Neuzeit

355

JUTTA HEINZ

Urszenen, Schwellenlektüren und ›Wünschperioden‹ – zu Kindheitszäsuren in Erzähltexten um 1800

377

THORSTEN FITZON

Schwellenjahre – Zeitreflexion im Altersnarrativ. Arthur Schnitzlers Erzählung Frau Beate und ihr Sohn

405

Zu den Autorinnen und Autoren

433

Autoren- und Werkregister

439

THORSTEN FITZON / SANDRA LINDEN / KATHRIN LIESS / DOROTHEE ELM

Einleitung Das menschliche Leben kennt nur wenige Zäsuren, die an ein konkretes Alter gebunden sind. Und selbst vergleichsweise eindeutige Einschnitte wie die Einschulung zwischen dem 6. und 7. Lebensjahr oder – am andern Ende des Lebens – der Eintritt in den Ruhestand, verlieren bei genauerer Betrachtung an Geltung, sobald man sie nicht mehr als vermeintlich ›natürliche‹ Grenzen, sondern vielmehr als konventionelle Daten gesellschaftlicher Statuspassagen betrachtet. Sie erscheinen unter diesem Blickwinkel variabel und, wenn auch nicht beliebig, auf der Zeitachse des Lebens verschiebbar. Gibt es somit gar keine Alterszäsuren, also an ein bestimmtes Lebensjahr regelmäßig gebundene und vom Individuum nicht beeinflussbare Einschnitte im Lebensverlauf? Den Beiträgen des vorliegenden Bandes liegt die Annahme zugrunde, dass es zwar keine fixierten und generalisierbaren Alterszäsuren geben kann, dass sie aber als regulative Ideen kultur- und zeitübergreifend das menschliche Leben sinnhaft gliedern. Sie sind Ausdruck der Verzeitlichung des individuellen Lebens und bieten insbesondere im Vergleich ihrer historischen Varianten Einblicke in die kulturelle Deutung der ansonsten kontingent erscheinenden Lebenszeit. Alterszäsuren sind nach diesem Verständnis kulturell habitualisierte Regeleinschnitte in der sozialen Biographie des Menschen, das kann das Einschulungsalter, die Volljährigkeit, die Mitte des Lebens oder eben das Ausscheiden aus dem Berufsleben sein. Sie bilden so Knotenpunkte der Lebensgeschichte, von denen aus die Einzelereignisse in eine sinnvolle narrative Abfolge gebracht werden, sei es die der Entwicklung oder des Verfalls, des gottgefälligen oder historisch determinierten Lebens, der gemeisterten oder durchlittenen Krisen. Ein berühmtes Beispiel für die Bestimmung des Lebensalters aus der Erzählung von Alterszäsuren findet sich in William Shakespeares Tragödie Romeo und Julia, als Julias Amme auf die Frage nach dem Alter des Kindes umständlich antwortet: Nu, drüber oder drunter. Just den Tag, Johannistag zu Abend wird sie vierzehn. Suschen und sie – Gott gebe jedem Christen

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Thorsten Fitzon, Sandra Linden, Kathrin Liess, Dorothee Elm

Das ew’ge Leben! – waren eines Alters. Nun, Suschen ist bei Gott: Sie war zu gut für mich. Doch wie ich sagte, Johannistag zu Abend wird sie vierzehn. Das wird sie, meiner Treu; ich weiß es recht gut. Eilf Jahr ist’s her, seit wir’s Erdbeben hatten: Und ich entwöhnte sie (mein Leben lang Vergess’ ich’s nicht) just auf denselben Tag. Ich hatte Wermut auf die Brust gelegt, Und saß am Taubenschlage in der Sonne; Die gnäd’ge Herrschaft war zu Mantua. (Ja, ja! ich habe Grütz’ im Kopf!) Nun, wie ich sagte: Als es den Wermut auf der Warze schmeckte Und fand ihn bitter – närr’sches, kleines Ding –, Wie’s böse ward und zog der Brust ein G’sicht! Krach! sagt der Taubenschlag; und ich, fürwahr, Ich wußte nicht, wie ich mich tummeln sollte. Und seit der Zeit ist’s nun eilf Jahre her. Denn damals stand sie schon allein; mein’ Treu’, Sie lief und watschelt’ euch schon flink herum. Denn Tags zuvor fiel sie die Stirn entzwei, Und da hob sie mein Mann – Gott hab ihn selig! Er war ein lust’ger Mann – vom Boden auf.1

Der Monolog der Amme führt vor, dass erst die Erzählung von Zäsuren das kalendarische Alter von vierzehn Jahren sinnfällig werden lässt. Hier bildet das relativ späte Abstillen mit drei Jahren als einmaliger Lebenseinschnitt eine Alterszäsur, die mit der Erinnerung an ein wiederholtes Ereignis wie das Hinfallen des Kindes kontrastiert wird. Indem diese Zäsur schließlich auf einen übergeordneten Erfahrungshorizont bezogen wird, wie in diesem Fall das große Erdbeben, an das sich die Amme erinnert, wird Julias Leben zum Teil der Historie. Kalender, individuelle Regelzäsuren und einmaliges historisches Ereignis bilden so die Dimensionen, in denen die Lebenszeit vorgestellt wird. Dem Abzählen des Lebens, wie es mit der statistischen Durchdringung seit der Aufklärung zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, stellen die Alterszäsuren narrative Sinnstiftungen gegenüber. Seither kennt das Leben jedes Menschen einen mehr oder weniger eindeutigen Anfang, das Datum der Geburt, von dem aus es zunächst nach Tagen, dann Monaten und schließlich Jahren gezählt wird. Diese vermeintlich objektive an einer unbestechlichen Zeitachse ausgerichtete Vermessung wird jedoch überlagert von Einteilun1

William Shakespeare, Dramatische Werke. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel, Bd. 1, Berlin 1797, S. 96.

Einleitung

IX

gen, die das menschliche Leben nach Entwicklungsstufen gliedern und so der Arithmetik eine Hermeneutik des Lebens zur Seite stellen. Die meist über das Alter nach Jahren regulierten Zäsuren markieren Einschnitte und Übergange zwischen den Lebensaltern, die sich an übergeordneten Zeitvorstellungen orientieren, vor deren Folie sich das individuelle Leben deuten lässt. So erscheint zum Beispiel im Hebdomadenmodell, dem die Zahl 7 als Teiler zugrunde liegt, das 14. Lebensjahr als Beginn der Pubertät und somit eines neuen Lebensabschnittes, oder das 49. Lebensjahr wird als ein kritisches Alter empfunden. Erst das dahinter liegende kosmologische Zeitmodell öffnet jedoch den Deutungsrahmen, der den bestimmten Lebensaltern Temperamente oder astrologische Dispositionen zuordnet. Das auf den Jahreszeiten aufbauende Modell der Vierteilung bringt dagegen eine relationale Einteilung hervor, die eher auf die Stabilität zyklischer Wiederkehr verweist, in die das kontingente Leben des Einzelnen aufgehoben wird. Ein anderes Modell wiederum, die Unterteilung eines idealen hundertjährigen Lebens nach Jahrzehnten – bekannt durch die Lebensaltertreppen –, unterlegt dem menschlichen Lebensverlauf eine stabile Linearität von Auf- und Abstieg, die einerseits die Lebensmitte um das fünfzigste Jahr privilegiert und andererseits die kritischen Jahre in der Gleichförmigkeit der Dekaden überspielt. Das Leben macht in diesen Modellen keine Sprünge, sondern steigt kontinuierlich auf und ab, gleicht sich dem gleichmäßigen Lauf der Zeit an und wird auf diese Weise naturalisiert und harmonisiert. Im historischen Vergleich wird deutlich, dass Alterszäsuren, die an übergeordneten Zeitmodellen orientiert sind, jenes Missverhältnis zwischen Lebenszeit und Weltzeit spiegeln, das, wie Hans Blumenberg gezeigt hat,2 spätestens seit der Renaissance kontinuierlich zugenommen hat. Der engen Frist des Lebens steht eine Welt gegenüber, deren Dauer sowohl in eine astronomisch errechnete Vergangenheit als auch in eine philosophisch projizierte Zukunft expandiert. Das Unbehagen an dieser ausgreifenden Zeitdimension schlägt sich auch in Lebensaltermodellen nieder, die einen Ausgleich zwischen der Zeit des Einzelnen und übergeordneten Zeitvorstellungen anstreben, die Dissonanz dadurch aber immer auch latent halten. Wenn beispielsweise durch die Einteilung des menschlichen Lebens nach der Siebenzahl die Ontogenese mit der vermeintlichen Konstanz der Planeten korrespondiert, so erscheint die marginale Ausdehnung des Lebens dadurch einerseits in der überdauernden kosmologischen Ordnung aufgehoben, andererseits wird die Kontingenz des individuellen Lebensverlaufs dadurch auch erst augenfällig. Wie in narrativen, symbolischen oder ikonographischen Lebensalterdarstellungen übergeordnete Zeitvorstellungen vom ägyptischen Altertum bis in die Gegenwart verarbeitet werden, untersuchen die Beiträge des vorliegen2

Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 1986, hier S. 173–178.

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Thorsten Fitzon, Sandra Linden, Kathrin Liess, Dorothee Elm

den Bandes anhand von Alterszäsuren, die als organisierende Einschnitte das Kontinuum individueller Lebenszeit gliedern, messbar machen und ausdeuten. Die an ein bestimmtes Alter geknüpften Zäsuren bündeln jeweils ein vielfältiges kulturelles und soziales Wissen über die geltenden Vorstellungen von menschlicher Lebenszeit. Die Beiträge aus literaturwissenschaftlicher, theologischer und historischer Perspektive fragen, wie die Übergänge von Lebensphasen dazu Anlass gaben, über die individuelle Lebenszeit und die gesellschaftlich-kulturell geprägten Erwartungsnormen für die jeweiligen Altersstufen zu reflektieren. In Einzelstudien wird dargestellt, wie ›Alterszäsuren‹ einerseits zum Interpretament der ästhetischen und narrativen Inszenierung des Lebens werden und wie sich andererseits in ihnen übergeordnete Vorstellungen von einem heilsgeschichtlich determinierten Zeitplan bis zur irreversibel linearen und kontingenten Zeit in der Moderne spiegeln. So wird die ästhetische Signatur, religiöse Bedeutung und historische Funktion von Alterszäsuren erschlossen und interdisziplinär im kulturellen Zusammenhang dargestellt. Zu Beginn knüpfen vier grundlegende Beiträge an diese Überlegungen an und erhellen das systematische Potential von Alterszäsuren. So stellt mit seinen Überlegungen zum postmodernen Lebenszyklus und seiner theologischen Bewertung FRIEDRICH SCHWEITZER heraus, dass der Wandel des menschlichen Lebenszyklus als Thema die gesamte Theologie betrifft. Erik Eriksons sozialpsychologisches Lebensalterschema, das das lineare Modell der Lebensalter durch die Zuordnung psychologischer Felder in eine Zweidimensionalität aufspannt, die durch Bereiche des Gelingens und Scheiterns definiert sind, wird mit postmodernen Modellen des menschlichen Lebensverlaufs kontrastiert und als Ausdruck einer menschlichen Sinnsuche interpretiert. Der Beitrag von GÜNTER THOMAS, der nach der Rolle der theologischen Wissenschaft, insbesondere der theologischen Anthropologie, für die Deutung und sinnstiftende Bewältigung des hohen Alters fragt, widmet sich der Systematik der Lebensalter auf einer synchronen Ebene und beobachtet, wie die theologische Argumentation dabei auf allgemeine gesellschaftliche Symbolsysteme zurückgreift. Für das hohe Alter zeigt sich eine mangelnde sprachliche und konzeptionelle Unterscheidung zwischen einer positiv konnotierten Altersphase, die von reicher Lebenserfahrung und Weisheit geprägt ist, und einer negativen, in der Alter als Verfall und Hinwendung zum Tod erscheint. Abschließend wird dabei mit Positionen der Versöhnung und des Danks eine Perspektive auf das hohe Alter als Phase der Vollendung des Lebens eröffnet. Eine historische Perspektive auf die Funktion der Lebensalter als Wissensordnung bieten die Überlegungen von UDO FRIEDRICH: Anhand mittel-

Einleitung

XI

alterlicher Quellen wird analysiert, wie die Alterszäsuren metaphorisch aufgeladene Narrative bilden, wobei die Teleologie des linear verlaufenden Stufenmodells, das einen narrativ zugänglichen Handlungsablauf unterstellt, oftmals durch die Kombination mit einem Kreisschema relativiert wird. Am Beispiel des Fürstenspiegels des Aegidius Romanus wird schließlich gezeigt, wie einzelnen Altersstufen spezifische Aufgaben und Fähigkeiten zugeordnet werden und sich ein Register bildet, zu dem sich das einzelne Leben in Orientierung und Abweichung verhält. An einer metaphorologischen Fragestellung setzt auch der aus dem Bereich der narrativen Gerontologie stammende Beitrag A Time to Read. Reflections on Narrative Openness in Later Life von WILLIAM RANDALL an, der die Metapher von der Lebensgeschichte in ihrer wörtlichen Bedeutung hinterfragt und die menschliche Wahrnehmung des eigenen Lebens als internal editing und storywriting präsentiert. Das hohe Alter bietet demnach die Möglichkeit, mehr Zeit mit der Reflexion auf die im Laufe des Lebens angesammelten Lebenstexte zu verwenden, so dass die Lebensführung nach und nach von einem Handlungs- in einen Lesemodus übergeht. Die narrative Produktivität wird so zu einer Möglichkeit, die eigene Lebensgeschichte auch mit einer altersbedingten zunehmenden Handlungsarmut offen und flexibel zu halten. Nach diesen systematischen Beiträgen untersuchen die chronologisch gereihten Studien historische und kulturelle Varianten von Alterszäsuren von altäygptischen Quellen bis zur Erzählerliteratur der Wiener Moderne. Im Beitrag von ANDREAS KUNZ-LÜBCKE geht es um die Frage, inwieweit vormoderne Gesellschaften die Kindheit als eigenständige Entwicklungsphase definieren. An Gebrauchstexten wie der Lehre des Ani werden Erziehungskonzepte untersucht, die die unterschiedlichen Begabungen des einzelnen Kindes einkalkulieren, in der Perspektive der hebräischen Bibel dienen Josef, David und Samuel als Beispiele für die Vorstellung einer grundsätzlichen Präfiguration, die sich aus dem späteren Amt des Kindes ergibt. Die Kindheitsdarstellungen folgen dabei ganz unterschiedlichen Mustern des Erwachsenwerdens, wenn etwa David im Kampf seine jugendlich-kindlichen Attribute schlagartig ablegt, während Samuel als Priesterzögling eine ausgedehnte Kindheitsphase durchläuft. Eine alttestamentliche Darstellung der Phase des hohen Alters als Diskurs über den Zusammenhang von Vergänglichkeit, Lebenszeit und Alter untersucht KATHRIN LIESS in ihrem Beitrag zu den Psalmen 71 sowie 90–92. Die Psalmengruppe 90–92 spannt den Bogen von der Altersklage bis zur Verheißung von Lebenskraft bis ins hohe Alter, wobei das semantische Potential der Pflanzenmetaphorik für die Altersdarstellung analysiert wird. Als Erfahrung des Alters werden neben dem körperlichen Verfall soziale Isolation und Gottverlassenheit herausgestellt, wobei Psalm 71 das Gotteslob als

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Thorsten Fitzon, Sandra Linden, Kathrin Liess, Dorothee Elm

Zeichen einer die Lebensalter übersteigenden Vitalität ausweist und mit Verweis auf die Einbindung in eine generationenübergreifende Gemeinschaft ein positives Gegenbild zeichnet. Unter Berücksichtigung der Polysemie des hebräischen Altersbegriffs analysiert der Beitrag von THOMAS HIEKE den Zusammenhang von Freude, Alter und Tod im Koheletbuch (Prediger Salomonis) und liest dieses als Beitrag zur Suche nach dem menschlichen Glück. Die Tatsache der Unausweichlichkeit individuellen Alterns und Vergehens, die vor allem im Abschlussgebet (11,9–12,7) zum Ausdruck kommt, wird für den jungen Menschen zur Mahnung, wird aber zugleich mit der Aufforderung zur Freude am Leben und zum Lob des Schöpfers verknüpft. Welche Relevanz Alterszäsuren als Instrumenten der In- und Exklusion im politischen Diskurs zukommt, zeigt JAN TIMMER für das klassische Athen. Nicht nur das Wahlrecht setzte in der attischen Demokratie ein Mindestalter voraus, sondern zeitweise war auch das Recht zum Ergreifen des Wortes in politischen Entscheidungsgremien an Altersgrenzen geknüpft. Ein von Aischines Solon zugeschriebenes Erstrederecht in der Volksversammlung war denjenigen vorbehalten, die die Alterszäsur von 50 Jahren überschritten hatten. Jan Timmer geht den strukturellen Bedingungen für den Ursprung dieser Regel nach und macht deutlich, inwieweit Alterskonzepte im System der Politik durch solche aus dem Umfeld des Politischen präfiguriert sind. Männer über 50 Jahre nahmen als kyrioi und Repräsentanten der Familien in den Dorfgemeinschaften eine prominente Position ein. Im Zuge der Ausdifferenzierung des Politischen verliert die familiale Struktur an Bedeutung, eine Sonderstellung entspricht nicht dem demokratischen Mehrheitsprinzip. Das Erstrederecht wurde im Laufe des 5. Jahrhunderts wieder aufgehoben. Einer anderen Form des Diskurses über Alterszäsuren und Gesellschaftsordnung wendet sich ANJA WOLKENHAUER zu, indem sie der literarischen Artikulation des jeweils gesellschaftlich Wünschbaren, der Utopie, und ihrer Darstellung der Lebensalter Aufmerksamkeit schenkt. Der Beitrag nimmt Utopien als eigenständige Träger eines Diskurses über das Verhältnis von Welt- zur Lebenszeit wahr und untersucht exemplarisch verschiedene Formen des griechisch-römischen Zeitaltermythos, der Epochen unterschiedlicher Zeitlichkeit entwirft. Die zeitliche Struktur des goldenen Zeitalters ist bei Hesiod durch das Fehlen kultureller Ordnungssysteme, Entschleunigung und individuelle Dauer gekennzeichnet und stellt eine Dehnung der Lebensmitte als Konzept des idealen Alters vor. Ovids Metamorphosen zeigen ein Bild von Zeitlosigkeit und indifferenter Dauer, ein menschliches Leben ohne genealogisches Gefüge und ohne jegliche Zäsuren. Aus einer anderen Perspektive betrachtet DOROTHEE ELM die Zeitenthobenheit und das Ideal einer gedehnten Lebensmitte, nämlich an-

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hand des Herrscherlobs in den Silvae des Statius und den Epigrammen Martials. Der als ewig jugendlich charakterisierte Kaiser, für den die Zäsur zwischen iuventus und senectus aufgehoben zu sein scheint, lässt in der Sprache der Panegyrik seine Regentschaft zu einem weiteren goldenen Zeitalter werden. Im Liber Spectaculorum Martials setzt der epigrammatische Kaiser mit Hinrichtungen, die als Inszenierungen mythologischer Erzählungen aufgeführt werden, die letzte, individuelles Leben beendende Zäsur, den Tod. In der Arena wird zugleich seine Verfügungsmacht über vergangene mythische und historische Zeiten repräsentiert, die Gegenwart wird, wie der Beitrag zeigt, von Vergangenheiten abgegrenzt. Der reale Tod des Kaisers bewirkt wiederum eine Zäsur im Werk Martials, die zu Zurück- und Vorausschau auch im Lebenslauf der Dichterpersona einlädt. THERESE FUHRER zeigt in ihrem Beitrag das hermeneutische Potential des antiken Lebensaltervergleiches, der die Geschichte der Welt, der Menschheit oder eines Volkes mit dem menschlichen Lebenslauf und seinen Zäsuren gleichsetzt. Insbesondere die letzte Phase des menschlichen Lebens, die senectus mit ihren Implikationen von Verfall und nahendem Tod, bietet als Metapher für die antike Geschichts- und Weltdeutung Spielraum. Texte kaiserzeitlicher und spätantiker Autoren, in denen das Lebensalterschema auf die Entwicklung des populus Romanus oder der res publica Romana übertragen wird, schaffen einen Kontext für die Aetateslehre Augustins, die im Zentrum der Betrachtungen steht. In ihr werden sechs Weltalterstufen den sechs Tagen der Schöpfung gegenübergestellt, am sechsten Tag wird der Mensch erschaffen, Jesus in die senectus der Welt hineingeboren. Für die Christen bedeutet das hohe Alter nicht Abstieg, sondern bietet die Möglichkeit der Erneuerung. In den Bereich der althochdeutschen Literatur führt der Beitrag von UTA STÖRMER-CAYSA, die sich am Beispiel des Hildebrandliedes mit dem Zusammenhang zwischen Zeitstrukturen und Wissenserwerb beschäftigt. Vor dem Hintergrund, dass der einzig sichere Informationszeitraum die eigene Lebenszeit ist, wird untersucht, wie diese Begrenzung im literarischen Medium transgrediert werden kann, wobei zwischen mündlich tradierten, zweifelhaften Informationsquellen und sicheren differenziert wird. Der heroische Anspruch auf Wahrheit wird innerhalb des Textes durch das Spiel mit verschiedenen Zeit- und Wissensschichten problematisiert. Eine mittelalterliche Perspektive auf die Vergänglichkeit menschlichen Lebens nimmt MANFRED KERN für den Minnesang Walthers von der Vogelweide und die Lyrik Petrarcas ein. In der auf die Beschreibung eines Zustands konzentrierten Liebeslyrik entstehen aus der Reflexion über Alterssignaturen und conversio-Momente biographische Konzepte, die in der Zusammenschau jedoch keine Kontinuität ergeben, sondern punktuell bleiben. Das destruktive Potential des alternden Körpers geht mit einer Verzeitlichung des

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Thorsten Fitzon, Sandra Linden, Kathrin Liess, Dorothee Elm

subjektiven Erlebens einher, doch die Perspektive eines Autorœuvres fügt sich dennoch weniger einer linearen Zeitordnung, als vielmehr der poetischen Konstruktion eines Lebenswegs. Der Beitrag von SANDRA LINDEN analysiert das Memento mori in den Liedern Oswalds von Wolkenstein, in denen ein Ich sein Leben bilanziert und auf die verbleibende Zeit bis zum Tod blickt. In enger Verquickung von authentisch-biographischem und inszeniertem Sprechen forcieren die Zäsur des Rückblicks auf das eigene Leben und die Beschreibung der von Altersgebrechen geprägten Körperlichkeit die Sündenerkenntnis. Das Alter macht selbst vor der Singstimme nicht halt, d.h., auch die Dichtung wird in den Alterungsprozess einbezogen. Dabei zeigt die Analyse, dass die Einsicht in die eigene Schuld nicht notwendig eine reuige Umkehr zu einem geistlichen Leben zur Folge hat, sondern Oswald vielmehr eine ironische Signatur in das christliche Memento-mori-Schema einzieht. Das Motiv der Verjüngungsmedizin seit der Frühen Neuzeit stellt ALEXANDER KOŠENINA an einer breiten Quellenreihe von Hans Sachs über Johann Wolfgang von Goethe bis zu Paul Heyse dar und unterscheidet dabei zwischen der Verschönerungskunst einer comptoria ars und der Gesundheitsmedizin einer cosmetica medicamenta, zwischen Entwürfen von Jungbrunnen und Altersmühlen auf der einen und Empfehlungen für eine diätetische Lebensführung auf der anderen Seite. Einen Sonderfall bildet die – stark erotisch konnotierte – Lehre der Gerokomik, d.h. einer Verjüngung durch nahen Kontakt zur blühenden, meist weiblichen Jugend. Diese wird als Motiv von einer satirischen Abhandlung J. H . Cohausens (1753) über Philip Roths Roman The Dying Animal (2001) bis zum Film The Countess (2009) verfolgt. Wie die von Rousseaus Emile beeinflusste deutsche Literatur von 1780 bis 1820 die Kindheitsphase vom Erwachsenenleben abgrenzt, analysiert JUTTA HEINZ und stellt dabei Konzepte von Kindheit als Zeit der Unschuld und eines Naturzustands heraus. Am Beispiel von Schummels Wilhelm von Blumental, Jung-Stillings Autobiographie, Anton Reiser von Karl Philipp Moritz sowie Jean Pauls Unsichtbare Loge werden Darstellungen von Grenzen und Übergängen zwischen verschiedenen Lebensphasen herausgearbeitet, während romantische Entwürfe die Kindheit eher als zeitlosen Zustand und Ideal der Menschheit auffassen. Neben den Kindheitserlebnissen erweisen sich auch Lektüreerlebnisse in der Kindheit als prägende Erfahrungen. Durch die Darstellung dieses kindlichen Lektürekanons erreichen die Texte eine metapoetische Figurenzeichnung und lassen letztlich darauf schließen, wie sehr die Phantasie der vermeintlichen Naturkinder literarisch angeregt ist. Der Narrativierung der Alternserfahrung in der Krise der Lebensmitte gelten die Überlegungen von THORSTEN FITZON zu Arthur Schnitzlers Frau Beate und ihr Sohn. Die Erzählung steht im Kontext einer Reihe von Texten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Literatur tiefenpsychologische wie

Einleitung

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psychosomatischen Erklärungsmodelle der 1930er Jahre vorwegnehmen An Frau Beate und ihr Sohn wird exemplarisch nachgezeichnet, wie die Alternsnarrative der klassischen Moderne die Lebensmitte als subjektiv erfahrene Krise konfligierender Sexualrollen gestalten, die durch eine veränderte Zeitperspektive und den Zwang, sich zwischen Jugend und Alter entscheiden zu müssen, ausgelöst wird. Die in Schnitzlers Erzählung weiblich fokalisierte Erfahrung des Alterns zeigt in radikalisierter Form, was auch für den Mann gilt, dass sich in der Mitte des Lebens Dissonanzen zwischen sozialem Erwartungscode und Selbstwahrnehmung, zwischen objektiv linearem Zeitverlauf und subjektiv erinnerter Zeit anreichern. Der vorliegende Band geht auf eine Tagung Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter zurück, die im Zusammenhang des Forschungsprojektes zur »Religiösen und poetischen Konstruktion der Lebensalter« vom 23. bis 25. September 2009 in Heidelberg stattfand. Der vorliegende Band knüpft an den Kongressband Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie (Berlin/ New York 2009) an. Während der erste Band im systematischen und historischen Zugriff die Topik als Heuristik einer vergleichenden und kulturwissenschaftlichen Alternsforschung auslotet, um insbesondere den produktiven Bedeutungswandel innerhalb konstanter Ausdrucksweisen in den Blick nehmen zu können, steht im vorliegenden Band im Vordergrund, wie am Beispiel von Lebensstufen und -zäsuren, die Redeweisen von den Lebensaltern mit übergeordneten Modellen und Zeitvorstellungen korrespondieren. Die Tagung wurde im Rahmen des Akademiekollegs für den wissenschaftlichen Nachwuchs (WINKolleg) von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften großzügig gefördert. Wir danken der Akademie darüber hinaus für die tatkräftige Unterstützung, insbesondere durch die Geschäftstelle und im besonderen Herrn Prof. Dr. Bernhard Zimmermann, dem Mentor unseres Projekts, für seinen orientierenden Rat. Außerdem gilt unser Dank Frau Sara Reiter für die organisatorische Unterstützung der Tagung und Herrn Thomas Moser für die redaktionelle Betreuung und Einrichtung des Bandes. Freiburg und Tübingen im Juni 2011

FRIEDRICH SCHWEITZER

Der Wandel des menschlichen Lebenszyklus – religiöse und theologische Implikationen This chapter is about changes in the construction of the human life cycle and about their religious and theological implications. It starts out with classical theological views, with Comenius cited as an example, and it proceeds with a presentation of two examples from twentieth century theology (Romano Guardini and Magdalene von Tiling). In another step, Erik H. Erikson’s well-known psychological model is discussed from a theological perspective, with special emphasis on its implications for the psychology of religion. Moreover, the model is considered as a typical modern approach and is thus contrasted with a postmodern understanding of the human life cycle. The chapter concludes with some suggestions regarding how the cycle can be understood as a fictitious construction that, as an expression of the human search for meaning, should be evaluated theologically. Even the most current understandings of the life cycle are full of religious implications, and human beings trying to adapt themselves to such understandings typically will suffer from the ideals they entail.

Lange Zeit schien die Frage nach dem menschlichen Lebenszyklus in der Theologie auf die kirchliche oder religionspädagogische Praxis und damit auf die Disziplin der Praktischen Theologie beschränkt zu sein. Vor allem in der Erziehungs- und Bildungspraxis sowie in der Seelsorge wurde davon gehandelt. Demgegenüber soll im Folgenden deutlich werden, dass die Frage nach dem menschlichen Lebenszyklus tatsächlich die gesamte Theologie betrifft. Zugleich geht es um eine weit über die Theologie hinausreichende Grundfrage im Blick auf das menschliche Leben, seine Deutung in Geschichte und Gegenwart sowie seine Gestaltung im individuellen ebenso wie im gesellschaftlichen Zusammenhang. Deshalb kann die Frage nach dem menschlichen Lebenszyklus angemessen auch nur in interdisziplinärer Weise aufgenommen werden, etwa in der Kooperation zwischen Theologie und Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften sowie, innerhalb der Theologie selbst, von historischen, systematischen und praktischen Disziplinen. Ich selber schreibe als Religionspädagoge und Praktischer Theologe, möchte zugleich aber auch versuchen, die weiteren Implikationen im Blick zu haben. Denn es gilt auch, dass sich die praxisbezogenen Zusammen-

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Friedrich Schweitzer

hänge nur angemessen aufnehmen lassen, wenn diese Implikationen konsequent berücksichtigt werden. Mein spezielles Interesse richtet sich auf den W a n d e l des menschlichen Lebenszyklus, wie er uns insbesondere in der sog. Postmoderne vor Augen tritt. Mein Bezugspunkt ist dabei meine Untersuchung Postmoderner Lebenszyklus und Religion.1 Die Publikation dieser Untersuchung habe ich, auf dem Titelblatt, mit einem Bild des japanischen Künstlers Yoshitomo Nara verbunden. Dessen Bilder werden häufig als Ausdruck eines postmodernen Lebensgefühls gedeutet. Ich verstehe sie als ein Fragezeichen, das an die offene Frage erinnern kann, in welcher Weise der postmoderne Lebenszyklus zu beschreiben wäre – nämlich in der Spannung zwischen einer zyklischen, also abgerundeten und in sich abgeschlossenen Gestalt des Lebens einerseits und andererseits jener fragmentarischen Offenheit, die für die Lebenserfahrungen unserer Gegenwart wohl zunehmend bezeichnend ist. Diese Frage nach dem postmodernen Lebenszyklus und nach gegenwärtigen Lebenserfahrungen soll meinen gesamten Beitrag begleiten. Auf die »Postmoderne« beziehe ich mich dabei nicht in einem materialen oder terminologischen Sinne, d. h., ich will keine weitere Diskussion zu deren umstrittenem und wohl bleibend ungeklärtem Verständnis bieten, sondern lediglich zum Ausdruck bringen, dass jedenfalls die klassisch-modernen Vorstellungen vom menschlichen Leben heute in der Situation eines grundlegenden Umbruchs stehen. Mein Interesse am postmodernen Lebenszyklus ließe sich auch mit der Rede vom Lebenszyklus in den Umbrüchen der Gegenwart umschreiben.

1. Der menschliche Lebenszyklus als Horizont der Theologie Die Frage nach dem menschlichen Lebenszyklus begleitet die Theologie in ihrer gesamten Geschichte. Gleichsam nebenbei wird immer wieder darauf Bezug genommen, etwa wenn Paulus in 1Kor 13,11 davon spricht, wie er als Kind geredet und gedacht habe. Besonders wirkungskräftig war freilich das erste Laterankonzil von 1215, durch das eine Grenze zwischen früherer und späterer Kindheit erstmals kirchenrechtliche Bedeutung erlangte – mit der Einführung der anni discretionis – dem sog. »Unterschei-

1

Friedrich Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus und Religion. Eine Herausforderung für Kirche und Theologie, Gütersloh 2003.

Der Wandel des menschlichen Lebenszyklus

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dungsalter« als Altersgrenze, ab dem die Teilnahme an der Eucharistie möglich und vorgeschrieben war.2 Den ersten groß angelegten und bis heute in einer enormen Wirkungsgeschichte ausstrahlenden theologisch-pädagogischen Entwurf zum menschlichen Lebenszyklus finden wir allerdings erst im 17. Jahrhundert bei dem Theologen und Pädagogen Johann Amos Comenius. Die Pampaedia, das pädagogische Hauptwerk des Comenius, besteht in ihrem Hauptteil aus einer Darstellung von acht »Schulen«, die sich ganz an die Lebensalter anschließen: Die Schule 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

des vorgeburtlichen Werdens (geniturae) der frühen Kindheit (infantiae) des Knabenalters (pueritiae) der Reifezeit (adolescentiae) des Jungmannesalters (juventutis) des Mannesalters (virilitatis) des Greisenalters (senii) des Todes (mortis).3

Diese Darstellung ist anthropologisch, psychologisch und pädagogisch noch immer interessant – etwa im Blick auf die erst in neuester Zeit wieder entdeckten Fragen vorgeburtlicher bzw. pränataler Erfahrungen und ihrer bleibenden Bedeutung oder hinsichtlich der Vorbereitung auf Sterben und Tod, die natürlich an die mittelalterlichen Vorstellungen einer ars moriendi, der Kunst oder eben Hohen Schule des Sterbens, erinnert. Ihren eigentlichen Kern entbirgt die Darstellung des Comenius freilich erst in dem Kapitel zur »Schule des Todes«. Diese versteht Comenius als »Schule des Greisenalters« und deutet sie als letzten Schritt auf dem Weg in die Ewigkeit.4 Den entscheidenden Grund für die Aufführung dieser Schule sieht Comenius darin, dass seine grundlegende Lehre von der Allweisheit – der Pansophie – ebenfalls von acht Welten ausgeht, die sich dann auch im menschlichen Leben wiederfinden müssen. Die Reihe der acht Welten wird von der »möglichen Welt« angeführt, und sie endet mit der »ewigen Welt«. Auf den menschlichen Lebenszyklus wird dies durch die »vorgeburtliche Schule« und durch die »Schule des Todes« abgebildet – in einem insofern metaphysisch gedachten System möglichst vollständiger und 2

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Vgl. H e n n i n g Schröer, »Kinderkommunion«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 4, 4 (2001), Sp. 981f. Johann A m o s Comenius, Pampaedia. Lateinischer Text und deutsche Übersetzung, nach der Handschrift hrsg. v. Dmitrij Tschizewski, in Gemeinschaft mit Heinrich Geissler / Klaus Schaller, Heidelberg ²1965 (Pädagogische Forschungen 5), S. 12f Ebd., S. 446ff

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vollkommener Entsprechungsverhältnisse, wie sie für das Denken des Comenius bezeichnend sind.5 Wir haben es hier also keineswegs mit einem psychologischen oder gar im modernen Sinne empirischen Verständnis des Lebenszyklus zu tun, sondern mit einer pansophischen oder eben theologischen Vision. Dies schließt die Aufnahme und Berücksichtigung erfahrungsbezogener Erkenntnisse natürlich keineswegs aus – dies zeigen die materialen Beschreibungen der einzelnen Phasen oder Stufen des Lebenszyklus bei Comenius sehr deutlich, aber das leitende Interesse und damit auch das eigentliche Ziel dieser Darstellung ist eindeutig normativ, nicht empirisch. Wir erfahren, wie das Leben sein soll, während die – schlechte – Wirklichkeit des Lebens diesen Autor zwar motiviert, aber nicht zum Gegenstand der Beschreibung wird. Dabei handelt es sich freilich nicht einfach, wie man vielleicht annehmen könnte, um ein vorneuzeitliches Denkmodell. Einem als deutlich normativ zu bezeichnenden Verständnis folgen die theologischen Darstellungen zum Lebenszyklus bzw. zu den menschlichen Lebensaltern vielmehr auch noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Wenigstens zwei besonders einflussreiche Darstellungen sollen hier aufgenommen werden, um dies wenigstens zu illustrieren: In den 1950er Jahren veröffentlichte Romano Guardini ein kleines Buch über die Lebensalter und ihre ethische und pädagogische Bedeutung.6 Der Titel lässt bereits erkennen, worum es Guardini geht. Die Lebensalter sollen als ethische Frage und Herausforderung oder Aufgabe aufgenommen werden, denn für ihn sind »Lebensgestalten« immer auch »Wertfiguren«. »In ihnen tauchen bestimmte Werte auf, die unter bestimmten Dominanten stehen und so charakteristische Gruppen bilden. Sie bezeichnen die sittlichen Möglichkeiten und Aufgaben der betreffenden Lebensphase.«7 Den Lebensaltern entsprechend zu leben heißt hier also, Werte zu verwirklichen und werthaften Ansprüchen gerecht zu werden. Leiten lässt sich Guardini dabei von der Philosophie des Personalismus, wie er etwa in folgenden Formulierungen zur »Krise der Reifung«, also der Adoleszenz, besonders deutlich hervortritt: Die eigentliche Krise der Selbstdurchsetzung beginnt mit dem Erwachen der Person; dem Bewusstsein, jemand sein zu wollen, im Unterschied zu den Anderen. [...] Das Ziel dieser Entwicklung ist, sich als Selbst von den Anderen zu unterscheiden; als Person in Freiheit und Verantwortung dazustehen; eigenes Urteil

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Vgl. ebd., S. 446. Romano Guardini, Die Lebensalter. Ihre ethische und pädagogische Bedeutung, Würzburg o.J. (Weltbild und Erziehung 6). Ebd., S. 9f.

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über die Welt und eigenen Stand in ihr zu gewinnen; Selbst zu werden, um auch den Weg zum Anderen gehen, als »Ich« »Du« sagen zu können.8

Auch bei Guardini folgt die Darstellung der Lebensalter also einem philosophisch-theologischen Prinzip – der Selbstwerdung einer »Person in Freiheit«, die zu sich selbst »erwachen« soll. Bestimmend ist auch in diesem Falle nicht die Empirie, sondern eine theologische Beschreibung und Deutung des Lebens, an der sich die persönliche Ausgestaltung des eigenen Lebens, die ethisch reflektierte und verantwortete Lebensführung also, ausrichten können soll. Geboten werden bei Guardini insofern personalistisch-ethische Leitlinien, deren Überzeugungskraft und Attraktivität wohl auch den Erfolg einer solchen Publikation erklären. Dies ist nicht anders bei Magdalene von Tiling, die ebenfalls in den 1950er Jahren eine Pädagogik der Altersstufen (so der Untertitel) vorlegt.9 Bei dieser lutherischen Theologin steht ganz ausdrücklich nicht die Empirie im Vordergrund, sondern die »menschliche Existenz« oder, wie sie gerne sagt, die »Wirklichkeit des Menschen«.10 Diese »Wirklichkeit« ist etwas anderes als die Empirie. Gemeint ist ähnlich wie bei Guardini die Frage, »wie der Mensch in jeder Altersstufe als Person sein menschliches Bezogensein auf sich selbst und die Welt, auf den andern Menschen, auf die ihm Geborgenheit gebenden und sein Gewissen bestimmenden Mächte in Entscheidung und Verantwortung lebt.«11 So gesehen, muss streng zwischen den philosophisch-theologisch gefassten »Altersstufen« einerseits und den empirisch zu beschreibenden »Entwicklungsstufen« andererseits unterschieden werden. In dieser Sicht ist die »Wirklichkeit« des Menschen nicht mit wissenschaftlich-exakten Methoden der empirischen Forschung zu entbergen, sondern allein mit Hilfe von Philosophie und Theologie. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass mit der Formulierung: »Der menschliche Lebenszyklus als Horizont der Theologie« beides gemeint sein muss, die Bezugnahme der Theologie auf den Lebenszyklus als eine ihrer gleichsam natürlichen Voraussetzungen, aber auch die interpretierende und wertende Thematisierung dieser Voraussetzung durch die Theologie, die dadurch zu deren ausdrücklichem Gegenstand wird. Insofern kann hier von einer im Einzelnen freilich nicht entfalteten »Theologie des Lebenszyklus« gesprochen werden, in der die theologische Interpretation des Lebenszyklus systematisch entwickelt werden müsste.12 8

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Ebd., S. 17f. Magdalene von Tiling, Wir und unsere Kinder. Eine Pädagogik der Alterstufen für Eltern und Erzieher in Heim und Schule, Stuttgart ²1956. Die erste Auflage erschien 1955. Ebd., S. 13. Ebd., S. 39. Vgl. dazu meine Darstellung: Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus, S. 161ff.

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Ab den 1960er und vor allem den 1970er Jahren ändert sich das Bild vom Lebenszyklus in der Theologie. Mit der sog. »empirischen Wendung« (Klaus Wegenast) in der Praktischen Theologie und Religionspädagogik treten andere Bezugstheorien in den Vordergrund. Der wichtigste Autor ist dabei bis heute der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik H. Erikson.

2. Erik H. Erikson als Klassiker der (Praktischen) Theologie Wie ungleichzeitig die Welten in den 1950er Jahren sich noch bewegten oder zumindest bewegen konnten, zeigt ein 1950 in erster Auflage erschienenes Buch von Erik H. Erikson, das inzwischen längst zu einem Klassiker der amerikanischen Sozialpsychologie geworden ist. Dieses Buch mit dem Titel Childhood and Society13 – Kindheit und Gesellschaft in der deutschen Übersetzung – wird in den USA zu fast der gleichen Zeit veröffentlicht, in der die soeben angesprochenen Darstellungen von Magdalene von Tiling und Romano Guardini publiziert wurden. Trotz dieser zeitlichen Nähe sind die Unterschiede erheblich. Sie machen noch einmal deutlich, wie wenig sich die deutsche Geisteswelt in jener Zeit auf sozialwissenschaftlich-empirische Zugangsweisen einzustellen bereit war, und dies nicht nur in der Theologie. Es sind denn auch die wissenschaftlichen Grundlagen des Buches von Erikson, die es so anders erscheinen lassen als die Entwürfe Guardinis und von Tilings. Diese orientieren sich im Grunde noch an den antiken Sieben-Jahres-Schemata. Bei Erikson ist es hingegen die klinische Psychologie, sodann aber die in einem weiten Sinne empirische Feldforschung mit sog. Naturvölkern, in diesem Falle zwei amerikanischen Indianerstämmen, vor allem der Sioux. Diese Feldforschung soll als Grundlage für eine erfahrungswissenschaftlich begründete Sicht der menschlichen Lebensalter dienen. Eriksons Darstellung steht damit exemplarisch für die heutige empirische Lebenslaufforschung, zu deren Pionieren er zählt. Eriksons Buch enthält mehrere Kernbegriffe, die inzwischen längst auch zu Grundbegriffen der Theologie geworden sind – bis hin zur Exegese. Zu nennen sind in dieser Hinsicht vor allem das »Urvertrauen« – so jedenfalls in ersten Übersetzungen von Arbeiten Eriksons für »basic trust«, das eher mit »Grundvertrauen« wiedergegeben werden kann, sodann der Identitätsbegriff sowie der des menschlichen Lebenszyklus. Der 1959 in erster Auflage erschienene Band Identität und Lebenszyklus, später als Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft in einer damals höchst renom13

Erstauflage 1950, erweiterte zweite Auflage New York 1963.

Der Wandel des menschlichen Lebenszyklus

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mierten Reihe als Band 16 publiziert, bringt dann beide Begriffe »Identität« und »Lebenszyklus« unmittelbar zusammen.14 Vielfach gilt Erikson als einer der Väter der heutigen Identitätsdiskussion. In Deutschland haben Eriksons Bücher ihre Wirkung freilich erst ab den 1970er Jahren entwickelt. Ihre bahnbrechende Leistung kann im vorliegenden Zusammenhang etwa darin gesehen werden, dass nun in der Psychologie erstmals entschieden der g e s am t e Lebenszyklus in den Blick genommen wird, nicht mehr nur, wie noch etwa bei Sigmund Freud, die Kindheit, sondern eben auch – und bei Erikson ganz besonders – das Jugendalter sowie das Erwachsenenalter. Damit gehört Erikson auch zu den Vorläufern der heute sog. »Psychologie der Lebensspanne«, die inzwischen zu einem eigenen Forschungszweig geworden ist. In dem Buch Kindheit und Gesellschaft findet sich das berühmte Kapitel 7 »Eight Ages of Man«. Es mündet in ein zusammenfassendes Schema zum menschlichen Lebenszyklus. An diesem Schema hat Erikson, mit wenigen Modifikationen, bis in sein Spätwerk hinein festgehalten. Im Zentrum steht dabei der Begriff »Krise«, den Erikson allerdings nicht in einem populären alltagssprachlichen Sinne versteht, sondern als Entscheidungszeit. Krisen entstehen demnach dadurch, dass die menschliche Entwicklung sich immer in Polaritäten bewegt – zwischen zwei Polen, die in den jeweiligen Lebensphasen eine bestimmte Bedeutung annehmen. Acht solche Polaritäten bestimmen sein Bild vom menschlichen Lebenszyklus, wobei das Wort »gegen« (versus) eine spannungsvolle Dynamik anzeigen soll: Grundvertrauen gegen Grundmisstrauen Autonomie gegen Scham und Zweifel Initiative gegen Schuldgefühl Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl Identität gegen Identitätskonfusion Intimität gegen Isolierung Generativität gegen Stagnation Integrität gegen Verzweiflung und Ekel. Für jede Lebensphase ist die Spannung zwischen einem positiven und einem negativen Pol bezeichnend. Soll die weitere Entwicklung nicht durch bleibende Belastungen beeinträchtigt werden, muss jeweils ein dynamisches Übergewicht des positiven über den negativen Pol gewonnen werden. Dass der negative Pol überhaupt verschwindet, ist bei Erikson jedoch nicht vorgesehen.

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Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, Frankfurt a. M. ²1974 (stw 16).

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Erikson bezeichnet sein Entwicklungsverständnis auch mit dem biologischen Begriff der »Epigenese«, was hier jedoch nicht biologistisch, sondern eher metaphorisch gemeint ist. Hingewiesen werden soll darauf, dass der menschliche Lebenszyklus eine Art innere Gesetzmäßigkeit aufweist. Insofern kann von Entwicklungen jeweils »zur rechten Zeit« gesprochen werden, jedenfalls sofern die Entwicklung in einer gesunden Weise verläuft. Seine Wirkung auf die Theologie hat Erikson vor allem auch deshalb ausgeübt, weil er die psychoanalytische Religionspsychologie in entscheidender Hinsicht weitergeführt hat. Bekanntlich begrenzt Sigmund Freud die Entstehung von Religion auf die sog. ödipale Zeit in der mittleren Kindheit, wobei er Religion insbesondere als ein krankhaftes, nämlich neurotisches Phänomen versteht.15 Demgegenüber wählt Erikson von Anfang an eine viel weiterreichende Perspektive. Jede Entwicklungskrise hat in seiner Sicht auch eine religiöse Bedeutung, wobei diese Bedeutung reziprok zu verstehen ist: Die menschliche Entwicklung beeinflusst die Religion, aber die Religion beeinflusst auch die menschliche Entwicklung. Insbesondere vier Krisen stehen im Zentrum von Eriksons Religionsverständnis: –





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die erste Lebenskrise: Bei dieser Krise geht es um die Ausbildung eines Grundvertrauens, das Erikson als vorsprachliche Wurzel jeder Form von Religion ansieht. Er spricht auch vom Motiv der Hoffnung, das hier grundgelegt wird. die Herausbildung des menschlichen Gewissens: Diese Krise entspricht am stärksten der Freudschen Auffassung von religiöser Entwicklung. Im Zentrum steht hier das Thema der Schuld und des Umgangs mit Schuld. In einer eigenen Monographie hat Erikson dies am Beispiel Martin Luthers exemplifiziert.16 Religion und Identität: Diese Krise und damit das Jugendalter sind für Eriksons Religionspsychologie von zentraler Bedeutung. Die religiöse Entwicklung hat demnach ihren Höhepunkt nicht mehr in der Kindheit, sondern eben in der Adoleszenz – mit der Frage nach dem eigenen Selbst und dessen sinnhafter Verortung in der Welt. Erikson vertritt dabei die Auffassung, dass Religion eine zentrale Ressource der Identitätsbildung darstelle, wobei er auch von »Weltanschauung« spricht. Dieser Begriff ist bei ihm jedoch nicht negativ geprägt, sondern soll darauf hinweisen, dass die individuelle Identitätsfindung eine Überblick bei Friedrich Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh 62007. Erik H. Erikson, Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt a. M. 1975.

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weltanschauliche, religiöse oder andere Grundlegung voraussetzt. Heute würde man vielleicht eher von einem Prozess der Sinnfindung sprechen. die Krise des hohen Alters: Diese Krise ist gleichsam komplementär zum Jugendalter. An die Stelle des Blicks voraus auf das in Zukunft zu lebende Leben tritt nun der Blick zurück auf das gelebte Leben in der Vergangenheit, die Rückschau auf die eigene Biographie. Mit dieser Rückschau verbunden ist die prüfende Frage nach der Integrität dieses Lebens und also danach, ob dieses Leben gelungen und zumindest akzeptabel ist. Eine gewisse Tragik wohnt dieser religiösen Krise insofern inne, als dieses Leben nun nicht mehr geändert werden kann. Theologisch gesehen – und damit über Eriksons psychologische Deutung hinaus – erwächst gerade daraus ihr besonderer religiöser Charakter, der als die Angewiesenheit des Lebens auf die unbedingte Annahme durch eine höhere Instanz erfahrbar wird oder jedenfalls erfahren werden kann.

Wenigstens mit einem längeren Zitat möchte ich hier Erikson auch selbst zu Wort kommen lassen, um seinen besonderen Stil aufscheinen zu lassen. Im Anschluss an seine Luther-Studie nennt Erikson drei »Sehnsüchte« oder »Bilder«, die für ihn den »Hauptgegenstand der Religion« ausmachen: Eine dieser Sehnsüchte ist das einfache, inbrünstige Verlangen, mit wohltuenden Substanzen versorgt zu werden – eins zu sein mit einem mütterlichen Urgrund. Dieses Ziel wird durch das gütig und bejahend zugeneigte Gesicht der Barmherzigkeit symbolisiert, die dem Gläubigen die Gewissheit gibt, dass alle, die an ihre Brust zurückkehren, bedingungslos angenommen werden […] Ziel seiner zweiten Sehnsucht ist die väterliche Stimme des lenkenden Gewissens, die dem einfachen Paradies der Kindheit ein Ende setzt und tatkräftiges Handeln gutheißt und bestätigt. Aber sie weist ihn auch auf die Unabwendbarkeit schuldhafter Verstrickung hin und droht mit dem Wetterleuchten des Zorns. Den drohenden Ton dieser Stimme – wenn notwendig, durch teilweise Unterwerfung und mancherlei Selbstbeschneidung – zu wandeln, ist das zweite drängende Verlangen, das religiösem Bemühen zugrunde liegt. Die Gottheit muss um jeden Preis dazu gebracht werden, kundzutun, dass sie in ihrer Gnade Schuld und Strafe um der Erlösung willen selbst geplant habe. Schließlich zeigt der Spiegel das reine Selbst, den ungeborenen Kern der Schöpfung, in dem Gott »ein lauter Nichts« ist […] Die östliche Mystik kennzeichnet Gott vielfach auf diese Weise. Dieses reine Selbst ist das Selbst, das nicht mehr an dem Konflikt zwischen Recht und Unrecht krankt, das keiner Fürsorge und keines Wegweisers zur Vernunft und Wirklichkeit mehr bedarf.17 Es ist, angesichts solcher Formulierungen, leicht nachzuvollziehen, warum Erikson zu einem wichtigen Gesprächspartner für die Theologie gewor17

Erikson, Luther, S. 291f.

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den ist. Die Kirchengeschichte sah sich durch seine damals als schlichtweg illegitim angesehene Luther-Darstellung aus der Sicht der Psychoanalyse zutiefst herausgefordert. Später haben Systematische Theologen wie Hans Küng oder Wolfhart Pannenberg in Erikson einen wichtigen Gesprächspartner auch für die theologische Anthropologie gefunden.18 In der Praktischen Theologie haben Eriksons Arbeiten aber den wohl nachhaltigsten Eindruck hinterlassen. Bei Autoren wie Joachim Scharfenberg und HansJürgen Fraas sind sie geradezu zur maßgeblichen Grundlage praktischtheologischer Entwürfe in Seelsorge und Religionspädagogik geworden.19 Anlässlich seines 100. Geburtstages im Jahre 2002 habe ich selbst einen Aufsatz über Erikson als Klassiker der Religionspädagogik verfasst.20 Eine etwas veränderte Einschätzung hat sich für mich dann freilich aus der Frage nach dem postmodernen Lebenszyklus ergeben, auf die ich nun genauer eingehen möchte.

3. Der moderne und der postmoderne Lebenszyklus Die von Erikson gebotene Darstellung des menschlichen Lebenszyklus schließt im Blick auf den Lebenslauf grundsätzliche Stabilitätsannahmen ein, und diese Annahmen haben sich inzwischen als brüchig erwiesen. Wie bereits zu Beginn meines Beitrags festgehalten, verwende ich den Begriff der Postmoderne hier lediglich zu dem Zweck, die entsprechenden Umbrüche in unserer Gegenwart zu kennzeichnen. Allerdings wird im Folgenden deutlich werden, dass sich Eriksons Vorstellungen vom Lebenszyklus durchaus als »modern« ansprechen lassen. Kritische Anfragen an Stimmigkeit und Validität von Eriksons epigenetischem Bild des Lebenszyklus betreffen zunächst einzelne Krisen oder Phasen. Beispielhaft kann man sich dies am Erwachsenenalter deutlich machen: Ist das Erwachsenenalter wirklich so eintönig und langweilig, wie es in diesem Schema erscheint? Trifft es zu, dass die Menschen in dieser gesamten Zeit – vom späten Jugendalter bis ins Hohe Alter – nur eine einzige Krise erleben? Inzwischen ist die Forschung in dieser Hinsicht weiter fortgeschritten und hat unser Verständnis stark differenziert. Und 18

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Vgl. etwa Hans Küng, Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit, München 1978; Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. Vgl. etwa Joachim Scharfenberg, »Menschliche Reifung und christliche Symbole«, in: Concilium, 14 (1978), S. 86–92; Hans-Jürgen Fraas, Glaube und Identität. Grundlegung einer Didaktik religiöser Lernprozesse, Göttingen 1983. Friedrich Schweitzer, »Erikson als Klassiker der Religionspädagogik? Zum 100. Geburtstag von Erik H. Erikson (12.5.2002)«, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 54 (2002), S. 311– 316.

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wie wir noch sehen werden, verändert sich dabei nicht nur das Verständnis einzelner Lebensphasen, sondern auch das des gesamten Lebenszyklus. In meiner eigenen Arbeit habe ich deshalb vorgeschlagen, das von Erikson gezeichnete Bild vom Lebenszyklus als den m o d e r n en L e b e n s z y k l u s von einem p o s t m o d e r n en L e b e n s z y k l u s zu unterscheiden.21 Die Kontrastierung eines modernen und eines postmodernen Lebenszyklus kann den zeitgebundenen Charakter von Eriksons Vorstellung des Lebenszyklus bewusst machen. Das Gemeinte lässt sich auch gut mit Hilfe von Bildern etwa der Familie deutlich machen, wie sie im Sinne eines eigenen dokumentarischen Forschungszugangs der (historischen) Familienforschung etwa anhand der Bildersammlungen in Privathaushalten, traditionell vor allem in Wohnzimmern oder in speziellen Alben präsentiert, untersucht werden.22 Solche Bilder zeigen exemplarisch, dass wir es beim menschlichen Lebenszyklus immer auch mit Idealisierungen zu tun haben. Die Bilder spiegeln nicht einfach Realitäten, sondern sie folgen einer sorgfältigen Auswahl aus vielen Bildern, von denen nur wenige es in das berühmte Familienbilderalbum schaffen. Zugleich verweisen solche Bilder aber auch auf den tiefgreifenden Wandel, den der menschliche Lebenszyklus in den letzten 50 oder 100 Jahren erfahren hat. Dieser Wandel betrifft alle drei Ebenen:23 – –

21 22

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Die innere Ausgestaltung der einzelnen Lebensphasen (hier verweise ich auf eine eigene Literatur etwa zum Wandel der Kindheit oder zur Rolle der Frau). Sodann verändert sich das Bild vom Lebenszyklus selbst (es treten neue Lebensphasen auf, die zuvor nicht nur im Bewusstsein fehlten, sondern die es in gewisser Weise nicht gegeben hat; dies gilt für die Postadoleszenz, eine Lebensphase, die sich den veränderten Gestalten des Bildungswesens und der höheren Beteiligung am tertiären Bildungssektor, also akademischen und ähnlichen Ausbildungen, verdankt, und es gilt für das Dritte Alter, das auf Grund der Einführung von Pensionsfonds und Altersversorgung sowie dem Fortschritt der Medizin nun zwischen der Zeit der Erwerbstätigkeit und dem Hohen Alter als Zeit der Fragilität eingetreten ist. In beiden Fällen verändert sich das Gesamtbild der »Eight Ages«, von dem Erikson noch auszugehen können meinte).

Vgl. Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus, bes. S. 29ff. Vgl. etwa verschiedene Beiträge in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Wie geht’s der Familie? Ein Handbuch zur Situation der Familien heute, München 1988. Weiterführende Literaturhinweise bei Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus.

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Schließlich betrifft der Wandel auch die normativen Leitbilder, die für die einzelnen Lebensalter sowie für den gesamten Lebenszyklus bestimmend sind (auch hier kann ich als Beispiel, für mich als Pädagogen nahe liegend, auf die Kindheit verweisen: Was Kinder heute sollen oder dürfen, unterscheidet sich ziemlich grundsätzlich von dem, was in früheren Zeiten als möglich oder schicklich galt!).

In einem weiteren Schritt kann gefragt werden, ob auch der Wandel des menschlichen Lebenszyklus religiöse und theologische Implikationen aufweist. Meines Erachtens ist dies, ohne Zweifel, tatsächlich der Fall, und zwar wiederum in allen drei Hinsichten: –





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Erstens brauchen wir in der kirchlichen Praxis veränderte Angebote, die mit dem Wandel des Lebenszyklus Schritt halten (beispielsweise interessieren sich Menschen im Dritten Alter eben nicht für Programme, die sich an »hinfällige Menschen« richten – sie wollen ja gerade darin ernst genommen werden, dass sie sich jung fühlen, aktiv und handlungsfähig sind, möglicherweise auch nach neuen Aufgaben und Chancen der Selbstverwirklichung suchen, die fast das Gegenteil der traditionell angemuteten Hinfälligkeit sind). Zweitens spitzen sich die praktischen und theoretischen Herausforderungen besonders bei den neuen Lebensaltern zu, für die kaum auf traditionelle Vorgaben zurückgegriffen werden kann. Es ist wohl kein Zufall, dass gerade die Postadoleszenz oder die dritte Lebensdekade das Alter ist, in dem die allermeisten Menschen die Kirche verlassen;24 wie dieses häufig unkonventionell gestaltete Lebensalter mit theologischen und kirchlichen Angeboten zu verknüpfen sei, ist noch immer weithin offen; es fehlt bereits an grundlegender Forschung zu solchen Fragen. Drittens muss sich auch die theologische Reflexion des Lebenszyklus angesichts von dessen Wandel auf neue Herausforderungen einlassen. Dies soll im letzten Teil meines Beitrags eigens aufgenommen werden.

Vgl. die internationalen Beiträge in: Mordechai Bar-Lev / William Shaffir (Hrsg.), Leaving Religion and Religious Life, Greenwich, London 1997 (Religion and the Social Order 7).

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4. Der menschliche Lebenszyklus als Fiktion und Konstruktion: Theologische Implikationen Von theologischen Implikationen des Wandels des menschlichen Lebenszyklus war schon in den vorangehenden Abschnitten zu sprechen. Nun will ich diese Frage noch einmal in einer etwas anderen Perspektive aufnehmen. Zunächst ist festzuhalten, dass sich Bilder vom menschlichen Lebenszyklus genau als das erweisen – als B i l d e r und damit als k o n s t r u k t i v e D ar s t e l l u n g e n . Diese Bilder spiegeln nicht einfach eine Empirie – aus der Empirie erwächst kein Schema und schon gar kein epigenetisches Diagramm, trotz aller vermeintlicher Anhaltspunkte in der menschlichen Physiologie, man denke nur an den in früheren Zeiten so viel zitierten Zahnwechsel um das siebte Lebensjahr herum. Viel zu wenig beachtet wurde in der Vergangenheit, dass etwa für Eriksons Denken immer auch die schöne Literatur mit Pate stand. Autoren wie Shakespeare oder Shaw sind in seinem Werk ebenso gegenwärtig wie Sigmund Freud! Als Konstruktionen sind Bilder vom menschlichen Lebenszyklus immer auch n o r m a t i v . Indem sie beschreiben, was i s t , sagen sie, was sein s o l l . Dadurch geben sie einen Maßstab oder eben eine Norm vor. Sie prätendieren so gesehen eine empirisch fundierte Regel oder zumindest Regelmäßigkeit, die sich gegenüber allen Abweichungen dann als Kanon darstellt. Das Normale wird zur Norm. Dabei zeigt gerade der Vergleich zwischen dem modernen und dem postmodernen Lebenszyklus in aufschlussreicher Weise, dass der moderne, also der von Erikson und seinen Zeitgenossen »empirisch« beschriebene Lebenszyklus in höchstem Maße Fiktion geblieben ist. Leitbild ist, vereinfacht gesagt, der arbeitsfähige Mann im Vollbesitz seiner Kräfte – also eben jene Vorstellung, die uns in den letzten Jahren als Leitbild zu Recht weithin abhanden gekommen ist. Diese kritische Einsicht ist jedoch im Übrigen keineswegs gleichbedeutend mit der These, normative, auch modern-normative Vorstellungen vom gelingenden Lebenslauf hätten deshalb auch schon ihren Einfluss auf die Menschen verloren. Die Bilder der Fülle und des Gelingens wirken auch dann weiter, wenn sich das eigene Leben anders darstellt – vielleicht muss man sogar sagen, eben wenn und weil sich das eigene Leben so anders darstellt, gewinnen sie an Macht und Einfluss, indem sich kontrastierende, an der Norm ausgerichtete Vorstellungen und Erwartungen geltend machen. Spätestens an diesem Punkt erreichen wir eine ausgesprochen theologische Ebene. Es geht um das Gelingen und Scheitern von Leben und Lebensgestaltung, um Vorstellungen von Sinn und Sinnlosigkeit, von Glaube und Verzweiflung am Leben oder (Lebens-)Ekel, wie Erikson in

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Anlehnung an den Existentialismus formuliert. Solche Implikationen vor allem der Bilder des menschlichen Lebenszyklus fordern die Theologie dazu heraus, ihre eigene Sicht vom Lebenszyklus zu formulieren, in kritischer Auseinandersetzung mit anderen Deutungsangeboten. Vor allem stehen dabei die Deutungsangebote aus der modernen Konsumkultur vor Augen, die das eigene Leben als ein Projekt im doppelten Sinne der Karriereförmigkeit, aber auch als »conspicuous consumption« vor Augen stellen. Gegenüber der Dominanz solcher Deutungsanmutungen hat die Theologie eine ausgesprochene Befreiungsaufgabe. Inzwischen treten neben solche gleichsam klassisch-modernen Lebensbilder aber auch solche, die das Leben in einer bloßen Vielfalt momentaner Erfahrungen von risk and fun zerfließen zu lassen drohen. Dies wäre die dann gleichsam postmoderne Versuchung, die dem menschlichen Leben ebenso wenig gerecht wird wie die moderne. Auch damit wird sich die Theologie kritisch auseinandersetzen müssen. Nur noch am Rande erwähnen kann ich in diesem Beitrag noch eine weitere Herausforderung, die aus der Pluralität der Religionen erwächst. Besonders produktiv war und ist in dieser Hinsicht bekanntlich der Hinduismus, der den Lebenszyklus mit der Vorstellung der Seelenwanderung ins Methaphysische aufspreizt, so dass dem einen Lebenszyklus in seiner Endlichkeit ein Horizont vieler Lebenszyklen in ihrer immer wieder neuen Abfolge als Horizont eingezeichnet wird. Auch hier ist die christliche Theologie gefragt, wie ein christliches Bild vom menschlichen Lebenszyklus sich von andersreligiös bestimmten Bildern unterscheidet. Damit komme ich am Ende zurück zu eben den Fragen, die zu Beginn als bloße Reminiszenz erschienen – zu Comenius und seiner theologisch-metaphysischen oder pansophischen Vorstellung einer zugleich kosmischen und damit göttlichen und menschlichen Ordnung des Lebens. Auch heute brauchen wir offenbar eine Theologie des Lebenszyklus, die sich nicht in praktischen Handreichungen oder in empirischen Modellen erschöpft. Die Frage nach dem Lebenszyklus enthält einen Überschuss, der sich als eine weitere Variante menschlicher Sinnsuche verstehen lässt. Zugleich sind Vorstellungen vom menschlichen Lebenszyklus niemals einfach harmlos. Sie setzen Normen, die verfehlt werden können. Deshalb bedürfen sie der kritischen Reflexion – bis hinein in die Metaphysik.

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Literatur BAR-LEV, Mordechai /

SHAFFIR William (Hrsg.), Leaving Religion and Religious Life, Greenwich, London 1997 (Religion and the Social Order

COMENIUS, Johann Amos, Pampaedia. Lateinischer Text und deutsche Übersetzung, nach der Handschrift hrsg. v. Dmitrij Tschizewski, in Gemeinschaft mit Heinrich Geissler / Klaus Schaller, Heidelberg ²1965 (Pädagogische Forschungen 5). Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Wie geht’s der Familie? Ein Handbuch zur Situation der Familien heute, München 1988. ERIKSON, Erik H . , Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, Frankfurt a. M . ²1974 (stw 16). – Derjunge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt a. M . 1975. – Kindheit und Gesellschaft (amerikan. Erstauflage 1950, erweiterte zweite Auflage New York 1963), Stuttgart 142005. FRAAS, Hans-Jürgen, Glaube und Identität. Grundlegung einer Didaktik religiöser Lernprozesse, Göttingen 1983. GUARDINI, Romano, Die Lebensalter. Ihre ethische und pädagogische Bedeutung, Würzburg o.J. (Weltbild und Erziehung 6). K Ü N G , Hans, Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit, München 1978. PANNENBERG, Wolfhart, Anthropologie in theologischer Perpektive, Göttingen 1983. SCHARFENBERG, Joachim, »Menschliche Reifung und christliche Symbole«, in: Concilium, 14 (1978), S. 86-92. SCHRÖER, Henning, »Kinderkommunion«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 4, 4 (2001), Sp. 981f SCHWEITZER, Friedrich, »Erikson als Klassiker der Religionspädagogik? Zum 100. Geburtstag von Erik H . Erikson (12.5.2002)«, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 54 (2002), S. 311–316. – Postmoderner Lebenszyklus und Religion. Eine Herausforderung für Kirche und Theologie, Gütersloh 2003. – Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindesund Jugendalter, Gütersloh 62007. TILING, Magdalene von, Wir und unsere Kinder. Eine Pädagogik der Alterstufen für Eltern und Erzieher in Heim und Schule, Stuttgart ²1956.

GÜNTER THOMAS

Das hohe Alter als Herausforderung der theologischen Anthropologie This discussion focuses on the challenge posed to theological anthropology by the experience of old age. Four larger, long-term shifts in religious belief have exercised a strong backdrop influence on this ongoing challenge, making clear an urgent need for theological reorientation: a reshaping of Christian eschatology into lived piety; alterations in the belief in providence; an emphasis on the corporeality of salvation; and a reinterpretation of human finitude. In light of such developments, the essay argues for a differentiated and critical perception of human autonomy, a theological appraisal of fragmentariness, and a multilayered approach to the phenomena of remembering and forgetting. Not least of all, a renewed exploration of the moments in which life is proffered and life is received promises insight into the signature of old age. The author suggests examining these four problem-areas from a tripartite perspective: that of creation, of reconciliation in Christ, and of hope of salvation.

1. Einführende Überlegungen Die öffentlichen Auseinandersetzungen um Alter, Altern und die Schwellen und Zäsuren des Alterungsprozesses, die mit der Zuteilung von Geld, freier Zeit, öffentlicher Anerkennung und nicht zuletzt mit einem Erwartungsumbau verbunden sind, werden nicht nur im Feuilleton und in Talkshows, sondern auch auf Wahlplakaten ausgetragen. Neben diesen öffentlichen Diskursen oder Erregungswellen wächst nicht nur die innerwissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik, sondern auch der innerwissenschaftliche Kampf um die Deutungshoheit in diesem Diskurs. Wer sind die wahren Alternsforscher? Gerontologinnen, Geriater, Psychologen, Medizinhistoriker, Kulturwissenschaftlerinnen, Philosophen oder gar Ökonomen und Versicherungsmathematiker? Angesichts des immer dichter werdenden Netzes an Disziplinen, die sich mit dem Altern beschäftigen, stellt sich unausweichlich die Frage: Was kann inmitten dieser Kompetenzen in Sachen Alter die Theologie und insbesondere die Systematische Theologie beitragen? Wenn schon Theologie, wären dann nicht die historischen Disziplinen und die praktisch-theologische Praxisreflektion

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eher gefragt? Und wenn schon Systematische Theologie, was kann sie beitragen? Vor dem Hintergrund dieser Fragen möchte ich in diesem Beitrag in vier Schritten vorgehen: Zum besseren Verständnis der spezifischen Aufgaben der Systematischen Theologie im Umfeld einer facettenreichen historischen Alternsforschung möchte ich in einem ersten Schritt den Charakter und die Aufgabe der Systematischen Theologie umreißen.1 In einer weiteren Vorklärung möchte ich die für die gegenwärtige ethische und gesellschaftspolitische Diskussion so wichtige Unterscheidung einer dritten und vierten Lebensphase, d. h. zwischen Alter und hohem Alter, vorstellen. In einem dritten Schritt möchte ich mich dann dem theologischen Feld zuwenden und zunächst einen fundamentalen wie manifesten Wandel innerhalb des christlichen Symbolsystems skizzieren. Alle vier Aspekte dieses Wandels stellen für ein theologisches Verstehen des Alters fundamentale Verschiebungen dar und lassen die religiöse Gegenwartssituation markant gegenüber historischen Konstellationen differieren. Zugleich stellen sie die Theologie vor nicht unbeträchtliche Konsistenzprobleme. In einem vierten Schritt werde ich vier in der Forschung diskutierte und zugleich alltagspraktisch relevante P r o b l e m f e l d e r des hohen Alters umreißen. Meine Überlegungen zu einer theologischen Anthropologie des Alters möchte ich als jeweils dreifach gegliederte theologische Perspektive (Schöpfung, Versöhnung, Erlösung) auf diese Problemfelder skizzieren. 1.1. Systematische Theologie im Ensemble der Alternsforschungen Zur Beantwortung der Frage nach der Stellung der Systematischen Theologie im Kreis der Alternsforschung möchte ich eine methodische Überlegung zum Charakter von Systematischer Theologie voranstellen und zunächst das Verhältnis zu der im geisteswissenschaftlichen Feld so starken historischen Forschung verdeutlichen. Historische Fakten werden nicht 1

Hinzuweisen ist darüber hinaus auf die Einschränkung auf Systematische Theologie. Im Feld der theologischen Ethik entstehen ganz eigene Resonanzen, die stärker mit den Stichworten Verteilungsgerechtigkeit und Generationengerechtigkeit bezeichnet werden. Zu diesem weiten Feld siehe exemplarisch Jörg Tremmel, »Generationengerechtigkeit in der Verfassung«, in: Archiv für Politik und Zeitgeschichte, 8 (2005), S. 18–27; Markus Höfner, »›Alter‹ als Kriterium für die Rationierung von Gesundheitsleistungen? Theologisch-ethische Überlegungen zu einem Vorschlag von Norman Daniels«, in: M. H. / Stephan Schaede / Günter Thomas (Hrsg.), Endliches Leben. Interdisziplinäre Zugänge zum Phänomen der Krankheit, Tübingen 2010, S. 259–285.

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einfach gefunden, sondern verdanken sich interpretativen Bemühungen, spezifischen Relevanzhorizonten, theoretischen Instrumentarien und rhetorischen Mitteln der Kommunikation. Dennoch unterstellt sich mit guten Gründen jede seriöse wissenschaftliche Erkenntnisbemühung zur kognitiven Selbstkontrolle o p e r a t i v , d. h. im Vollzug der Forschung, der Unterscheidung von ›Datum‹ und ›Interpretation‹, von Findung und Erfindung, systemischer Fremdreferenz und Selbstreferenz. Nur so kann die Widerständigkeit der Realität in der wissenschaftlichen Konstruktion produktiv verarbeitet werden – obgleich jeder Beobachter zweiter Ordnung die Relativität dieser Unterscheidungen in einem gegebenen Fall sehen, es aber auch nicht vermeiden kann, sie selbst im Vollzug seiner eigenen Beobachtung anderer Beobachter anzuwenden. Innerhalb der Unterscheidung von Datum und Interpretation vollzieht – so mein Vorschlag – die klassisch historische Wissenschaft eine Wiederholung der Unterscheidung, d. h. ein ›Re-Entry‹, allerdings auf der Seite des Datums. Dagegen vollzieht die Theologie wohl gemeinsam mit der Philosophie und sicherlich auch der Literaturwissenschaft (zumindest in der wissenssoziologischen Außenansicht) die Wiederholung der Unterscheidung von Datum und Interpretation, d. h. das ›Re-Entry‹ auf der anderen Seite der Unterscheidung, eben auf der Seite der Interpretation. Diese Disziplinen verarbeiten die notwendige Unterscheidung zwischen Datum und Interpretation im Rahmen der Interpretation, nicht auf dem Feld des historischen Datums. Temporal betrachtet interpretieren die historischen Wissenschaften mit dem Rücken zur Zukunft, die systematischen mit dem Rücken zur Vergangenheit. Ohne Zweifel: Der Engel der Geschichte ist auf der Seite der Historiker. Operiert die Systematische Theologie mit dem Rücken zur Vergangenheit, für wen verarbeitet und analysiert sie die Gegenwart und für wen entwirft sie Zukunft? Konkreter formuliert: Worauf bezieht sich Theologie und in welchem Verhältnis zu gelebter, kirchlich ja gemeindlich verfasster Religion steht sie? Die Aufgabe der Theologie – auch im Problemfeld von Alter und Altern – wird deutlich, begreift man Religionen als komplexe, historisch gewachsene und nicht zuletzt öffentliche Symbolsysteme, zu deren innerer Konsistenzkontrolle, Steuerung und adaptiver Weiterentwicklung die Selbstbeobachtungsinstanz bzw. Selbststeuerungsinstanz ›Theologie‹ erfunden wurde. Dabei wandeln sich beide: das in praktizierter und organisierter Frömmigkeit lebendige Symbolsystem wie auch die Reflexionseinrichtung der Theologie.2 2

Die Frage der Zuschreibung des Wandels, also die Frage, ob der Wandel selbstinduziert und durch innere Entwicklungen selbst gesteuert wurde oder Reflex und Anpassung auf religionsexterne Faktoren darstellt, ist selbst stets hoch umstritten. Sie wird religionsintern und -extern wohl unterschiedlich beantwortet. Eine ebenso wichtige Frage ist die der Feststellung der Selbstanschlüsse innerhalb des Wandels – manche würden von Identität

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Gegen naive Individualisierungsthesen ist festzuhalten: Auch dann, wenn Individuen Levi Strauss’sche Bricoleure sind und die individuelle mehr oder weniger religiöse Lebensdeutung stets eine Bricolage darstellt,3 brauchen Gesellschaften geprägte, öffentliche und gepflegte Symbolsysteme, die durch gebundene, d. h. normativ gesteuerte, rückversicherte Imagination entwickelt werden.4 Der Umschlag von der Deskription kontingenter Möglichkeiten in der historischen Reflexion i n die N o r m a t i v i t ä t von aktuellen Orientierungen vollzieht sich nicht einfach im Leben und den Rezeptionsprozessen einzelner Individuen. Vielmehr reflektiert der individuelle Vollzug stets Umbauten von kulturellen und sozial wirksamen öffentlichen Orientierungssystemen. Das von der Theologie reflektierte und verantwortlich mitgestaltete christliche Symbolsystem existiert nun aber nicht isoliert für sich, sondern steht mit vielfältigen Kräften und anderen Symbolsystemen in einem vielschichtigen Resonanzverhältnis. Wie in einem Symphonieorchester die Waldhörner die Bässe in Schwingung versetzen und wie die Celli von den Bratschen mit bewegt werden, so versetzen in kulturellen Resonanzverhältnissen die Schwingungen anderer Symbolsysteme wie Recht, Politik, Medien oder Wissenschaft auch Religion in Eigenschwingungen – und umgekehrt. Entscheidend ist bei dieser Betrachtung die Einsicht, dass es bei Resonanzverhältnissen keine monokausalen Verursachungen, keine einlinigen Determinationen und keine unstrittigen Zurechnungen gibt. Jede Veränderung im Symbolsystem verläuft nur selbst-referentiell, wenngleich unter der stets selektiven Verarbeitung von Irritationen von außen.5 Systematische Theologie ist in diesem Sinne die verantwortliche Pflege, d. h. die Selbstbeobachtung und die kritische Prüfung der Sachgemäßheit, der Umweltadaptation und nicht zuletzt der Entwicklungsmöglichkeiten des christlichen Symbolsystems.6 Systematische Theologie zielt so

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oder Wesen sprechen – und der entsprechenden Techniken, diese sicher zu stellen. Lehramt, Papsttum oder Schriftprinzip sind Titel für solche Kontrolleinrichtungen. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1973, S. 29f. Auch Musik, Literatur, Fernsehen und Film offerieren – wie sich gerade beim Thema Alter/Altern zeigt – implizit wie explizit Interpretationsangebote und fungieren als Medien der öffentlichen Imagination. Im Unterschied zur Religion sind sie jedoch nicht an fundierende Texte und normative Leitimaginationen rückgebunden. Beispielsweise ist die Frage: »Hat die feministische Bewegung die Ordination von Frauen in den Kirchen verursacht?« daher so richtig wie falsch gestellt. Dass dies für die katholische Kirche nicht gilt, ist offensichtlich. Resonanzverhältnisse erfordern Anpassungsleistungen, wobei eben nicht festgelegt ist, in welche Richtung diese erfolgen. Hinsichtlich 1) der Sicherung der Selbstanschlüsse an fundierende Texte und Traditionen, 2) der Konsistenzprüfung, 3) der Pflege und Vermittlung professioneller Kompetenz in gesellschaftlichen Praxisfeldern und nicht zuletzt 4) der Arbeit an der Weiterentwicklung des Symbolsystems in sich wandelnden Umwelten entspricht die Aufgabe Theologischer Fakultäten der von Juristischen Fakultäten.

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auf die Gestaltung und Verarbeitung der ›Resonanzsensibilität‹ innerhalb der Theologie in einer sich stets wandelnden Umwelt.7 Diese selbstkritische Pflege des christlichen Symbolsystems unterstellt sich selbst stets eine Problemdiagnose, auf die hin orientierend und problemlösend gearbeitet wird. Von dieser Last der verantwortlichen Steuerung ist der Religionswissenschaftler im Unterschied zum Theologen befreit und kann den möglichen ›Schiffbruch‹ gelassen als Zuschauer vom Ufer aus beobachten.8 Insofern das christliche Symbolsystem 1) vielfältig von außen beobachtet wird und umgekehrt 2) selbst Resonanzen in anderen Symbolsystemen erzeugen möchte, bewegt sich die Theologie auch beim Thema Altern in einem komplexen formativen Feld vielfältiger Deutungsakteure: Medien (Golden Girls), Recht, Literatur, Kunst, Ökonomie (Werbung) sind Akteure in der Prägung und Formung kultureller Muster, Rahmen und Schemata, leitender Metaphern und imaginationsentfesselnder Bilder in Sachen Altern. 1.2. Wer ist ›alt‹? Die Unterscheidung der dritten und vierten Lebensphase Die Lebensphase, zu der ich mich im Folgenden äußern möchte, ist die, die heute als so genannte vierte Lebensphase bezeichnet wird. Sie ist in zweierlei Hinsicht neu und nimmt in ihrer Kennzeichnung dennoch viele Phänomene der klassischen, d. h. historischen Altersdarstellung auf. Ein effektives Gesundheitssystem, Fortschritte in der suffizienten und gesunden Ernährung, gesteigerte Hygienestandards, technologische Fortschritte für den Körpereinsatz bei der Arbeit, gesünderes Wohnen und nicht zuletzt eine ökonomische Altersversorgung mit Zwangsberentungen – all diese Faktoren haben in spätmodernen westlichen Gesellschaften eine so genannte d r i t t e L e b e n s p h as e geschaffen: Die Zeit nach der Berentung, die für viele Menschen durch ein beachtliches Maß an Vitalität und Gesundheit gekennzeichnet ist. In dieser Phase sind die Menschen die Zielgruppe der Anti-Aging-Medizin, die den Eintritt in die vierte Phase hinausschieben soll.9 Relativ neu ist für eine historische Betrachtung daher die R e i h u n g der Phasen.10 7

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Es dürfte daher für die Theologie unangemessen sein, nur das ›Ewige‹ im ›Zeitlichen‹ zu suchen. Eine solche Auffassung unterstellte ein Gottesverständnis, das durch das Ereignis der Inkarnation zurückgewiesen wird. Zum Umfeld und zur Geschichte der Metapher siehe Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 1979. Zur aktuellen Diskussion siehe Claudia Bozzaro / Tobias Eichinger / Mark Schweda, »Diagnose Altern? Zu den ethischen Grenzen der Anti-Aging-Medizin«, in: Zeitschrift für medizinische Ethik, 56 (2010), S. 203–216; Eric T. Juengst / Robert H. Binstock / Maxwell Mehlman / Stephen G. Post / Peter Whitehouse, »Biogerontology, ›Anti-Aging Medicine‹,

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Eine Abgrenzung der dritten zur v i e r t e n P h a s e ist nicht absolut trennscharf möglich. Gerontologen verbinden mit der dritten Phase eine selbständige Lebensführung ohne Angewiesenheit auf alltägliche Hilfeleistungen. Mit dem Alternsforscher Paul B. Baltes kann von einer Phase gesprochen werden, in der die möglicherweise schon eintretenden Einschränkungen durch S e l e k t i o n , K o n z e n t r a t i o n und Ü b u n g k o m p en s i e r t werden können. Die vierte Altersphase ist dagegen, mit Baltes zu sprechen, »Hoffnung mit Trauerflor«, eine Zeit mit »mehr Bürde als Würde«, da Kompensationsmechanismen an ihre Grenzen kommen und r e a l e V e r l u s t e eintreten.11 In dieser Phase sind substantielle Einschränkungen zu verarbeiten. Speziell der medizinische Fortschritt hat, von chronischen Krankheiten abgesehen, eine lange Zeit der relativen Gesundheit u n d zugleich eine eher kürzere Folgephase geschaffen, die oft durch eine so genannte M o r b i d i t ä t s k o m p r e s s i o n und ausgeprägte M u l t i m o r b i d i t ät gekennzeichnet ist. Diese vierte Lebensphase entsteht aus einem nicht separierbaren Ineinandergreifen von soziokulturellen und nicht negierbaren biologischen Faktoren. Etwas salopp formuliert: Die vierte Lebensphase liegt zwischen Mallorca und dem Hospiz. Intensivierte Endlichkeitserfahrungen prägen diese Zeit. Die Frage, ob der Übergang in diese Phase eine Zäsur darstellt, führt auf das Problem, wann ein analoger Prozess in eine klare, digitale Unterscheidung umschlägt, oder – um mit Gregory Bateson zu sprechen – wann letztlich ein Unterschied einen Unterschied ausmacht.

2. Vier Elemente eines tiefgreifenden religiösen Wandels, die theologische Rede vom Alter betreffend Jegliche gegenwärtige theologische Orientierungsbemühung hat sich mit vier grundlegenden Umbauten in der christlichen Frömmigkeit auseinander zu setzen. In einer historischen Perspektivierung erscheinen sie als Abschiede von Selbstverständlichkeiten. Für eine theologische Orientie-

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and the Challenges of Human Enhancement«, in: The Hastings Center Report, 33 (2003), S. 21–30. Für eine Diskussion der Phasen im Horizont konstruktivistischer Sozialforschung siehe Irmhild Saake, Theorien über das Alter. Perspektiven einer konstruktivistischen Alternsforschung, Opladen u. a. 1998 (Studien zur Sozialwissenschaft), Kap. VII. Siehe Paul B. Baltes, »Hoffnung mit Trauerflor. Lebenslänge contra Lebensqualität – von der Menschenwürde im hohen Alter«, in: Neue Zürcher Zeitung, 4. November 2006; P. B. B. / Jacqui Smith, »New Frontiers in the Future of Aging. From Successful Aging of the Young Old to the Dilemmas of the Fourth Age«, in: Gerontology, 49 (2003), S. 123–135.

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rung in Sachen Alter machen sie deutlich, dass theologische Traditionen nicht nur wiederholt werden können. 2.1. Der Umbau der frömmigkeitsprägenden Eschatologie Wer im Vatikan in der Sixtinischen Kapelle steht und zu er s t auf der Altarseite das Endgerichtsgemälde Michelangelos betrachtet und d a n n einen Blick auf die Gesichter der dieses Gemälde anschauenden Touristen wirft, dem steht ein epochaler Wandel in der abendländischen Religionsgeschichte vor Augen: Menschliches Leben wird gelebt und religiös gedeutet – ohne dass das als Gericht vorgestellte Eschaton als Jenseits eine tiefgreifend l e b e n s s t i l p r ä g en d e und eine das religiöse Empfinden substantiell f o r m e n d e Macht besitzt. Wie auch immer man sich dazu heute theologisch stellen mag: Für die westliche Christenheit war das christliche Leben zumindest seit dem mächtigen Kirchenvater Augustin für mehr als tausend Jahre eine Pilgerschaft in die himmlische Heimat. Das Ziel menschlichen Lebens lag jenseits dieses Lebens – und das Gericht Gottes als des Weltenrichters war eine die irdische Gegenwart und die himmlische Zukunft bestimmende Unterscheidung, auf die man sich gut vorzubereiten hatte. Auch für den Reformator Martin Luther war dieses irdische Leben letztlich nur die forma futurae vitae und selbst die Lieder des unlängst gefeierten größten protestantischen Liederdichters, Paul Gerhardt, sind gesättigt von diesem Vorstellungskomplex einer aus diesem Erdental führenden Pilgerschaft in die himmlische Heimat. Das Eigentliche kommt noch, so dass die gegenwärtigen Nöte im Jammertal dieser Welt ihren Schrecken angesichts der kommenden Herrlichkeit verlieren – wenngleich was kommt doch das Gericht Gottes ist. Es mag gegenwärtig noch religiöse Milieus geben, die so genannten Entrückungsromanen Millionenauflagen bescheren, und es mag auch mit guten Gründen und biblischen Einsichten gestützte theologische Eschatologien geben, aber das Bild des Endgerichts löst keine moralische Selbstprüfung mehr aus. Die Vorstellungen vom Endgericht ›triggern‹ keinen mächtigen Impuls der Abwendung von diesem irdischen und der Zuwendung zu einem jenseitigen Leben. Sie führen kaum mehr dazu, dass Menschen ihr gegenwärtiges Leben an einem Endgericht ausrichten. Dennoch wäre ›Säkularisierung‹ eine völlig ungeeignete Kategorie zur Erfassung dieses tiefgreifenden religiösen Wandels in der Frömmigkeit der westlichen Christenheit. Auch einer vorschnellen theologischen Wertung bzw. der Skizzierung einer einseitigen Verlustgeschichte sollte man sich tunlichst enthalten. Und dennoch ist es ein äußerst tief greifender Wandel, der das

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christliche Bild des Alters nicht unbeeinflusst lässt.12 Es ist nicht mehr die relative zeitliche und damit auch soziale ›Nähe‹ zum Himmel, die das hohe Alter erträglich macht. Die mit der Hospizbewegung verbundene Sterbevorbereitung hat nicht mehr ›den Thron des himmlischen Richters‹ im Blick. 2.2. Die Krise der Providenzvorstellung Nicht nur der Erfolg der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts,13 auch die unheilvollen Ereignisse des 20. Jahrhunderts haben innerhalb der christlichen Frömmigkeit und Theologie zu einer weitreichenden Krise der Vorsehungslehre geführt.14 Die altkirchliche Theologie hatte gemeinsam mit Aspekten der griechischen Metaphysik auch die so genannte Pronoia-Vorstellung, d. h. die Idee einer letztlich nur schicksalhaft zu erfahrenden unbedingten göttlichen Vorhersehung als Lebensbestimmung rezipiert.15 Ohne Zweifel finden sich Rest- und Schrumpfformen einer starken Providenzvorstellung in der religionssoziologischen Formel der »Kontingenzbewältigungspraxis«16, in religionsphilosophischen Themen der schlechthinnigen Abhängigkeit, in der theologischen Rede von Gott als einer alles bestimmenden Wirklichkeit oder in einer Herrgottsfrömmigkeit im religiösen Lebensvollzug.17 Diese sind aber, so meine These, 12

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Die Entzeitlichung der Eschatologie vollzieht sich nicht nur gegen, sondern auch durch die Theologie im langen Prozess der Moderne. Die Theologie der Aufklärung und des Barock konnten die Naturwissenschaften und die Vorsehungslehre noch weitgehend verklammern. Siehe exemplarisch Udo Krolzik, Säkularisierung der Natur. Providentia-Dei-Lehre und Naturverständnis der Frühaufklärung, Neukirchen-Vluyn 1988. Selbst Friedrich Schleiermacher kann noch das Handeln Gottes mit dem Gesamtzusammenhang der Natur identifizieren. Zu der Vermittlungsposition Schleiermachers siehe Ueli Hasler, Beherrschte Natur. Die Anpassung der Theologie an die bürgerliche Naturauffassung im 19. Jahrhundert (Schleiermacher, Ritschl, Herrmann), Bern 1982, S. 61–171. Für einen Überblick über die Entwicklung siehe Reinhold Bernhardt, Was heißt ›Handeln Gottes‹? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung, Gütersloh 1999. Die Rezeption rekonstruiert luzide Silke-Petra Bergjan, Der fürsorgende Gott. Der Begriff der PRONOIA Gottes in der apologetischen Literatur der Alten Kirche, Berlin und New York 2002. Religionssoziologisch Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Darmstadt 1986, S. 127–218. Ein markanter und zugleich in der populären Frömmigkeit stark rezipierter Text ist das Gedicht »Von guten Mächten wunderbar geborgen« aus der Feder Dietrich Bonhoeffers (Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg. von Christian Gremmels / Eberhard Bethge / Renate Bethge, Gütersloh 1998 [Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 8], S. 607f.). Für den Theologen Adolf von Harnack, dessen Einfluss hier zweifellos sichtbar wird, sind es die Jünger, die es »lernen, die Hand des lebendigen Gottes überall im Leben und auch im Tode zu erkennen« (Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Facultäten im Wintersemester

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nicht mehr den Alltag durchdringend und d. h. nicht mehr lebensprägend.18 Speziell die manifest negativen, d. h. lebensabträglichen Ereignisse des individuellen wie auch des gemeinschaftlichen Lebens werden nicht mehr eindeutig der gütigen Hand Gottes zugeschrieben. Diese Verschiebung verändert auch den religiösen Umgang mit den Erfahrungen des Lebensabträglichen im hohen Alter. 2.3. Die Akzentuierung der Leiblichkeit menschlicher Existenz und der Leiblichkeit des Heils Die christliche Tradition war und ist nicht frei von leibfeindlichen und auf problematische Weise stark spiritualisierenden Strömungen. Auch der Protestantismus kennt Tendenzen einer fragwürdigen ›Entweltlichung‹ und einer Verjenseitigung oder Verinnerlichung des Heils. Nicht wenige Traditionen der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts, ja auch der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts haben schon die entsprechenden Kritiken und Impulse der scharfen Religionskritik des 19. Jahrhunderts produktiv verarbeitet. Sie haben Nietzsches Forderung einer konsequenten »Treue zur Erde« in vielerlei Gestalten konstruktiv aufgegriffen.19 Auch die Anfragen der Befreiungstheologie, der feministischen

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1899/1900 an der Universität Berlin gehalten, Leipzig 1900, 4. Vorlesung, S. 43f.). Für einen anderen Theologen der Wende zum 20. Jahrhundert, Ernst Troeltsch, ist an dieser Stelle von einem »Unmittelbarkeitsglauben« bzw. einem »Weltregierungsglauben« zu sprechen: »Es besteht für die sich hingebende Seele die Möglichkeit einer unmittelbaren Beziehung auf Gottes regierende Güte, ja es ist dies für den religiös empfindenden Menschen der Herzpunkt des Weltregierungsglaubens. In den lebendigen Äußerungen aller Frommen wird das eigene Schicksal und die persönliche Charakterentwicklung als von Gott geleitet empfunden« (Ernst Troeltsch, Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912, München 1925, S. 268ff.). Pointiert formulieren den Vorsehungsglauben die 27. und 28. Frage des Heidelberger Katechismus: »Was verstehst du unter der Vorsehung Gottes? Die allmächtige und gegenwärtige Kraft Gottes, durch die er Himmel und Erde mit allen Geschöpfen wie durch seine Hand noch erhält und so regiert, dass Laub und Gras, Regen und Dürre, fruchtbare und unfruchtbare Jahre, Essen und Trinken, Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut und alles andere uns nicht durch Zufall, sondern aus seiner väterlichen Hand zukommt.« (Frage 28) »Was nützt uns die Erkenntnis der Schöpfung und Vorsehung Gottes? Gott will damit, dass wir in aller Widerwärtigkeit geduldig, in Glückseligkeit dankbar und auf die Zukunft hin voller Vertrauen zu unserem treuen Gott und Vater sind, dass uns nichts von seiner Liebe scheiden wird, weil alle Geschöpfe so in seiner Hand sind, dass sie sich ohne seinen Willen weder regen noch bewegen können« (Evangelisch-Reformierte Kirche [Synode Evangelisch-Reformierter Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland] / Lippische Landeskirche / Reformierter Bund, Heidelberger Katechismus, revid. Ausgabe, Neukirchen-Vluyn 1997). »Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder

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Theologie und die der neueren ›Ecotheology‹ zielen auf eine realistische und zugleich transformative Wahrnehmung der Leiblichkeit und Weltlichkeit der christlichen Existenz und des Heils. Die soziale, kulturelle und individuell-persönliche Gestalt des christlichen Lebens ist eine zutiefst leibliche.20 Parallel zu diesen Akzentverschiebungen werden zunehmend juridische Modelle des Heils- und Versöhnungsgeschehens durch therapeutische ersetzt: Was das Heil für Menschen darstellt, wird dann im metaphorischen Feld von Heilung entfaltet. Doch je weniger die christliche Erlösung des Menschen in einem Zeit/Ewigkeits-Schema als Erlösung a u s dieser Leiblichkeit und a u s dieser Zeit und Welt begriffen wird, umso dringlicher wird die Beantwortung der Frage, wie und inwieweit diese unsere l e i b l i c h e E x i s t e n z in das Geschehen von Versöhnung und Erlösung einbezogen ist und wie sich der manifeste Verfall endlich-leiblicher Existenz zu dem den Menschen zugesagten Heil verhält. Wird möglicherweise eine fragliche ›Entweltlichung‹ ausgetauscht durch eine nicht weniger problematische ›Heiligsprechung‹ aller kreatürlichen Nöte? Führt die Hervorhebung der Leiblichkeit des Heils möglicherweise zu einer religiösen Versöhnung mit dem Elend? Kann die Theologie alle ›naturalen‹ Prozesse, die auch mit dem Altern einhergehen, uneingeschränkt positiv affirmieren? Diese Fragen brechen unweigerlich auf, wenn sich die Theologie den Erfahrungen der vierten Lebensphase zuwendet – ohne innerhalb eines dichotomen Menschenbildes nur die Seele mit dem Heil zu verbinden. 2.4. Die Endlichkeit menschlichen Lebens als Signatur geschöpflichen Lebens Auch wenn sie noch offizielles katholisches Dogma ist und sich auch auf Stimmen innerhalb des biblischen Kanons stützen kann: Die Vorstellung, dass der physisch-leibliche Tod des Menschen direkt mit der Sünde des Menschen zusammenhängt, erweist sich nicht mehr als soziokulturell tragend und prägend. Dieser vom 2. Konzil von Karthago dogmatisierte Zusammenhang zwischen einer sündenfreien Unsterblichkeit Adams und einem sündeninduzierten Todesschicksal wurde im beginnenden 19. Jahr-

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nicht. Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren die Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren!« (Friedrich Wilhelm Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, in: Friedrich Nietzsche. Werke in sechs Bänden, Bd. 3, hrsg. von Karl Schlechta, München 1980, S. 277–561, hier S. 280). Nicht zuletzt sind auch der Aufbruch der Diakonie im 19. Jahrhundert und die vielfältigen Formen, in denen die Kirche heute ›Kirche für andere‹ (D. Bonhoeffer) ist, auf dieser Linie zu sehen.

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hundert auf Seiten der evangelischen Theologie, namentlich von dem Berliner Theologen Friedrich Schleiermacher, überzeugend in Frage gestellt. Bis auf wenige Ausnahmen wird in der gegenwärtigen Theologie die biologische Endlichkeit des Menschen als zentraler Aspekt seiner Geschöpflichkeit gesehen. Doch die Zurückweisung einer Kopplung von biologischem Tod und Sünde hinterlässt auch ein Bündel an Fragen: Entspricht jede elende Gestalt menschlicher Endlichkeit dem guten und lebensförderlichen Willen Gottes – oder provoziert nicht auch manches seinen Widerwillen? Religionssoziologisch formuliert: Muss die religiöse Kontingenzbewältigungspraxis wirklich jede Kontingenzerfahrung positiv puffern? Ist es die Pointe des Christentums, ein Coping-Instrumentarium für wirklich j e d e Lebenslage bieten zu können und zu müssen? Ich denke nein – aber es gilt zunächst die einfache Beobachtung: die innertheologische Verarbeitung von Endlichkeit und Sterblichkeit hat an dieser Stelle einen dramatischen Umbau erfahren. Dieser Umbau erfordert die theoretische Rekonstruktion und ethische Handhabe einer historisch mobilen, aber unumgänglichen Grenzziehung zwischen einer guten und zu würdigenden Endlichkeit und einer entschlossenen ›Bekämpfung‹ problematischer Gestalten lebensfeindlicher Endlichkeit.

3. Alter und Altern – Ansatz, Thesen, Problemfelder und Konturen einer realistischen theologischen Anthropologie Eine realistische, d. h. den Phänomenbestand, das soziokulturelle Umfeld und die Orientierung am Gegenstand der Theologie nicht aufgebende theologische Anthropologie des Alters kann an dieser Stelle nur in ihren Grundzügen skizziert und mit ihren spezifischen Problemfeldern angedeutet werden.21 Dabei möchte ich in vier, nochmals untergliederten Schritten vorgehen: 21

Dabei handelt es sich nicht um Themenfelder, die nur und ausschließlich im Alter an Bedeutung gewinnen. Vielmehr ereignet sich in der vierten Lebensphase eine Intensivierung und Verdichtung, die die Konfrontation mit diesen Themen Bestandteil der idealtypischen Konstruktion ›hohes Alter‹ werden lassen. Nicht Wesenszüge, sondern hohe Wahrscheinlichkeiten sind für uns von Interesse. Damit soll sowohl einer falschen ›Ontologisierung‹ des ›Alters‹ wie auch einer unangemessenen Individualisierung der Problemlagen der letzten Jahre begegnet werden. Zu den bisherigen theologischen Erkundungen siehe die Handbücher von Melvin Kimble / Susan H. McFadden / James W. Ellor / James J. Seeber (Hrsg.), Aging, spirituality, and religion. A handbook, Minneapolis 1995; Melvin A. Kimble / Susan H. McFadden (Hrsg.), Aging, spirituality, and religion. A handbook, Volume 2, Minneapolis 2003; die Sammlung von Stanley Hauerwas (Hrsg.), Growing old in Christ, Grand Rapids, MI 2003. Im deutschsprachigen Raum liegt der Schwerpunkt der Bearbeitung des Themas zweifellos in der Praktischen Theologie. Siehe

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1) Die Abschnitte 3.1. bis 3.4. stellen zunächst knapp vier in der Öffentlichkeit diskutierte Themenfelder vor: Autonomie, Vollendung und Fragment, Erinnern und Vergessen und Lebensgabe / Lebensempfang. 2) Innerhalb dieser Abschnitte wird dann zu dem jeweiligen Themenfeld eine dreifach gegliederte theologische Perspektive entfaltet: Schöpfung, Versöhnung in Jesus Christus und eschatologische Erlösung als distinkte Beziehungen Gottes zur Welt, die sich zugleich in Inkarnation, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi widerspiegeln.22 Zwischen den auch außertheologisch wahrgenommenen und diskutierten Problemfeldern und den Themen der Theologie entsteht so ein Resonanzverhältnis, das einerseits in der Wahrnehmung des hohen Alters einer Phänomenerhellung dienen soll und zugleich zu einer produktiven Neujustierung des theologischen Themenfeldes herausfordert. 3.1. Jenseits einer ideologischen Fixierung auf Autonomie als anthropologische Leitvorstellung Eine realistische theologische Anthropologie des Alters muss in die öffentliche Diskussion um ›Autonomie‹ eintreten. Auf charakteristische Weise kreisten die Debatten der letzten Monate und Jahre um eine gesetzliche Regelung von Patientenverfügungen und um die Möglichkeiten aktiver Sterbehilfe vornehmlich um die Begriffe Autonomie und Selbstbestimmung. Auch für den Umgang mit alten Menschen steht in vielen programmatischen Texten die Förderung von Autonomie und die Bewahrung von Selbstbestimmung im Vordergrund.23 Nun ist unschwer erkennbar, dass sich im semantischen Feld von Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sehr verschiedene Interessenslagen und philosophi-

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Ralph Kunz, Religiöse Begleitung im Alter. Religion als Thema der Gerontologie, Zürich 2007; Thomas Klie / Martina Kumlehn / Ralph Kunz (Hrsg.), Praktische Theologie des Alterns, Berlin und New York 2009; Martina Kumlehn / Thomas Klie (Hrsg.), Aging – Anti-Aging – Pro-Aging. Altersdiskurse in theologischer Deutung, Stuttgart 2009; Martina Blasberg-Kuhnke (Hrsg.), Altern in Freiheit und Würde. Handbuch christliche Altenarbeit, München 2007. Für eine christologische Bestimmung dieser drei Perspektiven siehe Dietrich Bonhoeffer, Ethik, hrsg. von Ilse Tödt / Heinz Eduard Tödt / Ernst Feil / Clifford J. Green, München 1992 (Dietrich Bonhoeffer, Werke, Bd. 6), S. 31–90. Von der eschatologischen Hoffnung kann der christliche Glaube auch in der Krise der Jenseitsvorstellung nicht lassen. Ist allerdings die Auferstehung Jesu Christi der Grund und die inhaltliche Profilierung der christlichen Hoffnung, so verbietet es sich, die befreiende Hoffnung mit einer negativen Eschatologie zu verdunkeln. Der Verlust einer letztlich als Drohung auftretenden Eschatologie ist daher theologisch nicht zu beklagen. So auch exemplarisch in den Bänden von Kumlehn / Klie (Hrsg.), Aging – Anti-Aging – Pro-Aging und Peter Bartmann / Ingolf Hübner (Hrsg.), Patientenselbstbestimmung. Paradigmenwechsel und Herausforderung im Gesundheitswesen, Neukirchen-Vluyn 2002.

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sche Traditionen begegnen.24 Dennoch ist die Stoßrichtung gegen Abhängigkeitsbeziehungen, Kontrollverlust und Fremdbestimmung überdeutlich. Eine theologische Anthropologie wird gut daran tun, an diesem Punkt nicht eine überkommene, im Feld der Sündenlehre entwickelte Polemik gegen Autonomie zu reaktivieren oder nur mit einer Hervorhebung einer religiösen Abhängigkeitsbeziehung zu antworten. Vielmehr geht es darum, von dem biblischen und dogmatischen Material aus eine differenziertere und reichere Anthropologie zu entfalten. Zunächst ist in einer schöpfungstheologischen Perspektive hervorzuheben, dass Menschen im hohen Alter auf eine je spezifische Freiheitsgeschichte zurückblicken können. Als je von ihnen gestaltete Geschichte wird sie erzählt und immer wieder neu angeeignet. Diese verantwortliche Gestaltung in Freiheit ist ein zentrales Moment des als Ebenbild Gottes gewürdigten Menschen. Diese Würdigung widerspiegelnde Momente der Selbstbestimmung und ›freien Gestaltung‹ des Lebens gilt es auch im Zeichen wachsender Abhängigkeiten zu suchen, auszugestalten und zu bewahren. Auch bei sich verengenden Möglichkeitshorizonten gilt es diese Autonomie bewahrenden Wahlmöglichkeiten offen zu halten. Die im Vollzug von Autonomie mit implizierte Flexibilität ist es, die auch alte Menschen stets schöpferisch mit neuen Situationen umgehen lässt. Hierin bleibt auch der alte Mensch der »königliche Mensch«, von dem Psalm 8 spricht.25 In einer versöhnungstheologischen Perspektive ist allerdings auf eine dreifache Gefährdung hinzuweisen. Denn so sinnvoll das Moment der Selbstbestimmung als Teil einer verantwortlichen Lebensführung zweifellos ist, so irreführend ist es als verabsolutierte anthropologische Leitvorstellung oder gar als Markierung der Würde des Menschen.26 Als solche 24

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Uwe Krähnke, Selbstbestimmung. Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer normativen Leitidee, Weilerswist 2007; für die katholisch-theologische Diskussion exemplarisch Antonio Autiero / Stephan Goertz / Magnus Striet (Hrsg.), Endliche Autonomie. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein theologisch-ethisches Programm, Münster 2004, protestantischerseits Bartmann / Hübner (Hrsg.), Patientenselbstbestimmung; begrifflich differenzierend Wilfried Härle, »Autonomie – ein viel versprechender Begriff«, in: W. H., Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005, S. 213–241, und hellsichtig Theda Rehbock, »Autonomie – Fürsorge – Paternalismus. Zur Kritik (medizin)ethischer Grundbegriffe«, in: Ethik in der Medizin, 14 (2002), S. 131–150. Heinz Schmidt, »Helfen – mit welchem Ziel? Zum diakonischen und gerontologischen Menschenbild«, in: Frank Martin Brunn / Alexander Dietz / Christian Polke / Sibylle Rolf / Anja Siebert (Hrsg.), Theologie und Menschenbild. Beiträge zum interdisziplinären Gespräch, Leipzig 2007, S. 71–78, hier S. 76. In gesellschafts- bzw. differenzierungstheoretischer Perspektivierung ist anzumerken, dass zumindest für spätmoderne, d. h. funktional ausdifferenzierte Gesellschaften von einer durchgängigen Kovarianz von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung resp. Abhängigkeit auszugehen ist. Funktionale gesellschaftliche Differenzierung bedeutet gleichzeitig Autonomie und Abhängigkeit von anderen. Ein höheres Maß an Selbstbestimmung lässt

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droht sie die Existenz nicht nur faktischer, sondern auch unvermeidbarer Abhängigkeiten zu verdecken.27 Die Vorstellung des starken, autonomen und selbstbestimmten Menschen ist hierin auf irreführende Weise reduktionistisch und führt – in der Phase der Radikalisierung der Abhängigkeitsbeziehungen – zu einer systematisch verzerrten Wahrnehmung des hohen Alters. Eine weitere Gefährdung geht von der Macht der Selbstbestimmung aus, insofern sie in faktischen Beziehungsgefügen auch zur Ausübung von Herrschaft dient – einer Herrschaft, die als zerstörerische Selbstdurchsetzung andere Menschen erniedrigt und speziell solche, die unterstützend tätig sind, manipuliert, verletzt oder gar demütigt. Die dritte Gefährdung zeigt die Verletzlichkeit des Lebens an. Der Verlust der Selbsterhaltung, der Zugänglichkeit des eigenen Lebens, ja letztlich der weitgehende Selbstverlust bei fortgeschrittener Demenz zeigt den Voraussetzungsreichtum von Autonomie und deren Vernetzung mit Fürsorge an.28 Der Auferweckung Jesu Christi entspringt die Hoffnung auf eine Bewahrung der Person, die zugleich deren Würdigung, Erhebung und Verherrlichung ist. Weder die Auflösung noch die Vernichtung der Identität ist ein Moment der christlichen Hoffnung, sondern die realistische Würdigung eines zu verantwortenden Lebens. Die stets von Momenten der Einschränkung anderer geprägte Autonomie wird zu einer die Freiheit anderer Menschen fördernden Autonomie. Das kommende und schon gegenwärtige Reich Gottes gewinnt seine Macht durch die freie, d. h. autonome Selbstzurücknahme zugunsten anderer, die sich in den für sie geöffneten

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sich stets nur um den Preis einer steigenden Abhängigkeit erzielen. Wer so autonom ist, dass er/sie statt zu arbeiten einen Traumurlaub in der Karibik antreten kann, tritt in vielfältige neue Abhängigkeiten ein, die von den Technikern für die Flugzeugwartung bis zu den Mitarbeitern der Kreditkartenfirma reichen. Kurz: Nur förderliche Dependenzbeziehungen ermöglichen Selbstbestimmung. Wenn Abhängigkeiten als Beschädigungen von Identität und Freiheitsverlust als Verlust der Würde angesehen werden, dann erscheint darin eine neue Form der Leibfeindlichkeit, die die realen leibbezogenen, durch Geben und Empfangen geprägten Dependenzbeziehungen faktisch leugnet. Instruktiv an dieser Stelle Judith Butler: »Mit ›Künsten der Existenz‹ befasst, ist dieses Subjekt sowohl gefertigt als auch fertigend, und die Grenze zwischen seinem Geformtsein und seinem Formen ist, falls überhaupt, nicht leicht zu ziehen. Denn ein Subjekt ist nicht geformt und beginnt dann unvermittelt, sich selbst zu formen. Im Gegenteil instituiert die Bildung des Subjekts eben jene Reflexivität, die ununterscheidbar die Bürde der Formation auf sich nimmt. Die ›Ununterscheidbarkeit‹ dieser Grenze ist genau die Stelle, wo sich soziale Normen und ethische Forderungen kreuzen und wo beide im Kontext einer Selbst-Bildung hervorgebracht werden, die niemals ganz vom Selbst ausgeht« (Judith Butler, »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 50 [2002], S. 249–265, hier S. 264f.). Zum schwierigen Verhältnis zwischen Autonomie und Fürsorge siehe Theda Rehbock, Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns, Paderborn 2005, Kapitel X.

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Raum entwickeln.29 Die Hoffnung auf das Reich Gottes zielt auf eine Selbstständigkeit und gewürdigte Identität, die zugleich anderen förderlich zugewandt ist. Diese Freiheit kann sich in Formen der förderlichen Selbstzurücknahme und der Kreativität für andere widerspiegeln – wenngleich an diesem Punkt im dritten und im vierten Lebensalter die Akzente zweifellos unterschiedlich gesetzt sein dürften. 3.2. Rechtfertigung im Fragment – Altern jenseits des Gesetzes der Vollendung In einer Fülle von wissenschaftlichen und weisheitlichen Deutungen des Alters findet sich der Gedanke einer am Lebensende zu erzielenden Vollendung des Lebens. Dem zumindest im hohen Alter zu zahlenden Preis eines Verlustes an Freiheit und selbstbestimmtem Leben korreliert scheinbar eine am Ende zu erlangende Ganzheit und Vervollkommnung des Lebens. Diese Figur der Steigerung und Vervollkommnung tritt in verschiedenen Facetten auf. So steht für den Heidelberger Alternsforscher Andreas Kruse am Ende eines konsequenten »Werdens zu sich selbst« ein »Mensch, der sich nicht an Besitz bindet und dem es schließlich gelingt, die Bindung an sein Ich zu lösen«30. Ein solcher Mensch, der »von seinem Ich loslassen« kann, kann – so Kruse – auch den Tod in sein Leben integrieren.31 Nur durch diese von dem alten Menschen zu erbringende Identitätsleistung kann das Altern und letztlich das Sterben gelingen.32 Der innere Rückzug von der Welt und letztlich vom Ich ermöglicht in letzter Konsequenz eine Versöhnung mit dem Tod. Im Leben selbst wird so der Tod durch die paradoxe Leistung der Lebensverneinung bewältigt. Obwohl es im hohen Alter gilt, das Ich loszulassen, ist dies im Grunde eine letzte, überaus anspruchsvolle Steigerung der Identitätsarbeit. In ähnlicher Weise konzipiert der Philosoph Thomas Rentsch im Horizont einer Ethik des guten Lebens das Altern als »Werden zu sich selbst«. Das Leben stellt in seiner gegebenen und zu erlangenden Ganzheit eine permanente Interpretationsaufgabe dar. Rentsch konzediert: 29

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Zur Charakterisierung des Kommens des Reiches Gottes im Vollzug freier Selbstzurücknahme siehe Michael Welker, »Das Reich Gottes«, in: Evangelische Theologie, 52 (1992), S. 497–512. Andreas Kruse, Das letzte Lebensjahr. Zur körperlichen, psychischen und sozialen Situation des alten Menschen am Ende seines Lebens, Stuttgart 2007 (Grundriss Gerontologie 21), S. 67. Ebd., S. 71. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der dahinter stehenden Identitätspsychologie siehe Gunda Schneider-Flume, Alter – Schicksal oder Gnade? Theologische Überlegungen zum demographischen Wandel und zum Alter(n), Göttingen 2008, S. 66ff.

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Die Gebrochenheit im Werden zu sich selbst und die radikalisierte Zeiterfahrung verstärken sich durch den Verlust von Partnern und Angehörigen, Freunden und Verwandten der eigenen Generation […]. Die Erfahrung der Vergänglichkeit und der Flüchtigkeit manchen Glücks vermag eine Kraft zur Desillusionierung und zur gelassenen Täuschungslosigkeit wach zu rufen, die […] die höchste Form existentieller Souveränität und humaner Selbstbehauptung ist.33

Den hier nur kurz angerissenen Alternsdeutungsentwürfen ist gemeinsam, dass sie am Lebensende eine zum körperlichen Verfall umgekehrt proportional verlaufende geistige Rundungs- und Vollendungsleistung verlangen. Den abnehmenden körperverbundenen Möglichkeiten korrespondiert eine letztlich geistige Selbstwerdung, gedacht als Sammlung, Entleerung, Annahme oder Integration. In einer schöpfungstheologischen Perspektivierung lässt sich dieser Aspekt der Vollendung durchaus würdigen. Die Hoffnung auf ein erfülltes, langes Leben, das Motiv einer »Sättigung mit Länge an Tagen« (Ps 91,16) enthält durchaus eine Bewertung des hohen Alters und des kommenden Todes, in der ein Leben mit Gott am Ende einen vollendenden Abschluss finden kann. »So ist die für das Verständnis von Ps 91,16 wichtige Wendung ›alt und lebenssatt‹ positiv zu deuten; gemeint ist nicht Lebensüberdruss, sondern ein langes, reiches und erfülltes Leben.«34 Im Unterschied zu einer vervollkommnenden ›Identitätsarbeit‹ handelt es sich hierbei um etwas, das wohl erhofft, aber nur von Gott empfangen werden kann. Eine empirische, den phänomenologischen Befund aufnehmende Wahrnehmung von Menschen in der vierten Lebensphase dürfte unschwer den normativen Zumutungsgehalt dieser Vervollkommnungsentwürfe hervortreten lassen. Theologisch betrachtet wird mit diesem normativen Zumutungsgehalt den Menschen ein schweres Gesetz der Vervollkommnung auferlegt.35 33

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Thomas Rentsch, »Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Ethik der späten Lebenszeit«, in: Peter Borscheid (Hrsg.), Alter und Gesellschaft, Stuttgart 1995, S. 53–62, hier S. 59f. Die Totalität des Lebens wird greifbar in der Unvertretbarkeit durch andere. Dieses Gesetz der aktiven Deutungsleistung erstaunt bei Rentsch umso mehr, als er wie wenige Philosophen der Gegenwart die Endlichkeit, Verletzlichkeit und Gefährdung des Lebens erkennt und das Altern als Radikalisierung dieser Grundsituation begreift. Die theologisch zu stellende Frage bleibt, ob die Menschen an der unvertretbaren Eigenverantwortlichkeit ihres Lebens nicht scheitern müssen und das Evangelium an dieser Stelle des brüchigen Fragments nicht vor Verschleierungen und Selbsttäuschungen bewahren hilft. Siehe Kathrin Liess, »Sättigung mit langem Leben. Vergänglichkeit, Lebenszeit und Alter in den Psalmen 90–92«, in: Michaela Bauks / K. L. / Peter Riede (Hrsg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie (Festschrift Bernd Janowski), Neukirchen-Vluyn 2008, S. 329–342, hier S. 334, mit weiteren Verweisen und Ausführungen zur Sache. Vgl. dagegen Irmhild Saake, die für die spätmoderne Gesellschaft hinsichtlich der Deutung des späten Alters resümiert: »Die moderne Altersphase findet ihren Sinn in der Repräsentation von Sinnlosigkeit« (Irmhild Saake, Theorien über das Alter. Perspektiven einer

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Eine versöhnungstheologische Sicht wird festhalten, dass die dem ganzen Menschen mit seinem ganzen gelebten Leben geltende Gnade Gottes den Menschen inmitten seiner faktisch fragmentarischen Existenz und seinem durch und durch dem Fragment verhafteten Leben trifft. Die rechtfertigungstheologische Pointe der Zuwendung Gottes ist die Befreiung von der Vollendung des gelebten Lebens – auch die Befreiung von einer Ideologie des Fortschritts und der Entwicklung – und eröffnet so Spielräume der realistischen Wahrnehmung und Gestaltung von Ichverlust und Identitätskrisen. Ohne die Relativierung dieser Ideologie kann ein Leben ohne bewusste Selbstkontrolle und geistige Vitalität, mit körperlicher und geistiger Einschränkung nur als lebensunwert, weil zur Identitätsarbeit nicht mehr fähig betrachtet werden.36 Nicht zuletzt ist die Identitätsarbeit stets gefährdet und bedroht, nicht nur durch die eigene Intransparenz, sondern auch dadurch, dass die Außenperspektiven auf das eigene Leben, aus denen die Identität stets mit erwächst, auch von Fälschung, Täuschung, Lüge und Niedertracht bedroht sind. Die Unmöglichkeit der Vollendung des eigenen Lebens und d. h. auch der eigenen Identität kann im Horizont der bedingungslosen Zuwendung zum alten Menschen als geschenkte Freiheit erfahren werden. Die Rechtfertigung des sündigen Menschen ist die Rechtfertigung eines Lebens als unvollendetes Projekt. Das Leben kann unabgeschlossen bleiben, da es nicht recht gemacht werden muss.37 Das Fragmentarische des Lebens wird manifest in der positiven wie widerständigen Anerkennung des Gewesenen, insbesondere des Unvollständigen und der verfehlten Chancen.38 Die Vorstel-

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konstruktivistischen Alternsforschung, Opladen u. a. 1998 [Studien zur Sozialwissenschaft], S. 160). An diesem Punkt klassisch Gunda Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 2002 (Transparent 66), S. 21–48; mit einer pointierten Analyse Wolfgang Drechsel, »Der lange Schatten des Mythos vom gelingenden Leben. Theologische Anmerkungen zur Angst vor der eigenen Endlichkeit und zur Frage nach der Seelsorge«, in: Praktische Theologie, 95 (2006), S. 314–328. Für eine ähnliche Sicht, allerdings mit der inversen (eher lutherischen) Pointe, dass die Anerkenntnis der Fragmentarität erst die Gnade Gottes erkennen lässt, siehe Henning Luther, »Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit«, in: Wege zum Menschen, 43 (1991), S. 262–273, hier S. 271ff.: »Der Aspekt der Gnade und des Beschenktwerdens, des Nicht-aus-sich-selbst-bewerkstelligen-Könnens kommt erst zur Geltung, wenn die Fragmentarität unseres Lebens ohne Schaden und ohne Selbstverlust akzeptiert werden kann. […] Oder anders: Erst wenn wir uns als Fragmente verstehen, erkennen wir unser Angewiesensein auf Vollendung, auf Ergänzung an. Erst und nur wenn wir aus diesem Verwiesensein unserer fragmentarischen Existenz leben, sind wir gerechtfertigt, nicht aber, wenn wir bereits versuchen, ganz zu sein.« Henning Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, S. 267f., differenziert verschiedene Typen des Fragmentarischen: »Mindestens zwei Bedeutungen des Fragments sind […] zu unterscheiden. Das sind zum einen Fragmente als Überreste eines zerstörten, aber ehemals Ganzen, der Torso, die

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lung des bleibenden Fragmentes eröffnet eine ehrliche und realistische Sicht auf das gelebte Leben und die noch offenen Möglichkeiten. Sie erschließt Freiräume in den prinzipiell unabschließbaren Konflikten um die Zuschreibung lebensgeschichtlich wichtiger Ereignisse – entweder als eigene freie Handlung oder als Erleben der Übermacht und des Einflusses anderer. Der Umbau der Möglichkeitshorizonte zwingt dazu, sich zu relativ Unabänderlichem in der doppelten Gestalt der Konsequenz und des Kontingenten zu verhalten. Jenseits der Alternative von ›Schicksal‹ und ›Gnade‹ sind es die differenzierten Sprachformen des Gebetes, in denen sich Lebenshaltungen zum Fragment widerspiegeln: Lob, Dank, Bitte, aber auch die widerständige Klage. Die der Erlösung entsprechende Lebensfülle ist nicht als Ganzwerdung oder Einswerdung mit irgendeinem Grund oder einem Göttlichen zu deuten. Pointiert gesprochen: Dieses gelebte Leben wird weder in diesem, noch in einem anderen Leben vollendet. Die Neuschöpfung von Himmel und Erde ist eine Zuwendung Gottes, die diesem unvollendeten Leben seine letzte Gestalt gibt – ohne dass die Signatur des Fragmentarischen weggenommen würde. Das Hoffnungsbild der ›abgewischten Tränen‹ (Apk 21,4) zeigt eine intensive göttliche Wahrnehmung und Reaktion auf die mit dem Fragment verbundenen Leiden an. Und doch hoffen Christen auf eine göttliche Lebensgabe, die im Akt der Gabe eine Grenze zwischen dem Fragment und dem zu Unrecht zerstörten und beraubten Leben zieht. Die Opfer von Gewalt und Lebenszerstörung durch kulturelle, naturale, ökonomische und nicht zuletzt auch religiöse Kräfte hoffen zu Recht nicht auf eine geschichtsnihilistische Vergleichgültigung unter dem Vorzeichen des Fragments, sondern auf eine ihnen zu Gute kommende Teilhabe an der göttlichen Lebensfülle. Die Erfahrung massiver Lebenszerstörung ruft nach der schöpferischen Gerechtigkeit Gottes, die das Fragment nicht vollendet, aber in ihre Fürsorge nimmt und in gewissem Sinne heilt. 3.3. Erinnern, Vergessen, Versöhnen und Danken Innerhalb der Alternsforschung, aber auch im kulturellen Umgang mit dem Alter rückt der Zusammenhang zwischen Erinnern, Identität und Narrativität verstärkt in den Vordergrund. Menschliche Identität ist über Ruine, also die Fragmente aus Vergangenheit. Zum anderen sind da die unvollendet gebliebenen Werke, die ihre endgültige Gestaltungsform nicht – noch nicht – gefunden haben, also die Fragmente aus Zukunft.« Nicht zuletzt bleibt auch im sozialen Leben vieles brüchig, ungesagt, unvollendet und gescheitert.

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weite Strecken narrativ konstituiert, dies haben in den vergangenen Jahren wissenssoziologische wie philosophische Arbeiten zu Genüge dargelegt.39 Erzählend eignet sich der Mensch und eignen sich Gesellschaften ihre Umwelt an und erzählend wird das individuelle wie kulturelle Gedächtnis gepflegt. Im Imaginationsraum der Narration werden Vergangenheiten und Zukünfte antizipiert, entworfen, ausgetestet und verhandelt. In diesen Prozessen modellieren Menschen und Gesellschaften nicht nur ihre Umwelten, sondern auch sich selbst.40 Sie sind nicht nur ›in Geschichten verstrickt‹, sondern erwachsen aus diesen heilvollen wie unheilvollen Verstrickungen.41 Diese Einsichten werden zunehmend auch in der praktischen Arbeit mit alten Menschen wie auch in der Alternsforschung rezipiert.42 Die Relevanz der narrativen Erinnerung ist ohne Zweifel phänomengestützt: Wer erinnert nicht die alten Männer auf den Bänken in Asterix auf Korsika?43 Wer möchte bestreiten, dass angesichts eines relativ langen gelebten Lebens und der eingeschränkten Lebenskreise der vierten Altersphase die erzählende Vergegenwärtigung von Erlebtem an Bedeutung gewinnt? Schöpfungstheologisch betrachtet spannt die zu würdigende narrativ gestützte Erinnerung vergangene Erfahrungsräume auf, die in gewisser Weise bewohnbar werden. Erzählend werden der vergangene Segen des Lebens und die Einbettung in Sozialitäten präsent gehalten. Hierzu gehört auch das noch in das sehr hohe Alter reichende Leibgedächtnis, das noch lange Anschlüsse an den Stil, den Habitus und die materielle Umwelt der Vergangenheit ermöglicht. Erinnern macht die Fülle des vergangenen Lebens gegenwärtig. In einer versöhnungstheologischen Perspektive kommen aber auch die unauflöslichen Brüche, Spannungen und Konflikte in den Blick. Und 39

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Die narrative Verfasstheit zeigt sich insbesondere in Bruch- und Übergangssituationen wie z. B. Krankheit oder – bei Gesellschaften – in massiven kulturellen Umbrüchen und historischen Zäsuren. Für ein Panorama der gegenwärtigen Forschung siehe Lynn M. Harter / Phyllis M. Japp / Christina S. Beck (Hrsg.), Narratives, health, and healing. Communication theory, research, and practice, Mahwah, NJ 2005; Cheryl Mattingly, Healing dramas and clinical plots. The narrative structure of experience, Cambridge und New York, NY 1998 (Cambridge Studies in Medical Anthropology 7) und für schwere und chronische Krankheit den Klassiker Arthur Kleinman, The illness narratives. Suffering, healing, and the human condition, New York 1988. Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996 (Übergänge 26). Für einen frühen Klassiker, der im Horizont der Phänomenologie und auf der Basis einer Rechtsphänomenologie arbeitete, siehe Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg 1953. Siehe exemplarisch Martina Kumlehn, »Vom Vergessen erzählen. Demenz und Narrative Identität als Herausforderung für Seelsorge und theologische Reflexion«, in: M. K. / Thomas Klie (Hrsg.), Aging – Anti-Aging – Pro-Aging. Altersdiskurse in theologischer Deutung, Stuttgart 2009, S. 201–212, mit Verweisen auf vielfältige literarische Verarbeitung des Themas. René Goscinny / Albert Uderzo, Asterix auf Korsika, Stuttgart u. a. 1999.

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doch erscheint mir ein nüchterner und realistischer Blick auf die narrative Erinnerung deutlich zu machen: Erinnerung ist auf mehrfache Weise prekär und Erinnerung ist gefährlich. Für eine die Fragilität und Fragmentarität menschlichen Lebens vergegenwärtigende theologische Anthropologie sind menschliches Erinnern und menschliches Gedenken nicht die goldenen Schlüssel für ein beglückendes Altern. Zunächst ist Erinnerung prekär, labil und gefährdet, weil sie eine neurophysiologische Grundlage hat und diese im hohen Alter zunehmend zerbrechen kann. Auch dann, wenn keine vaskuläre Demenz und keine Alzheimer-Demenz den Verfallsprozess rapide beschleunigt, nimmt die Gedächtnisleistung faktisch ab.44 Auch das so genannte Altgedächtnis bleibt davon nicht verschont. Die eigene Erinnerung kann letztlich die eigene Identität nicht zureichend stützen und kontinuieren. Es ist der geistige Akt des Erinnerns und Gedenkens, der in seiner Leibgebundenheit an seine eigene Fragilität und Endlichkeit erinnert wird – wenngleich das ›Gedächtnis des Leibes‹ die aktive Erinnerung noch lange überdauern kann.45 Nun kann man mit Recht darauf verweisen, dass das individuelle Gedächtnis zweifellos durch die Erinnerung anderer Menschen flankiert, gestützt und ergänzt werden kann, ja dass eine der Pointen des Verstricktseins in Geschichten ist, insofern diese immer geteilte Geschichten sind und diese Geschichten ein eigenes Gedenken mit sich führen. Menschen sind in und durch die Geschichten anderer, auch dann, wenn diese soziale Dimension der öffentlichen Person wie im Fall von schwer Demenzkranken von dem betroffenen Menschen nicht mehr selbst bewusstseinsmäßig eingeholt und nicht von ihm selbst sich selektiv zugeschrieben werden kann. An diesem Punkt führt das Konzept narrativer Identität zu einer Konstellation der Stellvertretung, die letztlich eine schrittweise Aufgabe der Kontrolle über die eigene Geschichte mit einschließt. Menschen können – wohl auf verschiedene Weise – als Lebende wie als Tote in dem Gedächtnis und in den Ereignissen anderer Menschen existieren. Diese Einsicht kann tröstend sein und motiviert Menschen, dafür zu sorgen, dass ihr ›Andenken bewahrt wird‹. Sie ist aber zugleich auch zutiefst beun44

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Selbstverständlich setzt der Befund einer Abnahme einen externen Beobachter oder eine Selbstbeobachtung voraus. Da das Gedächtnis kein Original kennt, sondern stets im Vollzug der Rekonstruktion konstruiert wird, tritt ein Vergessen erst in Grenzlagen und unter Sonderbedingungen der Beobachtung zweiter Ordnung zutage. Daher ist das Vergessen vielfach dem vergessenden Menschen nicht gegenwärtig. Die leidvolle Wahrnehmung des Vergessens ist Folge der Einbindung in die Kommunikation geteilter Erinnerung – sozusagen der Preis der Sozialität. Zum »Gedächtnis des Leibes« und seinem Verhältnis zu explizierbarer Erinnerung siehe Thomas Fuchs, Leib – Raum – Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000, S. 316–332.

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ruhigend. Es gilt anzuerkennen, dass auch die narrative Gestalt dieser irdischen ›objektiven Unsterblichkeit‹, wie sie Alfred N. Whitehead genannt hat, selbst stets manipulationsgefährdet, instabil, hoch selektiv, unbarmherzig und alles andere als gerecht ist. Die ›objective immortality‹ eines Goethe oder Michael Jackson überragt die vielen unbekannten, in Einsamkeit alternden Menschen. Wie ›ewig‹ die ›objektive Unsterblichkeit‹ im Internet sein wird, wird sich noch erweisen.46 Wer seine Erinnerung anderen übereignet, macht sich über die Maßen verwundbar. Aber noch der gelungene Akt des Erinnerns ist – realistisch und aufrichtig vollzogen – potentiell gefährlich. Die Erinnerung der eigenen Lebensgeschichte ist hinsichtlich der Zurechnung von Ereignissen entweder als aktive Handlung oder als passives Erleben selbst im engeren sozialen Umfeld vielfach hoch strittig.47 Selbst dann, wenn diese Zurechnungskonflikte hinreichend befriedet sind, sind die Erinnerungen auch Erinnerung an die Verfehlungen anderer, Erinnerung an die eigenen Versäumnisse, Fehlentscheidungen und nicht zuletzt an die Verfehlungen an anderen. Als Erinnerungen an Verfehlungen und Verletzungen anderer kann das Gedächtnis eine Eigendynamik mit sich aufdrängenden, unruhigen und unkontrollierbaren Erinnerungen entfalten. Traumatisierungen, Verletzungen an sich und anderen können im hohen Alter aktive Aktualisierungen erfahren.48 Aus ›guten Gründen‹ kann Verbitterung und Verdrängung gelebten Lebens das Leben im hohen Alter prägen. Unter versöhnungstheologischen Gesichtspunkten wird an dieser Stelle der Zusammenhang zwischen Erinnerung, Vergebung und Vergessen bedeutsam. »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren 46

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Die Verewigung durch Blogs und letztlich durch Internetfriedhöfe ist – kommunikationstheoretisch betrachtet – eine Verewigung einer Mitteilung, aber noch keine Kommunikation. Inwieweit das Material im Netz andere Bewusstseine erreicht und weitere Mitteilungen provoziert (und eben hierdurch erst zu Kommunikation wird), ist weithin unausgemacht. Zum Problem siehe Siegfried J. Schmidt, »Virtuelle Friedhöfe. Erst im Internet bist du wirklich lebendig«, in: Kathrin Fahlenbrach / Ingrid Brück / Anne Bartsch (Hrsg.), Medienrituale. Rituelle Performanz in Film, Fernsehen und Neuen Medien, Wiesbaden 2008, S. 281–291. Deshalb verharren die Erzählungen bei Generationen übergreifenden Familienfeiern oftmals auf unbedeutendem und eher irrelevantem Terrain und vermeiden aufgrund des polemogenen Charakters von narrativen Zeugnissen die Konfrontation von ›Geschichten‹. Die Generation der Kriegskinder rückt gegenwärtig in Altersabschnitte ein, in denen die Erinnerungen an die Bombennächte des 2. Weltkrieges eine machtvolle Aktualisierung erfahren. Vgl. Gereon Heuft, »Traumatisierung im Lebenslauf und Traumareaktivierung im Alter«, in: Luise Reddemann (Hrsg.), Psychotraumata. Primärärztliche Versorgung des seelisch erschütterten Patienten, Köln 2006, S. 54–63, und Hartmut Radebold / Gereon Heuft, »Bleiben (Kriegs-)Traumata potentiell lebenslang ein Risikofaktor? Wir haben eine Geschichte, wir sind eine Geschichte und wir verkörpern Geschichte«, in: Zeitschrift für Psychotraumatologie und Psychologische Medizin, 4 (2006), S. 39–50.

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Schuldigern« – so formuliert es Jesus für essentiell soziale und geschichtliche Wesen. Was das Vaterunser ins Auge fasst, ist eine Strategie oder eine Verfahrensroutine gegen den Vertrauensverschleiß, zugunsten eines Enttäuschungsabbaus und so gegen eine über die Zeit wachsende Zerrüttungsneigung in sozialen Beziehungen. Ohne Vergebung kann der Ausweg aus der belastenden Erinnerung nur das verdrängende Vergessen sein.49 Für den Menschen, der sich stets im ambivalenzgesättigten Feld von beglückender wie belastender Erinnerung und entlastendem und vermeidendem Vergessen bewegt, ist im Horizont der eschatologischen Erlösung eine doppelte Befreiung verheißen. Die Erlösung impliziert eine Befreiung aus der doppelten Viktimisierung der Traumatisierung und der ›Erinnerungshöllen‹, in denen Beschädigungen des Lebens gegenwärtig bleiben.50 Die Verheißung der ›abgewischten Tränen‹ enthält auch eine Heilung des »verletzten Gedächtnisses«.51 In der neuschöpferischen Zuwendung Gottes verlieren die vergangenen Beschädigungen ihre Macht. Entscheidend ist, dass Gott im innerkanonischen Gespräch nicht als der einfach alles Erinnernde52 erkannt wird, sondern als derjenige, der differenziert schöpferisch erinnert: aufdeckend, der Sünde nicht mehr gedenkend, schöpferisch kreativ und damit Zukunft eröffnend. An dieser schöpferischen und transformativen Erinnerung Gottes zu partizipieren ist die Hoffnung, die von der Auferweckung Jesu Christi ausgeht. In Gottes schöpferischer Erinnerung gibt es auch ein gezieltes ›nicht mehr Gedenken‹.53 Zugleich werden die Menschen auch von ihrem eigenen missachtenden Vergessen befreit und erkennen ihre segensreichen wie unheilvollen Spuren im Leben anderer.54 49

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Zum Problem L. Gregory Jones, »Healing the Wounds of Memory. Theology and Psychology on Salvation and Sin«, in: Mark R. McMinn / Timothy R. Phillips (Hrsg.), Care for the soul. Exploring the intersection of psychology & theology, Downers Grove, IL 2001, S. 241– 253; L. Gregory Jones, Embodying forgiveness. A theological analysis, Grand Rapids, MI 1995. Zum Problem siehe J. Christine Janowski, »Erinnerung und Vergessen im eschatologischen Horizont der ›schwierigen Vergebung‹. Zu Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen«, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, 22 (2008), S. 413–450 mit Bezug auf Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004 (Übergänge 50). Zum Begriff des »verletzten Gedächtnisses« siehe Paul Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 42004 (Essener kulturwissenschaftliche Vorträge), S. 98ff. So in prozesstheologischen Entwürfen, in denen in die ›consequent nature‹ Gottes alle Geschehen der Welt als realisierte Möglichkeiten eingehen. Siehe Bernd Janowski, »Schöpferische Erinnerung. Zum ›Gedenken Gottes‹ in der biblischen Fluterzählung«, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, 22 (2008), S. 63–89. Hierin liegt die erinnerungstheoretische Pointe des so genannten matthäischen Endgerichtes. Siehe Mt 25,31–46. Inwieweit dies dann die Hoffnung auf ein vollständiges Vergessen, eine annihilatio memoriae abzielt, ist in der gegenwärtigen erinnerungstheologischen Debatte umstritten. Für ein nach der Versöhnung zwischen Opfern und

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3.4. Leben in asymmetrischen Beziehungen: Gabe, Empfang, Raub Der Themenkomplex der dynamischen und asymmetrischen Beziehungen der Lebensgabe und des Lebensempfangs gewinnt im hohen Alter an Bedeutung, wenngleich er im Alltag nicht mit dieser Begrifflichkeit besetzt wird. Sowohl Gabe als auch Empfang vollziehen sich in verschiedenen Medien und sind doch stets auch auf das leibliche Leben bezogen. Dieses Thema bricht nicht nur, aber vornehmlich in familiären Beziehungen innerhalb und zwischen den Generationen auf, stets dann, wenn es um die Gabe und den Empfang von Fürsorge geht. Vor dem Hintergrund der intensiven Debatten der letzten Jahrzehnte um die Gabe resümiert Paul Ricœur: Der kritische Punkt scheint mir in der Frage zu liegen, ob sich die Gabe jenseits allen Austauschs zuträgt oder ob sie diesem nur in der kommerziellen Form des Austauschs entgegengesetzt ist. All die Paradoxien und Probleme der Gabe und der Vergebung, so scheint mir, kreisen um diese entscheidende Frage.55

Für die hier ins Auge gefassten Prozesse dürfte auch seine eigene Charakterisierung für die nicht-kommerzielle Form der Gabe zutreffend sein: »Der Austausch zwischen Nehmen und Geben, zwischen Geben und Nehmen«.56 Hierbei ist speziell die Würde des Nehmens nicht zu übersehen.57 Dass die Grenzen des Lebens nur durch die Fürsorge anderer, und d. h. durch Konstellationen der Asymmetrie zu bewältigen sind, ist evident und doch zugleich ungemein konfliktbesetzt. Doch in der dritten und vierten Lebensphase, wenn mehr oder weniger explizit Fragen der Lebensbilanz aufbrechen, drängt sich diese Tatsache auf mehreren Ebenen mit Macht auf: in Fragen des Erbes, der Pflege, der Verfügung von Zeit und Aufmerksamkeit etc. Nicht zuletzt ist es die leibliche Verfasstheit des personalen Lebens, die in sozialer Hinsicht vielfältige Asymmetrien der Lebensgabe und des Lebensempfangs schafft. Diese Beziehungen unterliegen selbstverständlich innerhalb der Lebensspanne dynamischen Entwicklungen und Wandlungen. Und doch sind zumindest im Lebensrückblick die Akte des Gebens wie auch die Akte des Nehmens nicht frei von

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Tätern stehendes Ende der Erinnerung plädiert Miroslav Volf, The end of memory. Remembering rightly in a violent world, Grand Rapids, MI 2006. Ricœur, Rätsel der Vergangenheit, S. 149. Ebd., S. 152. Zur Stellung der Fähigkeit des Nehmens siehe Andreas Kruse, »Selbstständigkeit, bewusst angenommene Abhängigkeit, Selbstverantwortung und Mitverantwortung als zentrale Kategorien einer ethischen Betrachtung des Alters«, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 38 (2005), S. 273–287, hier S. 279ff.

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Reziprozitätserwartungen.58 Dabei sind es die komplexen Gleichzeitigkeiten von Gabe und Empfang, die sowohl ein erfülltes Leben anzeigen wie auch Konflikte anziehen können. In einer schöpfungstheologischen Perspektivierung ist das Alter in der dritten wie auch in der vierten Lebensphase eine Zeit, in der sich das Leben als gesegnetes Leben erschließen kann. Der erlebten Fülle entspricht der Dank. Im hohen Alter wissen Menschen nicht nur um die eigenen Investitionen in Kinder, Partnerschaften, Familienangehörige, in den Beruf oder in außerfamiliäre Engagements. Sie wissen im Rückblick, wie weitreichend ihr Leben verdanktes Leben ist – auch dann, wenn das eigene leibliche Leben in seinen zunehmenden Einschränkungen dies in seinen Kräften und Kompetenzen nicht mehr widerspiegelt. In der Perspektive des versöhnenden Christusgeschehens wird an der Christusfigur selbst aber auch eine unheilvolle, bis in eine paradoxe Konstellation führende Verzerrung sichtbar. In der Suche nach leiblicher Gemeinschaft adressiert er mit seiner Lebensgabe die Dynamiken der soziokulturellen wie religiösen Ausgrenzung und öffnet Menschen für Gott, die dadurch wieder förderliche Beziehungen zu Mitmenschen entwickeln (Lk 19,1–11). Diese gebende Liebe stellt sich gewinnend gegen lebensfeindliche, den Schöpfer und die Schöpfung verdunkelnde Verwerfungen, Brüche, Grenzziehungen, Exklusionen, Gefangenschaften und Ohnmachten. In dieser Liebe lebt Jesus die Nähe zum gebrochenen, gedemütigten und verletzten Leben. Das Leben Jesu selbst würdigt die im biologischen wie kulturellen Gabentausch Marginalisierten. Doch dieser Gabe im Leben Jesu korrespondiert letztlich der sich in der Kreuzigung manifestierende Raub von Leben. In einer tiefen Ambivalenz ist das Kreuz der Höhepunkt seines gebenden Lebens – und hierin ein Opfer – und zugleich der zerstörerische Lebensraub – eine Ambivalenz, die Gott selbst in der Auferstehung auflöst. Das Christusgeschehen eröffnet darin eine ehrliche und realistische Sicht auf die das Leben durchziehenden Ambivalenzen der Lebensgabe und des Lebensempfangs. Die göttliche Wahrnehmung und Fürsorge, und in Entsprechung auch die Wahrnehmung und Fürsorge der Christen, gilt den Menschen, die im biologisch-leiblichen Leben wie auch im soziokulturellen Leben mit Einseitigkeiten und Verlusten zurechtkommen müssen, die – jenseits der Illusion der Symmetrie und ausgeglichenen Reziprozität – durch Krankheit, Gewalt und destruktive Beziehungen in die Grenzregionen des Lebensraubes gerieten. An diesem Punkt eröffnet die Auferstehung Jesu Christi eine Hoffnung, nach der Gott dem Lebensraub und dem Missbrauch des geschenk58

Dass der Empfang von Lebensgaben ohne Reziprozitätsmomente überaus schwierig sein kann, zeigt sich in den Ängsten vor ›Autonomieverlust‹ und einer Situation überwiegender Passivität in der Pflege.

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ten Lebens mit einer heilvollen und schöpferischen Zuwendung zum gelebten Leben begegnet. Auch nach einem mit Blick auf manche klassische Endgerichtsvorstellungen ›leergefegten Himmel‹ muss an dieser Hoffnung auf Gottes neuschöpferische Zuwendung zu beschädigtem Leben festgehalten werden. Nicht in einer Vertröstung liegt die Pointe dieser Hoffnung, sondern in einer Würdigung des durch Krankheit, Gewalt und andere Ereignisse beschädigten und hierin beraubten Lebens. Die Realistik dieser Hoffnung auf eine zukünftige Verwandlung nimmt die Konkretheit leiblichen Lebens ernst.59

4. Abschließende Bemerkungen Die theologische Anthropologie muss sich der Herausforderung stellen, einerseits Erkenntnisse der Alternsforschung sensibel zu rezipieren und doch andererseits auch den Differenzierungsreichtum der normativen Textwelten des Christentums zur Geltung zu bringen. Nur so kann ein Gespräch in Gang kommen, in dem die Theologie nicht nur Echo anderer Wissenschaften ist, sondern selbst lernend auch anderes einbringt. In den vorstehenden Überlegungen wurden daher – höchst kontingent – vier in verschiedenen Forschungen diskutierte Problemfelder aufgegriffen und diese dann jeweils in einer dreifachen Brechung – wenn auch nur skizzenhaft – theologisch perspektiviert. Schöpfung, Versöhnung in Christus und die Hoffnung auf Erlösung charakterisierten die drei theologischen ›Hinsichten‹. Gegen ein zu optimistisches identitätspolitisches Leistungsprinzip, aber auch gegen eine pessimistische Anthropologie ist festzuhalten, dass der alte Mensch im hohen Alter ein überaus komplexes ›Zeichen‹ ist. Ist das Altern eine »Radikalisierung der menschlichen Lebenssituation«60, dann muss diese menschliche Lebenssituation im Lichte der Geschichte Jesu Christi entfaltet werden: in der Unterscheidung der die Schöpfung würdigenden Inkarnation von dem in der Zuwendung zum Menschen das menschliche Unheil entlarvenden Kreuz und nicht zuletzt von der in der Auferstehung manifesten Hoffnung auf eine Erlösung dieser Schöpfung. So erinnert der Mensch im hohen Alter an die Tatsache des verdankten 59

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Für diese eschatologische Entwicklungsdynamik der letztlich an Jesus Christus orientierten Gottebenbildlichkeit des Menschen siehe Eckart Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament, Tübingen 2006, S. 217–222, und dogmatisch Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985, S. 223–235. Thomas Rentsch, »Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Ethik der späten Lebenszeit«, in: Peter Borscheid (Hrsg.), Alter und Gesellschaft, Stuttgart 1995, S. 53–62, hier S. 58.

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und gesegneten Lebens auch dann noch, wenn sich die Erfahrungen der Endlichkeit und Verletzlichkeit des Lebens in Krankheit, Einsamkeit und engen Verstehensgrenzen intensivieren. Der Mensch im hohen Alter verkörpert und bezeichnet hierin die Grenze der semiotischen und narrativen Weltbewältigung und zugleich die Hoffnung auf Gottes schöpferische Erinnerung. Er wird zum Zeichen des begnadeten Fragments, das sich durch Hoffnung und Klage der Glättung verweigert. Zugleich erinnert er wiederum zeichenhaft an die ambivalente, unvermeidbare Asymmetrie menschlicher Lebensgabe. Als Zeugnis der riskanten Endlichkeit kann der Hochbetagte zum Zeichen der verheißenen neuschöpferischen Zuwendung Gottes werden. In aller Ambivalenz bleibt er Zeichen des gesegneten, gefährdeten, geretteten und nicht zuletzt erlösten und vollendeten Lebens.

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Altersstufen als Narrative und Metaphern in mittelalterlichen Wissens- und Erziehungsdiskursen This article examines caesuras of age as presented in representative forms of medieval discourse. Within this discourse, the structuring of life’s different phases is closely tied to various narrative and metaphorical operations. Thus, theology and natural philosophy generally re-conceptualize the linearity and finality of human life as meaningful circular figures. Analyzing the educational theories of Vincent of Beauvais and Aegidius Romanus, the author describes the ways in which possibilities for modeling the caesuras of human life are subject to the particular perspective of one or another discipline. The scope of the analysis ranges from a theology to politically oriented moral philosophy, with the former focusing on the history of the subject and the subject’s unfolding inner sense of time, the latter on a teleological model of increasing competence to rule or govern.

1. Einleitung Vorstellungen vom Prozess des Alterns beziehen ihre Geltung aus ganz verschiedenen Einstellungen. Der Mediziner nimmt Alterszäsuren anders wahr als der Soziologe oder Psychologe, und der Philosoph und der Theologe schauen noch einmal anders auf das Leben. Der Blick variiert je nach disziplinärer Perspektive. Zwar wird ein gewisser Grundkonsens über Jugend, Reife und Alter vorausgesetzt, ihre jeweilige Konzeption und ihre Relation zueinander aber variieren je nach vorgegebenem Blickwinkel. Aber nicht nur synchron rivalisiert eine Vielzahl von disziplinären Zugriffen, auch diachron verändern sich die Konzepte. Wie die Wissenschaft ihre Erkenntnisse über Altersstufen sukzessiv weiter entwickelt, neue Wissenschaften differenziertere und empirisch abgesicherte Einsichten gewinnen, so modifizieren sich die Vorstellungen von Altersstufen auch durch die Veränderung der Sozialstruktur. Antike, Mittelalter und Neuzeit entwerfen offenbar je nach wissenschaftlichen, weltanschaulichen oder sozialen Vorgaben andere Modelle. Die Matrix der Alterszäsuren besitzt auch ihre epochenspezifische Signatur. Verortet das Mittelalter Alterstufen im Spannungsfeld von Theologie, Astrologie und Humoralpathologie, so

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die Moderne im Horizont von Soziologie, Biologie, Medizin und Psychologie. Die mittelalterlichen Theorien über Alterszäsuren sind wiederholt dargestellt worden.1 Die Forschung unterscheidet verschiedene Modellierungen: erstens das einfache ternäre Schema augmentum, status und decrementum, das den Lebenslauf in die natürliche Spannung von Wachstum, Reife und Verfall stellt; zweitens das humoralpathologische Vierstufenmodell pueritia, adolescentia, iuventus und senectus, das das Leben systematisch den Qualitäten, Elementen, Säften und Temperamenten zuordnet; drittens verstärkt seit dem 12. Jahrhundert das astrologische Konzept, das das Menschenleben den sieben Planeten- und zwölf Tierkreiszyklen unterwirft; viertens schließlich den theologischen Entwurf der sechs Lebensalter, die in Korrespondenz zu den sechs Schöpfungstagen und sechs Weltaltern stehen.2 In Anzahl und Ausdehnung der Altersstufen können sich die Modelle graduell voneinander unterscheiden, konstant aber bleibt die Abfolge gestufter Einheiten. Solche theoretisch und historisch fundierten Modelle, die je für sich ihren eigenen Bezugsrahmen und ihre eigene Logik besitzen, sind vielfach miteinander kombinierbar und bezeugen gerade dadurch den Ordnungszusammenhang von Mensch, Natur und Geschichte. Die Altersstufen sollen in der Folge nicht nur vor ihrem disziplinären Hintergrund beschrieben werden, sondern auch als Wissensordnungen. Unter dem Aspekt der Wissensordnungen ist vor allem nach den theoretischen und symbolischen Modellen, ihren Formen und Funktionen, zu fragen. Wissensordnungen setzen sich aus Strukturen und Semantiken zusammen, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit, von Natur, Gesellschaft und Geschichte, determinieren. Alterszäsuren wären unter dieser Perspektive zum einen als systematische Ordnungen, zum andern als Sinnbildungsmuster zu beschreiben. Sie vermitteln einerseits eine Struktur des menschlichen Lebens, die Kontinuität und Diskontinuität verbindet. Die immer wieder ähnlich und doch unterschiedlich entworfenen Altersstufen konstituieren eine Struktur, die semantisch stereotyp besetzt ist und in unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen wirksam wird: z. B. in 1

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Adolf Hofmeister, »Puer, iuvenis, senex. Zum Verständnis der mittelalterlichen Altersbezeichnungen«, in: Albert Brackmann (Hrsg.), Papsttum und Kaisertum. Forschungen zur politischen Geschichte und Geisteskultur des Mittelalters. Paul Kehr zum 65. Geburtstag, München 1926, S. 287–316; Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, mit einem Vorwort von Hartmut von Hentig hrsg. von Wolf Lepenies u. Henning Ritter, München 1975, S. 69–91; John A. Burrow, The Ages of Man. A Study in Medieval Writing and Thought, Oxford 1986; Elisabeth Sears, The Ages of Man. Medieval Interpretations, Princeton 1986; Elisabeth Vavra (Hrsg.), Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Internationaler Kongress Krems an der Donau 16.–18. Oktober 2006, Wien 2008. Vgl. Burrow, The Ages of Man, S. 5–94.

Altersstufen als Narrative und Metaphern

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Naturphilosophie, Religion, Ethik und Politik. Die topische Ordnung des Lebens wird auf spezifische Diskursformationen hin fokussiert. Die Topik erweist sich als der Ort sozial geteilten Wissens, das konventionalisierte Überzeugungen speichert und in Formeln verdichtet. Andererseits etablieren Altersstufen eine symbolische Ordnung, die in Sequenzen und Bildern zum Ausdruck kommt. Über Narrative und Metaphern wird die Thematik von Struktur und Prozess mit der des Sinns verbunden. Aus diesem Blickwinkel werden Alterszäsuren einer narratologischen und metaphorologischen Betrachtung unterzogen.

2. Das philosophische Modell Das menschliche Leben als einheitlichen und zugleich gestuften Vorgang zu beschreiben, bedarf einer Rahmung und einer Anschauungsform, um überhaupt als sinnvoll aufgefasst werden zu können. Ein Prozess, dessen Komplexität jedes Vorstellungsvermögen überschreitet, kann nicht allein diskursiv erfasst werden, sondern muss auch über Schemata und Topoi, über Narrative und Metaphern, in Anschauung überführt werden: das Leben etwa als Bogen, Kreis, Zyklus oder Weg. Die verschiedenen Figurationen werden als Zeitstrukturen entworfen, denen eine natürliche Finalität eingeschrieben ist. Das biologische Modell des Aristoteles geht von einer natürlichen Matrix, von Wachstum, Reifen und Welken, aus und legt ihr eine einfache logische Operation zugrunde. Das Leben wird in drei Phasen eingeteilt, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, eine Grundstruktur, die allem Lebendigen eigen ist.3 Indem das Leben einen geschlossenen Rahmen, eine Zeitstruktur und eine Finalität erhält, nimmt es formal Elemente einer Erzählung auf. Aristoteles definiert analog in der Poetik den Mythos als ein Ganzes: Ein Ganzes aber sei, was einen Anfang, eine Mitte und ein Ende habe, und jede Erzählung unterliege diesem Prinzip.4 Leben und Erzählung weisen eine homologe Struktur auf. Die logische Matrix des Lebens aber unterscheidet sich von einer Erzählung da3

4

Vgl. Vinzenz von Beauvais, Speculum naturale, Graz 1624, XV, 36: Quicquid in hoc mundo nascitur & occidit, ex quatuor elementis est compositum, tribus interstitijs educatum, scilicet principio medio & fine (Sp. 1114); vgl. Burrow, The Ages of Man, S. 6; Alexander Brung, »Die philosophische Diskussion des Alters im Kontext der Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts«, in: Vavra (Hrsg.), Alterskulturen des Mittelalters, S. 91–107, hier S. 98. Aristoteles, Poetik, übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt, Berlin 2008, I,7. Vgl. Arbogast Schmitt, »Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte?«, in: Karlheinz Stierle / Rainer Warning (Hrsg.), Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996, S. 528–563. Schon Pythagoras hatte die Totalität über die Zahl Drei definiert, die auch er in Anfang, Mitte und Ende einteilt: Sears, The Ages of Man, S. 11.

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durch, dass sie nicht vom Subjekt her, d. h. nicht als Handlungszusammenhang entworfen wird. Sie ergibt noch keine Sinnstruktur. Das dreigliedrige Schema wird überdies nicht nur über die Sequenzierung und Verzeitlichung zur Erzählstruktur geformt, sondern auch über eine organische Metaphorik visualisiert: wachsen, reifen, welken. Sichtbar wird, mit Lévi-Strauss gesprochen, ein Strukturprinzip, das in der »Vereinigung entgegen gesetzter Begriffe« besteht.5 Erst über die Verbindung des Gegensatzes wird das Leben als Ganzheit fassbar: Wie Tag und Nacht den ganzen Tag ergeben, Sommer und Winter das ganze Jahr, so ergeben Wachsen und Vergehen das ganze Leben. In einem solchen Modell dienen die Gegenbegriffe nicht der Opposition, sondern der Integration.6 Das Leben des Menschen erhält eine elementare Struktur, die in Sequenzen unterteilbar ist. Bereits die einzelnen Altersstufen selbst aber erhalten durch ihre Position in der Struktur eine rudimentäre narrative Ordnung: Anfang und Ende des Wachstums, Anfang und Ende der Reife, Anfang und Ende des Verfalls. Die Phasen können den Akzent der Sequenzierung auf den Anfang legen – i n fa nt i a – p ue r i t i a – a d s o l e s c e n t i a – iuventus – senectus –, auf die Mitte wie bei Beda – pueritia – a d o l e s c e n t i a – i uve ntus – senectus – oder auf das Ende wie in der arabisch-medizinischen Tradition (Johannitius): adolescentia – iuventus – s e n e c t u s – s e n i u m . 7 Altersstufen sind durch spezifische Merkmale gekennzeichnet und stehen dadurch in Opposition zueinander, so dass eine weitere Grundbedingung der Erzählung erfüllt ist. Narrative verzeitlichen Oppositionen, hierarchisieren und finalisieren sie. Schematisch gesprochen, erstreckt sich die Kindheit von der Geburt bis zur Zahnung und Sprachfähigkeit, das Knabenalter von der Sprach- bis zur Verständnisfähigkeit und Geschlechtsreife, die Jugend von der Geschlechtsreife bis zum Selbstregiment, das Mannesalter vom kraftvollen Selbstregiment bis zur einsetzenden körperlichen Schwäche und geistigen Weisheit, das Alter schließlich von der einsetzenden Schwäche bis zum Tod. So lassen sich die einzelnen Alterszäsuren über die Relation von Anfang, Ende und Neuanfang als je eigene Narrative beschreiben. Je nach Opposition und finaler Ausrichtung kann eine Vielzahl von Erzählungen generiert werden. Bereits das einfache biologische Modell besitzt in der Tageszeit seine Zentralmetapher mit ganz unterschiedlichen Implikationen. Die Analogsetzung der drei Lebensphasen mit dem täglichen Sonnenverlauf, mit Morgen, Mittag und Abend, entfernt sich von der biologischen Vorstellung.8 Sie bildet eine übertragene Operation, die schon Aristoteles in der 5 6

7 8

Claude Lévi-Strauss, Das Ende des Totemismus, Frankfurt a. M. 1965, S. 115f. Ebd. Burrow, The Ages of Man, S. 22f. Ebd., S. 55, 57.

Altersstufen als Narrative und Metaphern

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Poetik als Paradigma für den Funktionsmechanismus der Metapher anführt: Wie der Abend sich zum Tag, so verhält sich das Alter zum Leben.9 Die Proportionsanalogie strukturiert Differenzen und setzt sie miteinander in Beziehung. Leben und Tag stehen in keinen logischen oder natürlichen Beziehungen zueinander.10 Die Struktur der Tagesmetapher macht nicht nur die Stationenfolge des Lebenslaufs anschaulich, sie liefert auch die Folie für die Beschreibung von Störungen: Gottfried klagt zu Beginn des Tristan über den jungen Rivalin: diu morgenlîche sunne / sîner werltwunne, / dô diu von êrste spiln began, / dô viel sîn gaeher âbent an;11 Hartmann verbindet im Armen Heinrich Jahreszeiten- und Tagesmetaphorik: unser bluome der muoz vallen, / sô er aller grüenest waenet sîn oder ein swinde vinster donersclac / zebrac im sînen mitten tac.12 Im Fokus steht hier das Einzelleben, das über die dem Bildfeld ›Tag‹ implizite Finalität keine rechte Sinnfigur darstellt. Entbehrt bereits das dreigliedrige Schema eines finalen Sinns, so erst recht das vorzeitige Ende, so dass sich umso nachdrücklicher die Frage nach dem Sinn des Lebens aufdrängt.

3. Humoralpathologisches Modell Die Struktur der vier Jahreszeiten folgt mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter einem anderen Typus. Auch dies ist metaphorisch konventionalisiert. ›In der Blüte‹ oder ›im Herbst seines Lebens stehen‹, sind uns vertraute Bildfelder. Die Metapher funktioniert hier aber weniger über die Figur der Analogie als über die der Ähnlichkeit. Die Jahreszeitenanalogie enthält nicht wie die Tageszeit nur eine Zeitstruktur und den Spannungsbogen eines Narrativs, sie bindet den Menschen auch substantiell in die Natur ein. Der Organismus des Menschen ist den vier Primärqualitäten Heiß und Kalt, Feucht und Trocken unterworfen, den Säften Blut, Galle, schwarze Galle, Phlegma, schließlich den aus ihnen resultierenden vier Temperamenten.13 Auch die Jahreszeiten setzen sich aus diesen Primär9 10

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Aristoteles, Poetik, Kap. 21. Gilles Deleuze / Felix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, S. 319–332; Hans Georg Coenen, Analogie und Metapher. Grundlegung einer Theorie der bildlichen Rede, Berlin und New York 2002, S. 15–18. Gottfried von Straßburg, Tristan, hrsg. von Karl Marold, überarbeitet von Werner Schröder, Berlin und New York 2004, V. 313ff. Übersetzung: »Als die Morgensonne seiner Weltfreude allererst zu leuchten begann, überfiel ihn schon sein jäher Abend.« Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, hrsg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Ludwig Wolff, Tübingen 1972, V. 110f. u. 153f. Übersetzung: »Unsere Blume, die muss fallen, wenn sie am grünsten glaubt zu sein; ein plötzlicher dunkler Donnerschlag zerbrach ihm seinen Mittag.« Erich Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, Wiesbaden 1964.

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qualitäten zusammen, so dass der Mensch Teil des großen Jahreszeitengeschehens ist.14 Indem er mit den Jahreszeiten die Primärqualitäten teilt, ist er ihnen ähnlich. Wenn heiß und feucht, dann Blut, dann Frühling, dann Kind. Das ist nicht mehr nur eine metaphorische, sondern auch eine natürliche Operation, die in eine logische Formel übersetzt wird. Die Metapher ist in den Syllogismus überführbar. Der Wechsel von Kindheit, Jugend, Reife und Alter vollzieht sich nach dieser Vorstellung durch einen Wechsel der Mischungsverhältnisse der Säfte: Heiß und feucht ist die Kindheit, heiß und trocken die Jugend, kalt und feucht die Reife des Mannes, kalt und trocken das Alter.15 Der Wechsel der Altersstufen vollzieht sich von einer heißen und feuchten Disposition in der Jugend hin zu einer kalten und trockenen im Alter. Er ist verbunden mit temporären charakterlichen Temperamentenkonstellationen, die vor allem die Relation von Körper und Geist betreffen. Einem Ungleichgewicht des Mischungsverhältnisses und der Temperamente in Jugend und Alter steht eine relative Balance im Mannesalter gegenüber. Wenn der Mensch auch in zeitlicher Hinsicht substantieller Teil eines größeren Naturzusammenhangs ist, konstituiert die Abfolge der Jahreszeiten als das erweiterte biologische Modell auch ein eigenes Narrativ. Wie dieses impliziert es Oppositionen und eine Finalität. Anders aber als das dreistufige Modell des Tages überführt es den Lebensbogen in die Sinnfigur einer zyklischen Bewegung. Der Zyklus der Jahreszeiten erscheint als ein das Einzelleben übergreifender Ordnungsrahmen. Soll der Bogen des menschlichen Lebens geschlossen und wieder geöffnet werden, bedarf es der Fortpflanzung. Aus dem Halbkreis des Lebens wird der Zyklus der Generationen. Gerade für das Mittelalter ist die Genealogie eine zentrale kollektive Sinnfigur: ein Wiederholungs- und Open-End-Narrativ.16 Wenn sich das Altersschema in die Zyklen der Naturordnung einfügt, so zählt nicht das Einzelleben, sondern der genealogische Zusammenhang der Gruppe, so dass sich die biologische Metapher des Halbkreises zu einer sozialen Kreismetapher verschiebt.17

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Burrow, The Ages of Man, S. 12–36, hier 12f. Vgl. die Übersicht bei Hans-Werner Goetz: »Alt sein und alt werden in der Vorstellungswelt des frühen und hohen Mittelalters«, in: Vavra (Hrsg.), Alterskulturen des Mittelalters, S. 17–58, 23. Kilian Heck / Bernhard Jahn (Hrsg.), Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2000; Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004. Philipp Ariès verweist in seiner Geschichte der Kindheit auf populäre Illustrationen, die die Altersstufen auf eine Treppenstruktur übertragen und in eine Kreisform überführen. Ariès, Geschichte der Kindheit, S. 81. Vgl. Abbildung.

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Die Lebensalter, Kupferstich 18. Jh.

Jean Jacques Boissard: Schawspiel Menschliches Lebens 1597, Titelblatt

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Nur in der Magie oder in der Utopie eröffnet sich für den Einzelnen die Chance auf Überwindung der Finalität des Lebens und auf die Partizipation an den Kräften der Natur: so in der Verjüngungskur des Peleus in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, in dem der gebrechliche Vater des Jason durch die Naturmagie der Medea zu neuer Jugend gelangt: do nam der künic und empfiec / dar in sîn herze blüende jugent;18 so auch in der Blumenmädchenepisode des Straßburger Alexander, in dem die höfischen Mädchen unmittelbar der Natur entspringen und in ihren Zyklus von Entstehen und Vergehen eingefügt sind.19 Der Jahreszeitenzyklus leistet eine doppelte Sinnstiftung: Während der Kreis den Vorgang zu einer sinnvollen Metapher formt, überwindet das Narrativ dessen Schließung. Die Kreisfigur formt den Prozess des Lebens deshalb zu einer sinnvollen Figuration, weil sie in ein Narrativ übersetzt wird, weil die Schließung eine erneute Öffnung nach sich zieht.

4. Das astrologische Modell Das astrologische Modell stellt den Menschen dagegen in eine konkrete Zeitordnung: in den Mond- und Sonnenzyklus sowie in die erweiterten Planeten- und Tierkreiszyklen, die allesamt auf einer mathematischen Basis funktionieren und berechenbar sind. Zugrunde liegt eine abstrakte ewige Ordnung. Anders als die Jahreszeiten waren die Planetenbewegungen nicht der Zeitlichkeit unterworfen, sie waren selbst Maßstab der Zeit und galten als Ausdruck ewiger transzendenter Wahrheit.20 Die Relation des Menschen zu den Planeten ist eine andere als die zu den Tages- und Jahreszeiten. Die Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos schließt hier an die transzendente Sphäre an und greift über den sublunaren Bereich der Natur hinaus. In diesem Modell kommt es nicht nur zu einer Wechselwirkung von Planeten und Elementen, sondern auch zu den drei Stadien des Wachstums, Gedeihens und Vergehens: »Es regieren gewissermaßen diese Zeichen die vier Elemente und ihre drei Stadien.«21 Die zwölf 18

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Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg, hrsg. von Adalbert von Keller, Stuttgart 1858, V. 10784f. Übersetzung: »[...]da nahm der König blühende Jugend in sein Herz auf.« Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten. Mit dem Fragment des Alberic von Besancon und den lateinischen Quellen, hrsg. von Karl Kinzel, Tübingen 1884, V. 51557–55358. Vgl. Udo Friedrich, »Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Strassburger Alexander«, in: Wolfgang Harms / C. Stephen Jaeger / Alexandra Stein (Hrsg.), Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart und Leipzig 1997, S. 119–136. Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a. M. 1989, S. 508–566. Praesunt siquidem haec signa quatuor elementis, eorumque tribus interstitijs. Vinzenz von Beauvais, Speculum naturale, XV, 36, Sp. 1114.

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Tierkreise werden auf drei Phasen verteilt, die Anfang, Mitte und Ende des Lebens markieren.22 »So regieren die Zeichen des (Tier-)Kreises die vier Elemente der Welt und ihre Zwischenräume, so dass es von der Sache und Zahl her notwendig war, was durch die Auslegung vollständiger und klarer erscheint.«23 Wenn der astronomische Kreislauf auf die gleichen Ordnungszahlen wie die Altersstufen des Menschen beziehbar wurde, standen nicht nur Mensch und sublunare, sondern Mensch und translunare Natur in einem Korrespondenzverhältnis.24 Die Auffassung von der Natur als einem zyklischen Zusammenhang, sei es der sublunare der Jahreszeiten oder der translunare der Planetenzyklen, evoziert eine geschlossene Ordnung. Der Naturzyklus verweist darauf, dass die Erzählung des Lebens nicht nur zu Ende geht. Die Einordnung des Menschen in die Zyklen der Planetenbewegungen war deshalb wohl die verlässlichste Form, ihn an die übergeordnete transzendente Sinnordnung nicht nur anzubinden, sondern dem Leben auch eine über seine Finalität und soziale Zyklik hinausgehende Perspektive zu vermitteln. Erst in der Planetenbewegung geht die Zyklik der Natur in die vollkommene Kreisbewegung über. Während sich im Jahreszeitenzyklus der Alterungsprozess mit Tod und Wiedergeburt verbindet, realisiert der Planetenzyklus die ewige Wiederkehr des Gleichen. Die Forschung zu den Lebenszyklen hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die mittelalterlichen Autoren die verschiedenen Bezugssysteme des Lebens und deren Phasen graphisch immer wieder als Kreisfigur darstellen.25 Dem Willen zum System korrespondiert ein Bedürfnis nach sinnvoller Geschlossenheit. Wie der humoralpathologische Entwurf die Finalität in der Kreisbewegung und in der Zyklik auffängt, so verweist das astrologische Modell den Degenerationsprozess auf ein transzendentes Heilsschema: Steht im ersten Fall der Mensch im Zentrum der Kreisbewegung, so im zweiten Gott.26

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Ebd. Sic itaque circuli signa, mundi praesunt quatuor elementis, eorumque interstitijs, vt re & numero necesse erat, quod expositione plenius vel planius constabit. Vinzenz von Beauvais, Speculum naturale, XV, 36, Sp. 1114. Besitzt die Welt unter antiker Optik aber keinen Anfang und kein Ende, so bilden für das Christentum Genesis und Apokalypse die Eckdaten, die das Narrativ der Heilsgeschichte konstituieren. Christiane Schrübbers, »Regimen und Homo Primitivus. Die Pädagogik des Ägidius Romanus«, in: Augustiniana 33 (1983), S. 112–141, hier S. 127–131; Vgl. Burrow, The Ages of Man; Sears, The Ages of Man. Zu Byrthferths Manual vgl. Burrow, The Ages of Man, S. 15–18.

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Isidorkarte: Isidor von Sevilla: Liber de naturis rerum, Paris BN, ms.lat. 6400 G, fol 122v

Byrthferth’s Manual, Oxford, Bodleian Library, ms. Ashmole 328, p. 85

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Durch die Aufhebung der Finalität in zyklischen Modellen erhält die Erzählung des Lebens ihre Struktur durch verschiedene Metanarrative. Vinzenz von Beauvais zitiert in seinem Speculum Naturale Albumasar, der drei elementare Bewegungsarten unterscheidet: die ewige kreisförmige Bewegung des mundus superior, der die ideale Bewegungsform abbildet, da sie weder Anfang noch Ende kenne und zur Ruhe führe: quia non nisi circularis est perfectus, qui cum tam principio quam fine careat, nescio qua parte quietem

admittat; eine weitere kreisförmige Bewegung des mundus inferior, die das Entstehen des Einen aus dem Anderen bezeichnet und den Wechsel von Entstehen und Vergehen markiert; schließlich die dritte sublunare Bewegungsform, die notwendig auf ein Ende hin ausgerichtet ist.27 Die Endlichkeit des menschlichen Lebens steht mithin in Relation zu unterschiedlichen Zyklen der Natur. Auf der Ebene der Planetenbewegung wird die Bewegung nicht nur geschlossen, sondern in Ruhe überführt, d. h. die Zeit selbst wird aufgehoben, und das menschliche Leben erhält Anschluss an die Sphäre der Unendlichkeit. Das menschliche Leben für sich ist aber kein Kreislauf, der Kreis suggeriert mehr, als er in Wirklichkeit abbildet. Bereits Aristoteles hatte bemerkt, dass die Analogie der menschlichen Altersstufen mit den vier Jahreszeiten anders als bei Pflanzen und Tieren wirkt. Während deren Leben dem Rhythmus der Jahreszeiten unterworfen ist, unterliege der Mensch den Kräften des Alters, also einem linearen Prozess. Die Jahreszeiten sind offenbar doch nur Metaphern.28 Der Afrikaner Dracontius bringt im 5. Jahrhundert auf den Punkt, was Aristoteles bereits festgestellt hatte: Völker wechseln, Zeit vergeht, die Natur hat ihre Zyklen, nur das menschliche Leben kehrt nicht zurück.29 Aus dieser Perspektive markieren die Planetenbewegungen im Verhältnis zum menschlichen Leben eher die Differenz von Unendlichkeit und Endlichkeit. Zyklik und Linearität sind nicht aufeinander abbildbar.

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Superior enim mundus inferiorem perpetuo ambiens, cum sibi alligatum trahat motu suo mundi materias agitans actus in passiones miscet, generationum omnium causas, & caelestibus quidem non nisi circularis aptus erat motus, quia non nisi circularis est perfectus, qui cum tam principio quam fine careat, nescio qua parte quietem admittat. Mundi vero inferioris corporum duplex est motus. Alter scilicet rectus finem habens, quo cum perducantur sistunt, vt ignis & aeris sursum, aquae, & terrae deorsum. Alter vero circularis, qui resolutiones & alterationes ex alteris in altera, rursus ex illis in ista circumagitat. Hunc itaque motum ambientis mundi motus trahens in rerum generationes, & corruptiones agit. Vinzenz von Beauvais, Speculum naturale XV, 53, Sp. 1124. Sears, The Ages of Man, S. 9. Ebd., S. 58.

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5. Das theologische Modell Das menschliche Leben unterscheidet sich offenbar von der Finalität und Zyklik natürlicher Prozesse. Es findet realiter seinen Sinn nicht im Rhythmus der Natur, besitzt aber diesem gegenüber die Option, sich als eigener Sinnzusammenhang entwerfen zu können. Finalität und Zyklik der Natur geraten in Spannung zu kausalen und finalen Handlungsoptionen des Subjekts, und die Perspektive wechselt vom objektiven zum inneren Zeitbewusstsein.30 Dieses aber ist narrativ formatiert. Anders als in der Natur sind in der Erzählung Anfang und Ende als Relevanzzusammenhang konzeptionell aufeinander bezogen, da das erzählte Geschehen immer schon als Vergangenes sinnhaft konfiguriert wird. Für das sich entfaltende menschliche Leben bleibt der Sinnzusammenhang prinzipiell offen und daher modellierbar.31 Erst wo der Verlauf des Lebens vom Subjekt und seinen Handlungsoptionen, d. h. von seinem intentionalen Zeitbewusstsein her entworfen wird, wird es möglich, die Relation von Anfang und Ende bewusst von seinem Ende her in den Blick zu nehmen, erhält das menschliche Leben als Lebensplan bereits den Grundriss einer Erzählung: »Wer ein Schiff lenken will, stellt sich an das hintere Ende des Schiffs; so lenkt der Weise das Schiff seines Lebens, indem er sich durch Betrachtung des Todes dahin stellt, wo das Ende seines Lebens ist.«32 An die Stelle geschlossener Sinnbildungsfiguren treten offene Metaphern und Narrative, die aufgrund der negativen Finalität (Semantik) des Lebens herausgefordert sind, alternative Ziele zu entwerfen, etwa in der Vorstellung des Lebens als Weg oder Reise. Gegenüber den zyklischen Rahmungen von Humoralpathologie und Astrologie rückt die Linearität des Lebenszusammenhangs selbst in den Blick. Neben die Natur tritt die Geschichte als Bezugssystem. Antike Moralistik und Christentum haben hier unterschiedliche Konzepte entwickelt. Auch das Christentum entwirft das Leben von seinem Anfang und Ende her. Indem das Leben aber in den heilsgeschichtlichen Zusammen30 31

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Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, S. 527f. »Die narrative Struktur der Geschichte verbindet Anfang und Ende nicht nur als ein faktischer Verlauf, sondern als eine konzeptuelle Konfiguration, durch die sich Sinn allererst konstituiert.« Karlheinz Stierle, »Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie«, in: Jürgen Kocka / Thomas Nipperdey (Hrsg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979, S. 85–118, hier S. 93. Wilhelm Peraldus, Die Pflichten des Adels. Eine Stimme aus den Tagen des hl. Thomas von Aquin, übersetzt von Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Mainz 1868, S. 184; vgl. Wilhelm Peraldus, De eruditione principum, in: Thomae Aquinatis opera omnia, hrsg. von Eduard Fretté, Paris 1875, S. 551–672, hier S. 597: Qui vult navem regere, ponit se in fine navis; sic sapiens consideratione finis regit se in his quae sunt ad finem.

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hang eingefügt wird, ergeben sich mit Leidens- und Erlösungsgeschichte (miseria / dignitas hominis) unterschiedliche Narrative. Aus sündentheologischer Perspektive ist der Prozess des Alterns stark negativ konnotiert, er ist Effekt des Sündenfalls. Innozenz’ III. Schrift über das Elend des Menschen (De miseria humane conditionis) beschreibt den ganzen Umfang der miseria hominis: Von der Geburt bis ins Alter steht das Leben unter negativen Vorzeichen.33 Innozenz koppelt seine Ausführungen über die Qualen der Geburt direkt an die Mühseligkeiten des Alters, er verbindet Anfang und Ende über den Aspekt des Elends unmittelbar miteinander.34 Wenn er auf ein Hiobzitat zurückgreift, wird die Engführung von Anfang und Ende evident: »Der Mensch […] geht wie die Blume auf und welkt«.35 Gegenüber dem biologischen Modell des Aristoteles ist das der miseria hominis nicht auf die Graduierung der Lebensphasen, sondern auf die Opposition von Kindheit und Alter fokussiert. Ihre Differenz aber wird eingeebnet, wenn beide unterschiedslos den Zeichen des Leids und der Vergänglichkeit unterliegen. Der Tod ist nicht nur das Ende des Lebens, sondern von Anfang an ständiger Begleiter. Geburt und Tod gar ineinander fallen zu lassen, während der Geburt zu sterben, wird Innozenz denn auch zum Wunschgedanken der Sünden beladenen menschlichen Existenz.36 Ein solches Modell generiert gerade keinen immanenten Sinn und weder einen Entwicklungsprozess noch eine Erzählung.37 Die christlich geprägten Erziehungsschriften des Mittelalters sind demgegenüber gespalten zwischen einem Programm der Weltabsage einerseits und einem der Erlösung andererseits. Zwar argumentieren sie gleichfalls vor dem Hintergrund der miseria hominis, ihre pädagogische Anlage aber erfordert eine Option, den Defekt der Erbsünde durch die Anleitung zu einem tugendhaften Leben zumindest zu mildern. Entspre33

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Lotharii Cardinalis (Innocentii III), De Miseria Humanae Conditionis, ed. M. Maccarone, Lucca 1955, vgl. Lotario Segni (Papst Innozenz III.), Vom Elend des menschlichen Daseins, aus dem Lateinischen übersetzt und eingeleitet von Carl-Friedrich Geyer, Hildesheim u. a. 1990 (Philosophische Texte und Studien 24). Was bei Aristoteles als Grundbedingung allen Lebens gilt, die Finalität alles Lebendigen, wird bei Innozenz III. um ein kausales Gefüge angereichert: Das Ende erhält seine Begründung durch ein mythisches Ursprungsgeschehen. Zu Innozenz’ Traktat vgl. auch: Geyer, Vom Elend des menschlichen Daseins, S. 1–39; W. Wili, »Innozenz III. und sein Werk«, in: Joseph Koch (Hrsg.), Humanismus, Mystik und Kunst in der Welt des Mittelalters, Leiden und Köln 1959, S. 125–136. Homo [...] quasi flos egreditur et conteritur, Innozenz III., De Miseria Humanae Conditionis, I, 10; (Hiob 14,1–2). Felices illi qui morituntur antequam oriantur, Innozenz III., De Miseria Humanae Conditionis, I, 6. Das natürliche Degenerationsschema wird sündentheologisch übercodiert. Innozenz’ Schrift wirkt deswegen so avanciert, weil sie die Sündentheologie zwar voraussetzt, aber über weite Strecken nicht expliziert und so eine säkulare Interpretation des vergehenden Lebens evoziert.

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chend ordnen die Erziehungslehren des Vinzenz von Beauvais (De eruditione filiorum nobilium) und Wilhelm Peraldus (De eruditione principum) die Altersstufen sowohl einem theologischen als auch einem ethischen Programm, einem Metanarrativ und einem biographischen Narrativ, unter.38 Christliche Sündenlehre und antike Moralistik gehen hier eine Verbindung ein.39 Im Zentrum der Argumentation stehen sowohl der theologische Gegensatz von Sünde und Gnade als auch der natürliche von Leben und Tod. Vinzenz von Beauvais rückt das Leben als Ganzes in den Blick, es wird aber unterschiedlichen Registern unterworfen: erstens den Vorgaben des heilsgeschichtlichen Metanarrativs, zweitens der Systematik der klassischen Altersstufen, drittens, im Anschluss an die antike Moralistik, einer individualethischen Perspektive. Zwischen das heilsgeschichtliche und biographische Narrativ fügt er die Systematik der Altersstufen ein. Insofern bietet sein Fürstenspiegel mehr als eine bloße Erziehungslehre, er reflektiert den Status der Jugend vor dem Hintergrund allgemeiner Lebenslehren. Der narrative Rahmen, in dem das menschliche Leben als Ganzes nunmehr gefasst wird, wird so einerseits über die Axiologie von Tugend (Gut) und Laster (Böse) heilsgeschichtlich strukturiert, andererseits über die Systematik der Altersstufen sozial (Affektökonomie/Disziplinierung) konfiguriert, schließlich über die Opposition von Leben und Tod biographisch konzeptionalisiert (vita activa – vita contemplativa). Der subjektive Lebensentwurf gerät hier in Spannung zu unterschiedlichen Metanarrativen. Vinzenz rekurriert auf die bekannten Altersstufen, deren vier er explizit auseinanderhält: Das Knabenalter besitzt Unschuld, das Greisenalter Klugheit, das Mannesalter hat Scheu vor Fehltritten, das Jünglingsalter allein ist schwach an Kräften, unsicher im Handeln, erglühend in schlimmen Neigungen, von Widerwillen erfüllt gegen Mahnungen und verführerischen Lockungen zugänglich [...].40 Nach diesem Befund fällt zunächst nur die Jugendzeit als eine Zeit der Verirrung aus dem christlichen Wertehorizont heraus. In der adolescentia 38

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Astrid L. Gabriel, Vinzenz von Beauvais. Ein mittelalterlicher Erzieher, Frankfurt a. M. 1967, S. 46–59; Joseph M. McCarthy, Humanistic Emphases in the Educational Thought of Vincent of Beauvais, Leiden und Köln 1976; Klaus Schreiner, »Bildung als Norm adeliger Lebensführung. Zur Wirkungsgeschichte eines Zivilisationsprozesses, untersucht am Beispiel von ‚De eruditione filiorum nobilium‘ des Vinzenz von Beauvais«, in: Rüdiger Schnell (Hrsg.), Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne, Köln u. a. 2004, S. 199–237. Vincent of Beauvais, De eruditione filiorum nobilium, ed. Arpad Steiner, Cambridge/Mass. 1938; Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, aus dem Lateinischen übersetzt und mit biographischem Anhang versehen von August Millauer, Donauwörth 1890. Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 154f., vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, XXXVI, S. 139: Habet et puericia innocenciam, senectus prudenciam […] iuuentus […] delinquendi uerecondiam. Adolescencia sola est inualida uiribus, infirma consiliis, uicio calens, fastidiosa monitoribus, illecebrosa deliciis.

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bricht mit der Hitze die Erbsünde erneut durch: »Weil aber [...] im Jünglingsalter der Urheber der bösen Lust den Menschen am meisten zu belästigen pflegt«.41 Gegenüber dem Knaben kennt der Jugendliche schon Gesetz und Gebot, hält sich aber nicht daran, auch verfügt er bereits über die Kunst der Verstellung, vor allem aber beginnen seine Begierden zu brennen: Deshalb wiegt seine Sünde stärker als die des Knaben.42 Die Jugend wird aber zugleich auch generell als defizitäre Phase gekennzeichnet, wenn ihr insgesamt Mangel an Verstand und Überschuss an Begierde zugeschrieben werden. Vinzenz stellt denn auch bereits die Situation des Kindes in den großen heilsgeschichtlichen Zusammenhang des Sündenfalls: »Wenn nämlich die Seele dem Körper des Kindes frisch eingegossen wird, so nimmt sie von der Verdorbenheit des Leibes Finsternis der Unwissenheit in Bezug auf die Erkenntnis und Fäulnis der Begierlichkeit in Bezug auf die Willensfähigkeit an.«43 Vinzenz spricht hier wie Innozenz vom »Elend des menschlichen Ursprungs« (originis humane miserie), vom »schweren Joch, das auf den Kindern Adams vom Tage ihrer Geburt an liegt.«44 Die Seele-Leib-Relation bezeichnet zugleich die Asymmetrie der Werte Gut und Böse, eine Axiologie, die jedem menschlichen Leben realiter einen negativen Ursprung und potentiell eine doppelte Finalität einschreibt: Jedes Kind ist »Sohn Adams« und steht damit vor der Wahl von Verdammnis und Heil.45 Dem Joch der Erbsünde korrespondiert die Hoffnung auf Erlösung. Anders als Innozenz kombiniert Vinzenz hier bereits zwei Modelle: Die Altersstufen, auch die der Kindheit und Jugend, tragen sowohl die Spuren der miseria als auch der dignitas hominis. Der didaktisch (intentional) ausgerichtete Entwurf Vinzenz’ legt das Leben als Narrativ an, das sich zwischen Anfang und Ende erstreckt. Die Ordnung der Altersstufen wird hier integriert und auf drei Zeitabschnitte verteilt: Am Anfang stehen die drei Kindheitsphasen, in der Mitte des Lebens steht das Mannesalter – iuventus – und am Ende die Phasen des Alters: senectus, senium etc. Dem defizitären Anfang werden aus dieser nun41

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Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 163, vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, XXXII, S. 146: Quia uero, sicut predictum est, in etate adolescencie maxime ingerere solet auct concupiscencie. Vgl. Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 152; Vincent of Beauvais, De eruditione, XXXV, S. 237. Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 16, vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, I, 1, S. 5f.: anima siquidem infantis carni recenter infusa ex eius corrupcione contrahit et caliginem igno quantum ad intellectum et putredinem concupiscencie quantum ad affectum, ideoque rudis efficitur intelligendum et ad bene agendum. Vgl. McCarthy, Humanistic Emphases, S. 62. Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 178f., vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, XL, S. 160f. (Zitat S. 161): iugum graue super filios adam a die exitus de uentre matris eorum. Vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, XL, S. 161.

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mehr systematischen Perspektive aber unterschiedliche Ziele zugeordnet. So bildet das Mannesalter zunächst die stabile mittlere Phase: »Weil der Mann (vir) von Mannhaftigkeit (virtus) seinen Namen hat, soll er sich bestreben auch das zu sein, was er heißt«.46 Das »Mannesalter«, so Vinzenz, ist »stärker [...], als die übrigen und [liegt] zwischen dem Jünglings- und dem Greisenalter in der Mitte«.47 Das Argument rekurriert auf das alte Hebdomadenmodell, expliziert es aber nicht weiter.48 Aus dieser Perspektive bilden Jugend und Alter gleichermaßen defizitäre Stadien. Die Erzählung des Lebens ordnet sich um die Altersstufen herum und impliziert ein Aufstiegs- und ein Abstiegsnarrativ. Auf das dreigliedrige biologische Schema wird das System der Altersstufen verteilt und ethisch aufgeladen. Gegenüber den Jugendphasen ist das Mannesalter physisches, ethisches und soziales Telos zugleich. So geht im doppelten Sinne die jugendliche Schwäche der Weichheit in Festigkeit über, bevor mit den Altersstufen erneut Schwäche, aber auch Verhärtung drohen: der standhafte und gerechte Mann als Ende einer Entwicklung und als Inbegriff des Menschen.49 Ein solches Ergebnis aber verortet sich jenseits des heilsgeschichtlichen Verfallsmodells. Erst dem Erwachsenen gelingt es nach Vinzenz, ein ausgewogenes Verhältnis zur Zeit zu gewinnen, das Vergangene mahnend in Erinnerung zu halten, das Gegenwärtige zu ordnen und das Zukünftige im Auge zu behalten.50 Gegenüber dem zeitlosen Modell des Innozenz implementiert Vinzenz seinem Entwurf mit der Entwicklungsgeschichte des Jugendlichen die Dimension der Zeit. Den Jugendlichen, der nur in der Gegenwart lebt und noch über keine Vergangenheit verfügt, hält Vinzenz an, sich drei Dinge vor Augen zu halten: das Alter, den Tod und das Gericht.51 Das sich entfaltende Leben erhält drei gestufte Zielvorgaben, die die Erzählung des Lebens von hinten jeweils unterschiedlich konfigurieren. Einerseits wird das Ende des Lebens (Tod) mit dem der Heilsgeschichte (Gericht) relationiert. Andererseits rückt der Prozess des Alterns selbst in den Fokus. Anders als der Tod bezeichnet das Altern keinen fi46

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Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 177, vgl. Vincent of Beauvais: De eruditione, XL, S. 159: Denique, quia uir a uirtute nominatur, qui ad etatem uirilem accedit, studeat esse quod dicitur. Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 177, vgl. Vincent of Beauvais: De eruditione, XL, S. 160: Et quoniam etas illa forcior est ceteris et inter puericiam et senium, uelut in meditullio. Vgl. Bartholomaeus Anglicus, De rerum proprietatibus, Frankfurt a. M. 1601 [unveränderter Nachdruck Frankfurt a. M. 1964], VI, 2, S. 232: iuventus, & haec inter omnes aetates est media, & ideo fortissima. Aegidius Romanus wird diesen mittleren Zustand homo perfectus nennen. Vgl. Schrübbers, Regimen und homo primitivus, S. 128f. Zu Aristoteles vgl. Burrow, The Ages of Man, S. 8–10. Vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, XL, S. 160. Ebd., XXXVI, S. 143: Porro ad informationem morum in adolescencia multum valet triplex memoria, sc. senectutis et mortis et futuri iudicii aduentus. Vgl. McCarthy, Humanistic Emphases, S. 69.

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xen Zeitpunkt, vielmehr einen ständig wirksamen Prozess, der eher unmerklich abläuft. Bereits der Jugendliche wird von Vinzenz daher auf das Problem der Zeitlichkeit verwiesen, das mit einer Reihe von Zitaten aus der antiken Moralistik untermauert wird: »so wird der Mensch nach und nach alt, ohne daß er es merkt, er bricht nicht plötzlich zusammen, sondern erlischt durch die Länge der Zeit.«52 Jenseits des heilsgeschichtlichen Schuldzusammenhangs erhält die Vergegenwärtigung des Todes als unausweichlichem Ende eine eigene Qualität, die Ernsthaftigkeit und Weisheit in die Lebensführung einspielen soll. Wenn Vinzenz an späterer Stelle den Mann auf die gleichen drei Lebensziele – Alter, Tod, Gericht – verweist, stellt er seine Interpretation aber zunächst deutlich in den Horizont der Heilsgeschichte.53 Genau an dem Punkt, an dem die natürliche Entwicklung des Menschen ihr Ziel erreicht, im Zustand des ausgewachsenen und verantwortungsvollen Mannes, geht auch Vinzenz zu einer Betrachtung der Zeit über, verweist er den Mann auf die Vergegenwärtigung seines Anfangs und Endes: Schuld und Strafe der Heilsgeschichte bilden hier den Rahmen für die Reflexion. Die Vergegenwärtigung des Endes verändert ihre Semantik je nachdem, aus welcher Lebensphase sie erfolgt. Auch wenn auf dieselben Koordinaten bezogen, bezieht der Mann anders als der Jugendliche Erinnerung und Voraussicht aus der Mitte des Lebens heraus auf symmetrisch dimensionierte Zeitstrecken der Vergangenheit und der Zukunft. Er fokussiert seine Betrachtung nicht nur auf das eigene Leben, er soll sich auch einerseits seines heilsgeschichtlich begründeten Elends erinnern: der Schuld und der Strafe des Sündenfalls, andererseits soll er das Böse, d. h. das Alter, den Tod und die Hölle antizipieren.54 Die harte Fügung der Altersstufen, die von Kindheit, Jugend und Mannesalter direkt auf Alter, Tod und Gericht umschaltet, verortet Vinzenz’ Modell weniger in einem pragmatischen als in einem religiösen und lebensgeschichtlichen Kontext. Die Weisheitslehre der antiken Moralistik wird mit zunehmendem Alter offenbar immer stärker heilsgeschichtlich eingefangen, dennoch behauptet sie noch am Ende ihren Platz. Mit dem Eintritt in den Alterungsprozess beginnt eine neue narrative Sequenz, die nun auf das Ende des Lebens fokussiert wird. Hier spaltet sich das Narrativ in eine physiologische Degenerationsgeschichte, die über den körperlichen Verfall auf den Tod hinausläuft, und in eine psychologi52

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Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 161, vgl. Vincent Beauvais, De eruditione, XXXVI, S. 145: Ita sensim absque sensu etas senescit, nec subito frangitur, sed diuturnitate extinguit Nach Cicero, De senectute, XI, 38. Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 77, vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, XLI, S. 166: Mala inquam, ut senectutem et mortem et gehennam. Vgl. Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 177f., 184; Vincent of Beauvais, De eruditione, XL, S. 160, 166.

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sche Erlösungsgeschichte, die in Weisheit und Seelenruhe mündet. Driften hier körperliche und seelische Entwicklung im positiven Sinn auseinander, so laufen sie im negativen wieder zusammen, wenn dem physischen Verfall ein psychologischer an die Seite tritt, wenn neben die körperlichen Schwächen die geistigen Laster des Alters treten. Biologisches, christliches und antikes Schema können parallel oder auseinander laufen, ja das gestufte biologische Geschehen von Wachstum, Blüte und Verfall erhält über das christliche und antike Narrativ allererst einen Sinn. Neben die antike Seelenruhe tritt das christliche Seelenheil und verleiht dem Leben ein weiteres Ziel angesichts seiner unumgänglichen Degeneration. Vinzenz entwirft das Verhältnis von Jugend und Alter in einem physiologischen und einem psychologischen Argumentationsstrang. Der Weg, den er vorzeichnet, geht einerseits von der körperfixierten Jugend zum geistig reifen Alter. Die Altersstufen bilden aber andererseits nicht nur zeitliche Phasen, die der Mensch im Laufe seiner Entwicklung hinter sich lässt, ihre spezifischen Kennzeichen stellen auch eine moralische Matrix dar, in deren Relationen der Mensch ständig involviert ist. Es reicht nicht, die Kindheit hinter sich zu lassen, man muss auch das kindische Wesen überwinden.55 Entwicklungsgeschichtlich markiert das affektgesteuerte und unwissende Kind einen Defekt der Natur und der Heilsgeschichte, der tugendhafte und weise Alte deren Ziel. Deshalb kann der frühreife Knabe aber auch ein Vorbild des menschlichen Lebens, der alberne Greis sein Zerrbild darstellen.56 Während das Kind möglichst früh Würde, Ernst und Weisheit des Alters an den Tag legen sollte, sollte der Alte die Mängel der Kindheit überwinden. Jenseits des normativen Entwicklungsgangs über die Altersstufen wird realiter mit einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gerechnet, werden Mischformen als Ideal oder Verzerrungen in den Blick genommen. Körper und Geist/Seele, Böse und Gut sowie Jugend und Alter werden so einerseits synchronisiert und sequenziert, andererseits ineinander verschachtelt. Die Oppositionen durchziehen potentiell alle Altersstufen. Vinzenz kombiniert mehrere Register: das heilsgeschichtliche Schema von miseria (böse) und dignitas (gut) hominis, die Systematik der Alterstufen und die individualgeschichtliche (antike) Perspektive des Lebens. Ihre Kombination begründet nunmehr, dass die Kindheit nicht nur als ein defizitärer, sondern auch als ein privilegierter Zustand beschrieben werden kann. Die Jugend ist sowohl eine Zeit der Verirrung, als auch der Unschuld, Schönheit, Stärke, Reinheit, Formbarkeit, Demut und Freigiebig55

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Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 174, vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, XXXIX, S. 157: Adhuc enim non puericia, sed quod est grauius, puerilitas remanet. Vgl. Burrow, The Ages of Man, S. 95f. Vgl. Burrow, The Ages of Man, S. 95f.

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keit. Vinzenz erkennt diese Qualitäten für sich an, er überträgt sie aber in die geistliche Dimension: Schönheit der Seele und der Unschuld, kraftvoller Gottesdienst, Unbeflecktheit von Sünden, Opferbereitschaft, Eigenschaften, die mit Paradiesnähe gleichgesetzt werden. Die Spannung von jugendlichem Mangel einerseits und Idealität andererseits ist als komplexe Relation von aetas corporalis und aetas spiritualis beschrieben worden.57 Es sind vor allem Heilige, die diese Spannung bereits im jugendlichen Alter zugunsten geistiger Reife bewältigen. Die Altersstufen bezeichnen mit Mangel an Erkenntnis und Überschuss an Begierden natürliche Dispositionen, die zunächst vor allem in den Kindheits- und Jugendphasen zum Ausdruck kommen. Historisch werden sie auf den Sündenfall zurückgeführt, systematisch aber aus natürlichen Konstellationen abgeleitet: Weichheit, Unstetigkeit und Eigensinn des Kindes; Affektorientierung, Stolz und Geschlechtsreife des Jugendlichen. Den Defekten der Jugend korrespondieren physische und psychische Defekte des Alters: Schwäche, Verfall (Zittern, Zahnverlust, Schwerhörigkeit) und Schmerzen auf der einen, Torheit, Vergesslichkeit, Zerstreutheit, Furcht und Neid auf der anderen. Sie haben eine humoralpathologische Grundlage in der Hitze und Feuchtigkeit der Jugendphasen und der Kälte und Trockenheit des Alters. Im Alter droht die Festigkeit des Mannes in Verhärtung überzugehen. Verstärkt werden die fatalen Dispositionen zugleich durch soziale Konstellationen, d. h. durch schlechten Umgang und Mangel an Erziehung. Deswegen wird der Effekt sozialer Kommunikation entscheidend. Den natürlichen und sozialen Gefährdungen muss durch kulturelle Praktiken gegengearbeitet werden, und aus dieser Aufgabe bezieht die Erziehung ihre Berechtigung. Den konstitutiven körperlichen und geistigen Mängeln wird ein zweifach ausgerichtetes Disziplinierungsprogramm zugeordnet: durch Zucht, die explizit auch körperliche Gewalt einbezieht, und durch Bildung, die der Vermittlung von Lehre dient.58 Wo das Leben als Wanderung oder Reise begriffen wird, Alter, Tod und Gericht das Ziel vorgeben, bedarf es der Orientierung. Am Beispiel der Jugendphase illustriert Vinzenz die Grundproblematik der Desorientierung, indem er auf ein Salomonzitat zurückgreift: Drei Dinge kann ich nicht begreifen, und das vierte verstehe ich gar nicht: den Weg des Adlers am Himmel, den Weg der Schlange über den Felsen, den Weg des Schiffes mitten durch das Meer und den Weg des Mannes in der Jugend. Wie nämlich von den ersten drei keine Spuren zum Vorschein kommen, so ist auch

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Vgl. ebd., S. 109. Vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, XXV.

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des Jünglings Weg den Menschen unbekannt. Denn da er voll von Gefahren ist, und ganz unwegsam, scheint für keinen ein Weg zu bestehen.59

Die Wegmetaphorik, der eine lineare Struktur zugrunde liegt, eröffnet eine Vielzahl an Konnotationen. Die Erziehung legt die Basis der Orientierung, indem sie uns davor bewahrt, vom Wege abzukommen, uns ermöglicht, Hindernisse zu überwinden, kontinuierlich vorwärts zu schreiten oder nach Verirrungen umzukehren. Die Erziehung befreit uns von der fatalen Disposition der Erbsünde, indem sie über die Gewohnheit eine zweite positive Natur hervorbringt: »Diejenigen, die früh in gute Sitten eingeübt werden, weichen nicht leicht von dem einmal gewohnten Wege, sodaß man vielmehr mit Recht sagt, sie haben eine natürliche Anlage, d. h. ohne Heuchelei ein gewisses Bild der künftigen Tugend in sich«.60 Die Erziehung versetzt so in die Lage, das Ziel des Lebens im Auge zu behalten: »Nach Art der Wanderer müssen wir nicht schauen, was wir schon getan haben, sondern auf das, was uns noch zu tun übrig ist«.61 Das entscheidende Ziel aber ist auch in Vinzenz’ christlichem Entwurf nicht ein individuell syntagmatisches, sondern ein paradigmatisches: die Orientierung am Vorbild, an Jesus Christus, um zum Heilsstatus zurückzukehren. Durch die Erziehung wird bewirkt, »daß wir sicherer vorwärts schreiten, um zum ewigen Leben zu gelangen. […] Daher ist es notwendig, daß wir mit dem Morgen der Jugend, welcher der Anfang des Lebenstages ist, unsern Weg zum Paradies anfangen«.62 Der Lebensweg des Menschen kehrt an den Anfang des heilsgeschichtlichen Narrativs zurück. Gegenüber der Finalität und Zyklik der Natur werden nicht nur objektive und subjektive Perspektiven auf das Leben miteinander versöhnt, stiftet die Wegmetapher nicht nur den Rahmen einer Erzählung. Der Zusammenfall von Linearität und Kreisstruktur hebt auch das Problem der Zeitlichkeit in einem anderen Metanarrativ, in einem transzendenten Sinnhorizont, auf. 59

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Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 155, vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, XXXVI, S. 139: ‘Tria’, inquit, ‘sunt difficilia michi et quartum penitus ignoro: viam aquile in celo, uiam colubri super petram, viam nauis in medio mari et viam uiri in adolescencia. Sicut enim priorum trium non apparent vestigia, sic adolescentis via hominibus est ignota. Cum enim tota sit plena periculis et quasi penitus inuia, nulli videtur esse peruia.’ Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 95, vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, XXIII, S. 83: At uero pueri boni non simulati, non penitus coacti, sed quibus ipsa bonitas quasi naturaliter est inolita et per doctrinam bonam atque conuictum est aliquantulum solidata, non facile deuiant a uita consueta, quin pocius in eis recte dicitur indoles, id est sine dolo, quedam future virtutis ymago. Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 182f., vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, XL, S. 165: Moreque viatorum non debemus aspicere, quantum iam egimus, sed quantum superest, ut agamus. Vinzenz von Beauvais, Über die Erziehung, S. 96f., vgl. Vincent of Beauvais, De eruditione, XXIV, S. 84: Tercia est, quia securius procedit, ut ad uitam eternam admittatur. […] Ideoque in mane puericie, que est inicium diei huius uitae, oportet, ut iter nostrum ad paradysum aggrediamur.

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Aber auch dort, wo die (Heils-)Geschichte die Erzählung des menschlichen Lebens intentional strukturiert, mündet das Ziel des Lebens in eine Kreisfigur. Am sinnfälligsten wird die Differenz des christlichen Narrativs gegenüber der natürlichen Zyklik in der Ebstorfer Weltkarte, in der Paradies und Himmlisches Jerusalem unmittelbar miteinander verbunden werden.63 Weg- und Kreismetapher sowie Narrativ fallen in Jesus Christus zusammen und konstituieren eine Sinnfigur: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.« (Joh 14,6).

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Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. Hartmut Kugler, 2 Bde., Berlin 2007

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6. Das politische Modell Im fünften Buch seines Fürstenspiegels De eruditione principum bietet Wilhelm Peraldus eine umfangreiche Erziehungslehre.64 Wilhelm ordnet sie in den größeren Horizont der Fürstenspiegel ein, die die Pflichten des Herrschers in Bezug auf Ethik, Ökonomik und Politik umschreiben. Zwar orientiert er sich an der Gliederung der Moralphilosophie, doch ist seine Darstellung eher durch ein topisches als ein systematisches Verfahren gekennzeichnet: Er stützt sich vielfach auf das schon bei Vinzenz vorfindliche Material, kürzt es aber, lässt ganze Passagen oder Kapitel aus und verändert damit den argumentativen Zusammenhang des Ganzen.65 Auch die Systematik der Altersstufen tritt gegenüber Vinzenz in den Hintergrund. Obwohl bei Wilhelm die Zäsuren von infantia, pueritia und adolescentia terminologisch noch erkennbar sind, entdifferenziert er sie zugunsten der Opposition von Jugend und Reife. Die heilsgeschichtliche Herleitung der Erziehungsnotwendigkeit übernimmt er von Vinzenz: »Die Erziehung der Kinder ist notwendig wegen des Zustandes, worin sich die Menschen be64

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Wilhelm Peraldus, De eruditione principum, in: Eduard Fretté (Hrsg.), Thomae Aquinatis opera omnia, Paris 1875. Dt. Wilhelm Peraldus, Die Pflichten des Adels. Eine Stimme aus den Tagen des hl. Thomas von Aquin, übersetzt von Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Mainz 1868. Zu Wilhelm vgl. Antoine Dondaine, »Guillaume Peyraut. Vie et Oevres«, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 18 (1948), S. 162–236. Zur Quellenfrage vgl. Arpad Steiner, »Guillaume Perrault and Vincent of Beauvais«, in: Speculum 8 (1933), S. 51–58; ders., »New Light on Guillaume Perault«, in: Speculum 17 (1942), S. 519–548.

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finden nach der Sünde der ersten Eltern. Ihnen ist nämlich Unwissenheit und eine ungeordnete Begierde eigen.«66 Mangel an geistiger Kontrolle und Überschuss körperlicher Affekte korrespondieren die beiden Erziehungstechniken der Bildung und der Zucht. Deshalb wird Erziehung sowohl als Zucht im Sinne von Züchtigung als auch im Sinne von Bildung programmatisch vertreten: »Zur Empfehlung der Zucht ist zu erwägen, daß sie dem Menschen die Ähnlichkeit mit dem Tiere benimmt, daß sie den Leib dem Geist unterwirft.«67 Während Wilhelm wie Vinzenz den heilsgeschichtlichen Anfang noch markiert, verzichtet er aber auf die teleologische Ausrichtung des Lebens, d. h. auf die elaborierten Ausführungen über das Alter, den Tod und das Gericht. Tugend (Gut) und Laster (Böse) bleiben zwar als Koordinaten des Lebens bestehen, dessen biographischer und heilsgeschichtlicher Rahmen aber geht als Erzählung verloren. Die Sequenzierung des Lebens in Anfang, Mitte und Ende, die Vinzenz auf drei Ebenen – heilsgeschichtlich, altersstufensystematisch und biographisch – entworfen hatte und die unterschiedliche narrative Rahmen evozierten, werden bei Wilhelm durch eine rein ethische Topik ersetzt. Nur ein kurzes Kapitel reserviert er dem Status des Todes in Jugend und Alter, das aber mehr die Funktion eines memento mori erfüllt. Die komplexe Relation der Altersstufen zueinander und ihr Verhältnis zum Lebensganzen fallen nicht in seinen Blick. Wilhelm vereinfacht die Argumentation des Vinzenz, er markiert aber damit den Übergang zu einer synchronen Behandlung der Altersstufen, die den heilsgeschichtlichen Argumentationsrahmen in den Hintergrund drängt. Altersstufen spielen im Zusammenhang der Sozialisation vor allem eine pragmatische Rolle. Die Aufgaben der Erziehung richten sich nach den Anforderungen der jeweiligen Altersdisposition. Der Fürstenspiegel des Ägidius Romanus, weit verbreitet im Mittelalter, widmet ein ganzes Buch der Kindererziehung und handelt in diesem Zusammenhang den Status der Lebensalter ab.68 Die Einteilung ist konventionell und beschränkt sich auf die ersten drei Altersstufen, deren erste beiden mit jeweils sieben Jahren angesetzt werden, die dritte bis ins 27. Lebensjahr reichen kann: infantia, pueritia, adolescentia. Der Akzent liegt auf den ersten Phasen, die den Entwicklungsprozess des Subjekts zum sozialen Wesen nachzeichnen. 66

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Wilhelm Peraldus, Die Pflichten des Adels, S. 216, vgl. Wilhelm Peraldus, De eruditione principum, V,1, S. 604: Eruditionem eorum requirit status in quo sunt pueri post peccatum primorum parentum, habent enim ignorantiam et inordinatam concupiscentiam. Wilhelm Peraldus, Die Pflichten des Adels, S. 17, vgl. Wilhelm Peraldus, De eruditione principum, S. 15: Ad commendationem disciplinae facit quod ab homine brutalem similitudinem expellit, corpus spiritui subdit. Aegidius Romanus (Colonna), De regimine principum libri III, Rom 1556 (Nachdruck Frankfurt 1968), II, 2. Vgl. Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, Stuttgart 1938, S. 211–228.

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Zweck der Erziehung ist im Rahmen seines Fürstenspiegels die Befähigung zur Herrschaft, ein politisches Ziel mithin, das den Fürstensohn zum vorbildlichen Herrscher formt. Entsprechend sind die Erziehungsschritte zum einen auf die Ausbildung von individuellen Fertigkeiten, zum andern auf soziale Kompetenzen ausgerichtet: Ausbildung zum Wissen und zur Tugend sind das Ziel. Im Kontext der aristotelischen Moralphilosophie handelt es sich um einen teleologischen Prozess sich steigernder Regierungskompetenz, die von der Ethik, sich selbst zu regieren, über die Ökonomik der Hausverwaltung bis zur Politik der Staatenlenkung reicht.69 Auch hier stehen die Altersstufen nicht für sich, sie sind in den übergeordneten Zusammenhang des sozialen und politischen Systems integriert. Ihr Fokus ist nicht die Jahreszeit, das Planetensystem oder die Geschichte, sondern die Relation des Körpers zur Gesellschaft: gewissermaßen ein politisches Narrativ. Der metaphorische Zusammenhang tritt gegenüber dem analytischen zurück. Ägidius entfaltet gleich zu Beginn den Grundriss seiner Theorie. Sie geht von den beiden Seelenvermögen aus, dem Drang nach Erkenntnis und dem sinnlichen Begehren, was eine dreifache Aufgabe nach sich zieht: die Modellierung des Körpers, des Willens und des Intellekts, in moderner Terminologie: Anatomie/Physiologie, Psychologie und Philosophie. Diesen drei Instanzen werden auch die ersten drei Altersstufen zugeordnet. Während in der infantia der Körper Ort der pädagogischen Bemühungen ist, sind es in der pueritia der Wille und in der adolescentia der Verstand. Ägidius hat nicht das Leben als Ganzes im Blick, sondern mit der Ausbildung politischer Mündigkeit nur einen Ausschnitt. Die einzelnen Stufen sind in ihrer traditionell topischen Semantik auf ihre politische Funktion hin fokussiert. Das aristotelische Erziehungsprogramm bildet insofern ein integriertes System, als die Stufen zwar aufeinander folgen, doch alle drei Instanzen zugleich trainiert werden sollen. Ich zitiere die Zusammenfassung des Ägidius: Im ersten Septennium ist also hauptsächlich nur auf eines Bedacht zu nehmen, nämlich auf das gute Gedeihen des Körpers; im zweiten Septennium dagegen auf zweierlei, nämlich auf das gute Gedeihen des Körpers und auf Regelung des Begehrungsvermögens; im dritten endlich auf dreierlei, auf gute Disposition des Körpers, auf Regelung des Begehrungsvermögens und auf die Ausbildung des Intellekts.70 69 70

Schrübbers, »Regimen und homo primitivus«, S. 112–141. Aegidius Romanus, »Von der Sorge der Eltern für die Erziehung der Kinder«, in: Ägidius Romanus’ de Colonna, Johannes Gersons, Dionys des Kartäusers und Jakob Sadolets Pädagogische

Schriften, übersetzt und mit biographischen Einleitungen und erläuternden Anmerkungen versehen von Michael Kaufmann, F. X. Kunz, Heinrich A. Keiser und Karl Alois Kopp, Freiburg/Br. 1904 (Bibliothek der katholischen Pädagogik XV), vgl. Aegidius Romanus, De regimine principum, II,17, S. 198f.: In primo ergo septennio post receptionem baptimatis et

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Ägidius geht mit Aristoteles davon aus, dass der Mensch vor allem seine körperlichen und affektiven Dynamiken unter Kontrolle halten muss, und die drei Altersstufen der Jugend bilden die zentralen Orte der Gefährdung. Die Entwicklungslinie geht vom Körper zum Geist. Sie ist teleologisch ausgerichtet und umfasst die Ausbildung von angelegten und funktional nützlichen Fertigkeiten bis zur vollen körperlichen und geistigen Reife am Ende der adolescentia (27). Zu diesem Zeitpunkt ist die Gestaltidee (Entelechie) des Menschen zu sich selbst gekommen; er ist ausgereift, kann sich selbst regieren und bedarf daher keines Pädagogen mehr. Der Mensch hat sein Telos als soziales Wesen erreicht, das Ende der Entwicklung ist auch hier die Mitte. 71 Die einzelnen Altersstufen implizieren spezifische Dispositionen, deren negativen Ausprägungen gegengesteuert und deren positive gefördert werden müssen. In der infantia müssen vor allem die körperlichen Anlagen gefördert und kanalisiert werden. Der weiche Körper muss durch adäquate Nahrung sorgfältig unterstützt, er muss durch Übung geformt und an erste Abhärtungen gewöhnt werden. Die Erziehung in der Kindheit ist auf vier Ziele ausgerichtet: auf Gesundheit, Beweglichkeit, Wachstum und Stärkung der Glieder. Der Prozess der Formung wird explizit mit dem der Modellierung von weichen Stoffen verglichen. Die eigentliche Erziehung aber beginnt erst mit der pueritia. Diese ist die Zeit der Affekte, in denen Begehren und Leidenschaften eine zentrifugale Energie entwickeln. Begierde und Leidenschaften regen sich, der Knabe neigt zur Lüge und Maßlosigkeit, die Verstandestätigkeit ist zwar sichtbar, doch noch wenig entwickelt: daher Elementarunterricht. Das Erziehungsziel während der pueritia ist das Abstellen von Fehlentwicklungen durch Willensbildung: Enthaltsamkeit, Nüchternheit, Wahrheit und die Einhaltung eines verständigen Maßes. Sichtbar werden die Koordinaten eines ethischen Programms. Konzentriert sich der Mediziner auf die Physiologie der Altersstufen und der Theologe auf die Wahrung der individuellen Seelenreinheit, so fokussiert der Politiker sein Interesse auf den Willen als entscheidenden sozialen Faktor. Zwischen Körper und Geist, auf ihrer Basis und in ihrem Spannungsfeld formt sich der Wille als zentrale politische Instanz. Mit der adolescentia beginnt die eigentliche Bildung der Verstandeskräfte durch Einübung der Wissenschaften. Die Anfechtungen des Begeh-

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sacramentorum Ecclesiae, intendendum est principaliter quasi circa vnum, vt circa bonam disposi corporis. Sed in secundo septennio, vt à duodecimo anno vsque ad quartumdecimum, est quasi intend principaliter cira duo, vt circa dispositionem corporis, et circa ordinationem appetitus. Sed in t septennio, vt à quartodecimo anno et deinceps intendendum est circa tria vt circa bonam dispositi corporis, circa ordinationem appetitus, et circa illuminationem intellectus. Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie«, in: Schweizer Monatshefte 48 (1968), S. 121–146. Vgl. Schrübbers, »Regimen und Homo primitivus«, S. 128.

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rungsvermögens sind aber keineswegs bewältigt, sie nehmen nur eine andere Qualität an. Der adolescentia werden zwei ungeordnete Neigungen zugewiesen: die Selbstüberhebung der Pubertät und ein übermäßiger Hang zur Sinnlichkeit, die Geschlechtsreife führt darüber hinaus zu neuen Versuchungen. Neben der Formung psychologischer Dispositionen sind hier vor allem soziale Tugenden auszubilden: Unterordnung unter die Autorität der Väter, der Älteren und der Vorgesetzten. Der Erziehung wird bei Ägidius eine humoralpathologisch fundierte Anthropologie zugrunde gelegt, und sie orientiert sich an drei verschiedenen Instanzen: Ausgegangen wird von einem körperlichen Zustand der Weichheit, Formlosigkeit und übermäßigen Erhitzung, der in einen Prozess der Formgebung, Verfestigung und Abkühlung überführt werden muss. Körperliche Betätigung gilt als gesund, da durch sie überflüssige und schädliche Stoffe ausgeschieden werden. Das Schema der Altersstufen bildet aber nur den allgemeinen Rahmen für konkretere Ausbildungsvorgänge. Nicht nur macht Ägidius gleich zu Beginn darauf aufmerksam, dass individuelle Unterschiede im Entwicklungsgang bestehen (II, 16), er verweist auch auf jeweils individuelle Dispositionen, die zu spezifischen Aufgaben disponieren. Die körperliche Disposition bedingt mit dem 14. Lebensjahr die Differenzierung der sozialen Funktionen: Je nach körperlicher Anlage sind die Jugendlichen zu militärischen, bürgerlichen oder politischen Aufgaben bestimmt. So sollen Kinder, die zur Herrschaft bestimmt sind, zwar aus Gesundheitsgründen sich körperlich ertüchtigen, doch soll dies nur maßvoll praktiziert werden, da ansonsten die intellektuellen Kräfte in Mitleidenschaft gezogen werden. Spezialisierung des Körpers führt in rein praktische Berufsfelder. Weichheit des Körpers ist demgegenüber nicht nur ein Differenzkriterium der Altersstufen, es wird auch zum sozial differenzierenden Merkmal: Für die politische und die wissenschaftliche Laufbahn ist sie eine physische Voraussetzung: »durch Sitzen und Ruhen des Körpers wird die Seele weise.« (II,18). Die symmetrische Konzeption der Politik korreliert die drei Altersstufen mit einem anthropologischen Substrat – Körper, Wille, Geist – und sozialen Differenzierungen: Arbeiter, Politiker und Wissenschaftler. Das Schema der Altersstufen liefert das topische Gerüst für die Beschreibung eines gestuften Prozesses und zugleich die inhaltlichen Gemeinplätze, die den Altersstufen entsprechen: Den einzelnen Stadien entsprechen in der Regel stereotype Zuschreibungen. Ägidius legt seinem Erziehungsmodell darüber hinaus eine Reihe von Erkenntnissen zugrunde, die als Verfahren topische Qualität besitzen und im Verlauf der Argumentation immer wieder als Prämissen die Beweisführung steuern: die Dichotomie von Leib und Verstand (Seele); die Tatsache, dass realiter die Seele den Gewohnheiten des Körpers folgt, idealiter aber der Körper den Vor-

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schriften der Seele folgen soll; schließlich Gewohnheit als das wichtigste Erziehungsprinzip: consuetudo altera natura. Hier fungiert der Topos nicht als formales Raster, auch nicht als inhaltliches Stereotyp, sondern als Beweismittel, als strukturierendes Argument. Das Erziehungsprogramm bewegt sich auf der Grenze von Natur und Kultur, des Gesetzes und der Gewöhnung: Die Altersstufen bilden den qualitativ bestimmten Entwicklungsrahmen, individuelle anatomische, physiologische, psychologische und intellektuelle Dispositionen machen spezifische Vorgaben; über den kulturellen Faktor Gewöhnung werden die einzelnen Dispositionen modelliert. Die Altersstufen verbinden eine natürliche Teleologie mit individuellen Dispositionen und mit einem kulturellen Formungsprozess, der naturähnliche Qualität annimmt: Consuetudo aber bildet das zentripetale kulturelle Komplement zu den zentrifugalen natürlichen Energien: ein Formungsprinzip, das in negative wie positive Richtung wirken kann. Die angelegte negative Natur kann nur durch Kultur an ihrer Entfaltung gehindert werden. Altersstufen stellen diskursive, topische und symbolische Ordnungen dar, die dem menschlichen Leben Struktur und Sinn einschreiben. Sie gliedern den Gesamtzusammenhang des Lebens in Stadien und relationieren diese zwischen den Polen Anfang und Ende. Die Systematik der Lebensalter gerät dabei in Spannung zu ihrer Zeitstruktur, die ihrerseits in symbolischen Ordnungen, in Narrativen und Metaphern, zum Ausdruck kommt. Je nach disziplinärem Blickwinkel verändert sich aber der Kontext, in den die Altersstufen integriert werden. Die Naturphilosophie entwirft unterschiedliche Muster: Das aristotelische Modell gliedert die Altersstufen in die einfache Abfolge von Wachsen, Reifen und Vergehen und legt ihnen mit Anfang, Mitte und Ende eine Basisstruktur zugrunde, die nach Aristoteles auch die Grundstruktur einer Erzählung darstellt. Das ihr korrespondierende Bild ist das des Bogens. Ein solches Bild etabliert zwar eine Struktur und eine Finalität, nicht aber einen Sinn. Die narrative Struktur des Lebens bleibt unvollständig, da sie weder aus übergeordneter noch aus subjektiver Perspektive einen Sinn ergibt. Demgegenüber verorten Medizin und Astrologie das Leben in übergeordneten natürlichen Zusammenhängen. Die Zyklen der Jahreszeiten und der Planeten folgen einer Kreisstruktur, und gegenüber dem aristotelischen Modell besitzen sie mit der Struktur einer Erzählung auch einen Sinnhorizont. Sie bilden Metanarrative, über die sich das Leben in einen generationsübergreifenden oder transzendenten Sinnzusammenhang einfügt: Die Geschlossenheit der Kreisfigur wird zum Kreislauf der Generationen oder zur ewigen Wiederkehr des Gleichen.

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Mit dem christlichen Modell wird das Leben mit seinen Altersstufen nicht nur in Relation zur Geschichte gesetzt. Indem hier das Leben selbst als intentionaler Zusammenhang aufgefasst wird, nimmt es nun in seinem linearen Verlauf den Status einer selbst verantworteten Erzählung an. Vinzenz von Beauvais relationiert das menschliche Leben einerseits zum Metanarrativ der Heilsgeschichte, andererseits zur Systematik der Altersstufen. Indem er antike und christliche Konzepte miteinander verbindet, wird das Leben aus unterschiedlichen synchronen und diachronen Sinnzusammenhängen in den Blick genommen. Die natürliche Finalität des Lebens und der Altersstufen wird durch das antike und das christliche Modell auf unterschiedliche Art bewältigt. Wilhelm Peraldus reduziert diese Komplexität wieder auf ein einfaches mememto mori-Schema, dem er seine Erziehungslehre zuordnet. Ägidius Romanus schließlich konzeptionalisiert im Gefolge von Aristoteles die Altersstufen auf ihre Funktion für die Herrschaftstauglichkeit hin. Gegenüber dem natürlichen und christlichen Metanarrativ harmonisiert er die natürliche Finalität der Altersstufen mit dem politischen Modell der Herrschaft.

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Altersstufen als Narrative und Metaphern

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KELLNER, Beate, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004. LÉVI-STRAUSS, Claude, Das Ende des Totemismus, Frankfurt a. M. 1965. MCCARTHY, Joseph M., Humanistic Emphases in the Educational Thought of Vincent of Beauvais, Leiden und Köln 1976. SCHMITT, Arbogast, »Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte?«, in: Karlheinz Stierle / Rainer Warning (Hrsg.), Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996, S. 528–563. SCHÖNER, Erich, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, Wiesbaden 1964. SCHREINER, Klaus, »Bildung als Norm adeliger Lebensführung. Zur Wirkungsgeschichte eines Zivilisationsprozesses, untersucht am Beispiel von ‚De eruditione filiorum nobilium‘ des Vinzenz von Beauvais«, in: Rüdiger Schnell (Hrsg.), Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne, Köln u. a. 2004, S. 199–237. SCHRÜBBERS, Christiane, »Regimen und Homo Primitivus. Die Pädagogik des Ägidius Romanus«, in: Augustiniana 33 (1983), S. 112–141. SEARS, Elisabeth, The Ages of Man. Medieval Interpretations, Princeton 1986. STEINER, Arpad, »Guillaume Perrault and Vincent of Beauvais«, in: Speculum, 8 (1933), S. 51–58. – »New Light on Guillaume Perault«, in: Speculum, 17 (1942), S. 519– 548. STIERLE, Karlheinz, »Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie«, in: Jürgen Kocka / Thomas Nipperdey (Hrsg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979, S. 85–118. VAVRA, Elisabeth (Hrsg.), Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Internationaler Kongress Krems an der Donau 16.–18. Oktober 2006, Wien 2008. WILI, W., »Innozenz III. und sein Werk«, in: Josef Koch (Hrsg.), Humanismus, Mystik und Kunst in der Welt des Mittelalters, Leiden und Köln 2 1959 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 3), S. 125–136.

WILLIAM L . RANDALL

A Time to Read. Reflections on Narrative Openness in Later Life Drawing on themes and concepts from the emerging field of “narrative gerontology,” the author argues that subjectively we experience our lives as stories – as quasi-literary texts or novels, so to speak – of which we are (more or less) author, narrator, character, editor, and reader, all at once. Later life, he suggests, presents us with a unique opportunity and incentive, and typically more time, to engage in conscious reflection on – to read – these complex, multi-layered texts that we have quietly been composing within us (and as us) across the years. Such reading, he proposes, is essential to keeping our lifestories open, so that, right to The End, we can keep (actively and consciously) growing old and not just (passively, sadly) getting old.

1. Preliminary Considerations I look at later life as a time when I will at last have e n o u g h time to contemplate my life as a whole, in the process, I hope, arriving at a modicum of insight into »me«. I look at later life as a time to consciously g r o w old, in other words, and not just – passively, begrudgedly – g e t old.1 As a gerontologist, especially a n a r r a t i v e gerontologist, my interest in the theme of this conference is linked to my interest in our experience of time, and how that experience changes as we age. Regardless of our discipline, or the stage in history that is the focus of our research, or the stage we occupy in our own personal development, »old age« is a distinctive period within the lifespan. It is a period when we can experience the passage of time with particular »emotional poignancy«.2 It is a time when our relationship to time itself can undergo subtle but significant change. And it is a time with distinct »developmental tasks«, as psychologists describe them, that our internal evolution compels us to tackle. It is a time 1

2

See William L. Randall / Elizabeth McKim, Reading our Lives. The Poetics of Growing Old, New York 2008. Quinn Kennedy / Helene H. Fung / Laura L. Carstensen, »Aging, Time Estimation, and Emotion«, in: Susan H. McFadden / Robert C. Atchley (Eds.), Aging and the Meaning of Time. A Multidisciplinary Exploration, New York 2001, pp. 51–73, here pp. 66–68.

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to reflect on our lives, to review our lives, or (as I like to put it) to r e a d the t e x t s – the s t o r i e s , in effect – by which we understand those lives. A number of considerations are in order, though, before I pursue these insights further. First, when in fact does »later life« begin? Put more bluntly, when does »old age« begin? In the minds of many, old age begins officially with retirement. Nowadays, however, the age of retirement can vary widely (from 60 to 65 to 70), if »retirement« as such is even a relevant concept anymore. Let me suggest, therefore, that the so-called »second half of life« begins whenever we f e e l that it begins. Now clearly, this leaves things rather imprecise, for certain people can feel old, look old, and act old at only 40 or 50, while others, even though they are 70 or 80, appear forever young! The point, though, is that »old age«, ultimately, has less to do with chronological time than with experiential time, with inner time. The emphasis on experience here is critical. As a narrative gerontologist, my interest is more in the i n s i d e of aging than in the outside, in the external or physical or biological changes associated with our aging bodies. I am interested in b i o g r a p h i c a l aging, in how our memories and identities change over time, in the development of our autobiographical consciousness, and in the possibility of growing – truly g r o w i n g – in insight and wisdom. Ironically, such topics have been much less studied than one might think, certainly within mainstream gerontology, defaulting as it often has to a portrayal of aging as, at heart, a p r o b l e m to be solved (socially, individually), and to a focus on physical, medical, or biological d e c l i n e . No doubt, outside and inside, soma and psyche, biological and biographical, are intimately linked. Here, though, it is the biographical dimension that interests me the most. Not surprisingly, a metaphor which we narrative gerontologists find helpful to employ is that of lif e as a s t o r y. 3 Those of you working in the social sciences and related fields are no doubt familiar with the conceptual potential of the »narrative root metaphor«,4 and with how it highlights (among other things) the a e s t h e t i c side of being human. By means of this metaphor, we can visualize our lives, not as random arrangements of molecules and atoms, but as unfolding stories; as complex, quasi-literary texts of which we ourselves are ultimately the primary a u t h o r (or co–author), the principal n a r r a t o r (most days, at least), the 3

4

See Gary M. Kenyon / Phillip G. Clark / Brian de Vries (Eds.), Narrative Gerontology: Theory, Research, and Practice, New York 2001. See also Gary M. Kenyon / Ernst Bohlmeijer / William L. Randall, (Eds.), Storying Later Life. Issues, Investigations, and Interventions in Narrative Gerontology, New York 2010. Theodore R. Sarbin, »The Narrative as a Root Metaphor for Psychology«, in: T. R. S. (Ed.), Narrative Psychology. The Storied Nature of Human Conduct, New York 1986, pp. 3–21.

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main c h a r a c t e r (or characters, for surely we play many parts within our own story), and the primary r e a d e r . This way of looking at life – and, by extension, at aging – overlaps closely with that of l i t e r a r y g e r o n t o l o g y . 5 However, where literary gerontologists tend to focus on the ways that aging is portrayed within particular works of literature, themselves composed within different cultures and different genres (witness the range of papers at this conference), I look at aging itself as a literary process. I look at lives themselves as living works of literature, as flesh-and-blood novels, so to speak;6 or as what literary scholar, Gary Morson, calls »processual« works, namely rambling, open-ended works that, in his words, are »composed from within«.7 In fact, this insight is absolutely pivotal to what I call »the poetics of growing old.«8 A narrative perspective on life – and therefore aging – is by no means individualistic. It is a s o c i a l perspective. Narratively speaking, no one is an island. Story-wise, our lives are interwoven. They are »interknit«.9 We author, narrate, read, and act within our own lifestories in collaboration, directly or indirectly, with countless others besides us (parents, partners, friends) amid an intricate web of larger social settings – those, for instance, of particular families, communities, and cultures. These narrative environments10 provide the scripts, the »narrative templates«,11 or the »forms of self-telling«12 on which we unwittingly rely in emplotting the stories that we tell of who we are as individuals. People from Heidelberg, one could venture, tend to s t o r y their lives in slightly different ways than people from Frankfurt or Freiburg, and in v e r y different ways perhaps than people from New Delhi or New Guinea. Though difficult to measure, such differences can have powerful (if difficult to quantify) effects on 5

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8

9

10 II 12

See Anne M. Wyatt-Brown, »The Future of Literary Gerontology«, in: Thomas R. Cole / Robert Kastenbaum / Ruth E. Ray (Eds.), Handbook of the Humanities and Aging, New York ²2000, pp. 41–61. See William L. Randall, »Narrative Intelligence and the Novelty of Our Lives«, in: Journal of Aging Studies, 13,1 (1999), pp. 11–28, and William L. Randall, »From Computer to Compost. Rethinking our Metaphors for Memory«, in: Theory and Psychology, 17, 5 (2007), pp. 611–633. Gary S. Morson, »Essential Narrative. Tempics and the Return of Process«, in: David Herman (Eds.), Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis, Columbus 1999, pp. 277– 314, here pp. 278ff. William L. Randall / Elizabeth McKim, Reading our Lives. The Poetics of Growing Old, New York 2008. Kenneth J. Gergen / Mary M. Gergen, »The Social Construction of Narrative Accounts«, in: K. F. G. / M. M. G. (Eds.), Historical Social Psychology, Hillsdale 1984, pp. 173–189. See Jerome Bruner, Acts of Meaning, Cambridge 1990, p. 84. Horace P. Abbott, The Cambridge Introduction to Narrative, Cambridge 2002, p. 7. Bruner, Acts of Meaning, p. 16.

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how we age b i o g r a p h i c a l l y – and thus on how we experience time across the life span. So, then, we compose our lives (as texts or stories or novels) not in some sort of socio-political vacuum but rather within a complex network of larger narrative environments. Furthermore, we compose our stories from within our stories – i. e., after The Beginning but before The End. As we evolve as persons, our stories evolve with us. And as they evolve, w e evolve. I like what William Bridges, a literature professor turned psychotherapist, has said: »We are like stories that are slowly unfolding according to our inner theme and plot. Each person’s life is a story that is telling itself in the living«.13 Psychologist Dan McAdams, a pioneer in n a r r a t i v e psychology, defines Erikson’s concept of »identity« in similar terms. »Identity«, says McAdams, »is a lifestory« – »an evolving personal myth that provides our life with unity and purpose«.14 So then, myth and life, life and story – these things go together. At the same time, we can have many lifestories within us at once, or at least many versions of our one lifestory that we can recount, a possibility I will return to in a moment. Another point to make is that we do not experience our existence in some direct, immediate manner, but only as it is selected, interpreted, textualized, or s t o r i e d . What we »experience« is our t e x i s t e n c e . The lion’s share of our existence per se is, in effect, edited out. If we notice it at all, it is only for minute, and then, for all intents and purposes, it is basically discarded. It is water beneath the bridge. I am always amazed at how few details I manage to recall after making an important trip (like this one to Heidelberg), unforgettable though every single minute felt at the time! How many specific memories – really, honestly – can each of us recall from everything that we experienced last year, last month, last week? A fierce internal editing has clearly been at work. Indeed, we can be grateful that it has, for we could scarcely function in our daily lives if we could not f o r g e t the vast proportion of our daily lives. »It is possible to live almost without memory«, Nietzsche reminds us, »but it is altogether impossible to live at all without forgetting«.15 After all the editing, what we are left with are what we call our memories. I am talking here, of course, not about semantic memory (memory 13 14

15

William Bridges, Transitions: Making Sense of Life’s Changes, Toronto, 1980, p. 71. Dan P. McAdams, »Narrating the Self in Adulthood«, in: James E. Birren / Gary M. Kenyon / Jan-Erik Ruth / Johannes J. F. Schroots / Torborjin Svensson (Eds.), Aging and Biography. Explorations in Adult Development, New York 1996, pp. 131–148, here p. 132. Friedrich Nietzsche, cited in: Michael Ross / Roger Buehler, »Creative Remembering«, in: Ulrich Neisser / Robin Fivush (Eds.), The Remembering Self. Construction and Accuracy in the Self-narrative, New York 1994, pp. 205–235, here p. 219.

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for information) or procedural memory (memory for how to do things), but about episodic memory or a u t o b i o g r a p h i c a l memory – memories of experiences or episodes that are germane to our own unique lives, our own unique selves. The point is: these memories are never precise representations of what actually took place. They are narrative reconstructions. They are stories – big or little, long or short – that we form around those comparatively few events that we succeed in holding onto. They are not »the facts« as such but, rather, strange blends of fact and fiction that might more accurately be called f a c t i o n s . They are proto-literary texts that, basically, can be interpreted or read – and re-interpreted and re-read – like we do with a n y text. Autobiographical memory as a whole is a matter, not of fact, therefore, but largely of faction. It is a sprawling, everthickening, narrative fabric that is more or less open or closed – a distinction I will come back to in a bit. Memories are narrative constructions in the same broad sense that p e r c e p t i o n s are narrative constructions. Suppose that we perceive an event – for the sake of argument, someone walking down the street. What we perceive, however, is never the event itself in some raw, unmediated form, isolated in time, with neither future nor past. Rather, it is a story-inthe-making, or, more precisely, a set of p o s s i b l e stories. We assume, for instance, that the person has walked f r o m somewhere – say, a store or a bank – and is walking t o somewhere – another store or another bank, or perhaps a secret rendezvous with a lover! In other words, we think i n s t i n c t i v e l y in terms of little stories. Indeed, the impulse to perceive time in story terms, researchers are increasingly proposing, appears to be hard-wired into our brains themselves. Our mind, says cognitive scientist Mark Turner, is »the literary mind«.16 In short, narrative is rooted in neurology. So then, if we wish to discuss our experience of time, then into our discussion, sooner or later, we must factor the narrative variable. As a gerontologist, I try to do this with every topic that I can. As a case in point, Beth McKim and I devote the second half of our book Reading Our Lives to exploring four key topics from a narrative perspective: Memory, Meaning, Wisdom, and Spirituality.17 From a narrative perspective, these four themes are intimately linked – and linked as well to the topic of time.

16 17

Mark Turner, The Literary Mind, New York 1996. See William L. Randall / Elizabeth McKim, Reading our Lives. The Poetics of Growing Old, New York 2008.

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2. Story-Time So much for these »preliminary« considerations. In the end perhaps, our experience of time is a mystery. That said, we are all familiar with chronological time: time as we mark it on our birthdays – age 50, 60, or 70 – or view it on our clocks – 5:00 pm, 6:00 pm, 7:00 pm. These are ways of measuring time »objectively«. Subjectively, however, our e x p e r i e n c e of time can vary markedly from person to person and situation to situation. It can be fast, it can be slow. There are countless situations in which the passage of time varies: waiting in line, falling in love, chatting with a friend, fighting in a war. It is scarcely surprising, then, how many metaphors (in English at least) can be enlisted to capture our experience: Time flies when you’re having fun. Time is an ever-rolling stream. Time is money. O r , time

is a commodity we can waste or run out of, or an enemy we must kill. If we experience our lives as unfolding stories of which we are »in the middest«18, then time for us is less clock-time than s t o ry- t im e . Many philosophers have wrestled with the relationship between time and narrative, Paul Ricœur being a clear case in point,19 and Kierkegaard is wellknown for noting this: We feel our lives moving ever forward into the future yet it is basically only in retrospect – in h i n d s i g h t 20 – that we are able to make sense of them. We interpret the past through the lens of the present, in light of whatever future we happen to anticipate, and vice versa, too. Our experience of lifestory-time is thus complex, dynamic, and fluid. 21 My focus here, though, is on how our experience of story-time varies with the t y p e of story that is at stake, and with where we are ›in‹ it. Some movies, as the saying goes, are »action-packed« or »fast-paced«. Others, though they consume the same amount of screen-time, seem to drag on forever. Not that they are any less interesting to watch, but the pace of the plot is slower overall, perhaps because it is a drama of ideas or emotions more than one of actions. The point is: Time can be handled quite differently from one movie or novel to another. Indeed, how producers or authors deal with the issue of time is a pivotal variable in how a story gets composed or portrayed. It is bound up with »point of view« – 18 19

20 21

Frank Kermode, The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction, New York 1966 (The Mary Flexner Lectures on the Humanities 11). See Paul Ricœur, »Narrative Time«, in: W. J. Thomas Mitchell (Eds.), On Narrative, Chicago 1981, pp. 165–186. See Mark Freeman, Hindsight. The Peril and Promise of Looking Backward, New York 2010. See Jens Brockmeier, »From the End to the Beginning. Retrospective Teleology in Autobiography«, in: J. B. / Donal Carbaugh (Eds.), Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self, and Culture, Amsterdam 2001, pp. 247–280.

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with who is telling the story, to what audience, for what reason, in what way. Where we are in the story affects our experience of story-time. Storytime is flexible. As we start to watch some movies, before we have figured out where the story is »going«, we can be very much aware of c l o c k time. Once we get »into« the movie, however, we can get so caught up with what will happen next, that (as we say in English) »we lose all track of time«. Two hours of clock time pass us by, yet the movie is over before we know it. The closer we get to The End, however, the more intense our sense of time is bound to become – s t o r y -time, that is. For one thing, we may be sad that it will soon be over, for we shall miss the characters and the chemistry between them; or the scenery, the music, the mood, the feelings that the story has awakened within us. We may secretly hope to see »To Be Continued« on the screen. For another thing, our sense of the meaning that this particular story-world has focussed may have intensified too, even if we cannot put it into words. We will feel like we have discovered new things about ourselves, made new connections, arrived at new insights, and, overall, may feel that the story has c h a n g e d us in some essential way. We may not be able to put it into words, but we are not quite the same person a f t e r the movie as we were b e f o r e it. Something is different inside of us. C l e a r l y , story-time varies from story to story. Yet, within any one story, it generally becomes more intense or more meaningful the closer we approach The End. This parallels the differences people can experience in the stories of their own lives – differences in autobiographical time or narrative time – and how these vary from one person’s lifestory-world to another’s. I say »lifestory-w o r l d « because, in English at least, it is common to say of someone that »she lives in her own little world«, and also, of course, because any story i s , in the end, a world unto itself, which is why it can be so hard to make major change in our lives. »Each of us resists change«, says Bridges, »because a story is a self-coherent world and has its own immune system«.22 Be that as it may, differences in lifestorytime relate to any number of things – most obviously perhaps, personality, health, culture, religion, gender, and generation.

22

Bridges, Transitions, 1980, p. 71.

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3. Varieties of story-time in lifestory-worlds Lifestories vary greatly in terms of personality. You are familiar, no doubt, with Carl Jung’s concept of personality t y p e s . Some psychologists talk about broad personality t r a i t s – neuroticism, extraversion, agreeableness, openness, and conscientiousness.23 Psychologist Herbert Rappoport argues that how we orient ourselves toward time is a trait in its own right. Depressed persons, for instance, are oriented mainly toward the past. Addicts, he says, are more obsessed with the present, while so-called Type A personalities are focussed on the future. 24 Dan McAdams insists that, ultimately, personality is not just about traits or types but also about s t o r i e s – the evolving stories by which we explain to ourselves both who we are and why.25 Different people story their lives in different ways, according to different overall genres, and with different n a r r a t i v e t o n e s . »Narrative tone«, says McAdams, can range from »biting sarcasm« to »naive optimism«26 – from tragedy to adventure, if you like. We frequently encounter such differences in people’s storyworlds, and each reflects a distinct attitude to time. Some people seem chronically nostalgic, obsessed with the past in an overly romantic way. Hanging over others is an air of negativity. For them, the future is dark and bleak. Whenever we are around them, our energy is sucked from our souls. Others are positive and sunny. No matter what happens, they can see the silver lining in the cloud. The myth they live by – even when their life is filled with suffering and loss – is »highly generative«. It is a story not simply of survival but of r e d e m p t i o n , one in which bad is transmuted into good, suffering into learning, and horror into hope.27 Health, too, can influence our experience of time. A life dominated by arthritis or diabetes can revolve around the times we take our pills to control our condition. A life lived in the shadow of cancer is one lived on b o r r o w e d time. A life consumed by psychosis or schizophrenia will have comparable variations in the experience of time. Alcoholics, struggling valiantly to keep from drinking, live »one day at a time«. Even heavy smokers may experience time differently from the rest of us, with their days organized religiously around the times that they can take time off to light another cigarette. 23

24 25

26 27

See Robert R. McRae / Paul T. Costa, Personality in Adulthood. A Five-factor Theory Perspective, New York ²2003. See Herbert Rappaport, Marking Time, New York 1990. See Dan P. McAdams, The Person. An Integrated Introduction to Personality Psychology, New York ³2001. Dan P. McAdams, »Narrating the Self in Adulthood«, p. 136. See Dan P. McAdams, The Redemptive Self. Stories Americans Live By, New York 2006.

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Undoubtedly, culture can have a major impact upon our experience of story-time, a point I have touched upon already. Cultural differences are often linked to language differences, and each language t e n s e s the world in subtly different ways. As a German, trying to learn French or Mandarin or Hopi, you must master a rather different way of expressing and experiencing the relationship between past, present, and future. Cultural differences are linked as well to differences in political ideology, in spiritual beliefs, in attitudes to nature. Broadly speaking, certain cultures place more emphasis on p r o g r e s s , on the future being better than the present. In others, the present is less real, and less respected, than the past. We can feel such differences palpably almost when we journey from the busyness of Bonn or Berlin to the calm of a Caribbean beach; or from a fundamentalist Christian church, where the »Kingdom of Heaven« is everything, to a Buddhist temple which centers on the Now; or from an industrial environment to an agricultural one. I lived one time beneath The Big Sky of western Canada. The local people referred to it as »tomorrow country«. If the weather proves bad today for seeding or harvesting, then just wait till tomorrow. Nature has her own sense of timing. Over time, such differences can profoundly influence our experience of l i f e s t o r y -time, subtle or unstudied though those differences have been. Gender plays a notable role in our experience of time, even if (again) such differences have been understudied, especially in relation to aging. For Frieda Forman, women’s »time consciousness« is fundamentally different from men’s, by virtue of their capacity to bear children. Whereas »a crucial component of masculine time consciousness« is »awareness of death«28, for women, »the giving of time, i.e., birth [...] takes [...] priority over the taking away of time, i.e., death«.29 If Forman is correct, then one wonders what role this might play in why women tend generally to live longer than do men. Differences in generation – or »cohort differences«, as researchers call them – play a central part as well. Someone brought up in the poverty of the Great Depression may have a different overall relationship to the theme of money than will someone brought up in the 1960s, 70s, or 80s – plus a different relationship to Time itself perhaps, and to what it is one does with one’s personal l i fe -time. People in their 80s or 90s in Germany today (given the struggles, inner and outer, that they have had to deal with in their lives) could, on a level impossible to measure, have a significantly different experience of history, of memory, of time, a n d of aging than most of us at this conference. 28

29

Frieda J. Forman, »Feminizing Time. An Introduction«, in: F. J. F. (Ed.), Taking Our Time. Feminist Perspectives on Temporality, Toronto 1989, pp. 1–9, here p. 6. Ibid., p. 7.

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4. Reading our lives in the second half of life Bearing these factors in mind – personality, health, culture, gender, generation, plus others – we can see, then, how the experience of time can differ significantly from one person’s lifestory-world to that of another. Yet regardless of the composition of our individual story-worlds, the second half of life moves us into a phase when our relationship to time itself can undergo major qualitative changes. Schopenhauer describes that change as follows: »[T]he first 40 years of life furnish the text«, he says, »while the remaining 30 supply the commentary«. Yet »without the commentary we are unable to understand aright the true sense and coherence of the text, together with the moral it contains and all the subtle applications of which it admits«.30 The phrase McAdams uses for the stage that Schopenhauer is describing is »post-mythic«31 – p o s t -mythic because for a major portion of the life-span, from adolescence to mid-life, we are working more or less consciously on composing the myth by which we define our identity. At times, in that process, we may consult a therapist to help us revise our guiding myth in a healthier direction. But by the time we reach later life, the broad contours of our guiding story are well laid down. It is the time, then, to shift from the author mode or actor mode in our lifestory to more of the reader mode. It’s the time not so much to write n e w chapters as to read more consciously and intentionally the ones we’ve written so far. And i n the reading, a measure of re-interpreting and re-framing can certainly take place. Thereby, I believe, our stories stay o p e n . I stress this possibility because of a condition which many people can experience with advancing age: n a r r a t i v e f o r e c l o s u r e . For psychologist Mark Freeman, narrative foreclosure is »the premature conviction that one’s life story is effectively ended«,32 that no new chapters are likely to open up. Our life as such continues on, but in our minds our story is all but over. Every day is, essentially, the same old story. There is nothing of significance to look forward to. It is a recipe for d e p r e s -

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31 32

Arthur Schopenhauer, Counsels and Maxims, transl. by T. Bailey Saunders, Whitefish 2004, p. 94. The wisdom Schopenhauer expresses here is no doubt somewhat tempered by the fact that he was such a paranoid individual in real life that, reputedly, when he went to bed at night, he kept a loaded revolver underneath his pillow. See McAdams, »Narrating the Self«. Mark Freeman, »When the Story’s Over. Narrative Foreclosure and the Possibility of Selfrenewal«, in: Molly Andrews / Shelley D. Slater / Corinne Squire / Amal Treacher (Eds.), Lines of narrative. Psychosocial Perspectives, London 2000, pp. 81–91, here p. 83.

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s i o n , and if we possessed a means of measuring it,33 then we might find it more common among men than women, which could play some role in why women seem to live longer. Narrative foreclosure can affect us at any stage, of course – the statistics on teen suicide serving as a sobering reminder. Still, the countless changes and challenges that can come with later life may make us additionally vulnerable to what gerontologist Lawrence McCullough calls »arrested aging«. By this he means being imprisoned »by a past that seems to allow no escape«.34 In English, we say that someone is living in the past, holding onto a story that is stale, outdated, and static and that, in effect, imprisons us. I say all of this as if narrative foreclosure were intrinsically a problem. After a long, productive life, and with their social circle shrinking around them, are people not free to foreclose if they wish to? Of course, they are. Allow me to propose, however, that lifestories, like literary stories, can be open or closed. A closed story is one which, essentially, is written to a formula. When we reach The End, all questions have been answered (e. g., »who did it?«) and all loose ends have been neatly tied together. As the reader, we may feel satisfied, but not necessarily edified. With an open story – such as what we experience in l i t e r a t u r e per se – though it comes to an end, there is no end whatever to what we can get out of it, to the thoughts and feelings it can generate within us, to the questions it can raise, to the discoveries we can make in reading it. True, it has closure of sorts, by virtue of the fact that we experience a measure of completion as we reach the final page. Yet it is not closed closure, so to speak, but rather o p e n closure, the kind characterized by »the absence of answers and solutions to questions and conflicts«35 that the story has introduced. To link this idea to l i v e d stories, old age, says Florida Scott-Maxwell, writing in her 80s, is »a time of discovery«. When people ask her »discovery of what?«, she answers, »We must each find out for ourselves, otherwise it won’t be discovery«.36 Critical to such discovery, I believe, and thus critical to keeping our stories open, to growing old and not just getting 33

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See Ernst Bohlmeijer / Gerben J. Westerhof / William L. Randall / Thijs Tromp / Gary M. Kenyon, »Narrative Foreclosure. Preliminary Considerations for a New Sensitizing Concept«, submitted. Laurence B. McCullough, »Arrested Aging. The Power of the Past to Make Us Aged and Old«, in: Thomas R. Cole / W. Andrew Achenbaum / Patricia L. Jakobi / Robert Kastenbaum (Eds.), Voices and Visions of Aging. Toward a Critical Gerontology, New York 1993, pp. 184–204, here p. 121. Ibrahim Taha, »Openness and Closedness. Four Categories of Closurization in Modern Arabic Fiction«, in: Journal of Arabic and Islamic Studies, 2 (1998–99), pp. 1–23, here p. 5. Quoted after www.uib.no/jais/v002/taha.pdf [April/26/2007]. Florida Scott-Maxwell, The Measure of My Days, London 1968, p. 142.

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old, is our capacity to r e a d the texts by which, throughout the years, we have come to understand our lives. Across the lifespan, we learn to read all types of texts, except perhaps that one ever-thickening text that has been accumulating silently inside of us, year after year after year. Yet towards this text, the open text of memory, t h e s t o r y o f m y l i f e , many of us remain largely illiterate: like a novel whose author laboured long and hard to write it but which, tragically, no one takes the time to read. What does Socrates say? »The unexamined life is not worth living«. Reading our lives, however, is not a passive process. The reader of a literary text is engaged in a meaning-making process that is every bit as active and creative as what the writer has engaged in. The two processes are different, but interdependent. No reader, no text. No text, no story. Also, reading our lives is something that, to some extent, we have been engaged in all life long. Evaluating our perceptions, discerning patterns, playing with interpretations, drawing conclusions, making decisions – this is how we navigate the events and circumstances of day-to-day life. If we did not r e a d our lives in this respect at all, we could scarcely l i v e our lives. What is unique about the second half of life, however, is the increased time and opportunity that the aging process provides us to engage more consciously in what, previously, has been an automatic process, to engage in what some gerontologists are calling »conscious aging«.37 And then there is the fact that we have more inner material to work with, to think about – a thicker texistence. Plus, there are changes in our brains themselves. Gerontologist Gene Cohen writes about the »inner push« toward »autobiographical expression« that we tend to experience ever more intensely as we age. Much of this push, he argues, is prompted by »a rearrangement of brain functions that makes it easier to merge the speech, language, and sequential thinking typical of the left hemisphere with the creative, synthesizing right hemisphere.«38 Conscious self–reading is not just more possible in later life. It is also more essential, due to the developmental tasks that aging brings with it. Years ago, I was organizing a panel of people from the community to explore the theme of biographical aging. For one of the panelists, I invited a man who had just retired as principal of a local college. Intrigued by the topic, he readily agreed. A few days later, he dropped by my office to discuss what he might say in his presentation. When I asked him how he was enjoying his retirement, his answer took me by surprise. »Well«, he said, 37

38

William L. Randall / Gary M. Kenyon, Ordinary Wisdom. Biographical Aging and the Journey of Life, Westport 2001, pp. 119–164. Gene D. Cohen, The Mature Mind. The Positive Power of the Aging Brain, New York 2005, p. 23.

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»it bothers me how everyone complains about the mid-life crisis, but no one ever talks about what I’m going through – the l a t e l i f e c r i s i s !« Later life can be a time of tremendous transition. The older we get, the more changes we face: in our bodies, our relationships, our mobility, our autonomy. These changes can take a toll on our sense of identity as well, because of the fundamental questions they drive us to ask: Who am I and what is my story, now that I’m retired, now that no one needs me, now that I am dying? Reference has been made already to Erikson’s insight that, with the »crisis« at each of his stages of psychosocial development, comes both a danger and an opportunity, both a pitfall and a potential. In the late life crisis, the danger is depression and despair. The opportunity is for ego integrity. However, that term seems somewhat static to me. I prefer ego d e v e l o p m e n t – development, even in the face of death. As palliative care physician David Kuhl has observed: »dying, like living, presents opportunity for personal growth and development.«39 If young life and even mid-life is the time for making a living, then late life is the time for making meaning. Not least because we have more inner material that we feel the urge to make sense of while there’s still time, to assimilate the ups and downs, the losses and the learnings. As I say, there are times in my own life when I long to pause and catch up with myself, to take time – a week, a day, an hour – to think about what has been happening in my life so far, to sort it out, examine it, learn from it, grow from it. As we engage in this sort of »philosophic homework«40 what happens, I believe, is that we develop what is k e y to conscious aging – not just a good, strong body but (to put it simply) a g o o d , s t r o n g s t o r y – one that is credible, coherent, and comprehensive, yet at the same time deep, expansive, and thick. »Development« happens not just in childhood or adolescence. It continues all our lives, as long as we are meaning-making creatures, still having experiences and still capable of interpreting and re-interpreting them.41 Indeed, quite contrary to prevailing views of aging which construe it in terms of a »narrative of decline«,42 there is no limit at all to our development a s p e r s o n s . Biologically, we cannot live much past 120 years, and if we do, we will hardly be still d e v e l o p i n g in a physical sense. But, psychologically or biographically, no such limits exist. There are no re39 40

41 42

David Kuhl, What Dying People Want, Toronto 2002, p. xviii. Zalman Schachter-Shalomi / Ronald Miller, From Age-ing to Sage-ing. A Profound New Vision of Growing Older, New York 1995, pp. 124–126. See Mark Freeman, Rewriting The Self, London 1994. Margaret M. Gullette, Aged by Culture, Chicago 2004, p. 28.

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strictions whatsoever on how much our story can deepen and expand, on how much we can gr o w old – in insight, compassion, and wisdom.

5. Strategies for reading our lives I have run out of time to go into greater detail about what »reading our lives« entails – although Beth McKim and I have endeavoured to do so in our book.43 That said, among the many activities that can be employed – besides psychotherapy or formal life review – is d y n a m i c r e m i n i s c e n c e .44 Happily, reminiscence in general is receiving more and more attention within gerontology, and it is deemed to be of several different types.45 In dynamic reminiscence particularly, we delve into memories that are thick with emotional significance: a love affair gone wrong, a road not taken, an incident infused with themes that need interpreting from multiple perspectives – memories that need opening up and airing out so we can appreciate the meanings they have held for us in the past or could hold for us in the future. Ernst Bohlmeijer and his colleagues in the Netherlands have developed a program of c r e a t i v e reminiscence for use with older patients suffering from depression.46 Patients are encouraged to use poetry, painting, metaphors, and stories to expand, examine, and in a sense, transcend the restrictive stories through which they have experienced their lives until now. Key to both types of reminiscence, though, is engaging in them with others. If lifestories are co-authored with other people, it makes sense that at certain times we co-read them with other people too, that we help each other explore the meaning-laden texts that lie within us – like seeds planted deep in fertile soil, awaiting fruition and harvest. On this point, one of my missions as a gerontologist is to encourage the development of what Gary Kenyon and I call »wisdom environments«,47 or what psychologist John Meacham calls »wisdom atmos43 44

45

46

47

See Randall / McKim, Reading our Lives. See Sally Chandler / Ruth Ray, »New Meanings for Old Tales: A Discourse-based Study of Reminiscence and Development in Later Life«, in: Jeffrey Webster / Barbara Haight (Eds.), Critical Advances in Reminiscence Work. From Theory to Application, New York 2002, pp. 76–94. See Jeffrey D. Webster / Barbara K. Haight (Eds.), Critical Advances in Reminiscence. Theoretical, Empirical, and Clinical Perspectives, New York 2002. See Ernst Bohlmeijer / Marije Valenkamp / Gerben J. Westerhof / Filip Smit / Pim Cuijpers, »Creative Reminiscence as an Early Intervention for Depression. Results of a Pilot Project«, in: Aging and Mental Health, 9,4 (2005), pp. 302–304. Randall /Kenyon, Ordinary Wisdom.

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pheres«48 – in other words, situations or settings in which older people feel sufficiently safe and supported to engage in deep storytelling and deep storylistening with one another, and thus to articulate and celebrate the wisdom that lies within their own, unique stories. Listening is, in several ways, an underdeveloped art. While many of us can be great talkers, few of us perhaps are great listeners. As one source insists, however, »you can’t tell who you are unless someone is listening«.49 Genealogy can also be a form of reading our lives. It is a way of seeing our personal stories in relation to the stories of the families, communities, and cultures that have shaped them and that provide us with a context for making sense of why we are the way we are: »Why, I’m just like my great-uncle Bob.« In other words, the urge which (at least in Canada) many older people experience to trace their family’s »roots« reflects their need to see their own life-time within the grander span of the generations that have preceded it and those that will surely follow. My father is a good example. He is passionate about our Randall family history, and in fact has traced it as far back as 15th century England. As a result, I suspect, he experiences time itself on a broader, less restrictive scale than I can, hemmed in, day by day, with all my meetings and my deadlines. At 92, he knows that he lives his life on borrowed time, one day at a time, yet deep down he experiences his life as but a thread in a larger, still unfolding fabric that stretches across the generations, both backward into the distant past and forward into the future. Understandably, genealogy can be a sensitive subject in modern German culture. There can be deep, dark, difficult chapters in the stories of many individuals and families that are buried far below in the »compost heap«50 of the remembered past. Yet, as my friend Stephan Marks would suggest, it is time to invite those chapters to be told (painful though they are to hear) while the people who can tell them are still alive, so that – as a society – Germany can assimilate, and somehow redeem, those chapters into its larger, still unfolding story, and thus continue to g r o w .51 Reading literature itself – including works of biography and autobiography – is also a means of reading our lives. Through the struggles of the characters or the authors as they wrestle with t h e i r lives, we recognize 48

49

50

51

John Meacham, »The Loss of Wisdom«, in: Robert Sternberg (Ed.), Wisdom: Its Nature, Origins, and Development, New York 1990, pp. 181-211, here p. 209. Sam Keen /Anne Valley Fox, Telling Your Story: A Guide to Who You Are and Who You Can Be, Toronto 1974, p. 9. William L. Randall, »From Computer to Compost. Rethinking Our Metaphors for Memory«, in: Theory and Psychology, 17, 5 (2007), pp. 611–633. See Stephan Marks, Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus, Düsseldorf 2007, and Stephan Marks, Scham. Die tabuisierte Emotion, Düsseldorf 2007.

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aspects of our own lives, our own stories. Meanwhile, reading invites us to experience time itself in a deeper, more meaningful way. As author Sven Birkerts writes in his wonderful book The Gutenberg Elegies, »reading [fiction] refuses the idea of time as simple succession […]. Reading argues for a larger conception of the meaningful, and its implicit injunction […] is that we change our lives, that we strive to live them in the light of meaning. […] What reading does«, says Birkerts, »is keep alive the dangerous and exhilarating idea that a life is not a sequence of lived moments, but a destiny.«52 From the perspective of narrative psychology, all of us, of course, are quietly compiling our inner autobiographies all life long, composing and re-composing »the story of my life« within our memory and imagination. But there is autobiographical w r i t i n g as well, whether it be keeping a journal or composing a memoir – explicitly getting our stories out of ourselves so we can have a better look at them and reflect on them. As important as it is to t e l l our stories, however – and it is important, especially if we have never really had the chance to tell them up to now – it is more important still, says memoirist Patricia Hampl, »to listen to what our stories tell us – to write the first draft and then return for the second draft.«53 In writing the second draft, she says, we go deeper, for we begin to ask certain vital questions: why have we remembered this incident in the first place, out of all the other incidents that we might have remembered instead? What is i n i t for us? And why have we always told it in this way to ourselves, according to this version, and not some other way instead? What else was happening at the same time that we have since edited out, but which we might recover if we engaged in a type of reflection that one psychologist calls »time-stretching«?54 What unexamined possibilities, what untapped insights, what unexplored metaphors, what unlived lives lie within the stories we have held onto? In asking such questions, Hampl says, »we are doing the work of memory«.55 Reading our lives is doing such m e m o r y - w o r k deliberately. And all things considered, barring the onset of dementia perhaps, later life is an optimum time to tackle it.

52

53

54

55

Sven Birkerts, The Gutenberg Elegies. The Fate of Reading in an Electronic Age, New York 1994, p. 85. Patricia Hampl, I Could Tell You Stories. Sojourns in the Land of Memory, New York 1999, p. 33. Ira Progoff, At a Journal Workshop. The Basic Text and Guide for Using the Intensive Journal, New York 1975, p. 126. Ibid., p. 33.

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6. Later life as liminal time Compared with our youth, later life is a time when we are further along in our stories, when our sense of time-to-come is outweighed by our sense of time-gone-by – which may explain something that has long puzzled psychologists, namely why time speeds up the older we get.56 It is a time when the nearness of The End intensifies our experience of the passage of time. It is a time to step back, take stock, and contemplate the factors, inner and outer, that have shaped us into who we are today. It is a time to engage more deliberately in what I call a u t o b i o g r a p h i c a l learning. It is a time to make meaning, a time to value our accumulated inner experience as »biographically accrued capital«,57 as psychotherapist Wilhelm Mader refers to it, and to reap the interest on our investment. It is a time to live, not i n the past, but o f f the past. It is a time when what we lack in duration of time we make up for in depth of time, what American novelist Thomas Wolfe calls »the measureless sea-depth of incalculable memory«.58 It is a time when the book of our life is all but complete and begs, at last, to be deeply and lovingly read. Later life is a l i m i n a l time too, a time on the boundary, a time between worlds, a time between times – between the past and the future; between our own life-time and whatever other type of life (and time) might await us; between our time and the times of those who went before us and those who will follow. Moreover, it is a time that can feel heavy with the need to make sense of our life as a whole, before time runs out. Yet it can also be a time loaded with potential, potential for a d v e n t u r e – not so much in terms of new e v e n t s , but of new learnings, new discoveries; a time for development and growth – the deep, subtle, inside growth, not of our bodies, but of our souls. Let me close these musings (not conclude them, but close them) with three excerpts from The Measure of My Days, the little book by Florida Scott-Maxwell that she wrote when she was in her late 80s and that I quoted from before. These passages convey much more poignantly than my own words something of the unique sense of time – its quality, its in-

56

57

58

See Douwe Draaisma, Why Life Speeds Up As You Get Older. How Memory Shapes Our Past, Cambridge 2006. Wilhelm Mader, »Emotionality and Continuity in Biographical Contexts«, in: James E. Birren / Gary M. Kenyon / Jan-Erik Ruth / Johannes J. F. Schroots / Torborjn Svensson (Eds.), Aging and Biography. Explorations in Adult Development, New York 1996, pp. 39–60, here p. 43. Thomas Wolfe, Of Time and the River. A Legend of Man’s Hunger in the Youth, London 1935, p. 895.

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tensity, its possibility – that only the very old, perhaps, can truly understand. Age is a desert of time – hours, days, weeks, years perhaps – with little to do. So one has ample time to face everything one has had, been, done; gather them all in: the things that came from outside, and those from inside. We have time at last to make them truly ours.59 When you truly possess all you have been and done, which may take some time, you are fierce with reality.60 We are people to whom something important is about to happen. [...] All is uncharted and uncertain, we seem to lead the way into the unknown. [...] it is the end of our procession through time, and our steps are uncertain.61

59 60 61

Scott-Maxwell, The Measure of My Days, p. 41. Ibid., p. 42. Ibid., p. 140.

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ANDREAS KUNZ-LÜBCKE

Erwachsenwerden - Entwicklung oder Vollendung? Perspektiven der Hebräischen Bibel Which characteristics, abüities, and capacities does a newborn bring into the wodd? A modern answer to this question would likely consider both the infant's genetic traits and the conditions wifhin which he or she wül be raised. In contrast to this approach, several texts in the Hebrew Bible (for example 1 Sam 1-3) posit the idea that a human being comes more or less prefigured inte»the wodd. But despite the lack of any indication that adolescence is a period rnfluenced by many factors, in these texts chüdhood itself is acknowledged to be a phase of Kfe clearly distinguished from adulthood. The duration of chüdhood and youth is portrayed with varylng intensity: Whereas David's youth ends suddenly with his victory over Goliath, and Httle time is spent on the detaüs of David's chüdhood, the bibkcal aecount of Samuel lingers for a long time on the chüdhood of the future prophet, that period being portrayed as one ofreligiousincubation.

»All was well.« Mit dtesen nüchternen Worten ist einer der, gemessen an semen Verkaufszahlen, erfolgreichsten Entwicklungsromane überhaupt zu Ende gekommen. Der Zauberschüler Harry Potter hat überlebt und seinen Sieg über die Mächte der Finsternis errungen. Nicht nur das: Die Schlussszene des letzten Bandes zeigt einen ,ungen Mann, einen dreifachen Vater, einen Ehemann und schließlich emen nachsichtigen Menschen, der semem einstigen Feind und Neider aus Schülerzeiten mrc Distanz und Respekt begegnet. Dass der Weg in d e Erwachsenenwelt die Züge eines Prozesses trägt, emes Prozesses, den viele Faktoren mitbestimmen* gut seit geraumer Zeit als ausgemacht. Kinder und jugendliche, ganz gleich ob im wirklichen Leben oder m den fingierten Welten der Film- und Romankultur, entwickeln steh. Sie kommen mtt charakteristischen Eigenschaften und Begabungen auf die Welt, und ste werden über die Zeit ihres Erwachsenwerdens hinweg durch eme schter unzählbare Menge an Einflüssen in ihrer Entwicklung bestenfalls vorangebracht, schlechtenfalls behindert, auf ,eden Fall aberbeemflusst.

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Andreas Ku„ 2 -Lübcke

Dass die Vorstellung von einet Entwicklung hm 2 U einem körperlich und geistig ausgereiften Menschen nicht allezeit existiert habe, ja dass sie im Vergleich zur allgemeinen Menschheitsgeschichte recht ,ung sei, darauf hat seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine ganze Reihe von Kmdheitshistonkern, Psychohistorikern, Medienhistorikern und anderen immer wieder hingewiesen. Die Vorstellung, dass ein Mensch von seiner Geburt oder gar von seiner Zeugung an eine Entwicklung durchlaufe, die keineswegs umfassend und durchgingig zu beeinflussen sei, sei unlösbar mit der Bereitschaft verbunden, Kindheit und Jugend als eme Lebensphase mit emem eigenen Wert und eigenen Bedingungen anzuerkennend Angesichts der gefällten Urteüe wie das des Kindheitehistorikers Philippe Aries, dass es kn vorindustriellen Abendland kerne Vorstellung von Kindheit und Entwicklung gegeben habe, oder des Medienkritikers Neu Postman, dass erst das Medium des Buches eme Vorstellung von Kindheit hervorgebracht habe, eme Vorstellung, die mit dem Internet alsbald wieder verschwinden werde, haben sich Vertreter der verschiedenen historischen Disziplinen mit verstärktem Interesse dem Thema Kindheit und Jugend zugewandt. Arbeiten aus dem Gebiet der Altonentalisük, der Gräzistik, der Ägyptologie, des Alten und Neuen Testaments haben zeigen können, dass d l gefällten Pauschalurteile emer Revision bedürfen.* 1

Vgl. Lloyd deMause, »Evolution der Kindheit«, in: L. deM. (Hrsg.), Hört ihr die Kinder weinen. Eine pathogenetische Geschuhte der Kindhat, Frankfurt a. M. 1977, S. 12-111; Neil Postman, Das Versehenden der Kindhat, Frankfurt a. M. 1983; Philippe Aries, Geschuhte der Kindbett. Übers. Caroline Neubauer u. K a n n Kersten. Mit einem Vorwort von H a r t m u t von Hentig, München 1=2003; kritisch da 2 u Shulamit Shahar, Kindheit im Mittelalter, Düsseldorf ^2003; Dieter Hoof, Opfer - Engel- Menschenkind. Studien *,«, Kindhettsverständms in Altertum undfruherNeuKe,t, Bochum 1999.

2

Vgl. Francoise D u n a n d , »Les enfants et la m o r t en Egypte«, in: Veronique D a s e n (Hrsg.), Natssance etpetite enfance dans rAntiqutte. Actes du colloquedeEnbourg, 28 novembre - Urdecembre 2001, Fribourg und Göttingen 2004 (Orbis Biblicus et Orientalis 203), S. 13-32; Erika Feucht, »Art. Childhood«, in The Oxford Encyclopedm of Ancunt Egypt, 1 (2001), S. 261-264; E . F., »Art. Kind«, in: Lexikon der Ägyptologie, 3 (1980), Sp. 424-437; E . F., »Gattenwahl, E h e und Nachkommenschaft im Alten Ägypten«, in: Ernst Wilhelm Müller (Hrsg), Geschlechtsreife und Legitimation ^ur Zeugung, Freiburg und München 1985, S. 55-84 E. F., Das Kind im alten Ägypten. Du Stillung des Kindes in Familie und Gesellschaft nach altägyptischen Texten und Darstellungen, Frankfurt und N e w York 1995; E . F., »Kinder fremder Völker in Ägypten«, in: Studun ^r altägyptischen Kultur, 17 (1990), S. 177-204; Hans-Werner Fischer-Elfert, »Kindheit im Alten Ägypten«, in: Johanna Forster / Uwe Krebs (Hrsg.), Kindheit fischen Pharao und Internet, Bad H e i l b r u n n / O b b . 2001, S. 21-39; Annelies Glander, The Onental Chili Not born in Wedlock. A Study ofthe Anthropologual Parameters, Rel,g,ous Motivations andSoculogualPhenomena ofChild Care in Islam and]uLm, Frankfurt a. M. u a. 2001 (Europäische Hochschulschoften Soziologie 355); Marc Golden, CUldren and Childhood in Classual Athens, Baltimore und L o n d o n 1993; Hoof, Opfer, Rosalind M Janssen / Jac[ob] J. Janssen, Growing up in Ancunt Egypt, L o n d o n 1990; Andreas K u n 2 , »Die Vorstellung von Zeugung und Schwangerschaftim antiken Israel«, in: Zatschnft für du alttestamenlche W,ssenschaft, 111

Erwachsenwerden - E n t w a l d u n g oder Vollendung?

105

Dennoch hat S1ch die Frage nicht so ohne weiteres beantworten lassen, inwieweit Kindheit und Jugend als Entwicklungsphase wahrgenommen worden sind. Ich möchte hier an Einzelbeispielen der Frage nachgehen, ob sich für ausgewählte Personen, seien sie literarischer oder histonscher Herkunft, so etwas wie die Wahrnehmung einer Entwicklung, die über das rem Körperliche hinausgeht, herausarbeiten lässt.

1. Von Überfliegern und Spätzündern - Der Weg zur Vollendung in ägyptischer Perspektive Dass sich hinter der altägyptischen Erziehungskonzeption gerade nicht die Vorstellung emer Kindheit als Lebensphase mit eigenem Wert verbirgt, hat der große Ägyptologe Hellmut Brunner schon vor geraumer Zeit betont: [...] die ä g y p t i s c h e n K i n d e r w e r d e n n i c h t als E r w a c h s e n e , s o n d e r n als u n v o l l k o m m e n e E r w a c h s e n e b e t r a c h t e t , d e r e n U n r e i f e ( a u c h dies ein n e g a t i v e s W o r t ) m a n freilich R e c h n u n g trägt, d a m i t a b e r n i c h t als W e r t a n e r k e n n t . D i e E r z i e h u n g 2 1 elt n i c h t a u f e i n e F ö r d e r u n g des K i n d s e i n s , s o n d e r n auf ein m ö g l i c h s t schnelles Heranbilden zu einem tüchtigen erwachsenen Menschen.3

3

(1999), S. 561-582; Andreas Kun 2 -Lübcke / Rüdiger Lux (Hrsg.), »Schaffe m,r Kinder..,, Baträge ^r Kjndhett im alten Israel und in seinen Nachbarkulturen, L e i d i g 2006 (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 21); A. K , L . Das Kind in den antiken Kuhn* des Mittelmeers. Israel -Ägypten - Griechenland, Neukirchen-Vluyn 2007; A. K , L . , »Gotteslob aus Kindermund. Zu einer Theologie der Kinder in Psalm 8«, in: Angelika Berlejung / Raik Heckl (Hrsg.), Mensch und König Studien ^r Anthropologe des Alten Testaments. Festschnft RMd,gerLuX \um 60. Geburtstag, Freiburg u. a. 2008 ( H e r d e « Biblische Studien 53), S. 85-106; A K , L . , »Wann beginnt das Leben? Überlegungen 2 u r pränatalen Anthropologie der Hebräischen Bibel«, in D o r o t h e e Elm / Thorsten Fiteon / Kathrin Liess / Sandra Linden (Hrsg.), Alterstopo, Das Wessen von den Lebensaltern in Uteratur, K«nst und Theolog,, Berlin und N e w York 2009, S. 249-276; Andreas Michel, Gott und Gewalt gegen Kinder in)Alten Testament, Tübingen 2003 (Forschungen 2 u m Alten Testament 37); Claudia Müller, Kindheit und]ugend in der griechischen Frühst. E,ne Studie Kurpädagogischen Bedeutung von Riten und Kulten, Gießen 1990? T h o m a s Schneider, »Die Geburt des Horuskindes. Eine ägyptische Vorlage der neutestamentlichen Weihnachtsgeschichte«, in: Theologische Zeitschrift, 60 (2004), S 254-271; Konrad Volk, »Vom Dunkel in die Helligkeit. Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit in Babylonien und Assyrien«, in: Veronique Dasen (Hrsg), Nmssance etpetite enfance dans lAntiqmte. Actes du colloque de Fnbourg 28 novembre - 1er dfcembre 2001, Fribourg und Göttingen 2004 (Orbis Biblicus et Orientalis 203), S. 71-92; Claus Wilcke, »Konflikte und ihre Bewältigung in Elternhaus und Schule im Alten Orient«, in: Rüdiger Lux ( H r s g ) , »Schau auf äe Kleinen...«. Das Kindtn Rellglon, Kirche und Gesellschaft, Leipzig 2002, S. 1 0 - 3 1 ; Renate Zoepffel, »Geschlechtsreife und Legitimation 2 u r Zeugung im Alten Griechenland«; in: E r n s t Wilhelm Müller (Hrsg), Geseilechtsretfe undTegttimatio,, wZeugung, Freiburg und München 1985 (Veröffentlichungen des Instituts für HUtorisehe Anthropologie e . V . V 3: Kindheit, Jugend und Familie I), S. 319-401. Hellmut Brunner, Altägyptische Erhebung, Wiesbaden 1957, S. 141.

106

Andreas Ku„2-Lübcke

Eine Konzeption w l e diese, die offensichtlich das schnelle Ablegen und Überwinden der Kennzeichen und Charakteristika der Kindheit zum Ziel hat, lässt emer Vorstellung von Entwicklung wenig Raum. Natürlich wussten die Ägypter, dass es kluge und weniger begabte Kinder gibt, dass Menschen individuelle Begabungen und Fertigkeiten mit sich brachten und dass Erziehung em notwendiges Mittel war, einen Menschen zu formen. Aber dennoch werden die Weisheitslehren der Ägypter mcht müde zu betonen, dass nur eme unablässige und unnachgiebige Erziehung den Menschen zu dem formen könne, zu dem er sich gemäß dem ägyptischen Idealbild entwickeln solle, zu einem reflektierenden und sich mäßigenden Schweiger, der die soziale Hierarchie kennt, der sich nach oben mcht auflehnt m d der sich nach unten hilfsbereit und - nach heutigen Maßstäben - sozial engagiert zeigt. Allerdings begegnet mit der Lehre des Am aus der 18. Dynastie em Gedankengang, m dem das klassische, oder anders formuliert/das orthodoxe anthropologische Grundmodell der Erziehung diskutiert wird. Der Text fingiert em Gespräch zwischen Vater und Sohn, bei dem der Erste als Repräsentant des klassischen Modells angesehen werden kann, während der Zweite munter widerspricht. Die Auffassung des Vaters lässt sich wie folgt zusammenfassen: jeder noch so widerborstige und verstockte oder unbegabte Schüler könne mit den Mitteln der Erziehung zu einem akzeptablen Ziel hmgebracht werden. Wohl mcht umsonst werden an dieser Stelle Vergleiche mit der Tierdressur angestellt. Der Schreiber Am antwortete seinem Sohn, dem Schreiber Chonshotep: »Vertraue mcht auf diese fehlgeschlagenen Sachen, Hüte dich davor, gegen dich zu handeln! Deine Klagen, sie scheinen mir verdreht. Ich werde dich über sie unterrichten. Unsere Reden sind mcht gering, In denen aufhören zu lesen du gesagt hast. Der Wildstier, der (früher) auf der Viehweide tötete, Weiß mcht mehr, sich zum Kampf zu stellen. Er hat seine Anlage überwunden und seine Erziehung vermnerlicht, Er ist in der Form von Mastvieh. Der grimmige Löwe hat von seiner Wut gelassen, Er hat den klagenden Esel nachgeahmt.

[...] Die Äffin trägt die Situla, Obwohl ihre Mutter sie mcht trug.

[...] Man lehrt die Nubier die ägyptische Sprache,

Erwachsenwerden - E n t w a l d u n g oder Vollendung?

107

Zwe&lsohne widerspricht der Vater einer Auffassung, nach der es eine individuelle menschliche Vorprägung gibt, an der sich unter Umständen Erziehung und Belehrung als nutkos erweisen können. Die Beispiele aus der Tierdressur mögen aus heutiger Sicht harsch wirken. Sie lassen tatsächlich die V o r s t e l l i g erkennenfdass bei ,edem menschlichen Individuum Abneigung, Widerwille und Unvermögen überwunden werden können, so, wie es möglich sei, mit der Dressur Tiere zu einem Verhalten entgegen ihrer Natur zu bringen. Der Sohn bleibt dem Vater die Antwort nicht schuldig: D e r Schreiber C h o n s h o t e p antwortete s e i n e m Vater, d e m Schreiber A m : »Sei nicht s o hart in deiner Kraft! I c h erleide U n r e c h t in deinen Plänen. E n t s t e h t m c h t ein M e n s c h , i n d e m er d e n A r m sinken lässt, U m stattdessen eine A u s s a g e z u h ö r e n ? D e n n der M e n s c h ist der Gefährte G o t t e s , S e m G e b r a u c h ist es, einen M a n n mit seiner A u s s a g e 2 u h ö r e n . k e n n t einer seine Lehre? D e r eine entsteht m i t e i n e m hervorragenden Verstand, W ä h r e n d die g r o ß e M a s s e töricht ist.«*

Im Gegensatz zum Vater, der ,eden Schüler für formbar und belehrbar hält, insistiert der Sohn in eine ganz andere Richtung: Es gibt sehr wohl individuelle Ausprägungen von Menschen, diese zeigen sich allerdings in erster Linie in emer besonderen Begabung einzelner, die sie weit übe? das durchschnittliche Niveau und Maß emporheben.« Die These des Sohnes lässt sich hier womöglich zuspitzen: Nur einzelne und besonders begabte Individuen eignen sich tatsächlich für die Ausbildung zum Schreiber mit den ägyptischen Weisheitslehren als Medien der Belehrung. Der Vater hatte versucht, Individualität dahingehend zu nivellieren, das? eine mehr oder 4

Übersetzung nach J o a c h l m Friedrich Quack, D « Lehren des An, Em neuägyptischer We,she,tsUxtin sanem kulturellen Umfeld, Fribourg und Göttingen 1994 (Orbis Biblicus et Orientalis 141),S.121f.

=

Übersetzung nach Quack, Di, Uhren des Am, S. 123.

«

D e r Gestus des Arm-Beugens folgt auf die Aussage, dass der Mensch (als Werk Gottes) entsteht (bwhpr sjw=f h3< ämar hä>el yhwh b6re> bJLayim »so spricht Gott, der HERR, der die Himmel geschaffen hat« (Jes 42,5). Elf von 13 Belegen finden sich in Deutete- und Trito,esa,a. Die Konstruktion mit dem Pronomen (»dein Schöpfer«) kommt nur in Pred 12,1 vor (Mrfcfa*).« Möglicherweise steckt hinter dieser Wortwahl ein Wortspiel mit dem gleich klingenden Wort bor m 12,6, das sowohl »Brunnen, Zisterne« als auch »Grab« bedeuten kann. Damit kann man beim ersten Hören kaum unterscheiden, ob es heißt »Denk an deinen Schöpfer« oder »Denk an dem Grab« («tafa}.« So wird em Grundthema biblischer Theologie ausgedrückt: Das Gedenken an den Schöpfer führt auch zum Bewusstsem der eigenen, menschlichen Geschöpflichkerc und damit Sterblichkeit- Wer an seinen Schöpfer denkt, weißfdass er em Geschöpf ist und damit vergänglich und sterblich. Daran, an beides, den Schöpfer wie das eigene G r a b ^ U der ,unge Mensch schon m semer Jugend denken. Damit widerspricht Kohelet der Konzeption, die er m der Känigstorvestie durchgespielt hat: Als unendlich weiser und unendlich reicher Kömg hat sich Kohelet eine Welt und em Leben ohne Gott ausgedacht. Genau dieser Lebensentwurf ohne Bewusstsem der eigenen Geschöpflichkeit und ohne Gottesbezug führt m die Verzweiflung und bncht zusammen. Kohelet weiß schließlich, dass das Glück, das für em gelmgendes Leben unabdingbar ist, ohne Gott nicht gedacht werden kann Das Glück ist eine Gabe Gottes, es ist die Antwort Gottes im Sinne emer Offenbarung Gottes" (Pred 5,18f: »Wenn Gott emem Menschen Reichtum und Schätze gegeben und ihm ermöglicht hat, davon zu geme"

Formal könnte das Part 121 p em Plural sein; da aber die Wurzel br> (»erschaffen«) innerbiblisch nur mit G o t t als Subjekt belegt ist, müsste m a n einen plurah majestal annehmen, vgl. Philip Nel, »Remember the »Spong, of Your Youth: The Vanity of Male Power in Qohelet 12«, in: Old Testament Essajs, 21 (2008), S. 149-160, hier S. 154. Eine Analogie dazu ist das Plural-PartiZip von SA in Ps 149,2, das auch nur mit »Schöpfer« übersetzt werden kann. - Nel selbst bevorzugt für Pred 12,1 die D e u t u n g des Wortes als bör, jedoch nicht als » G m b e , Grab« übersetzt, sondern als »Quelle« und damit wie in Spr 5,15 als Metapher für die eigene Ehefrau verstanden - an sie soll der angeredete junge Mann in seiner Jugend denken und mit ihr die vergänglichen fleischlichen Freuden genießen, ehe die Beschwerden des Alters kommen. D e n k b a r ist diese Deutung, aber sie nimmt dem Text etwas die Eindrücklichkeit (s. auch Anm. 22).

1=

Vgl. Frevel, »Alter«, S. 33.

"

Vgl. Thomas Krüger, Kohelet (Preäger), Neukirchen-Vluyn 2000 (Biblischer K o m m e n t a r Altes Testament 19, Sonderband), S 349.

"

Vgl. Schwienhorst-Schönberger, Kohelet (2004), S. 342f

182

T h o m a s Hieke

ßen und seinen Anteil davonzutragen und s1Ch 2 U freuen bei semer Arbeit, dann ist das eine Gabe Gottes. Denn er [der Mensch] denkt nicht so oft an die [wenigen] Tage seines Lebens, weil Gott [ihm] Antwort gibt in der Freude semes Herzens«). Dies soll der ,unge Mensch früh realisieren und beherzigen, wohl damit ihm gedankliches oder reales Scheitern wie bei KoheleS Königstravestie erspart bleiben- Das Genießen der Freude, zu der Kohelet aufruft, soll also ™ Deo stattfinden; im Bewusstsem der eigenen Geschöpflichkerc und im Gedanken an den alles geheimnisvoll durchwaltenden Gott. Wenn sich der ,unge Mensch semes Schöpfers und semer eigenen Sterblichkeit bewusst wird, dann kann er sich gedanklich auch bereits auf die Tage des Übels einstellen, auf die Jahre, von denen er sagt »Ich mag sie nicht«. Gemeint ist damit das Altern, das in den folgenden Versen so büdreich beschrieben w i r d -

">

Gerade der konkrete Aufruf an A,n jungen Mann 2 u r Freude macht es sehr wahrscheinlich, dass es im Folgenden wirklich u m die Beschwerden des Alters geht. Damit erscheint die Interpretation von Seow, »Qohelet's Eschatological Poem«, S. 209-234 weniger nachvollziehbar: Seow sieht im Schlussgedicht ein Pendant 2 u m Gedicht über den Kosmos am Anfang (Pred 1,4-11); Kohelet skizziere demgegenüber am E n d e seines Buches ein dunkles und schreckensvolles Bild v o m E n d e der Welt, die in Terror und T o d versinke und das E n d e jeder menschlichen Existenz darstelle. Für diese D e u t u n g muss Seow bei vielen der poetischen Bilder des Textes »um mehrere Ecken denken«, wobei die Argumentation nicht immer nachvollziehbar erscheint und es an einigen Stellen in methodologischer Hinsicht unklar ist, inwieweit analoge Wendungen in der Offenbamng des Johannes im N e u e n Testament in die Analyse einbezogen werden dürfen. Selbst wenn sich Rezeptionsprozesse nachweisen ließen, so kann doch die Verwendungsweise in der Johannesoffenbarung nicht als Beweis für ein analoges Verständnis des Kohelettextes herangezogen werden. D e s Weiteren ist es v o m Blick auf den realistischen Gesamtduktus des Koheletbuches unwahrscheinlich, dass der so nah am menschlichen Leben argumentierende Kohelet am E n d e seiner Schrift in eine düstere und globale Weltuntergangsstimmung verfällt und über das E n d e j e g l i c h e r menschlicher Existenz spekuliert Wesentlich plausibler und näher liegend erscheint es da, dass Kohelet die Tragfähigkeit seines Konzeptes von Glück und Freude noch einmal angesichts des realistisch gesehenen und bevorstehenden e i g e n e n Lebensendes mit den Beschwerlichkeiten des Alters reflektiert.

«

In der Auslegung von Krüger, Kohelet (Prediger), S. 349-359, ist viel Wertvolles zu finden, insbesondere der Satz: »Nicht weil er sich im Alter nicht m e h r freuen kann, soll der junge Mann sein Leben schon in der Jugend genießen, sondern weil er in der Jugend versäumte Freuden im Alter nicht m e h r .nachholen, kann - und weil es keineswegs sicher ist, ob er überhaupt alt werden wird« (S. 350). Schwer nachvollziehbar erscheint allerdings, warum Krüger so stark das Verständnis des Textes Pred 12,1-7 als Beschreibung des Alters ablehnt und stattdessen dahinter die Ankündigung des Gerichts Gottes und des »Weltuntergangs« in Gestalt des individuellen Todes sehen will. E s ist Krüger dann Recht zu geben, dass Kohelet sicher die »apokalyptischen Katastrophen-Szenarien« seiner Zeit ablehnt und diese Befürchtungen »auf das realistische Maß der Erwartung des individuellen Todes herunterschraubt« - aber damit ist noch nicht erklärt, warum Kohelet dies ausgerechnet mit d i e s e r Bildwelt ausdrückt. Meines Erachtens liegt der Bezug des Textes zu den Phänomenen des Alters bzw. Alterns näher als zu prophetischen Weltuntergangsskizzen.

Das Geweht über Freude, Alter und Tod

183

Es gut nun, diese Büder des beschwerlichen Alterns zu dechiffrieren. V. 2a spricht von einer Verfinsterung von Sonne, Mond und Sternen. Über em Viertel aller Belege der Wurzel für »verfinstern« findet sich im Buch Ijob - das deutet schon die negativen Konnotationen an. An anderen Stellen ist das Verfinstern der Himmelskörper Anzeichen für das kommende Gericht Gottes (Jes 13,10; Ez 32,8; j o 2,2; 3,4; Am 8,9; Mi 3,6; der Tag JHWHs ist Finsternis, nicht Licht: Am 5,18, vgl. jes 45,7; Zeph 1,15). Das Gericht über die Stolzen und die Tyrannen wird in jes 13,9-11 so ausgedrückt: 9

10

11

Seht, der Tag des Herrn kommt, voll Grausamkeit, Grimm und glühendem Zorn; dann macht er die Erde zur Wüste, und die Sünder verfügt er. Die Sterne und Sternbilder am Himmel lassen ihr Licht nicht mehr leuchten. Die Sonne ist dunkel, schon wenn sie aufgeht, der Mond lässt sein Licht nicht mehr scheinen. Dann bestrafe ich den Erdkreis für seine Verbrechen und die Bösen für ihre Vergehen. D e m Hochmut der Stolzen mache ich ein Ende und werfe die hochmütigen Tyrannen zu Boden. (Jes 13,9-11)

Im BHck auf die Königstravestie Kohelets wirkt dieser Bezugstext wie das Gericht über den königlichen Hochmut des weisen und reichen Königs Kohelet- Der Versuch, eine Welt ohne Gott zu denken, ist für Kohelet gescheitert. Gott wird am Ende durch den Tod zur Rechenschaft ziehen. Mit diesem Gerichtskontext ist in Pred 12,2 bereits eine bedrohliche Grundstimmung angeschlagen. Sie wird in V 2b ergänzt durch die schweren Regenwolken, die sofort nach dem Regen wieder aufziehen. Normalerweise verziehen sich die Wolken in Palästina nach dem Regen schnell wieder - wenn sie sofort wiederkehren, ist dies em Anzeichen dafür, dass der normale zyklische Ablauf der Naturvorgänge durchbrochen ist, dass etwas nicht stimmt, dass größeres Unheü bevorsteht. Hier geht es nun um den Tod, der als »Gericht« dem alternden Menschen bevorsteht und als bedrohlich empfunden wird. Die Geschehnisse des Alterns werden in V 3 ^ mit der Metaphonk des Haushalts fortgeführt. Man könnte an den königlichen Haushalt mit Wächtern, starken Männern und weiblichen Bediensteten (Müllerinnen) denken - dieses stattliche Anwesen zerfällt nun. Die Büder lassen sich auch konkret auf Körperteile beziehen- Die Wächter des Hauses sind die Arme, die beim alten Menschen zu zittern begmnen. Die starken Männer, 20 *

Vgl. Schw.enhorst-Schönberger, Kohelet (2004), S. 533. Vgl. 2 . B.Frevel, »Alter«, S. 34.

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Thomas ffieke

die s1Ch krümmen, sind die Beine. Die Müllerinnen, die ihre Arbeit einstellen, weil sie zu wenige sind, sind die Zähne, die dem alten Menschen nach und nach ausfallen Die Frauen, die durch die Fenster schauen und bei denen es dunkel wird, dürften die Augen sein, deren Sehkraft im Alter nachlässt. Der alte Mensch beginnt, sich vor den anderen 2 U verschließen (die Türen zur Straße werden verschlossen), die äußere Aktivität und Produktivität hören auf (das Geräusch der Mühle verstummt). V. 4b kann unterschiedlich übersetzt werden: (1) wenn sich zur Stimme erhebt der Vogel, doch die Töne des Liedes verklingen - nach dieser Leseweise wäre die Bildhälfte das letzte trotzige Zwitschern der Vögel, die im Klappnetz gefangen smd und dann im Tode verstummen. Sachlich steht wieder der Tod des Menschen dahinter. Wahrscheinlicher ist aber eine andere Deutung: (2) wenn man aufsteht beim Zwitschern der Vögel, doch die Töne des Liedes verklingen. Der alt gewordene Mensch braucht nicht mehr viel Schlaf; schon früh am Morgen! wenn die Vögel singen, treibt es ihn von seinem Lager; aber er hört die Vögel kaum, denn das Alter macht schwerhörig. Der alte Mensch ist gebrechlich geworden, er fürchtet ,ede Anhöhe, weil Atem und Körperkraft nicht mehr ausreichen, sie zu ersteigen; ,eder Weg wird zum Schrecken (V. 5a«). Man hat den alten, keuchenden Menschen vor Augen, der mit Schmerzen in den Gliedern sich nicht mehr rühren und kaum noch die kurzen Wege des Alltags bewältigen kann. Hier nun wird die Bildwelt unterbrochen und die Perspektive gewechselt: Drei Vorgänge aus der Natur werden geschildert. Der Mandelbaum blüht - das ist der Frühling, möglicherweise auch als Bild für den Frühling des Menschen, für die Jugend. Die Heuschrecke schleppt sich dahin - das ist der Frühsommer, in dem das erste Gras wächst und sich die Heuschrecke richtig satt fressen kann. Die Kaper platzt - im Hochsommer, wenn sie ganz reif geworden ist. Das ist der Kreislauf der Natur, die nach Herbst und Winter wieder mit neuer Blüte im Früh,ahr anfängt - nicht aber der Mensch, der nur einmal in seinem Leben die Lebensalter durchlebt und am Ende zu seinem ewigen Haus ohne Wiederkehr geht. In V 5ba ist nun nach den vielen Bildern über das Altern des Menschen der Tod eingetreten: »ein Mensch geht zu seinem ewigen Haus« heißt natürlich, dass der Tote zu Grabe getragen wird, wie auch der folgende Vers zeigt: »die Trauernden ziehen durch die Straßen«. Diese Darstellungsweise ist sehr behutsam, und es wird nicht der Eindruck erweckt, als sei damit »alles aus« natürlich muss der Mensch sein irdisches Haus verlassen, aber er geht zum Haus seiner Ewigkeit ('sei bet (olämd). Damit könnte auch das ewige Leben bei Gott gemeint sein zumal Gott die Ewigkeit ms Herz der Menschen gegeben hat (3,11: »Darüber hinaus hat [Gott] die Ewigkeit in ihr Herz gegeben, jedoch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott tut, vom An-

Das G e w e h t über Freude, Alter und T o d

185

fang bis zum Ende finden könnte«): Der Mensch hat eine Ahnung, em Gespür von der Ewigkeit, eme Sehnsucht, die vielleicht über den Tod hinausreicht - der Mensch kehrt in die Ewigkeit zurück. V. 6 setzt mit einem weiteren »ehe« (cad 'asser lo') nochmals neu ein und bnngt eme neue metaphorische Ebene ms Spiel: kostbare Gegenstände und wichtige Alltagsgeräte. Der Mensch ist ein kostbares Geschöpf, wie eme Silberschnur oder eme goldene Schale - aber auch diese edlen Dmge können zerreißen, zerbrechen, wie der Mensch, der sterben muss. Man kann nun streiten, ob es em Bild, vier Bilder oder zwei Bilder sind: (1) Em Büd: der Ziehbrunnen mit Seü, Gegengewicht, Schöpfkrug und Rad, über das das Seü läuft. Wenn emes dieser Dmge versagtest die ganze Apparatur dahin. Aufgrund der erwähnten Materialien (Gold und Silber) ist diese Deutung w e n | wahrscheinlich(2 Vier Büder: jede der Gerätschaften steht für sich, es gibt kernen Zusammenhang. Auch das ist wiederum weniger wahrscheinlich, da die Büdwelten teilweise doch aufeinander bezogen sind (3) Daher ist es am plausibelsten, zwei Bilder mit je zwei Szenen anzunehmen: (a) Die silberne Schnur hält eme kostbare goldene Lampenschale an der Decke fest. Reißt die Schnur, so fällt die iimpenschale nach unten und zerbricht, (b) Beim Ziehbrunnen läuft das Seü über em Rad aus Holz. Zerbncht dieses Rad, so stürzt der daran hängende Krug in die »Grube«, die Zisterne, und zerbncht am Grund, das zerstörte l a d fällt ebenfalls m die Zisterne hmab. Es ist klar, dass mit ,edem dieser Büder der Tod angesprochen ist: das Licht verlöscht, der Lebensfaden wird abgeschnitten (Jes 38,12), der Mensch fällt m die Grube, das Grab. Mit V. 7 bongt Kohelet eme ganz deutliche Anspielung auf zentrale Schöpfungstexte des Alten Testaments:

^

Eine gewagte D e u t u n g legt Nel, »Remember«, S. 157f, vor: D a er den B i n n e n als »Quelle« und damit als Metapher für die Ehefrau ansieht (s. o., A n n , 14), spitzt er dies hier auf das weibliche Geschlecht 2 u und sieht demgegenüber das Zerbrechen von silberner Schnur und goldener Schale, von Schöpfgefäß und Rad als Kollaps der Männlichkeit und Potenz, also das Versagen des alt gewordenen Mannes beim ehelichen Geschlechtsverkehr. Gmndsätzlich würde dies schon in den Duktus der hier vorgelegten Interpretation von Pred 12 als »Bilder des Alterns« passen. Es ist aber zu fragen! ob sich die Bildwelt tatsächlich derartig »eindeutig« zuspitzen lässt. Nels Schlussfolgerung, dass für Kohelet der Verlust der Männlichkeit und Potenz im Alter »alles« wert- und bedeutungslos (zu »Windhauch«) mache und daher das D e n k e n Kohelets von »phallic symbolism« geprägt sei (»This is a philosophy based on the assumption that the s e a t o f power revolves within the ambits of phallic symbolism«, S. 158), erscheint dann aber übertrieben und lässt sich am gesamten Buch nicht belegen.

186

Thomas ffieke

Pred 12,7

Schöpfungstexte

7a der S t a u b ( ^ zur Erde zurückkehrt (Jyäsob) als das,waserwar,

Gen 3,19: Im Schwede deines Angesichts sollst du dem Brot essen, bis du z u r ü c k k e h r s t {sübkä) zum Ackerboden; von ihm bist du ia genommen. Denn S t a u b (cäpäi) bist du, zum Staub k e h r s t du z u r ü c k (täsüb).

7b und d e r A t e m - G e i s t Gen 2,7: Da formte Gott, der Herr, (härü»h) zu Gott z u r ü c k k e h r t den Menschen aus S t a u b vom {täsüb) der ihn gegeben hat Ackerboden {ädäm) nach oben m die Höhe steigt, der Atem des Viehs (rü»h habbmemäh) ,edoch nach unten m die Erde steigt?

Ps 104,29: Verbirgst du dem Gesieht, sind sie verstört; nimmst du ihnen den Atem (rüMm), so schwinden sie hm und kehren zurück zu ihrem S t a u b («päräm y^sübün).

In Pred 3,21 hat Kohelet Zweifel darüber geäußert, ob es emen Unterschied zwischen dem Vieh und den Menschen gibt, der dann besteht, dass der Atem (rü»h) der Menschen nach oben, der der Tiere aber nach unten steige. Mit Ps 104,29 hält Kohelet an der grundsätzlichen Gleichheit aller Lebewesen fest: Alle Lebewesen, Menschen und Tiere (und Pflanzen) leben vom Geist Gottes - »Sendest du deinen Geist (rüMJcä) aus, so werden sie alle erschaffen, und du erneuerst das Antlitz der Erde« (Ps 104,30). Diese Anthropologie passt auch zu Pred 12,7: Der Mensch kehrt in seinem Tod zum Staub zurück wie alle Lebewesen - doch alles, was Gott an Leben in den Menschen hmemgegeben hat, kehrt zu Gott zurück. Pred 12,7 ist bei geringfügig anderer Wortwahl die Umkehrung des Erschaffungsvorgangs von Gen 2,7. Beim Menschen wird m Gen 2,7 deutlich ausgedrückt, dass er von Gott »Lebensatem« bekommt - bei den Tieren fehlt das m Gen 2,19. Doch es ist davon auszugehen, dass auch die Tiere emen entsprechenden Lebensatem bekommen - und das setzt Pred 3,21 voraus. Wenn aber die Tiere den gleichen Lebensatem wie der Mensch haben, dann kehrt auch dieses »Leben« der Tiere im Tode zu Gott zurück.

Das Geweht über Freude, Alter und Tod

187

Exkurs: In der Anthropologe und Biologie der priesterlichen Texte wrrd dieses Wissen greifbar. Für die priesterlichen Autoren sitzt das Leben der Tiere im Blut. Daher darf dieses Blut niemals verzehrt oder sonst irgendwie verwendet werden (Lev 3,17; 7,26-27; 17,10-14); es muss beim Schlachtungsvorgang an den Altar geschüttet und so symbolisch Gott zurückgegeben werden, oder (bei der Profanschlachtung) auf die Erde gegossen werden (Dtn 12,16.23.27). Hier wird eine gewisse Ehrfurcht vor dem Leben des Tieres sichtbar: Sie sind Mitgeschöpfe; ihre Tötung für den Opferkult oder zur Fleischgewinnung ist eine von Gott zugestandene Ausnahme (s. auch Gen 9,3-4). Das Blut als Sitz des vom Menschen unverfügbaren Lebens muss unter allen Umständen Gott zurückgegeben und darf nicht vom Menschen verzehrt werden.

Nach Pred 3,21 gibt es kernen qualitativen Unterschied zwischen Mensch und Tter, was den Lebensatem betrifft; nach 12,7 kehrt der Atem-Getst (rüali\ zu Gott zurück, da Gott die rüah ja gegeben hat. Damit wird am Ende noch emmal ein ganz zentraler Gedanke des Buches Kohelet angesprochen: Gott tst der Geber alles Guten. Dte Rede Kohelets vom Tod tst vergleichsweise offen: Kohelet verdrängt den Tod ntcht, sondern spricht aUe Umstände, dte damit verbunden smd, offen und deutlich an Zugleich aber lässt steh aus dem Text kerne Lehre vom »absoluten Tod« ableiten.- Es geht freütch (noch) nicht um eme Auferstehung der Toten (vgl. z. B. Dan 12,1-3) oder eme Lehre von der Unsterblichkeit der Seele (Wetsh 2,23-24; 3,1) aber eme totale Anmhüierung des Menschen wird auch nicht behauptet. Mit dem Tod tst nicht alles aus - der Atem-Getst steigt zu Gott nach oben, was immer das heißen mag. Etne genauere Vorstellung entwickelt Kohelet - begreiflicherweise! - ntcht: Der Mensch kann ntcht erkennen, was nach ihm setn wtrd (3,22; 6,12; 7,14; 10,14).

3. Fazit Das Schlussgedicht fasst dte wichtigsten Gedanken des Buches Kohelet noch emmal zusammen und gibt damtt eme Art »Vermächtnis« ab. Dte ineinander verschränkten Themenberetche smd »Freude - Tod - Gott«. Kohelet fordert zur Freude auf, gerade auch m den späten Phasen des Lebens. Die Phase des Alterns ist in das Lebenskonzept integriert und kerne Phase der Gottferne. [...] Die Phase des Alters wird nicht g e n e l l l gegenüber der blühen23

Vgl. Ludger Schwienhorst-Schönberger, »Vertritt Kohelet die Lehre vom absoluten Tod? Zum ArgLentationsgang von Koh 9,1-6«, in: Irmtraud Fischer / Ursula Rapp / Johannes Schiller (Hrsg-). Auf den Spuren der sMfgelehrten Wasen. Festsdnfi für Johannes Marböck anlässluhsemerBmentierung, Berlin und New York 2003 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 331), S. 207-219.

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Thomas ffieke den Jugend abgewertet, aber deutlich anders gewichtet. Dabei verschließt Kohelet die Augen nicht vor der Altersreaktät, die die Lebensfreude mit zunehmender Schwäche, abnehmender Mobilität und getrübten Sinnen immer stärker beeinträchtigt und das Ergreifen der Momente des ungetrübten Glücks e r s c h w e r t

Zugleich ermahnt Kohelet zur Öffnung des Bewusstsems auf die Wirklichkeit Gottes hm (»Denk an deinen Schöpfer«), die die Bewusstwerdung der eigenen Geschöpflichkeit und Sterblichkeit einschließt. Scheiterte das KönigLpenment, weil dann etne Welt ohne Gott k o n t i e r t wurde, so fordert Kohelet den ,ungen Mann dazu auf, schon in seiner Jugend die Rechnung mcht ohne Gott zu machen, sondern sein Bewusstsein entsprechend zu schulen. Wer Gott vergtsst, vergtsst auch die eigene Sterblichkeit und geht damit am Leben vorbei, das - u n d das hält Kohelet sehr realistisch fest - etn Lauf m den Tod ist. Dieser Tod freütch ist kern absolutes Ende, kern Fall ms Nichts, sondern ein Weg in etne Extstenzwetse bei Gott, über die Kohelet kerne Angaben mach?. Der Tod ist zugleich Abbruch und Übergang - wenn tm Schlussgedicht der Punkt des Todes kommt, bncht die Bildsprache und wechselt in den Kreislauf der nach dem Wnter wieder erwachenden Natur. Der Mensch aber stirbt mcht ms Nichts, sondern geht in sem ewiges Haus. W e die Natur nach dem Wnter wieder beginnt, so beginnt der Mensch tm Tod und durch den Tod hindurch eme neue Existenz - doch das W e und Was dieser Existenz ist dem irdischen Menschen verborgen. Auch das wird Kohelet mcht müde zu betonen.

4. Der Mottovers Windhauch, Windhauch, sagte der Versammlungsleiter [Kohelet], das ist alles Windhauch. (Pred 12,8)

Mit dem Mottovers 12,8 kehrt Kohelet an den Anfang (1,2) zurück, so dass steh em Rahmen um das gesamte Buch herum ergibt. Als Sprecher tritt wieder die determinierte Form des Namens auf: haqqöh^t, »der« Kohelet. Vielleicht soll damit angedeutet werden, dass die individuelle Person (mit diesem »Decknamen«) hinter threr Tätigkeit zurücktritt, nämlich Letter emer Versammlung zu sem. Zugleich wird damit die narrattve Einbettung des Buches deutlich: Es ist eme Erzählung von einem Weisheitslehrer (12,9!), der Leute um steh versammelte und der »der Kohelet« (oder eben auch nur »Kohelet«) genannt wurde. Durch den Rückbezug auf den Anfang wird em Lektüreprozess angestoßen, der gleichsam eme Endlosschleife ist. Man wird mit dem Buch mcht fertig, das Sinnpotential 24

Frevel, »Alter«,S. 35.

Das G e w e h t über Freude, Alter und T o d

189

ist unauslotbar. Das gut auch deswegen, weil das Buch so stark die Mitarbeit des Lesers einfordert - und da es immer wieder neue Leserinnen und Leser gibt, wird es auch immer wieder neue Leseweisen des Buches geben. Da m i i selbst aber auch immer wieder in neuen Lebenssituationen und Lebenskontexten steht, wird man auch als Einzelperson bei mehrmaliger Lektüre das Sinnpotential immer tiefer erschließen* Immer wieder soll man 2 U den Gedanken Kohelets zurückkehren - um immer genauer herauszufinden, was Kohelet mit »Windhauch« meint und was im Leben des Menschen »Windhauch«, vergebliche Bemühung ist: Alles menschliche Streben und Berechnen, das versucht, das Glück sich selbst zu verschaffen oder zu erschaffen; ,egliches Leben und Planen ohne Gott und ohne Blick auf die eigene Sterblichkeit - all das ist »Windhauch«. Hat man das erkannt, so stößt man zu dem vor, was Kohelet als das wahre Glück ansieht: die Freude am Leben, die Gott schenkt, weü Gott es ermöglicht, dass man das, was man hat, auch gemeßen kann.

*

Vgl. Schw.enhorst-Schönberger, Kohelet (2004), S. 539.

190

Thomas ffieke

Lkeratur FOX, Michael V., »Agmg and Death in Qohelet 12«, in: Journalfor the Study oftheOldTestament,42(1988),S.55-77. FREVEL, Christian, >»Du wirst emand haben, der dem Her 2 erfreut und dich im Alter versorg* (Rut 4,15). Alter und Altersversorgung im Alten/Ersten Testament« in: Rainer Kampling / An,a MiddelbeckVarwick (Hrsg), Alter- Backe auf das Bevorstehende, Frankfurt a. M. u. a. 2009 (Apeliotes 4), S. 11-43. KAISER, Otto Prsg.) Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Bd. 3: Weisheitstexte, Mythen und Epen, Gütersloh 1990-1997. KRÜGER, Thomas, Kohekt (Prediger), Neukirchen-Vluyn 2000 (Biblischer Kommentar Altes Testament 19, Sonderband). LAUHA, Aare, Kohekt, Neukirchen-Vluyn 1978 (Biblischer Kommentar Altes Testament 19). LOHFINK, Norbert, »Freu dich, Jüngling - doch nicht, weil du ,ung bist. Zum Formproblem im Schlussgedicht Kohelets (Koh 11,9-12,8)«, in: BMcallnterpretaüon, 3 (1995), S. 159-189. - Studien Zu Kohekt, Stuttgart 1998 (Stuttgarter biblische Aufsatebände 26). - Kohekt, Würzburg ^1999 (Die Neue Echter Bibel). MICHEL, D i e t h e l m , ^ / , Darmstadt 1988 (Erträge der Forschung 258). Untersuchungen Zur Eigenart des Buches Qohelet, Berlin 1989 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 183). NEL, Philip, »Remember the >Spnng< of Your Youth: The Vanity of Male Power in Qohelet 12«, in: Old Testament Essays, 21 (2008), S. 149-160. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Ludger, »Nicht im Menschen gründet das Glück, (Koh 2,24). Kohekt tm Spannungsfeldjüdischer Weisheit und helkmstischer Philosophie, Freiburg u. a. *1996 Herders Biblische Studien 2). - Das Buch Kohekt. Studien Zur Struktur, Geschichte, Rektion und Theologie, Berlin 1997 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 254). - »Vertritt Kohelet die Lehre vom absoluten Tod? Zum Argumentationsgang von Koh 9,1-6«, in: Irmtraud Fischer / Ursula Rapp / Johannes Schüler prsg.), Auf den Spuren der schriftgekhrten Weisen. Testschrift für Johannes Marböck anlässlich seiner Emeritierung, Berlin und New York 2003 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 331), S. 207-219. - »Buch der Natur. Kohelet 12,5 und die Rückkehr des Lebens«, in: Frank-Lothar Hossfeld / Ludger Schwienhorst-Schönberger (Hrsg), Das Manna fällt auch heute noch. Beiträge Zur Geschichte und Theologie des AI-

Das Geweht über Freude, Alter und Tod

191

ten, Ersten Testaments, Freiburg u. a. 2004 Perders Biblische Studien 44), S. 532-547. - Kohelet, Freiburg u. a. 2004 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament). - »Das Buch Kohelet«, in: Erich Zenger / Heinz-josef Fabry / Georg Braulik prsg.), Btnlettung tn das Alte Testament, Stuttgart 72008, S. 380388. SEOW, Choon-Leong, »Qohelet's Eschatological Poem«, in: ]ournalofBMcalUterature, 118^ (1999), S. 209-234.

JAN TIMMER

»Wer, der über 50 Jahre alt ist, will sprechen?« (Aischin. 1,23). Überlegungen zu einer Zäsur und ihrem Verschwinden im Lebenslauf attischer Bürger The Athenian orator Aischines discusses an old law he associates with the law-giver Solon. The law stipulates that within the Athens Ekklesia persons over 50 years old have the right to speak first. In the times of Aischines, the law no longer existed. This chapter inquires into the structural conditions behind the law’s origins and repeal. It shows that the origins can be explained as involving an importation of the family structure into the political system. In the rural society of archaic Greece, men over 50 years old held a prominent position: they were kyrioi of their families and represented them in the village community. In the course of the political system’s differentiation, these factors increasingly took a back seat. The democratic system of majority rule in Athens offered neither the basis for nor a requirement of extra positions being consigned to single groups. This is why the rule fell into disuse during the fifth century.

Der menschliche Lebenslauf ist durch vielerlei Zäsuren gekennzeichnet. Er verbindet Einschnitte von Zeitprogrammen verschiedener Lebensbereiche wie der häuslichen Strukturen oder des Erwerbslebens, wie der sozialen Sicherung oder – um einen solchen Einschnitt soll es im Folgenden gehen – des politischen Systems und fügt diese zu einer, allerdings nicht immer homogenen und ebenso wenig widerspruchsfreien, Einheit zusammen.1 Dabei sind die Zäsuren unterschiedlicher Systeme im Lebenslauf nicht immer gleich ausgeprägt. Im interkulturellen wie historischen Vergleich zeigen sich erhebliche Unterschiede.2 1

2

Martin Kohli, »Lebenslauf und Lebensalter als gesellschaftliche Konstruktionen: Elemente zu einem Vergleich«, in: Joachim Matthes (Hrsg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen 1992, S. 283–303; ders., »Altern in soziologischer Perspektive«, in: Paul B. Baltes / Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung, Berlin 1992, S. 231–259. Martin Kohli, »Lebenslauftheoretische Ansätze in der Sozialisationsforschung«, in: Klaus Hurrelmann / Dieter Ulich (Hrsg.), Neues Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim 4 1991, S. 303–317, hier S. 309f.

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Jan Timmer

Das gilt auch für die Bedeutung der erwähnten politischen Zäsuren. Ein kurzer Blick auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik mag dies verdeutlichen:3 Einschnitte in den Lebenslauf, die mit dem politischen System in Verbindung stehen, gibt es nur wenige. 18 Jahre sind die Voraussetzung für das aktive Wahlrecht, wobei man sich fragen mag, welche Rolle unter all den Änderungen, die mit der Vollendung des 18. Lebensjahres gemäß § 2 BGB verbunden sind, von der Geschäftsfähigkeit4 über die Möglichkeit des Erwerbs eines Führerscheins der Klasse B, Wehrdienst oder Prozessfähigkeit,5 bis zu freiem Ausgehen oder Schadensersatzpflicht, das Wahlrecht für den Volljährigen spielen mag.6 Ebenso hoch liegt auch die Grenze für das passive Wahlrecht.7 Nur wenige Ämter besitzen in Deutschland andere Altersgrenzen. Und selbst dort, wo es abweichende Regelungen im politischen System der Bundesrepublik gibt, spielen sie für die Mehrheit der Deutschen kaum eine Rolle. Wer wird wohl die Vollendung des 40. Lebensjahres als Mindestalter für das Amt des Bundespräsidenten als tiefen Einschnitt in seinem persönlichen Lebenslauf empfinden?8 So kann man sicher feststellen, dass Zäsuren im Lebenslauf in unserer Gesellschaft eher durch andere Faktoren, wie der Stellung des Akteurs im Erwerbsleben – darauf hat vor allem Martin Kohli wiederholt insistiert – etwa in Gestalt des Berufs- oder Renteneintritts, erzeugt werden.9 Politisch induzierte Zäsuren gibt es wenige, und sie spielen in der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung nur eine untergeordnete Rolle. Im klassischen Athen war dies anders: In einer Gesellschaft, in welcher sich Personen maßgeblich über ihr Bürger-Sein definierten, die Ausweise, die sie, mit vollständigem Namen und Gegenstempel versehen, als wahlberechtigt auswiesen, als Beigabe in ihre Gräber mitgeben ließen und in der schließlich die Bekleidung von Ämtern nicht die Sache von Wenigen 3

4

Markus M. Groß-Bölting, Altersgrenzen im Wahlrecht. Entwicklung und systematische Bedeutung im deutschen Verfassungsrecht, Köln 1993; zur Genese dieser Altersgrenzen vgl. darüber hinaus: Peter Behrendt, »Jugendliche als Gefahr oder Triebkraft des Politischen? Zum Streit um den politischen Status von Jugend in der Frankfurter und Weimarer Nationalversammlung«, in: Christoph Gusy / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Inklusion und Partizipation. Politische Kommunikation im historischen Wandel, Frankfurt a. M. und New York 2005, S. 79–104; ders., »Ungleiche Reifegrade: Die Debatten um Altersgrenzen in der Weimarer Republik«, in: Ute Frevert / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a. M. und New York 2005, S. 202–240. §§ 104ff. BGB.

5

§ 52 ZPO.

6

Art. 38 Abs. 2 GG.

7

Ebd.

8

Art 54 Abs. 1 GG.

9

Kohli, »Altern«, S. 238–245; ders., »Lebenslauftheoretische Ansätze«, S. 310f.

»Wer, der über 50 Jahre alt ist, will sprechen?«

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war, sondern jedes Jahr etwa 700 Ämter neu unter den vielleicht 20000 Bürgern der Polis Athen verlost wurden, spielte das Politische als Ausgangspunkt für Zäsuren im Lebenslauf eine zentrale Rolle:10 Das politische System Athens kannte viele solcher Einschnitte im Bereich des aktiven und vor allem auch in demjenigen des passiven Wahlrechts. So war die Teilnahme an der Ekklesia, also der Versammlung aller männlichen Bürger, im 5. Jahrhundert v. Chr. an ein Mindestalter von 18 Jahren gebunden,11 wobei, aber das gilt für alle Altersgrenzen politischer Systeme der Antike, die Feststellung des Alters am Anfang politischer oder auch militärischer Laufbahnen weitgehend auf Schätzung beruhte.12 Auf der Seite des passiven Wahlrechts gab es eine Vielzahl von Zäsuren, mit denen die Möglichkeit zur Bekleidung eines bestimmten Amtes einherging. Die wichtigste lag bei 30 Jahren. Mit diesem Alter durften die Bürger in den Dikasterien als Richter fungieren13 und Mitglieder im Rat, der Boule,14 werden. Da aus denjenigen, die Zugang zum Rat besaßen, in 10

11

Zu den pinakes vgl. Mogens-Herman Hansen, Die athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis, Berlin 1995, S. 187; John H. Kroll, Athenian Bronze Allotment Plates, Cambridge Mass. 1972. Zur Zahl der Magistraturen Mogens-Herman Hansen, »Seven Hundred archai in Classical Athens«, in: Greek, Roman and Byzantine Studies, 21 (1980), S. 151–173. Aristot. AP 42,1f., Text nach: Aristotelis Atheniensium respublica, hrsg. von Frederic George Kenyon, Oxford 1920 (ND Oxford 1970) (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis): mete,cousin me.n th/j politei,aj oi`` evx avmfote,rwn gegono,tej avstw/n( evggra,fontai d¾ eivj tou.j dhmo,taj ovktwkai,deka e;th gegono,tej) o[tan d¾ evggra,fontai( diayhfi,zontai peri. auvtw/n ovmo,santej oi` dhmo,tai( prw/ton me.n eiv dokou/si gegone,nai th.n h`liki,an th.n evk tou/ no,mou( ka'n mh. do,xwsi( avpe,rcontai pa,lin eivj pai/daj @)))# meta. de. tau/ta d@ok#ima,zei tou.j evggrafe,ntaj h` boulh,( ka;n t i j do,x@h|# new,teroj ovktwkai,dek´ evtw/n ei=nai( zhmioi/ t@o#u.j dhmo,taj tou.j evggra,yantaj) Übersetzung nach: Aristoteles, Staat

der Athener, übersetzt und erläutert von Mortimer Chambers, Darmstadt 1990: »Das Bürgerrecht haben diejenigen, deren Eltern beide Bürger sind; sie werden mit Vollendung des 18. Lebensjahres in die (Liste der) Gemeindemitglieder eingeschrieben. Wenn sie eingeschrieben werden, prüfen die Gemeindemitglieder sie unter Eid und auf dem Wege der Abstimmung in folgenden Punkten. Zunächst, ob es bestimmt ist, daß sie das gesetzlich vorgeschriebene Alter tatsächlich erreicht haben; falls sie anders entscheiden, kehren sie (die Kandidaten) wieder in die (Reihen der) Knaben zurück. […] Danach überprüft der Rat die Eingeschriebenen, und falls er entscheidet, daß jemand jünger als 18 Jahre ist, erlegt er den Gemeindemitgliedern, die ihn eingeschrieben haben, eine Geldstrafe auf.« Zur Diskussion vgl.: John Kenyon Davies, Athenian Propertied Families, 600–300 B.C., Oxford 1971, S. 123–127; Mark Golden, »Demosthenes and the Age of Majority in Athens«, in: Phoenix, 33 (1979), S. 25–38; Raphael Sealey, »On Coming of Age in Athens«, in: The Classical Review, 7 (1957), S. 195–197. Aristoph. vesp. 578ff. Hansen, Demokratie im Zeitalter des Demosthenes, S. 187–232. Xen. mem. 1,2,35, Text nach: Xenophontis Opera omnia, hrsg. von Edgar C. Merchant, 5 Bd., London 1900 (ND London 1946) (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis): kai. o` Swkra,thj\ {Ina toi,nun( e;fh( mh. avmfi,bolon h= | @w`j a;llo t i poiw/ h' ta. prohgoreume,na#( o`ri,sate, moi me,cri po,swn evtw/n dei/ nomi,zein ne,ouj ei=nai tou.j avnqrw,pouj) kai. o` Cariklh/j) {Osouper( ei=pe( cro,nou bouleu,ein ouvk e;xestin( w`j ou;pw froni,moij ou=si\

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Jan Timmer

der Regel auch die Kandidaten für die Amtsträger genommen wurden, war die Zäsur von 30 Jahren zugleich die ›Eintrittskarte‹ für die meisten der Ämter, die jedes Jahr in Athen vergeben wurden.15 Wenn auch die Schwelle von 30 Jahren sicher die wichtigste war, so gab es eine ganze Reihe zusätzlicher Festlegungen, die den Lebenslauf des Bürgers weiter strukturierten: So mussten Beamte, die die Epheben, also die Wehrpflichtigen Athens, beaufsichtigten, sowie die Hendeka, die Elfmännerkommission, die für den Strafvollzug zuständig war, mindestens 40 Jahre,16 die Epheten, die bei Tötungsdelikten Recht sprechen sollten, 50 Jahre,17 die Schiedsrichter bei Privatrechtsklagen, die Diaiteten, sogar 59 Jahre alt sein.18 Nun ist aber nicht allein die Bedeutung verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche für den Lebenslauf eines Akteurs unterschiedlich, auch das Verhältnis der gesellschaftlichen Teilbereiche und ihrer Zeitprogramme untereinander, also vor allem der Grad ihrer Autonomie ist historisch bedingt. Für vormoderne Gesellschaften und damit auch für die Gesellschaft des klassischen Griechenlands sind Strukturtransfers zwischen den sich langsam ausdifferenzierenden Funktionssystemen zu vermuten.19 Es stellt sich daher mit Blick auf diese Vielzahl von Einschnitten die Frage nach dem Verhältnis der Zäsuren des politischen Raumes zu den Zeitprogrammen anderer Gesellschaftsbereiche, bzw. die Frage, welche Gesellschaftsstrukturen in der Umwelt des politischen Systems sie bedingten oder – mit Blick auf die Möglichkeit der Autonomie von Systemen – welche Rationalität innerhalb des politischen Systems für sie verantwortlich war. Im Folgenden sollen eine dieser Alterszäsuren im Lebenslauf des attischen Bürgers, ihre strukturellen Bedingungen und die Gründe für ihren

15

16 17 18 19

mhde. su. diale,gou newte,roij tria,konta evtw/n) Übersetzung nach: Xenophon, Die Sokratischen Schriften. Memorabilien / Symposion. Oikonomikos / Apologie. Übertragen und hrsg. von Ernst Bux, Stuttgart 1956: »Darauf entgegnete Sokrates: ›Damit nun kein Zweifel ist, inwiefern ich etwas anderes als das Verordnete tue, gebt mir die Grenze an, bis zu welchem Jahr ich die Menschen für jung halten soll.‹ Und Charikles meinte: ›Soweit, als sie nicht Ratsherren werden können, da sie noch nicht verständig sind. Unterrede dich nicht mit Leuten, die jünger sind als dreißig Jahre.‹« Aristot. AP 4,3; 8,4; Vat. gr. 2306 b249–253; zur umfangreichen Diskussion, in welchem Maß 30 Jahre tatsächlich für die meisten Ämter das Mindestalter darstellte, vgl. Robert Develin, »Age Qualifications for Athenian Magistrates«, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik, 61 (1985), S. 149–159; Hansen, »archai«, bes. S. 167–169; Hansen, Demokratie im Zeitalter des Demosthenes, S. 235–238; Jan Timmer, Altersgrenzen politischer Partizipation in antiken Gesellschaften, Berlin 2008, S. 33–39. Zu den Sophronistai Aristot. AP 42,2; zu den Hendeka Photios s.v. pe.ri tw/n e[ndeka) Pollux 8,125. Aristot. AP 53,4. Timmer, Altersgrenzen, S. 273.

»Wer, der über 50 Jahre alt ist, will sprechen?«

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Fortfall im 5. Jahrhundert v. Chr. in den Blick genommen werden, und zwar der Einschnitt von 50 Jahren, mit dem das Erstrederecht in der Volksversammlung verbunden war. »Wer, der über 50 Jahre alt ist, will sprechen?«20 So lautete, wie der im 4. Jahrhundert v. Chr. lebende attische Politiker und Redner Aischines in der Rede gegen Timarchos überliefert, nach den Präliminarien von Gelübde und Opfer laut einem solonischen Gesetz die Frage des Heroldes in der attischen Volksversammlung.21 Erst nachdem alle von ihnen gesprochen hatten, durften jüngere Bürger zu Wort kommen. Selbst bei diesen spielte das Alter aber eine wichtige Rolle, denn, wie der Redner an anderer Stelle berichtet,22 auch die Redesequenzierung erfolgte nach dem Alter der Sprechenden. Aischines selbst kannte diesen Brauch aber nur noch aus der Vergangenheit. Zu seiner Zeit spielte die Zäsur von 50 Jahren in der 20

Aischin. 1,23, Text nach: Aeschinis Orationes, hrsg. von Friedrich Blass und Ulrich Schindel, Stuttgart ²1978 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis): Kai. pw/j keleu,ei tou.j proe,drouj crhmati,zein* evpeida.n to. kaqa,rsion perienecqh kai. o` kh/rux ta,j patri,ouj euvca.j eu;xhtai( proceirotonei/n keleu,ei tou.j proe,drouj peri. i`erw/n tw/n patri,wn kai. kh,ruxi kai. presbei,aij kai. o`si,wn( kai. meta. tau/ta evperwta|/ o` kh/rux\»ti,j avgoreu,ein bou,letai tw/n u`pe.r penth,konta e;th gegono,twn*« epeidan de outoi pantej eipwsi( tot¾ h;dh keleu,ei le,gein tw/n a;llwn VAqhnai,wn to.n boulo,menon( oi-j e;xestin) Übersetzung

21 22

sehr frei nach: Aeschines der Redner, hrsg. und übersetzt von Johann Heinrich Bremi, Stuttgart 1828: »Und wie weist er die Vorsitzenden an zu verfahren? Wenn das Reinigungsopfer herumgetragen worden ist und der Herold das Gebet unserer Vorfahren verrichtet hat, weist er die Vorsitzenden an, bezüglich der Landesopfer und der Herolde und der Gesandten und der weltlichen Angelegenheiten die Vorabstimmung (Procheirotonie) durchzuführen. Danach fragt der Herold: ›Wer von denen, die über 50 Jahre alt sind, will sprechen?‹ Wenn von diesen alle gesprochen haben, dann fordert er die anderen Athener, die sprechen wollen, zu sprechen auf, sofern es ihnen erlaubt ist.« Hansen, Demokratie im Zeitalter des Demosthenes, S. 146f. Aischin. 3,2, Text nach: Aeschinis Orationes, hrsg. von Friedrich Blass und Ulrich Schindel, Stuttgart ²1978 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis): VEboulo,mhn me.n ou=n( w= a;ndrej VAqhnai/oi( kai. th.n boulh.n tou.j pentakosi,ouj kai. ta.j evkklhsi,aj u`po. tw/n evfesthko,twn ovrqw/j dioikei/sqai( kai. tou.j no,mouj ou]j evnomoqe,thsen o` So,lwn peri. th/j tw/n r`hto,rwn euvkosmi,aj ivscu,ein( i[na exh/n prw/ton me.n tw/| presbuta,tw| tw/n politw/n( w[sper oi` no,moi prosta,ttousi( swfro,nwj evpi. to. bh/ma parelqo,nti a;neu qoru,bou kai. tarach/j evx evmpeiri,aj ta. be,ltista th/| po,lei sumbouleu,ein( deu,teron d¾ h;dh kai. tw/n a;llwn politw/n to.n boulo,menon kaq¾ h`liki,an cwri.j kai. evn me,rei peri. e`ka,stou gnw,mhn avpofai,nesqai\ ou[tw ga,r a;n moi dokei/ h[ te po,lij a;rista dioikei/sqai( ai[ te

kri,seij evla,cistai gi,gnesqai) Übersetzung sehr frei nach: Aeschines der Redner, hrsg. und übersetzt von Johann Heinrich Bremi, Stuttgart 1828: »Ich wünschte nun, Männer von Athen, daß der Rat der 500 und die Volksversammlung von denen, die dazu eingesetzt sind, richtig geleitet werden, und sie den Gesetzen Geltung verschaffen, die Solon über die gute Ordnung der Redner erlassen hat, damit es als erstes dem ältesten Bürger, so wie es die Gesetze vorschreiben, erlaubt ist, besonnen zur Rednerbühne zu kommen und ohne Geschrei und Störung aus seiner Erfahrung das Beste für die Stadt zu raten. Danach sollen die anderen Bürger, die es wünschen, über jede einzelne Sache nach Alter geordnet ihre Meinung darlegen. Denn auf diese Weise, scheint mir, wird die Stadt am besten verwaltet und es werden am wenigsten Streitfälle entstehen.«

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Volksversammlung – wie er ausdrücklich beklagt – keine Rolle mehr. Der Herold fragte: „Wer von den Anwesenden will sprechen?“23, und die Reihenfolge der Redebeiträge dürfte mit der Reihenfolge der Wortmeldungen identisch gewesen sein. Jedenfalls war das Alter der Bürger in dieser Frage irrelevant.24 Diese Zäsur von 50 Jahren für das Erstrederecht in der wichtigsten Institution der attischen Demokratie wirft weitergehende Fragen auf: Zum einen nach dem Alter, das gefordert wurde, selbst: Was prädestinierte gerade diejenigen Bürger, die über 50 Jahre alt waren, zuerst zu sprechen? Es verbindet sich damit zunächst kein Vorteil für das politische System. Und zum anderen: Warum verschwand das Vorrecht, und welche gesellschaftlichen oder spezifisch politischen Strukturveränderungen lassen sich für die Abschaffung verantwortlich machen? Eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Erstrederechts der über 50-Jährigen und seiner Funktion muss mit der zeitlichen Einordnung der Entstehung der Regelung beginnen: Diese ist in der Forschung umstritten. Aischines selbst schrieb die Regelung dem attischen Gesetzgeber Solon, der im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. in Athen umfangreiche politische und soziale Reformen anstrengte, zu. Diese Angabe scheint auf den ersten Blick eindeutiger, als sie tatsächlich ist. Die attischen Redner des 4. Jahrhunderts v. Chr. verbanden häufig die von ihnen zitierten Gesetze mit der Figur des Solon.25 Gesetze einem legendären Gesetzgeber zuzuschreiben, war ein probates Mittel, ihnen Legitimität zu verleihen.26 Zugleich bietet der bei Aischines zitierte Gesetzestext inhaltlich keinen eindeutigen Anhaltspunkt, um die Richtigkeit der Zuschreibung zu bestätigen oder zu widerlegen. So bleiben lediglich Indizien, auf die sich die Forschung stützt. Bestritten worden ist die Verbindung mit Solon von E. Ruschenbusch in 23 24

25

26

Dem. or. 18,170. Zur Diskussion um das Datum der Abschaffung Guy Thompson Griffith, »Isegoria in the Assembly at Athens«, in: Ernst Badian (Hrsg.), Ancient society and Institutions. Studies presented to Victor Ehrenberg on his 75th Birthday, Oxford 1966, S. 115–138, hier S. 119; Konstantinos A. Kapparis, »The Law on the Age of the Speakers in the Athenian Assembly«, in: Rheinisches Museum für Philologie, 141 (1998), S. 255–259. Zum Problem der Echtheit der bei den Rednern überlieferten Gesetze vgl. grundsätzlich Eberhard Ruschenbusch, Solonos Nomoi. Die Fragmente des Solonischen Gesetzeswerkes mit einer Text- und Überlieferungsgeschichte, Wiesbaden 1966, bes. S. 53–56; mit direkter Auseinandersetzung Adele C. Scafuro, »Identifying Solonian Laws«, in: Josine H. Blok / Andre P. M. H. Lardinois (Hrsg.), Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches, Leiden 2006, S. 175–196; mit einer positiven Einschätzung zur Frage Peter John Rhodes, »The Reforms and Laws of Solon: an Optimistic View«, in: Josine H. Blok / Andre P. M. H. Lardinois (Hrsg.), Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches, Leiden 2006, S. 248–260. Ruschenbusch, Solonos Nomoi, S. 53–58.

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seiner Sammlung der Fragmente des solonischen Gesetzeswerkes sowie von M. Griffith.27 Dabei richtet sich das Argument gegen die Verbindung allerdings im Wesentlichen auf die Häufigkeit der fehlerhaften Zuschreibung.28 Die Redner des 4. Jahrhunderts v. Chr. zitierten in der Regel nicht mehr von den Axones, also den aufgestellten Inschriftenträgern mit den Gesetzen Solons, obwohl diese Texte noch greifbar waren,29 sondern aus dem zu ihrer Zeit gültigen Gesetzeswerk des Eukleides, in das allerdings Passagen aus den solonischen Gesetzen Eingang gefunden hatten.30 Dagegen lassen sich aber, wie vor allem K. Kapparis deutlich gemacht hat, auch Indizien für die Echtheit der Gesetzesfragmente benennen: Hierzu gehört zunächst einmal, dass im Gegensatz zu den üblichen Zuschreibungen, in denen die Redner lediglich allgemein auf Solon als Urheber verweisen, im vorliegenden Fall von Aischines das Fragment einem konkreten Gesetz Solons, nämlich demjenigen peri. euvkosmi,aj, zugeordnet wird.31 Zudem ist die sprachliche Ausgestaltung archaisch: Die Verwendung des Verbs avgoreu,ein vermag zumindest in diese Richtung zu weisen.32 Es tritt hinzu, dass ein Erstrederecht für Personen fortgeschrittenen Alters wie auch der Umstand, dass ›die Alten‹ in der Ekklesia als erkennbare eigenständige Gruppe identifizierbar sind, sich in den Quellen früh, auch außerhalb des umstrittenen Solonfragments, fassen lassen: Die Bevorzugung der ›Alten‹ beim Rederecht ist dabei bereits in der Ilias nach27 28

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Ruschenbusch, Solonos Nomoi; Griffith, »Isegoria«. »Die Zuschreibung der Gesetze an Solon, die ausschließlich auf die Erregung der Affekte abzielt, ist immer unbegründet und in der Regel unzutreffend. [...] Für die Sammlung der Fragmente ist die Tatsache, dass die Redner bestimmte Gesetze als solonisch anführen, völlig wertlos. Deshalb sind auch alle von den Rednern als solonisch bezeichneten Gesetze [...] unter die falsa eingereiht worden.« Ruschenbusch, Solonos Nomoi, S. 54. Vorsichtiger formuliert Griffith, »Isegoria«, S. 119: »A law containing this provision certainly could be Solon’s, though it need not to be«, wobei sie ebenfalls bei den Rednern des 4. Jahrhunderts die Gewohnheit der Verbindung aller möglichen Gesetze v. Chr. mit Solon als Urheber hervorhebt. Selbst Plutarch konnte noch auf – wenn auch bescheidene – Reste der Axones zurückgreifen, Plut. Solon 25,1; daneben gab es aber bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. eine Abschrift der Inschriftenträger. Dafür spricht die Erwähnung von »Gesetzen Solons, die nicht mehr angewendet werden«, in der Athenaion politeia (Aristot. AP 8,3), was die Möglichkeit des Rückgriffs auf die älteren Texte bedeutet; ebenso sind die Ausführungen des Lysias zur archaischen Sprache der solonischen Gesetze nicht ohne die Möglichkeit, an ihren Inhalt zu gelangen, denkbar; und schließlich schreibt der spätantike Hesych von Milet in seiner Schrift in onomatologo unter der Auflistung der Werke des Aristoteles diesem eine Abhandlung über die Axones in fünf Büchern zu (Hesych s.v. VAristote,lhj Rose 1886, S. 16). Scafuro, »Solonian Laws«, S. 177. Aischin. 3,2. Kapparis, »Law on the Age«, S. 256; vgl. Henri Fournier, Les verbes »dire« en grec ancien, Paris 1946, S.41f.

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zuweisen. So beginnt Nestor in der Szene des 2. Buches, in der Agamemnon seine Vertrauten zum Opfermahl lädt, ebenso mit dem ersten Redebeitrag33 wie Aigyptios im 2. Buch der Odyssee, der als alter Mann mit seinem Redebeitrag die Volksversammlung der Ithakesier eröffnet.34 Parallelen zeigen sich auch bei der Figur des Echenos, bei dem der Dichter explizit darauf verweist, dass er der älteste der Phaiaken gewesen sei.35 Eine herausgehobene Stellung älterer Sprecher lässt sich auch bei Herodot finden, der, wenn er auch nicht Alter und Sitzungseröffnung miteinander verbindet, so doch deutlich macht, dass in den Sitzungen der Volksversammlung Altersgruppen deutlich erkennbar waren.36 33

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Hom. Il. 2,432f., Text nach: Homerus, Ilias, hrsg. von Martin L. West, 2 Bd., Stuttgart 1998 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana): auvta.r evpei. po,sioj kai. evdhtu,oj evx e;ron e[nto( toi/j a;ra mu,qwn h=rce Gerh,nioj i`ppo,ta Ne,stwr) Übersetzung nach: Homer, Ilias. Übertragen von Hans Rupé. Mit Urtext, Anhang und Registern, München7 1980: »Aber nachdem die Begierde nach Trank und Speise gestillt war, Da begann der gerenische reisige Nestor zu sprechen.« Hom. Od. 2,13–16, Text nach: Homer, Odyssee. Griechisch und deutsch. Übertragung von Anton Weiher. Mit erläuterndem Anhang und Namenverzeichnis. München 1955: to.n d´ a;ra pa,ntej laoi. evperco,menon qheu/nto) }Ezeto d´ evn patro.j qw,kw|( ei=xan de. ge,rontej) Toi/si d´ e;peiq v h[rwj Aivgu,ptioj h=rc v avgoreu,ein( o]j dh. gh,rai? kufo.j e;hn kai. muri,a h;|dh) Übersetzung nach: Homer, Odyssee. Griechisch und deutsch. Übertragung von Anton Weiher. Mit erläuterndem Anhang und Namenverzeichnis. München 1955: »Alle Leute schauten auf ihn, wie so schön er daherkam. / Und er setzte sich hin auf den Platz seines Vaters. Die Greise / Gaben ihm Raum. Doch die Reden begann der vom Alter gebückte / Held Aigyptios; reich war sein Wissen.« Hom. Od. 7,155–158, Text nach: Homer, Odyssee. Griechisch und deutsch. Übertragung von Anton Weiher. Mit erläuterndem Anhang und Namenverzeichnis. München 1955: ovye. de. dh. mete,eipe ge,rwn h[rwj VEce,nhoj( o]j dh. Faih,kwn avndrw/n progene,steroj h=en kai. mu,qoisi ke,kasto( palaia, te polla, te eivdwj,\ o[ s f i n evu?frone,wn avgorh,sato kai. mete,eipen* vgl. ebd. 11,342f. Übersetzung nach: Homer, Odyssee. Griechisch und deutsch. Übertragung von Anton Weiher. Mit erläuterndem Anhang und Namenverzeichnis. München 1955: »Spät erst redete wieder der greise Held Echenéos, / Älter war er beträchtlich als sonst die Phaiakischen Männer; / Worte fielen ihm leicht, er wußte ja Altes und vieles. / Der nun sagte mit gutem Bedacht, als wärs auf dem Marktplatz […].« Hdt. 7,142, Text nach: Herodoti Historiae, hrsg. von Carl Hude, 2 Bd., London ³1927 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis): `Wj de. avpelqo,ntej oi` qeopro,poi avph,ggellon evj to.n dh/mon( gnw/mai kai. a;llai p o l l a i . evgi,nonto dizhme,nwn to. manth,ion kai. ai[de suvnesthkui/ai ma,lista\ tw/n presbute,rwn e;legon metexe,teroi doke,ein sfi,si to.n qeo.n th.n avkro,polin crh/sai perie,sesqai\ h` ga.r avkro,polij to. pa,lai tw/n vAqhnai,wn r`hcw/| evpe,frakto) Oi` me.n dh. @kata. to.n fragmo.n# suneba,llonto tou/to to. xu,linon tei/coj ei=nai\ oi` d´ au= e;legon ta.j ne,aj shmai,nein to.n qeo,n( kai. tau,taj pararte,esqai evke,leuon ta=lla avpe,ntaj) Übersetzung nach: Das Geschichtswerk des Herodot von Halikarnassos. Aus dem Griechischen von Theodor Braun, Frankfurt a. M. und Leipzig 2001 (Neudruck der Auflage von 1927): »Als sie ihn [den Bescheid] dort dem Volke vorgetragen hatten, waren die Meinungen geteilt, wie das Orakel zu verstehen wäre, insbesondere standen sich dabei zwei Meinungen gegenüber. Einige ältere Leute meinten, der Gott prophezeie damit, daß die Burg sich halten würde. Denn die Burg von Athen war in alter Zeit von einer Dornhecke umgeben, und sie glaubten, diese (Hecke) wäre die

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Schließlich ist abgesehen vom Einzelfall darauf zu verweisen, dass die vor allem bei Ruschenbusch zu findende Skepsis an der Echtheit großer Teile der überlieferten Fragmente in der Forschung der letzten Jahre relativiert worden ist. Gab es für Ruschenbusch nur echte Fragmente, die über die Axones überliefert worden sind, oder Fälschungen – vor allem des 4. Jahrhunderts v. Chr. –, so tendiert die neuere Forschung dazu zu betonen, dass als dritte Gruppe Solon zugeschriebene Gesetze zu identifizieren sind, die zwar im Laufe der Zeit zwischen dem frühen 6. und 4. Jahrhundert v. Chr. überarbeitet wurden, im Kern aber solonisch sind.37 So lässt sich mit Blick auf die Frage, ob die von Aischines erwähnte Regelung zum Erstrederecht der über 50-Jährigen solonischen Ursprungs oder erst Teil der Regelungen von 404 / 03 v. Chr. ist, feststellen, dass sich eine Urheberschaft Solons zwar aufgrund der Quellenlage nicht beweisen lässt, die Wahrscheinlichkeit aber für eine Zugehörigkeit der Regelung zur archaischen Zeit spricht. Damit fiele sie in eine Phase der Ausdifferenzierung des politischen Systems und der Institutionalisierung von Regeln für Entscheidungsfindungsprozesse. Diese Phase der Entstehung des Politischen bei den Griechen – im Sinne der Ausdifferenzierung eines Systems der Teilhabe der Bürger an der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen, der Institutionalisierung ihrer Formen und schließlich der Reflexion von Partizipationschance und organisatorischer Ausgestaltung – gehört in Athen in die Zeit zwischen Solon und Kleisthenes, also in die Zeit zwischen dem ausgehenden 7. und dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr.38 Dabei entstanden Organisationen und Verfahren nicht im leeren Raum: Strukturen wurden aus der Umwelt des neu geschaffenen politischen Systems importiert.39 Und wenn dies für das System als Ganzes, für Organisation und Verfahren gilt, so gilt es – so jedenfalls die Vermutung – auch für diejenige Altersgrenze, die hier im Mittelpunkt steht. Es ist also genauer zu fragen: Welche Strukturen in der Umwelt des politischen Sys-

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hölzerne Mauer. Wieder andere glaubten, der Gott hätte die Schiffe gemeint, und rieten, alles andere preiszugeben und nur die Schiffe instand zu setzen.« Vgl. etwa Scafuro, »Solonian Laws«, S. 179: »There is obviously room to maneuver regarding the integrity of Ruschenbusch’s collection. But instead of detracting from it, I would like to add another category to the broad categories of the genuine and the false. The new category consists of laws that may have a Solonian kernel.« Vgl. zustimmend auch Rhodes, »The Reforms and Laws of Solon«. Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt 1980. Samuel Eisenstadt, The Political Systems of Empires: The Rise and Fall of the Historical Bureaucratic Societies, New York 1963; zur Evolution politischer Systeme vgl. auch das entsprechende Kapitel in Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 407–434.

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tems ließen ein Erstrederecht der über 50-Jährigen in der Ekklesia plausibel erscheinen? Der Blick richtet sich dabei vor allem auf die häuslichen Strukturen: Wie etwa W. Schmitz in verschiedenen Arbeiten gezeigt hat, lassen sich viele Maßnahmen dieser Zeit, nicht zuletzt verschiedene solonische bzw. Solon zugeschriebene Gesetze wie das Gesetz gegen Untätigkeit, gegen Ehebruch oder die athenischen Bestattungsgesetze vor dem Hintergrund dieser Ordnungsmuster erklären.40 Grundlage für diese war eine weitgehend agrarische Subsistenzwirtschaft, d. h., dass die Bauern vor allem für den Bedarf des eigenen Hauses produzierten. Es wurde nur wenig Überschuss erwirtschaftet.41 Dabei wurden in den Ebenen vor allem Wintergerste sowie in geringerem Ausmaß Weizen und Sommergerste angebaut,42 zwischen die in einer Form der Interkultivation Olivenbäume gepflanzt wurden,43 eine Art des Anbaus, die sich noch heute im mediterranen Raum beobachten lässt. Daneben spielte der Anbau von Feigen, Kohl, Bohnen, Linsen und Wein eine Rolle. Die gebirgigen Regionen außerhalb der Fruchtebenen dienten der Weidewirtschaft.44 Eine Stallviehhaltung gab es aufgrund des Mangels an Futterpflanzen nur in geringem Ausmaß.45 Dabei reichte bei den Vollbauern der Ertrag ihrer Felder zum Leben zwar aus, der angesprochene geringe Überschuss machte die Lebensführung aber anfällig gegenüber äußeren Einflüssen. Ereignisse wie Dürre oder Überschwemmungen, Krankheiten oder – und das war in Griechenland auch nicht ungewöhnlich – Raubzüge gefährdeten die Lebenssiche40

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Grundsätzlich Winfried Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Berlin 2004; speziell zum nomos moicheias Winfried Schmitz, »Der nomos moicheias – Das athenische Gesetz über den Ehebruch«, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung, 114 (1997), S. 45–140; zum nomos argias Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft, S. 190–202; zu den Bestattungsgesetzen vgl. auch Josine H. Blok, »Solon’s Funerary Laws: Questions of Authencity and Function«, in: J. H. B. / Andre P. M. H. Lardinois (Hrsg.), Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches, Leiden 2006, S. 197–247. Zum Folgenden Robert Sallares, The Ecology of the Ancient Greek World, London 1991, zur Nutzung des Landes bes. S. 295–303; Winfried Schmitz, Haus und Familie im antiken Griechenland, München 2007, S. 9f., 21f. Theophr. Hist. pl. 8,8,2; Xen. oec. 17,6. Lin Foxhall, Olive Cultivation in Ancient Greece. Seeking the Ancient Economy, Oxford 2007; anders Alison Burford Cooper, »Greek Culture and Science. Greek Agriculture in the Classical Period«, in: Cambridge Ancient History² VI (1994), S. 661–677, hier S. 666, die unter Verweis auf Theophr. caus. pl. 3,15,4 keine Interkultivation zur Ertragssteigerung annimmt. Vgl. Hans Lohmann, »Agriculture and Country Life in Classical Attica«, in: Berit Wells (Hrsg.), Agriculture in Ancient Greece. Proceedings of the Seventh International Symposium at the Swedish Institute at Athens, 16–17 May 1990, Stockholm 1992, S. 29–57. Vgl. etwa die freilaufenden Schweine: Hom. Il. 11,670; Hom. Od. 14,96–104.

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rung und ließen die Drohung des Abstiegs in die unterbäuerliche Schicht vor Augen treten. Hinzu kam das Prinzip der Realteilung der Hofstelle unter den Söhnen, das ebenfalls durch die geringer werdende Hofgröße den Abstieg in die unterbäuerliche Schicht bedeuten konnte.46 Der Vollbauer bewirtschaftete seine Hofstelle zusammen mit Frau, Kindern und sehr wenigem langfristig auf dem Hof beschäftigtem Gesinde. Zentral für den vorliegenden Zusammenhang ist dabei die Stellung des Hausvaters, des Kyrios, innerhalb des Hauses, das zugleich Wirtschafts-, Sozial-, Rechts- und Herrschaftsverband war:47 Hierbei ist zum einen auf dessen starke Stellung hinzuweisen: Der Kyrios war im eigentlichen Sinn Herr der Familie.48 Er verfügte über das Familienvermögen, er vertrat das Haus innerhalb der Gemeinschaft, er besaß bei der Geburt eines Kindes das Recht, über Annahme oder Aussetzung, Verkauf oder gar Tötung zu entscheiden.49 Diese Position erscheint vor dem skizzierten Hintergrund einer prekären Versorgungslage und der ständigen Drohung sozialen Abstiegs plausibel. Zum anderen war diese Stellung nicht unbeschränkt: Das Vermögen seiner Frau verwaltete der Hausvater zwar, es wurde aber nicht sein Eigentum,50 die Möglichkeit, seine Kinder zu enterben, war praktisch nicht vorhanden.51 Zumindest aus solonischer Zeit wissen wir, dass der Hausvater auch zur Ausbildung seines Sohnes verpflichtet war.52 Vor allem aber 46

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Alick R. W. Harrison, The Law of Athens Bd. 1: The Family and Property, Oxford 1968, S. 130– 132; Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft, S. 94–98. Jochen Martin, »Zur Stellung des Vaters in antiken Gesellschaften«, in: Hans Süßmuth (Hrsg.), Historische Anthropologie: Der Mensch in der Geschichte, Göttingen 1984, S. 84–109; Cynthia B. Patterson, The Family in Greek History, Cambridge Mass. 1998, bes. S. 226–229; Renate Zoepffel, »Mann und Frau im archaischen und klassischen Griechenland«, in: Jochen Martin / Thomas Nipperdey (Hrsg.), Aufgaben, Rollen und Räume von Frau und Mann, Bd. 2, Freiburg 1989, S. 443–500. Vgl. Aristot. pol. 1259b. Tötung: Sext. Emp. Phyrr. hyp. 3,211; Verkauf: Alkiphr. epist. 2,38,2. Schmitz, Haus und Familie, S. 30. Zur apokeryxis: Thalheim, Th., s.v. avpokh,ruxij( RE I (1894), 2836f. Plut. Solon 22, Text nach Plutarchus, Vitae Parallelae, Bd. I 1, hrsg. v. Konrat Ziegler, Leipzig 1957: ~Orw/n de. to. me.n a;stu pimpla,menon avnqrw,pwn avei. surreo,ntwn pantaco,qen evp´ avdei,aj eivj th.n VAttikh,n( ta. de. plei/sta th/j cw,raj avgennh/ kai. fau/la( tou.j de. crwme,nouj th/| qala,tth| mhde.n eivwqo,taj eisa,gein toi/j mhde.n e;cousin avntidou/nai( pro.j ta.j te,cnaj e;treye tou.j poli,taj( kai. no,mon e;grayen ui`w/| tre,fein pate,ra mh. didaxa,menon te,cnhn evpa,nagkej mh. ei=nai) Übersetzung nach: Plutarch, Grosse Griechen und Römer Bd. 1, übersetzt von Konrad Ziegler, Zürich und München 1979: »Da er sah, wie die Stadt sich mit Menschen füllte, die stets von allen Seiten in Attika zusammenströmen, weil man da nichts zu fürchten hatte, dass aber das Land größtenteils karg und unfruchtbar war und dass die Seefahrer solchen, die nichts dagegen anzubieten haben, keine Waren zuführen, so hielt er die Bürger zu handwerklicher Tätigkeit an und gab ein Gesetz, wonach ein Sohn, den sein Vater kein Handwerk hatte lernen lassen, nicht verpflichtet war, ihn zu unterhalten.«

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dauerte die Kyrieia nicht lebenslänglich.53 Dabei wurden die Söhne nicht nur mit 18 volljährig und damit der Gewalt des Hausvaters zumindest teilweise entzogen; es kam ein Erbrecht hinzu, das die Übergabe des Hofes und des mit diesem verbundenen Besitzes zu Lebzeiten vorsah.54 Der ungefähr 60 Jahre alte Vater übergab den Besitz an seine Söhne und zog sich aufs Altenteil zurück. Auch dies lässt sich vor dem beschriebenen agrarischen Hintergrund deuten: Die Wirtschaftskraft des Hofes überschritt das zum Leben notwendige Maß nur um so weniges, dass ein Hausvater, dessen Kräfte schwanden, die Fortexistenz des Oikos hätte gefährden können.55 Etwas Weiteres tritt hinzu, nämlich die demographischen Bedingungen – insbesondere Heiratsalter und Generationenfolge.56 Im antiken Griechenland entsprach das Muster beim Heiratsalter weitgehend dem ›Mediterranean marriage pattern‹, also einer Verteilung, die sich durch ein vergleichsweise hohes Heiratsalter des Mannes bei einem niedrigen Heiratsalter der Frau auszeichnet. Für Griechenland ist dies bereits in den Erga kai hemerai des Hesiod, der aus der Perspektive eines griechischen Bauern eine Anleitung zur Lebensführung schrieb, belegt. Dieser rät Männern zur Heirat mit 30 Jahren, während Frauen etwa fünf Jahre nach der Pubertät heiraten sollten.57 Vergleichbare Angaben finden sich in klassischer Zeit bei Platon und Aristoteles, die das Heiratsalter des Mannes ebenfalls auf 30 Jahre festsetzen und für die Frau die Eheschließung kurz nach dem Beginn der Pubertät für angemessen halten.58 Auch dieser hohe Generationenabstand war im Hinblick auf die prekäre Versorgungslage funktional, reduzierte er doch die Zeit, in der der Hof drei Generationen

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Timmer, Altersgrenzen, S. 152.

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Schmitz, Haus und Familie, S. 11.

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Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft, S. 94–98. Vgl. Mark Golden, »A Decade of Demography«, in: Pernille Flensted-Jensen (Hrsg.), Polis and Politics. Studies in Ancient Greek History Presented to M.-H. Hansen, Kopenhagen 2000, S. 23–40; Walter Scheidel, »Gräberstatistik und Bevölkerungsgeschichte: Attika im achten Jahrhundert«, in: Robert Rollinger / Christoph Ulf (Hrsg.), Griechische Archaik, Berlin 2004, S. 177–186. Hes. erg. 695ff., Text nach: Hesiodi Theogonia, Opera et Dies, Scutum, hrsg. von Friedrich Solmsen, Fragmenta selecta, hrsg. von Reinhold Merkelbach und Martin L. West, London ³1990 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis): ~Wrai/oj de. gunai/ka teo.n poti. oi=kon a;gesqai( mh,te trihko,ntwn evte,wn ma,la po,llV avpolei,pwn mh,tV evpiqei.j ma,la polla,\ ga,moj de, t o i w[rioj ou-toj\ h` de. gunh. te,torV h`bw,oi( pe,mptw| de. gamoi/to) Übersetzung nach: Hesiod. Sämtliche Werke. Theogonie / Werke und Tage. Der Schild des Herakles. Deutsch von Thassilo von Scheffer, Wiesbaden 1947: » Führe zur rechten Zeit ein Weib in deine Behausung. / Wenn du vom dreißigsten Jahr nicht mehr um vieles entfernt bist, / Noch es weit überschritten; das ist die Zeit zur Vermählung.« Plat. leg. 4,721b; 6,772de; Aristot. pol. 1334b29ff.

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ernähren musste. Bezeichnenderweise spielen Großeltern in der griechischen Literatur keine signifikante Rolle.59 Verbindet man nun diese beiden Faktoren von häuslicher Ordnung und demographischen Grundbedingungen, dann wird leicht ersichtlich, dass mit Blick auf das Lebensalter – andere Formen von Ungleichheit, die auf unterschiedlichen Zugriffschancen auf gesellschaftlich knappe Güter beruhen, sind davon selbstverständlich unberührt – diejenigen Hausväter die einflussreichste Stellung innerhalb der Gemeinschaft besaßen, die ihrem Haus noch vorstanden, also noch keine sechzig Jahre alt waren, deren Söhne auf der anderen Seite bereits erwachsen, d. h. so alt waren, dass sie voll auf dem Hof mitarbeiten konnten, d. h. grob zwischen 20 – oder knapp darunter – und 30 Jahre alt waren. Bei einer Generationenfolge von ca. 30 Jahren bedeutete dies für die Väter, dass diese im Alter zwischen 50 und 60 Jahren den größten Einfluss innerhalb ihrer (Dorf)Gemeinschaft ausüben konnten. Hier findet sich nun der Ursprung des Erstrederechts bei der Etablierung politischer Ordnung im klassischen Athen und im Übrigen auch der Ausgangspunkt für die oben angesprochene Zäsur von 30 Jahren, mit der die Möglichkeit zur Übernahme politischer Ämter und damit die Vollinklusion in das politische System einherging, als Parallele zu den 30 Jahren, mit denen der Sohn in der Regel dem Vater als Kyrios folgte und dessen Stellung innerhalb der Dorfgemeinschaft übernahm, sowie der 60 Jahre, ab denen ein Bürger nicht mehr gezwungen werden konnte, eine Position in der Boule zu übernehmen, als Parallele zum Rückzug der Väter aufs Altenteil.60 Die Leistung, die bei der Übernahme der Alterszäsuren aus dem häuslichen Umfeld in das politische System erbracht wurde, bestand in der Formalisierung bzw. Rationalisierung der Einschnitte. Mit Blick auf die familiale Ordnung handelte es sich lediglich um Zeiträume, in denen Statusveränderungen verlaufen konnten. Der Hausvater sollte, wenn seine Kraft zur Bewirtschaftung des Hofes nicht mehr reichte – und dieser Zeitpunkt war in der Regel um das 60. Lebensjahr herum erreicht –, sei59 60

Schmitz, Haus und Familie, S. 11. Zur politischen und sozialen Marginalisierung der über 60-Jährigen im klassischen Athen vgl. Martin, »Stellung des Vaters«, und Ernst Baltrusch, »An den Rand gedrängt. Altersbilder im Klassischen Athen«, in: Andreas Gutsfeld / Winfried Schmitz (Hrsg.), Am schlimmen Rand des Lebens? Altersbilder in der Antike, Köln und Weimar 2003, S. 57–86; dagegen Sabine Hübner, »Alte Männer im klassischen Athen (5. Jh. v. Chr.) – An den Rand gedrängt?«, in: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft, 8 (2005), S. 31–57, die den Rückzug der Alten nicht als Marginalisierung, sondern als Privileg betrachtet. Dagegen spricht bereits Aristot. pol. 1275a 6–18, der den Alten wie den Kindern ein vollständiges Bürgerrecht abspricht.

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nen Hof übergeben. Dann waren seine Söhne üblicherweise um die 30 Jahre alt, je nach tatsächlichem Heiratsalter des Vaters und je nachdem, wie lange es gebraucht hatte, ein Kind in die Welt zu setzen, das das Alter, den Hof zu übernehmen, auch erreichte; bei der in antiken Gesellschaften zu vermutenden hohen Kindersterblichkeit konnte dies durchaus länger dauern.61 Auch der frühzeitige Tod des Hausvaters konnte dafür sorgen, dass sein Sohn deutlich vor seinem 30. Lebensjahr in die Stellung des Vaters nachfolgte.62 Es gab aber keine auf das Jahr festgelegten Einschnitte; kein Gesetz gab für die Heirat ein festes Alter von 30 oder für die Hofübergabe von 60 Jahren vor. Diese fehlende Klarheit über den genauen Zeitpunkt der Übergabe und damit der Möglichkeit für den Nachwuchs, zu heiraten und eine vollwertige Stellung im Dorf einzunehmen, schlägt sich im Übrigen in Gesetzen nieder, die verbieten, den Vater durch Schläge zur Hofübergabe zu bewegen.63 Innerhalb des politischen Systems wurden nun aus Zeitphasen Zeitpunkte, die durch Verschriftlichung, das bedeutete die Eintragung in die Bevölkerungsliste des Demos, das Lexiarchikon grammateion,64 mit Vollendung des 18. Lebensjahres, überprüfbar waren und innerhalb eines Dokimasia genannten Verfahrens auch überprüft wurden. Aristoteles schreibt dazu in der Athenaion politeia: Sie werden mit 18 Jahren in die Liste der Gemeindemitglieder eingeschrieben. Wenn sie eingeschrieben werden, prüfen die Gemeindemitglieder sie unter Eid und auf dem Weg der Abstimmung in folgenden Punkten. Zunächst, ob es bestimmt ist, daß sie das gesetzlich vorgeschriebene Alter tatsächlich erreicht haben, falls sie anders entscheiden, kehren die Kandidaten in die Reihe der Knaben zurück […]. Danach prüft der Rat die eingeschriebenen und falls er entscheidet, daß jemand jünger als 18 Jahre ist, erlegt er den Gemeindemitgliedern, die ihn eingeschrieben haben, eine Geldstrafe auf.65 In der Praxis bedeutete dies, dass das Alter bei der Eintragung in die Demenliste nur geschätzt, danach aber das Lebensalter und damit die Erfül61 62

63 64 65

Schmitz, Haus und Familie, S. 7f. Die Sorge vor einem verfrühten Tod des Hausvaters, der dazu führt, dass der Sohn jung, und das bedeutet schlecht ausgebildet, den oi=koj übernehmen muss, lässt sich auch bei Hesiod greifen (Hes. erg. 376f.). Zu den Gesetzen ka,kwsij gone,wn vgl. Baltrusch, »An den Rand gedrängt«, S. 82. Hansen, Demokratie im Zeitalter des Demosthenes, S. 97; Aristot. AP 42,1. Aristot. AP 42, Text nach: Aristotelis Atheniensium respublica, hrsg. von Frederic George Kenyon, Oxford 1920 (ND Oxford 1970) (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis): :Ecei dV h` nu/n kata,stasij th/j politei,aj to,nde to.n tro,pon) mete,cousin me.n th/j politei,aj oi` evx avmfote,rwn gegono,tej avstw/n( evggra,fontai dV eivj tou.j dhmo,taj ovktwkai,deka e;th gegono,tej) o[tan dV egv gra,fwntai( diayhfi,zontai peri. auvtw/n ovmo,santej oi` dhmo,tai( prw/ton me.n eiv dokou/si gegone,nai th.n h`liki,an th.n evk tou/ no,mou( ka'n mh. do,xwsi( avpe,rcontai pa,lin eivj pai/daj( @)))# evpa,nagkej evggra,fein) meta. de. tau/ta d@ok#ima,zei tou.j evggrafe,ntaj h` boulh,( ka;n t i j do,x@h|# new,teroj ovktwkai,dekV evtw/n ei=nai( zhmioi/ t@o#u.j dhmo,taj tou.j evggra,yantaj) Übersetzung nach: Aristoteles, Staat der Athener, übersetzt und erläutert von Mortimer Chambers, Darmstadt 1990.

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lung von Qualifikationen geprüft werden konnte, also biologische und soziale Altersbestimmungen, wie sie für die bäuerlichen Ordnungen des archaischen Griechenlands ausreichend waren, in den sich ausdifferenzierenden Poleis durch chronologische Altersbestimmungen ersetzt wurden. Aus dem Alter von ungefähr 50 Jahren, mit dem der Einfluss des Kyrios innerhalb des Oikos und innerhalb der Dorfgemeinschaft am größten war, wurde das Erstrederecht der über 50-Jährigen. Wenn sich aber nun als Ausgangspunkt für die hervorgehobene Stellung der über 50-Jährigen, die sich in ihrem Erstrederecht in der Volksversammlung niederschlug, häusliche Strukturen verantwortlich machen lassen, so steht zunächst einmal zu vermuten, dass auch das Verschwinden dieser Vorrangstellung wiederum mit Veränderungen innerhalb des Oikos in Verbindung zu bringen ist. Dies ist jedoch – wie sich leicht zeigen lässt – nicht oder zumindest nicht in für eine Erklärung hinreichendem Maß der Fall. Zunächst zum Besitztransfer zwischen Alterskohorten: Quellen, aus denen sich die Form des Erbrechts in klassischer Zeit ableiten lässt, sind rar. Zwar werden Erbstreitigkeiten in den Gerichtsreden des 4. Jahrhunderts v. Chr. sehr häufig behandelt – Streitigkeiten um das Erbe waren schon im klassischen Athen häufig Auslöser für ausgesprochen umfangreiche und z. T. unappetitliche Prozesse –, aber zu Prozessen konnten selbstverständlich vor allem diejenigen Fälle führen, in denen man nicht schlicht dadurch zu einer Lösung gelangte, dass man beim Erblasser nachfragte. So handeln die meisten Prozessreden von Erbfällen post mortem. Dennoch gibt es sowohl in den Reden des Lysias als auch in der attischen Komödie Anhaltspunkte, die die Erbübergabe zumindest für den selbst ererbten Teil des Vermögens nahe legen. Grundsätzlich scheinen die steigenden Möglichkeiten, Ressourcen zu akkumulieren, in Athen dazu geführt zu haben, dass die Unterscheidung zwischen vererbtem und erworbenem Vermögen wichtiger wurde, der Erblasser also nur einen Teil seines Vermögens zu Lebzeiten übergab und einen anderen Teil für sich behielt.66 Eine solche Aufteilung des Vermögens dürfte dabei aber nur für Wohlhabendere in Betracht gekommen sein.67 66

Diese Entwicklung ermöglichte es den Vätern, einen Teil ihres Vermögens für sich zurückzubehalten und nur den selbst ererbten Teil, der aber so groß war, dass er zum Leben reichte, an ihre Söhne weiterzugeben. Vgl. zu der Praxis die Bemerkung des Lysias 19,37, Text nach: Lysiae Orationes, hrsg. von Carl Hude, London 1912 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis): pro.j de. tou,toij evnqumei/sqe o[ti kai. ei; t i j mh. kthsa,menoj avlla. para. tou/ patro.j paralabw.n toi/j paisi. die,nemen( ouvk evla,cista a'n autw upelipe\ boulontai gar pantej upo. tw/n pai,dwn qerapeu,esqai e;contej crh,mata ma/llon h' evkei,nwn dei/sqai avporou/ntej) Übersetzung nach: Lysias, Reden Bd. 2, griechisch und deutsch, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Ingeborg Huber, Darmstadt 2005: »Bedenkt außerdem, dass auch jemand, der Vermögen an seine Kinder verteilt, das er nicht

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Auch ansonsten änderte sich an den Rechten der Hausväter wenig, weder mit Blick auf das Verhältnis zu seiner Ehefrau – und wenn, dann wurde die Stellung des Mannes gegenüber seiner Frau stärker – noch zu seinen Kindern. Ebenso wenig änderten sich die demographischen Bedingungen, wie bereits oben mit Blick auf die normativen Angaben des Platon und Aristoteles zum Heiratsalter deutlich wurde.68 Der Generationenabstand lag weiterhin bei ca. 30 Jahren. Prozesse, die Auswirkungen auf die herausgehobene Stellung der über 50-Jährigen gehabt haben können, lassen sich innerhalb des ganzen Hauses allenfalls im Bereich der Produktion ausmachen: Hier ist davon auszugehen, dass zwar der bedeutendste Wirtschaftszweig die Landwirtschaft blieb, die auch weiter überwiegend als Subsistenzwirtschaft betrieben wurde. Eine deutliche Vergrößerung der Höfe, die etwa durch den verstärkten Einsatz unfreier Arbeitskräfte ausgelöst hätte werden können, lässt sich nicht nachweisen. Daneben weiteten sich zum einen Handel und Handwerksbetriebe aus und zum anderen nahm insgesamt der erwirtschaftete Überschuss zu.69 Als Folge dieser Prozesse steht dort eine Emanzipation der Haussöhne zu vermuten, wo diese nicht im Betrieb des Vaters arbeiteten bzw. einem anderen Beruf als dieser nachgingen. Mit dieser Emanzipation der Söhne könnte in geringem Umfang eine niedrigere Stellung der Kyrioi einhergegangen sein, und zwar in dem Sinn, dass ihre Machtstellung auf der Mitarbeit ihrer Kinder auf dem Hof beruht hatte.70 Der skizzierte Zusammenhang ist allerdings nicht eindeutig: Mit der Ausweitung von Handel und Handwerk ging nämlich ebenso die Entstehung des Konzepts von Privatbesitz eines Betriebes einher – im Gegensatz zur Landwirtschaft, wo die Vorstellung des Hofes als Familienbesitz und damit verbunden des Hausvaters als Verwalter die Institution der Hofübergabe bei schwindenden Kräften nach sich zog. Dieses Konzept von Privatbesitz machte den Besitztransfer vom Vater zu seinen Söhnen nicht leichter. Es kommt hinzu, dass das Handwerk mit seinen im Vergleich zur Landwirtschaft komplexeren Arbeitsabläufen in der Regel dadurch gekennzeichnet ist, dass der Erfahrungsgewinn, der im Erwerbsle-

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erworben, sondern vom Vater ererbt hat, immer einen ordentlichen Teil für sich zurückbehält, denn alle wollen lieber als Vermögende von ihren Kindern gepflegt werden, als mittellos auf sie angewiesen sein.« Zur Unterscheidung verschiedener Vermögensarten und ihrer Bedeutung vgl. Harrison, Law of Athens I, S. 233. Baltrusch, »An den Rand gedrängt«, S. 68. Plat. leg. 4,721b; 6,772de; Aristot. pol. 1334b29ff. John Kenyon Davies, »Society and Economy«, in: Cambridge Ancient History² V (1992), S. 287–305; Zur Entwicklung der attischen Wirtschaft im 5. Jahrhundert v. Chr. vgl. auch Armin Eich, Die politische Ökonomie des antiken Griechenland (6.–3. Jahrhundert v. Chr.), Köln 2006. Schmitz, Haus und Familie, S. 23.

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ben eintritt, sich in Statuszuwachs umsetzen lässt. Ausnahmen von dieser Regel gibt es lediglich dort, wo das Handwerk mit erheblichem körperlichem Kraftaufwand verbunden ist.71 Sind somit die Entwicklungen innerhalb der häuslichen Strukturen insgesamt ambivalent und lassen nicht den Schluss zu, dass die Aufhebung des Erstrederechts der über 50-Jährigen und das Verschwinden dieser Zäsur aus dem politischen Lebenslauf hinreichend aus denselben Strukturen in der Umwelt des politischen Systems zurückzuführen sind wie deren Entstehung, so müssen andere Prozesse in System und Umwelt gesucht werden, die sich mit den Veränderungen in Beziehung setzen lassen. Zwei Bereiche sollen, ohne damit den Anspruch auf Vollständigkeit der Erklärung zu verbinden, im Folgenden im Mittelpunkt stehen: zum einen die Sozialisation von Akteuren im 5. Jahrhundert v. Chr. und das »Könnens-Bewußtsein« – wie Christian Meier es genannt hat72 – des attischen Bürgers, zum anderen die Folgen, die mit der Ausdifferenzierung politischer Strukturen selbst verbunden waren. Die Lebenswelt der attischen Bürger des 5. Jahrhunderts v. Chr. war wesentlich durch die Erfahrung des durch eigene Leistung Erreichten gekennzeichnet. Diese beruhte auf Veränderung wirtschaftlicher Potenz, vor allem durch die Einkünfte, die durch die Etablierung attischer Herrschaft im Seebund in die Stadt flossen, auf der Erfahrung der Veränderbarkeit politischer Ordnung insbesondere durch die Etablierung der radikalen Demokratie und auf militärischem Erfolg, nicht zuletzt in den Kämpfen gegen die Perser. Diese Erfahrung äußerte sich in verschiedenen Bereichen: In der politischen Philosophie begann man Idealstaaten zu planen,73 in der Ethik glaubte man an die Lehrbarkeit der Tugend,74 in der Kunst setzte man auf

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Leopold Rosenmayr, Der alte Mensch in der Gesellschaft, Reinbek 1978, S. 126. Vgl. Christian Meier, s.v. »›Fortschritt‹ in der Antike«, in: Geschichtliche Grundbegriffe II (1975), S. 353–363; ders., »Ein antikes Äquivalent des Fortschrittgedankens: Das KönnensBewußtsein des 5. Jahrhunderts v. Chr.«, in: Historische Zeitschrift, 226 (1978), S. 265–316; ders., Entstehung des Politischen, S. 435–499; zum Fortschrittsgedanken im 5. Jahrhundert v. Chr. vgl. darüber hinaus: Ludwig Edelstein, The Idea of Progress in Classical Antiquity, Baltimore 1967, S. 21–56; Eric Robertson Dodds, »The Ancient Concept of Progress«, in: E. R. D. (Hrsg.), The Ancient Concept of Progress and other Essays in Greek Literature and Belief, Oxford 1973, S. 1–25. Verwiesen sei für die fragliche Zeit etwa auf Hippodamos von Milet, von dem Aristoteles berichtet, dass jener gefordert habe, Personen, die etwas Neues für die Gemeinschaft Vorteilhaftes entdeckten, dafür zu belohnen (Aristot. pol. 1268a6–8), oder Phaleas von Kalchedon (Aristot. pol. 1266a39); vgl. grundsätzlich zu den in seiner Zeit vorliegenden Staatstheorien das 2. Buch der aristotelischen Politik. Plat. Prot. 316c; 318e; 319a; Aristoph. nub. 479f.

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das Neue um des Neuen willen75 und verglich die eigene Situation mit der Regierung des jungen Zeus nach dem Sturz des Kronos.76 In der Medizin setzte man sich über altbekannte Erkenntnisse hinweg.77 Von Hippias heißt es, er habe stets etwas ›Neues‹ sagen wollen.78 Auch für Handwerk und Wissenschaft gilt, dass diese – so die Selbstbeschreibung der Gesellschaft – zu einem noch niemals zuvor erreichten Stand gelangten.79 Schließlich galt auch für das politische System, dass – und hierin unterscheidet sich das Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. ganz wesentlich vom vorangehenden wie auch vom nachfolgenden des 4. Jahrhunderts v. Chr. mit seiner ständigen Betonung der patrios politeia – das Neue als eigenständiger Wert verstanden werden konnte, wie es etwa bei Thukydides zum Ausdruck kommt, wenn er im 1. Buch des Peloponnesischen Krieges die Korinther festhalten lässt: »Sie [sc. die Athener] sind die ewigen Neuerer, rasch im Planen und in der Ausführung dessen, was sie beschlossen haben. [...] Notwendigerweise aber, wie bei jeder Fertigkeit, behält immer das Neue die Oberhand.«80 Bot die Erfahrung des Erreichten und der eigenen Möglichkeiten die Grundlage für ausgeprägten Stolz auf die eigene Leistung sowie die eigene Lebenszeit, so konnte sie eben nicht Grundlage für die Anerkennung der Leistung vorangegangener Generationen werden und damit ebenso wenig zur Grundlage für die Hochachtung älterer Menschen, die sich in einem Erstrederecht innerhalb der Volksversammlung hätte manifestieren können. Der Fortfall der entsprechenden Regelung wird bereits vor diesem Hintergrund erklärbar. Diese Entwicklung wurde durch einen weiteren, eng mit diesem »Könnens-Bewußtsein« verbundenen Prozess verstärkt, auf den hier nur in Umrissen eingegangen werden kann: Das 5. Jahrhundert v. Chr. zeichnet

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Für die Dichtung zeigt sich dieses Bemühen etwa bei Aristophanes (Aristoph. nub. 547; vesp. 1536; ran. 971ff.); vgl. zur Plastik: Plat. Hippias maior 281d.282a; Athen. 12,543e; vgl. auch Tonio Hölscher, »Die Nike der Messenier und Naupaktier in Olympia. Kunst und Geschichte im späten 5. Jahrhundert v. Chr.«, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts, 89 (1974), S. 70–111, hier bes. S. 90–98. Plat. Hippias maior 281d.e; Timotheus frg. 21 ap. Athenaios 3,122c.d; vgl. Timotheus Pers. 219–225. Die medizinische Debatte lässt sich besonders deutlich in der pseudo-hippokratischen Schrift de vetere medicina greifen, in welcher der Verfasser fordert, auf den alten Theorien aufzubauen, anstatt neue leere Hypothesen aufzustellen vgl. bes. Hipp. VM 2,12,14. Xen. mem. 4,4,6. Plat. Gorgias 448c; ders. Hippias maior 281b; Anaxagoras frg. 17 (Diels / Kranz). Thuk. 1,70,2.71,3 oi` me,n ge newteropoioi. kai. evpinoh/sai ovxei/j kai. evpitele,sai e;rgw| a] a'n gnw/sin\@)))# avna,gkh de. w[sper te,cnhj aivei. ta. evpigigno,mena kratei/n)

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sich durch Veränderungen bei der Erziehung der Jugend aus.81 Es entstanden außerfamiliale Lernorte durch die Ausbreitung von Schulen, also Orte, in denen der Respekt vor dem Wissen nicht wie bei der Sozialisation innerhalb der Familie automatisch mit fortgeschrittenem Lebensalter einherging, sondern mit einer bestimmten Rolle, nämlich der des professionellen Lehrers, verknüpft war. Zudem verlor der Kyrios durch die Verlagerung von Teilen der Erziehung aus dem Haus heraus zumindest partiell Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten gegenüber seinen Söhnen, was seinem Ansehen sicherlich nicht zuträglich gewesen sein wird.82 Es veränderten sich aber auch die Inhalte: Dem Wissen der Alten wurde zunehmend weniger Wert beigemessen. Zu verweisen ist an dieser Stelle etwa auf die Ausbreitung der Sophistik, die neben dem Rhetorikunterricht auch Kenntnisse in Mathematik oder ›Sprachwissenschaften‹ vermittelte. Ein letzter Punkt, der in diesen Bereich gehört, war die Zunahme der Schriftlichkeit: Diese gestattet stets die Weitergabe von Information ohne menschlichen Vermittler, also die Ersetzung einer in archaischer Zeit von Personen in fortgeschrittenem Alter ausgeübten Funktion, was wiederum mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Ansehensverlust dieser Personengruppe einherging.83 Beruhen nun das Ansehen und der Einfluss von Personen fortgeschrittenen Alters in antiken Gesellschaften – und nicht nur dort – nicht zuletzt auf ihrer Funktion als ›Wissensspeicher‹ von relevant erachtetem Wissen, so folgt aus dem mehrfachen Funktionsverlust ein niedrigeres Ansehen innerhalb der Gesellschaft. Dieser Ansehensverlust korreliert wiederum mit ihrem Machtverlust im politischen System und kann zusätzlich zu der grundsätzlichen hohen Bedeutung des Neuen zur Erklärung des Verlustes des Erstrederechts herangezogen werden. Schließlich ist auf die Abschließung und Ausdifferenzierung des politischen Systems selbst einzugehen: Wenn auch davon auszugehen ist, dass in vormodernen, nicht primär funktional differenzierten Gesellschaften Strukturen zwischen Systemen ausgetauscht werden können und Verfahren oder Status im politischen System nicht der Eigenrationalität des Sys81

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Zum Folgenden vgl. Frederick A. G. Beck, Greek Education 450-350 B.C., London 1964; Mark Griffith, »›Public‹ and ›Private‹ in Early Greek Institutions of Education«, in: Yun Lee Too (Hrsg.), Education in Greek and Roman Antiquity, Leiden 2001, S. 23–84. Vgl. hierzu die Darstellung häuslicher Konflikte in den Komödien des Aristophanes. Insbesondere in den Wolken (bes. 1321–1510) zeigt sich in satirischer Form die Bedeutung, die neuen Bildungsinhalten und neuen Formen der Bildungsvermittlung für das Verhältnis verschiedener Altersgruppen zugemessen wurde. Rudolf Pfeiffer, History of Classical Scholarship. From the Beginnings to the End of the Hellenistic

Age, Oxford 1968.

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tems folgen mussten, so kann doch unter bestimmten Bedingungen die Eigenlogik des Politischen über Partizipationschancen (mit)entscheiden.84 Das politische System der attischen Demokratie ist viele Male beschrieben worden:85 Grundsätzlich handelt es sich um ein Mehrheitssystem, bei dem – zumindest während des 5. Jahrhunderts v. Chr. – innerhalb der Ekklesia über die politischen Fragen entschieden wurde.86 Wahlberechtigt waren dabei alle männlichen Vollbürger über 18 Jahre. Aus Verfahrensregeln, die für einige Entscheidungen ein Quorum von 6000 Stimmen forderten, sowie aus der Größe des Versammlungsplatzes lässt sich bei aller Vorsicht eine vergleichsweise hohe Beteiligung der Berechtigten ableiten.87 Nach einer Aussprache gaben die Teilnehmer ihre Stimme ab, die einfache Mehrheit entschied.88 Ein solches Verfahren bietet im Vergleich zu anderen Formen, Entscheidungen herzustellen, einige Vorteile: Genannt seien die geringen Anforderungen an die Qualifikation der Bürger,89 die Möglichkeit – im Gegensatz zu Verhandlungssystemen, in denen die Partizipierenden in der Regel ihren Einfluss und ihre Zugriffschancen auf gesellschaftlich knappe

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Timmer, Altersgrenzen, S. 273f. Vgl. zum Institutionengefüge etwa: Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, Paderborn 4 1995; Hansen, Demokratie im Zeitalter des Demosthenes; zur Funktionsweise der attischen Demokratie vgl. darüber hinaus: Paul Cartledge, Eine Trilogie über die Demokratie, Stuttgart 2008; Josiah Ober, Mass and Elite in Democratic Athens. Rhetoric, Ideology, and the Power of the People, Princeton 1989; ders., Political Dissent in Democratic Athens. Intellectual Critics of Popular Rule, Princeton 1998; ders., Democracy and Knowledge. Innovation and Learning in Classical Athens, Princeton 2008. Hansen, Demokratie im Zeitalter des Demosthenes, S. 152f.; aus der Fülle der Literatur zum System der Entscheidungsfindung selbst vgl. etwa Dennis C. Mueller, Public Choice II, Cambridge 1989; Giovanni Sartori, Demokratietheorie, Darmstadt 1997; Fritz Scharpf, Interaktionsformen. Akteurszentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, Opladen 2000. Mogens-Herman Hansen, »How Many Athenians Attended the Ecclesia«, in: Greek Roman and Byzantine Studies, 17 (1976), S. 115–134 (wiederabgedruckt in: M.-H. H. (Hrsg.), The Athenian Ecclesia. A Collection of Articles 1976–1983, Kopenhagen 1983, S. 1–23). Die Zahl der Anwesenden dürfte nach der Einführung der Besoldung der Teilnehmer im 4. Jahrhundert weiter angestiegen sein, vgl. Aristoph. Eccl. 378f. Aristot. AP 43,3–6; die Debatte scheint dabei nicht verpflichtend gewesen zu sein. Themen, zu denen es keine kontroversen Meinungen gab, konnten auch ohne Aussprache direkt zur Abstimmung gelangen; zur Forschungsdebatte um die procheirotinia vgl. MogensHerman Hansen, »The Procheirotia in the Athenian Ecclesia«, in: M.-H. H. (Hrsg.), The Athenian Ecclesia. A Collection of Articles 1976–1983, Kopenhagen 1983, S. 123–130; sowie die Kommentare von Rhodes (Peter John Rhodes, A Commentary on the Aristotelian Athenaion Politeia, Oxford 21985) und Chambers (Mortimer Chambers, Aristoteles, Staat der Athener, Darmstadt 1990) zu Aristot. AP 43,6. Timmer, Altersgrenzen, S. 277; vgl. zum Verhältnis von politischem System Athens und seinen Voraussetzungen auch Ober, Democracy and Knowledge.

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Güter nutzen können, um Ungleichheit zu reproduzieren oder auf Dauer gesehen sogar zu verstärken –, hier Güter umzuverteilen.90 Das Verfahren beruhte dabei auf der Vorstellung der Gleichheit der Stimmen aller Bürger, ihrer Isonomia, die ihren Ausdruck in den kleisthenischen Reformen gefunden hatte. Für eine Bevorzugung einer bestimmten Gruppe, die besonderen Einfluss in der Volksversammlung hätte geltend machen können, ganz gleich, ob ihre Ausnahmestellung auf Vermögen, vornehmer Geburt oder eben Alter beruhte, fehlte hingegen jede ideologische Voraussetzung.91 Ganz im Gegenteil schufen die Gleichheit der Bürger und die instrumentelle Partizipation die Grundlagen für die Legitimität der hergestellten Entscheidung.92 Es fehlten aber nicht allein die ideologischen Voraussetzungen, sondern auch eine aus dem Verfahren der Entscheidungsfindung herrührende Notwendigkeit für eine Bevorzugung der über 50-Jährigen: Mehrheitsverfahren zeichnen sich durch geringe Transaktionskosten, also Aufwand, der für die Herstellung von Entscheidungen benötigt wird, aus.93 Ob die Stimmen von 100 oder 1000 Personen ausgezählt werden müssen, ist ein logistisches, aber kein grundsätzliches Problem. Bei anderen Entscheidungsregeln sichert die Bevorzugung einer Personengruppe, die sich durch fortgeschrittenes Alter auszeichnet und mit welcher dementsprechend eine lange und – jedenfalls normativ – gelungene politische Sozialisation verbunden wird, die Möglichkeit, überhaupt zu Entscheidungen zu gelangen. Dort, wo man verhandelt, bis alle – oder zumindest die Allermeisten – einer Meinung sind und hinter der getroffenen Entscheidung stehen, braucht es Akteure, die durch lange und intensive Sozialisation in der Lage sind, Konsens auch unter schwierigen Bedingungen zu erzielen.94 In Mehrheitsverfahren reicht es, wenn man für seine Präferenz die Stimme abgibt. So führte auch die Eigenrationalität des politischen Systems – also Legitimation durch möglichst breite instrumentelle Partizipation bei geringen Transaktionskosten – in Athen zum Verschwinden des Erstrederechts der über 50-Jährigen und damit zum Verschwinden einer Zäsur im Lebenslauf der Athener Bürger. 90 91

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Mueller, Public Choice II, S. 103–107; Scharpf, Interaktionsformen, S. 269. Daraus folgt selbstverständlich nicht, dass es Gleichheit bei den Chancen, eigene Interessen durchzusetzen, gegeben hätte. Die Zugriffschancen auf Ressourcen wie Prestige, ökonomische Güter oder Bildung waren ungleich verteilt, und aus dieser Ungleichheit folgte Ungleichheit der Machtverhältnisse auch im politischen System. Es bedeutet aber, dass diese Formen der Ungleichheit nicht aus dem politischen System direkt ableitbar oder gar begründbar waren. Hdt. 3,80. Scharpf, Interaktionsformen, S. 251. Ebd., S. 197–199.

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Erst als unter den Bedingungen des späten 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., also nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg, unter dem Eindruck tiefer Interessengegensätze von unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung, unter wirtschaftlichem Druck und nach zwei Verfassungsumstürzen innerhalb von nicht einmal zehn Jahren, die Frage nach der Legitimität von Entscheidungen sich nicht mehr allein mit der Zahl der Partizipierenden hinreichend beantworten ließ, sondern Legitimität dadurch hergestellt werden sollte, dass die Entscheidungen allen nutzten, was durch Gemeinwohlorientierung der Akteure ermöglicht werden sollte, stieg die Bedeutung von Alter als Kriterium von Ungleichheit innerhalb des politischen Systems wieder an.95 Alter wurde nun auch in der attischen Demokratie zum Synonym für erfolgreiche Sozialisation, hier nun in Form der Erzeugung solidarischer Interaktionsorientierung. Zu einer Erneuerung des Erstrederechts der über 50-Jährigen, nun nicht mehr als Import von Strukturen familialer Ordnung, sondern unter politischen Vorzeichen, kam es aber – sehr zum Missfallen des Aischines – nicht mehr.

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Jan Timmer, »Die Mehrheitsregel und die Legitimität von Entscheidungen in der attischen Demokratie des späten 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr.«, in: Michael Rathmann (Hrsg.), Studien zur antiken Geschichtsschreibung, Bonn 2009, S. 25–53.

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ANJA WOLKENHAUER

Dehnung der Akmé, Eukrasie und Zeitlosigkeit: Entwürfe des guten Alterns im griechisch-römischen Zeitaltermythos Questioning utopias – understood here as literary articulations of what a society desires at any given time – in terms of their depictions of old age means acknowledging them as independent vehicles in a discussion of the relationship between worldtime and lifetime. This relationship can be exemplarily illustrated by different versions of the myth of the »ages of man«, outlining epochs of different temporality. In the two most momentous versions of the myth, the versions of Hesiod and Ovid, two highly disparate »golden ages« are depicted, each presenting its own concept of an ideal old

Die Geschichte des Alterns kann man aus vielen Perspektiven untersuchen, eine eher ungewöhnliche ist diejenige der Utopie. Doch utopische Texte ermöglichen in ihrem Lob dessen, was denkbar ist und zugleich unerreichbar scheint, einen ganz spezifischen Blick auf die neuralgischen Punkte der jeweiligen Gegenwart. Wenn – was gelegentlich vorkommt – auch die Zeitstrukturen Gegenstand utopischer Hoffnung werden, finden sich in den Texten Überlegungen darüber, wie eine menschenfreundliche Ordnung der Zeit aussähe oder wie die einzelnen Lebensalter zeitlich strukturiert sein sollten.1 Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen utopische Texte, die Aspekte der Zeitordnung aufgreifen. Der Begriff der Utopie wird dabei anachronistisch verwendet – denn die Utopie betritt als literarische Gattung bekanntlich erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Bühne. Die Verwendung des Begriffs für antike literarische Phänomene setzt voraus, 1

Zur literarischen Darstellung des Alters in der Antike s. Felix Preisshofen, Untersuchungen zur Darstellung des Greisenalters in der frühgriechischen Dichtung, Wiesbaden 1977; Franz Boll, »Die Lebensalter«, in: F. B., Kleine Schriften zur Sternkunde des Altertums, Leipzig 1950, S. 156– 225; Hartwin Brandt, Am Ende des Lebens: Alter, Tod und Suizid in der Antike, München 2010; Alter in der Antike: die Blüte des Alters aber ist die Weisheit. Katalog zur Ausstellung im LVRLandesMuseum Bonn 25. 2. 2009–7. 6. 2009, hrsg. vom Landschaftsverband Rheinland, Darmstadt 2009; Paul Zanker, Die Trunkene Alte: das Lachen der Verhöhnten, Frankfurt a. M. 1989.

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dass es in den antiken Literaturen zwar keine Utopien gibt, dystopische und eutopische literarische Motive aber selbstverständlich zu beiden Literaturen gehören: im Zeitaltermythos, der Paradies- oder Unterweltsschilderung, der phantastischen Reiseerzählung etc.2 Alle diese Eutopien basieren auf einem unspezifischen Substrat paradiesischer Vorstellungen - dazu gehören etwa ein lebensfreundliches Klima, ausreichend Nahrung, weder tierische noch menschliche Feinde, wenig oder keine Arbeit, Freiheit von Angst und Schmerz.3 Ihre zeitliche Struktur ist nicht immer klar konturiert; doch dort, wo sie kenntlich wird, weist sie in unterschiedlicher Gewichtung natürliche, kulturelle und individuelle (einem Subjekt zugeordnete) Züge auf. Um den eutopischen Charakter der Zeitdarstellung in einzelnen Texten herausarbeiten zu können, ist es nötig, den sehr komplexen römischen Diskurs über die Zeitordnung zumindest kurz einzuführen. Ich möchte dazu drei Thesen formulieren:4 1. D i e z e i t l i c h e S t r u k t u r d e r W e l t w i r d in a n t i k e n T e x t e n in m i n d e s t e n s d r e i u n t e r s c h i e d l i c h e n F o r m e n t h e m a t i s i e r t : als kosmologische Konstante, als gesellschaftliches Konstrukt und als Erfahrung des individuellen Lebens, das in die ersten beiden ›Zeitordnungen‹ eingebettet erscheint. 2. D i e s e d r e i › Z e i t e n ‹ s i n d in d e r L i t e r a t u r g a n z u n t e r s c h i e d l i c h p r ä s e n t : Der erste Bereich, die kosmologische Zeit, ist 2

3

4

Ich benutze den Begriff ›Utopie‹, wenn ich von der literarischen Gattung bzw. einem literarischen Motiv, das dieser Gattung typischerweise angehört, spreche; ›Eutopie‹ und ›Dystopie‹ charakterisieren die jeweilige — positive oder negative — Ausrichtung des Textes. Bei der Bestimmung des Utopiecharakters literarischer Darstellungen orientiere ich mich an den breiten Utopiedefinitionen der letzten Jahre: Michael Koch, »Zur Utopie in der Alten Welt«, in: H o r s t Sund / Manfred Timmermann (Hrsg.), Auf den Weg gebracht Idee und Wirklichkeit der Gründung der Universität Konstanz, Konstanz 1979, S. 399–417, definiert Utopien als »gesellschaftlich gerichtetes Wünschen, welches die gegenwärtige Befindlichkeit denkend durchbricht und in subjektiver Weise absolute Besserung gedanklich verwirklicht und bisweilen in Realität umsetzen will«, S. 402. Marianne Zumschlinge, »Utopie«, in: H a t t o H. Schmitt / Ernst Vogt (Hrsg.), Lexikon des Hellenismus, Wiesbaden 2005, S. 1094–1096, bietet eine Definition, die für Staatsromane durchaus hilfreich, für Utopien aber viel zu eng gefasst ist. Die von ihr entwickelten Kriterien orientieren sich stark an Platon; allgemein nutzbar sind »Wunschraum am Weltrand«, »ideale Naturverhältnisse» und «Beschränkung in Einwohnerzahl und Größe«. Die spezifischen Zeitordnungen utopischer Entwürfe werden, soweit ich sehe, in der altertumswissenschaftlichen Forschung bislang nicht erfasst. Ein weiteres konstituierendes Merkmal aller irdischen Paradiese ist ihre Distanz; sie sind räumlich oder zeitlich so weit entfernt, wie es nötig ist, u m den Freiraum der Fiktion abzusichern. Für eine ausführliche Darstellung verweise ich auf: Anja Wolkenhauer, Sonne und Mond, Kalender und Uhr. Studien zur Darstellung und poetischen Reflexion der Zeitordnung in der römischen Literatur, Berlin 2011 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 103).

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Gegenstand philosophischer und astronomischer Überlegungen, die sich z. B. in der platonischen Tradition im Bild des Planetensystems als ›himmlischer Uhr‹5 oder in der aristotelischen Definition der Zeit als Maß der Veränderung6 konkretisieren. Als Vorstellung eines linear gerichteten, gleichmäßig verlaufenden Zeitflusses hat sie auch jenseits der fachwissenschaftlichen Diskussionen Anteil am kulturellen Wissen der Antike. Der zweite Bereich, das gesellschaftliche Konstrukt, manifestiert sich als kulturelle Zeitordnung in gesellschaftlichen Praktiken. Hier werden Epochen definiert, ein Kalender entwickelt, Feiertage festgelegt, Lebensphasen fixiert usw. Nur ein Bruchteil dieser Praktiken ist verschriftlicht und überliefert, wobei der Editionszustand dieser nichtfiktionalen Gebrauchstexte – wie etwa der römischen Kalender – oft unbefriedigend ist. Zeiterfahrungen des Individuums finden ihren Niederschlag besonders in den Texten, in denen uns ein literarisches ›Ich‹ gegenübertritt. Sie können als Folgen der Reibung, der Widerständigkeit gegen diese beiden vorgenannten Zeitordnungen gelesen werden: Ein individuelles Leben erscheint in den Ablauf der Jahre und Monate, Feste und Altersstufen eingebettet, ist aber von einem ständigen ›noch nicht‹ oder ›nicht mehr‹ im Verhältnis zu den anderen Zeitordnungen geprägt. Diese Texte – von der horazischen Lyrik über Ovids Tristia bis hin zu den Confessiones Augustins – unterliegen in unterschiedlicher Intensität den Herausforderungen, die fiktionale Literatur an den Interpreten stellt. 7 3 . Vor allem die gesells ch aftli ch definiert e Z e i t o r dnung ist in Rom d i s k u t i e r t und i n n e r h a l b des Römischen Reiches in hist oris ch er Zeit mehrfa ch ve ränd ert w o r d e n . Dies geschah mit dem erklärten Ziel, eine größere Übereinstimmung von natürlicher und gesellschaftlicher Zeitordnung zu erreichen (z. B. in den Kalenderreformen). Überlegungen darüber, wie alle drei Zeiten miteinander zu harmonisieren wären, d. h. wie der ›natürliche‹ Zeitverlauf, die gesellschaftlich definierten Zeit- und Altersabschnitte und die eigene Zeiterfahrung miteinander in Einklang zu bringen sein könnten und wer die Führung in diesem Dreiklang übernähme, werden in der antiken Literatur dort sichtbar, wo alternative Welt- und Zeitentwürfe skizziert werden: Diesen Texten, die die Diskrepanz bzw. die mögliche Harmonie 5 6 7

Ausgehend von Pl. Ti. 41e5 und 42d5, vgl. 38c. Arist. phys. 4, 11, 219b2. Individuelle Zeitwahrnehmungen sind selten Gegenstand der antiken Literaturen; dort, wo sie formuliert werden, zeigen sie den Sprecher im Kontrast zu natürlichen oder kulturellen Zeitordnungen: Im fortuna-Motiv etwa formuliert er ein ›zu früh‹ oder ›zu spät‹ im Verhältnis zum äußeren Maß; die Gegenwartsorientierung des carpe diem hingegen richtet sich idealiter darauf, Lebenszeit und Weltzeit zu harmonisieren.

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der verschiedenen Zeitordnungen thematisieren, möchte ich mich jetzt zuwenden.

Eutopische Zeitstrukturen Eutopische (d. h. als gut, aber nicht real angenommene) Zeitordnungen können ganz unterschiedlich aussehen, je nachdem, welcher der drei Bereiche vorrangig betrachtet wird: Die natürliche Zeitordnung wird in der Eutopie durch eine gänzlich zuverlässig und regelhaft operierende Natur vorgestellt. Charakteristisch sind z. B. das vollständige Fehlen der Jahreszeiten oder aber ihre ganz ausgewogene Dauer sowie die stets gleich bleibende Länge von Tag und Nacht. Gesellschaftlich definierte Zeitordnungen basieren auf dem Bemühen, die natürliche Zeitordnung gedanklich nachzuvollziehen, um sie planbar zu machen und in die Organisation gesellschaftlicher Prozesse einbinden zu können. Sie sind daher auf Instrumente, Gesetze und Übereinkünfte angewiesen; dies prägt auch die eutopischen Entwürfe, die diesen Aspekt in den Vordergrund rücken. So betont etwa Platon in seinen staatsutopischen Überlegungen die Notwendigkeit gleichförmiger Monate und Jahre, festgelegter Arbeits- und Ruhezeiten und schriftlich fixierter gesellschaftlicher Zeitschwellen (wie etwa des Heiratsalters). Das Ziel dieser Maßnahme ist es, das Leben im utopischen Staat kalkulierbarer und dadurch offenbar besser zu machen; eine Einschätzung, in der ihm Thomas Morus mehr als zwei Jahrtausende später in vielen Details nachgefolgt ist. Zur subjektiven Zeiterfahrung gehört die Wahrnehmung unterschiedlicher Tempi. Eutopische Hoffnungen zielen hier entweder auf das Gleichmaß der Entwicklung oder aber auf die Dehnung bzw. Verlangsamung aller Zeitabläufe bis hin zu einem Punkt, an dem durch das Verschwinden aller Zeitmarker das Ablaufen der Zeit für den Menschen unsichtbar wird. Wie alle drei Bereiche ineinanderfließen können, zeigt das berühmte Beispiel der »sardischen Schläfer«: Im Zusammenhang mit seiner Zeittheorie führt Aristoteles im vierten Buch der Physik eine von ihm selbst als alt und sagenhaft charakterisierte Geschichte ein. Sie handelt von den sardischen Schläfern, die sich für einen langen Tempelschlaf in eine dunkle Höhle zurückgezogen hätten. Dunkelheit und Schlaf setzen dort sämtliche vertrauten Zeitmarker außer Kraft. Nach dem Erwachen hätte keiner von ihnen zu sagen vermocht, ob in der Zwischenzeit Stunden, Tage oder Jahre vergangen waren, da es nichts gab, woran sie die verstrichene Zeit hätten erkennen können.

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Diese Erzählung verdeutlicht die Abhängigkeit der individuellen Zeiterfahrung von den natürlichen und kulturellen Gegebenheiten.8 Aristoteles dient sie zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen der absoluten, kosmologischen Zeit und dem Beobachter, zugleich aber überliefert sie einen utopischen Entwurf eines zeitfreien Raumes: Würde man sich wie die Schläfer in die Höhle begeben, versänke man in einem zeitlich unbestimmten Raum und könnte das Verstreichen der Zeit nicht mehr erkennen. Wo Zeit aber nicht mehr wahrnehmbar ist, ist auch ihre Macht gebrochen.

Die D e h n u n g der Lebensmitte (Hesiod) Die Vorstellung eutopischer Zeitstrukturen findet sich in Texten unterschiedlichster Herkunft. Manche sind der geographischen und ethnographischen Literatur zuzurechnen, andere der Staatstheorie, wieder andere werden im Zusammenhang mit Kulturentstehungslehren entwickelt. Das vertrauteste Motiv der antiken Literatur, in dem die natürliche Zeitordnung thematisiert und zum Gegenstand einer hypothetischen Verbesserung wird, ist das der aurea aetas.9 Die goldene Zeit bildet den idealen Kontrast zu allen anderen vorstellbaren oder erlebten Epochen. Eine Erzählung, die mit ihr anhebt, folgt den Spuren einer Deszendenz, auf deren Weg die Werte und Güter der goldenen Zeit - aus welchen Gründen auch immer — verloren gegangen sind. Die älteste und für die griechisch-römische Antike maßgebliche Darstellung des Zeitaltermythos lesen wir in den um 700 v. Chr. entstandenen 8

Arist. phys. 4, 11 (=218b). Z u m Inhalt siehe William David Ross, Aristotle’s Physics. A revised text with introduction and commentary, Oxford 1936, S. 597; die Quellen sind aufgearbeitet bei Erwin Rohde, »Die Sardinische Sage v o n den Neunschläfern«, in: Rheinisches Museum, 35 (1880), S. 157–163, der die Ähnlichkeit mit der Erzählung v o m Schlaf des Epimenides in der kretischen Zeushöhle betont und auch auf die Motive v o m Schlaf des Endymion oder d e m Schlaf des Königs im Berge (Barbarossa etc.) hinweist, die verwandte Züge tragen.

9

Grundlegende Literatur: Petra H a ß , Der locus amoenus in der antiken Literatur: Zur Theorie und Geschichte eines literarischen Motivs, Bamberg 1998 (mit dem Versuch einer Abgrenzung v o m Goldenen Zeitalter und den Inseln der Seligen); Klaus Kubusch, Aurea saecula. Mythos und Geschichte. Untersuchung eines Motivs in der antiken Literatur bis Ovid, Frankfurt a. M. 1986; H a n s Schwabl, »Weltalter«, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Suppl 15 (1978), S. 783-850, bes. 821ff (zum goldenen Zeitalter); Marianne Wifstrand Schiebe, Das ideale Dasein bei Tibull und die Goldzeitkonzeption Vergils, Uppsala, 1981; Bodo Gatz, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967; Albrecht Dihle, »Fortschritt und goldene Urzeit«, in: Jan Assmann / T o n i o Hölscher, Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S.150–169. Z u m Verhältnis v o n Zeitaltermythos und Kulturentstehungslehre bei Hesiod siehe T h o m a s G. Rosenmeyer, »Hesiod und die Geschichtsschreibung«, in: Ernst Heitsch (Hrsg.), Hesiod, Darmstadt 1966, S. 602-648, hier S. 640.

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Erga Hesiods. Die zeitliche Struktur der goldenen Zeit ist hier durch das vollständige Fehlen kultureller Ordnungssysteme, Entschleunigung und individuelle Dauer gekennzeichnet. Im Aoyoe: vom gemeinsamen Ursprung der Götter und Menschen heißt es über das Leben in der goldenen Zeit:10 wste 0eoi d' eCwon, akTidea Qu\io.n exonte;, nos())in atep te TTonou kai oiCuo;- oude t i deiXon yr\paQ enf\/n, aiei de TToda; kai xeipa; oIXoi/oi tepiront' en Qa\irsi kakw/n ektosGen airantwn 115 enfj/skon d' ws6' uTTnw dediXTiiienoi es 6Xa de iranta toi/sin eTIn kapiTo.n d ' ejjepe Ceidwpo; apoupa autoiiatTi iroUon te kai a^eonon [...] (»Wie d i e G ö t t e r l e b t e n d i e M e n s c h e n [des g o l d e n e n G e s c h l e c h t s ] , d a s H e r z frei v o n Sorgen, weit entfernt v o n M ü h e u n d J a m m e r : es gab kein elendes Alter, sond e r n a n F ü ß e n u n d H ä n d e n i m m e r g l e i c h g e n o s s e n sie d a s F e s t [sc. d e s L e b e n s ] , fern aller G e b r e c h e n . Sie s t a r b e n w i e v o m Schlaf ü b e r w ä l t i g t . Alle G ü t e r w a r e n i h n e n z u E i g e n . F r u c h t t r u g d e r G e t r e i d e s p e n d e n d e A c k e r v o n s i c h a u s , viel u n d

freigebig […].«)

Hesiod kennzeichnet, so können wir die Passage zusammenfassen, das Leben in der goldenen Zeit durch die leibliche Unversehrtheit im Alter, verstanden als zeitliche Dehnung der Lebensmitte, in der der Körper noch kraftvoll und faltenlos und das Leben ein Fest ist.11 Die hohe Lebensdauer, verbunden mit einer Reduktion der zum Lebenserhalt nötigen Arbeitszeit und einer Ausdehnung der Akmé, der guten mittleren Jahre, führt zu einem Mehr an Lebenszeit für jeden Einzelnen. Am Ende des Lebens wartet ein sanfter Tod; ein Tod aus der Lebensfülle, der erst eintritt, wenn den Wünschen des Menschen an das Leben Genüge getan ist. Schauen wir noch einmal genauer hin. Hesiods Blick auf das Alter richtet sich allein auf die körperlichen Prozesse, von denen er einen, den Zugewinn an Falten, anschaulich hervorhebt (Hände und Füße sind unverändert!), während die geistige Entwicklung ausgespart bleibt. Die Menschen der goldenen Zeit werden hier als alterslos (a/epantoi) imaginiert, aber, anders als die olympischen Götter, eben nicht als unsterblich (aGanatoi, Hes. op. 110). Diese Differenzierung ist doppelt wichtig.

10

11

H e s . op. 109-200, hier 112-119 (vgl. die Ausdeutung - nach Dikaiarch - bei Porphyrius, De abstinentia, 4, 2). D e n zitierten Versen voran geht der Pandora-Mythos, der ebenfalls in einer Zeit ohne Alter und Krankheit einsetzt (op. 90–92). D a z u Joseph Fontenrose, »Work, Justice and Hesiod’s five ages«, in: Classical Philology, 69 (1974), S. 1–16; vgl. H a ß , Locus amoenus, S. 127f. Dieses Leben ist ein unbelastetes Leben. V o r Prometheus’ Feuerraub und Zeus’ Strafe hatte, so hieß es kurz zuvor, die Arbeit eines Tages ausgereicht, u m den Bedarf eines Jahres zu decken; vgl. Hesiod, Theogonia, 42–48. D a die N a t u r alles reichlich gab, war die körperliche Arbeit ein freiwilliges und seltenes T u n ohne die Schrecken v o n Mühsal u n d Mangel — ganz anders als in den folgenden Zeitaltern.

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Zum einen macht sie deutlich, dass auch die Menschen der goldenen Zeit bei aller Götternähe Menschen waren und ihnen die Sterblichkeit nicht erspart blieb, wohl aber das Leiden und die Angst und der unzeitige Tod. Ihre Lebensdauer dürfte – wenn man es denn berechnen möchte – deutlich über 100 Jahren gelegen haben (dies lässt der Blick auf die folgenden Zeitalter erkennen)12. Doch durch den Mangel an kulturellen Zeitmarkern und anderen Lebenszäsuren bleibt die Dauer letztlich unbestimmt und spielt bei dieser qualitativen Definition der Lebensdauer auch keine große Rolle. Wichtiger ist, dass es bis zum Ende hin ein Leben in Fülle ist und der Tod unbemerkt, undramatisch und schmerzlos hinzutritt, wie es der Vergleich mit dem Schlaf nahe legt.13 Zum anderen verändert diese Differenzierung den Blick auf die Zeitstruktur des menschlichen Lebens: In der idealen Welt, die Hesiod hier entwirft, gibt es keinen Alterungsprozess, keine Krankheit zum Tode. Alles, was man als Alter bezeichnen könnte, zeigt sich als Fortdauer der Lebensmitte, in der die Zeit angehalten zu sein scheint. Eine weitere Entwicklung findet von diesem Moment an nicht mehr statt; die Übergänge von der Lebensmitte zum Altern und zum Tod kündigen sich nicht an. Erst vom Tode her wäre das Alter wieder – nun retrospektiv – als die davor gelegen habende Zeit zu bestimmen. Dadurch, dass keine zeitlichen Zäsuren zwischen Akmé und Tod gesetzt werden, erscheint diese Lebensphase wie zeitlos: Eine ewige Akmé ist bei Hesiod das Sinnbild glücklichsten Lebens und glücklichsten Alters; hier wird nicht unterschieden. Hesiod hat diesen Gedanken, dieses Bemühen um die Ausdehnung der Akmé als Kennzeichen einer guten Lebenszeit, zu einem zentralen Motiv des Zeitaltermythos weiterentwickelt, indem er jedem Zeitalter ein spezifisches Lebenstempo, eine spezifische Gewichtung der menschlichen Lebensphasen zugesprochen hat.14 Ich führe diese Beobachtung kurz aus: Dass die Menschen des goldenen Geschlechts stets im Vollbesitz ihrer körperlichen und geistigen Kräfte imaginiert werden, entspricht den Erwartungen an das Paradies. Ihre Kindheit ist Hesiod keine Erwähnung 12 13 14

Vgl. die immer noch mehr als 100 Jahre im silbernen Zeitalter (Hes. op. 139). oo6' ö w w , Hes. op. 116. Ich folge hier einer Anregung von Martin L. West, Hesiod. Works & Days, edited with Prolegomena and Commentary, Oxford 1978, S. 173–174. E r arbeitet im Folgenden die Parallelen in den östlichen Literaturen heraus und postuliert eine Entstehung des Zeitaltermythos im achten vorchristlichen Jahrhundert in Mesopotamien. Die parallele Struktur ist von vielen bemerkt, jedoch jeweils nur auf das betreffende Zeitalter bezogen worden. West ist, soweit ich sehe, der Erste und Einzige, der andeutet, dass die unterschiedlichen Längen der menschlichen Lebensphasen in den Zeitaltern als eigenständiges Motiv beschrieben werden könnten. Diese Vorstellung hat nichts mit der etwa aus Ov. met. 15, 199–213 bekannten Parallelisierung von Lebensphasen und Jahreszeiten zu tun.

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wert; ihr Alter wird, wie wir gesehen haben, weder in der Physis noch im Verhalten kenntlich, sondern scheint eine unveränderte Fortsetzung der mittleren Jahre zu sein. Das zweite Menschengeschlecht, das silberne, verbleibt in seiner Darstellung überlang im Zustand der Kindheit.15 »Die Kultur des silbernen Geschlechts, das weder im Aussehen noch im Wesen dem goldenen ähnlich war« (op. 129), unterscheidet sich ebenfalls deutlich von der vorigen: Die Welt der silbernen Zeit ist eine sozial organisierte Welt, in der Jahre gezählt und Kinder erzogen werden. Auf 100 Kinderjahre voller Spiel und mütterlicher Fürsorge (e`kato.n e;tea, Hes. op. 130) folgten allerdings nur eine kurze physische Reife (h[bh), dann ein schnell herannahender Tod.16 Es gibt nach der Insel der Kindheit keine lange Dauer mehr in der silbernen Zeit, vom Moment des Erwachsenseins an scheint jeder Mensch auf einem immer schneller werdenden Weg zum Ende hin zu stürzen. Gleichwohl gelangt Hesiod zu einer positiven Bewertung des silbernen Geschlechts, dessen Angehörige nach ihrem Tod als Selige unter der Erde17 verehrt werden. Negativ beurteilt werden nicht Kindheit oder Alter an sich, sondern die Ungleichförmigkeit der Lebensphasen und besonders die starke Kürzung der Akmé. Bei der Beschreibung des dritten, erzernen Geschlechts, in dem gigantenähnliche Menschen wüten, und des vierten, heroischen, steht die ethische Entwicklung im Zentrum; erst bei dem fünften und letzten treten die Lebensphasen als zentrales Motiv wieder hervor.18 Dieses Geschlecht gilt Hesiod als das eigene. Seine Erzählung wechselt vom Präsens in ein prophetisches Futur, in dem er das Ende der Zeitalterfolge ankündigt:19 Man wird das bevorstehende Ende daran erkennen, so sagt er, dass die Kinder dann bereits mit grauen Schläfen, poliokro,tafoi geboren werden, d. h. dass Kindheit und Greisentum physisch zusammenfallen, ohne dass das mittlere ›goldene‹ Alter auch nur gestreift würde.20 15 16 17 18

19

20

Hes. op. 127–143. Hes. op. 127–134. Hes. op. 141 u`pocqo,nioi ma,karej. Die Schilderung des erzenen und des heroischen Geschlechts greift diese Vorstellung nicht auf. Die Entrückung der Heroen auf die Inseln der Seligen, wo sie alterslos weiterleben dürfen (Hes. op. 156–172), erweist sich jedoch als Echo der goldenen Zeit, das deren Segnungen nun auch auf die dort noch unerwähnten Kämpfer ausdehnt. Man wird davon ausgehen dürfen, dass die Kämpfer als in den mittleren Jahren stehend gedacht wurden und in dieser Lebensphase verblieben. Hes. op. 180f. Hes. op. 179f. Eduard Meyer, »Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern« (1910), zitiert nach dem Wiederabdruck in: Ernst Heitsch (Hrsg.), Hesiod, Darmstadt 1966, S. 471–522, hier S. 510 und 512, sieht hier nicht die Beschleunigung des Alterns, sondern versteht das Paradox des grauhaarigen Neugeborenen als Sinnbild der Frühreife im Gegensatz zur »blasierten Verdummung« der silbernen Zeit.

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Das eindrucksvolle Bild des grauhaarigen Neugeborenen ist in der Forschung uneinheitlich diskutiert worden. Meiner Ansicht nach ist das, was hier am Ende der hesiodischen Erzählung steht, vor allem als fratzenhafte Verzerrung der archetypischen Gestalt des puer senex zu lesen. Der puer senex verbindet als altersweiser Jüngling die sittliche Reife des Alters mit der Physis der Jugend. Wir kennen ihn etwa aus dem Lobpreis junger Krieger, die mehr Klugheit zeigen, als es ihrem Alter entspräche. Die Spätantike hat dafür den Ausdruck der canities animi, der »Weißhaarigkeit des Geistes« geprägt, der eine positiv bewertete Ungleichzeitigkeit innerhalb eines einzelnen Menschenlebens beschreibt (oder, um in der anfänglichen Begrifflichkeit zu bleiben: einer positiv beurteilten Abweichung der individuellen von der kulturellen Zeitstruktur). Der grauhaarige Säugling Hesiods ist das Zerrbild des puer senex, bei dem die ungleichen Tempi der einzelnen Lebensphasen ins Negative ausschlagen. Der poliokro,tafoj verbindet nur Bedauerns- und Tadelnswertes miteinander. Er erfährt nie die erfüllte Akmé der Menschen der aetas aurea, sondern verknüpft als kindischer Greis die Mängel des Alters mit denen der Jugend, Altersschwäche mit Unbedachtsamkeit.21 Zusammenfassend kann man festhalten, dass Hesiod sich hier auf das individuelle Leben konzentriert, genauer: darauf, wie innerhalb der engen Grenzen eines Lebens ein Höchstmaß an Dauer und an Lebensqualität zu erreichen sei. Schlechtes Leben bedeutet hier in zeitlicher Hinsicht den Verlust der Lebensmitte und eine rapide Beschleunigung des Alterns; der Weg vom goldenen über das silberne zum eisernen Zeitalter legt Zeugnis davon ab. Ein besseres Leben ergäbe sich, wenn man diese Darstellung beim Wort nimmt, allerdings nicht aus der gleichmäßigen und kalkulierbaren Dauer aller Lebensphasen, wie sie nach Hesiod etwa Solon als ›Le-

21

Kurt von Fritz, »Pandora, Prometheus und der Mythos von den Weltaltern« (1947), zitiert nach dem Wiederabdruck bei Heitsch (Hrsg.), Hesiod, S. 367–410, hier S. 398, beschreibt darauf aufbauend die Menschendarstellung der Zeitalter als Ausdruck verschiedener Arten, die Vergangenheit zu sehen: als schlicht und gut, als kindisch am Alten festhaltend usw. Die Nähe zum puer senex / senilis ist hier bislang nicht weiter untersucht worden. Die Entwicklung in späterer Zeit analysiert die materialreiche Arbeit von Christian Gnilka, Aetas spiritalis. Die Überwindung der natürlichen Altersstufen als Ideal frühchristlichen Lebens, Bonn 1972 (Theophaneia 214); vgl. auch Hans Schwabl, »Zum antiken Zeitaltermythos und seiner Verwendung als historiographisches Modell«, in: Klio, 66 (1984), S. 405–415. Zum Motiv s. auch Cicero, De divinatione, 2, 23, 50 (über die Auffassung des etruskischen Gottes Tages als einer Figur von kindlichem Aussehen, doch mit der Weisheit eines alten Mannes: puerili specie sed senili prudentia). Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern und München ³1961, S. 106–109, stellt die Entwicklung des Topos ausführlich dar, beginnt jedoch erst in der Spätantike und erwähnt weder Cicero noch Hesiod (aber Sil. Ital. 8, 464; Plin. ep. 5, 16, 2; Apul. Fl. 9, 38). Als Fluch findet sich das ewige Leben jenseits der Akmé in Ov. met. 14, 136ff.

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bensstufen‹ literarisch fixieren sollte,22 sondern allein aus der möglichst weiten Ausdehnung der Akmé. Aus Hesiods Perspektive erschiene Solons kalkulierbares Gleichmaß nicht als Ideal, sondern nur als ein Zwischenhalt auf dem Weg des Abstiegs aus der goldenen Zeit. Andere Antworten darauf, wie die beste Zeitordnung des Lebens sei, wären möglich gewesen; einige seien angedeutet: Hesiod hätte (wie später Solon) das Gleichmaß der Lebensphasen zur Richtschnur nehmen können; oder er hätte sich stärker auf die förderliche Wirkung einer regelhaften natürlichen Zeitordnung und eines ausgeglichenen Klimas stützen können — so taten es etwa Homer oder Pindar in ähnlichen Konstellationen. 23 Einen ganz anderen Weg hat Ovid eingeschlagen, dem wir die nach Hesiod wirkmächtigste Darstellung des Zeitaltermythos verdanken.

D i e A u f h e b u n g der Z e i t (Ovid) Ein halbes Jahrtausend später greift Ovid den Zeitaltermythos auf und gestaltet ihn neu. Er erzählt seine Version des Zeitaltermythos im ersten Buch der Metamorphosen; es ist eine der am häufigsten auswendig gelernten Passagen der römischen Literatur: aurea prima satast aetas… Zivilisatorische Errungenschaften fehlen in dieser goldenen Welt, die natürliche Umwelt ist von Eukrasie geprägt, d. h. von der gleichmäßigen Mischung lebensfreundlicher Klimate und Umstände. Schauen wir auf ein Detail der Naturschilderung der goldenen Zeit:24 V e r e r a t a e t e r n u m , p l a c i d i q u e t e p e n t i b u s auris m u l c e b a n t Z e p h y r i n a t o s sine s e m i n e flores;

22

Umfassend dazu: Boll, Lebensalter.

23

Vgl. etwa das ausgewogene und helle Klima des Olymp (Hom. Od. 6, 43–45) und Pindars Bemerkung, dass zu d e m Lohn des gerechten Lebens auch die Gabe gehöre, sorglos in immer gleichen Nächten und Tagen zu leben (Pi. O. 2, 61–62). Dass sich derartige Vorstellungen nie auf den Zeitaltermythos beschränken, sich aber dort zu einem Gesamtentwurf zusammenfinden, zeigt eine Bemerkung in der Odyssee über utopische Charakteristika der Insel Syria, der Heimat des Eumaios (Hom. Od. 15, 403ff: keine Krankheit und ein sanfter, von den Göttern gegebener Tod).

24

Ov. met. 1, 89ff; hier 107-112. Barchiesi /Segal (Alessandro Barchiesi, Ovidio. Metamorfosi. Con un saggio introduttivo di Charles Segal, Mailand 2005ff, 1, 168) heben hervor, dass besonders die explizite Verzeitlichung der aetates Ovid von den griechischen Vorbildern unterscheide. — Die Ereignisarmut könnte man mit d e m Begriff der Einfachheit verbinden, die bei der Charakterisierung primitiver Kulturstufen und paradiesischer Zustände topisch auftritt; eine explizite Ausweitung der simplicitas-Vorstellung auf den Zeitbegriff scheint es aber nicht gegeben zu haben. Siehe dazu Rüdiger Vischer, Das einfache Leben. Wort- und motivgeschichtliche Untersuchungen zu einem Wertbegriff der antiken Literatur, Göttingen 1965 (Studienhefte zur Altertumswissenschaft 11), S. 88ff

Dehnung der Akmé, Eukrasie und Zeitlosigkeit

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mox etiam fruges tellus inarata ferebat, nec renovatus ager gravidis canebat aristis; 110 (»Es herrschte ewiger Frühling, und milde Winde schmeichelten mit sanften Lüften den Blumen, die ohne Samen entstanden waren. Bald auch trug die Erde, ohne bearbeitet worden zu sein, Früchte, und ohne gepflügt zu sein leuchtete der Acker hell von schweren Ähren.«)

Die goldene Zeit ist geprägt vom ver aeternum, dem ewigen Frühling, den Ovid hier ausführlich beschreibt. Die Begriffsprägung ver aeternum ist ovidisch und fordert in ihrer inneren Gegensätzlichkeit zum Innehalten auf: Denn sprichwörtlich war zu allen Zeiten die V e r g ä n g l i c h k e i t der Jahreszeiten, nicht aber ihre Dauer.25 Zudem kann kein Frühling sein, wo keine anderen Jahreszeiten existieren; erst in der Abgrenzung von den anderen Jahreszeiten wird man ihn als Frühling erkennen. Noch aber ist es nicht so weit, Blüte und Frucht, Saat und Ernte erscheinen auf dieser Erde noch alle zugleich. Die Unmöglichkeit des ewigen Frühlings spitzt die utopische Hoffnung der Dichtung zu auf eine Zeit, in der ver nicht nur die klimatische Eukrasie meint, sondern zugleich die jugendliche Frische und heitere Ruhe jener Zeit, in der es weder Staat noch Arbeit, weder Handel noch Verkehr gab, in der es nicht nur keine kulturellen Zeitordnungen, sondern, in utopischer Übertreibung, noch nicht einmal natürliche Zäsuren gab. Zeitlosigkeit und Gleichzeitigkeit verbinden sich hier zu einem Bild indifferenter Dauer: Das menschliche Leben erscheint in der ovidischen aetas aurea in kein genealogisches Gefüge von Eltern- und Kindschaft eingebunden und erfährt keinerlei Zäsuren, weder Geburt noch Tod, weder Jugend noch Alter.26 Ihm steht eine Natur gegenüber, die Blüte und Frucht zugleich bietet und den Rhythmus der Jahreszeiten noch nicht kennt. Alles ist auf Dauer gestellt: ver erat aeternum. Wie bei Hesiod, so entwickelt sich auch bei Ovid die Struktur der Zeit innerhalb des Zeitaltermythos weiter. In der silbernen Zeit treten der Tod und – gleich darauf – die Jahreszeiten in die Welt, die durch die Beschneidung des Frühlings entstehen:27

25

26 27

Franz Bömer, P. Ovidius Naso. Metamorphosen. Kommentar, Heidelberg 1969–1986, S. 55, zu met. 1, 107 (Herleitung aus ethnographischen Darstellungen); Barchiesi/Segal, Ovidio, 1, S. 170 (Verweis auf ältere Traditionen, die aber m. E. nur dem avuto,matoj bi,oj gelten und keinen zeitlichen Aspekt aufweisen). Stellensammlung zum ver aeternum bei Hans Reynen, »Ewiger Frühling und Goldene Zeit. Zum Mythos des Goldenen Zeitalters bei Ovid und Vergil«, Gymnasium, 72 (1965), S. 415–433, hier bes. S. 416–418; zur Eukrasie Hans Reynen, »Klima und Krankheit auf den Inseln der Seligen«, in: Gymnasium, Beiheft 4 (1964), S. 77– 104, hier S. 96–102. Familiäre Bezüge werden bei Ovid erst in der ehernen Zeit sichtbar: met. 1, 145–149. Ov. met. 1, 113 –121.

232

Anja Wolkenhauer Postquam Saturno tenebrosa in Tartara misso sub Iove mundus erat, subiit argentea proles, auro deterior, fulvo pretiosior aere. Iuppiter antiqui contraxit tempora veris, perque hiemes aestusque et inaequalis autumnos et breve ver spatiis exegit quattuor annum. tum primum siccis aër fervoribus ustus canduit, et ventis glacies adstricta pependit; tum primum subiere domos [...].

115

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(»Nachdem Saturn in den finsteren Tartarus gestürzt worden war, lebte die Welt unter Jupiter. Das silberne Geschlecht folgte, geringer an Wert als das goldene, kostbarer als das rotschimmernde Erz. Jupiter zog die Zeiten des vormaligen Frühlings zusammen und schuf durch Winter und Sommer, wechselhafte Herbste und einen kurzen Frühling ein viergeteiltes Jahr. Damals zuerst glühte die Luft in trockner Hitze und hingen Eiszapfen starr im Wind; damals zuerst suchten die Menschen sich Behausungen.«)

Den Übergang vom goldenen zum silbernen Zeitalter markiert Ovid dadurch, dass hier die Jahreszeiten und - begründet in ihrer Härte - die menschliche Kultur entstehen. Jegliche Veränderung, d. h. Zeit, Mangel und Tod, kommen durch das Eingreifen Jupiters in die Welt, der so zum göttlichen eüpeTije:, zum Erfinder einer wenig attraktiven Gabe wird. Das aufklärerische Potential, das im Handeln des Gottes steckt, der den Menschen zur Erkenntnis seiner Möglichkeiten nötigt, hat bereits in der hesiodischen Aitiologie der Arbeit und ihrer Wiederaufnahme bei Vergil seine Würdigung erfahren; Ovids Publikum hörte diese Prätexte mit.28 Doch Ovid wählte eine eigene Perspektive auf die bekannte Erzählung. Aus etwas größerer erzählerischer Distanz beschreibt er die Tat mit all ihren schmerzhaften Folgen als einen Wurf in die Zeitlichkeit. Jupiters Gliederung des Jahres wird ihm zur Reduktion (contrahere);29 die Charakterisierung der Jahreszeiten mit den unüblichen, die Neuerung betonenden Epitheta als inaequalis und brevis hebt die Unkalkulierbarkeit und die schmerzhafte Differenz von Lebenszeit und Hoffnung hervor: Der Frühling ist immer zu kurz. 28

Ov. met. 1,107-124. Das Motiv ist angelegt bei Hes. op. 4 3 - 5 0 (Aitiologie der Arbeit als Zeus’ Konsequenz aus Prometheus’ Täuschungsversuch), prominent ausgeführt im oben besprochenen Prometheus Desmotes. In der lateinischen Literatur wird er in V e r g georg. 1,121ff. (labor improbus) thematisiert. Die horazischen arva beata (epod. 16) weisen keine explizite Zeitstruktur auf.

29

Bömer weist in seinem Kommentar (s. Anm. 25) ad. loc. darauf hin, dass contrahere ein Ovidischer terminus technicus zur Charakterisierung einer Metamorphose sei; ich meine jedoch, dass dieser (im Übrigen meist medial formulierte) Aspekt hier nicht z u m Tragen k o m m t und contrahere wie z. B. bei Ovids Beschreibung des Schattens in met. 3,144 eine ganz konkrete, negativ konnotierte Verringerung und Verkürzung bezeichnet (ähnlich Alfred Gudeman, »contraho«, in: Thesaurus linguae Latinae, 4 (1906–1909), Sp. 761, hier 54ff.).

D e h n u n g der Akmé, Eukrasie und Zeitlosigkeit

233

Diese knappe Skizze lässt in der Gegenüberstellung zwei unterschiedliche Konzepte des ›idealen Alters‹ erkennen. Hesiod hat in seiner Darstellung der goldenen Zeit ein Mehr an guter Lebenszeit für jeden Einzelnen und eine Ausdehnung der Akmé, der Lebensmitte, als eutopische Hoffnung formuliert. In der schrittweisen Annäherung des Zeitaltermythos an die historische Zeit erscheinen die Beschleunigung im Detail und Verlust der Dauer im Ganzen als Schreckensbild einer pervertierten Zeiterfahrung, in der individuelles Zeiterleben und objektiver Zeitablauf sich immer weiter voneinander entfernen. Ovid verbindet den amo\j,axoQ ßioc;, der den Menschen allen Tuns enthebt, da ihm alles reichlich gegeben ist, mit dem Entwurf einer statischen Existenz, einer Gegenwart in Fülle, ohne die Mühen und Versprechen der Vergangenheit, ohne die Not künftiger Erwartungen. Diese Dauer umfasst - anders als etwa bei Hesiod - Individuum und Welt in gleicher Weise; es gibt keine zeitlichen Diskrepanzen zwischen den beiden Bereichen, da es keine Zeit, keine Entwicklung gibt. Wenn wir auf die Sage von den sardischen Schläfern zurückschauen, erkennen wir die Nähe zwischen beiden: Ovids Menschen der goldenen Zeit träumen ihr Leben in einer lichten Höhle; ob Zeit vergeht, können sie weder an sich noch an anderen noch an der Natur erkennen. Beide Autoren entwerfen irdische Paradiese: Hesiod eines, in dem Menschen gut leben und gut sterben können, ohne das Alter bemerken zu müssen; Ovid hingegen eines, das seine eigentümliche Schönheit dadurch gewinnt, dass es in ihm keine Zeit gibt, keinerlei Veränderung, weder Geburt noch Tod. Beide Autoren gehen ganz unterschiedliche Wege, doch im Ergebnis stimmen sie überein: Der Lobpreis des Alters in ihren Zeitaltermythen ist letztlich ein Lobpreis der Alterslosigkeit.

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Anja Wolkenhauer

Literatur Quellen Hesiod. Works & Days, edited with Prolegomena and Commentary, Martin L. West, Oxford 1978. Ovidii Metamorphoses, hrsg. von William S. Anderson, Leipzig und Stuttgart 6 1993 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Forschung Alter in der Antike: die Blüte des Alters aber ist die Weisheit. Katalog zur Ausstellung im LVR-LandesMuseum Bonn 25. 2. 2009–7. 6. 2009, hrsg. vom Landschaftsverband Rheinland, Darmstadt 2009. BARCHIESI, Alessandro, Ovidio. Metamorfosi. Con un saggio introduttivo di Charles Segal, Mailand 2005ff. BÖMER, Franz, P. Ovidius Naso. Metamorphosen. Kommentar, Heidelberg 1969–1986. BOLL, Franz, »Die Lebensalter«, in: F . B., Kleine Schriften zur Sternkunde des Altertums, Leipzig 1950, S. 156–225. BRANDT, Hartwin, Am Ende des Lebens: Alter, Tod und Suizid in der Antike, München 2010. CURTIUS, Ernst Robert, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern und München ³1961. DIHLE, Albrecht, »Fortschritt und goldene Urzeit«, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher, Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M . 1988, S. 150–169. FONTENROSE, Joseph, »Work, Justice and Hesiod’s five ages«, in: Classical Philology, 69 (1974), S. 1–16. FRITZ, Kurt von, »Pandora, Prometheus und der Mythos von den Weltaltern« (1947); Wiederabdruck bei Ernst Heitsch (Hrsg.), Hesiod, Darmstadt 1966, S. 367–410. GATZ, Bodo, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967. GNILKA, Christian, Aetas spiritalis. Die Überwindung der natürlichen Altersstufen als Ideal frühchristlichen Lebens, Bonn 1972 (Theophaneia 214). GUDEMAN, Alfred, »contraho«, in: Thesaurus linguae Latinae, 4 (1906–1909), Sp. 761.

Dehnung der Akmé, Eukrasie und Zeitlosigkeit

235

HAß, Petra, Der locus amoenus in der antiken Literatur: Zur Theorie und Geschichte eines literarischen Motivs, Bamberg 1998. KOCH, Michael, »Zur Utopie in der Alten Welt«, in: Horst Sund/Manfred Timmermann (Hrsg.), Auf den Weg gebracht. Idee und Wirklichkeit der Gründung der Universität Konstanz, Konstanz 1979, S. 399–417. KUBUSCH, Klaus, Aurea saecula. Mythos und Geschichte. Untersuchung eines Motivs in der antiken Literatur bis Ovid, Frankfurt a. M . 1986. MEYER, Eduard, »Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern« (1910); Wiederabdruck in: Ernst Heitsch (Hrsg.), Hesiod, Darmstadt 1966, S. 471–522. PREISSHOFEN, Felix, Untersuchungen zur Darstellung des Greisenalters in der frühgriechischen Dichtung, Wiesbaden 1977. REYNEN, Hans, »Ewiger Frühling und Goldene Zeit. Zum Mythos des Goldenen Zeitalters bei Ovid und Vergil«, in: Gymnasium, 72 (1965), S. 415–433. – »Klima und Krankheit auf den Inseln der Seligen«, in: Gymnasium, Beiheft 4 (1964), S. 77–104. ROHDE, Erwin, »Die Sardinische Sage von den Neunschläfern«, in: Rheinisches Museum, 35 (1880), S. 157–163. ROSENMEYER, Thomas G., »Hesiod und die Geschichtsschreibung«, in: Ernst Heitsch (Hrsg.), Hesiod, Darmstadt 1966, S. 602–648. ROSS, William David, Aristotle’s Physics. A revised text with introduction and commentary, Oxford 1936. WIFSTRAND SCHIEBE, Marianne. Das ideale Dasein bei Tibull und die Goldzeitkonzeption Vergils, Uppsala, 1981. SCHWABL, Hans, »Weltalter«, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Suppl. 15 (1978), S. 783–850. – »Zum antiken Zeitaltermythos und seiner Verwendung als historiographisches Modell«, in: Klio, 66 (1984), S. 405–415. VISCHER, Rüdiger, Das einfache Leben. Wort- und motivgeschichtliche Untersuchungen zu einem Wertbegriff der antiken Literatur, Göttingen 1965 (Studienhefte zur Altertumswissenschaft 11). WEST, Martin L., Hesiod. Works & Days, edited with Prolegomena and Commentary, Oxford 1978. WOLKENHAUER, Anja, Sonne und Mond, Kalender und Uhr. Studien zur Darstellung und poetischen Reflexion der Zeitordnung in der römischen Literatur, Berlin 2011 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 103). ZANKER, Paul, Die Trunkene Alte: das Lachen der Verhöhnten, Frankfurt a. M . 1989. ZUMSCHLINGE, Marianne, »Utopie«, in: Hatto H . Schmitt / Ernst Vogt (Hrsg.), Lexikon des Hellenismus, Wiesbaden 2005, S. 1094–1096.

DOROTHEE ELM

Die Entgrenzung des Alter(n)s: Zur Kaiserpanegyrik in der Dichtung des Statius und Martial This essay is concerned with panegyrics for the emperor in Statius’s Silvae and Martial’s Liber Spectaculorum and Epigrammata. The first question I address is how a sacralized emperor is imagined in the Silvae’s poetic representation. He is here ascribed with a life-course largely removed from the process of biological aging. The life stage of iuventus is extended, the caesura between it and senectus annulled. Next, I turn to the presentation by Martial’s epigrammatic emperor of the final caesura, death, through executions elaborately staged as mythological enactments. In this manner, Martial underscores the superiority of the emperor’s rule to past mythic and historical ages. Finally, I conclude by showing how the real death of the mortal emperor forms a caesura in Martial’s work inviting both retrospect and a look into the future (Epigr. 10).

Die römischen Dichter Martial und Statius spielten eine wichtige Rolle in der literarischen Darstellung der Herrschaft des dritten und letzten flavischen Kaisers Domitian.1 Während die Silvae des Statius, eine fünf Bücher umfassende Sammlung verschiedener Preisgedichte, überwiegend in der späten Regierungszeit des von 81-96 n. Chr. regierenden dritten Flaviers nach Vespasian und Titus entstanden sind und publiziert wurden, umspannt das Oeuvre des Martial einen breiteren Zeitraum.2 Die von ihm 1

Zur Literatur und zur literarischen Herrschaftsdarstellung unter Domitian vgl. u. a.: Frederick M. Ahl, »The Rider and the Horse. Politics and Power in Roman Poetry from Horace to Statius«, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, 2,23,1 (1984), S. 40–110; Kathleen M. Coleman, »The Emperor Domitian and Literature«, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, 2,32,5 (1986), S. 3087–3315; Claudia Klodt, Bescheidene Größe. Die Herrschergestalt, der Kaiserpalast und die Stadt Rom: Literarische Reflexionen monarchischer Selbstdarstellung, Göttingen 2001 (Hypomnemata 137); Sven Lorenz, Erotik und Panegyrik. Martials epigrammatische Kaiser, Tübingen 2002 (Classica Monacensia 23); Ruurd R. Nauta, Poetry for Patrons. Literary Communication in the Age of Domitian, Leiden u. a. 2002 (Mnemosyne Suppl. 206); Carole E. Newlands, Statius’ Silvae and the Poetics of Empire, Cambridge 2002; Jens Leberl, Domitian und die Dichter. Poesie als Medium der Herrschaftsdarstellung, Göttingen 2004 (Hypomnemata 154); Victoria Rimell, Martial’s Rome. Empire and the Ideology of Epigram, Cambridge 2008; John Garthwaite: »Ludimus innocui: Interpreting Martial’s Imperial Epigrams«, in: William J. Dominik, John Garthwaite, Paul A. Roche (Hrsg.), Writing Politics in Imperial Rome, Leiden und Boston 2009, S. 405–427; Carole Newlands, »Statius’ Self-conscious Poetics: hexameter on hexameter«, in: William J. Dominik, John Garthwaite, Paul A. Roche (Hrsg.), Writing Politics in Imperial Rome, Leiden und Boston 2009, S. 387–404.

2

Carole Newlands bezeichnet die Sammlung der Silvae als »diverse collection of poetry of praise«, Newlands, Poetics of Empire, S. 1. Die ersten drei Bücher der Silvae sind, so Kathleen

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Dorothee Elm

stammenden, in ihrem Gesamtumfang episch zu nennenden zwölf Bücher Epigramme schließen die Regierungszeit anderer Kaiser ein. Die Epigrammbücher elf und zwölf des Martial stammen aus der Zeit nach Domitians Ermordung.3 Das zehnte Buch liegt uns möglicherweise nur in einer zweiten überarbeiteten Auflage vor, die im Jahre 98, also nach Domitians Tod, veröffentlicht wurde.4 Dessen erste Auflage entstand vermutlich noch unter seiner Herrschaft. Die zwölf Bücher sind um drei weitere Sammlungen von Epigrammen zu ergänzen, um die »Gastgeschenke«, Xenia, die »zum Mitnehmen bestimmten Gaben«, Apophoreta, die beide in den Kontext saturnalischer Sodalität gehören, und um den so genannten Liber Spectaculorum. Die in ihm versammelten Gedichte sind den von den Kaisern Titus und Domitian ausgerichteten Spielen im flavischen Amphitheater gewidmet. Einige dieser Epigramme sind vermutlich aus Anlass der Eröffnung des Amphitheaters durch Titus verfasst worden, andere fallen, wie Kathleen Coleman vermutet, in den Prinzipat seines Nachfolgers Domitian.5 Die Gedichte, die für die folgende Untersuchung relevant sind, haben überwiegend panegyrischen Charakter. Sieben der Silvae des Statius sind auf den Kaiser Domitian bezogen und behandeln zentrale Themenfelder der domitianischen Herrschaftsdarstellung.6 Sie schildern unter anderem eine Statue, einen Palast und eine Straße, die auf Domitians Veranlassung errichtet wurden, sowie die von ihm ausgerichteten Spiele, um auf diese Weise seine militärische Imago, seine Sakralität und seinen Euergetismus zu feiern.7 Die an den Kaiser gerichteten Epigramme des Martial sind ebenfalls meist panegyrische Gedichte, es handelt sich aber auch um solche, in denen der Sprecher mit dem Kaiser kommuniziert, indem er ihm Epigrammbücher widmet oder ihn um finanzielle Unterstützung bittet.8 Von Bedeutung für die Fragestellung dieses Beitrages sind insbesondere

3

4 5

6

Coleman, nach dem Januar 93 publiziert worden, Buch 4 möglicherweise im Jahre 95, Buch 5 ist eine nach dem Tod des Statius veröffentlichte Sammlung, sein Tod möglicherweise ins Jahr 96 zu datieren; Kathleen M. Coleman, Statius. Silvae IV. Edited with an English translation and commentary, Oxford 1988, S. xvi–xx. Martials Werke sind von den 80er Jahren bis vermutlich ins Jahr 102 veröffentlicht worden, vgl. statt vieler Uwe Walter (Hrsg.), M. Valerius Martialis Epigramme. Augewählt, eingeleitet und kommentiert, Paderborn u. a. 1996 (UniTaschenbücher 1954), S. 21–23; Niklas Holzberg, Martial und das antike Epigramm, Darmstadt 2002, S. 35. Die Veröffentlichung des 11. Buches wird in die Jahre 97/98 datiert, diejenige des 12. in die Jahre 101/102, vgl. u. a. Walter, Epigramme, S. 23; Holzberg, Martial, S. 35. Dies kann aus einer Äußerung Martials in 10,2,1–4 geschlossen werden. Kathleen M. Coleman, Martial: Liber Spectaculorum. Edited with introduction, translation and commentary, Oxford 2006, S. xlv.–lxiv. silv. 1,1; silv. 1,6; silv. 2,5; silv. 3,4; silv. 4,1; silv. 4,2; silv. 3,4.

7

Statue: silv. 1,1; Palast: silv. 4,2; Straße: silv. 4,3; Spiele: silv. 1,6; silv. 2,5.

8

Vgl. zu diesem Corpus u. a. Leberl, Domitian und die Dichter, S. 245–329.

Die Entgrenzung des Alter(n)s

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die Gedichte des Liber Spectaculorum, die das Auftreten des Kaisers bei den Spielen im flavischen Amphitheater, dem Kolosseum, beschreiben – in einem Raum somit, den man in seiner kommunikativen Funktion als einen Mikrokosmos des Imperium Romanum charakterisieren kann.9 Persönlich gehaltene Epigramme, die aus der zweiten, durch den Tod des Domitian geprägten Neuedition des zehnten Buches stammen, werden ebenfalls zum Gegenstand dieses Beitrages werden. Die Forschung zu den panegyrischen Gedichten des Statius und Martial hat sich oft mit der Rolle beschäftigt, die die Dichtung im kaiserlichen Herrschaftssystem spielt. Die Forschungsmeinungen schrieben ihr auf der einen Seite des Spektrums die Funktion von Propaganda für den Herrscher zu, während die andere Seite eher implizite Herrschaftskritik, »double-speak«, zu bemerken glaubte.10 Eine vermittelnde Position, wie sie beispielsweise Carole Newlands einnimmt, erkennt in den Gedichten von ihr so genannte »fault-lines«, Verwerfungslinien, die es dem Rezipienten erlauben, die Panegyrik an manchen Stellen zu hinterfragen, ohne die Lobpreisung gänzlich in Frage zu stellen.11 Die Frage nach der Funktion des Mediums Literatur in der Herrschaftsdarstellung wird im Folgenden jedoch im Hintergrund stehen. Der Beitrag konzentriert sich auf einen Aspekt der Herrscherpanegyrik in der Dichtung des Statius und Martial. Es geht im ersten Teil zunächst um die Frage, wie insbesondere im Kontext der Expression von Sakralität die menschliche Lebenszeit des Herrschers dargestellt wird. Wie werden in der poetischen Sprache Zeitvorstellungen unterschiedlicher Art mit der Imagination seines Lebensalters in Verbindung gebracht? Welche Rolle spielen mythische, historisch-politische und sozial-kalendarische 9

10

11

Zu Baugeschichte und Benennung vgl. u. a. Coleman, Liber Spectaculorum, lxv–lxxii mit weiterer Literatur. Die kommunikativen Prozesse im Amphitheater untersucht im Hinblick auf die Gladiatur u. a. Egon Flaig, »An den Grenzen des Römerseins. Die Gladiatur aus historisch-anthropologischer Sicht«, in: Wolfgang Eßbach (Hrsg.), wir/ihr/sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, Würzburg 2000 (Identitäten und Alteritäten 2), S. 215–230. »Safe-criticism«, »double-speak«, »figured speech«: John Garthwaite, »The Rider and the Horse. Politics and Power in Roman Poetry from Horaz to Statius. Appendix: Statius, Silvae 3,4: On the Fate of Earinus«, in: Aufstieg und Niedergang der antiken Welt 2,32,1(1984), S. 111–124; Ahl, »Rider«; Holzberg, Martial, in der Ausgabe von 1988, S. 75–85 (jedoch revidiert in 2002); Shadi Bartsch, Actors in the Audience. Theatricality and Doublespeak from Nero to Hadrian, Cambridge, MA 1994, S. 98–147 zum Terminus »double-speak«, sie gebraucht ihn allerdings nicht mit direktem Bezug zu den Silvae des Statius oder Martials Epigrammen. Siehe Diskussion bei Newlands, Poetics of Empire, S. 18ff. »For praise, as recent work on panegyric has demonstrated, can encompass advice, admonition, criticism, even anxiety, as well as celebration«, Newlands, Poetics of Empire, S. 9 zu den Silvae des Statius mit Hinweis auf weitere Literatur. Zur Definition des Terminus »faultline« vgl. S. 23–25; S. 25: »Faultlines do not undermine the dominant discourse of praise but they disturb it.«

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Zeitordnungen? Wie werden sie im Dienste der Herrschaftsrepräsentation pragmatisiert? Welchen Einfluss hat ein Alterungsprozessen weitgehend enthobener sakraler Herrscher – so wird im zweiten Teil gefragt – auf die individuelle Lebensspanne anderer, kann er selbst wiederum Alterszäsuren aufheben oder setzen? Im dritten Teil schließlich wende ich mich der Frage zu, ob und wie die sich letztlich doch manifestierende Endlichkeit des kaiserlichen Lebens auf die Dichter-persona Martial und ihre Reflektion des eigenen Lebenslaufs Einfluss ausgeübt haben könnte.

1. Andauernde iuventus und ewige Herrschaft: Die kaiserliche Lebenszeit in den Silvae des Statius 1.1 Equus Domitiani Die Silvae des Statius werden durch ein Gedicht eröffnet, das ein öffentliches Monument preist, das traditionellerweise mit der militärischen Macht und Majestät eines Herrschers verknüpft ist, eine Reiterstatue.12 Es handelt sich um eine Plastik von herausragender Monumentalität, die von Senat und Volk gestiftet und zu Ehren der germanischen Siege des Domitian auf dem Forum Romanum, dem politischen Zentrum Roms, aufgestellt wurde. Sie hat die damnatio memoriae des Domitian nicht überlebt. Das Standbild ist auf der Rückseite von Münzen aus dem Jahre 95/6 abgebildet; auf diese Weise war es nicht nur im römischen Reich präsent, sondern blieb auch als Abbild für uns erhalten.13 Eines der Hauptthemen der ersten silva ist neben der Kriegs- und Bautätigkeit des Kaisers seine Sakralität. Domitian wird in ihr auf verschiedenen Ebenen mit Göttlichem in Verbindung gebracht. Zum einen dienen Vergleiche mit mythischen oder göttlichen Personen dazu, ihn aus der irdischen Sphäre herauszuheben – »für den Kaiser gibt es unter den Menschen keinen adäquaten Maßstab mehr«, wie Jens Leberl formuliert.14 Das kaiserliche Umfeld wird zum anderen als göttlich beschrieben: Ihre

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Vgl. Leberl, Domitian und die Dichter, S. 143–167 zu Stat. silv. 1,1 und zur militärischen Imago des Kaisers; zu silv. 1,1 und 4,6 vgl. Newlands, Poetics of Empire, S. 46–87; vgl. auch Ahl, »Rider«, S. 91–102 zu silv. 1,1, der das Gedicht als subversiv liest. Vgl. Johannes Bergemann, Römische Reiterstatuen. Ehrendenkmäler im öffentlichen Bereich, Mainz 1990, S. 41f. Zitat Leberl, Domitian und die Dichter, S. 144.

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divinisierten Verwandten besuchen die Statue.15 Auf der dritten und höchsten Ebene wird Domitian als deus bezeichnet.16 Die Ekphrasis des Standbildes changiert zwischen der Beschreibung des dargestellten Menschen und seines Abbildes, zuweilen verschwimmen die Grenzen.17 Mit dieser Entgrenzung des Bild-Abbild-Verhältnisses ist eine Vorstellung in Dichtung übertragen, die bei Götterbildern von einer Identität von Kultbild und Gott ausging – wurden doch Gottheiten zum Beispiel bei Opferfeiern als in ihren Statuen anwesend vorgestellt. Gleiches gilt für die irdische Gottheit des Kaisers: In der Statue wird er zum deus praesens.18 Der beschriebene Körper des Caesar steht in einem Spannungsverhältnis zwischen seiner physischen Präsenz und Transzendenz.19 Die sakrale Imago des Domitian wird nicht nur durch die Verschiebung beziehungsweise Aufhebung von räumlichen, sondern auch von zeitlichen Grenzen evoziert. Die silva schließt mit einer Prophezeiung (silv. 1,1,91– 93): Non hoc imbriferas hiemes opus aut Iovis ignem tergeminum, Aeolii non agmina carceris horret annorumve moras: stabit, dum terra polusque, dum Romana dies. […] (Nicht braucht sich das Werk zu fürchten vor den regenbringenden Wintern oder vor dem dreifachen Feuer des Jupiter, nicht vor den Scharen aus dem Aeoluskerker oder einer langen Reihe von Jahren. Es wird bestehen, solange Erde und Himmel bestehen, solange der römische Tag besteht.20) 15

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silv. 1,1,94–98: […] hoc et sub nocte silenti, / cum superis terrena placent, tua turba relicto / labetur caelo miscebitque oscula iuxta. / ibit in amplexus natus fraterque paterque / et soror; una locum cervix dabit omnibus astris. »In der stillen Nacht, wenn die irdischen Dinge den Göttern gefallen, wird deine Verwandtschaft den Himmel verlassen, herabgleiten und Küsse geben. Es kommen zur Umarmung der Sohn, der Bruder, der Vater und die Schwester, allen Sternen gemeinsam bietet der Nacken Platz«. Textausgabe hier und im Folgenden: P. Papini Stati Silvae, hrsg. von Edward Courtney, Oxford 1992 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). Übersetzung nach: Leberl, Domitian und die Dichter, S. 162. silv. 1,1,61f.: iuvat ipsa labores / forma dei praesens. »Die Schönheit des gegenwärtigen Gottes befördert selbst die Arbeiten«. Leberl, Domitian und die Dichter, S. 143: »Evident wird die Identifizierung in silv.1,1 in den Versen, die vom Gewicht der Statue, ihrer Höhe und Größe handeln: Diese Attribute werden eins zu eins auf den Princeps übertragen, Domitian ist in seiner Statue präsent«. Zur dichterischen Realisation von im Kaiserkult implizierten Möglichkeiten in Statius’ Deutung der Statue siehe Hubert Cancik, Untersuchungen zur lyrischen Kunst des Statius, Hildesheim 1965 (Spudasmata 13), S. 92f.; vgl. dazu auch Leberl, Domitian und die Dichter, S. 143 mit weiterer Literatur. Vgl. Newlands, Poetics of Empire, S. 53. Leberl, Domitian und die Dichter, zu den göttlichen Attributen, die in der Beschreibung der Statue der Kaiserfigur zugeordnet werden, S. 156– 159. Textausgabe hier und im Folgenden: P. Papini Stati Silvae, hrsg. von Edward Courtney, Oxford 1992 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). Übersetzung hier und im Fol-

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Die Ewigkeitssymbole Himmel und Erde, das römische Reich und der equus Domitiani selbst vermitteln die Vorstellung, dass auch das Leben des Kaisers ewig währen werde. Das Volk und der Senat haben die Reiterstatue Domitian als munus gestiftet.21 Diese Gabe erfordert eine Gegengabe (silv. 1,1,99–100; 105–107): utere perpetuum populi magnique senatus munere. certus ames terras et quae tibi templa dicamus ipse colas; nec te caeli iuvet aula, tuosque laetus huic dono videas dare tura nepotes. (Genieße ewig das Geschenk des Volkes und des großen Senats. […] Du sollst unzweifelhaft die Erde lieben und die Tempel, die wir Dir weihen, selbst bewohnen, der himmlische Hof soll Dir nicht gefallen, froh sollst Du zusehen, wie Deine Enkel diesem Geschenk Weihrauch spenden.22)

In der panegyrischen Sprache ist das Leben des Kaisers zwar unvergänglich, seine Gegenwart auf Erden jedoch nicht unbegrenzt, ist doch sein eigentlicher Platz im Himmel. Die Gegengabe des Kaisers an seine Untertanen besteht darin, lange als deus praesens, als menschlicher Gott, als belebtes Kultbild unter ihnen zu weilen. Die implizierte lange Dauer der Herrschaft des Flaviers wird nicht nur in die Zukunft gedacht, sondern durch dynastisches Denken auch in die Vergangenheit hinein ausgedehnt. Eine Anspielung auf das noch brennende trojanische Feuer verweist auf Aeneas, der die Penaten aus Troja nach Latium brachte: Dies stellt eine Kontinuität zwischen der flavischen Herrschaft und myth-historischen Zeiten her.23 Auch ein Vertreter der historischen, republikanischen Zeit bewundert und billigt – ein wenig eingeschüchtert von ihrer Kolossalität – den in der Statue verkörperten Domitian. Der Kaiser wird von dem aus der Unterwelt aufgetauchten frührömischen Helden Mettius Curtius angesprochen, eine sehr alte dem Verfall nahe Figur, die in einer visionären Rede eine Verbindung zwischen den ehrenvollen Institutionen der Vergangenheit Roms und seiner dynastischen Zukunft herstellt.24 Die Herrschaft des Domitian wird durch die ferne Vergangenheit legitimiert – eine Vergan-

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genden, wenn nicht anders angegeben, nach: Statius, Silvae. Das lyrische Werk in neuer Übersetzung, übers. und erl. von Heinz Wißmüller, Neustadt/Aisch 1990. silv. 1, pr. 18f., 1,1,99f.: populi magnique senatus munus. »Eine Gabe des Volkes und des großen Senates«. Zum Zusammenspiel von Kaiser und Untertanen in der Urheberschaft des Reiterstandbildes vgl. Leberl, Domitian und die Dichter, S. 145. Übersetzung nach Leberl, Domitian und die Dichter, S. 162. silv. 1,1,35. silv. 1,1,66–83.

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genheit, die durch das Ideal eines Dienstes am Staat geprägt ist, wie Newlands bemerkt.25 Die domitianische Herrschaftsdarstellung erreicht einerseits durch die Kolossalität des Reiterstandbildes im Zentrum Roms und andererseits durch die Verbreitung seines Münzabbildes im Imperium Romanum eine weite Ausdehnung im Raum. Ihr stellt der Dichter die Ausdehnung in der Zeit zur Seite. Im Zusammenhang mit der postulierten Sakralität des Kaisers wird nicht nur dessen irdische Lebenszeit als deus praesens als möglichst unendlich konzipiert, sondern auch seine Herrschaftsdauer. Dieser Ausdehnung in die Zukunft steht die Validierung der Herrschaft Domitians durch die ferne Vergangenheit gegenüber, die die fokalisierte Figurenrede des frührömischen Helden Curtius repräsentiert. Die oben angesprochenen »fault-lines«, also die Verwerfungslinien, die die Rezipienten zu anderen Lesarten führen könnten, durchziehen aber auch diese Deutung wie haarfeine Risse, wie Newlands herausarbeitet: Der Text erwähnt zum Beispiel eine Reiterstatue, deren Kopf ausgetauscht wurde, und macht so auf schnellen Wandel und die Auslöschung der ursprünglichen Identität aufmerksam.26 Das evozierte Bild erinnert an die gängige Praxis der damnatio memoriae, die bei einem Kaiser zuletzt nach Nero ausgeübt wurde und die Zerstörung der Gesichter von Statuen mit sich brachte.27 Reminiszenzen an den monumentum-Diskurs der augusteischen Dichtung verstärken die Veranschaulichung der Vergänglichkeit von Herrschern – Horaz errichtet mit seiner Dichtung ein Monument, das Bronze lange überdauern soll. Anders als die nach dem Tod des Domitian zerstörten Statuen besteht Statius’ silva weiter. 1.2 Saturnalia Imperatoris Das sechste und letzte Gedicht des ersten Silvenbuches preist eine kaiserliche Feier der Saturnalien, die Domitian an den Kalenden des Dezember vermutlich im flavischen Amphitheater, dem Kolosseum, für die Haupt-

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Newlands, Poetics of Empire, S. 60–65 zu Rede und Figur des Mettius Curtius. Newlands, Poetics of Empire, S. 65–73. silv. 1,1,84–87: Ein Reiterstandbild des Julius Caesar wird erwähnt, das ursprünglich Alexander den Großen verkörperte, jedoch einen neuen Kopf erhielt. Vgl. zur Praxis der damnatio memoriae: Eric R. Varner, Mutilation and transformation. Damnatio memoriae and Roman imperial portraiture, Leiden 2004; Harriet Flower, The art of forgetting. Disgrace and oblivion in Roman political culture, Chapel Hill 2006; Eva Elm, »Memoriae damnatio«, in: Reallexikon für Antike und Christentum 24 (2011), im Druck. Plin. Pan. 52 beschreibt die Zerstörung von öffentlichen Statuen nach der Ermordung Domitians.

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stadtbevölkerung in allen ihren Schichten ausrichtete.28 Anders als in der ersten silva, die den Kaiser als Statue vor allem im Kontakt mit mythischen Gestalten und seiner vergöttlichten Verwandtschaft darstellte, teilt hier Domitian das Mahl mit allen Anwesenden. Das Sprecher-Ich Statius gibt als Teilnehmer vom Morgen bis zur Nacht einen Bericht über die Ereignisse des Tages, der bewirken wird, dass sie noch in – so sagt er – vielen zukünftigen Jahren und Epochen präsent sein werden.29 Diese silva erkundet die Herrscherimago nicht anhand des Mediums der Architektur, sondern vielmehr durch das Fest.30 Neben dem Euergetismus des ausrichtenden Kaisers ist seine Sakralität von Bedeutung, die in diesem Gedicht vor allem durch seine Parallelisierung mit Jupiter ausgeführt wird.31 Kalendarische Zeit: Beherrschen der Gegenwart

Der zeitliche Rahmen des gepriesenen Festes wird in der praefatio des Gedichtbuches umrissen; die Kalenden des Dezember werden als Datum genannt.32 Die Saturnalienfeiern haben jedoch traditionell einen festen Platz im Kalender: Sie finden mehr als zwei Wochen später statt, nämlich am 17. Dezember.33 Domitian feiert offenbar seine Saturnalien – die Saturnalia Imperatoris – zu Beginn des an Festen reichen Dezembers und verlegt sie so an den prominentesten Platz des Monats, an die Kalenden. Der Kaiser bestimmt ihren Zeitpunkt.34 Der Sprecher der silva kündigt zudem an, dass an den Kalenden des Januar Apoll, Minerva und die Musen, deren Anwesenheit für diese silva nicht erforderlich ist, wieder gebraucht würden.35 Diese Bemerkung weist auf ein panegyrisches Gedicht hin, das regelmäßig zu Ehren des Jahresanfangs und des häufig damit verbundenen kaiserlichen Konsulatsantritts verfasst wurde.36 Der Beginn des letzten und des ersten Monats im Jahr konnte auf diese Weise als durch Domitian eröffnet erscheinen.37 Der Kaiser, der auch die Monate September und Oktober nach sich selbst Germanicus und Domitianus benannt hatte, dominiert also zwei zentrale 28

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Vgl. dazu u. a. Cancik, Statius, S. 100–108; Newlands, Poetics of Empire, S. 227–259; Leberl, Domitian und die Dichter, S. 181–199. silv. 1,6,98–102.

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Newlands, Poetics of Empire, S. 227.

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Vgl. dazu u. a. Newlands, Poetics of Empire, S. 241–246.

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Stat. 1 pr. 30–32. Die überlieferten Kalender geben dieses Datum an: Attilio Degrassi, Inscriptiones Italiae, Bd. 13, 2, Rom 1963: 25, 83, 106, 199, 261, s. Newlands, Poetics of Empire, S. 236, Anm. 45. Newlands, Poetics of Empire, S. 236f. geht auf die Implikationen der Verschiebung des Datums ein. silv. 1,6,3.

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silv. 4,1f. feiert zum Beispiel den Beginn von Domitians 17. Konsulat im Jahre 95.

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Newlands, Poetics of Empire, S. 236.

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Endpunkte der sozial konstruierten Zeit, durch die Kontrolle des Kalenders bestimmt er seine Gegenwart.38 Zeitaltermythos: Übertreffen der mythischen Vergangenheit

Die Gliederung des Gedichtes spiegelt die zentralen Attraktionen des vom Kaiser ausgerichteten Festes wider: Der erste Hauptteil erzählt vom Festmahl, der ›Speisung des Volkes‹, während der zweite den spectacula gewidmet ist. Die Zäsur zwischen den beiden Teilen markiert eine längere Anrede an Domitian.39 Der ›neue Jupiter‹ Domitian lässt es auf die im Kolosseum versammelte Menge regnen, Obst und Süßigkeiten aus exotischen Regionen des Imperium.40 Zahlreiche Diener, die man für Ganymede, also Mundschenke des Jupiter, halten könnte, verteilen Brotkörbe, weiße Servietten, üppige Speisen sowie reichlich Wein.41 Später fallen köstliche Vögel vom Himmel in den Schoß der Festteilnehmer.42 Die Saturnalien waren generell, wie Victoria Rimell formuliert, ein Fest des Rollenspiels und der Inversion, der Befreiung und des Überflusses, sie stellten gewissermaßen einen Zeitsprung in die ursprüngliche Überfülle des Goldenen Zeitalters und die Regierung des wohlwollenden und gerechten Königs Saturn dar. Eine Zeit, in der, wie Hesiod schreibt, die Menschen wie Götter lebten.43 Das Fest im Amphitheater, bei dem die geschenkten Köstlichkeiten vom Himmel fallen, stellt eine ausgelassene Variante des Goldenen Zeitalters dar. Der Kaiser übertrifft jedoch – dies ist ein zentraler Topos der Herrscherpanegyrik vor allem im Kontext von spectacula – in seiner performativen Aktualisierung den Mythos. Die personifizierte Vergangenheit kann dies bezeugen (silv. 1,6,39–42): i nunc saecula compara, Vetustas, antiqui Iovis aureumque tempus: non sic libera vina tunc fluebant nec tardum seges occupabat annum. 38 39

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Benennung der Monate: Suet. Dom. 13,3. Vgl. Newlands, Poetics of Empire, S. 236–7. Erster Hauptteil: silv. 1,6,9–50, zweiter Hauptteil: silv. 1,6,51–92, Anrede an Domitian: silv. 1,6,35–50. Vgl. zur Gliederung Cancik, Statius, S. 101f. silv. 1,6,9–27. silv. 1,6,28–34. silv. 1,6,75–80. Rimell, Martial’s Rome, S. 140f. Hes. op. 111–120 ; vgl. zum menschlichen Lebenslauf im hesiodeischen Goldenen Zeitalter den Beitrag von Anja Wolkenhauer im vorliegenden Band: »Dehnung der Akmé, Eukrasie und Zeitlosigkeit: Entwürfe des guten Alterns im griechisch-römischen Zeitaltermythos«. Statt vieler zur Rolle von Freiheit und Zwang in den Saturnalien: Rimell, Martial’s Rome, S. 143f. und passim im Kapitel vier, das sich mit den Saturnalien in Martials Dichtung beschäftigt.

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(Geh und vergleiche jetzt die Jahrhunderte, Altertum, das Zeitalter des alten Jupiter und das Goldene Zeitalter! So freigiebig floß damals nicht der Wein, nicht stand damals die Saat noch spät im Jahr auf den Feldern.)

Saturn, der alte Jupiter, fällt also hinter den neuen Jupiter Domitian zurück. Ewigkeit: Ausdehnung in die Zukunft Nicht nur die Kontrolle der kalendarischen Gegenwart und das Übertreffen der mythischen Vergangenheit spielen in diesem Gedicht eine Rolle, sondern auch die Ausdehnung der gegenwärtigen Herrschaft in die Zukunft. Das Gedicht schließt – wie bereits die silva 1,1 – mit einer Prophezeiung (silv. 1,6,98–102): Quos ibit procul hic dies per annos! quam nullo sacer exolescet aevo! dum montes Latii paterque Thybris, dum stabit tua Roma dumque terris quod reddis Capitolium manebit. (Durch welche fernen Jahre wird dieser Tag andauern! Wie ein heiliger Tag wird er zu keiner Zeit vergehen, solange die Berge von Latium und Vater Tiber bestehen, solange dein Rom besteht und solange auf Erden das Capitol steht, das du uns wiedergibst.)

Das Fest des Domitian wird andauern und nicht vergehen, so wie sein Rom bestehen bleiben wird.44 Als dessen Symbol dient das Kapitol, das die Flavier in der Sprache der Panegyrik der Welt zurückgaben, da sie den Tempel des Jupiter Capitolinus restaurierten.45 Auch dieses Gedicht weist Bruchstellen auf, die zu alternativer Lektüre anregen könnten: So ist Saturn ein zwiespältiger Gott, der von seinem Sohn Jupiter grausam entmachtet wurde – er wird somit mit dynastischen Auseinandersetzungen in Verbindung gebracht. Das Ewigkeitssymbol, der Tempel des Jupiter Capitolinus, steht in einem Zyklus der Veränderung: 69 während des Bürgerkrieges zerstört, fiel er im Jahre 80 einem Feuer zum Opfer.46

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Die hier implizierte Voraussage einer ewigen Herrschaft wird in silv. 4,3,145–152 ausgeführt, siehe unten. S. Leberl, Domitian und die Dichter, S. 51 und S. 197 zur Rolle des restaurierten Tempels des Jupiter Capitolinus in der Herrschaftsdarstellung Domitians. Newlands, Poetics of Empire, S. 250 weist darauf hin, dass in einem spezifisch flavischen Kontext der Tempel des Jupiter Capitolinus weniger als ein Symbol für Unveränderlichkeit und Dauer als für Wechsel und Zeitlichkeit aufgefasst werden konnte.

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1.3 Via Domitiani Das dritte Gedicht des vierten Buches der Silvae, das letzte Gedicht, das in diesem Zusammenhang betrachtet wird, preist den Bau der Via Domitiani, die von Rom nach Neapel, der Heimatstadt des Statius, reichte.47 Der Bau dieser Straße ist eine Errungenschaft für die gesamte Reichsbevölkerung, die von Dauer sein soll. Die Straße des Domitian ist somit ein weiterer Ausdruck der Ewigkeit seiner Herrschaft. Nicht nur die Sprecher-persona und der Fluß Volturnus, dessen Bett im Zuge des Straßenbaus reguliert wurde, äußern in dieser silva das Herrscherlob, sondern abschließend auch die Prophetin Sybille.48 Die Prophetin hat gesehen, dass die Parzen dem Herrscher einen langen Lebensfaden sponnen (silv. 4,3,145-152; 160-163): vidi quam seriem merentis aevi pronectant tibi candidae sorores: magnus te manet ordo saeculorum, natis longior abnepotibusque annos perpetua geres iuventa quos fertur placidos adisse Nestor, quos Tithonia computat senectus et quantos ego Delium poposci. […] donec Troicus ignis et renatae Tarpeius pater intonabit aulae, haec donec via te regente terras annosa magis Appia senescat. (Ich habe gesehen, was für eine Reihe von verdienten Jahren dir die weißen Schwestern knüpfen. Eine lange Reihe von Generationen erwartet dich, länger wirst du leben, als deine Kinder und Enkel, in ewiger Jugend; friedliche Jahre wirst du überdauern, wie sie Nestor erlebt haben soll und welche das tithonische Greisenalter zählt und wie viel ich verlangt habe vom Delier. […] Solange das troische Feuer brennt, solange der tarpeische Vater in seinem wieder erstandenen Tempel donnert, solange diese Straße ein Alter erreicht, das sogar die Dauer der bejahrten Appia übertrifft, wirst du die Welt beherrschen.)

Die Figur, der diese Prophezeiung in den Mund gelegt wird, ist uralt. Sie erinnert in ihrer Rede an Domitian daran, dass sie schon Aeneas getroffen habe.49 Ovids Metamorphosen zufolge war sie damals bereits 700 Jahre alt

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Vgl. zu diesem Gedicht u. a. Cancik, Statius, S. 108–115; Newlands, Poetics of Empire, S. 284– 325; Leberl, Domitian und die Dichter, S. 199–215. Zur Gliederung des Gedichtes vgl. Cancik, Statius, S. 111. Herrscherlob des Sprechers: silv. 4,3,9–26, des Volturnus: silv. 4,3,72–94, der Sybille: silv. 4,3,114–163. silv. 4,3,130–133.

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und hatte noch 300 der ihr zugeteilten 1000 Jahre zu leben.50 Sie ist also über tausendjährig, wenn auch noch lebendig, eine Art von vergilischem Relikt.51 Aus ihrem Mund erhält die Verkündigung eines ebenso langen Lebens für Domitian insofern zusätzliche Bedeutung, wie Carole Newlands hervorhebt, als sie in der Formulierung ihrer Prophezeiung – magnus [...] ordo saeculorum – an eine andere ihrer Reden anknüpft, nämlich an den Anfang von Vergils vierter Ekloge, in der sie die Geburt eines wundersamen Kindes voraussagt, das Frieden und Wohlstand bringt.52 Sybille kündigt in ihrem Herrscherlob auf den flavischen Kaiser ein neues wunderbares Zeitalter an und korrigiert so ihre frühere Prophezeiung: In Domitians Herrschaft wird sich das Goldene Zeitalter zutragen. Dieses Goldene Zeitalter wird jedoch von einem ewig jugendlichen Herrscher und nicht von einem Greis, wie Tithonos oder Nestor es sind, regiert: annos perpetuos geres iuventa.53

Auch dieses Gedicht durchziehen möglicherweise Verwerfungslinien, wie Newlands herausarbeitet: Die ungeklärte Nachfolge des Domitian, dessen einziges Kind früh gestorben war, könnte dem Wunsch nach einem über tausendjährigen jugendlichen Leben eine gewisse Ironie unterlegen, da die Stabilität der Herrschaft in der Abwesenheit von Nachfolgern auf eine andere Weise nur schwer hätte gewährleistet werden können.54 Der poetische Ausblick in die Zukunft verknüpft die unbegrenzte Dauer der kaiserlichen Lebenszeit und Herrschaft mit der Dehnung einer bestimmten Altersstufe, der iuventus. Der Herrscher soll nie die Schwelle zur senectus überschreiten müssen, diese Alterszäsur ist für ihn aufgehoben. Die Topoi einer möglichst unendlich währenden kaiserlichen Lebenszeit und seiner Jugendlichkeit werden an vielen weiteren Stellen der Silvae des Statius, aber auch in den Epigrammen des Martial variiert.55 50 51 52 53 54 55

Ov. met. 14,130–153. Siehe dazu Newlands, Poetics of Empire, S. 311: »we must therefore imagine her as quite ancient, a Virgilian reconstruction existing in a time warp«. Verg. ecl. 4,4–5. Newlands, Poetics of Empire, S. 316. Vgl. dazu auch den Beitrag von Therese Fuhrer in diesem Band, S. 262. Stat. silv. 3,4,149. Newlands, Poetics of Empire, S. 317–319. Langes Leben des Kaisers: Stat. silv. 4,2,57–59: Di tibi (namque animas saepe exaudire minores / dicuntur) patriae bis terque exire senectae / annuerint fines. »Die Götter, denn man sagt, sie erhören oft auch kleine Geister – mögen dir gewähren, das Alter des Vaters zwei- und dreimal zu übertreffen.«. Mart. 4,1,1–4: Caesaris alma dies et luce sacratior illa / conscia Dictaeum qua tulit Ida Iovem / longa, precor, Pylioque veni numerosior aevo, / semper et hoc vultu vel meliore nite. »O du seliger Tag des Kaisers, heiliger als der noch, / da den diktäischen Zeus heimlich der Ida uns gab, / komm noch häufig, ich fleh, mehr Jahr, als der Pylier lebte, / zeig dies lichte Gesicht oder ein helleres noch!«. Textausgabe: M Valerius Martialis Epigrammata, hrsg. von

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Die lange, entgrenzte Lebenszeit des Herrschers wird in ein Netz von Bezügen zu anderen Zeitvorstellungen und -ordnungen eingebettet: Seine Sakralität legt mythische und göttliche Vergleichsmaßstäbe nahe. Der Lebenslauf des Kaisers wird in der Sprache der Panegyrik dem eutopischen Modell des Goldenen Zeitalters angepasst, einem in der Kaiserzeit gängigen: »the never-ending physical and mental freedoms of Golden Age man […] constitute the utopian imperial model for the pax romana«.56 Hesiod beschreibt den Verlauf des menschlichen Lebens im Goldenen Zeitalter folgendermaßen, wie Anja Wolkenhauer formuliert: In der idealen Welt, die Hesiod […] entwirft, gibt es keinen Alterungsprozess, keine Krankheit zum Tode. Alles, was man als Alter bezeichnen könnte, zeigt sich als Fortdauer der Lebensmitte, in der die Zeit angehalten zu sein scheint. Eine weitere Entwicklung findet von diesem Moment an nicht mehr statt; die Übergänge von der Lebensmitte zum Altern und zum Tod kündigen sich nicht an. […] Dadurch, dass keine zeitlichen Zäsuren zwischen Akmé und Tod gesetzt werden, erscheint diese Lebensphase wie zeitlos: Eine ewige Akmé ist bei Hesiod das Sinnbild glücklichsten Lebens […].57

Der panegyrische Topos einer dauerhaften iuventus, einer ewigen Akmé des Herrschers Domitian entspricht also einem zentralen Motiv des Goldenen Zeitalters in der für die griechisch-römischen Antike prägenden Darstellung des Hesiod. Die Herrschaft des Prinzeps dehnt sich nicht nur in die Zukunft aus, sondern knüpft auch an die mythische und historische Vergangenheit an, übertrifft sie jedoch. Die zyklische, kalendarische, das soziale Leben der Gegenwart organisierende Zeit wird durch ihn bestimmt. Die Monate tra-

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David R. Shakleton Bailey, München und Leipzig 2006, Nachdruck von 1990 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Übersetzung hier und im Folgenden nach: M. Valerius Martialis, Epigramme. Lateinisch-deutsch, hrsg. und übers. von Paul Barié und Winfried Schindler, Darmstadt 1999 (Sammlung Tusculum). Lange Dauer der Jugendlichkeit: Stat. silv. 3,4,99–102: At puer egregius tendens ad sidera palmas,/ ‘his mihi pro donis, hominum mitissime custos,/ si merui, longa dominum renovare iuventa / atque orbi servare velis ! »Aber der ausgezeichnete Knabe erhebt die Hände zum Himmel und betet: ›Für dieses Geschenk, mildester Wächter über die Menschen (Asclepius), mögest du dem Herrscher eine lange Zeit als junger Mann bescheren, wenn ich es verdient habe, und ihn dem Erdkreis lange erhalten!‹«. Das neue junge Rom: Mart. 5,7,1–4: Qualiter Assyrios renovant incendia nidos, / una decem quotiens saecula vixit avis, / taliter exuta est veterem nova Roma senectam / et sumpsit vultus praesidis ipsa sui. »Wie alle zehn Jahrhundert, sobald sie der Vogel durchlebt hat, / das assyrische Nest sich in dem Brande erneut, / so hat Rom nun verjüngt sein gealtertes Antlitz verloren, / und es nahm das Gesicht seines Gebieters nun an.« Rimell, Martial’s Rome, S. 144. Hes. op. 112–119. Anja Wolkenhauer, »Dehnung der Akmé, Eukrasie und Zeitlosigkeit: Entwürfe des guten Alterns im griechisch-römischen Zeitaltermythos«, in diesem Band, S. 221–235, hier S. 227.

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gen seinen Namen, die Feste fallen, wann er es will. Selbst das Fest des Saturn, traditionell herrschaftsfrei, kann er kontrollieren. Der Kaiser ist über Begrenzungen der Lebenszeit erhaben, er ist Herr über die Zeit, sei es die Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft.

2. Der Kaiser als Herrscher über die (Lebens)Zeit: Martials Liber Spectaculorum Welchen Einfluss konnte der Caesar, dessen eigenes Leben in der panegyrischen Dichtung gewissermaßen zeitlos zu sein scheint, in der Imagination der Dichter und realiter auf die Lebenszeit anderer ausüben? Der Kaiser kann nicht nur das Antlitz Roms mit seinen Bauten verjüngen und somit seinem eigenen Aussehen anpassen, sondern auch menschliches Leben verlängern, wie eine weitere silva des Statius zeigt: Eine der Parzen, Atropos, und die numina, der göttliche Wille des Herrschers über Latium, sollen dem Adressaten des Gedichtes ein langes Leben gewähren.58 Eine der wichtigsten Aufgaben des Prinzeps, der er im symbolischen Mikrokosmos des Imperium, dem Amphitheater, nachkommt, ist jedoch die Begrenzung der individuellen Lebenszeit anderer, das Setzen der letzten Zäsur, derjenigen des Todes. Die Hinrichtungen finden, in der Anwesenheit aller römischen Stände und mit Zuschauern aus dem ganzen römischen Reich, in dem von den Flaviern erbauten Kolossalbau, dem später so genannten Kolosseum statt, das – nach Martial – nicht nur die Weltwunder aller Zeiten übertrifft und ersetzt, sondern auch topographisch die Erinnerung an die urbane Repräsentation des Nero auslöscht, der an dieser Stelle der Stadt seine domus aurea errichtet hatte: damnatio memoriae.59 Die Inszenierung dieser Hinrichtungen ist eine symbolisch hoch aufgeladene Form der Herrscherrepräsentation. Der Akt der Begrenzung der menschlichen Lebenszeit ist in der Darstellung des Martial eingebunden in ein komplexes Gewebe von mythischen und historischen Zeitstrukturen. Die vom Kaiser inszenierte Gegenwart wird in Relation zu anderen Zeiten gesetzt und durch die epi58

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Nova Roma: Mart. 5,7,3f.. Stat. silv. 4,4,56f.: at tu, si longi cursum dabit Atropos aevi / (detque precor Latiique ducis sic numina pergant, / […]). »Wenn Atropos dir einen langen Verlauf von Jahren zubilligt (und das soll sie tun, darum bitte ich, und der göttliche Wille des Führers von Latium, [...])«. Das Kolosseum ersetzt und übertrifft die Weltwunder: Mart. spect. 1; Es überlagert topographisch die urbane Repräsentation des Nero: Mart. spect. 2. Vgl. jeweils den ausführlichen Kommentar von Coleman, Liber Spectaculorum, S. 1–13 zu spect. 1; S. 14–36 zu spect. 2.

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grammatische Dichtung – die ihren Ursprung unter anderem in Grabinschriften hat – perpetuiert und für die Ewigkeit festgehalten.60 Wie genau wird nun in Martials Epigrammen aus dem Buch der Spiele der panegyrische Topos variiert, der uns bereits in den Silvae des Statius begegnet ist, nämlich dass die Zeit des herrschenden Prinzeps die früheren Zeiten übertrifft?61 Der Liber spectaculorum versammelt – wie anfänglich gesagt – Gedichte, die zum Teil bereits unter Titus verfasst wurden, aus Anlass der Eröffnung des Kolosseums, die der Kaiser mit mehreren Tagen währenden Spielen feierte. Zu den spectacula, die während dieser Eröffnungsfeierlichkeiten, aber auch sonst bei Spielen aufgeführt wurden, gehören neben Naumachien und Tierhetzen auch Gladiatorenkämpfe und Hinrichtungen ad bestias. Die Dichter-persona berichtet über diese vom Kaiser ausgerichteten Spiele aus der Perspektive eines begeisterten Zuschauers. Die vom Caesar in diesen spectacula inszenierte Gegenwart übertrifft – so der Epigrammatiker – schon allein aufgrund des Veranstaltungsortes die unmittelbare Vergangenheit, nämlich den Prinzipat des letzten julischclaudischen Herrschers: Ersetzte doch das Kolosseum die Privatresidenz des Nero und gab Rom sich selbst, also seiner Bevölkerung, zurück (spect. 2, 11f.): reddita Roma sibi est et sunt te praeside, Caesar, deliciae populi, quae fuerant domini. (Rom ist sich selbst wiedergegeben worden und unter Deiner Führung, Caesar, hat jetzt das Volk das Vergnügen, das zuvor der Herrscher gehabt hatte.62)

Nicht nur die unmittelbare historisch-politische Vergangenheit, sondern auch der in diesem Buch omnipräsente Mythos wird von der Gegenwart überwunden. Die in Martials Epigrammen geschilderten Hinrichtungen werden – nach Coleman auch realiter – als Inszenierungen von mythologischen Erzählungen aufgeführt.63 Der Mythos wird auf diese Weise nicht 60

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Die Formulierung spielt auf den Titel eines Aufsatzes von Kathleen Coleman an: Kathleen Coleman, »The Liber spectaculorum: Perpetuating the Ephemeral«, in: Farouk Grewing (Hrsg.), Toto Notus in Orbe: Perspektiven der Martial-Interpretation, Stuttgart (Palingenesia 65), S. 15–36. Zum Ursprung der epigrammatischen Dichtung als Aufschrift auf Grabmälern und Weihgeschenken vgl. statt vieler: Holzberg, Martial, S. 19–23. Zum Liber Spectaculorum umfassend der Kommentar mit Einführung, Edition und Übersetzung: Coleman, Liber Spectaculorum; zur Herrscherpanegyrik im Liber Spectaculorum siehe u. a. Sven Lorenz, Erotik und Panegyrik, S. 55–82. Textausgabe des Liber Spectaculorum hier und im Folgenden: Coleman, Liber Spectaculorum. Wenn nicht anders angegeben, eigene Übersetzung. Vgl. Kathleen M. Coleman, »Fatal Charades: Roman Executions Staged as Mythological Enactments«, in: Journal of Roman Studies, 80 (1990), S. 44–73. Vgl. auch: Dorothee Elm von der Osten, »Vidimus, accepit fabula prisca fidem. Zur Theatralisierung mythologischer Erzäh-

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Dorothee Elm

nur realisiert und bestätigt, sondern seine sichtbare Performanz bei den Hinrichtungen in der Arena übertrifft ihn auch: »Die Wirklichkeit wird zum wahren Mythos stilisiert«, wie bereits Otto Weinreich formulierte.64 Ein Beispiel für diese Strategie soll hier genügen (spect. 6): Iunctam Pasiphaen Dictaeo credite tauro: vidimus, accepit fabula prisca fidem. ne se miretur, Caesar, longaeva Vetustas : quidquid Fama canit, praestat harena tibi. (Vermählt hat sich Pasiphaë – glaubt es! – mit dem diktäischen Stier: Wir sahen es, die altehrwürdige Geschichte fand Glauben. Nicht mehr soll sich selbst bewundern, Caesar, die graue Vorzeit: Was auch immer die Sage singt, bietet die Arena dir.65)

Der weit verbreitete Mythos der Pasiphaë, die ein unnatürliches Begehren für ein Rind entwickelt hatte, wird hier als Skript für die Exekution einer Frau verwendet, die in der Arena von einem Bullen besprungen wird und schließlich zu Tode kommt.66 Die halbgöttliche Inkarnation der Vergangenheit, die longaeva Vetustas, wird, wie bereits in Statius’ silva über die Saturnalienfeier,67 dazu aufgefordert, sich selbst mit der Gegenwart zu deren Gunsten zu vergleichen und die Selbstverherrlichung zu beenden.68 Die Arena übertrifft den Mythos. Die sichtbare Reifizierung des Mythos ersetzt ihn geradezu, er wird entwertet und zur bloßen fama, zum Gerücht. In den Worten von Otto Weinreich: Die Arena ist des Kaisers, was da geschieht, geschieht ihm zu Ehren. Den mythischen Vorgang konnte man bezweifeln, den vor Augen gestellten unmöglich. Und so gilt die kaiserliche Welt mehr als die mythische, Götter(wunder) werden in Schatten gestellt durch die miracula Caesaris . 6 9

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lungen und religiöser Riten in der römischen Kaiserzeit.«, in: Richard Faber und Susanne Lanwerd (Hrsg.): Aspekte der Religionswissenschaft, Würzburg 2009, S. 63–75. Otto Weinreich, Studien zu Martial. Literarhistorische und religionsgeschichtliche Untersuchungen, Stuttgart 1928 (Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft), S. 30. Übersetzung nach: M. Valerius Martialis. Epigramme. Lat.-dt. Ausgewählt, übers. und hrsg. von Niklas Holzberg, Stuttgart 2008. Zur Verbreitung des Mythos und zu den aufführungspraktischen Hintergründen siehe den Kommentar von Coleman zu diesem Gedicht, Coleman, Liber Spectaculorum, S. 62–68. Diskussion des Gedichtes auch bei Weinreich, Studien zu Martial, S. 33–34; Lorenz, Erotik und Panegyrik, S. 70–72. Stat. silv. 1,6,39–42. Vgl. auch das abschließende Distichon von Mart. spect. 8: prisca Fides taceat: nam post tua munera, Caesar, / haec iam feminea vidimus acta manu. »Die altehrwürdige Zeugin soll schweigen: denn jetzt da wir deine Spiele, Caesar, erlebt haben, haben wir gesehen, wie diese Taten von der Hand einer Frau ausgeführt wurden.« Weinreich, Studien zu Martial, S. 30. Vgl. dazu auch Fitzgerald, Martial, S. 49, der darauf hinweist, wie bereits im Zuge des Gedichtes eine begriffliche Abwertung der Vergangenheit vorgenommen wird, zunächst ist sie noch altehrwürdig, prisca, um dann als longaeva vetustas möglicherweise bereits eine Konnotation von Verfall zu erhalten: »Antiquity

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Das Übertreffen, ja Entwerten der Vergangenheit findet sich nicht nur im Verhältnis zu Erzählungen der griechischen Mythologie, sondern auch zu weit zurückliegenden historischen Zeiten, wenn eine legendäre Figur der römischen Vergangenheit die Vorlage für die Inszenierung der Hinrichtung bietet. Der Räuberhauptmann Laureolus, dessen Schicksal auch in einem Mimus auf der Bühne aufgeführt wurde, ist der Legende nach durch Kreuzigung hingerichtet worden.70 Diese Erzählung dient in der Arena als Modell für eine Hinrichtung ad bestias; der an das Kreuz geheftete Verbrecher wird von einem schottischen Bären angefallen und kommt auf diese Weise blutig zu Tode. Auch dieses Epigramm schließt mit einer Antithese, die die Gegenwart des Amphitheaters der Legende gegenüberstellt (spect. 9,11f.): vicerat antiquae sceleratus crimina famae, in quo, quae fuerat fabula, poena fuit.

(Dieser Verbrecher hatte die Untaten des alten Mythos übertroffen; in seinem Fall war, was bisher nur als Legende existierte, die Strafe.)

Ein Triptychon von weiteren Epigrammen, das die kaiserliche Tierhetze auf eine schwangere Sau schildert, variiert die paradoxe Koexistenz von Tod und Geburt.71 In dem Moment, in dem die Sau von einem Speer tödlich getroffen wird, kann eines ihrer Jungen wie mit einem Kaiserschnitt auf die Welt kommen. Auf diese Weise wird der Tod in der Arena mit einem wundersamen Neuanfang verknüpft, die Überwindung der Vergangenheit verheißt neues Leben für die Zukunft. Mit dem Setzen der letzten Zäsur beendet der Kaiser nicht nur individuelle Lebenszeit. In der Beschreibung des Martial ist weniger der Kriminelle das Ziel der Grausamkeiten – dessen Taten haben zwar, wie im Falle des Laureolus, einen Bezug zum Mythos seiner Hinrichtung, aber das ist zweitrangig. Exekutiert wird vielmehr die Vergangenheit selbst, sei sie historisch, mythisch oder legendär – die Vergangenheit als unveränderliche und unübertroffene, als Quelle der Autorität und Objekt der Verehrung, wie Fitzgerald formuliert.72 Sie wird gewissermaßen einer damnatio memoriae unterzogen.

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becomes a superannuated Narcissus, still laboring under the delusion that it is worthy of its own admiration, until Caesar, firmly wedged in the middle of the line (3), breaks in.« Vgl. zum Mimus und zu den Hintergründen dieses Gedichtes den Kommentar von Kathleen Coleman, Coleman, Liber Spectaculorum, S. 82–96. spect. 14–16. Fitzgerald, Martial, S. 53: »The real target of these acts of violence, as Martial represents them, is not the criminal but the past itself, whether historical, mythical, or legendary – the past as something that is done, unchangeable and unsurpassable, repository of authority and exemplarity and object of awe.«

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Diese Gedichte sind unter der Herrschaft des Titus und zu Beginn derjenigen des Domitian entstanden. Die Flavier lösten erstmals die julisch-claudische Dynastie ab. So sehr sie auf Augustus als Modell anspielten, so wichtig war es doch zu betonen, dass sie einen neuen Anfang wagten und anders waren – die Epigramme spiegeln diese Zäsur wider.

3. Der Tod des Kaisers und eine Zäsur im Werk des Dichters: Martials zehntes Epigrammbuch Das entgrenzte Leben des Kaisers erwies sich schließlich als endlich, im Jahre 96 wurde Domitian ermordet und seine Herrschaft unterlag der damnatio memoriae. Mit seinem Tod endete auch die flavische Dynastie – nach der epigrammatisch kurzen Regierung des Nerva folgte Trajan auf den Thron. Diese historische Zäsur wirkte sich auch auf Martial aus, der sein zehntes Buch, dessen erste Fassung noch unter Domitian geschrieben worden war, nun einer erneuten Lektüre unterzog und überarbeitete, indem er unter anderem den ermordeten Kaiser aus dem Buch eradierte.73 Das zehnte Buch wird auf diese Weise zu einer ›faultline‹, einer Zäsur innerhalb des gesamten Oeuvre: Es lädt zur Relektüre unter anderen Vorzeichen, zur Zurück- und Vorausschau ein. Die in diesem Buch gesammelten Epigramme kommen, so zeigt Victoria Rimell, immer wieder auf das Vergehen der menschlichen Lebenszeit zurück.74 Viele Geburtstage werden gefeiert – diese Alterszäsuren geben Anlass darüber nachzudenken, was es bedeutet, sich dem Tod zu nähern. Viele weitere Epigramme, über deren traditionelle Funktion als Grabinschriften reflektiert wird, behandeln die Tode verschiedener Bekannter: verfrühte, lang erwartete, vereitelte, geplante und imaginierte Tode.75 Auch die persona Martial selbst hält an einer Zäsur inne und blickt zurück und nach vorn. Das Gedicht auf seinen 57. Geburtstag bildet ein Diptychon mit einem Geburtstagsgedicht für einen Antoninus Primus, der spiegelbildliche 75 Jahre erreicht hat (Mart. 10,23 und 10,24): 73

74 75

So deutet es Rimell, Martial’s Rome, S. 65–67. Vgl. Mart. 10,72,3–4: dicturus dominum deumque non sum. / iam non est locus hac in urbe vobis; »Ich werde nicht von Herrscher und Gott sprechen, noch ist in dieser Stadt kein Raum für euch.« Vgl. den Abschnitt zu Buch 10, Rimell, Martial’s Rome, S. 65–82. Geburtstage: u. a. 10,23; 10,24; 10,27; 10,87. Epitaphien:10,26; 10,63; 10,50; 10,61; 10,67; 10,71; verfrühte, lang erwartete, vereitelte, geplante und imaginierte Tode: 10,50; 10,61; 10,67; 10,97; 10,24; 10,5; 10,101; komische Tode: 10,16; 10,43; 10,77. Siehe Rimell, Martial’s Rome, S. 66.

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Iam numerat placido felix Antonius aevo quindecies actas Primus Olympiadas praeteritosque dies et tutos respicit annos nec metuit Lethes iam propioris aquas. nulla recordanti lux est ingrata gravisque; nulla fuit cuius non meminisse velit. ampliat aetatis spatium sibi vir bonus: hoc est vivere bis, vita posse priore frui. (Schon zählt, glücklich über sein ruhiges Alter, Antonius Primus fünfzehn gelebte Olympiaden und blickt auf ihm sichere vergangene Tage und Jahre zurück und fürchtet nicht die Wasser der schon ziemlich nahen Lethe. Kein Tag ist ihm in seiner Erinnerung undankbar und schwer, keinen hat es gegeben, den er sich nicht im Gedächtnis halten wollte. Ein rechtschaffener Mann verlängert sich selbst die Spanne des Lebens. Dies heißt zweimal leben, das frühere Leben genießen zu können.76) Natales mihi Martiae Kalendae, lux formosior omnibus Kalendis, qua mittunt mihi munus et puellae, quinquagensima liba septimamque vestris addimus hanc focis acerram. his vos, si tamen expedit roganti, annos addite bis precor novenos, ut nondum nimia piger senecta, sed vitae tribus areis peractis lucos Elysiae petam puellae. post hunc Nestora nec diem rogabo. (O mein Geburtstag, o Kalenden des März; ein leuchtenderer und schönerer Tag als alle anderen Kalenden. An ihm schickt man mir und dem Mädchen Geschenke. Zum siebenundfünfzigsten Mal bringe ich Geburtstagskuchen und diese Weihrauchspenden euren Opferherden dar. Gebt zu diesen Jahren, doch nur wenn es dem Bittenden zuträglich ist, zweimal, bitte, jeweils neun, so dass ich – noch nicht durch allzu fortgeschrittenes Alter träge, sondern nach Beendigung der drei Laufrunden des Lebens – die Haine des elysischen Mädchens aufsuchen kann. Nach diesem Nestoralter werde ich keinen Tag mehr erbitten.77)

Textausgabe: M Valerius Martialis Epigrammata, hrsg. von David R. Shakleton Bailey, München und Leipzig 2006, Nachdruck von 1990 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Übersetzung nach: Peter Prestel, in: Marcus Valerius Martialis Epigrammaton liber decimus. Das zehnte Epigrammbuch. Text, Übersetzung, Interpretation. Mit einer Einleitung, Martial-Bibliographie und einem rezeptionsgeschichtlichen Anhang, hrsg. von Gregor Damschen und Andreas Hell, Frankfurt a. M. und New York 2004 (Studien zur klassischen Philologie 148), S. 110. Text: Christian R. Raschle, in: Das zehnte Epigrammbuch, S. 113. Übersetzung: Christian R. Raschle, ebd.

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Der Ältere blickt glücklich (felix) auf sein Leben zurück.78 Das erste Distichon ordnet die bereits gelebte Lebenszeit nach Olympiaden und weist sie als gleichmäßig gegliedert aus: quindecies Olympiadas. Die Olympiaden sind kein genuin römisches Zeitmaß – Ereignisse wurden im römischen Kontext mit den Namen der Konsuln des Jahres verknüpft –, sondern ein panhellenisches, mit dessen Hilfe griechische und römische Chronologien miteinander synchronisiert werden konnten.79 Primus’ Lebenszeit erscheint so als in einer größeren, gewissermaßen apolitischen Ordnung aufgehoben, die lokale Zeitrechnungen übergreift und miteinander harmonisiert.80 Eine Aufgliederung der Zeit in Tage und Jahre (dies/annos) im folgenden Distichon bewirkt eine Ausdehnung der Vergangenheit im Angesicht einer kurzen Zukunft. Im dritten Distichon wird schließlich jeder Tag für sich betrachtet und am Ende des Gedichtes wird in einer rückläufigen Bewegung die vergangene Lebenszeit durch die Freuden der Erinnerung verdoppelt. Im Alter ist Erinnerung Leben. Für den 57-jährigen Martial hingegen, dessen Geburtstag an den Kalenden des März zugleich auch der Festtag der Geburtsgöttin Juno Lucina ist, ist alles auf die Zukunft ausgerichtet.81 Seine Lebenszeit ist nicht linear und gleichmäßig gegliedert, sondern zyklisch. Damit der Dichter mit 75 – dem Alter des Primus – die drei Stadien des Lebens zu je 25 Jahren (pueritia, iuventus und senectus) beschließen kann, wünscht er sich weitere zweimal neun Jahre. Er befindet sich also noch am Anfang einer neuen Runde auf der Rennbahn (area) des Lebens. Die Zäsur zwischen iuventus und senectus, die für den Kaiser der Panegyrik aufgehoben zu sein schien, ist nach dieser Einteilung bereits überwunden. Der Beginn der senectus gibt die Gelegenheit nach vorne zu schauen und sich neu zu orientieren – ebenso wie der Tod des Prinzeps, so könnte man meinen. Die spiegelbildlich angeordneten Gedichte stehen für Rückblick und Neuanfang, beide Männer verlängern ihre Lebenszeit, der eine in der Erinnerung, der andere für die Zukunft. Keiner von beiden wünscht jedoch eine maßlos entgrenzte Lebenszeit, 75 Jahre reichen aus. Diese Spannung zwischen Rückschau und Erneuerung durchzieht das gesamte zehnte Buch – es verwundert daher nicht, dass auch der 78 79

80 81

Vgl. zur Interpretation des Gedichts den Kommentar von Prestel, in: Das zehnte Epigrammbuch, S. 111f. Vgl. dazu statt vieler Denis Feeney’s Kapitel mit dem Titel »Synchronizing Times« I und II in seiner Monographie: Caesar’s Calendar. Ancient Time and the Beginnings of History, Berkeley u. a. 2007 (Sather Classical Lectures 65), S. 7–67. Ich danke Anja Wolkenhauer für den Hinweis. Vgl. zur Interpretation auch den Kommentar zu diesem Epigramm von Raschle, in: Das zehnte Epigrammbuch, S. 114f.

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zweigesichtige Janus, die Verkörperung der Liminalität, in diesem Buch seinen Auftritt hat (10,28).82 Die Panegyrik in den Silvae des Statius und den Epigrammen des Martial bietet folgendes Bild von der Lebenszeit des Herrschers und dem Geflecht an Zeitbezügen, mit denen sie verknüpft ist: Das entgrenzte lange Leben des Kaisers in ewiger Jugend impliziert eine lange Herrschaft für die Zukunft. Seine Lebenszeit wird in Relation zu mythischen und historischen Vergangenheiten gesetzt, die sie übertrifft. Der Prinzeps herrscht über die soziale, kalendarische Zeit seiner Gegenwart. Die numina des Caesar können die Lebenszeit von Menschen verlängern. Er setzt jedoch auch mit hohem inszenatorischem Aufwand Zäsuren, die individuelle Lebenszeit beenden. Mit den Hinrichtungen, die als Realisierung des Mythos in Szene gesetzt werden, setzt er aber vor allem eine Zäsur, die die Gegenwart der flavischen Herrschaft von Vergangenheiten abgrenzt und ihnen ihre Aura nimmt. Das durch die Epigramme perpetuierte Ephemere, das Jetzt, ist besser als die longaeva Vetustas. Der Tod des endlichen Kaisers wiederum bewirkt einen historischpolitischen Einschnitt, der dazu führt, dass ein ganzes Buch der Epigramme Martials kritisch revidiert und thematisch von der Vergänglichkeit der Zeit geprägt wird. Die Dichter-persona scheint ihre eigene Lebensphase als Zäsur und ›Schwellenjahr‹ zu empfinden.

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Literatur Quellen M. Valerius Martialis Epigrammata, hrsg. von David R. Shakleton Bailey, München und Leipzig 2006, Nachdruck von 1990 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). M. Valerius Martialis, Epigramme. Lateinisch-deutsch, hrsg. und übers. von Paul Barié und Winfried Schindler, Darmstadt 1999 (Sammlung Tusculum). M. Valerius Martialis, Epigramme. Lat.-dt. Ausgewählt, übers. und hrsg. von Niklas Holzberg, Stuttgart 2008. P. Papini Stati Silvae, hrsg. von Edward Courtney, Oxford 1992 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). Statius, Silvae. Das lyrische Werk in neuer Übersetzung, übers. und erl. von Heinz Wißmüller, Neustadt/Aisch 1990.

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Dorothee Elm

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THERESE FUHRER

Erneuerung im Alter: Augustins aetates-Lehre The idea that the world and human history from the creation to the present have passed through different stages of development and continue to do so appears in ancient literature in the comparison of the history of the world and of humanity (or of a particular people) with the human passage through the stages of life from birth to old age. This paper addresses the question of how and with which interpretative goals this last phase – the phase of life of the elderly person, bringing with it a loss of strength or even decline and approaching death – was made a fruitful metaphor for ancient intrepretations of history and the world. At the heart of the investigation is Augustine’s doctrine of aetates, which equated the six ages of the world with the six days of creation. With Christ’s birth, humanity has reached old age, and in the same moment the sixth day of creation has dawned, the day on which man was created. Now Christians have the opportunity to become ›new men‹ and to be ›created anew‹. For them, old age does not mean decline, but the chance of renewal.

Bereits im Begriff der Antike oder des ›Altertums‹ wird ein Bedürfnis der Menschen deutlich, die eigene Gegenwart mit der Vergangenheit in Relation zu setzen und durch die Gliederung der vergangenen Zeit Ordnung in die Geschichte zu bringen. Altertum, Mittelalter, Neuzeit und Moderne sind seit dem 19. Jahrhundert gängige Epochenbegriffe. Sie sind aus verschiedenen Gründen nicht unumstritten, die ihnen zugrunde liegende Vorstellung der Gegenwart als der jüngsten Zeit und der Anfänge der sogenannten abendländischen Kultur als der alten oder archaischen Zeit steht jedoch nie zur Diskussion.1 Bis ins 19. Jahrhundert war neben diesem Epochenschema, das in der Regel auf der bereits antiken Dreiteilung alt – mittel – neu basiert,2 noch ein weiteres Denkmodell gebräuchlich: Die Geschichte der Menschheit, eines Volkes, einer Stadt oder einer bestimmten Kultur wird verglichen mit dem Leben eines heranwachsenden und alternden Menschen, mit dem Durchgang eines einzelnen Menschen durch die Altersstufen von der Ge1

2

Vgl. hierzu Peter Seele, Philosophie der Epochenschwelle. Augustin zwischen Antike und Mittelalter, Berlin und New York 2008, S. 1–8 und 259f. Zu diesem antiken Einteilungsschema vgl. Heinz-Günther Nesselrath, Die attische mittlere Komödie. Ihre Stellung in der antiken Literaturkritik und Literaturgeschichte, Berlin und New York 1990, S. 1–28.

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Therese Fuhrer

burt bis ins Alter. Das Denkmodell trägt der Vorstellung Rechnung, dass sich die Menschheit, ein Volk, eine Kultur entwickelt, dass sie von einem primitiven Urzustand zur Blüte und Reife gelangt und dann alt wird. Die Metaphern der ›Wiege‹ der Menschheit oder einer Kultur, der ›Blüte‹- oder ›Verfalls‹-Zeit dienen auch noch in der modernen Wissenschaftssprache der Markierung von Zeitstellungen, denen innerhalb eines linear konstruierten Geschichtsbildes eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird.3 Diese Metaphorik der Altersstufen der Welt oder auch einzelner Völker oder Kulturen hat ihre Wurzeln oder zumindest prominente Vorbilder in der antiken Literatur; sie wurde insbesondere in der römischen Historiographie immer wieder als Schema der Periodisierung der Vergangenheit in der Relation zur Gegenwart herangezogen. Der Metaphernkomplex der Altersstufen blieb im ganzen Mittelalter als Gliederungsprinzip der Geschichte gebräuchlich. Neben der Funktion als Periodisierungsschema war der Lebensaltervergleich4 auch immer ein Instrument der Geschichtsdeutung; denn im Gegensatz zum Drei- bzw. Vierteilungsschema alt – mittel – neu (– modern), das metaphernlos und wertneutral ist, legen die Bilder der Wiege, der Blüte, der Reife und des Greisenalters die Vorstellung von Entwicklung, Höhepunkt und Verfall nahe. Hierin zeigt sich auch die Problematik des Vergleichs der Geschichte mit den Altersstufen eines menschlichen Individuums: Wenn der Mensch die Stufe des Greisenalters (der senectus) erreicht hat, ist er zwar wohl erfahren und vielleicht weise, aber er hat den Zenit seiner Vitalität überschritten und geht dem natürlichen biologischen Ende entgegen. Diese letzte Phase bietet somit – mehr als die anderen Altersstufen – vielfältige Möglichkeiten sowohl der positiven wie auch der negativen Bewertung. Tatsächlich wird der Lebensaltervergleich als Gliederungsschema in der antiken (paganen und christlichen) Geschichtsschreibung und -betrachtung nur dann angewendet, wenn ein hermeneutisches Interesse an dieser letzten Altersstufe besteht. In den folgenden Ausführungen soll daher der Frage nachgegangen werden, wie und mit welchen Deutungsabsichten gerade diese letzte Phase des menschlichen Individuums, die Lebensphase des alternden Menschen, die ein Nachlassen der Kräfte oder sogar Verfall und nahen Tod impliziert, als Metapher für die antike Geschichts- und Weltdeutung fruchtbar gemacht wurde. Dabei soll ein Beispiel aus der christlichen Literatur im 3

4

Dazu Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historischpolitischen Denken, München 1978, S. 37–40. Der Begriff wurde geprägt von Reinhard Häussler, »Vom Ursprung und Wandel des Lebensaltervergleichs«, in: Hermes, 92 (1964), S. 313–341; vgl. dens., »Neues zum spätrömischen Lebensaltervergleich«, in: Actes du VIIe congrès de la F.I.E.C., Bd. 2, Budapest 1983, S. 183–191; Giovanbattista Galdi, »Der Lebensaltervergleich. Neue Beobachtungen zu einem alten Bild«, in: Hermes, 137 (2009), S. 403. Zum Thema vgl. auch Jose Miguel AlonsoNuñéz, The ages of Rome, Amsterdam 1982.

Augustins aetates-Lehre

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Zentrum stehen, das besonders wirkmächtig geworden ist, nämlich das ausgesprochen differenzierte Weltaltermodell Augustins. Um das hermeneutische Potenzial von Augustins Konstruktion herauszustellen, muss zunächst kurz die Vorgeschichte dieses Metaphernkomplexes aufgerollt werden. Beginnen wir mit einem Seitenblick auf ein anderes Zeitgliederungsschema, das ebenfalls mit der Vorstellung von Weltaltern operiert, diese jedoch nicht mit den Altersstufen des Menschen vergleicht, sondern nach mythischen Epochen oder Menschengeschlechtern benennt: Hesiod und nach ihm am prominentesten Arat und Ovid referieren in ihren Darstellungen der Menschheitsgeschichte den Mythos von aufeinander folgenden Zeitaltern, die mit je verschiedenen Metallen charakterisiert und bewertet werden.5 Am Anfang steht das paradiesische Goldene Zeitalter, es folgen Silber, Erz und Eisen. Der Wert der Metalle impliziert eine pessimistische Entwicklung der Lebensqualität. Hier wird ein Geschichtsbild entwickelt, das vier Zeitepochen in ständiger Abwärtsbewegung umfasst, es ist ein Bild des ständigen Niedergangs bis zur Gegenwart.6 Im Gegensatz zum Lebensaltervergleich impliziert der Weltaltermythos also den kontinuierlichen Abstieg vom goldenen Höhepunkt zum eisenharten Tiefpunkt ohne die Vorstellung einer aufsteigenden Entwicklung von der Wiege und den ›Kinderschuhen‹ zu Blüte und Reife, auf die dann erst der Verfall folgt. Beide Systeme sind aber doch flexibel genug, um auch anders interpretiert zu werden: Im Abstieg vom goldenen zum eisernen Zeitalter kann zugleich auch ein Aufstieg zu bestimmten kulturellen Errungenschaften gesehen werden, indem der forschende und fragende Intellekt der aus dem Paradies entlassenen Menschen die kulturelle Entwicklung immer weiter treibt und technische Fortschritte ermöglicht.7 Derselbe Weltaltermythos lässt sich auch in einem weiteren Sinn für ein optimistisches Weltbild instrumentalisieren, indem eine bestimmte Zeit als Wiederkehr des Goldenen Zeitalters prophezeit oder als gegenwärtig propagiert wird. So verkündet Vergils vierte Ekloge, dass das Eiserne Zeitalter mit seinen Entartungen in der Bürgerkriegszeit durch ein neues Goldenes Zeitalter abgelöst werde.8 Diese Vorstellung setzt ein zyklisches Ge5

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8

Dazu Bodo Gatz, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967, S. 144ff. Hesiod schaltet zwischen ehernem und eisernem Zeitalter zusätzlich die Heroenzeit ein; hier wird also der sonst kontinuierliche Abstieg durch einen ›Aufschwung‹ unterbrochen. Zu den unterschiedlichen Typen von Aufstiegs-, Fortschritts- und Verfallsschemata vgl. die Überlegungen von Friedbert Roser, »Die vier Weltalter in Ovids ›Metamorphosen‹ (Met. I 89–150)«, in: Der altsprachliche Unterricht, 13,5 (1970), S. 54–77. Dazu Klaus Kubusch, Aurea saecula: Mythos und Geschichte. Untersuchung eines Motivs in der antiken Literatur bis Ovid, Frankfurt a. M. u. a. 1986, S. 91ff.; Gatz, Weltalter, S. 87–103. – Au-

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schichtsbild voraus, in dem sich bestimmte Ereignisse wiederholen können, allerdings nicht im Sinn eines gleichmäßigen Kreislaufs mit kontinuierlich aufsteigender Linie nach dem Tiefpunkt im Eisernen Zeitalter; vielmehr setzt das Goldene danach sogleich ein.9 Dabei wird die Ankündigung der Rückkehr des Goldenen Zeitalters mit der Geburt eines Kindes (eines puer) in Verbindung gebracht, das mit seinem Heranwachsen zum Jüngling und zum Mann verschiedene Aspekte einer Goldenen Zeit zur Erscheinung bringen werde. Die Lebensalteranalogie wird so in den Weltaltermythos integriert. Die letzte Stufe, die senectus, bleibt allerdings ausgeklammert: Das hier prophezeite Goldene Zeitalter, der Friede nach den Bürgerkriegen, bleibt nicht nur ewig bestehen, sondern kennt auch keine Verfallszeit. Der puer wird nicht älter als ein iuvenis. Der Lebensaltervergleich hat in der antiken Geschichtsdeutung die größere Verbreitung gefunden als der Weltaltermythos, nicht zuletzt wohl deshalb, weil die Altersstufen im Gegensatz zu den Metallen unterschiedlich konnotiert werden können und damit eine variable Wertung zulassen. Der Anwendungsbereich dieses biomorphen Gliederungsschemas ist zum einen die profane (und pagane) römische Geschichte, zum anderen die biblische Geschichte und – aus christlicher Perspektive – damit die Geschichte der Menschheit schlechthin. Die Altersstufen waren in der römischen sozialen und juristischen Praxis wichtige Periodisierungselemente, an denen die Zulassung zu Ämtern und Militärdienst sowie die Heiratsfähigkeit festgemacht wurden. Die Grenzen variieren zwar je nach Zeitstellung und Kultur, können aber auf bis zu sechs Perioden festgelegt werden:10 1–7 Jahre 7–14 J. 14–25/30 J. 25/30–45 J.

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Kleinkindalter (infantia) Knabenalter (pueritia) Jünglingsalter (adolescentia) Alter des jungen Mannes (iuventus)

gustus hat diese Vorstellung 20 Jahre später in sein Kultur- und Bauprogramm aufgenommen; dazu Paul Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, München 1987, 52009, S. 171ff. So Gatz, Weltalter, S. 99; zu den unterschiedlichen Deutungen vgl. Robin G. M. Nisbet, »Vergils’s Forth Eclogue: Easterners and Westerners«, in: Bulletin of the Institute for the Classical Studies, 25 (1978), S. 59–78, abgedruckt in: Katharina Volk (Hrsg.), Oxford Readings in Vergil’s Eclogues, Oxford, S. 155–188, bes. 159f. Die Altersgrenzen werden in den Quellen und dementsprechend in der Forschungsliteratur unterschiedlich festgesetzt; dies soll jedoch im Folgenden keine Rolle spielen. Vgl. dazu Wieslaw Suder, »On Age Classification in Roman Imperial Literature«, in: Classical Bulletin, 55 (1978), S. 5–9; Johannes Christes / Richard Klein / Christoph Lüth (Hrsg.), Handbuch der Bildung und Erziehung in der Antike, Darmstadt 2006, S. 74f., 86f.; Elisabeth HerrmannOtto, »Die Ambivalenz des Alters. Gesellschaftliche Stellung und politischer Einfluss der Alten in der Antike«, in: E. H.-O. (Hrsg.), Die Kultur des Alterns von der Antike bis zur Gegenwart, St. Ingbert 2004, S. 3–18.

Augustins aetates-Lehre

45–60 J. nach 60

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reiferes Mannesalter (aetas senioris/senectus) Greisenalter (senectus)

Die drei ersten Altersstufen werden als Vorstufen zum Mannesalter, der iuventus, verstanden, auf die sogleich die Phase der senectus folgt, die ihrerseits in zwei Phasen unterteilt wird. Nach 45 gehört man zu den »Älteren« (seniores); in der Regel wird bereits diese Altersstufe als senectus oder auch als senioris aetas bezeichnet. Nach 60 ist man definitiv im Greisenalter. In jedem Fall aber wird die Zeit nach der iuventus als Phase der vergangenen Jugend und damit als Phase der Hinfälligkeit und des physischen Verfalls verstanden. Wenn dieses Schema auf die Geschichte oder Entwicklung des römischen Volkes oder Staates übertragen wird, bedeutet dies immer auch, dass aus der Perspektive des schreibenden Autors bzw. des Lesepublikums die Altersstufe der senectus erreicht ist. Die früheren Altersstufen werden unterschiedlichen Zeitabschnitten zugewiesen bzw. die Alterszäsuren werden unterschiedlich definiert und sind für die Interpretation der Gegenwartsgeschichte nicht ausschlaggebend. Erhalten sind vier Texte kaiserzeitlicher und spätantiker Autoren, in denen das Lebensaltersschema auf die Entwicklung des populus Romanus oder der res publica Romana übertragen wird.11 Im Abriss der römischen Geschichte des Florus, der in trajanischer und hadrianischer Zeit in der Umgebung des Kaiserhofs tätig war, ist die letzte Altersstufe die vierte, die durch eine Verjüngungsperiode unter Trajan in sich weiter gegliedert ist (Epitoma de Tito Livio, praef. 4–8; s. Appendix).12 Florus entwirft folgende ›Biographie‹ des römischen Staates: 1. infantia 2. adulescentia

sub regibus a Bruto Collatinoque consulibus in Appium Claudium Marcum Fulvium coss. 3. iuventus ad Caesarem Augustum 4. senectus a Caesare Augusto in saeculum nostrum -- inertia Caesarum + reddita iuventus sub Traiano principe

Ammianus Marcellinus (Ende 4. Jahrhundert) zieht für seine Gliederung der römischen Geschichte bis zu Kaiser Julian Apostata alle sechs in der

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Gemäß Cicero, De re publica 2,2 hat bereits der ältere Cato (vielleicht in den Origines) bestimmte Altersstufen (saecula, aetates) der römischen Republik markiert. Dazu Gatz, Weltalter, S. 109. Florus lässt die pueritia weg. Vgl. dazu Martin Hose, Erneuerung der Vergangenheit. Der Historiker im Imperium Romanum von Florus bis Cassius Dio, Stuttgart und Leipzig 1994, S. 70–76, der das Gliederungsschema der antiken Biographie, namentlich Suetons, als Vorlage vermutet (»Florus als Biograph des populus Romanus«).

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Lebenspraxis verankerten Lebensalter heran und weist sie vier Entwicklungsphasen des populus Romanus zu (14,6,4f.; s. Appendix):13 1./2. ab incunabulis primis ad pueritiae tempus circummuranabella 3. aetatem ingressus adultam (populus) Alpes transcendit et fretum 4./5. in iuvenem erectus et virum reportavit laureas et triumphos 6. vergens in senium ad tranquilliora vitae discessit fundamenta libertatis et retinacula sempiterna Beide Autoren interpretieren die mit der senectus evozierte Vorstellung des physischen Verfalls mit deutlich panegyrischer Absicht so, dass nicht auf eine kulturelle und politische Dekadenz unter den regierenden Kaisern geschlossen werden kann. Florus, der das Vergreisen des Staates zunächst tatsächlich als Prozess des Verfalls deutet, lässt das alte Rom unter Trajan sozusagen einen zweiten Frühling erleben (eine quasi reddita iuventus: »gleichsam eine Rückkehr der Jugend«). Ammian schildert das Greisenalter Roms unter seinem verehrten Kaiser Julian als einen endlosen Zustand der Freiheit und Ruhe.14 Die Zeit unter bestimmten Kaisern kann also auch dann, wenn sie gemäß dem Lebensalterschema als hohes Alter gelten muss, positiv konnotiert werden: als Prozess der Erneuerung oder als später Höhepunkt einer Entwicklung. Eine negative Deutung erhält das Greisenalter in der spätantiken Sammlung von Kaiserbiographien, der Historia Augusta (Vita Cari, Carini et Numeriani 2,2–3,2; s. Appendix). Der (fiktive) Autor Flavius Vopiscus unterscheidet ebenfalls vier Stufen: 1. viguit res publica usque ad Tarquinii Superbi tempora 2. adolevit usque ad tempora Gallicani belli 3. crevit victa Carthagine 4. consenuit usque ad Augustum; per Augustum reparata […] apud exteras gentes effloruit […]; passa tot Nerones per Vespasianum extulit caput Nachdem der Staat (die civitas) in den Bürgerkriegen das Greisenalter erreicht hat, wird er von Augustus, wenn auch mit dem Verlust der Freiheit (libertate deposita), »wiederhergestellt« (reparata). Er erhält also eine Art Gesundungs- oder Verjüngungskur und erlebt durch sein Ansehen bei den fremden Völkern eine weitere Blütezeit (effloruit), also eine Art späte Blüte im Alter. Nach schwierigen Zeiten unter den julisch-claudischen Kaisern 13 14

Dazu Gatz, Weltalter, S. 107. Nach der konstantinischen Zeit; dazu Häussler, »Ursprung«, S. 331 mit Anm. 4. Vgl. dagegen Prudentius, Contra Symmachum 2, 655–660.

Augustins aetates-Lehre

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(den »Neronen«) vermag der Staat – als Greis – unter Vespasian »den Kopf wiederum zu erheben« (extulit caput.). Der Text impliziert ein zwar lineares Schema, in dem jedoch in der letzten Phase nochmals verschiedene Stufen durchlaufen werden, die auf- und abwärts führen. Hier wird gleichsam die Biographie des vergilischen puer, der unter Oktavian / Augustus die Goldene Zeit zurückgebracht hat, fortgeschrieben; er ist aber ein senex und hat ein bewegtes Leben vor bzw. jetzt – aus der Perspektive des Erzählers und des Lesepublikums – auch bereits hinter sich. Ein differenzierteres System scheint der ältere Seneca gekannt zu haben. Nach Laktanz, der wahrscheinlich aus dessen verlorenen Historiae zitiert und referiert, unterscheidet er fünf Epochen (Divinae institutiones 7,15,14–17; s. Appendix):15 1. infantia unter Romulus 2. pueritia bis zur Vertreibung der Könige 3. adolescentia bis zum Ende der Punischen Kriege 4. iuventus bis zu den Bürgerkriegen 5. prima senectus bis zum Beginn des Prinzipats 5a. quasi altera infantia seit der Alleinherrschaft des Augustus Nach dem Beginn des Greisenalters (prima senectus) habe nach der Alleinherrschaft des Augustus »gleichsam eine zweite Kindheit« (quasi altera infantia) begonnen.16 Doch auch dann bleibt der Staat ein Greis, er ist nur in eine senile Kindlichkeit zurückgefallen, in der er die Kaiser als »Stütze« (adminiculum) braucht. Senecas Schema ist somit nicht mit den Biographien von Vergils puer oder von ›Flavius Vopiscus‹’ civitas vergleichbar: Die Wiederkehr der Kindheit des Staates bedeutet keinen Neubeginn einer zyklischen Entwicklung und keine Verjüngung, sondern einen Rückfall in einen Zustand der Hilfsbedürftigkeit, also hinter die bereits vollendeten Entwicklungsstadien. Der Staat ist hier zum sprichwörtlichen puer senex geworden.17 Bevor wir nun zu Augustins aetates-Lehre kommen, sei zunächst ein Blick auf das jüdische und voraugustinische christliche Geschichtsbild geworfen: Nach der alttestamentlichen Vorstellung beginnt die Geschichte der Welt mit der Schöpfung – oder metaphorisch gesprochen – der Geburt der Welt und der Schaffung der ersten Menschen, auf die mit dem 15

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Zur Zuschreibung des von Laktanz zitierten bzw. referierten Texts an den älteren Seneca (und dessen Historiae) vgl. Stefan Freund, Laktanz, Divinae institutiones, Buch 7: De vita beata. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar, Berlin und New York 2009, S. 424–439. Diese Phase liegt auf der Stufe der Vergreisung, d. h., Seneca legt ein Fünferschema zugrunde; dazu Freund, Laktanz, S. 432f. mit Anm. 56; Gatz, Weltalter, S. 108. Mit Anspielung auf das bekannte Sprichwort dis paides hoi gérontes. Dazu Freund, Laktanz, S. 432 mit Anm. 55 (Otto Nr. 1626).

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Sündenfall sogleich der Verfall folgt. Am Ende steht für Juden und Christen das Reich Gottes. So ergibt sich ein Geschichtsbild, in dem nach einem langen linearen Verlauf auf sozusagen ›niedrigem Niveau‹ die Weltgeschichte abbricht, weil das Reich Gottes nicht mehr zeitlich fassbar ist.18 Im christlichen Geschichtsbild ist irgendwo auf dieser waagrechten Linie der Menschheitsgeschichte die Geburt Christi (des puer Iesus) anzusetzen, nach der das Leben der Menschen weiter verläuft bis zu seiner Wiederkunft und dem Jüngsten Gericht. Auch nach der christlichen Geschichtsauffassung verläuft also das Geschehen linear-progressiv zwischen Schöpfung und Endzeit, es ist jedoch gegliedert durch das entscheidende Ereignis der Menschwerdung Gottes, also in ante und post.19 Für beide Geschichtsbilder ist die eschatologische Perspektive grundlegend, aus der heraus die diesseitige Geschichte weder durch Zyklen noch durch einen Auf- oder Abstieg strukturiert ist. Die Aussicht auf Erlösung im Reich Gottes führt jedoch zu einer Naherwartung der Erlösung; die Vorstellung, dass die letzte Phase der irdischen Geschichte angebrochen ist, dass das Ende nah sei, ist also positiv konnotiert. Bereits im ersten nachchristlichen Jahrhundert hatte man begonnen, diesen Geschichtsverlauf in Analogie zu den sechs Schöpfungstagen in sechs Perioden zu gliedern, die nach jüdischer Vorstellung je 1000 Jahre umfassen. Da nach Psalm 90 (89),4 vor Gott 1000 Jahre wie ein Tag sind, lassen sich die sechs Tage der Schöpfung (das Hexaemeron) vor der Sabbatruhe als 6 x 1000 Jahre der irdischen Geschichte verstehen. Für die frühen Christen ist der siebte Tag dieser Weltenwoche die Zeit, in der Christus nach seiner Wiederkunft mit den Seinen weitere 1000 Jahre herrschen wird; der Schöpfungssabbat des Heptaemeron wird damit zum Weltensabbat, auf den nach dem endgültigen Ende der Welt am achten Tag die Ewigkeit folgt.20 Daraus entwickelte sich das chiliastische Geschichtsbild der frühen Christen: 18

19

20

Hier sei auch auf die Daniel-Prophetie hingewiesen (Dan 2,31ff.), in der ebenfalls Metalle den Wert der einzelnen Zeitepochen und weltlichen Reiche charakterisieren; mit dem Erscheinen des Messias nimmt das Reich Gottes seinen Anfang. Vgl. dazu Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, »Ante Christum natum – post Christum natum. Anmerkungen zum christlichen Zeitbegriff«, in: H.-B. G.-F. (Hrsg.), Eros, Glück, Tod und andere Versuche im christlichen Denken, München 2001, S. 40–65 = Elenor Jain / Stephan Grätzel (Hrsg.), Sein und Werden im Lichte Platons. Festschrift für Karl Albert zum 80. Geburtstag, Freiburg und München 2001, S. 313–329 (u. ö.). Aufgrund von Apk 20,4–6 wird dieses tausendjährige Reich zum messianischen Zwischenreich oder zum Weltensabbat nach dem Ende der gegenwärtigen Zeit und vor der darauf folgenden Ewigkeit, die auch mit dem achten Tag gleichgesetzt wird. Dazu Roderich Schmidt, »Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte«, Zeitschrift für Kirchengeschichte, 67 (1955/56), S. 288–315, bes. 295f.; Karl-Heinz Schwarte, Die Vorgeschichte der Augustinischen Weltalterlehre, Bonn 1966, S. 62ff.; Paul Archambault, »The Ages of Man and the Ages of the World. A Study of Two Traditions«, in: Revue des Etudes Augustiniennes, 12 (1966), S. 200f.

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6 Schöpfungstage

Christi Geburt Parusie Christi Jüngstes Gericht

4,

4, |

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3

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(8)

1000-jährige Christusherrschaft Schöpfungs-/Weltensabbat Ewigkeit Die Zeit von der Schöpfung bis zu Christi Geburt bleibt dabei ein bloß durch die fünf Tage hindurch laufendes Kontinuum, das nicht durch bestimmte Ereignisse der Heilsgeschichte gegliedert wird. Die Analogie von Schöpfungswerk und Heilsgeschichte dient allein der Verdeutlichung der eschatologischen Perspektive, ihre Aufgabe ist nicht die Periodisierung der Vorgeschichte. Die Hexaemeron-Analogie unterscheidet sich vom Lebensaltervergleich der paganen historiographischen Texte also sowohl dadurch, dass sie keine aufsteigende Progression zugrunde legt, als auch dadurch, dass die Periodisierung nach Tagen nicht mit der Zuordnung zu bestimmten historischen Ereignissen verbunden ist. Zwar ist in beiden Systemen die gegenwärtige Periode die wichtigste und naturgemäß relevanteste, doch bleibt in den historiographischen Modellen das Ende – in der Lebensalteranalogie: der Tod – ausgeblendet (für die Roma aeterna ist dies schlicht undenkbar), 21 während die sechste Chiliade mit dem Weltuntergang endet. Die beiden Periodisierungssysteme kombiniert erst Augustin in seiner Geschichtsdeutung.22 In seinen frühesten Auslegungen des ersten Schöpfungsberichts, in De Genesi contra Manichaeos (388–390 n. Chr.), übernimmt er zum einen die Hexa- bzw. Heptaemeron-Analogie der jüdischchristlichen Tradition, ohne sie aber chiliastisch zu deuten. Augustin verbindet eine Periodisierung nach bestimmten Ereignissen oder Schlüsselfiguren des Alten Testaments, die er aus der Christusgenealogie vom Beginn des Matthäus-Evangeliums übernimmt, die beim Stammvater Abra21

Dies stellt Galdi, »Lebensaltervergleich«, S. 416f., heraus.

22

Vgl. dazu (mit einer Zusammenstellung der einschlägigen Stellen) Bernhard Kötting / Wilhelm Geerlings, »Aetas«, in: Augustinus-Lexikon, 2 (1986–1994), Sp. 150–158; Christof Müller, Geschichtsbewusstsein bei Augustinus. Ontologische, anthropologische und universalgeschichtlichheilsgeschichtliche Elemente einer augustinischen Geschichtstheorie, Würzburg 1993, S. 290–298. Die ebenfalls geläufige Gliederung in fünf Tage nach der Weinbergparabel aus M t 20,1ff. lehnt Augustin dagegen ab. D a z u Alois Wachtel, Beiträge zur Geschichtstheologie des Aurelius Augustinus, Bonn 1960, S. 57ff

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ham beginnt (Mt 1,17 und Lk 3,34–38), und erweitert sie entsprechend seiner Periodisierung nach dem Hexaemeron durch die Periode von Adam bis Noah (bis zur Sintflut) und von Noah bis Abraham. 23 Die Geschichte des jüdischen Volkes wird also bis zur Schaffung des Menschen nach hinten ergänzt und damit zur Geschichte der Menschheit insgesamt. Zum anderen wendet Augustin das Lebensalterschema der römischen Historiker auf die biblische Geschichte an, für das er gemäß den gängigen Vorstellungen (wie später Ammian) 24 sechs Altersstufen unterscheidet (De Genesi contra Manichaeos 1,35–41; s. Appendix)25 1. infantia (Kindheit) (1. Schöpfungstag)

von Adam bis Noah

2. pueritia (Knabenalter) (2. Schöpfungstag)

von Noah bis Abraham

3. adolescentia (Jugend) (3. Schöpfungstag) 4. iuventus (Mannesalter) (4. Schöpfungstag)

von Abraham bis David von David bis zur babylonischen Gefangenschaft

5. gravitas/aetas senioris von der babylonischen Gefangenschaft (Lebensabschnitt des alternden Mannes) bis zur Geburt Christi (5. Schöpfungstag) 6. senectus (Greisenalter) (6. Schöpfungstag)

von Christus bis zum Ende der Welt

(7. ewige Sabbatruhe) Augustin geht wie die römischen Historiker von einer progressiven Entwicklung der Geschichte aus, in der nun das Greisenalter als christliche Ära grundsätzlich positiv gedeutet wird. Die sechs Zeitabschnitte oder Weltalter (articuli temporum oder aetates) nach der Schöpfung und dem Sündenfall entsprechen nicht nur den sechs Lebensaltern des Menschen, son23

24

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Ein ähnliches Gliederungsschema findet sich bereits bei Tertullian, De virginibus velandis 1,9f.; vgl. auch Cyprian, Ad Demetrianum 3–5; Laktanz, Divinae institutiones 7,14; Hieronymus, In Ezechielem 3 praef.; Ambrosius, De Abraham 2,65. Zur Tradition dieser (variierenden) Genealogie(n) in der frühchristlichen Literatur vgl. Müller, Geschichtsbewusstsein, S. 294–296; vgl. auch Schwarte, Vorgeschichte, S. 52f.; Archambault, »Ages of Man«, S. 201f.; Elena Zocca, »La ›senectus mundi‹. Significato, fonti e fortuna di un tema ciprianeo«, in: Augustinianum, 35 (1995), S. 641–678. Als Publikationsdatum des ersten Teils von Ammians Res gestae (bis Buch 26) wird das Jahr 391 angenommen. Vgl. auch c. Faust. 12,8. Das Schema nach Kötting / Geerlings, »Aetas«, Sp. 152–154. Vgl. dazu auch Schwarte, Vorgeschichte, S. 17ff.; Müller, Geschichtsbewusstsein, S. 295–298; Cornelius P. Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie des jungen Augustinus, Würzburg 1969, S. 53–56.

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dern auch den sechs Schöpfungstagen, an deren sechstem die Menschheit nun angelangt ist. Das siebte Weltalter, der siebte Tag, der Tag der Sabbatruhe, der neue Aion, der durch Christi Wiederkehr, Weltgericht und Weltuntergang eingeleitet wird, folgt gemäß Augustin in unbestimmter Zeit.26 Es hat keinen Abend, es ist die ewige Sabbatruhe Gottes und der Menschen im Jenseits.27 Die sechs Lebensalter vor dem siebten Tag entsprechen den Stationen, die das Volk Israel auf seinem heilsgeschichtlichen Entwicklungsweg durchschreitet. Dieser Vergleich, der einer Allegorese der Geschichte des Volkes Israel entspricht, wird in allen Einzelheiten durchgeführt:28 1. infantia

Geburt – keine Erinnerung Licht – Sintflut

2. pueritia

noch nicht zeugungsfähig

Israel noch nicht Volk Gottes

3. adolescentia

Zeugungsfähigkeit

Volk Gottes

4. iuventus

Wirksamkeit des Mannes in der Öffentlichkeit

theokratisches Königtum Davids und der Davididen

Ende der Jugend

Exil in Babylon: Niedergang des jüdischen Volkes

5. senioris aetas 6. senectus

körperlicher Verfall

Gesetzesreligion des Judentums; Zerstreuung des jüdischen Volkes in alle Welt; Entstehung der Kirche Christi und des »Neuen Menschen«

Am ersten Schöpfungstag schuf Gott das Licht, und so erblickt auch jeder Mensch am ersten Tag seines Lebens das Licht, und wie die Ereignisse des Kleinkindalters nicht im Gedächtnis haften bleiben, so gerät auch die prima aetas durch die Sintflut in Vergessenheit; sie dauert also bis Noah. Die zweite aetas, die pueritia, unterscheidet sich von der dritten, der adolescentia, dadurch, dass der Knabe noch nicht zeugungsfähig ist; analog dazu ist das Volk Israel noch nicht Volk Gottes. Die Zeugungsfähigkeit erlangt der Mensch erst mit der dritten Altersklasse, dem Jünglingsalter, was in der juristischen Praxis dem Kriterium der Mündigkeit entspricht; nun kann aus dem Geschlecht Abrahams das Volk Gottes entspringen. Das Mannesalter (iuventus) zeichnet sich durch die Wirksamkeit des Mannes in der 26

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Damit richtet sich Augustin gegen den in seiner Zeit immer noch verbreiteten Chiliasmus; vgl. dazu Kötting / Geerlings, »Aetas«, Sp. 152; Schwarte, Vorgeschichte, S. 269. Als achten Tag bezeichnet Augustin die ewige Sabbatruhe in De civitate dei 22,30 (vgl. Enarrationes in Psalmos 62; Epistula 55,17); dazu Müller, Geschichtsbewusstsein, S. 297. Dazu Schwarte, Vorgeschichte, S. 23ff. und 52ff.; Müller, Geschichtsbewusstsein, S. 295f. Vgl. auch Wachtel, Geschichtstheologie, S. 61ff. zu ähnlichen Gliederungsschemata in De catechizandis rudibus 39 und De civitate dei.

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Öffentlichkeit aus, was in der Geschichte des jüdischen Volkes dem verbesserten Gottesverhältnis unter David und den Davididen entspricht. Im babylonischen Exil ist das Volk Israel seines Reiches beraubt und muss unter den Völkern zerstreut leben, es erlebt also eine Epoche des Niedergangs analog der senioris aetas des Menschen. Die wichtigste und interessanteste Altersstufe ist auch hier die sechste, die senectus, die in der Hexaemeron-Analogie der Erschaffung des Menschen am sechsten Tag entspricht. In der Heilsgeschichte beginnt sie mit der Geburt Christi, der in der letzten Epoche der irdischen Geschichte geboren wird. Das Greisenalter der Welt wird also mit dem Ursprung (der Erschaffung Adams) am sechsten Schöpfungstag und mit der Menschwerdung Gottes angesetzt.29 Auf der sechsten Altersstufe wird nun auch die Perspektive erweitert: Mit Christi Geburt wird die Geschichte endgültig zur Menschheitsgeschichte und damit eng mit der römischen Geschichte verbunden. Für das in alle Welt zerstreute jüdische Volk gilt wie bisher das jüdische Gesetz, und damit verharrt es auf der Stufe der senectus veteris hominis (des »Greisenalters des alten Menschen«). Doch gleichzeitig hat sich der »neue Mensch« herausgebildet, der in der christlichen Kirche verwurzelt ist und das Greisenalter der Welt transzendieren kann: Er ist bereit für das neue saeculum, den neuen Aion. Die senectus ist also nur die des vetus homo: ›Alt‹ sind nur die Juden und Heiden, doch haben auch die Christen nur erst die Möglichkeit, sich zu »erneuern« (nach 2 Kor 4,16), sich zu einem »Neuen Menschen« (einem homo novus) zu entwickeln (nach Eph 4,22 und 24). Die dem Fleisch verhafteten Christen blieben ebenfalls »alte Menschen« in diesem Greisenalter der Welt.30 Hier wird nun also der biologische Lebensaltervergleich mit einer weiteren, spirituellen Alterskategorie ergänzt.31 Dadurch lässt sich das Para29

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So auch in De catechizandis rudibus 39: ab illo [scil. deo] desiderans, ut hac sexta aetate mens humana renovetur ad imaginem dei, sicut sexta die homo factus est ad imaginem dei. (»Von ihm [von Gott] erhoffend, dass der menschliche Geist auf dieser sechsten Altersstufe nach dem Bild Gottes erneuert wird, so wie der Mensch am sechsten Tag nach dem Bild Gottes erschaffen wurde.«) – In De diversis quaestionibus LXXXIII 44 bezeichnet Augustin diese aetas als iuventus; in Enarrationes in Psalmos 92,1 lässt er sie bereits mit Johannes dem Täufer beginnen. Dazu Müller, Geschichtsbewusstsein, S. 293 und 296. Zu Augustins Variationen dieser paulinischen Denkfigur vgl. Jochen Schultheiß, Generationenbeziehungen in Augustins Confessiones, Stuttgart 2011 (im Druck), Kap. 3.1.3.3. (S. 97f.) und 3.5.1.3. (S. 200–202); Wachtel, Geschichtstheologie, S. 60ff. Die deutlichste Parallele ist De vera religione 49f., wo Augustin (ohne Bezug auf die Weltalter) die körperliche und geistige Entwicklung des Menschen durch die sieben Lebensalter (aetates) darstellt; der novus homo, der neue, vergeistigte Mensch, beginnt sich in der fünften und sechsten aetas herauszubilden, realisiert sich aber erst in der siebten aetas (nach dem Tod?). Im Anschluss daran überträgt Augustin das Schema auf die Gesamtentwicklung der Menschheit. Dazu Volker H. Drecoll, Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, Tübingen 1999, S. 122–132. Mit dieser Vorstellung der sich überlagernden Kategorien von Qualifikationsmerkmalen innerhalb der Menschheit verbunden ist Augustins Lehre von den zwei Reichen (der civitas

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dox, das Augustin mit der Übertragung der Altersanalogie auf die Heilsgeschichte in Kauf nimmt, dass also die christliche Ära dem Greisenalter der Welt entspricht, auflösen: In der Zeit, in der die Gesetzesreligion des Judentums an Bedeutung verliert, kann sich der Mensch in der Hinwendung zur christlichen Religion erneuern. Das Greisenalter bedeutet nicht nur Verfall, sondern auch Chance zur Erneuerung. Damit überwindet Augustin auch die jüdisch-christliche Fixierung auf die eschatologische Perspektive: Nicht die Naherwartung und die bevorstehende Erlösung im Jenseits werten die letzte Phase der irdischen Geschichte auf, sondern die Geburt Christi und damit die Möglichkeit der eigenen Erneuerung und – im Bild der Lebensalter gesprochen – der Verjüngung bereits im Diesseits. Diese positive Umkodierung der Gegenwart, des Greisenalters der Welt, hat Augustin in seinen Predigten auch für seelsorgerliche Absichten genutzt. In einer Predigt aus dem Jahr 410, die er nach der spektakulären Plünderung Roms durch die Ostgoten unter Alarich in Hippo hielt (sermo 81), tröstet er seine Gemeinde mit dem Gedanken, der zunächst paradox erscheint: Nicht nur Rom, sondern die ganze Welt ist vergänglich. Ohnehin ist die Welt wie ein Mensch »geboren, gewachsen und vergreist« (§ 8: nascitur, crescit, senescit; s. Appendix).32 Augustin tröstet seine Gemeinde in Hippo damit, dass aber gerade die alternde Welt auch die Möglichkeit bietet, sich durch Christus wiederherstellen (reficere) und erneuern (novum facere) zu lassen und in Christus die Jugend wiederzufinden (iuvenescere in Christo). Die Bedingung ist allerdings, dass man sich nicht an die alte Welt klammert (noli adhaerere velle seni mundo). Rom mag alt werden und untergehen; der Christ kann währenddessen jung werden, seine »Jugend wird er-

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terrena und der civitas dei), die in der irdischen Geschichte der Menschheit (im saeculum) miteinander »vermischt« sind. Die Weltgeschichte ist zugleich die Geschichte vom Konflikt der beiden civitates, die sich am Ende der Welt dadurch erfüllt, dass die beiden Reiche am siebten Tag miteinander vereint werden. In De civitate dei 10,14 deutet Augustin den Prozesscharakter der Weltgeschichte als göttliches Erziehungswerk, gemäß dem das Volk Gottes, das er mit dem Menschengeschlecht gleichsetzt, in gewissen »Zeitabschnitten« (articuli temporum), die den Altersstufen entsprechen, voranschreitet und sich allmählich über die Grenzen des irdischen Daseins erhebt (vgl. bereits De animae quantitate 70–76). Mit dem Beginn der sechsten aetas sind die Mitglieder der civitas dei nun Christen, im Vergleich mit den Mitgliedern der terrena civitas somit auch »neue Menschen«. Vgl. dazu Peter Brown, Augustinus von Hippo. Eine Biographie, erw. Neuausg., aus dem Engl. von Johannes Bernard und Walter Kumpmann, München 22000, S. 251–260, der das Kapitel zur »Plünderung Roms« von 410 mit »Greisenalter der Welt« überschreibt; zu Augustins Auseinandersetzung mit dem Fall Roms (den er jedoch nicht als Vorankündigung des Weltuntergangs deutet) vgl. zuletzt Heinrich Schlange-Schöningen, Augustinus und der Fall Roms: Theodizee und Geschichtsschreibung, in: Andreas Goltz / Hartmut Leppin / H. S.-S. (Hrsg.), Jenseits der Grenzen. Beiträge zur spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung, Berlin und New York 2009, S. 135–152, bes.136f.

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neuert« (renovabitur iuventus).33 Wie aber die Mahnung noli adhaerere velle seni mundo deutlich macht, ist dem Menschen nur die M ö g l i c h k e i t gegeben, sich im Greisenalter der Welt zu erneuern. Diese Chance einer solchen nun zyklisch verlaufenden Entwicklung des Menschen34 ist kein Automatismus, der sich bei allen Christen als Epochenmerkmal einstellt, kein historisches Phänomen, das eine ganze Gemeinschaft im Kollektiv betrifft. Die renovatio stellt sich nicht im ganzen römischen Reich ein wie bei Florus die Rückkehr der Jugend (reddita iuventus) durch Trajans Regime oder die Rückkehr des Goldenen Zeitalters in Vergils vierter Ekloge. Vielmehr ist der Prozess der Verjüngung abhängig von der Entscheidung und Einstellung jedes einzelnen Menschen. Jedes Individuum muss sich um diese Erneuerung bemühen, sich zur Taufe und der damit verbundenen Lebenseinstellung entschließen und auch dann immer darum kämpfen, ein neuer Mensch zu werden. In den zehn autobiographischen Büchern der Confessiones lässt Augustin sein erzähltes Ich einen solchen Kampf um die innerliche Erneuerung austragen. Die Erzählung macht deutlich, dass der biologische Alterungsprozess und die spirituelle Verjüngung unabhängig voneinander vonstatten gehen: Augustin markiert zwar die sozialen und juristischen Alterszäsuren,35 dabei steht aber die geistige Entwicklung klar im Vordergrund: Das erzählte Ich ist ein Mensch, der sich über viele Umwege von einem dem Fleisch und der Welt zugewandten Leben ab- und Gott zuwendet. Diesen langwierigen Prozess der »Erneuerung« (renovatio) charakterisiert er als »Abschlachten« des »Alters« (9,10: mactans vetustatem),36 an anderer Stelle

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Nach Ps 103 (102),5 wie dem Adler; vgl. den Beitrag von Kathrin Liess in diesem Band. – Vgl. Aug. sermo 296,6 im selben historischen Kontext: excutitur vetus homo. Dies hebt Müller, Geschichtsbewusstsein, S. 297, hervor. Augustin beginnt mit der infantia (Buch 1), dem Alter, an das er sich nicht mehr erinnern kann, geht dann zur pueritia über (1,13), fährt in Buch 2 mit der adolescentia fort (2,1), in der er seine Zeugungsfähgkeit erprobt und auch unter Beweis stellt. In Buch 7 beginnt er mit der Bemerkung, dass er von der adolescentia zur iuventus übergegangen sei. Dies ist auch die Altersphase, in der er sich das entscheidende Bekehrungserlebnis zuschreibt und in der er sich zur Taufe in der katholischen Kirche und zu einem zölibatären Leben entschließt. Buch 10 ist aus der Perspektive des amtierenden Bischofs von Hippo geschrieben, der seinen gegenwärtigen Zustand beschreibt, also – je nach Datierung – mehr als zehn Jahre nach den in Buch 9 geschilderten Ereignissen und damit im Lebensalter, das bereits als senectus gilt. Ibi enim, ubi mihi iratus eram, intus in cubili, ubi compunctus eram, ubi sacrificaveram mactans vetustatem meam et inchoata meditatione renovationis meae sperans in te, ibi mihi dulcescere coeperas et dederas laetitiam in corde meo [Ps 5 [4],7] (»Dort nämlich, wo ich Zorn gegen mich gefasst hatte, in meiner inneren Lagerstatt, wo ich zerknirscht war, wo ich mein Opfer dargebracht hatte, indem ich wegschlachtete, was alt an mir war, dort, wo ich in der Hoffnung auf dich begonnen hatte, über meine Erneuerung nachzudenken, dort nämlich begannst du für mich allmählich süß zu sein, dort hattest du mir Freude ins Herz gegeben«; Übers.: Aurelius Au-

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auch als Kampf zwischen altem und neuem Willen (8,10: vetus und nova voluntas); der Prozess kostet also Mühen und Opfer. Den Zustand nach der Bischofsweihe bezeichnet Augustin als Phase, in der ihm Gott die »alten Tage« genommen hat (11,28: veteres posuisti dies meos; nach Ps 39 [38],6). Gott hat dem Menschen dadurch, dass er ihn nach seinem Ebenbild geschaffen hat, die Möglichkeit gegeben, sich durch die Erkenntnis ihres Schöpfers in diesem Ebenbild zu erneuern, sich neu erschaffen zu lassen (13,32 nach Kol 3,10).37 Als creator omnium ermöglicht er es dem Menschen, durch die Taufe wieder geboren zu werden (9,14);38 er ist der »Erneuerer« (1,4: innovans), selbst »ohne Alter« (9,24: sine vetustate atque innovan[s] omnia), er »erneuert die Jugend« der Menschen (11,11 nach Ps 103 [102],5: renovabitur iuventus). Auch hier wird deutlich: Die agnitio dei ist kein Zeitphänomen und kein Kollektiverlebnis, sondern das Resultat der darum ringenden Einzelseele. Augustin zeigt in den Confessiones, wie sein Protagonist, das erzählte Ich, auf jeder Altersstufe seines Lebens sowohl alter Mensch war als auch die Möglichkeit hatte, sich durch die Orientierung an Christus und dem rechten Glauben zu erneuern. Damit zeigt er an seiner eigenen Persona, wie sich der biologische Alterungsprozess für den Christen, der sich um die Erkenntnis Gottes bemüht, in einem spirituellen Prozess der Erneuerung aufheben lässt. Gemäß Augustins Interpretation des Lebensaltervergleichs kann also der puer von Vergils vierter Ekloge jederzeit in jedem Individuum geboren werden, und gemäß seiner Analogie der Weltalter mit den Schöpfungstagen in De Genesi contra Manichaeos kann Adam jederzeit in jedem Menschen neu geschaffen werden. Augustins aetates-Lehre, die Kombination der Vergleiche mit Lebensaltern und Schöpfungstagen, ist für das geschichtliche Denken des Mittelalters maßgebend geblieben, wenn auch mit jeweils anderen Schlüsselfiguren des Alten Testaments, die je die Epochenwende markieren. Isidor von Sevilla nimmt die augustinische Epochenlehre in sein Hauptwerk auf, und durch ihn wird sie im Mittelalter weit verbreitet. Beda Venerabilis legt seiner Chronik ein System von sechs Weltaltern zugrunde; die siebte aetas, die Augustin in die ungewisse Zukunft verlegt, wird von ihm als Gegen-

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gustinus, Bekenntnisse, mit einer Einl. von Kurt Flasch, übers., mit Anm. versehen und hrsg. von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 1989). Ita homo renovatur in agnitione dei secundum imaginem eius, qui creavit eum [Kol 3,10], et spiritalis effectus iudicat omnia, quae utique iudicanda sunt, ipse autem a nemine iudicatur [1 Cor 2,15] (So wird der Mensch dank der Erkenntnis Gottes gemäß dem Bild dessen, der ihn geschaffen hat, zu einem neuen Menschen, und der geistige Mensch, der er geworden, beurteilt alles, was überhaupt zu beurteilen ist, er selbst aber wird von niemandem beurteilt). Vgl. 8,3: Marius Victorinus wird als Kirchgänger zum puer Christi tui et infans fontis tui. Vgl. dazu Schultheiß, Generationenbeziehungen, S. 200f.

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wart erlebt.39 Der Lebensaltervergleich ist auch ohne die augustinische Kombination mit der Schöpfungswoche lebendig geblieben in der christlichen Geschichtsdeutung des Mittelalters. Nikolaus von Kues vergleicht die Kirchengeschichte mit dem Leben Christi. Otto von Freising deutet in der Weltchronik das Imperium Romanum analog zu den Altersphasen des Individuums. Rudolf von Ems gliedert seine Weltchronik nach der Lebensalterlehre und lässt den gesamten Ablauf der Weltgeschichte im staufischen Imperium kulminieren.40 Noch im 17. Jahrhundert macht der katholische Konfessionshistoriker am Hof von Louis XIV, Jacques-Bénigne Bossuet, in seinem Discours sur l’histoire universelle (1681) die Zeitalter-Lehre Augustins mit geringen Änderungen zur Grundlage seiner weltgeschichtlichen Epochengliederung.41 Die beiden geläufigsten antiken Systeme der Epochenperiodisierung (Weltaltermythos und Lebensaltervergleich) haben eines gemeinsam: Sie münden in der Gegenwart, die entweder als letzte Stufe in der Entwicklung der Geschichte gesehen wird – als Eisernes Zeitalter oder als Greisenalter – oder auch als Neubeginn nach dem Erreichen der letzten Stufe – als wiederkehrendes Goldenes Zeitalter oder als neue Jugend. In der ersten Variante kann die letzte Stufe und damit die Gegenwart gemäß einem pessimistischen Geschichtsbild negativ definiert werden (Eisernes Zeitalter und Greisenalter als Dekadenz); sie lässt sich aber auch positiv umdeuten: als höchste Reife des Greisenalters und damit als höchste Entwicklungsstufe in einem auf eine bestimmte Dynastie hin ausgerichteten Geschichtskonzept und in der Heilsgeschichte. In allen Systemen bleibt im Prinzip die Möglichkeit einer Weiterentwicklung offen: Im pessimistischen Geschichtsbild steht das Goldene Zeitalter oder die Kindheit und Jugendblüte als Chiffre für die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, und die Depression kann ohne Weiteres dadurch überwunden werden, dass man sagt, das Goldene Zeitalter oder – im Lebensaltervergleich – die neue Kindheit oder Jugend würde in Verbindung mit einem Machtwechsel oder einem Wechsel der Regierungsform wiederkehren. In der heilsgeschichtlichen Adaptation des Lebensaltervergleichs eröffnet sich der alternden Menschheit die Chance der Verjüngung durch den christlichen Glauben und die Aussicht auf das alterslose, ewige Leben durch die Wiederkehr Christi und die ewige Sabbatruhe im Jenseits.

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Dazu Schmidt, »Aetates«, S. 289f. und 293f.; Archambault, »Ages of Man«, S. 206f.

40

Schmidt, »Aetates«, S. 310. Dazu Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativuniversalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006, S. 97–108; Archambault, »Ages of Man«, S. 210f.

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Appendix Florus, Epitoma de Tito Livio, praef. 4–8: (4) si quis ergo populum Romanum quasi unum hominem consideret totamque eius aetatem percenseat, ut coeperit utque adoleverit, ut quasi ad quandam iuventae frugem pervenerit, ut postea velut consenuerit, quattuor gradus processusque eius inveniet. (5) prima aetas sub regibus fuit prope per annos CCL, quibus circum urbem ipsam cum finitimis luctatus est. (6) haec erit eius infantia. sequens a Bruto Collatinoque consulibus in Appium Claudium Marcum Fulvium consules CCL annos patet, quibus Italiam subegit. Hoc fuit tempus viris, armis incitatissimum, ideoque quis adulescentiam dixerit. (7) deinceps ad Caesarem Augustum CC anni, quibus totum orbem pacavit. Hic iam ipsa iuventus imperii et quaedam quasi robusta maturitas. (8) a Caesare Augusto in saeculum nostrum haud multo minus anni ducenti, quibus inertia Caesarum quasi consenuit atque decoxit, nisi quod sub Traiano principe movit lacertos et praeter spem omnium senectus imperii quasi reddita iuventute revirescit.42

(4) Wenn man also das römische Volk gleichsam als einen Menschen betrachtete und dessen Alter abschätzte, wie er einmal als kleines Kind angefangen hat, wie er herangewachsen ist, wie er gleichsam zu einer gewissen Reife seiner Jugend gelangt ist, wie er später geradezu ein alter Mann geworden ist, wird man vier Stadien finden. (5) Die erste Altersstufe befand sich 250 Jahre lang unter der Herrschaft von Königen, Jahre, in denen das römische Volk unmittelbar rings um die Stadt mit den Nachbarn gerungen hat. (6) Dies war seine Kindheit. In der Folge erstreckten sich von dem Konsulat des L. Iunius Brutus und Collatinus bis hin zu den Konsuln Appius Claudius und Marcus Fulvius 250 Jahre, in denen es Italien unterworfen hat. Aufgrund der Kämpfe war diese Zeit für die heranwachsenden Männer sehr aufregend; man kann sie gerade deswegen Jünglingsalter nennen. (7) Dann folgten bis hin zu Caesar Augustus 200 Jahre, in denen es den ganzen Erdkreis befriedet hat. Dies war die Jugend des Reiches und gewissermaßen seine erwachsene Reife. (8) Von Caesar Augustus bis zu unserem Jahrhundert sind nicht viel weniger als 200 Jahre vergangen, in denen die Trägheit der Caesaren gleichsam ein Vergreisen zeigt und ein Aufbrauchen der Kräfte, abgesehen davon, dass es unter dem Prinzeps Trajan seine Arme bewegt hat und sich wider alle Erwartung das Greisen-

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Text: L. Annaei Flori quae exstant, hrsg. von Henrica Malcovati, Rom 21972.

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alter des Reiches noch einmal aufgebäumt hat, als sei ihm gleichsam noch einmal seine Jugend wiedergegeben worden. 43

Ammianus Marcellinus 14,6,4f.: (4) eius [sc. Romae] populus ab incunabulis primis ad usque pueritiae tempus extremum, quod annis circumcluditur fere trecentis, circummurana pertulit bella, deinde aetatem ingressus adultam post multiplices bellorum aerumnas Alpes transcendit et fretum, in iuvenem erectus et virum ex omni plaga quam orbis ambit inmensus, reportavit laureas et triumphos, iamque vergens in senium et nomine solo aliquotiens vincens ad tranquilliora vitae discessit. (5) ideo urbs venerabilis post superbas efferatarum gentium cervices oppressas latasque leges fundamenta libertatis et retinacula sempiterna velut frugi parens et prudens et dives Caesaribus tamquam liberis suis 4 regenda patrimonii iura permisit. 44 (4) Das Volk dieser Stadt hat von seiner ersten Kindheit an bis zum Ende des Knabenalters, in einem Zeitraum von etwa dreihundert Jahren, Kriege im Umkreis seiner Mauern bestanden. Als es danach in ein gereifteres Alter eingetreten war, drang es nach vielen Kriegsstürmen über die Alpen und das Meer vor. Zum jungen und reifen Mann herangewachsen, hat es in allen Gegenden des Erdkreises Lorbeeren und Triumphe geerntet. Schließlich schon dem Greisenalter nahe und zuweilen allein durch seinen Namen überlegen, hat es sich einem ruhigeren Leben zugewandt. (5) Darum hat die verehrungswürdige Stadt, nachdem sie den übermütigen Nacken wilder Völker bezwungen und ihnen Gesetze als ewige Fundamente und Stützen der Freiheit gegeben hatte, wie eine besonnene, kluge und reiche Mutter den Kaisern als ihren Söhnen die Verwaltung ihres Erbteils anvertraut.45

Historia Augusta, Vita Cari, Carini et Numeriani 2,2–3,2: II (2) Romulus […] fundavit, constituit roboravitque rem p. […]. (3) Numa […] civitatem rel‹i›gione munivit? (4) viguit ig‹it›ur usque ad Tarquinii Superbi tempora nostra res p., sed passa, tempestatem de moribus regiis non sine gravi exitio semet ulta 43

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Übersetzung nach: Florus, Römische Geschichte, übers., eingel. u. komm. von Günter Laser, Darmstadt 2005. Text: Ammiani Marcellini Rerum gestarum libri qui supersunt, vol. I, hrsg. von Wolfgang Seyfarth, Liselotte Jacob-Karau und Ilse Ulmann, Leipzig 1978. Übersetzung nach: Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte, lat.-dt. und mit einem Kommentar versehen von Wolfgang Seyfarth, erster Teil, Buch 14–17, Darmstadt 1983.

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est. (5) adolevit deinde usque ad tempora Gallicani belli [ … ] I I I (1) crevit deinde victa Carthagine trans maria missis imperiis, sed socialibus adfecta discordiis extenuato felic‹it›atis sensu usque ad Augustum bellis civilibus adfecta consenuit. per Augustum deinde reparata, si reparata dici potest libertate deposita. (2) tamen utcumque, etiamsi domi tristis fuit, apud exteras gentes effloruit; passa deinceps tot Nerones, per Vespasianum extulit caput.46

II (2) Romulus hat [...] den Staat begründet, aufgebaut und befestigt […]. (3) Numa hat [...] einer kriegslüsternen und an Triumphen reichen Bürgerschaft den Schutz des religiösen Bewusstseins verschafft. (4) Bis auf die Zeiten des Tarquinius Superbus hat sich unser Staat kraftvoll entwickelt, musste aber dann einen Sturm von Tyrannenwillkür über sich ergehen lassen, für den er sich rächte, wobei es nicht ohne schweres Unheil abging. (5) Hierauf erlebte er sein Jünglingsalter bis zu den Tagen des Galliersturms […]. III (1) Dann wuchs er nach dem Sieg über Karthago weiter und dehnte seine Herrschaft jenseits der Meere aus; doch nun beeinträchtigten die Zwistigkeiten mit den Bundesgenossen sein Glücksgefühl, und er vergreiste in den Wirren der Bürgerkriege bis auf Augustus. Dann stellte Augustus ihn wieder her, wenn man von Wiederherstellung sprechen darf, da es doch mit der Freiheit vorbei war. (2) Doch gelangte der Staat auf jeden Fall, mochte es gleich im Innern trübe aussehen, bei den auswärtigen Völkern zu Ansehen und Blüte; nachdem er in der Folge viele ›Nerone‹ hatte über sich ergehen lassen, war es dem Vespasian zu verdanken, dass er sein Haupt wieder erhob.47

Laktanz, Divinae institutiones 7,15,14–17: (14) non inscite Seneca Romanae urbis tempora distribuit in aetates. primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse, a quo et genita, et quasi educata sit Roma; deinde pueritiam sub ceteris regibus, a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata; at vero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset, servitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo, maluisse legibus obtemperare quam regibus; cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata, tum denique confirmatis viribus coepisse iuvenescere. (15) sublata enim Carthagine, quae tamdiu aemula imperii fuit, manus suas in totum orbem terra marique porrexit, donec regibus cunctis et nationibus imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret, viribus suis 46

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Text: Histoire Auguste. Les empereurs romains des IIe et IIIe siècles, édition bilingue latin-français, trad./éd. par André Chastagnol, Paris 1994. Übers. nach: Historia Augusta: Römische Herrschergestalten, eingel. u. übers. von Ernst Hohl, bearb. u. erl. von Elke Merten und Alfons Roesger, Bd. 2: Von Maximinus Thrax bis Carinus, Zürich/München 1985.

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male uteretur, quibus se ipsa confecit. (16) et haec fuit prima eius senectus, cum bellis lacerata civilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii reccidit quasi ad alteram infantiam revoluta. amissa enim libertate, quam Bruto duce et auctore defenderat, ita consenuit, tanquam sustentare se ipsa non valeret, nisi adminiculo regentium niteretur. (17) quodsi haec ita sunt, quid restat, nisi ut sequatur interitus senectutem?48

(14) Treffend hat Seneca die Zeitläufte der Stadt Rom in Lebensalter aufgeteilt. Er sagte nämlich, dass das erste das Säuglingsalter unter König Romulus gewesen sei, von dem Rom sowohl gewissermaßen gezeugt als auch aufgezogen worden sei. Dann sei die Kindheit unter den übrigen Königen gekommen, von denen es weiter gefördert und in mehrfacher Hinsicht durch Disziplin und Ordnung geformt worden sei. Als es jedoch unter der Herrschaft des Tarquinius sozusagen angefangen habe, erwachsen zu sein, habe es die Knechtschaft nicht mehr ertragen, und, nachdem es das Joch anmaßender Unterdrückung abgeworfen habe, lieber Gesetzen als Königen gehorchen wollen. Nachdem das Jünglingsalter mit dem Abschluss des Punischen Krieges beendet worden sei, da habe es endlich angefangen, mit gestärkten Kräften ein junger Mann zu werden. (15) Denn nach der Vernichtung Karthagos, das so lange die Rivalin um die Herrschaft gewesen war, streckte es seine Hände zu Wasser und zu Lande nach dem ganzen Erdkreis aus; doch nach der Unterwerfung aller Könige und Völker unter seine Herrschaft, als es schon nichts mehr gab, worum man weiter hätte Krieg führen können, setzte es seine Kräfte schlecht ein und richtete sich mit diesen selbst zugrunde. (16) Dies war der Beginn seines Greisenalters, als es, von Bürgerkriegen zerrissen und von innerem Übel bedrängt, wieder in die Regierungsform einer Einzelherrschaft zurückfiel, wie in ein zweites Säuglingsalter zurückversetzt. Denn nach dem Verlust der Freiheit, die es unter der Führung und auf Veranlassung des Brutus verteidigt hatte, vergreiste es so, als ob es sich nicht mehr von sich aus aufrechthalten könnte, wenn es sich nicht auf Herrschende stützte. (17) Wenn dies aber so ist, was bleibt dann anderes übrig, als dass auf das Greisenalter der Tod folgt?49

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Text: Freund, Laktanz, S. 156 (nach L. Caeli Firmiani Lactanti opera omnia, hrsg. von Samuel Brandt, vol. I, Prag etc. 1890 = CSEL 19). Übersetzung nach Freund, Laktanz, S. 157.

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Augustin, De Genesi contra Manichaeos 1,35–41: (35) video enim per totum textum divinarum scripturarum sex quasdam aetates operosas certis quasi limitibus suis esse distinctas, ut in septima speretur requies, et easdem sex aetates habere similitudinem istorum sex dierum, in quibus ea facta sunt quae deum fecisse scriptura commemorat. primordia enim generis humani, in quibus ista luce frui coepit, bene comparantur primo diei quo deus fecit lucem. haec aetas tamquam infantia deputanda est ipsius universi saeculi, quod tamquam unum hominem proportione magnitudinis suae cogitare debemus, quia et unusquisque homo, cum primo nascitur et exit ad lucem, primam aetatem agit infantiam. haec tenditur ab Adam usque ad Noe generationibus decem. quasi vespera huius diei fit diluvium, quia et infantia nostra tamquam oblivionis diluvio deletur. (36) et incipit mane a temporibus Noe, secunda aetas tamquam pueritia, et tenditur haec aetas usque ad Abraham aliis generationibus decem […] sed nec ista aetas secunda generavit populum dei, quia nec pueritia apta est ad generandum. (37) mane ergo fit ab Abraham et succedit aetas tertia similis adolescentiae […] haec enim aetas iam potuit generare populum deo, quia et tertia aetas, id est adolescentia, filios habere iam potest [ … ] haec aetas porrigitur ab Abraham usque ad David quattuordecim generationibus. huius vespera est in populi peccatis quibus divina mandata praeteribant usque ad malitiam pessimi regis Saul. (38) et inde fit mane, regnum David. haec aetas similis iuventuti est; et revera inter omnes aetates regnat iuventus et ipsa est firmum ornamentum aetatum omnium, et ideo bene comparatur quarto diei quo facta sunt sidera caeli in firmamento caeli [ … ] huius quasi vespera est in peccatis regum, quibus illa gens meruit captivari atque servire. (39) et fit mane, transmigratio in Babyloniam, cum in ea captivitate populus leniter in peregrino otio collocatus est. et porrigitur haec aetas usque ad adventum domini nostri, id est quinta aetas, declinatio a iuventute ad senectutem, nondum senectus, sed iam non iuventus, quia senioris aetas est quem Graeci presbyten vocant [ … ] et revera sic ista aetas a regni robore inclinata et fracta est in populo Iudaeorum, quemadmodum homo a iuventute fit senior. et bene comparatur illi diei quinto quo facta sunt animalia in aquis et volatilia caeli, posteaquam illi homines inter gentes tamquam in mari vivere coeperunt et habere incertam sedem et instabilem sicut volantes aves [ … ] huius diei, hoc est huius aetatis, quasi vespera est multiplicatio peccatorum in populo Iudaeorum, quia sic excaecati sunt, ut etiam dominum Iesum Christum non possent agnoscere. (40) mane autem fit ex praedicatione evangelii per dominum nostrum Iesum Christum et finitur dies quintus, incipit sextus, in quo senectus veteris hominis apparet. hac enim aetate carnale illud regnum vehementer attritum est, quando et templum deiectum est et sacrificia illa cessarunt; et nunc ea gens, quantum ad regni sui vires attinet, quasi extremam vitam trahit. in ista tamen aetate tamquam in senectute veteris hominis homo novus nascitur qui iam spiritaliter vivit […] et quemadmodum in illo die masculus et femina, sic in ista aetate Christus [ … ] sed spiritalis sic istis alimentis pascitur ut multa intellegat, carnalis autem, id est parvulus in Christo, tamquam pecus dei ut multa credat quae intellegere nondum

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potest; tamen eosdem cibos omnes habent. (41) [ … ] post istam vesperam fiet mane, cum ipse dominus in claritate venturus est [ … ] post enim talia opera speranda est requies in die septimo qui vesperam non habet. nullo modo ergo verbis dici potest, quemadmodum deus fecerit et condiderit caelum et terram et omnem creaturam quam condidit, sed ista expositio per ordinem dierum sic indicat tamquam historiam rerum factarum, ut praedicationem futurorum maxime observet. 50

(35) Ich sehe nämlich, dass im ganzen Text der Heiligen Schrift in gewisser Weise sechs Altersstufen durch die darin stattfindenden Aktivitäten gleichsam durch bestimmte Grenzen voneinander unterschieden sind, so dass am siebten Tag Ruhe erhofft werden kann. Diese sechs Altersstufen haben Ähnlichkeit mit den sechs Tagen, an denen das geschaffen wurde, was nach der Schrift Gott geschaffen hat. Denn die Anfänge des Menschengeschlechts, als es das Licht zu schauen begann, lassen sich gut vergleichen mit dem ersten Tag, an dem Gott das Licht erschuf. Dieses Alter ist wie die Kindheit der gesamten Weltzeit aufzufassen, weil wir es als einen Menschen – unter Wahrung der Proportion – denken müssen, da auch jeder Mensch, wenn er geboren wird und ans Licht gelangt, sein erstes Alter, das Kleinkindalter, durchlebt. Es erstreckt sich von Adam bis Noah über zehn Generationen. Gleichsam der Abend dieses Tages ist die Sintflut, wie ja auch unser Kleinkindalter wie durch eine Flut des Vergessens vernichtet wird. (36) Und morgens beginnt mit der Zeit Noahs die zweite Altersstufe wie das Knabenalter, und dieses Alter erstreckt sich bis zu Abraham in weiteren zehn Generationen […]. Aber auch dieses zweite Alter erzeugte nicht das Volk Gottes, da ja auch das Knabenalter nicht zur Zeugung fähig ist. (37) Am Morgen nach Abraham beginnt also die nachfolgende dritte Altersstufe, die dem Jünglingsalter vergleichbar ist […]. Dieses Alter konnte nämlich Gottes Volk hervorbringen, weil ja auch das dritte Alter (des Menschen), das Jünglingsalter, bereits Kinder haben kann […]. Dieses Alter erstreckt sich von Abraham bis David in vierzehn Generationen. Sein Abend besteht in den Vergehen des Volkes, mit denen sie die göttlichen Gebote missachtet hatten, und dauert an bis zur Bösartigkeit des üblen Königs Saul. (38) Und dann wurde es Morgen im Königreich Davids. Diese Altersstufe ist der Jugend gleich. Denn die Jugend ragt ja wirklich unter allen Altersstufen heraus, und sie ist ein sicherer Schmuck aller Altersstufen. Daher ist sie sehr wohl vergleichbar mit dem vierten Tag, an dem die Gestirne des Himmels am Firmament geschaffen wurden […]. Sozusagen ihr Abend besteht in den Vergehen der Könige, durch die das Volk es verdiente, in Gefangenschaft zu geraten und versklavt zu werden. (39) Und am nächsten Morgen folgte der Auszug nach 50

Text: Sancti Augustini opera: De Genesi contra Manichaeos, ed. Dorothea Weber, Wien 1998.

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Babylon, als das Volk in Gefangenschaft und in der Fremde auf einer sanften Wiese zur Ruhe kam. Diese Altersstufe erstreckt sich bis zur Ankunft unseres Herrn, sie ist also die fünfte Altersstufe, der Niedergang von der Jugend zum Greisenalter, aber noch nicht das Greisenalter selbst, aber auch nicht mehr die Jugend, sondern die Zeit des alternden Mannes, den die Griechen presbys nennen […]. Und tatsächlich erlebte diese Altersstufe den Niedergang und das Scheitern der Macht der Königsherrschaft im jüdischen Volk, wie eben der Mensch nach der Jugend älter wird. Die lässt sich mit dem fünften Tag vergleichen, an dem die Tiere im Wasser und die geflügelten Tiere im Himmel erschaffen wurden, als jene Menschen unter den Heiden gleichsam wie im Meer zu leben begannen und wie die Vögel einen unsicheren und instabilen Wohnort hatten […]. Gleichsam der Abend dieses Tages oder dieser Zeitspanne ist die Vermehrung der Sünden im Volk der Juden, die so mit Blindheit geschlagen waren, dass sie auch den Herrn Jesus Christus nicht erkennen konnten. (40) Der nächste Morgen aber kam gemäß der Verkündigung des Evangeliums durch unseren Herrn Jesus Christus. Der fünfte Tag ist zu Ende, der sechste hat begonnen, an dem das Greisenalter des alten Menschen sichtbar wird. In dieser Zeitstufe wurde jenes fleischliche Reich (der Juden) aufgerieben, als der Tempel zerstört wurde und die Opfer aufhörten. Nun geht dieses Volk gemessen an der Kraft seiner Herrschaft gleichsam seinem Lebensende entgegen. Dennoch wird in dieser Zeit wie im Greisenalter des alten Menschen der neue Mensch geboren, der bereits nach dem Geist lebt […]. Und wie an jenem Tag Mann und Frau [erschaffen wurden], so wurde in dieser Zeit Christus [geboren] […]. Aber der geistige Mensch ernährt sich so von den Speisen, dass er vieles erkennt, der fleischliche aber, das heißt das Kleinkind in Christus, ernährt sich wie das Kleinvieh Gottes, indem er vieles erst nur glaubt, weil er es noch nicht erkennen kann. Dennoch steht allen dieselbe Speise zur Verfügung. (41) […] Nach dem Abend wird es Morgen werden, wenn der Herr selbst in seiner Helligkeit kommen wird […]. Denn nach diesen Werken können wir auf Ruhe am siebten Tag hoffen, der keinen Abend hat. Also kann zwar auf keine Weise mit Worten ausgedrückt werden, wie Gott den Himmel und die Erde und jedes Geschöpf, das er geschaffen hat, gemacht und geschaffen hat; doch diese meine Darstellung nach der Reihenfolge der Tage zeigt gleichsam die Geschichte der vergangenen Ereignisse so auf, dass die Verheißung der künftigen Ereignisse am besten mit einbezogen wird.51

51

Übersetzung nach Schwarte, Vorgeschichte, S. 23f.

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Augustin, Sermo 81,8: miraris quia deficit mundus? Mirare quia senuit mundus. homo est, nascitur, crescit, senescit. querelae multae in senecta: tussis, pituita, lippitudo, anxietudo, lassitudo inest. ergo senuit homo; querelis plenus est: senuit mundus; pressuris plenus est. parum tibi praestitit deus, quia in senectute mundi misit tibi Christum, ut tunc te reficiat, quando cuncta deficiunt? [ … ] venit cum omnia veterascerent, et novum te fecit. res facta, res condita, res peritura iam vergebat in occasum. necesse erat ut abundaret laboribus: venit ille et consolari te inter labores, et promittere tibi in sempiternum quietem. noli adhaerere velle seni mundo, et nolle iuvenescere in Christo, qui tibi dicit: perit mundus, senescit mundus, deficit mundus, laborat anhelitu senectutis. noli timere, renovabitur iuventus tua sicut aquilae (Ps 102 [101],5). 52

Du wunderst dich darüber, dass die Welt schwach ist? Wundere dich darüber, dass die Welt alt geworden ist. Sie ist wie ein Mensch: Sie wird geboren, wächst heran, wird alt. Im Alter gibt es viel zu klagen: Husten, Schnupfen, triefende Augen, Ängstlichkeit, Müdigkeit sind ihm eigen. Wenn also ein Mensch alt geworden ist, ist er voller Klagen; nun ist auch die Welt alt geworden, und sie ist voller Bedrängnis. Hat dir aber Gott zu wenig beigestanden, wenn er ja im Greisenalter der Welt dir Christus gesandt hat, damit er dich dann, wenn alles schwach ist, wiederherstellt? […] Er kam, als alles alt wurde, und er machte dich neu. Die Dinge, die gemacht und geschaffen und zum Vergehen bestimmt waren, neigten sich bereits dem Niedergang zu. Die notwendige Folge waren Mühsal und Leid allenthalben: Doch er kam, um dich zu trösten in Mühsal und Leid und um dir ewigen Frieden zu versprechen. Du sollst nicht danach streben, der greisen Welt anzugehören und nicht in Christus jung zu werden, der dir sagt: Die Welt vergeht, die Welt wird alt, die Welt wird schwach, sie müht sich unter schwerem Keuchen des Greisenalters ab. Fürchte dich nicht, deine Jugend wird erneuert wie dem Adler.53

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Text: Aurelius Augustinus, Opera omnia, vol. 5,1, hrsg. von Jacques Paul Migne, in: Patrologia Latina, 38, Paris 1865. Übersetzung nach Joseph Fischer, Die Völkerwanderung im Urteil der zeitgenössischen kirchlichen Schriftsteller Galliens unter Einbeziehung des heiligen Augustin, Diss. Würzburg, Heidelberg 1948, S. 52f.

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Literatur Quellen Ammiani Marcellini Rerum gestarum libri qui supersunt, Bd. I, hrsg. von Wolfgang Seyfarth, Liselotte Jacob-Karau und Ilse Ulmann, Leipzig 1978. Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte, lat.-dt. und mit einem Kommentar versehen von Wolfgang Seyfarth, erster Teil, Buch 14-17, Darmstadt 1983. Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, mit einer Einleitung von Kurt Flasch, übers., mit Anm. versehen und hrsg. von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 1989. Sancti Augustini opera: De Genesi contra Manichaeos, hrsg. von Dorothea Weber, Wien 1998. Aurelius Augustinus, Opera omnia, vol. 5,1, hrsg. von Jacques Paul Migne, in: Patrologia Latina, 38, Paris 1865. Florus, Römische Geschichte, übers., eingel. und komm. von Günter Laser, Darmstadt 2005. L. Annaei Flori quae exstant, hrsg. von Henrica Malcovati, Rom 21972. Historia Augusta: Römische Herrschergestalten, eingel. und übers. von Ernst Hohl, bearb. und erl. von Elke Merten und Alfons Roesger, Bd. 2: Von Maximinus Thrax bis Carinus, Zürich und München 1985. Histoire Auguste. Les empereurs romains des IIe et IIIe siècles, édition bilingue latin-français, trad./éd. par André Chastagnol, Paris 1994. L. Caeli Firmiani Lactanti opera omnia, hrsg. von Samuel Brandt, Bd. I, Prag u. a. 1890 (CSEL 19).

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Zeit, Alter und Gewissheit im Hildebrandlied This chapter highlights the relationship between time structures and the acquisition of knowledge in the Hildebrandlied. It concludes that Hadubrand fails as a result of having heeded information transmitted orally by doubtful, unfamiliar sources, while other sources well known to him would clearly have informed him correctly. This supports the view that the question of the heroic epic claim to truth is problematized within the text, which in turn implies a fresh re-hearing of the Ik gihôrta äat seggen at the opening of the poem.

Der Hörer des HUdebrmdSedes stürzt während der ersten beiden Verse von einer dem Text eingeschriebenen Gegenwart, die durch das Pronomen Ik markiert und in jeder mündlichen Aufführung mit der Aufführungszeit kurzgeschlossen werden kann, auf die Ebene des erzählten Geschehens, die nicht in einem fixierbaren Abstand zu dieser Gegenwart steht.1 Zwischen eingeschriebener Präsenzzeit des Ik und der Handlungszeit der erzählten Geschichte befindet sich eine weitere, auf der das Ik die Geschichte erfahren hat. So kommt zur Lebenszeit des eingeschriebenen Ich, der Handlungszeit und Aufführungsgegenwart noch der Zeitpunkt einer erzählten Rezeption. Er liegt innerhalb der Lebenszeit des erzählenden Ich, nicht oder nicht notwendig auch in der des aufführenden, obgleich dieser Eindruck beim Erklingen der Verse zwangsläufig befördert werden muss. Denn in der Aufführung fallen das erfundene Ik und das aufführende Ich für das Publikum notwendig zusammen, und so liegt die Zeitebene des Erfahrens für jede beliebige Erzählgegenwart weniger als ein Menschenleben zurück, wie alt auch die Geschichte selbst ist: Unterstellte Lebenszeit, die als denknotwendige Voraussetzung mit dem Pronomen Ik mitaufgerufen wird, fixiert eine im Text ei1

Mit dieser Beobachtung und den folgenden Gedanken knüpfe ich an Hartmut Bleumer an: Hartmut Bleumer, Die narrative Interferen b . Schutte e.nerMstonsL Narratmstik im Manschen Feld um Dietrich von Bern, Hamburg 2002 (HaMkationsschrift, masch.), S. 10-31, wo der Stufung auch besonderer Signalwert zuerkannt wird und es um die Konkurrenz von Erzählungen geht, die von den Protagonisten, die prototypisch auch Rezpienten sind, als wahrheitsfähige Referate von Geschichte aufgefasst werden. Bleumer unterscheidet (S. 12) »drei zeitliche Ebenen [...]: Die Zeitebene des Sprechers oder Erzählers, die der Liedhandlung und die Ebene einer Vergangenheit, die der Liedhandlung vorausliegt«.

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gentlich freischwebende Zeitebene und einen darin liegenden Zeitpunkt an die Aufführungsgegenwart. Man kann die Verbindung aber auch anders lesen: Von der Aufführungsgegenwart aus leuchtet die Erzählung mehrere Schichten von Vergangenheit aus, die jeweils als Lebenszeiten begriffen werden. Diese Technik wird noch mehrmals angewendet, wenn die Figuren ihr Wissen von der Vorvergangenheit austauschen. Hadubrands Nachricht vom Auszug seines Vaters ist innerhalb seiner eigenen, möglicherweise kurzen, Lebenszeit auf ihn gekommen (datsagetün miüsere liuti, »das sagten mir unsere Leute«, 15 2 ), aber die Gewährsleute waren schon damals alt und weise (alte antifrôte, 16); die Addition von Lebenszeit wird zur näherungsweisen Einordnung dieser Vergangenheit benutzt, wobei diesmal allerdings die Bezugsebene nicht die der Aufführung, sondern die Hauptebene des erzählten Geschehens, des Kampfes, ist. Warum müssen die Gewährsleute alt und weise sein? Dass Hadubrands Vater erst hat aufbrechen können, nachdem er Hadubrand zumindest gezeugt hatte, liegt in der Natur der Sache; von diesem Aufbruch könnten alle wissen, die dabei und alt genug waren, ein Gedächtnis zu haben. Hadubrand selbst hatte es offenbar nicht, aber auf seine Mutter, die es am besten wissen muss, beruft er sich nicht; fällt ihr Zeugnis, das einer Frau, nicht ins Gewicht, oder war sie tot, als Hadubrand wissen wollte, wer er sei? Jedenfalls sind die Alten für Hadubrand die Autoritätsinstanz des Stammes und für den Hörer zugleich ein Senkblei in die Vergangenheit vor dem Auszug Hildebrands: Der Hass Odoakers, vor dem Hildebrand mit Dietrich geflohen ist, muss vor der Flucht bestanden haben, er ist der äußerste Rand der Vorgeschichte, und die Kenntnis davon wird jenen Alten in den Mund gelegt, die Hadubrand befragt hat und nun auf der Zeitebene des Kampfes zitiert. Bis dahin ist das Verhältnis der erzählten Lebenszeiten und Informationen zueinander ganz wirklichkeitskonform modelliert, ohne Unklarheiten und ganz und gar rationalisierbar. In einer gleichsam verfremdenden Spannung dazu steht jedoch Hadubrands Erklärung, dass seine Gewährsleute êr hina wârun 16: êr hina (»früherhin«) absolut oder doch relativ?3 Gegenüber welcher Vergleichszeit? Früher als die Gegenwart des Gesprächs – leben sie also nicht mehr? Früher als die eigene Lebenszeit – sind es die Tradenten von Überlieferung? Das klingt an, widerspricht aber der Konstellation, nach der Hadubrand schon geboren sein muss und zum fragenden Forschen fähig, die Alten aber noch am Leben sein müssen, um ihm Rede und Antwort zu

2

D a s Hildebrandlied wird zitiert nach: Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII–XII Jahrhundert, hrsg. v. Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer, 3. Ausg v. Elias Steinmeyer, Bd. 1. Texte, Berlin 1892, S. 2–6. W o die zitierte Stelle nicht relativ genau im Text paraphrasiert wurde, gebe ich Übersetzungen bei.

3

Z u r H e r l e t u n g des Adverbs erhina vgl Rosemarie Lühr, Stnd.en ^ur Sprache desUUdebrandkedes. Teil IL Kommentar, Frankfurt 1982, S. 466f.

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stehen: Wer hier rationalisieren und nicht zugestehen will, dass zwei Begründungsmuster von Autorität, nämlich Augenzeugenschaft und Alter der Tradition, ineinander gewebt werden, der müsste verstehen: Sie waren früher, in der Gegenwart der Rede sind sie tot. Das lässt der Text zu, aber er lenkt eben auch auf den Gedanken der Traditionskette weit vor der eigenen Lebenszeit. Auch die Nachricht von Hildebrands Tod wird auf Hadubrands Lebenszeit bezogen: Seefahrer sagetun (»sagten«, 42) es ihm, Hadubrand; wieder schafft die Summe der möglichen Erfahrungszeiten, die geringer ist als die der Lebenszeiten, den zeitlichen Rahmen, und wieder handelt es sich um ein Ereignis oder vielmehr vermeintliches Ereignis, das in die Überschneidungszeit der Lebensspannen Hadubrands und der Gewährsleute fällt. Diesmal begründet Hadubrand sein Nichtwissen und seine Nachrichtsbedürftigkeit indirekt mit der räumlichen Ferne, nicht mit einer zeitlichen Unmöglichkeit: Nach Osten ist der Vater geritten, und nach Westen, also aus dem Osten kamen jene Seefahrer übers Meer (westar ubar wentilseo, »westwärts über das Wandalenmeer«, d.h. das Mittelmeer, 43). Waren es bei den eigenen Leuten die, die durch Alter und Erfahrung in die Tiefe der Zeit reichten, so sind es hier seolidante (»Seefahrer«, 42), die in die Tiefe des Raumes vorgestoßen sind, die Hadubrand als Gewährsleute anerkennt: weil sie Augenzeugen waren oder hätten gewesen sein können. Die eigene Erfahrung wird durch fremde Erfahrung ergänzt, aber reine Überlieferung, beispielsweise eine Kunde im eigenen Volk über Hildebrands Ende, tritt auf der Figurenebene nicht in den Rang verlässlicher Kunde ein. Wenn Hildebrand später in seinem Monolog feststellt, dass er sumatv enü wintro sehstic (»sechzig Sommer und Winter«, 50) umhergezogen sei, dann ist diese Zeitangabe für den Hörer doppelt bezogen: einerseits locker und als Möglichkeit auf den Auszug, von dem auch Hadubrand wusste, für den er aber nur einen zeitlichen Rahmen angegeben hatte, und andererseits auf die Präsenz der Figuren auf der Zeitebene des Kampfes. Die absolute Dauer scheint Objektivität zu schaffen, progressive Zeitzählung zu unterstellen, weil sie von einer den beiden Figuren gleichen Gegenwart aus misst; aber sie misst wiederum Lebenszeit, eigene Erfahrung, nicht die Abläufe in einer Vergangenheit, die den Figuren nur durch Überlieferung zugänglich wäre. Es ist üblich, die 60 Sommer und Winter zu 30 Jahren zu addieren4 und sie so zu verstehen, dass sie die Dauer von Hildebrands Exil angeben.5 Dabei wird 4

5

H a n s Kuhn, »Dietrichs 30 Jahre«, in: H. K., Kleine Schriften, Berlin 1971, Bd. 2, S. 135-137, begründet diese Gleichsetzung mit der sagenhaften Referenz auf die Herrschaftszeit des historischen Theoderich, die von 493 bis 526 gedauert habe (ebd., S. 135f). Die Thidrekssaga (Þidriks saga afBern, hrsg. v. Henrik Bertelsen, Kopenhagen 1905–1911, Bd. 2, cap. 331) spricht von 32 Jahren, vgl. H a n s Kuhn, »Dietrichs 30 Jahre«, S. 136. Deors Kla.e nennt Vers 18f eine Frist von 30 Jahren: Deodnc ahtePntic mntra Mcennga bürg (Deor, hrsg. v K e m p Malone, L o n d o n 4 1965 [Methuen’s Old English Library: Poetry], S. 25f.). Nach Helmich van der Kolk, Das Mildebrandlied. Eine forschungsgeschichtliche Darstellung, Amsterdam

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unterstellt, dass Dietrichs Flucht vor Odoaker und der Beginn von Hildebrands Umherirren zeitlich zusammenfallen. Das ist vom Lied aus eine einleuchtende Vorstellung, steht aber, genau genommen, nicht im Text und muss auch für die Sage nicht zwingend vorausgesetzt werden; warum muss das Volk des Dietrich und Hildebrand zuvor sesshaft gewesen sein? Die historischen Goten jedenfalls waren im 5. Jahrhundert sehr in Bewegung, und besungene Krieger leben doch im Kampf und insofern unterwegs.6 Auch im Hinblick darauf erscheint mir eine hyperbolische Altersangabe mit 60 bewegten Kämpferjahren durchaus möglich, sogar sinnvoll, zumal es überhöhende Langlebigkeit ja auch bei Hagen im Nibelungenlied und bei Wate in der Kudmn gibt. Wie auch immer, die Zahl suggeriert eine Objektivität der Zeitzählung und des Zeitgefüges, die es nicht gibt. Denn selbst wenn man unterstellte, dass Hildebrands Zählung der Sommer und Winter mit dem Auszug begänne, handelte es sich immer noch um eine Angabe des Typs ›x - 60‹, nämlich ›60 Jahre vor einstmals‹. Der Bezug auf die Aufführungsebene oder zumindest auf die Ebene des erzählenden Ik fehlt. So kann man kein Ereignis zeitlich einordnen. Vielmehr wirkt die Zahl als Verstärkung der LebenszeitAngabe: 60 Jahre – so lese ich, aber darauf kommt es nicht an – kann ein einzelner Mensch überblicken, die großen Ereignisse ›Auszug Theoderichs mit seinen Helden‹ und ›zu besingende Begegnung von Vater und Sohn im Kampf passen damit in eine Lebenszeit. Diese Dopplung schafft ein Maß für die Breite eines Zeitbandes in der Tiefe der Vergangenheitssondierung, ähnlich der Dicke eines Sediments bei einer Ausgrabung: Das Heldenzeitalter7 dauert ein, wenn auch ein wunderbar langes, Menschenleben. Das tragende Gerüst von Zeit und Vergangenheit der erzählten Welt besteht im Hildebrandlied damit nicht in erster Linie aus gezählten Naturzyklen, also nicht aus irgendeiner Art von Zeitrechnung oder Zeitzählung. Man erfährt, das passt gut dazu, zum Kampf auch keine Jahreszeit und nicht den Stand der Sonne. Vielmehr besteht dieses tragende Gerüst, das die erzählte Welt fixiert, aus Menschenlebenszeit und Menschengedenken. Es wird auch 1967, S. 70, sei außerdem an die Angabe in der Klage 987ff. zu denken (entspricht ed. Bartsch / Lienert 2000, Vers 1975), w o Dietrichs erster Z u g gegen Ermenrich vor zwölf Jahren stattgefunden habe. Mir ist bei diesem wörtlichen Verständnis der Zahlen nicht recht wohl, weil etwa 30 Jahre für ein von biblischen Vorstellungen geprägtes Zeitalter wohl auch einfach eine Generation bedeuten kann, also: ein ganzes Mannesalter lang, bis man zum Großvater geworden ist. 6

Rekapituliert bei van der Kolk, DasMildebrandlied, S. 66–70.

7

Über die Vorstellung von einer Heldenzeit »zwischen einer konkret gedachten historischen E p o c h e einerseits, die (vergangenes) ›Eigenes‹ tradiert und damit (gegenwärtiges) ›Eigenes‹ fundiert, und einem [...] primär literarischen Konstrukt [...], das irgendwie an einer historischen E p o c h e ›hängt‹« reflektiert jetzt an den nachhildebrandischen dietrichhaltigen E p e n ausführlich Florian Kragl, Heiden^eit. Interpretationen ^ur Dietrichepik des 12. bis 16. Jahrhunderts, Habilitationsschrift, masch., Wien 2009, das Zitat S. 9.

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mit Vorstellungen des werdenden und vergehenden Menschenlebens zeitlich näher ausgestaltet: Dass Hildebrand ein Sohn des Heribrand ist, charakterisiert ihn, aber es schafft auch einen Zeitverweis aus seiner in eine noch weiter zurückliegende Lebenszeit, so wie die Alten und Weisen zum Früher, zum êr hina (16), gehört hatten. Auch der Begriff cnuosal(»Geschlecht«) trägt implizit einen Vergangenheitsbezug in sich, denn ohne den Gedanken an Früheres lässt er sich - im Gegensatz zum Beispiel zu trmtndeot (»Menschenvolk«, 12), aber auch zu für heutiges Denken historischen Begriffen wie folk (10) und kumngrihht (13), nicht bilden. Diese Art der Vergangenheitskonstruktion schafft auf der Ebene der erzählten Handlung eine starke Bindung der memorierenden Figuren an die memorierte Erzählung von ihrer Vorvergangenheit: Alles, was Hadubrand berichtet und was Hildebrand zeigt und sagt, ist nicht irgendeine, sondern eigene Vergangenheit, und zwar nicht nur dem Inhalt der Erinnerungen, sondern auch der Form der Besinnung nach: Andere als eigene Vergangenheit gibt es nicht, wenn ausschließlich in Erinnerungen und Überlieferungen von Generationen gedacht wird. Das macht die Verständigung zwischen den Protagonisten so schwierig: Hildebrand beansprucht die Deutungshoheit über seine eigene Vergangenheit als der engstmögliche Zeuge, nämlich weil es seine eigene ist und er immer dabei war; Hadubrand beansprucht dieselbe Deutungshoheit über den Vater für die Autorität einer zweigeteilten Überlieferung, der der eigenen Leute und der der fremden Seefahrer aus den Gegenden, wohin der Vater gezogen war. Einverständnis könnte nur erlangt werden, wenn die eigene Wahrheit die fremde nicht von vornherein bezweifelte (du bist dir, alter Hün, ummet Späher, spenis mih mit dinem wortun, »Du, alter Hunne, bist dir ein unmäßig Schlauer: du verlockst mich mit deinen Worten«, 39f). Während auf der Figurenebene der mehrfache Konflikt der Wahrheitswerte von unterschiedlichen Traditionen, Augenzeugenschaft und Selbstaussagen aus Gründen der Ehre nicht aufgelöst werden kann, bietet der Text für den Rezipienten auf der Ebene des Werkes dazu eine ausführliche Problematisierung. Zum einen ist die Überlieferung der eigenen Leute in der erzählten Welt defektiv, und die Anreihung fremden Wissens bleibt zweifelhaft. Hadubrand glaubt den fremden Seefahrern, dass Hildebrand tot sei, weil diese Nachricht gut zum Wagemut seines Vaters passt, von dem er durch die Alten des eigenen Volkes gehört hat. Aber durch diesen Glauben in den Wahrheitswert der eigenen Überlieferung und mutmaßlich dazu stimmender fremder Nachrichten gerät er in die tragische Konfrontation mit seinem eigenen Vater; und auch wenn der Ausgang der Begegnung im erhaltenen Lied nicht gestaltet ist, so fehlen doch alle Anzeichen dafür, dass Hadubrand als unerschrockener Kämpfer gegen jeden Gegner, selbst gegen den eigenen Vater, verherrlicht werden sollte. Er gerät durch den Glauben an falsche Über-

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lieferung, solche der fremden Seefahrer, in Not. Die Eigenen sagen zwar in dieser erzählten Welt immer die Wahrheit, aber es ist schwer, ja unmöglich, die Eigenen zu erkennen. Was die ganze Geschichte anlangt, so trägt ein Sänger sie als überlieferte Begebenheit vor. Es fehlt jede Wahrheitsbeteuerung, jede Anknüpfung an geteilte, den Hörern und dem Erzähler gemeinschaftliche Tradition. Wenn der Hörer sich zu der erzählten Geschichte verhält, wie sich Hadubrand zu den Erzählungen über seinen Vater verhalten hat, so kann er es richtig machen oder falsch; denn die Nachrichten können zutreffen, von den eigenen Leuten stammen, aber auch nur richtig aussehen, in die Irre führen. Für die Linearität mündlichen Gedenkens, eine direkte Linie, die aus der Geschichte in die Erzählgegenwart reicht und zugleich die Wahrheit des Berichteten verbürgt, gibt es im Hildebrandlied keine Garantie. Der Hörer ist in Hadubrands Lage: Es könnte richtig sein, dass die eigenen Leute ein Beispiel für das Wirken eines unheilvollen Schicksals erlebt und es als Modell für das einzig mögliche Handeln ihm gegenüber bedichtet haben. Aber es könnte auch sein, dass diese Tradition von ganz anderen stammt, die anders denken, und dass sie etwas Falsches als richtig darstellt. Deshalb macht auch die persönliche Präsenz keinen Vorsprung aus, der der Durchsetzung der Wahrheit dienen könnte. Von der geraden Linie geschichtlicher Erfahrung, die durch Berichte der jeweils eigenen Leute über das jeweils selbst Erfahrene gebildet wird, abzuweichen, ist bedrohlich, aber insofern unvermeidlich, dass der direkten, an die Addition von Lebenszeiten geknüpften Überlieferung der eigenen Leute grundsätzliche raumzeitliche Grenzen gesetzt sind: Dinge und Menschen außerhalb des Aufenthaltsraumes der Eigenen können nur von Fremden gesehen und besprochen werden; wenn ein Eigener weggeht, wird er fremd und von Fremden gesehen. So ist das Hildebrandlied eine Geschichte über die grundsätzliche Fragwürdigkeit von Tradition, die mündlich gedacht wird, und über die Ohnmacht der Präsenz gegenüber der Überlieferung.8 Zeit hat, wenn sie besprochen oder mitgemeint wird, keinen nach vorn gerichteten Pfeil; vielmehr werden immer, auf jeder Ebene der Erzählung, die Tiefen der Vergangenheit ausgeleuchtet. Dabei wird vorgeführt, wie die Figuren die Bausteine ihres jeweiligen Wissens vom anderen nicht zu einem gemeinsamen Abbild ihrer gemeinschaftlichen Geschichte zusammensetzen können oder wollen; aber auch für den Hörer selbst bleibt Unerklärtes und Unerklärliches, hinter das er mit dem Text des Liedes nicht mehr zurückkommt, obgleich er mehr weiß, als jede der Figuren zu wissen scheint: Hat Hildebrand Dietrich verlassen? 8

Auf einer Tagung in Lausanne im Februar 2010 geriet ich mit Gert Hübner in ein Gespräch, in dem er im Wesentlichen dieselbe Ansicht über das Hildebrandlied vorbrachte, wie sie hier vertreten wird; dennoch mochte ich den Beitrag nicht zurückziehen, obgleich ich nun bitten muss in Rechnung zu stellen, dass der hier entfaltete Gedanke offenbar mehrere Eltern hat.

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Wann und wie entstand die Nachricht von seinem Tod? – Diese Neugierfragen der Rezeption richten sich nicht auf die Zukunft in der fiktionalen Welt, sondern in die Vergangenheit. (Das ist, nur zum Vergleich, in dem viel moderneren und der Gattung Roman näheren Rolandsäedanders; da kann man zum Beispiel nicht nur nach den in die Vergangenheit weisenden Leerstellen fragen, zum Beispiel warum Roland und Genelun einander nicht mögen, sondern auch in die fiktionale Zukunft: Was wird eigentlich aus Karls Schwester, Geneluns Frau?) Zurück zum Hildebrandlied. Der Abbruch des überlieferten Textes verweigert den Ausgang des Kampfes, aber der ist auch nicht eigentlich wichtig: In dem Moment, in dem Hildebrand den Kampf auf Leben und Tod verfügt hat (denn die Aufforderung dazu kommt von ihm), ist das zuvor besprochene Verhängnis des Sippenkonflikts da, gleichgültig, wer dem anderen zum Opfer fällt. Ich versuche zu resümieren und interpretatorische Konsequenzen zu ziehen: Das Hildebrandlied stellt Zeit nicht als Kontinuum dar, sondern in einer Art Schichtenmodell, wobei die Schichten jeweils an die Lebenszeit von erzählenden Figuren gebunden sind. Dieses schieferartige Zeitsediment sieht für die eine Figur, die auf einer weiter unten gelegenen Schicht steht, anders aus als für die andere, die ihre Zeitausgrabungen von einer jüngeren Schicht aus beginnt; diese unterschiedlichen Blickpunkte der Figuren lassen die Handlungskausalitäten innerhalb der erzählten Welt notwendig jeweils anders erscheinen, so dass die Bewertung der Motivation von Tun und Handeln des anderen und letztlich die Verständigung misslingen muss, weil Kausalität an Zeit (und Raum) gebunden ist. Dem Hörer des Werkes allerdings erschließt sich, anders als den Figuren, die Gemeinsamkeit der jeweiligen Lagen der Zeitschichtung. Die zentrale Frage des Liedes handelt, codiert im Motiv des Vater-Sohn-Kampfes, vom Zusammenhang, insbesondere dem von Wissen und Zeit: Wie erkennt man die Fäden der Kontinuität und Verursachung, also Modelle von zeitlichem Zusammenhang, die das eigene Sein betreffen, innerhalb der Schichtung der Zeiten? Wem kann man glauben und wem vertrauen, wenn doch die eigene Augenzeugenschaft grundsätzlich beschränkt ist? Und das Lied gibt auf programmatische Weise keine Antwort, indem es auf der Figurenebene den jungen Hadubrand in das Verderben eines Kampfes auf Leben und Tod gehen lässt, weil er unbekannten Seeleuten mehr vertraut als dem gleichfalls unbekannten Vater; der Hörer aber vernimmt das Lied auch von einem unbekannten Sänger, der sich auf ungenannte Gewährsleute beruft, und ist in derselben Lage: Soll er die Geschichte glauben oder für einen fernen Schatten der Wahrheit halten? Durch diesen performativen Widerspruch verhält sich das Lied reflexiv zu seinem eigenen Gegenstand, es fragt gleichsam, und zwar ganz außerhalb von metaphysischen Systemen, nach dem Grund von Gewissheit. Dass es Zeit gibt und dass sie be-

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ständig vergeht, steht dabei ganz außer Zweifel; dass dabei immer wieder (und nicht ein für allemal) Vorzeit entsteht, von der es wahres Wissen geben kann, wird auch in der tragischen Verkennung grundsätzlich vorausgesetzt. Hadubrand geht voller Zutrauen zur Überlieferung davon aus, dass er das Rechte darüber erfahren habe, was außerhalb seines Erfahrungskreises mit dem Mann, der ihn begründete und der also tiefer in die Vergangenheit reicht als er selbst, geschehen sei. Das Lied führt vor, wie er damit einmal recht fährt, einmal fehlgeht, und führt den Rezipienten damit in eine reflektierende Haltung gegenüber den Leistungen und der Wahrheitsform von heroischer Vorzeitüberlieferung: Der über seine eigene Erfahrung Hinausgreifende kann fehlgehen, und das Fehlgehen kann wiederum tragische Folgen Diese Konstellation wird auch im Mbelungenäed mehrfach gestaltet, aber dort betrifft sie Ereignisse, die prinzipiell in die eigene Lebenszeit der Figuren fielen oder noch fallen würden, ihnen aber verborgen geblieben waren oder von den unsichtbaren Intentionen anderer abhängen: Brünhild befindet sich im Zweifel über die Ereignisse bei ihrer Erwerbung, Kriemhild glaubt dem Zukunftsentwurf, den Hagen vor der Jagd vor ihr aufspannt. Später glauben die Brüder an Kriemhilds Versöhnung. Andererseits hat aber Hagen über Siegfried die richtige Kunde gebracht, und was Kriemhild und Hildebrand über Hagens Jugend wissen, scheint zuzutreffen: Es gibt keine Regel dafür, wann eine Kunde oder Absichtserklärung zutrifft und wann sie fehlleitet. Die Nahtstelle zwischen dem Selbsterfahrenen und dem Übermittelten, die Einordnung des Ich in einen zeitlichen Prozess, der länger und größer ist als es selbst, ist stets störungsanfällig. Die Heldenepen mit Völkerwanderungsstoffen besprechen Familienkonflikte inmitten der Untergänge von Völkern; das ist ihr literarisches Modell, ihr Erklärungspotential: Wenn ganze Völker aufgerieben und zerstreut werden, dann sind die Fehler Einzelner, der Ranghöchsten, daran schuld. Aber es sind spezifische Fehler, und sie haben mit Lebenszeit und Gemeinschaftszeit, vielleicht Geschichtszeit, und mit Wissen zu tun: Die Grenzen der eigenen Erfahrung und des Wissens aus zuverlässiger Quelle begrenzen auch den schmalen Bezirk, in dem prospektive Handlungsplanung auf einigermaßen sicherem Grund möglich ist; das macht die Frage nach der zuverlässigen Quelle so dringlich, im Hildebrandlied wie im'Nibelungenlied.Die Heldenepik zeichnet eine Welt, in der es keine zeitlich verfasste Gemeinschaft des Wissens gibt, so dass, wenn ich mir das Wort von Foucault borgen darf, eine Archäologie des Wissens sinnlos wäre; aber sie zeichnet diese Welt paradoxerweise, indem sie eine gegenwärtig verfasste Gemeinschaft des Wissens über Vorzeit mit einem Publikum herstellt.

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MANFRED KERN

Schere, Stein, Papier. Alterszäsuren, Autorschaft und Werk in der mittelalterlichen Liebeslyrik With its programmatic approach to love and youth, the medieval love-lyric in principle neither describes biographical events nor defines transitions in ageing; instead it portrays a state of love. Yet in order to illustrate love’s intensity and long duration, both points of life and old age become themes within the genre. Furthermore, when the songs of a single author are grouped together, a biographical concept emerges, as we see for example in the oeuvres of Walther von der Vogelweide and Petrarch. This lyrical ›biography‹ is not, however, presented continuously from song to song, and it does not reflect continuous transitions in the ageing process. Rather, it emerges from the viewpoint expressed in each individual lyric, thus being sketched in abruptly. In contrast to life’s real transitions, these dramatic leaps and ruptures, poetic life-transitions, prove to be reversible through the process of reading.

Dass wir nicht schleichend, sondern abrupt altern, hat die Literatur immer schon erkannt. Nicht der lineare Prozess, sondern die Ruptur ist das poetisch Interessante, nicht die Dauer oder der Verlauf, sondern die Sprünge und Risse, aristotelisch gesagt: die Peripetien oder auch die Katastrophen des Lebens haben poetischen Reiz und reizen die Poesie. Der Leitbegriff der Tagung und des Tagungsbandes, die Zäsur, ist also glücklich gewählt. Er betont den Aspekt des Einschnitts, der diskontinuierlichen Konzeption des Lebensweges. Meine Ausführungen möchten drei in diesem Spannungsfeld liegende Fragenbereiche berühren: Zunächst werde ich einige grundlegende Aspekte der abendländischen Konzeption von Alterszäsuren und ihrer Thematisierung in der mittelalterlichen Liebeslyrik ansprechen. Ich werde – in Zusammenhang mit diesen Gedanken – den zweiten Schwerpunkt auf die dramaturgische Qualität der einschlägigen lyrischen Phantasmen legen: Inwiefern sind sie Mittel einer Dramatisierung, einer diskursiven wie metaphorologischen Aufgeregtheit der Texte und also zuallererst nicht einfach Ausdruck oder Widerspiegelung vorhandener Diskursformationen, sondern poetisch-dramaturgisch funktional. Drittens – und das ist die

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Hauptsache – möchte ich nach der poetologischen Qualität des Themas und der mit ihm verbundenen Darstellungs- und Denkformen fragen: Wie hängt die Ausbildung und Differenzierung von Vorstellungen des Lebensweges, der Lebensdauer, der Lebensabschnitte mit der Ausbildung und Differenzierung lyrischer Œuvres zusammen? Welche Rolle spielen oder wie formieren sich in diesem Zusammenhang Autorfunktion und Autorgestalt? Worin besteht dabei schließlich die kulturelle, konzeptive und kommunikative Leistung der erotischen, weltlichen Poesie in ihrem prekären Verhältnis zu einschlägigen mittelalterlich-theologischen Topoi der vanitas, der eschatologischen Identifizierung von Lebenszeit und Weltzeit: Wenn es mit mir zu Ende geht, muss es auch mit der Welt zu Ende gehen – dieser eschatologische Egoismus ist, wie Hans Blumenberg gezeigt hat, wenn nicht eine Erfindung, so doch eine wesentliche Erfolgsstrategie der christlichen Transzendenzfixierung.1 Zu ihr steht die erotische Poesie mit ihrem Programm einer sinnlichen, welt- und körperbezogenen Juvenilität, mit ihrer gleichsam arretierten Jugendlichkeit2 a priori in einem provokanten Missverhältnis, sie propagiert die Inversion einer obersten theologischen Maxime.

I. Konzentriert man sich auf die Zäsur des Alters (wobei ich mir bewusst bin, dass dies eine gewisse, wenn auch naheliegende Reduktion dessen bedeutet, was der pluralische Begriff der »Alterszäsuren« ausdrücken will), so lässt sich als Grundkonsens europäischen Denkens und Dichtens seit der Antike eine dualistische Codierung erkennen: Das Alter ist positiv, wenn es sich auf das Immaterielle, das Intellektuelle, den Geist bezieht; es ist negativ, wenn vom alten Körper die Rede ist.3 Die alternde oder alte Physis ist ein Zitat des Todes, der keine Alters-, sondern eine, die einzige Lebenszäsur darstellt, eine Lebenszäsur, die ihre Dramatik aus dem Faktum 1 2

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Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 2001 (stw 1514). Zur grundlegenden Verschränkung von Liebe und Jugend in erotischer Poesie und im mittelalterlich-frühneuzeitlichen Liebesdiskurs sowie zu dem daraus resultierenden »eklektischen Gebrauch […] der Lebensalterterminologie« siehe Alfred Karnein, »Die Zeit für die Liebe: Zur Darstellung des Verhältnisses von Lebensalter und Sexualität im mittelalterlichen Schrifttum«, in: A. K., Amor est passio. Untersuchungen zum nicht-höfischen Liebesdiskurs des Mittelalters. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel, Trieste 1997, S. 133–146, hier S. 143. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf Thomas Macho, »Altern und Tod«, in: Birgit Hoppe / Christoph Wulf (Hrsg.): Altern braucht Zukunft. Anthropologie, Perspektiven, Orientierung, Hamburg 1996, S. 29–43, nicht weil er diese abendländische Grundvorstellung auffächern würde, sondern weil er mit seiner pauschalen und recht ahistorischen Darstellung auch ihre bloß im Groben gegebene Gültigkeit dokumentiert.

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bezieht, dass sie »jederzeitlich« eintreten kann.4 Die alte Physis verweist auf die dringliche Fälligkeit dieser Jederzeitlichkeit des Todes, sie ist seine negative Analepse, wohingegen die alte Metaphysis, wenn ich so sagen darf, ein prospektives, transzendentes Ideal repräsentiert. In der Antike ist es das Ideal einer universalen, zeitenthobenen, letztlich göttlichen Weisheit, die beispielhaft im greisen und abgeklärten Philosophen inkarniert. Im Christentum hingegen öffnet das weltenthobene Heilige, das vorzüglich im asketischen, ausgezehrten Körper des Heiligen manifest wird, das Fenster zu dem, was nicht von dieser Welt ist. Diese »metaphysische Positivität« ist gerade auch, was die einschlägigen Körperbilder betrifft, rein männlich codiert, dem weiblichen alten Körper wird sie nicht zugestanden.5 Der alte, abgeklärte und weise Geist ist dabei ein Idealzustand, der sich körperungebunden realisieren kann, wie der Topos vom puer senex lehrt.6 Er lässt den Leib, egal ob der alt oder jung ist, vergessen, er lässt den Leib als Signum der Weltbindung und damit der Bindung an Zeit, Zeitlichkeit und lebenszeitliche Zäsuren hinter sich. Die radikalste Formulierung dieser Idee ist die Maxime, hienieden wie eine Leiche zu leben, sich der Welt und den weltlichen Lustbarkeiten gegenüber zu verhalten, als wäre man schon tot, wie es in Anselms von Canterbury Exhortatio ad contemptum temporalium et desiderium aeternorum (PL 158, Sp. 677–686) heißt:

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Zu dieser Idee der »Jederzeitlichkeit« des Todes, die ein wesentliches Moment der Dramatisierung in den Todesdiskursen ausmacht, siehe Vladimir Jankélévitch, Der Tod. Aus dem Französischen von Brigitta Restorff, hrsg. und mit einer Nachbemerkung von Christoph Lange, mit einem Nachwort von Thomas Kapielski, Frankfurt a. M. 2005 [frz. erstmals 1966, überarbeitete Fassung 1977]. Dass der weibliche alte Körper vielmehr als Manifestation von sündhafter und zugleich grotesker, weltverfallener Geilheit fungiert, zeigt Sandra Linden, »Die liebeslustige Alte. Ein Topos und seine Narrativierung im Minnesang«, in: Dorothee Elm / Thorsten Fitzon / Kathrin Liess / S. L. (Hrsg.), Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin und New York 2009, S. 137–164, hier bes. S. 140f.; zur einschlägigen ikonographischen Tradition in der Frühen Neuzeit Stephanie Knöll, »Der weibliche Körper als Sinnbild des Alters. Zur Naturalisierung der Altersdarstellungen im 16. Jahrhundert«, in: Ebd., S. 165–186. Zur »Vermännlichung« des Körpers der weiblichen Heiligen (vor allem in der jungen, heiligen virgo) siehe Simon Gaunt, Gender and Genre in Medieval French Literature, Cambridge 1995 (Cambridge Studies in French 53), S. 180–233. Analoges gilt für die schönen und positiven »jung-greisen« weiblichen Allegorien wie Natura oder Boethius’ Philosophia, von denen Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern und München 111993, S. 112–115 (»Greisin und Mädchen«), handelt; die schönen Körper negativer, vor allem auf das Erotische bezogener weiblicher Allegorien sind hingegen Trugbilder, das eindringlichste Beispiel gibt Frau Welt (siehe unten); auffällig bleibt freilich, dass weiblich verkörperte Idealität unterschwellig immer auch erotisch codiert wird. Hierzu Curtius, Europäische Literatur, S. 108–112.

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Esto mortuus mundo, et mundus tibi. Mundi gloriam aspice, tanquam mortuus; sicut sepultus non habeas curam de saeculo. Tanquam defunctus ab omni terreno te priva negotio. (Sp. 686A)7

Die Zäsur, die zu einer solchen Einstellung führt, ist die conversio und sie ist nun nicht unbedingt oder – aus theologischer Sicht – idealerweise überhaupt nicht altersgebunden, sondern kategorial gültig. Ich werde auf dieses Zäsuren-Paradigma der conversio noch zurückkommen. In diametralem Gegensatz zu dieser Maxime bleibt erotische Lyrik wie angedeutet immer auf den Eros als s i n n l i c h e s Phänomen konzentriert, sie richtet sich auf eine Sphäre der Immanenz und auf immanente Leiblichkeit. Die diskursiven und ikonischen Operationen der Analogie, des Denkens und Bildens in Ähnlichkeiten, die das Mittelalter programmatisch und exzessiv kultiviert, machen es möglich, diese Idee positiver immanenter Leiblichkeit im Gestus der Sublimierung, gleichsam im Sinne einer transzendenten Zitation abzusichern. Ein solches Programm praktiziert vor allem der grand chant courtois, also die höfische Werbelyrik oder die Lyrik der Hohen Minne. Gut fassen lässt sich dies etwa in den mariologischen Stilisierungen der Geliebten.8 Dantes Vita Nova treibt diesen Gestus auf die Spitze, das Als-ob wird dabei zu einer Relation der Identität: Beatrice ist nicht w i e , sondern sie i s t der jüngste Engel (angiola giovanissima) des Himmels und als solcher kann sie – nebenbei bemerkt – auch nicht altern, sondern wird von Amor in jener Jugendlichkeit dem Himmel zurückgegeben, die ihrer transzendenten Herkunft entspricht.9 Ganz grundsätzlich setzt die zelebrative Bindung an Welt und Leiblichkeit in der Lyrik den Ausschluss, die Negierung von Zeit im Sinne einer körperlich wahrnehmbaren vergehenden Lebenszeit voraus. Die extremste Lösung dieses Paradoxons einer arretierten Zeit erfindet wiederum Dante, sie besteht in der »Tötung« Beatrices durch den Autor, in einem sozusagen poetologisch motivierten Mord. Als schöne Leiche wird die Geliebte der Zeit enthoben, und das liebende männliche Subjekt kann sich von nun an auf ein transzendentes, der Zeit und der Zeitlichkeit ent7

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»Sei der Welt ein Toter und die Welt dir. Den Ruhm der Welt, betrachte ihn wie ein Toter; wie der Begrabene sollst du keine zeitlichen Sorgen haben. Wie ein Verschiedener entziehe dich jedem weltlichen Geschäfte.« (Übersetzungen hier und im Folgenden von mir.) Zu Text und Stelle Manfred Kern, Weltflucht. Poesie und Poetik der Vergänglichkeit in der weltlichen Dichtung des 12. bis 15. Jahrhunderts, Berlin und New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 54 [288]), S. 169–172. Vgl. Peter Kesting, Maria–Frouwe. Über den Einfluß der Marienverehrung auf den Minnesang bis Walther von der Vogelweide, München 1965. Vgl. Vita Nova 1,9 [II,4]; Zählung und Zitate nach: Dante Alighieri, Vita Nova. A cura di Luca Carlo Rossi. Introduzione di Guglielmo Gorni, Milano 1999 (die alte Kapitelzählung in eckiger Klammer). Von der auf Intervention eines Engels durch Gott befohlenen Heimholung Beatrices in den Himmel, von dem sie stammt, berichtet Kap. 10 [XIX].

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bundenes weibliches Idealobjekt als Spiegel seiner selbst beziehen; der Gesang, das Dichten aber wechselt auf diese Weise vom Modus einer immanenten erotischen in den einer gleichsam transzendenten, parareligiösen Übung und überschreitet damit selbst die Zäsuren von Alter und Zeit oder lässt sie hinter sich – im Falle Dantes bedeutet dies etwa, dass das poetische Subjekt am Ende der Comedia, obwohl es sich weiterhin in der Welt und damit in der Zeit denkt, jedem Prozess des Alterns entbunden ist, im christologischen Alter von dreiunddreißig Jahren, »in der Mitte des Lebens«, wie es zu Beginn heißt, seinen Finalzustand erreicht. Dass es im schlimmsten Fall »nur über ihre Leiche« geht, wie man mit Elisabeth Bronfen sagen könnte,10 ließe sich als Ausdruck einer zynischrigiden lyrischen Geschlechterpolitik begreifen. Angesichts der dominanten Formeln von Vergänglichkeit und Hinfälligkeit des vorzüglich weiblichen Fleisches, von Fäulnis und Verwesung, wie sie die Tradition theologischer Weltverachtung zur Verfügung stellt, wird man aber eher von einem Coup sprechen müssen, den die Poesie in der Tradition des dolce stil novo hier lande. Nichts verdeutlicht das besser als der Satz über Lauras Tod, der sich im Triumphus Mortis Petrarcas, des zweiten poetischen Frauenmörders, findet: Morte bella parea nel suo bel viso – auf diesem, auf Lauras schönem Gesicht erscheint selbst der Tod als schön.11 Die Todesallegorie, die eben noch als schreckliche dunkle Schaudergestalt aufgetreten war, macht eine Metamorphose durch, und diese Hintergehung der Logiken des Memento mori und der mit ihm verbundenen körperfeindlichen Diskurse scheint mir einer der bemerkenswertesten Kraftakte der Poesie. Sinnfällig wird diese Distanzierung etwa in der intelligenten Miniatur zu Triumphus Mortis I im Codex der Anne Polignac (um 1500, Abb. 1):12 Lauras schöner Leichnam schiebt mit der Hand die Sense der Todesallegorie von sich; die im verwesenden weiblichen Körperbild der Todesallegorie und im Motiv der Schlange aufgerufenen einschlägigen negativen Topoi einer signifikant geschlechterspezifisch codierten vanitas werden genau von der »schönen, weiblichen Leiche« distanziert.

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Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Deutsch von Thomas Lindquist, München 1994. Triumphus Mortis I,172, zitiert nach Francesco Petrarca, Trionfi, Rime estravaganti, Codice degli abbozzi. A cura di Vinicio Pacca e Laura Paolino. Introduzione di Marco Santagata, Milano 1996. Biblioteca petrarchesca Reiner Speck, Ms VI; zur Handschrift siehe Florian Neumann, »Biblioteca petrarchesca Reiner Speck«, in: Reiner Speck / F. N. (Hrsg.), Francesco Petrarca 1304–1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Biblioteca petrarchesca Reiner Speck, Köln 2004, S. 283–490, hier S. 289f., Abbildungen S. 185–188., hier S. 185.

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Abb. 1: Francesco Petrarca, Triumphus Mortis I. Biblioteca Petrarchesca Reiner Speck, Ms VI, Codex der Anne Polignac (um 1500)

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Der Tod der Geliebten in der Blüte des Lebens wäre an sich die schärfste Zäsur, die sich denken lässt, ein Tod zur Unzeit, der klassische Fall einer mors immatura. Er fungiert bei Dante und Petrarca jedoch als Stillstellung und nicht als Vernichtung schöner Körperlichkeit, als deren Überführung in die Transzendenz – was nebenbei zeigt, wie eminent körperlich das Mittelalter diese Transzendenz denkt und bildet, auch dies ein signifikanter Effekt des Denkens und Bildens in Ähnlichkeiten. Beatrices und Lauras Tode sind Löschungen von Zeit und Zeitlichkeit, schwierige Löschungen freilich, vor allem im Falle Petrarcas und der beibehaltenen Relation auf Welt und weltliches Dichten, wie sie die Rerum vulgarium fragmenta auch nach Lauras Tod auszeichnet; sie sind die Negation der schärfsten aller möglichen Zäsuren, Negationen des Todes als Lebensund nicht als Alterszäsur. Es wundert nicht, dass sich diese radikal paradoxe Entbindung von der Zeit am Ende der lyrischen Tradition des Mittelalters findet. Und nicht zufällig gründet sie ganz wesentlich in einem prononcierten Lebenswegschema, mit dem Dantes und Petrarcas poetisch-lyrische Entwürfe operieren.

II. Zunächst beginnt alles freilich einfacher. Der Minnesang wird praktiziert als eine Lyrik, die gegen das Prinzip des b i o g r a p h i s c h e n V e r l a u f s die Idee eines e r o t i s c h en S t at u s setzt. Das Problem des Alterns wird nicht im Sinne eines narrativ ausgestalteten, mimetisch plausiblen L e b e n s we g e s , sondern eines lyrisch-zirkulär forcierten L i e b e s z u s t a n d s funktional. Der Minnesänger kann sich dabei aufgrund seines Leidens gealtert und alt fühlen, er kann sich als ein anderer puer senex, greise vom Lieben und nicht von Verstand, gerieren. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang die Diskrepanz, die »Desynchronisierung« der Biographien. Während e r im Leiden altert, bleibt s i e im Geliebtwerden jung und schön wie eh. Gezeichnet ist e r dabei nicht von der Dauer der Zeit, sondern von der Intensität der Empfindung: Die Altersdiskrepanz zwischen dem Sänger und seiner Geliebten ist eine Leidensdiskrepanz, die rhetorisch dem Prinzip der hyperbolé gehorcht und thematisch auf das Konzept einer einseitigen erotischen Verausgabung verweist, wie sie lyrisches Lieben im Minnesang auszeichnet.13 13

Signifikant ist in dieser Hinsicht etwa das Narzisslied Heinrichs von Morungen (Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. I.: Texte, Stuttgart 381988, Nr. XXXII), das im Vergleich zwischen Torheit und Verausgabung des liebenden Sängers mit dem Kind, das seinen Spiegel (Str. 1) zerbricht, bzw. dem Kind,

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Zwei Aspekte scheinen mir hier wichtig: Der eine ist die prinzipiell denkbare Reversibilität der Alterszäsur. Dass erotische Erfüllung oder die Aussicht auf sie wieder jung macht, dieser Topos findet sich etwa in unterschiedlichen Abwandlungen in den Carmina burana, so in CB 104.I (Egre fero, quod egroto),14 wo ein nuper senex in der Aussicht auf Floras Liebesdienste sich »entgreist« (desenesco heißt es im Text) – mit dem ironischen und nun tatsächlich geschlechtertheoretisch intrikaten Effekt, dass die arme Flora als Flora deflorata mit dem Verblühen konfrontiert wäre. Mit dem Refrainvers »moriar in Venere!« imaginiert das poetische Subjekt einen anderen Tod, der nicht nach der Logik von Lebenszeit verrechenbar ist und, wie auch schon die Form andeutet, immer wieder gestorben werden kann: Gegen die Idee einer biographischen Finalität ist die Idee einer erotischen Zyklizität gesetzt. Möglich macht diese vorgestellte Reversibilität die bloß metaphorische Gültigkeit des Alterstopos im erotischen Sujet. Sie bietet nun aber auch den Ansatzpunkt für eine »Demetaphorisierung«, das heißt: für eine konkrete Lektüre der metaphorischen Idee, im Lieben und Leiden aus Gründen der Intensität und nicht der Zeit alt zu werden. Die einschlägigen Stellen sind in der germanistischen Mediävistik wohlbekannt und schon öfter besprochen worden.15 Da will zum einen bei Heinrich von Morungen (Het ich tugende niht so vil, MF III [124,32], Str. 3) der Sänger seine Liebesnot auf seinen Sohn vererben, mit dem Effekt, dass dann sie, die Geliebte, nachvollziehen muss, was er jetzt durchmacht (wobei noch nicht explizit von einem umgekehrten Altersverhältnis die Rede ist, dass die nun Alte nach

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das in der Quelle sein Abbild sah und es lieben muss bis zu seinem Tod, einen unmittelbaren Bruch im Lebensverlauf des Liebenden von der Kindheit, gleichsam der unbeschwerten Zeit einer illusorischen Liebe, hin zum Tode phantasiert. Der Text bietet im Übrigen eines der wenigen Beispiele für die Thematisierung des Kindesalters im Minnesang. Zitiert nach Carmina Burana. Die Lieder der Benediktbeurer Handschrift. Vollständige Ausgabe des Originaltextes nach der von Bernhard Bischoff abgeschlossenen kritischen Ausgabe von Alfons Hilka und Otto Schumann. Heidelberg 1930–1970. Übersetzung der lateinischen Texte von Carl Fischer, der mhd. Texte von Hugo Kuhn. Anmerkungen und Nachwort von Günter Bernt, München 1979. Vgl. bes. Christoph Cormeau, »Minne und Alter. Beobachtungen zur pragmatischen Einbettung des Altersmotivs bei Walther von der Vogelweide«, in: Ernstpeter Ruhe / Rudolf Behrens (Hrsg.), Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois, Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens. Kolloquium Würzburg 1984, München 1985 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters XIV), S. 146–165; Ute von Bloh, »Zum Altersthema in Minneliedern des 12. und 13. Jahrhunderts: Der ›Einbruch‹ der Realität«, in: Thomas Bein (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Produktion, Edition und Rezeption, Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Walther-Studien 1), S. 117–144; Volker Mertens, »Alter als Rolle. Zur Verzeitlichung des Körpers im Minnesang«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 128 (2006), S. 409–430; Detlef Goller, »Inszenierungen des Alters im Minnesang bis Neidhart«, in: Elisabeth Vavra (Hrsg.), Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Wien 2008 (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 21), S. 157–173; Linden, »Die liebeslustige Alte«.

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dem Jungen schmachte). Reinmars Lied Der lange suozer kumber mîn (MF XV.5 [167,13]) spricht die Vorstellung der zeitlichen Dauer schon im Incipit aus. Der Liebende beschwert sich hier in der 5. Strophe über die indezente Frage der Leute nach dem Alter seiner Geliebten, der er schon so lange in Treuen anhänge. Die Herrin möge ihn den Nutzen aus dieser Unverfrorenheit ziehen lassen – was wiederum der Gipfel der Unverfrorenheit ist, denn damit wird ihr nichts anderes um die Ohren gerieben, als dass sie umso sichtbarer altere, je länger sie ihn nicht erhöre:16 Ein rede der liute tuot mir wê, da enkan ich niht gedulteclîchen zuo gebâren. nu tuont siz alle deste mê: si vrâgent mich ze vil von mîner vrowen jâren Und sprechent, welcher tage si sî, dur daz ich ir sô lange bin gewesen mit triuwen bî. si sprechent, daz es möhte mich verdriezen. nu lâ daz aller beste wîp ir zuhtelôser vrâge mich geniezen.17

Die Strophe zeigt recht deutlich, wie die eben metaphorische Vorstellung eines vom Liebesleiden bedingten Alterns plötzlich lebenszeitlich rückverrechnet wird, womit sich Ironie und Komik, die dem Topos wenigstens tendenziell immer eingeschrieben sind, vom alternden Sänger auf die nunmehr mitalternde Dame übertragen.18 Den schlimmsten Witz dreht aus der beim Wort genommenen Altershyperbel Walther von der Vogelweide (Lange swîgen des hât ich gedâht; L. 72,31, Str. 5):19 Während er im Liebesleiden älter werde, werde sie nicht eben jünger, warnt der Sänger seine Herrin. Mag sein, dass sein Haar dann so aussehe, dass sie einen Jungen wolle. Und dieser junge Sänger/Mann wird nun direkt angesprochen. Er – Gott stehe ihm bei – soll ihn, den Alten, rächen und ihre alte Haut mit Sommerlatten (oder – was noch aggressiver und obszöner wäre – mit einer Sommerlatte?) angehen: Sol ich in ir dienste werden alt, die wîle junget si niht vil. sô ist mîn hâr vil lîhte alsô gestalt, daz si einen jungen danne wil. 16 17

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Vgl. auch die Strophe MF XXXVIa.5 [186,13], hierzu Mertens, »Alter als Rolle«, S. 415. »Ein Gerede der Leute tut mir weh, / demgegenüber ich mich nicht duldsam verhalten kann. / Nun tun sie es aber alle umso häufiger: / Zu oft fragen sie mich nach den Jahren meiner Herrin / und rätseln, wie alt sie wohl sei, / weil ich ihr schon so lange in Treuen ergeben bin. / Sie reden, dass es mich ganz verdrießlich macht. / Nun möge mich die beste aller Frauen / Nutzen aus ihrer ungehörigen Frage ziehen lassen.« Linden, »Die liebeslustige Alte«, bes. S. 138–145. Zitate hier und im Folgenden nach Walther von der Vogelweide, Werke. Mhd. / Nhd., hrsg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle, Band 2: Liedlyrik, Stuttgart 1998.

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sô helfe iuch got, hêr junger man, sô rechet mich und gêt ir alten hût mit sumerlaten an! (L. 73,17)20

Man kann die drei Belege gleichsam als eine Klimax der Fehllesung, des unmetaphorischen Missverständnisses eines m e t ap h o r i s c h e n Gestus begreifen, eines metaphorischen Gestus, der sich in uneigentlicher Weise auf das eigentlich Gemeinte, auf das Lieben und nicht auf das Leben, auf einen existenziellen Status und nicht auf einen existenziellen Prozess bezieht. Diese Fehllesung hat gravierende Rückwirkungen auf das erotische Sujet und auf die beiden zentralen dramatis personae des lyrischen Textes. Zum einen auf die Person der Geliebten: Betrieben wird nichts weniger als eine radikale Inversion. Die Verehrung der vrouwe verkehrt sich zu einer misogynen Destruktionsphantasie, die letztlich die notorische Formel des contemptus mundi, der geistlichen Weltverachtung und vanitasIdeologie in eine poetische Sphäre hineinhebt, die eigentlich das genaue Gegenteil, nämlich Weltlichkeit und Immanenzbezug zelebriert. Die Geliebte, die – unter der poetischen Prämisse einer arretierten Zeit – als Sinnbild immanenter Schönheit und das heißt: schöner Körperlichkeit fungierte, gerät zum trügerischen Signum der Vergänglichkeit. Der schöne Leib wird zur momentanen Hülle eines in Wahrheit, nämlich i n d e r Z e i t auf das Hässliche zulaufenden Körperbildes, als die Vorstufe eines irreversiblen Ziel- und Endzustands: Das wunder wol gemachet wîp, wie die Geliebte in einem Preislied Walthers (L. 53,25) heißt, wird zur alten Haut, auf die mit Ruten oder eben mit einer ganz speziellen Rute losgegangen wird. Die destruktive Repräsentation der lyrischen Körper, vor allem des Körpers der Geliebten gipfelt in jener Vorstellung, die als Frau Welt bekannt ist. Und nicht zufällig gilt ja auch Walther als Schöpfer dieser Allegorie: Frau Welt ist vorne schön, hinten aber schändlich anzusehen.21 Konrad von Würzburg malt die bei Walther bloß angedeutete allegorische Leiblichkeit von Frau Welt breit aus: Ein Bild der Verwesung gibt sie von hinten ab, Maden, Kröten und anderes Getier durchkriechen ihren eitrigen, ekligen Leib.22 Das ist die genau diametrale Arretierung von Zeit und Zeitlichkeit. Das Prozesshafte, die Zeit wird gleichsam vom Ende her negiert. Nicht wird ausgeblendet, was n o c h n i c h t ist, sondern was war: Der schöne Leib wird nicht der hässliche, verfaulte werden, sondern er ist 20 21

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Zur Übersetzung vgl. die Paraphrase im Vorfeld des Zitats. Frô Werlt ir sult dem wirte sagen (L. 100,24), Str. 3, V. 8f.: doch was der schanden al ze vil, / dô ich dîn hinten [den hintern Teil der personifizierten Welt] wart gewar. Zur Weltallegorie bei Walther siehe Kern, Weltflucht, S. 99–132, zu Konrad von Würzburg ebd., S 43–67. Der Welt Lohn, V. 217–238, in: Konrad von Würzburg, Heinrich von Kempten, Der Welt Lohn, Das Herzmaere. Mhd. Text nach der Ausgabe von Edward Schröder, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Heinz Rölleke, Stuttgart 1968.

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es i m m e r s c h o n . Auch dieser diskursive und ikonische Topos ist in seiner radikalen Form also – wie der einer erotischen Verjüngung (nuper senex desenesco) – nicht nach der Logik eines biographischen Verlaufs gedacht; die entsprechenden Zäsuren beschreiben im strengen Sinn keine Alterszäsuren, sondern hermeneutische Einschnitte, die von einer geistlichen Allegorese, von einem plötzlichen Umschlag des weltlich-poetischen in den geistlich-allegorischen Modus gesetzt werden.23 Erotische Poesie ist in solchen textuellen Momenten dabei, die Vorstellungen theologischer Weltverachtung aufzurufen, sie hebt die Negativität der Immanenz in einen poetischen Kontext, der gerade ihre Positivität zu zelebrieren vorgibt. Und auf diese Weise scheint der Minnesang seine eigene Aufhebung als poetische Diskurs- und Repräsentationsform zu betreiben. Die in den lyrischen Text gehobene k o n k r e t e und nicht m e t a p h o r i s ch e Zäsur des Alters und die mit ihm aufgerufene Lebenszäsur des Todes scheinen zugleich eine poetologische Zäsur zu implizieren: den Schnitt, die Bruchstelle von einer affirmativen, diesseitsbejahenden Dichtung in der Welt hin zu einer destruktiven Dichtung weg von Welt und Eros. Ihr destruktives Potenzial manifestiert sich in der Negativierung des weiblichen Liebesobjektes, in einer Negativierung, die sich am erotisierten Körper festsetzt und somit nichts weniger tilgt als das eigentliche Sujet im innerpoetischen Sinn wie im Sinne der Kunstübung. Die zweite betroffene Person ist nicht die besprochene, sondern die s p r e c h e n d e I n s t a n z , der Liebende und Singende. Wenn sein Liebeshandeln nicht mehr situativ-statisch gedacht wird, sondern mit seiner Lebenszeit verrechnet wird, dann bedeutet dies die Übertretung einer primären Genrekonstellation (wobei ich den Begriff »primär« weniger zeitlich als genretypologisch meine). Schon Christoph Cormeau hat erkannt, dass sich damit ein Spannungsverhältnis zwischen einer poetisch-fiktiven Konstellation, dem Liebenden und Sänger als Rolle, und einer außerpoetischen Referenzgestalt, nämlich dem Sänger-Autor als Urheber des Textes ergebe (wobei im Moment des Singens der Konvergenzpunkt zwischen innerpoetischer und außerpoetischer Stimme und Situation benannt wäre).24 Ute von Bloh hat dafür den in der folgenden Diskussion sehr wirkungsmächtigen Begriff eines »Einbruchs der Realität« geprägt,25 der mit der Korrelierung von Liebeszeit und Lebenszeit stattfinde. Problem und Begriff sind forschungsgeschichtlich umso intrikater, weil sie zu einem Zeitpunkt neu thematisiert wurden, als man sich von einer erlebnislyri23

Vgl. hierzu Kern, Weltflucht, S. 299–307.

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Cormeau, »Minne und Alter«, bes. S. 147–150. von Bloh, »Zum Altersthema«, bes. S. 118–123, mit Bezugnahme auf Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1993 (stw 1101).

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schen oder biographistischen Deutung, vor allem der Lieder Walthers, endlich verabschiedet hatte. Schon bei Cormeau ist dieses zwiespältige Unbehagen spürbar. Zwiespältig ist es deshalb, weil ein Rückfall hinter einen erreichten theoretischen Erkenntnisstand droht, weil die »naive«, biographistische Lektüre des Lebenszeit-Schemas, das in den lyrische Œuvres (im deutschen Minnesang von Morungen über Reinmar zu Walther) zunehmend schärfere Konturen annimmt, aber auch eine philologische Sehnsucht befriedigt: Vielleicht hören wir ja doch die authentische Stimme des alten Walther von der Vogelweide und also die Stimme, die wir immer hören wollten, wenn der greise Sänger in seiner Elegie über die verschwundenen Jahre klagt oder wenn er sich im Alterston von der Bühne verabschiedet? Freilich, die Sache ist komplizierter, und deshalb ist der Begriff vom »Einbruch der Realität« fatal. Zunächst einmal steht zwar außer Streit, dass es so etwas wie lebensweltliche Referenzen im Minnesang gibt, die eine Verbindung stiften zwischen historischem Autor und textueller Autorgestalt oder Autorfunktion. In den Liedern, die unter dem Autornamen »Kaiser Heinrich« überliefert sind, spricht tatsächlich ein Sänger, der Kaiser ist. Und in den Liedern des notorischen Reisenden Friedrich von Hausen werden Fern- und Distanzerfahrung thematisch. Das Problem wird schließlich virulent in den Kreuzzugsliedern, ein Musterbeispiel dafür gibt Hartmann von Aue. Ich kann das hier nicht vertiefen, fest steht aber ebenso, dass die sogenannten lebensweltlichen Spuren im Minnesang zu keinen biographisch sicheren Daten führten. Dies ist auch kein Wunder, da sie nicht außerpoetisch, sondern innerpoetisch generiert und funktional sind. Wir fassen nicht Kaiser Heinrich im Sänger, sondern den Kaiser als Sänger (oder den Sänger als Kaiser), nicht den Kreuzfahrer Friedrich von Hausen oder Hartmann von Aue im Sänger, sondern den Sänger als Kreuzfahrer usw. Vielleicht lässt sich genau dieses Problem einer komplexen mimetischen Konstruktion und Relation »biographischer« Verläufe an der Konturierung des lyrischen Œuvres durch Lebensweg- und Lebenszeit-Motive, wie sie bei Reinmar oder Walther thematisch werden, klarer fassen. Sie scheint mir nämlich nicht aufgrund einer a priori gegebenen Korrelation oder Referenzierung von textueller Autorgestalt und historischem Autor gegeben, sondern an essentielle textpoetische, gattungsästhetische und gattungsgeschichtliche Entwicklungen gebunden. Wenn der Sänger bei Reinmar berichtet, er werde von indezenten Leuten gefragt, wie alt seine Geliebte denn sei, weil er sie schon so lange liebe, so weist diese Logik der Dauer und der im Lieben und Leben verbrauchten Lebenszeit über den Horizont des konkreten Liedes, des Einzeltextes hinaus. Hergestellt wird eine Relation zu anderen Texten, in denen das Ich, nämlich genau das Ich, das in diesem Text liebt und singt,

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schon geliebt und gesungen hat. Vorausgesetzt ist also die Vorstellung einer textübergreifenden Ich-Gestalt und eines homogenen Œuvres. Erst diese Vorstellung eines Œuvres aber entwirft ein zweites Narrativ, eine zweite Erzählung, die nicht auf das je eine Lied beschränkt bleibt, sie entwirft ein Narrativ, einen Lebensroman sozusagen, zu dem die Einzellieder die Kapitel bilden.26 Eine wirkungsästhetische Voraussetzung dieses Prozesses scheint mir das spezifische Profil, der spezifische Ton einer Sangesweise und ihr Erfolg, zu sein, die Kanonisierung eines autorgebundenen Werks. Erst sie macht es möglich, dass einer sagt: »Jetzt singe ich, ich derselbe, ein neues Lied.« Mit diesem Konnex von Kanonisierung und liedübergreifender Narrativierung wird die »Biographie« des Liebenden und Singenden im Text imaginativ verknüpft mit dem Namen des Autors. Nicht fließt dessen Leben in das Werk ein, sondern das Werk erzeugt das Phantasma eines lyrisch erzählten Lebens, wobei dieses Phantasma im Falle des Minnesangs oder wenigstens im Falle Walthers von der Vogelweide tatsächlich auch im Werk selbst den Namen des Autors trägt. Aus dem Œuvre imaginieren wir, oder imaginiert s i c h die Person in ihrer Lebenszeitlichkeit. Den imaginären Charakter dieses Konstrukts dokumentieren nicht erst die unzähligen divergierenden Biographien, die die neuzeitliche Waltherrezeption hervorgebracht hat – vom Reichsdichter des 19. Jahrhunderts bis zu Peter Rühmkorfs Protestsänger. Auf die historische Person kann dieses Phantasma – wenn überhaupt – nur in den ganz knappen Urmomenten primärer und singulärer Auftritte des Autors bezogen gewesen sein. Schon das Walther-Bild der Manessischen Handschrift hat aber bloß imaginative Geltung und signifikanterweise rekurriert es auf eine Autor-Imago des Textes, auf jenes textuelle Bild des denkenden Dichters auf dem Stein, das der Reichston entwirft. Die Verzeitlichung des subjektiven Erlebens, von dem ein lyrischer Text spricht, die Verzeitlichung hin zu einem lyrisch repräsentierten Lebensweg kann erst ein mehr oder weniger konsistentes Œuvre erzählen, und es erzählt ihn, sobald es ist. Das produktionsästhetisch gewollte und rezeptionsästhetisch erkannte, identifizierbare Œuvre macht es möglich, dass sich die einzelnen Lieder als Stationen eines Lebens lesen lassen, dass die Ich-Gestalt nicht mehr nur liedgebunden, sondern liedübergreifend 26

Vgl. hierzu Manfred Kern, »Auctor in persona. Poetische Bemächtigung, Topik und die Spur des Ich bei Walther von der Vogelweide«, in: Helmut Birkhan (Hrsg.) unter Mitwirkung von Ann Cotten, Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24.–27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich), Wien 2005 (Österreichische Akademie der Wissenschaften; Philosophisch-historische Klasse; Sitzungsberichte 721), S. 193–217.

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konturiert ist. Damit aber wird Lebenszeit, werden Alterszäsuren und Lebensalter im eigentlichen Sinne thematisch. Auch dies geschieht freilich auf eine eminent poetisch-autonome Weise, die Zeitrechnung ist wieder nicht mimetisch oder mimetisch-linear auf ein außerpoetisches, historisches Leben bezogen, sondern folgt einer poetischen Dramaturgie. Und auch dieser Aspekt unterstreicht, dass nicht »Realität« in den lyrischen Text einbricht, sondern Phantasmen, poetische Entwürfe – mit Iser würde man sagen: imaginäre Realitäten – ins Reale ausbrechen.

III. Ich möchte die lyrische Regie des Lebenswegs an Walther und Petrarca noch etwas genauer darstellen und am Ende auf jenes prekäre Versprechen eingehen, das der textuelle Lebensentwurf Autoren wie Rezipienten gleichermaßen zu geben scheint. Zunächst einige Beobachtungen zum Lebensnarrativ des Œuvres: Seine Konturen ergeben sich bei Walther weniger aus einer konsequent und linear thematisierten Zeit, sondern aus den diversifizierten erotischen, politischen und geistlichen Sujets, die aufeinander bezogen sind. Es sind also nicht oder nicht in erster Linie eigentliche Alterszäsuren und eine damit verbundene lebenszeitliche Tiefendimension, die die auch »biographische« Substanz des poetischen Subjekts ausmachen, sondern »Erfahrungszäsuren«, krisenhafte Erwartungen oder Enttäuschungen, die ihm etwa im politischen oder im erotischen Sujet widerfahren. Sie formen als zugleich poetologische Zäsuren die Gestalt dieses Subjekts und beziehen ihrerseits ihre Markanz aus einer eminenten intertextuellen Relation auf das eigene Werk und auf andere Œuvres, vor allem auf Morungen und Reinmar. Wenn dabei dennoch in markanter Weise Lebenszeit ins Spiel kommt, so nicht, weil von Lied zu Lied ein biographischer Verlauf konstruiert wird. Es sind vielmehr radikale Rupturen, die ein brüchiges und von Brüchen beherrschtes Lebenswegschema erzeugen, wobei nur wenige Lieder konkrete Daten liefern: So findet sich – mit Goethe gesprochen – das Lied eines Mannes von vierzig Jahren (in der Klage, dass die Liebe die Vierundzwanzigjährigen den Vierzigjährigen vorziehe; L. 57,23), dann im Alterston das Lied eines Mannes um die Sechzig (von vierzig Jahren Gesang ist die Rede, auf sechzig Lebensjahre kommt man, wenn man eine Sängerkarriere mit Zwanzig beginnen lässt). In Walthers Elegie klagt ein nicht näher in Jahren bezifferter Greis über seine verschwundenen Jah-

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re.27 Faszinierend an diesen Belegen ist, mit welch kargen und einfachen Mitteln sie die Vorstellung biographisch-zeitlicher Tiefe suggerieren. Die Dramaturgie des Umschlags und der Plötzlichkeit zeigt, dass dieser biographische Entwurf einer freilich innerpoetischen Logik gehorcht und dass er zwar auf Konturen und Umfang eines Gesamtwerks referiert, aber doch aus der spezifischen Perspektive des je einen Liedes verfasst ist (in diesem Phänomen wäre auch das narratologisch Besondere des »Lebensromans« zu fassen, den die Lyrik erzählt). Von einem Moment auf den anderen verschwinden das bisherige Leben und das bisherige Œuvre als Traum in der Elegie, von einem Moment auf den anderen tritt der Sänger im Alterston vor das Publikum, hinterlässt ihm mit großer Geste sein poetisches Werk, sagt sich selbst aber los von Welt, Gesang und Geliebter. Das sind keine poetischen Reflexe realen Erlebens oder realer Lebenseinschnitte, keine »Einbrüche der Realität«, sondern Phantasmen eines fiktiven Lebensverlaufs, die im simulativen Raum der Poesie immer nachvollzogen werden können – der Alterston des Sechzigjährigen etwa auch von vierzigjährigen Lehrenden oder zwanzigjährigen Studierenden.28 Wie gesagt, das lebenszeitliche Narrativ in Walthers Œuvre ist keine konsistente Erzählung, es kennt nur wenige, abrupte Zäsuren, die sich zudem nicht auf eine Ich-Gestalt beziehen, die altersmäßig über das Werk hin kontinuierlich konturiert wäre. Dennoch ist es markant ins Werk gesetzt und im Werk präsent, wie vor allem am conversio-Motiv, an der Weltabkehr im Alterston deutlich wird. Diese conversio findet in komplexer Form auch in der Elegie statt bzw. sie scheitert, weil dem greisen Sänger gerade nicht jene selige Verheißung zuteil werden kann, die er propagiert, nämlich mit dem geweihten Schwert in der Hand ins Heilige Land zu ziehen. Das frohe »Tandaradei« des Kreuzritters, das ihm vorschwebt, wird er nicht singen können, dieser Alte, es bleibt ihm bloß sein klagendes »O Weh!«.29 27

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Die Belege zeigen außerdem, dass die lyrischen Lebensalter-Modelle keine feste Arithmetik kennen (indem sie etwa streng nach Zehnerschritten rechnen würden). Einer ganz eigenen Rechnung folgt Dantes Vita Nova, die zentrale Zahl ist hier die Neun (erste Begegnung mit Beatrice mit 9, mit 18 der erste Gruß, überhaupt ist die Neun als Quadratwurzel der Drei, der Trinität, jene Zahl, die Beatrices symbolisiert, ja Beatrice ist die Neun selbst, vgl. Kap. 19,6 [XXIX,3]). Wie kurios es wäre, von einer unmittelbar mimetischen Relation zwischen textueller Lebenszeit und Autorleben auszugehen, zeigt sich außerdem, wenn man die Sache in Hinblick auf die Aufführungssituation durchdenkt: Bestünde der Effekt in der plausiblen Altersgleichheit des tatsächlich singenden Sängers mit der innertextlichen Sängerpersona, dann hätte es sich schnell ausgesungen, dann hätte Walther – überspitzt gesagt – als Vierzigjähriger ein Lied und dann als Sechzigjähriger zwei, Elegie und Alterston, singen können, knappe und rare Auftritte das! Vgl. L. 124,1, Str. 3, V. 15f.: möhte ich die lieben reise gevarn über sê, /sô wolte ich denne singen wol unde niemer mêr ouwê (»Könnte ich die liebe Fahrt übers Meer antreten, / so würde

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Das Modell von Lebenszeit und Lebensalter bleibt bei Walther reduziert und fragmentarisch. Im Prinzip ist es bipolar, Jugend auf der einen, Alter auf der anderen Seite; dazwischen schiebt sich die Vorstellung einer »reifen«, auch künstlerisch reifen Akmé. Diese reduzierte und auch nur andeutungshaft gegebene Vorstellung ließe sich nun aus dem Faktum erklären, dass Walthers Œuvre in sich zwar klare und dichte Referenzen aufweist, aber nicht programmatisch als lyrischer Zyklus angelegt ist. Anders liegt der Fall bei Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta.30 Die Suggestion des Lebensverlaufs und des Lebensweges ist hier schon in den eingebrachten Daten und in der Zahl der Gedichte zu greifen. Es sind 366, die Zahl der Tage eines Jahres, womit zugleich auf das Leben als das »große« Jahr verwiesen ist. Im Zyklus selbst gibt es freilich ebensowenig wie bei Walther einen als zeitliches Kontinuum repräsentierten Verlauf, das Lebenswegschema konstituiert sich wiederum nicht über biographisch verifizierbare Chronologien, sondern über poetisch plausible Dramaturgien, über Zäsuren oder Rupturen, die nur zum Teil oder nicht unmittelbar Alterszäsuren sind. Die wichtigste Zäsur ist natürlich Lauras Tod mit Kanzone RVF 264. Wenn man den Abschnitt davor lebenszeitlich benennen wollte, dann wäre dies die Zeit der Jugend bis zur erwachsenen Akmé. Eine weitere Zäsur vollzieht sich dann im letzten Viertel des Zyklus, wiederum signifikant markiert im dramatischen Motiv der conversio: Das zuvor im Lebensalter der Reife stehende lyrische Subjekt imaginiert sich nun als ein altes, greises, das an der Schwelle zum Tode steht.31

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ich ›Wie wohl!‹ singen und nicht länger ›O Weh!‹.«) – der Wechsel vom Klage- in den Freudenton bleibt also im Irrealis, hierzu Kern, Weltflucht, S. 102–110. Einen kurzen Hinweis verdient das Lied Frau Welt ir sult dem wirte sagen (L. 100,24). Die Rede ist von einer Abkehr aus dem Haus oder Wirtshaus der Welt und von einer Heimkehr in die sichere Herberge, das ist wohl das Haus Gottes. Vollzogen wird diese Abkehr in einem Streitgespräch zwischen Sänger und Frau Welt. Als die Welt ihn ermahnt, er möge doch ab und an wieder an sie zurückdenken, ist er verunsichert und fürchtet ihre Hinterlist, er fürchtet einen Rückfall. Wie ein solcher Rückfall aber möglich wäre, wenn man den schändlichen Rücken der Welt einmal gesehen hat, diese Erklärung bleibt der Sänger schuldig. Was wichtig ist, ist die Idee der Reversibilität: Das Lied wird meistens zu den Altersliedern gerechnet, die Idee einer Wiederkehr ins Haus der Welt trotz erfolgter conversio scheint mir aber eher einer Logik der Juvenilität zu gehorchen (vgl. ebd., S. 115–122). Francesco Petrarca, Canzoniere. Edizione commentata a cura di Marco Santagata. Nuova edizione aggiornata, Milano 2005. Im Unterschied dazu ereignet sich die conversio als wesentliche biographische Zäsur bei Dante wie oben angesprochen früh: Was an Lebenszeit verbleibt, ist reine zeitliche Dauer, die charakterologisch nicht mehr signifikant und relevant ist. Petrarca hingegen fingiert in RVF 304, einem der »Alterssonette« eine irreale, gemeinsame und harmonische Altersliebe mit der toten Laura und durchkreuzt damit die erotischen und lebenszeitlichen Logiken der Liebesdichtung; das mythologische Vorbild, das dem Text dabei vorschwebt, bilden offenbar Philemon und Baucis.

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Diese letzte Lebensphase ließe sich schon aufgrund der numerologischen Referenz des Zyklus auf das Jahr als der Winter des lyrischen Subjekts beschreiben, wobei diese Vorstellung auch tatsächlich aufgerufen und dabei deutlich kontrastiv auf den Frühling als die traditionelle lyrische Jahreszeit bezogen wird. Ein plastisches Beispiel gibt das Sonett Zephiro torna (RVF 310), das die Wiederkehr des Frühlings mit all seinen Schönheiten schildert – das poetische Subjekt, das sich als greiser Wanderer imaginiert, kann und will daran jedoch nicht mehr teilhaben, sein subjektiver Lebenswinter dauert fort. Die »biographische« Perspektive der Fragmenta mündet schließlich in eine an sich unmögliche Repräsentation der äußersten, einzigen Lebenszäsur: In der letzten Kanzone des Zyklus, dem großen Marienhymnus Vergine bella (RVF 366), schreibt sich das poetische Subjekt unmittelbar bis an die Schwelle des eigenen Todes heran, voraus geht dem eine dramatische Abkehr von Laura und eben die Hinwendung an Maria. Auch dieser innerpoetischen conversio entspricht eine metapoetische conversio hin zur geistlichen Lyrik, deren Tonfall freilich den erotischen Gestus fortführt.32 Burghart Wachinger hat für den Alterston Walthers von einem Registerwechsel hin zu einem »geistlichen Minnesang« gesprochen;33 für die letzten Texte der Rerum vulgarium fragmenta Petrarcas mag Ähnliches gelten. Seine große Marienkanzone endet nun mit den folgenden Versen (Str. 11, V. 131ff.). Il dì s’appressa, et non pote esser lunge, sì corre il tempo et vola, Vergine unica et sola, e ’l cor or conscïentia or morte punge. Raccomandami al tuo Figliuol, verace homo et verace Dio, ch’accolga ’l mïo spirto ultimo in pace.34

Pace – so lautet das letzte Wort, der letzte poetische Atemzug der lyrischen Stimme, und der ersehnte Frieden realisiert sich als ihr Verstummen. Ein solches Verstummen formuliert nun interessanterweise auch schon der Alterston Walthers von der Vogelweide. In den (nach der Fassung von 32

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Eine luzide und detaillierte Analyse der geistlich-erotischen Mehrschichtigkeit des Textes bietet Joachim Küpper, »Palinodie und Polysemie in der Mariencanzone (Mit einigen Gedanken zu den Bedingungen der Unterschiede von antiker und abendländischer Kunst)«, in: J. K., Petrarca. Das Schweigen der Veritas und die Worte des Dichters, Berlin und New York 2002, S. 162–201. Burghart Wachinger, »Die Welt, die Minne und das Ich. Drei spätmittelalterliche Lieder«, in: James F. Poag, Thomas C. Fox (Hrsg.), Entzauberung der Welt. Deutsche Literatur 1200– 1500, Tübingen 1989, S. 107–118. »Der Tag naht sich und kann nicht weit sein, / so läuft die Zeit und fliegt sie, / einzigartige und alleinige Jungfrau, / und das Herz sticht bald das Gewissen, bald der Tod. / Empfiehl mich deinem Sohn, dem wahren / Menschen und wahren Gott, / dass er meinen letzten Hauch aufnehme in Frieden.«

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Handschrift C) letzten beiden Strophen sagt sich der Sänger von der Leibesliebe, dem Thema seiner Dichtung, und von seinem bilde, dem Sujet des Gesangs, der Geliebten, aber auch dem Gesang selbst, los.35 Mîn sêle müeze wol gevarn! ich hân zer werlte manigen lîp gemachet frô, man unde wîp. kunde ich dar under mich bewarn! lobe ich des lîbes minne, daz ist der sêle leit und giht, ez sî ein lüge, ich tobe. der wâren minne giht si ganzer stætekeit, wie guot si sî, wie si iemer wer. »Lîp, lâ die minne, diu dich lât und habe die stæten minne wert! mich dunket, der dû hâst gegert, diu sî niht visch unz an den grât.« Ich hât ein schœne bilde erkorn, und owê, daz ichz ie gesach und ouch sô vil zuo ime gesprach! ez hât schœne und rede verlorn. dâ was ein wunder inne, daz vuor ich enweiz war, dâ von gesweic daz bilde iesâ. sîn lilien rôse varwe wart so karker var, daz ez verlôs smac unde schîn. mîn bilde, ob ich gekerchert bin in dir, sô lâ mich ûz alsô, daz wir ein ander vinden frô, wan ich muoz aber wider in.36 35

Auf die breite Forschungsdiskussion zum Lied allgemein und zur Diskussion, worauf sich der Begriff ›bilde‹ in der letzten Strophe beziehe, kann ich an dieser Stelle nicht detailliert eingehen, für ein Resümee vgl. Kern, Weltflucht, S. 105–110. Bezogen wurde (mîn) bilde auf den eigenen Körper, die Geliebte, die Welt; man wird wohl von einer mehrfachen Referenz ausgehen müssen, die zudem mit deutlichen Bezügen auf das Werk operiert, wie die Farbmetaphern und die Motive von Reden und Verstummen zeigen. Besonders augenfällig ist der Bezug auf das Preislied Si wunder wol gemachet wîp (L. 53,25), die Referenz von bilde auf die innerpoetische Adressatin des Sanges, die Geliebte, ist somit dominant; wenn die Geliebte als erwähltes bilde als ehemals schön und sprachmächtig, nun aber als fahl und stumm beschrieben wird, fungiert sie zugleich als eine figura mundi. Nun argumentiert der Alterston aber durchgehend auch auf einer eminent poetologischen Ebene (dies zeigt ja schon der Beginn), weshalb im bilde als dem Sujet des Gesanges eben auch der Gesang, das Werk selbst (mîn bilde!), mitgedacht zu sein scheint.

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»Meiner Seele möge es wohlergehen! / Ich habe in der Welt so manchen Leib / froh gemacht, Mann und Frau. / Wenn ich mich dabei doch selbst hätte retten können! / Lobe ich aber die weltliche Liebe, so ist es der Seele leid, / und sie beteuert, es sei eine Lüge, ich sei von Sinnen. / Der wahren Liebe spricht sie ganze Beständigkeit zu, / wie gut sie sei und wie sie es immerdar bleibe. / ›Leib, lass von der Liebe, die dich lässt, / und halte die beständige Liebe hoch! / Mir scheint, die Liebe, nach der du verlangt hast, / die ist nicht Fisch bis auf die Gräten.‹ – Ich hatte mir ein schönes Bild erkoren, / und wehe, dass ich es

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Auch dies sind letzte Worte und auch sie beschreiben eine conversio, die zum letzten Atemzug, zum Tode hin gesprochen ist. Gegen die Absage steht freilich das Vermächtnis, von dem in der ersten Strophe die Rede ist: Der Sänger hinterlässt seinen vierzig Jahre lang geübten Gesang den »reinen Frauen« und »würdigen Männern«, er soll ihnen und bei ihnen bleiben: Ir reiniu wîp, ir werden man, ez stât alsô, daz man mir muoz êre und minneclîchen gruoz nû volleclîcher bieten an. des habent ir von schulden groezer reht danne ê. welt ir vernemen, ich sage iuch wes: wol vierzig jâr hab ich gesungen unde mê von minnen und als iemen sol. dô was ich sîn mit den andern geil. nû enwirt mirs niht, ez wirt iuch gar. mîn minnesang, der diene iuch dar und iuwer hulde sî mîn teil. 37

Die ultimative Alterszäsur, die Lebenszäsur des Todes wird mit diesem Vermächtnis zu einer Schwelle. Der Autor geht, das Werk bleibt. Mit ihm aber bleibt auch die Stimme dessen, der gegangen ist: In der poetischen Simulation, in der Repräsentation eines textuellen Lebensentwurfs und in der rezeptiven Beherrschung des Textes erweisen sich die Zäsuren als reversibel. Das Werk gibt ein prekäres Versprechen der Ewigkeit. Wenn die Absage an die Leibesliebe und die Lossage vom einst geliebten Bild, in dem sich die Autorstimme gefangen sieht, auch eine Lossage vom Werk impliziert; wenn der Sänger zugleich den Wunsch ausspricht, er möge dereinst wieder eingehen in »mein Bild«, so wird dieses Wiedereingehen als das Versprechen des Textes mit jeder nächsten Realisation, mit jeder folgenden Lektüre eingelöst.

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je erblickte / und auch so viel zu ihm sprach! / Es hat Schönheit und Redefähigkeit verloren. / Da war ein Wunder drinnen, das – ich weiß nicht wohin – entfuhr, / deshalb verstummte das Bild sogleich. / Seine Lilien-Rosen-Farbe wurde so kerkerfarben, / dass es Wohlgeruch und Glanz verlor. / Mein Bild, wenn ich eingekerkert bin / in dir, so lass mich frei, / damit wir einander froh wiederfinden, / wenn [oder: weil] ich wieder in dich eingehen muss.« »Ihr reinen Frauen, ihr würdigen Männer, / nun steht es so, dass man mir / Ehre und wohlwollenden Gruß / noch vollkommener entbieten muss. / Dazu habt ihr mit Grund größere Veranlassung als je. / Wollt ihr’s vernehmen, ich sage euch, weshalb: / Wohl vierzig Jahre habe ich gesungen und mehr / vom Lieben und wie man [lieben / singen] soll. / Da freute ich mich mit den anderen darüber. / Nun wird mir das nicht mehr zuteil, es wird euch allein. / Mein Minnesang, der diene euch weiterhin, / und eure Anerkennung sei mein Lohn.«

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Ich komme zum Schluss nochmals auf den Begriff vom »Einbruch der Realität« zurück. Autorgestalt und Autorfunktion lassen sich als Konstrukt des Œuvres und seiner Wirkungsmacht begreifen. Der fortdauernde, sich kanonisierende Text fungiert als Generativum einer simulierten Biographie. Insofern phantasieren wir zu Recht das letzte Wort des Canzoniere, das Wort vom Frieden, als den letzten Stoßseufzer des realen Autors Petrarca. Dem Frieden der Autorstimme freilich folgt die Unruhe des Lesens. Und mit dieser Unruhe wird der Autor zum Wiedergänger, zum simulativen Gespenst im unruhigen Gemäuer des Textes und seiner Lektüre. In analoger Weise wird der erwartete, singuläre Wiedereintritt der IchStimme in ihr Bild, von dem in den letzten Versen von Walthers Alterston die Rede ist, mit jeder neuen Lektüre vollzogen. Die poetische Manifestation der Lebenszäsur impliziert zugleich ihre Reversibilität. Der Autor geht, das Werk bleibt. Dieses Versprechen der Ewigkeit ist auch an die Lesenden gegeben: Lesen ist das Brot der Lebenden, lautet die Maxime im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Solange wir lesen können, leben wir; wenn wir lesen, was immer gelesen wird, leben wir weiter: Auch wir waren in Arkadien. Der Text, das Kunstwerk gibt uns mit seinem simulativen Vermögen ein prekäres Versprechen der Ewigkeit. Die weltliche Poesie des Mittelalters suspendiert ein temporal oder kategorisch formuliertes Muss der conversio, sie distanziert die im theologischen Diskurs metaphysisch potenzierte Negativität der Alterszäsuren und des Lebensendes, gerade auch indem sie diese Negativität neu formuliert. Dem Unbehagen antwortet ein kompensatives Behagen in der Kultur, in dem wir vielleicht – um es pathetisch zu sagen – eine der entscheidendsten Leistungen von Kunst und Wortkunst erkennen dürfen. Die Zäsur ist in der Poesie ein Schnitt, der ins Leere gehen kann, der reversibel ist. Pergament und Papier sind geduldig. Das Blättern in den Seiten kann die Schnitte heil machen. Die poetischen carte der Dichtung triumphieren über die Schere der Lebenszeit. Dies lehren uns die in Pergament und Papier eingeschlagenen Stimmen der Autoren: des Autors, der auf einem Stein gesessen haben will, Walther, und des Autors, der den Stein im Namen führt, Petrarca. Schere, Stein, Papier – gegen die Logik der Zäsur und der Finalität behauptet und praktiziert die Poesie ein paradoxes Spiel der Reversibilität.

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Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin und New York 2009, S. 165–186. KÜPPER, Joachim, »Palinodie und Polysemie in der Mariencanzone (Mit einigen Gedanken zu den Bedingungen der Unterschiede von antiker und abendländischer Kunst)«, in: J. K., Petrarca. Das Schweigen der Veritas und die Worte des Dichters, Berlin und New York 2002, S. 162– 201. LINDEN, Sandra, »Die liebeslustige Alte. Ein Topos und seine Narrativierung im Minnesang«, in: Dorothee Elm / Thorsten Fitzon / Kathrin Liess / S. L. (Hrsg.). Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin und New York 2009, S. 137–164. NEUMANN, Florian, »Biblioteca petrarchesca Reiner Speck«, in: Reiner Speck / F . N . (Hrsg.), Francesco Petrarca 1304–1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Biblioteca petrarchesca Reiner Speck, Köln 2004, S. 283–490. MACHO, Thomas, »Altern und Tod«, in: Birgit Hoppe / Christoph Wulf (Hrsg.), Altern braucht Zukunft. Anthropologie, Perspektiven, Orientierung, Hamburg 1996, S. 29–43. MERTENS, Volker, »Alter als Rolle. Zur Verzeitlichung des Körpers im Minnesang«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 128 (2006), S. 409–430. WACHINGER, Burghart, »Die Welt, die Minne und das Ich. Drei spätmittelalterliche Lieder«, in: James F . Poag / Thomas C. Fox (Hrsg.), Entzauberung der Welt. Deutsche Literatur 1200–1500, Tübingen 1989, S. 107–118.

SANDRA LINDEN

für singen hüst ich durch die kel.

Das Memento mori in den Liedern Oswalds von Wolkenstein On the basis of songs 5, 6, and 18 of Oswald von Wolkenstein (1376-1445), this chapter analyzes the manner in which a human self can achieve a sense of life’s balance. This takes place from fear of death or in awareness of having crossed into life’s second half, in a moment of reflective internalization of the past – a process that involves setting the past into a relationship with the time that still remains. Oswald configures the aging self through a fusion of authentic-biographical and staged speech. Aimed at warning and exhortation, a drastic description of corporeality here even extends to the aged singing voice, which is to say that the poetry is itself affected by the aging process. The chapter’s analysis demonstrates how the caesura of the critical look back at one’s own life sets a recognition of sin in play not necessarily resulting, however, in an active, repentant turn to God. In this way an ironic signature can be inserted into the Christian memento mori.

1. Die Ungewissheit der Todesstunde Die Systematik menschlicher Lebensalter spiegelt aus mittelalterlicher Sicht den ordo der Welt und fügt sich harmonisch in das planvolle System der göttlichen Schöpfung ein. Wie die Welt einen von Gott gegebenen Anfang hat und nach heilsgeschichtlicher Vorgabe auf ihr Ende und das Jüngste Gericht zuläuft, ist auch das Leben jedes Einzelnen ein geordneter und gefügter Ablauf. Das Mittelalter kennt eine Reihe von Strukturierungsmöglichkeiten für das menschliche Leben: so wird der Lebensverlauf mal nach den Jahreszeiten in vier Phasen gegliedert, mal nach den Schöpfungstagen in sechs Abschnitte, und auch Modelle mit zehn Einheiten, die auf ein ideales hundertjähriges Leben zielen, sind sehr beliebt.1 Unabhän1

Vgl. grundlegend Elizabeth Sears, The Ages of Man. Medieval Interpretations of the Life Cycle, Princeton 1986. Mit einzelnen Modellen beschäftigen sich Peter Kern, »Die Auslegung von Nabuchodonosors Traumgesicht (Dn. 2,31–35) auf die Lebensalter des Menschen«, in: Henri Dubois / Michel Zink (Hrsg.), Les Ages de la vie au moyen age. Actes du colloque du Département d’Etudes Médiévales de l’Université de Paris-Sorbonne et de l’Université Friedrich-Wilhelm de

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Sandra Linden

gig von der Anzahl ihrer Segmente präsentieren die Lebensaltermodelle stets ein gestuftes lineares Fortschreiten von einem Anfangspunkt zu einem Ende2 und geben ein Modell vor, das für ausnahmslos alle Menschen Verbindlichkeit beansprucht. So verzeichnet etwa Isidor von Sevilla im Kapitel De aetatibus hominum der Etymologien sechs Lebensstufen, die er mit exakten, aber zugleich deutlich zahlensymbolischen Altersangaben versieht:3 Die ersten sieben Jahre gelten der infantia, wieder sieben Jahre machen die pueritia aus, das nächste Lebensalter der adolescentia reicht mit einer Länge von zwei mal sieben Jahren bis zum 28. Lebensjahr, je 21 Jahre, also drei mal sieben, entfallen auf iuventus und gravitas, während die senectus als letzte Lebensphase und verbleibende Zeit bis zum Tod keine Jahresbegrenzung erfährt. Damit ist ein Schema vorgegeben, das ein geordnetes Abschreiten auf einer Lebenslinie vom Anfang bis zum Ende impliziert und klar objektivierbar ist. Doch was passiert, wenn sich die Perspektive umkehrt und man das Ganze einmal vom Ende, vom Tod her denkt? Wie reagiert ein literarischer Entwurf, wenn ein Ich beim Durchschreiten dieses scheinbar objektiven Gerüsts mit einem Mal innehält und sich angesichts des immer greifbareren Todes zu einer Rückschau auf sein Leben veranlasst sieht, wenn man sich dem Alter nicht objektiv systematisierend, sondern aus der subjektiven Perspektive des Alternden stellt? Den Zeitpunkt im Leben, an dem ein Sprecher im literarischen Medium zur Reflexion über die eigene vergangene Lebenszeit ansetzt und sich fragt, ob er richtig gelebt hat, möchte ich als eine Zäsur bestimmen, als einen prägenden Einschnitt, an dem sich der Blick nach vorn zum Tod mit einem Blick zurück auf das Gewesene verschränkt. Beide Zeitlinien werden zueinander in Relation gesetzt, so dass das Leben in seiner Totalität wahrgenommen wird. Es kommt zu einem Innehalten des Ichs, aus dem sich im mittelalterlichchristlichen Zusammenhang von Sündenerkenntnis, Reue und conversio bestimmte Verhaltensänderungen ergeben, diese Heilsvorgaben aber auch explizit verweigert werden können, wie am Beispiel der Lieder Oswalds

Bonn, Provins, 16–17 mars 1990, Paris 1992 (Cultures et civilisations médiévales 7), S. 37–55; Thomas Bein, »Lebensalter und Säfte. Aspekte der antik-mittelalterlichen Humoralpathologie und ihre Reflexe in Dichtung und Kunst«, in: ebd., S. 85–105; eine konzise Zusammenfassung des philosophisch-medizinischen Diskurses, den das Mittelalter über die Lebensalter führt, bietet Theodor W. Köhler, Homo animal nobilissimum. Konturen des spezifisch Menschlichen in der naturphilosophischen Aristoteleskommentierung des dreizehnten Jahrhunderts, Leiden 2008, Teilband 1, S. 598–623. Wie das lineare Modell mitunter doch wieder in eine zirkuläre Struktur überführt wird, zeigt der Beitrag von Udo Friedrich im vorliegenden Band. Vgl. Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX, hrsg. von W[allace] M[artin] Lindsay, Oxford 1911. N D Oxford 1966, Buch XI,ii.

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von Wolkenstein4 (1376–1445) gezeigt werden soll. Nicht zufällig ist damit ein Autor ausgewählt, dem man aufgrund der markanten IchAussagen in seinen Liedern eine gewisse Egozentrik, mitunter sogar ein neuzeitliches Selbstbewusstsein zugesprochen hat.5 Oswald nimmt im Modus des literarischen Spiels biographischer Konkretisierung mehrfach eine resümierend reflektierende Sicht auf das eigene Leben ein. Für eine Analyse der Darstellung von Lebensaltern und Alterszäsuren hat das biographisch stilisierte Ich in Oswalds Liedern gegenüber dem Rollen-Ich des hochmittelalterlichen Sangs zudem den Vorteil, dass das biographisch markierte Ich erkennbar auf einer Zeitlinie fortschreitet, sich dabei verändert und altert. Die Rückschau auf das eigene Leben setzt oftmals an einer Unsicherheit an, die sich aus der offenen Konstruktion der letzten Lebensphase ergibt, nämlich der Ungewissheit der Todesstunde. So formuliert schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts der Minnesänger Friedrich von Hausen mit klarem Willen zur religiösen Umkehr: nu wil ich mich an got gehaben, der kan den liuten helfen ûz der nôt. nieman weiz, wie nâhe im ist der tôt. 6 (Nun will ich mich an Gott halten, der den Menschen aus der N o t helfen kann. Niemand weiß, wie nah ihm der T o d ist.)

Ähnlich klagt etwa zur selben Zeit Heinrich von Rugge im Leich: nieman weiz, wie lange er lebet: / daz ist ein michel nôt.7 Und auch gut zwei Jahrhunderte später formuliert der Sangspruchdichter Muskatblut noch die mit der ungewissen Todesstunde verbundene Unsicherheit: Ich han keyn m / vnd weis nit wan ich scheide8 Plastischer ausgeführt findet sich der Gedanke bei Oswald von Wolkenstein, der sich vor lauter Furcht vor einem plötzlichen und unerwarteten Tod am liebsten die verbleibende Lebenszeit auf die Minute genau verbriefen lassen würde: 4

Die Lieder Oswalds werden im Folgenden nach dieser Edition unter Angabe des Kürzels »Kl.« und der Liednummer zitiert: Die Lieder Oswalds von Wolkenstein, unter Mitwirkung von Walter Weiß und Notburga Wolf hrsg. von Karl Kurt Klein, 3., neubearbeitete und erweiterte Aufl. von H a n s Moser, N o r b e r t Richard Wolf und N o t b u r g a Wolf, Tübingen 1987 (Altdeutsche Textbibliothek 55).

5

Vgl. Johannes Spicker, Literarische Stilisierung und artistische Kompetenz bei Oswald von Wolkenstein, Stuttgart und Leipzig 1993, S. 8.

6

Des Minnesangs Frühling, unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus hrsg. von H u g o Moser und Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, 38., erneut revidierte Aufl. mit einem Anhang: D a s Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988 (= MF), 46,26ff.

7

Des Minnesangs Frühling, 99,15f – »Niemand weiß, wie lange er lebt: das ist eine große Not.«

8

Lieder Muskatbluts, besorgt von E[berhard] von Groote, Köln 1852, Spruch 82, Str. II,5f – »Ich habe keine Ruhe, und ich weiß nicht, wann ich [von der Welt] scheide.«

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Sandra Linden noch hab ich dhainen brief, das er mich sichern welle zeit, weil, minut, noch quint; er ist mein zergeselle, got waiss, wie er mich vindt. (Kl. 23, I,28ff.) (Übersetzung nach Wachinger: »Und ich hab noch keinen Vertrag, daß er [sc. der Tod] eine Zeit oder Weile, Minute oder Sekunde mich künftig sicher leben läßt. Er ist mir zugesellt, Gott weiß, wie er mich findet.«9)

Die Ungewissheit der Todesstunde und die damit verbundene Angst, wie es der sündenbelasteten Seele danach ergehen mag, regen die Zäsur einer persönlichen Rückschau im literarischen Medium an. Was sich in der Lebensalterschematik als nüchterner gleichmäßiger Ablauf darstellt, wird im subjektiven Zeitempfinden empfindlich verschoben: Eine objektiv lange Lebenszeit schrumpft in der eigenen Perspektive bedrohlich zusammen, und zwar sowohl die bereits gelebte Zeit als auch die verbleibende.

2. Rückschau auf ein bewegtes Leben: Es fügt sich (Kl. 18) Wie eine solche bilanzierende Lebensrückschau in der vormodernen Literatur gestaltet sein kann, soll für Oswalds berühmtes Lied Kl. 18 Es fügt sich10 gezeigt wird. Es handelt sich um die sogenannte »Lebensballade«11 oder, wie Johannes Spicker in seiner Typologie der Lieder Oswalds formuliert hat, um eine »episodisch gereihte Lebenssumme«.12 In dem siebenstrophigen Lied schaut das Ich auf sein bisheriges Leben zurück, und zwar unter Verwendung gängiger Lebensalter-Schematisierungen wie der Kindheit oder einer mit Reisen gefüllten Jugendzeit, einer Phase abenteuerlicher Minne sowie einer Zeit der geistlichen Umkehr im fortgeschrit9

Die Übersetzungen nach Wachinger stammen hier und im Folgenden aus: Oswald von Wolkenstein. Lieder. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Ausgewählte Texte, hrsg., übersetzt und kommentiert von Burghart Wachinger, Melodien und Tonsätze hrsg. und kommentiert von H o r s t Brunner, Stuttgart 2007 (Reclam Universal-Bibliothek 18490), Abweichungen von dieser Übersetzung werden innerhalb des Zitats kursiviert. Findet sich kein Verweis, stammen die Übersetzungen im Folgenden von mir.

10

Kl. 18 ist in der Forschung ausführlich besprochen, ich nenne daher nur ausgewählte Beiträge, die sich mit der Altersthematik und der Zeitreflexion beschäftigen: Walter Röll, »Der vierzigjährige Dichter. Anläßlich des Liedes ‚Es fugt sich‘ Oswalds von Wolkenstein«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 94 (1975), S. 377–394; Stephen L. Wailes, »Oswald von Wolkenstein and the Alterslied«, in: The Germanic Review, 50 (1975), S. 5–18; Frank Fürbeth, »wol vierzigjar leicht minner zwai im Zeichen der verkehrten Welt: Oswalds Es fügt sich (Kl. 18) im Kontext mittelalterlicher Sündenlehre«, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft, 9 (1996/7), S. 197-220.

11

Vgl. Fürbeth, »wol vierzig jar «, S. 197.

12

Vgl. Johannes Spicker, Oswald von Wolkenstein. Die Lieder, Berlin 2007 (Klassiker-Lektüren), S. 136.

Das Memento mori in den Liedern Oswalds von Wolkenstein

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tenen Alter. Das Ich zieht Bilanz und hebt in einer resümierenden Gesamtschau zentrale Lebensinhalte hervor. Eine geschlossene Biographie ergibt sich daraus allerdings kaum, vielmehr fügt das Ich in diesem Erzähllied in hastiger Syntax einzelne Erinnerungsimpressionen zusammen, die nur locker kausal verknüpft sind und stark zwischen resümierendem Bericht und szenischer Ausgestaltung schwanken: Der Rezipient erfährt, dass das Ich im Alter von zehn Jahren in die Welt aufbricht, um sie zu erkunden, dabei nur drei Pfennig und ein Stückchen Brot im Beutel führt. Als er vierzehn Jahre alt ist, stirbt sein Vater, er stiehlt ein Pferd, verdingt sich als Koch und Marschall, zieht weiter durch Preußen, Litauen, Tartarei, Türkei, uber mer (II,1) und kommt schließlich in das Gefolge des Königs Sigmund. Die exotisch-fremde Königin von Aragon sticht ihm zwei Ringe durchs Ohr, was das verliebte Ich geduldig erträgt. Tün dir die ring nicht laides?,13 fragt der König seinen Gefolgsmann verwundert, doch der verneint. Auf die Minne folgt eine Phase geistlicher conversio, nämlich der immerhin zwei Jahre anhaltende Versuch, als Begharde zu leben, danach wieder die Zuwendung zum Weltlichen, erneute Reisen. Schließlich wird in der letzten Strophe die Perspektive aufgedeckt, aus der dieses Lebenspanorama entworfen wird: Ich han gelebt wol vierzig jar leicht minner zwai.14 Ob man nun die zwei Jahre noch von den 40 abziehen will oder nicht,15 so wird hier doch eine deutliche Alterszäsur markiert, an der das Ich sein Leben Revue passieren lässt und durchaus selbstkritisch eingestehen muss, es habe es mit toben, wüten, tichten, singen mangerlei16 zugebracht. Das 40. Lebensjahr wird hier als Einschnitt markiert, an dem man einen Rückblick wagt und sich eventuell noch zu einer Korrektur der Lebensausrichtung entschließen kann. Das Ich in Kl. 18 würde sich – ganz auf die adlige Erbfolge bedacht – die Gründung einer Familie vornehmen, wäre da nicht elicher weibe bellen.17 Um zu zeigen, dass dieser Bericht in seinem Ereignisreichtum durchaus mit dem Leben des Autors in eine korrespondierende Beziehung tritt, seien kurz einige historische Informationen zu Oswald von Wolkenstein nachgetragen. Man kann Oswalds politische Lebensstationen aus einer

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16

17

Kl. 18, III,12 – Übersetzung nach Wachinger: »Tun die Ringe dir nicht weh?« Kl. 18, VII,1 – Übersetzung nach Wachinger: »Fast vierzig Jahre hab ich gelebt – zwei fehlen noch«. Vgl. Fürbeth, »wol vierzig jar«, S. 200, sowie resümierend Spicker, Oswald von Wolkenstein, S. 137. Kl. 18, VII,2 – Übersetzung nach Wachinger: »mit Tollsein, Rasen, Dichten, Singen mancherlei«. Kl. 18, VII,8 – Übersetzung nach Wachinger: »das Keifen von Ehefrauen«.

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Vielzahl dokumentarischer Quellen rekonstruieren.18 Er wurde 1376 geboren und stammt aus dem Südtiroler Adelsgeschlecht Villanders und Wolkenstein. Man findet Oswald 1415 auf dem Konstanzer Konzil im Dienst König Sigmunds, 1417 heiratete er die schwäbische Adlige Margarete von Schwangau, die wohl zur Inspiration für die Figur Gret in seinen Liedern wurde. Finanzielle Streitigkeiten mit Martin Jäger um die Burg Hauenstein brachten ihn 1421/22 in Haft, eine weitere Gefangenschaft fällt in das Jahr 1427, als Oswald versucht hatte, sich einem Landtag Herzog Friedrichs von Österreich zu entziehen, und zur Strafe zwei Monate auf Burg Fellenberg bei Innsbruck festgesetzt wurde. In den folgenden Jahren ist Oswald auf Hof- und Reichstagen bezeugt, wird 1431 vom König in den Drachenorden aufgenommen.19 Nach einer Italienreise vermittelt er in den 40er Jahren im Konflikt zwischen König Friedrich III. und dem Tiroler Adel, am 2. August 1445 ist er in Meran gestorben, der Leichnam wurde in das bei Brixen gelegene Kloster Neustift überführt. Durch die knapp 130 Lieder, die von Oswald überliefert sind, zieht sich eine deutliche biographische Signatur, da er immer wieder auf realhistorische Ereignisse und persönliche Erlebnisse, die sich durchaus mit dem historischen Befund vereinbaren lassen, rekurriert. Doch begegnet eine solche biographische Ausgestaltung der Ich-Rolle nicht erst bei Oswald, sondern bereits bei Neidhart, Hadloub und Ulrich von Liechtenstein im Rahmen einer Konkretisierung des Minnesangs im 13. Jahrhundert.20 Das thematisch breite Spektrum von Oswalds Liedern,21 das vom Ehelied bis zur geistlichen Mahnung, vom Wirtshausgesang bis zum Reiselied reicht, zeigt sich immer wieder offen für lebensweltliche Aussagen, deren Realitätsgrad die Forschung beschäftigt hat. Nachdem die frühe Diskussion noch nach dem Erlebnishintergrund der Lieder fragt und versucht, bio18

19

20

21

Die historischen Quellen wurden aufgearbeitet von Anton Schwob unter Mitarbeit von Karin Kranich-Hofbauer u. a. (Hrsg.), Die Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein, 3 Bde., Köln u. a. 1999ff. Vgl. das Autorbild in Handschrift B. Eine Kette in den Darstellungen der beiden Handschriften A und B weist Oswald zudem als Mitglied des aragonesischen Kannen- und Greifenordens aus. Vgl. Volker Mertens, »‚Biographisierung‘ in der spätmittelalterlichen Lyrik. Dante – Hadloub – Oswald von Wolkenstein«, in: Ingrid Kasten / Werner Paravicini / René Pérennec (Hrsg.), Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris 16.–18.3.1995, Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 331–344, sowie in einer allgemeineren Perspektive Ingeborg Glier, »Konkretisierung im Minnesang des 13. Jahrhunderts«, in: Franz H. Bäuml (Hrsg.), From Symbol to Mimesis. The Generation of Walther von der Vogelweide, Göppingen 1984 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 368), S. 150–168. Burghart Wachinger, »Kommentar«, in: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters. Höhepunkte deutscher Lieddichtung aus mehr als zwei Jahrhunderten, neu ediert, übersetzt und umfassend kommentiert von Burghart Wachinger, Frankfurt a. M. 2006 (Bibliothek des Mittelalters 22), S. 609–1022, hier S. 981, spricht von einer »thematische[n] Buntheit« des Werks.

Das Memento mori in den Liedern Oswalds von Wolkenstein

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graphische Fakten und literarischen Befund kurzzuschließen,22 hat Ulrich Müller 1968 zum ersten Mal auf die enge Verzahnung von biographischer Realität und literarischer Stilisierung bei Oswald hingewiesen.23 Anton Schwob betont 1979, dass Oswald zwar historische Realität in der Dichtung verarbeitet, diese aber zu einem gestalteten Erlebnishintergrund modifiziert.24 Johannes Spicker schließlich sieht die Ich-Funktion in den Liedern als eine bewusst kalkulierte Inszenierung und setzt Oswalds Verfahren lyrischer Stilisierung von einer basalen biographischen Konkretisierung ab.25 Und dennoch bleibt immer eine gewisse Durchlässigkeit auf einen autobiographischen Hintergrund, schließen sich Simulation und Authentizität nicht unbedingt aus, da die biographische Stilisierung der Autor-Figur26 im Text zwar unabhängig von der Realwelt funktionieren kann, man aber zugleich nicht ausschließen kann, dass der Autor für diese Ausgestaltung auf sein eigenes Leben zurückgegriffen hat.27 Von Oswalds Sinn für eine markante Ich-Inszenierung zeugen nicht zuletzt die selbstbewussten Portraits am Beginn der beiden Handschriften A und B,28 die der Autor selbst in Auftrag gegebenen hat und die in ihrer Ausstattung 22

23

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25 26

27

28

Vgl. etwa Norbert Mayr, Die Reiselieder und Reisen Oswalds von Wolkenstein, Innsbruck 1961 (Schlern-Schriften 215); Alan Robertshaw, The myth and the man, Göppingen 1977 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 178). Vgl. Ulrich Müller, „Dichtung“ und „Wahrheit“ in den Liedern Oswalds von Wolkenstein: Die autobiographischen Lieder von den Reisen, Göppingen 1968 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 1). Vgl. Anton Schwob, Historische Realität und literarische Umsetzung. Beobachtungen zur Stilisierung der Gefangenschaft in den Liedern Oswalds von Wolkenstein, Innsbruck 1979 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 9), vor allem S. 7ff. Vgl. Spicker, Literarische Stilisierung, S. 116. Der Begriff ›Autor-Figur‹ meint die innerhalb des Textes hergestellte Autor-Präsenz, die nicht mit dem historischen Autor identisch ist. Vgl. Simone Winko, »Autor-Funktionen. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis«, in: Heinrich Detering (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart und Weimar 2002 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 24), S. 334–354. Es handelt sich dabei um ein Konzept schriftlicher Dichtung, das mit Blick auf eine stärker mündlich geprägte Literatursituation, wie man sie für Oswalds Lieder ansetzen kann, zu modifizieren ist. Wenn Oswald selbst als Sänger seiner Lieder auftritt, kommen sich realer Autor und die im Text generierte Autor-Figur extrem nahe, dennoch müssen sie nicht ineinander aufgehen. In jüngerer Zeit hat Christine Wand-Wittkowski wieder für eine stärkere biographische Identifizierung der literarischen Aussagen plädiert: »Topisches oder biographisches Ich? Das Lied Ain anefangk Oswalds von Wolkenstein«, in: Wirkendes Wort, 2 (2002), S. 178–191, vor allem S. 180. Vgl. Wien, Cod. Vind. 2777, Innenseite des Vorderdeckels (Hs. A), sowie die Innsbrucker Liederhandschrift, Universitätsbibliothek Innsbruck, Rückseite des ersten Blattes (Hs. B). Vgl. auch: Norbert Richard Wolf, »Oswald von Wolkenstein: die Ichs in seinen Liedern und Handschriften«, in: William J. Jones u. a. (Hrsg.), „Vir ingenio mirandus“. Studies presented to John L. Flood, Bd. 1, Göppingen 2003 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 710), S. 195–207.

330

Sandra Linden

auch repräsentativen Zwecken dienten. Was sich im Lied Kl. 18 als personale Lebenserfahrung gibt, ist ebenfalls zu einem großen Teil literarische Stilisierung: Man könnte dem Lied eine ganze Reihe von literarischen Quellen zur Seite stellen, die das Motiv von der Rückschau des Vierzigjährigen verarbeiten, die Lebensmitte zum topischen Ausgangspunkt einer umfassenden Reflexion machen.29 Auch wenn Oswalds Darstellung durchlässig sein mag für Biographisches, schöpft er hier zu einem wesentlichen Teil aus der literarischen Tradition. Die Unruhe, die diese Rückschau begleitet, resultiert auch in Kl. 18 wieder aus der schon erwähnten Ungewissheit über die verbleibende Lebenszeit: Und wol bekenn, ich wais nicht, wenn ich sterben sol.30 Dennoch behält das Ich in der Sicht auf das eigene Leben eine gewisse »Lässigkeit«,31 wie Manfred Kern formuliert, führt die Einsicht in die eigenen Fehler nicht zu existentieller Angst und religiöser Umkehr, sondern das Ich bekennt sich freimütig dazu, klein vernünftiklich (K. 18, VIII,11) zu leben. Dass eine solche persönliche Rückschau auf das Leben mit zunehmender Todesnähe an Dringlichkeit gewinnt, soll im Folgenden vor allem an den Liedern Kl. 5 und Kl. 6 gezeigt werden. In Oswalds (Euvre begegnet also ein prononciertes Ich, und so setzen auch die Lieder Ich spür ein tier (Kl. 6) und Ich sich und hör (Kl. 5) mit einer prägnanten Ich-Aussage ein. Beide gehören zu den erbaulich-didaktischen Reflexionsliedern,32 früher hat man auch von Gefangenschaftsliedern gesprochen, weil man glaubte, Oswald habe sie während einer der Gefangenschaften verfasst und darin seine Leiderfahrungen bis hin zum Entschluss zur religiösen conversio verarbeitet.33 Legt man die These von einem 29

Vgl. Röll, »Der vierzigjährige Dichter«, der eine Reihe literarischer Belege für die reflektierende Rückschau des Vierzigjährigen bietet, sowie den Beitrag von Thorsten Fitzon im vorliegenden Band.

30

Kl. 18, VII,13 – Übersetzung nach Wachinger: »und ich sehe doch, daß ich nicht weiß, wann ich sterben muß«.

31

Manfred Kern, Weltflucht. Poesie und Poetik der Vergänglichkeit in der weltlichen Dichtung des 12. bis 15. Jahrhunderts, Berlin und N e w York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte 54 [288]), S. 81. Vgl. Spicker, Oswald von Wolkenstein, S. 103ff. Vgl. sehr deutlich George Fenwick Jones, »„Dichtung und Wahrheit“ in den Liedern Oswalds von Wolkenstein (1972)«, in: Ulrich Müller (Hrsg.), Oswald von Wolkenstein, D a r m stadt 1980 (Wege der Forschung 526), S. 283–309, der vermutet, Oswald habe in der Haft darüber reflektiert, dass er bisher ein »sündiges und unbußfertiges Leben« (S. 292) geführt habe. Kl. 6 ordnet er mit einigen weiteren Liedern »einer großen Konfession« (S. 300) zu und setzt das existentiell betroffene lyrische Ich mit dem historischen Oswald gleich. Differenzierter sieht den Z u s a m m e n h a n g zwischen Gefangenschaftserfahrung und literarischer Verarbeitung Sieglinde Hartmann, Altersdichtung und Selbstdarstellung bei Oswald von Wolkenstein. Die Lieder Kl 1 bis 7 im spätmittelalterlichen Kontext, Göppingen 1980 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 288), die zwar immer wieder biographische Lesarten anzubieten scheint (z. B. S. 156f), aber S. 158 ganz deutlich feststellt, dass Lied-Ich und realer Autor

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persönlichen Bekehrungserlebnis im Kerker einmal beiseite, öffnet sich eine Perspektive auf die lehrhafte Signatur der Lieder, die nicht nur als Bekenntnis eines Ichs komponiert sind, sondern auch eine didaktische Wirkung auf den Rezipienten intendieren. Die Lieder stehen am Beginn von Handschrift B in einer relativ geschlossenen Gruppe, der eine durchgängige Melodie zugeordnet ist und die in ihrer Thematik zwischen geistlicher Sündenbeichte, Altersklage und Todesvision zu verorten ist.34 Für die in Kl. 18 bereits benannte Zäsur, die eine Reflexion auf das eigene Leben anstößt, ist die Sicht auf den nahen oder als nahe geglaubten Tod ein wichtiger Faktor. Weniger das Sterben macht dem Ich in Oswalds Liedern Angst, sondern die Ungewissheit des Danach, das reuige Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit und der noch ungebüßten Sünden. So heißt es etwa am Ende des Liedes Kain freud mit klarem herzen: die forcht kompt, wie ich sterbe, grausslicher wirt die kunst, das ich dort nicht verderbe in engestlicher brunst. (Kl. 24, I,21ff.) (Es kommt die Furcht davor, wie ich sterben werde, doch erschreckend schwieriger wird die Kunstfertigkeit, dass ich dort nicht in beängstigender Feuersbrunst verderbe.)

nicht übereinstimmen. Vgl. auch die kritische Sicht gegenüber der biographischen Lesart der Gefangenschaftslieder bei Eckart Conrad Lutz, »Wahrnehmen der Welt und Ordnen der Dichtung. Strukturen im (Euvre Oswalds von Wolkenstein«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 32 (1991), S. 39–79, S. 43. Die jüngere Forschung fasst den Begriff der ›Gefangenschaftslieder‹ deutlich enger und zählt nur die Lieder zu dieser Gruppe, die das Gefangen schaftsmotiv tatsächlich thematisieren, vgl. Kerstin Helmkamp, Genre und Gender. Die ‚Gefangenschafts‘- und ‚Ehelieder‘ Oswalds von Wolkenstein. Phil. Diss. F U Berlin 2003, OnlineVeröffentlichung 2005 unter: http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_ 000000001619 (letzter Zugriff im August 2010), vor allem S. 78. 34

D e r Nummerierung der Lieder in der Edition von Karl Kurt Klein liegt die Reihenfolge in Handschrift B (1432) zugrunde, wobei die ersten sieben Lieder der für das erste Lied notierten Melodie folgen. In Handschrift A (1425) stehen zu Beginn die Lieder Kl. 1–4, 8 und 9, was man als Indiz dafür lesen kann, dass sich Kl. 5 und Kl. 6 nicht so gut zu dem am Beginn der Handschrift vorherrschenden ernsten geistlichen T o n fügen. Kl. 5 steht in Handschrift A an 21. Position, direkt nach dem mit der Altersthematik spielenden Frühlingslied Kl. 21 Ir alten weib. Kl. 6 findet sich in Handschrift A auf der Seite gegenüber dem Inhaltsverzeichnis, nämlich an 68. Position, und zwar nach Kl. 125 Ain eren schacz , das den Abschied von der Welt beschreibt, und vor Kl. 29 Der himel fürst uns heut bewar, einem geistlichen Lied, das in Form eines Gebets G o t t u m Beistand bittet. Einen Bezug zu Kl. 6 kann man hier in der grause lich gestalt des Teufels (Kl. 29, III,8) sehen. Z u r A n o r d n u n g der Lieder in den Handschriften vgl. Erika Timm, Die Überlieferung der Lieder Oswalds von Wolkenstein, Lübeck und H a m b u r g 1972 (Germanische Studien 242), sowie die Rezension von Burghart Wachinger in der Zeitschrift für deutsche Philologie, 95 (1976), S. 123–131, wieder in: Ulrich Müller (Hrsg.), Oswald von Wolkenstein, Darmstadt 1980 (Wege der Forschung 526), S. 404– 413.

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Das Ich offenbart kein zuversichtliches Aufgehobensein im christlichen Glauben, wie man es dem mittelalterlichen Weltbild leicht zusprechen könnte, sondern eine existentielle Angst vor der Zukunft, die es als ungewiss einschätzt. Im Lied Ain angefangk (Kl. 1), das in beiden Handschriften den Beginn des (Euvres bildet und somit an prononcierter Stelle steht, wird diese Sorge eindringlich formuliert. Der kirchlichen Lehre eines jenseitigen Lebens zum Trotz quält sich das Ich mit der Ungewissheit, was nach dem Tod mit der Seele geschieht: Mein herz das swindt in meinem leib und bricht von grossen sorgen, wenn ich bedenck den bittern tod den dag, die nacht, den morgen – ach we der engestlichen not! – und waiss nicht, wo mein arme sel hin fert. (Kl. 1, VII, 1 ff.) (Übersetzung nach Wachinger: »Mein Herz vergeht mir im Leib und bricht vor großer Furcht, wenn ich den bittern T o d bedenke bei Tag, bei Nacht, am Morgen – ach, weh über diese beängstigende Qual! – und ich weiß nicht, wohin meine arme Seele fährt«).

Der drohende Tod und die Angst vor den Sündenfolgen lösen ein Nachdenken über das Geschehene aus und legen in lehrhafter Perspektive eine Verachtung der Welt und ihrer Verführungen nahe, zum Contemptus mundi fügen sich in den erbaulich-didaktischen Reflexionsliedern noch confessio und conversio des Sünders, der zum Ende seines Lebens eine positive Bilanz ziehen will.

3. In Todesangst erstarrt: Ich spür ein tier (Kl. 6) Der Tod als Bedrohung und als eine das Ich schockierende Gefahr ist auch das Hauptthema im Lied Kl. 6,35 das gleich zu Beginn mit hoher sinnlicher Suggestivkraft eine Schreckensvision ausmalt: Ich spür ain tier mit füssen brait, gar scharpf sind im die horen; das wil mich tretten in die erd und stösslichen durch boren.

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Eine Analyse von Kl. 6 bieten Hartmann, Altersdichtung und Selbstdarstellung, S. 176ff., und Meinolf Schumacher, »Ein Kranz für den Tanz und ein Strich durch die Rechnung. Zu Oswald von Wolkenstein ›Ich spür ein tier‹ (Kl. 6)«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 123 (2001), S. 253–257. Eine auf ein breiteres Publikum abgestimmte Darstellung bietet Ute Monika Schwob, »„Ich spür ein Tier mit Füßen breit...“. Teufelsvorstellungen bei Oswald von Wolkenstein und im spätmittelalterlichen Tirol«, in: Literatur in Bayern, 16 (1989), S. 28–39.

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den slund so hat es gen mir kert, als ob ich im für hunger sei beschert (Kl. 6, I,1ff.). (Ich spüre ein Tier, mit breiten Füßen, ganz scharf sind seine Hörner, das will mich in die Erde stampfen und mit einem Stoß durchbohren. Den Rachen hat es auf mich gerichtet, als ob ich ihm gegen den Hunger beschert sei.)

Ein in apokalyptischen Zügen gestaltetes Schreckenstier, das in seiner Bedeutung bewusst offen zwischen Tod, Hölle und Fegefeuer changiert, tritt dem Ich in Anlehnung an Psalm 22 gegenüber.36 Hier wird keine abstrakte Todesangst konstruiert, sondern Oswald gestaltet eine dramatische Szene, in der das Ich einer sinnlich wahrnehmbaren und unmittelbar spürbaren Gestalt gegenübersteht, wobei die Undeutlichkeit, um was für ein Tier es sich genau handelt, die Bedrohlichkeit noch forciert.37 Die Bestie – im Psalm sind es mehrere Tiere – nähert sich dem Sprecher in rücksichtsloser mörderischer Absicht, doch das Ich kann nicht ausweichen, sondern steht in Furcht wie gebannt: dem tier ich nicht geweichen mag.38 Konfrontiert mit dieser Lebensbedrohung, greift nicht etwa der Fluchtinstinkt, sondern es setzt eine Reflexion auf das bisherige Leben ein, und zwar mit der ungewöhnlichen Wendung, dass das Ich alle gelebten Tage so sieht, als ob sie zu einem Schober aufgehäuft wären: owe der grossen nöte, seid all mein jar zu ainem tag geschübert sein, die ich ie hab verzert. (Kl. 6, I,10ff.) (Weh über die große Not, dass alle Jahre, die ich je verbraucht habe, nun zu einem Tag aufgetürmt sind.)

Die vielen Lebensjahre schrumpfen in dieser Gesamtperspektive auf einen Tag zusammen, sie werden nicht in ruhiger Reflexion, sondern angesichts des sich nähernden Tiers und der Notwendigkeit, sich vor dem Tod für seine Sünden zu rechtfertigen, in hektischer Panik betrachtet. Dabei meint der Begriff tag hier nicht nur die Zeitspanne im Leben, sondern auch den Gerichtstag, an dem sich der Einzelne für seine Sünden bei Gott verantworten muss.39 Das Thema der Todesnähe wird danach noch in weiteren Ausgestaltungen durchgespielt, nämlich in der Bildlichkeit des Totentanzes, zu dem das Ich eingeladen ist (I,13). In einer Terminologie aus dem Bereich des Finanziellen und Kaufmännischen wird schließlich das Leben

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Vgl. Ps 22,13f.: »Zahlreiche Stiere sind um mich, Baschanbüffel umringen mich. Sie sperren ihr Maul auf gegen mich, ein reißender, brüllender Löwe.« (Übersetzung nach der Zürcher Bibel, Zürich 2007; Vulgata [21,13f.]: circumdederunt me vituli multi tauri pingues obsederunt me aperuerunt super me os suum sicut leo rapiens et rugiens). Vgl. Schumacher, »Ein Kranz für den Tanz«, S. 258. Kl. 6, I,9 – »Ich kann dem Tier nicht entweichen.« Vgl. Walter Röll, Oswald-Kommentar (Klein 1–20), Hamburg 1968, S. 56.

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bilanziert:40 Aus den Sünden ergibt sich eine persönliche Rechnung, und wenn das Ich Glück hat, erklärt Gott sein Sündenkonto mit einem Strich41 für gelöscht: doch wil es got, der ainig man, / so wirt mir pald ain strich da durch getan (I,17f.). Es kommt zu einer klaren Summierung der Lebensleistung, in der die Sünden zu einem Negativbetrag angehäuft sind, den man noch mit dem Kapital guter Taten ausgleichen könnte, wenn man nur genügend Zeit hätte: Erst deucht mich wol, s o l t i c h n e u r l e b e n aines jares l e n g e vernünftiklich in diser welt, s o w o l t i c h machen e n g e m e i n schuld mit klainem widergelt, d e r i c h laider g r o s s v o n s t u n d b e z a l e n m ü s s . (Kl. 6, II,1ff.) (Jetzt s c h i e n e es m i r g u t , w e n n i c h n u r eine J a h r e s l ä n g e i n d i e s e r W e l t v e r n ü n f t i g leben dürfte; d a n n w ü r d e ich meine Schuld mit kleinen Rückzahlungen vermind e r n , die i c h leider v o l l b e g l e i c h e n m u s s . )

Eine persönliche Verantwortung für die Sündenschuld wird anerkannt, doch das Ich kann nicht mehr reagieren und weiß, dass es ein widergelt in mehreren kleinen Raten nicht mehr leisten kann, sondern wegen des drohenden Todes sofort den vollen Betrag zu zahlen hat. Anders als bei einer tatsächlichen finanziellen Schuld können auch Freunde und Verwandte nicht für ihn einspringen, wie das Ich verzweifelt feststellen muss: O kinder, freund, gesellen rain, / wo ist eur hilf und rat?42 Die reale Münze der Freunde hat im Höllenbad 43 keinen Wert, denn dort zählen nur die eigenen guten Taten; wie im Jedermann-Stoff ist das Ich im Angesicht des Todes von allen verlassen und auf sich allein gestellt. Für eine Verhaltensänderung etwa in Form eines Einsiedlerlebens mit tätiger Ausrichtung auf Gott, wie es das Ich am Ende der dritten Strophe imaginiert,44 ist angesichts des drohenden Tieres keine Zeit mehr. Schlagartig wird die Schuldbilanz eingesehen, der mögliche Weg zu einem positiven Ausgleich ist bekannt, doch kommt die Einsicht zu spät. Ute Moni40

Eine ähnliche Handelsmetaphorik nutzt Oswald auch in Kl. 115 Wer hie umb diser welde lust, w o weltliche und jenseitige Freuden vergleichend abgewogen werden.

41

Vgl. zu dieser redensartlichen W e n d u n g Schumacher, »Ein Kranz für den Tanz«, S. 261f.

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Kl. 6, II,13f. – »Ach Kinder, Freunde, edle Gefährten, w o sind eure Hilfe und euer Rat?«

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Dass bad hier für die Hölle steht, belegt Röll, Oswald-Kommentar, S. 59, mit einem Verweis auf Thomasin von Zerclcere: Der welsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hrsg. von Heinrich Rückert, Quedlinburg und Leipzig 1852, N D Berlin 1965, V. 6759ff: mich dunket, der habe einn wîsen rât, / der sich hie sô paden lât / daz er niht kumt an die stat / dâ man bereitet stiuvels bat. – »Mir scheint, derjenige ist weise, der sich hier so baden lässt, dass er nicht in die Gelegenheit kommt, dass man ihm des Teufels Bad bereitet.« Kl. 6, III,15: hett ich dem herren für dich schon / gedient in wildem wald, / so für ich wol die rechten far – »Hätte ich statt dir [sc. der Welt] stets dem Herrn gedient im wilden Wald, so führe ich auf d e m rechten Weg.«

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ka Schwob hat daraus geschlossen, dass es hier um die Angst vor dem plötzlichen, dem unerwartet frühen Tod geht.45 Doch kann man auch ohne diese Vorannahme auskommen, wenn man bedenkt, dass die offene Konstruktion der letzten Lebensphase den Tod stets als ein unkalkulierbares und der menschlichen Verfügung entzogenes Element setzt. Die Zäsur, an dem der kritisch prüfende Blick auf das eigene Leben erfolgt, liegt zu spät: Der Wunsch zur Umkehr kommt nicht aus eigenem Antrieb, sondern wird allein durch die akute, bzw. die als akut empfundene Lebensgefahr ausgelöst und kann nur noch für die Rezipienten produktiv werden, die sich durch die Drastik des schrecklichen Tieres zur Umkehr animiert fühlen. Eine Verhaltensänderung des Ichs beschreibt das Lied nicht, nur noch eine Hoffnung, nämlich durch die Vermittlung der Gottesmutter, die in der dritten Strophe angerufen wird (III,7ff.), Vergebung der Sündenschuld zu erlangen.46 Ein wichtiger Aspekt, der auch für Kl. 5 weiterverfolgt werden soll, ist, dass das Ich zwar in der Reflexion zur Einsicht der eigenen Sündhaftigkeit kommt, das Lied jedoch keine tätige Verhaltensänderung beschreibt. Die logische Konsequenz einer geistlichen conversio oder zumindest einer gewissen Bußleistung bleibt aus, und zwar wider besseres Wissen um die Konsequenzen für die eigene Seele des Sünders.

4. Der hustende Sänger und das Problem der Willensschwäche: Ich sich und hör (Kl. 5) 4.1. Altersgebrechen Das Lied Kl. 5 Ich sich und hör47 setzt mit einer Sprechhaltung ein, die im Sangspruch und anderen lehrhaften Gattungen geläufig ist: Das Ich stilisiert sich zum Beobachter, der die Welt mit offenen Sinnen und entsprechend fähiger Beurteilungskraft betrachtet und aus dieser Wissensposition 45

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Vgl. Ute Monika Schwob, »Das Schreckbild vom jähen Tod und Vorsorge für den Todesfall. Die Familie Wolkenstein als Beispiel für spätmittelalterliche Verhaltensweisen«, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft, 9 (1996/7), S. 81–98, hier S. 90. Das in Handschrift B folgende Lied Kl. 7 Loblicher got schließt als Gebet des Sünders für sein Seelenheil thematisch nahtlos an Kl. 6 an. Zu Kl. 5 vgl. Hartmann, Altersdichtung und Selbstdarstellung, S. 153ff., Jutta Goheen, »Zum ordo des Alters: Oswald von Wolkensteins gnomische Retrospektive auf Werk und Leben«, in: Carleton Germanic Papers, 22 (1994), S. 59–70; George Fenwick Jones, »The „Signs of old age“ in Oswald von Wolkenstein’s Ich sich und hör (Klein No. 5)«, in: Modern Language Notes, 89 (1974), S. 767–786.

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eine Lehrautorität ableitet.48 Mit dem hohen Lebensalter wird ein topischer Anspruch auf Lehrautorität verknüpft, und in diese Konvention fügt sich die sentenziöse Erkenntnis des Sprechers, dass so mancher den Verlust materieller Güter beklage, er selbst hingegen nur den Verlust der Jugend und des damit verbundenen freien mütes (I,4), des unbeschwerten Gemüts. Dieser Zustand war dem Ich in der Vergangenheit mühelos verfügbar: do mich die erden trüg (I,6). Der im Präteritum formulierte Satz »als mich die Erde trug« wirft Deutungsprobleme auf, da das Ich ja offensichtlich auch zum Zeitpunkt des Sprechens noch auf der Erde ist und nicht in ihr begraben liegt. Man mag hier einen Reflex auf vergangene Reisen sehen, wie Burghart Wachinger vorgeschlagen hat.49 Vielleicht ist auch die Verständnisvariante denkbar, dass hier das alte Ich bereits früh in einer Position des Ausgeschlossenen verortet wird. Obwohl er noch nicht tot ist, ist er auch nicht mehr ganz in die Gemeinschaft der Lebenden integriert und wird im Gegensatz zu ihnen nicht mehr sicher von der Erde getragen – eine Außenperspektive, die sich zur Tradition der Mementomori-Lieder fügt, in der häufig ein Verstorbener spricht und aus seinem Wissen über die Zeit nach dem Tod heraus die Lebenden belehrt und ermahnt.50 Der lehrhafte Gestus, der sich aus der Außenperspektive ergibt, wird dann zunächst durch eine deskriptive Passage beendet, in der das Ich plastisch und mit schonungslosem Blick die eigenen Altersgebrechen beschreibt.51 Einzelne Körperteile bringen das Alter wie in einer Art Meldesystem ins Bewusstsein des Ichs: Mit kranker stör, / houbt, rugk und bain, hend, füss das alder meldet.52 Dabei kündigen die Gebrechen des Körpers 48

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Zum lehrhaften Sprechen in der Spruchdichtung vgl. Sandra Linden, »Sangspruchdichtung«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, Tübingen 2007, Sp. 431–436. Vgl. Wachinger, »Kommentar«, S. 1011, und seine eigene Einschränkung des Übersetzungsvorschlags mit dem Argument, dass Oswalds Schreiber an anderer Stelle das Adverb dô stets temporal und nicht örtlich verwenden. Ein typisches Memento mori bietet die um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstandene Schrift Von des todes gehugede Heinrichs von Melk. Ein wichtiges Muster für den mahnenden Bericht einer Seele aus dem Jenseits ist die lateinische Visio Tnugdali (1148), die in zahlreichen volkssprachigen Übersetzungen kursierte, so z. B. in der deutschen Version Tondolus der Ritter, hrsg. von Nigel F. Palmer, München 1980 (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 13). Vgl. auch N. F. P., Visio Tnugdali. The German and Dutch Translations and their Circulations in the later Middle Ages, München und Zürich 1982 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 76). Vgl. zur Beschreibung des alten Körpers Jones, »The „Signs of old age“«. Kl. 5, I,7f. – Übersetzung nach Wachinger: »Mit Schwäche und Beschwerden melden mir Kopf, Rücken, Beine, Hände, Füße das Alter«. Ein ähnliches Meldesystem entwirft Hugo von Trimberg in der Gegenüberstellung von Alter und Jugend, die einigen Handschriften des Renner vorangestellt ist. Bei Hugo erinnert die zunehmende körperliche Defizienz den

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nicht nur das Alter, sondern in der Konsequenz mit der zunehmenden Hinfälligkeit des Leibes auch den Tod an. Der Verfall kann nicht mehr ignoriert werden, und so setzen die schmerzenden Körperteile eine Selbstreflexion in Gang. Sofort wird in die Rückschau eine ethische Dimension eingezogen, denn das Alter erscheint hier keineswegs als unausweichlicher natürlicher Prozess, sondern wird als Folge einer moralisch schlechten Lebensführung gesehen, für die der personifizierte Leib zur Rechenschaft gezogen wird: Was ich verfrävelt hab an not, her leib, den mütwill geldet mit blaicher farb und ougen rot, gerumpfen, graw: eur sprüng sind worden klüg. (Kl. 5, I,9ff.) (Übersetzung nach Wachinger: »Was ich gesündigt habe ohne Not, Herr Leib, für diesen Übermut zahlt Ihr jetzt mit Blässe, roten Augen und runzligem Grau. Eure Sprünge sind jetzt vorsichtig geworden.«)

Ein beschwerliches Alter wird zur Strafe für ein leichtfertiges Leben in muotwil.53 Dabei werden für die Altersschilderung die aus der Schönheitsbeschreibung des Minnesangs geläufigen Farben rot und weiß54 wieder aufgerufen, nun aber einer Verkehrung unterzogen: In einer kontrastiven Gegenüberstellung von vergangenem und aktuellem Erscheinungsbild sind die strahlenden Augen und geröteten Wangen vergangener Minneattraktivität durch bleiche, totenblasse Haut und rot geäderte, entzündete Augen ersetzt. Als neue, altersangemessene Farbe tritt das Grau hinzu. Das Partizip gerumpfen (I,12) bezieht sich hier in der Bedeutung ›runzlig‹ daz von kalter art sich muoz wermen hie / Got erbarme, daz min arme sint sô kalt und mîniu knie! / Wîlent sang ich, wîlent sprang ich und sach fwelich hin und her: / Nu hât tougen muot und ougen die zît der jâre gemachet mir swêr. (Der Renner von Hugo von Trimberg, hrsg. von Gustav Ehrismann, mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle, Berlin 1970 [Deutsche N e u drucke. Texte des Mittelalters], S. 3) – »Ich bin es, das Alter, das sich aufgrund seiner kalten Natur hier wärmen muss. G o t t erbarme, dass meine Arme und meine Knie so kalt sind. Einst sang ich, einst sprang ich und schaute fröhlich hin und her: N u n hat die Zeit der Jahre mir heimlich G e m ü t und Augen schwer gemacht.« 53

Dass übermäßiger Liebesgenuss vor allem beim Mann zu vorzeitiger Alterung führt, ist in der naturkundlich-philosophischen Diskussion des Mittelalters topisch, vgl. etwa Andreas Capellanus [Andreas aulae regiae capellanus / königlicher Hofkapellan], De amore / Von der Liebe. Libri tres / Drei Bücher, Text nach der Ausgabe von E. Trojel, übersetzt und mit Anmerkungen und einem N a c h w o r t versehen von Fritz Peter Knapp, Berlin und N e w York 2006, lib. III,57ff (S. 545ff).

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Als Paradebeispiel einer weiblichen Schönheitsbeschreibung kann wohl Walthers Lied Si wunderwol gemachet wîp gelten, vgl. Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearbeitete Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns hrsg. von Christoph Cormeau, Berlin und N e w York 1996, (= L ) 53,25. Vgl. auch H e l m u t Tervooren, Schönheitsbeschreibung und Gattungsethik in der mittelhochdeutschen Lyrik, in: H. T., Schoeniu wort mit süezeme sange. Philologische Schriften, hrsg. von Susanne Fritsch und Johannes Spicker, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 159), S. 96-113.

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noch ganz konventionell auf die Haut, wird im weiteren Verlauf des Liedes jedoch moduliert. Doch zunächst wird die Liste der Leiden weiter ausgeführt: Mir swert herz, müt, zung und die tritt, gebogen ist mein gangk, das zittren swecht mir all gelid (Kl. 5, I,13ff.). (Übersetzung nach Wachinger: »Mir werden Herz, Gemüt, Zunge und Schritte schwer, gebeugt ist mein Gang, und Zittern schwächt mir alle Glieder.«)

Konkret-Körperliches und Geistig-Emotionales werden in einem Bild kombiniert, so dass nicht nur die Schritte und der Gang schwer sind, sondern ebenso Herz und Gemüt. Von der emotionalen Ebene geht es dann auf die poetologische, da das Altern auch das Singen des Ichs beeinflusst, und zwar sowohl im Inhalt (owe ist mein gesangk, I,16) als auch in der sängerischen Aufführung, denn die Tenorstimme ist ganz mit Runzeln bedeckt (mein tenor ist mit rümpfen wolbedacht, I,18). Das körperliche Alterszeichen der Runzeln wird so auf etwas Unkonkretes wie die Stimme übertragen, was den Alterungsprozess deutlicher hervortreten und diese Sinnlichkeit zu einem Motor für das abstrakte Thema der Lebensalter werden lässt. Die zweite Strophe widmet sich zunächst der Beschreibung des Kopfes: In einem Früher-jetzt-Vergleich werden die blonden Locken dem schwarz-grau melierten und schütteren Haar gegenübergestellt – die Farbveränderung von blond zu schwarz zeigt, dass es hier nicht um die realistische Darstellung einer altersbedingten Veränderung geht. Es folgen weitere Vergleiche, die sich deutlich aus einem Zurückdenken an die Jugendzeit speisen: Die Minnethematik wird nicht nur in dem Motiv des lockigen Haars, sondern auch noch einmal mit dem Verweis auf die einst roten, nun aber blutleeren blauen Lippen angesprochen: mein rotter mund wil werden plaw, / darumb was ich der lieben widerzäm.55 Die Umkehrung der typischen Schönheitsideale hat den Ausschluss des Ichs aus der Minneinteraktion zur Folge. Die Reihe wird komplettiert durch die schlechten Zähne, mit denen sich nicht genügend lebensnotwendige Nahrung aufnehmen lässt (II,7f.). Mit dem wiederholten Verweis auf den verlorenen freien müt nutzt Oswald noch einmal die bereits aus Kl. 6 bekannte Geldmotivik: und het ich aller werlde güt, ich künd ir nicht verneuen, noch kouffen einen freien müt, es widerfür mir dann in slaffes träm. (Kl. 5, II,9ff.) (Übersetzung nach Wachinger: »und hätt ich den Reichtum der ganzen Welt, ich könnte sie nicht erneuern noch mir Unbeschwertheit kaufen außer vielleicht in einem trügerischen Traum.«) 55

Kl. 5, II,5f. – Übersetzung nach Wachinger: »Mein roter Mund beginnt sich blau zu färben. Drum war ich meiner Liebsten widerwärtig.«

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Die Jugend ist nur noch im Modus des Traums verfügbar, und mit Ringen, Springen und louffen snell (II,13) ist es nun endgültig vorbei. Diese Altersbeschreibung macht evident, dass Oswald hier mit topischen Alterskennzeichen wie zitternden Händen, gebeugtem Gang, bleicher runzeliger Haut, schütterem grauen Haar usw. arbeitet. Jones hat eine lange Reihe von Textparallelen zu antiken Quellen wie Maximianus und Pseudo-Cyprian und zu mittelalterlichen Contemptus-mundi-Schriften wie De miseria humanae conditionis Lothars von Segni, des späteren Papstes Innozenz III., nachgewiesen.56 Oswald verarbeitet in dieser Altersbeschreibung also keine reale Leiderfahrung der Gefangenschaft – selbst wenn diese Lebenssituation ein Ausgangspunkt der Reflexion gewesen sein mag –, vielmehr reagiert er in bewusster Aufnahme und produktiver Modulation auf das, was ihm die literarische Tradition vorgibt. Hier schreibt keineswegs ein gebrechlicher Alter über seine reale Befindlichkeit, denn Oswald war 1425, als das Lied in den Grundstock der Handschrift A eingetragen wurde,57 48 Jahre alt und hat danach noch 20 Jahre gelebt.

4.2. Die defizitäre Stimme als Gefährdung des Sangs Oswalds Topik der Altersgebrechen bekommt eine persönliche Note, indem er die Bezugsebenen der gebräuchlichen Topoi verschiebt: So verlegt er etwa das körperliche Alterszeichen der Runzeln einfach auf das akustische Element der Stimme und nimmt die Gesangsleistung unter der Perspektive der Altersgebrechen in den Blick: für singen hüst ich durch die kel, / der autem ist mir kurz.58 Der Sänger teilt seinem Publikum singend mit, dass er nicht mehr singen, sondern nur noch husten kann. Handschrift A überliefert die weniger plastische Variante mit husten sing ich durch die kel und lässt den Gesang nicht durch das Husten ablösen, sondern blendet beide übereinander. Ob der Sänger die Passage in der Aufführung tatsächlich als Krächzen moduliert oder eben doch ganz normal singt, lässt sich nicht entscheiden. Mit der hustenden Stimme, die ihre ästhetische Kraft verloren hat und dennoch weitersingen muss, um sich mitteilen zu können, verlässt die Altersklage endgültig den Rahmen des Konventionellen. Es ist müßig, nach 56 57

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Vgl. Jones, »The „Signs of old age“«. Vgl. Johannes Spicker, »Singen und Sammeln. Autorschaft bei Oswald von Wolkenstein und Hugo von Montfort«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum, 116 (1997), S. 174–192, sowie den konzisen Überblick über die handschriftliche Überlieferung in der Edition von Wachinger, Oswald von Wolkenstein, S. 315f. Kl. 5, II,15f. – Übersetzung nach Wachinger: »Statt zu singen hust ich durch die Kehle, der Atem ist mir kurz«.

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den wenigen Belegstellen für das Verb huosten in der mittelhochdeutschen oder frühneuhochdeutschen Literatur zu fahnden,59 aber angesichts der ausführlichen Reflexionen über den Sang, wie sie Minnesang oder Sangspruch anstellen, ist es schon erstaunlich, dass in diesem Diskurs das Thema der körperlichen Beeinträchtigung der Stimme, der sinnlichkonkreten Dimension des Singens fast gänzlich ausgeblendet wird: Der hochhöfische Sänger hustet nicht, sondern er verstummt. In der Elegie formuliert Walther: tanzen unde singen zergat mit sorgen gar,60 und Otto von Botenlauben denkt Singen und Sterben zwar zusammen, lässt das Sprecher-Ich aber wie die Nachtigall plötzlich inmitten eines Freudenliedes sterben.61 Wenn im Minnesang körperliche Beeinträchtigungen im Alter thematisiert werden, geht es meist darum, dass das Ich nicht mehr am frühlingshaften Tanz teilnehmen kann,62 nicht jedoch um eine Gefährdung der Sangeskunst. Und selbst wenn man in Darstellungen einer Sängerkonkurrenz einige Belege finden mag, in denen die Stimme des anderen Sängers als unzulänglich verhöhnt wird,63 ist diese polemische Absetzung vom Konkurrenten etwas kategorial anderes als die Selbstreflexion Oswalds. Oswalds Lied inszeniert den körperlich beeinträchtigten Sang: Dass er das altersbedingte Husten auf das Singen überträgt, ist ein Höchstmaß der Konkretisierung und zielt mit der sängerischen Performanz auf ein Element, das gerade für Oswalds Werk zentral ist; nicht umsonst lässt er sich in der Wiener Handschrift (A) nicht als schreibender Autor, sondern als Sänger mit dem Notenblatt in der Hand abbilden.64 Die so konkret geschilderte Defizienz ist für Oswalds Dichtung, die stark auf den akustischen Effekt, den Klang der Stimme ausgerichtet ist, eine poetologische Aussage und markiert die umfassende Macht des Alters, die auch die poetische Lebenskraft an ihre Grenzen führt. Die Distanz des Sprechers ist dahin, das Altern greift ähnlich invasiv wie die Bestie in Kl. 6 nicht nur das Ich, sondern nun sogar die Darstellung selbst an. Es wird in das Sin59

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Die mittelhochdeutschen Wörterbücher BMZ und Lexer verzeichnen unter dem Lemma huosten vor allem Belege aus der Sachliteratur, die ein Interesse für das Krankheitsphänomen zeigen, zudem Verweise auf einige geistliche Texte sowie Chroniken. Vgl. Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, L. 124,2 – »Tanzen und Singen enden mit Sorge.« Vgl. Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, Bd. 1, hrsg. von Carl von Kraus, 2. Ausg. hrsg. von Gisela Kornrumpf, Tübingen 1978, Lied V, Str. 2 und 3 (S. 308). Vgl. Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, L. 57,23. Rumelant von Sachsen bezeichnet den eigenen Sang gegenüber dem unliebsamen Konkurrenten in gespielter Unterwürfigkeit als quitel zwitter schorfen snarz (Rum/4/1–29, hier Str. 5, Wachinger übersetzt in seiner Edition Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, S. 311: »ZerfeZwitscher-Schnarre-Spott«). Doch ist dies eher im Bereich der Polemik und des Literaturbetriebs als der persönlichen Klage anzusiedeln. Vgl. Fußnote 28.

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gen hineingeholt und zeigt seine übergeordnete Macht, der sich nichts – auch nicht die Dichtung – entziehen kann. Die Literatur, in der sich der alte Sänger sonst wie auf einer von der Zeit unabhängigen Metaebene unbeeinträchtigt beschreiben kann,65 wird in diesem Lied vom Alter affiziert, in ihrer körperlichen Dimension des Sangs wird die Kunst dem Alterungsprozess ausgesetzt. Und dennoch bleibt festzuhalten, dass die hustende Stimme durchaus noch eine eindrückliche Altersschilderung zustande bringt, dass es nicht an der dichterischen Inspiration, sondern allein an der körperlichen Umsetzung hakt. Die reflexive Vergewisserung über den eigenen aktuellen Standpunkt auf der Lebenslinie erscheint als so wichtig, dass das Ich sie auch noch unter altersbedingten Beeinträchtigungen – mit hüsten – leisten will. 4.3. Handeln wider besseres Wissen Die dritte Strophe fährt in der Tendenz zur Konkretisierung fort, indem körperliche Mängel nicht nur genannt, sondern so geschildert werden, dass auch der junge Rezipient sie lebhaft nachvollziehen kann: Das schlechte Gehör kann er sich so vorstellen, als ob man alles durch eine dicke Wand gedämpft hört (III,14). Das Lied Kl. 5 rangiert meist als ein typisches Memento-mori-Gedicht, in dem ein altes Sänger-Ich den jungen Rezipienten warnt und zur rechtzeitigen Umkehr anhält.66 Aber die Rede des Ichs geht in dieser lehrhaften Intention nicht auf, vielmehr formuliert es eine Selbstaussage, die deutlich komplexer ist, als es die simple Kategorisierung ›Altersklage‹ vermuten lässt. Gerade durch die plastische Ausgestaltung bekommen die Gebrechen eine komische Note: Das Ich klagt nicht einfach über nachlassendes Augenlicht, sondern bemerkt beim Kirchgang, als es zum Kreuz blickt: Für ainen siech ich allzeit vier / und hör

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Vgl. Christoph Cormeau, »Minne und Alter. Beobachtungen zur pragmatischen Einbettung des Altersmotivs bei Walther von der Vogelweide«, in: Ernstpeter Ruhe / Rudolf Behrens (Hrsg.), Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois, Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens. Kolloquium Würzburg 1984, München 1985 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters XIV), S. 147–165; Ute von Bloh, »Zum Altersthema in Minneliedern des 12. und 13. Jahrhunderts: Der ‚Einbruch‘ der Realität«, in: Thomas Bein (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Produktion, Edition und Rezeption, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 117–144, deren Überlegungen, ob die Altersaussagen in den Liedern ein biographisches Pendant haben, allerdings kritisch zu prüfen wären, sowie Volker Mertens, »Alter als Rolle. Zur Verzeitlichung des Körpers im Minnesang«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 128 (2006), S. 409–430. Vgl. etwa Spicker, Oswald von Wolkenstein, S. 103, der Kl. 5 als »Klage über das Altern mit gleichzeitiger Mahnung an die Jugend zu einem gottgefälligen Leben« in seine Liedtypologie einordnet.

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durch groben stain.67 Mit dem vierfachen Christus wird die Trinität knapp verfehlt und die tragische Altersklage zur Selbstironie verschoben. Die Komik wird so zu einer wichtigen Störstelle in diesen Selbstaussagen: Wenn das Ich beschreibt, dass es vor lauter Altersgebrechen nicht einmal mehr den Gottesdienst einhalten und somit aus körperlichen Gründen bedauerlicherweise keine eigenständige conversio leisten könne, klingt das weniger nach echter Verzweiflung, sondern hat den Beigeschmack einer mit Augenzwinkern vorgetragenen bequemen Ausrede gegenüber harten Bußleistungen. Auch dieses Ich gibt zwar allerlei Ratschläge an den Rezipienten aus und warnt noch einmal im letzten Vers junck man und weib, versaumt nicht gottes huld!68 Doch auch wenn sich der Sprecher einsichtig gibt und eine Lehrposition vertritt, lässt er es zugleich an der eigenen Umkehr mangeln und hat dafür mit den Einschränkungen des Alters eine probate Erklärung parat: Er kann bei Fasten, Beten, Kirchgang und kniefälligem Gebet aus körperlichen Gründen nicht mehr ordentlich mittun: Für alle dingk solt ich jetz leben got zu wolgevallen mit vasten, betten, kirchengän, auf knien venien vallen. so mag ich kainem bei bestän, seid mir der leib von alder ist enwicht. (Kl. 5, III,7ff.) (Übersetzung nach Wachinger: »Vor allen Dingen müßt ich jetzt leben nach Gottes Wohlgefallen mit Fasten, Beten, zur Kirche Gehen und auf den Knien büßen. Jedoch vermag ich bei all dem nicht auszuharren, seit mir der Leib vom Alter unbrauchbar geworden ist.«)

Der Sprecher weiß ganz genau, was im Alter mit Blick auf das jenseitige Seelenheil fortan ein sinnvolles Handeln wäre, doch er formuliert im Konjunktiv: er sollte eigentlich so leben, doch er tut es nicht und weist die Schuld für dieses Versäumnis erneut dem Leib zu. Das Ich wird so zum Negativbeispiel, das von Kindern und jungen Frauen ob seines Alters verspottet wird und ihnen dafür nicht einmal einen Vorwurf machen kann, weil es die eigene Schuld an der Außenseiterrolle einsieht: mit anewitz ich das verschuld.69 Als Trost bleibt lediglich die in der letzten Strophe formulierte Option, dass Jüngere den Gesang übernehmen und mit geistlichen 67

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Kl. 5, III,13f. – Übersetzung nach Wachinger: »Statt einem seh ich immer vier und höre wie durch eine dicke Wand.« Kl. 5, III,18 – »Junger Mann, junge Frau, verpasst nicht Gottes Gnade!« (Wachinger ediert das Lied nach Handschrift A, wo der letzte Vers variant ist). Kl. 5, III,17 – Übersetzung nach Wachinger: »Das bringt mir meine Torheit ein.« Es bleibt hier bewusst offen, wie Wachinger im Kommentar zu seiner Edition Oswald von Wolkenstein, S. 364, vermerkt, ob mit dem Unverstand (âwitze) Fehler in der Jugend oder doch auch die im Alter gemeint sind. Die von Goheen, »Zum ordo des Alters«, S. 63, favorisierte Übersetzung des anewitz als Todsünde der superbia erscheint mir zu forciert.

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Liedern eine bessere Vorsorge für das Seelenheil treffen (III,3f.). Wenn man hier überhaupt eine lehrhafte Performanz im Sinne einer Verhaltensänderung annehmen will, so ist sie ganz auf die Seite des Rezipienten verschoben. Sollte der mittelalterliche Rezipient dem Sprecher tatsächlich abnehmen, dass eine gelungene reuige Umkehr sich über die äußeren Bußleistungen bestimmt, dass sie davon abhängig ist, wie lange die Knie im Gebet durchhalten und ob man den Christus am Kreuz einfach oder vierfach sieht? Oder wird hier die viel beschworene geistliche Mahnung zur rechtzeitigen Reue und Buße einer Ironisierung unterworfen, die mit der komischen Ausgestaltung der Altersgebrechen angedeutet wird? Der Leitsatz zahlreicher Memento-mori-Darstellungen,70 in denen ein bereits Verstorbener den Lebenden warnt, wird immerhin deutlich: wer du jetzunt bist, der was ich vor, / kompst du zu mir, dein güt tat reut dich nicht.71 Doch das Ich kehrt selbst nicht mehr um und gibt dem Leib die Schuld daran. Für ein solches Handeln wider besseres Wissen könnte man das Phänomen der akrasia, der menschlichen Willensschwäche, in Anschlag bringen, wie es etwa Aristoteles formuliert hat: Die akrasia meint eine Abweichung vom rationalen Verhalten, bei der freiheitlich eine Handlung ausgeführt wird, obwohl der Handelnde eine alternative Handlung unter Abwägung von Kosten und Nutzen für besser hält.72 Antrieb erhält diese Unbeherrschtheit aus den Affekten, die das Vernunfturteil schwächen und bewirken, dass Überzeugungen und Handlungen eines Menschen ausei70

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Vgl. Röll, Oswald-Kommentar, S. 50 (Kommentarteil), der diese Wendung als typischen Bestandteil der Sepulchralpoesie bezeichnet, sowie Jones, »The „Signs of old age“«, der S. 774 eine Parallelstelle bei Freidank (Bescheidenheit, 22,18) nennt. Kl. 5, III,5f. – Übersetzung nach Wachinger: »Was du jetzt bist, das war ich früher. Kommst du zu mir, dann werden gute Werke dich nicht reuen.« Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes hrsg. von Günther Bien, 4., durchgesehene Aufl., Hamburg 1985 (Philosophische Bibliothek 5), Buch VII, Kapitel 1ff., vor allem Kap. 2 (1145b): »Ebenso scheint Enthaltsamkeit soviel als Beharren bei dem einmal gefällten Urteil der Vernunft und Unenthaltsamkeit soviel als Abfall von demselben zu sein. Endlich weiß der Unenthaltsame, daß das, was er tut, verkehrt ist, und tut es aus Leidenschaft doch; der Enthaltsame aber weiß, daß seine Begierden böse sind, und gibt ihnen aus Vernunft nicht nach«. Vgl. zum Phänomen der Willensschwäche Pierre Destrée, »Aristotle on the Causes of Akrasia«, in: Christopher Bobonich / Pierre Destrée (Hrsg.), Akrasia in Greek Philosophy, Leiden 2007, S. 139–166, sowie in demselben Band den Beitrag von David Charles, »Aristotle’s Weak Akrates: What does her Ignorance Consist in?«, S. 193–214. Die christliche Interpretation der Willensschwäche rechnet die Sünde ins Kalkül der Strebungen ein, vgl. Röm 7,14f.: »Wir wissen ja, dass das Gesetz zum Geist gehört; ich dagegen bin vom Fleisch bestimmt – und verkauft unter die Sünde. Was ich bewirke, begreife ich nicht; denn nicht, was ich will, treibe ich voran, sondern was ich hasse, das tue ich.« (Übersetzung nach der Zürcher Bibel, Vulgata: scimus enim quod lex spiritalis est ego autem carnalis sum venundatus sub peccato quod enim operor non intellego non enim quod volo hoc ago sed quod odi illud facio).

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nanderklaffen. Auch kurz vor dem Tod, als ihm die durch jugendliche Sünden verschuldete Hinfälligkeit des Leibes und die Kürze der verbleibenden Zeit bewusst werden, ist dem Ich in Kl. 5 die Lust an der Welt noch nicht vergangen, scheint es den anewitz noch nicht ganz verloren zu haben und kann sich wider besseres Wissen nicht zur tätigen Umkehr überreden. Man mag einwenden, dass man die Hinfälligkeit des Körpers, die hier so drastisch beschrieben wird und den Sprecher am Gottesdienst hindert, durchgängig ernst nehmen und als existentielle Verzweiflung des Ichs begreifen müsse, doch dazu fügen sich selbstironische Volten wie die Bemerkung zum vierfach gesehenen Christus, die auf eine gewisse distanzierte Selbstsicherheit schließen lassen, nur bedingt. Vielleicht muss man dem Text zugestehen, dass er in einer Verschränkung von geistlichem und weltlichem Sprechen den religiösen Ernst, der ohne Zweifel auch vorhanden ist, mit einem selbstironischen Augenaufschlag hinsichtlich der eigenen Willensschwäche und des persönlichen Versagens gegenüber dem normativen Anspruch kombinieren kann. Genau wie in Kl. 6 schaut auch hier das Ich in einem Moment, als es den Tod schon vor Augen hat, auf die Vergangenheit, erkennt das Problem der eigenen Sündhaftigkeit und kann – aus welchen Gründen auch immer – die in der Rückschau erworbenen Einsichten nicht in aktives Handeln umsetzen. Wieder ist die Notwendigkeit zur Umkehr mittels Reflexion deutlich herausgestellt, der richtige Zeitpunkt aus Sicht des Ichs aber bereits verpasst. Die für Oswalds Lieder spezifische Spannung zwischen geistlichen und weltlichen Denkund Bewertungsnormen sorgt hier für eine schillernde Uneindeutigkeit. Das Ich bei Oswald ist wieder einmal »Büßer« und »Weltkind« zugleich, wie Eckart Conrad Lutz in anderem Kontext treffend formuliert hat.73 Das Lied Kl. 24 Kain freud mit klarem herzen, wo die Angst vor der ungewissen Todesstunde ein Nachdenken über die eigene Sündhaftigkeit anregt, weist einen ähnlichen Befund auf: Die zweite Strophe beginnt mit der klaren, durch die Schriftgelehrten autorisierten Einsicht, dass Sterben in Sünde üble Konsequenzen für die Seele hat: All maister uns das lesen aus der vil hailgen schrifft, das kainer müg genesen, wer inn der sünde gifft tödlichen wirt erfunden än beicht, büss, ware reu, des sel werd dort geschunden mit mangerlai gepreu. (Kl. 24, II,1ff.)

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Lutz, »Wahrnehmen der Welt«, S. 74.

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(Alle Gelehrten lesen uns aus der Heiligen Schrift deutend vor, dass niemand gerettet werden kann, der beim Tod im Gift der Sünde angetroffen wird ohne Beichte, Buße und wahre Reue; dessen Seele werde dort mit so manchem Gebräu gequält.)

Die jenseitige Strafe ist klar benannt, die Abhilfe durch Reue, Beichte und Buße ebenfalls, an der Aussage der Lehrautorität wird kein Zweifel laut. Und dennoch kehrt das Ich nicht um, hat die Selbsterkenntnis – denn es sieht sich als sündiges Ich – keinerlei Konsequenzen auf der Handlungsebene. Vielmehr muss der Sprecher sich angesichts seiner Willensschwäche, die ihn trotz des sicheren Wissens über die negativen Konsequenzen von einer Verhaltensänderung abhält, beinahe schon über sich selbst wundern:74 so nimt mich immer wunder, wes ich mich selber zeich, das ich mein tödlich leben hie büsslich nicht vertreib und lass mich überstreben den krancken, snöden leib Mit sünd, gross, mitter, klaine, und swachlichem gelust; vernunft volgt mir unraine und all mein sinn vertust (Kl. 24, II,11ff.). (So wundere ich mich, wofür ich mich selbst tadle, dass ich mein todgeweihtes Leben hier nicht mit Buße verbringe, sondern den schwachen, verächtlichen Leib untergehen lasse mit großen, mittleren und kleinen Sünden und in niedriger Begierde. Die Vernunft folgt mir auf ungenaue Art, und all mein Verstand ist betäubt.)

Das Ich erkennt nicht nur die Verführungskraft der Welt, sondern sieht zugleich die eigene Schwäche gegenüber diesen Verlockungen ein, die es nicht zu kontrollieren vermag. In der dritten Strophe beklagt es die vergangenen Tage, die es in der Rückschau als sündhaftes und wertloses Leben erkennt, und doch kann es sich nicht in das vorgegebene Verhaltensmuster von Reue und Buße einfügen, steht seine Verzweiflung über die persönliche Situation quer zum starren Schema geistlicher conversio. Zwar tätigt das Ich diese Rückschau hier im Alter von 46 Jahren (III,6), aber die Perspektive ist ganz ähnlich wie die des Vierzigjährigen in der Lebenssumme Es fügt sich (Kl. 18).

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Eine ganz ähnliche Haltung findet sich in Kl. 11, O snöde werlt, wo das Ich die Verführungen der Welt als schlecht erkennt und sich zugleich wundert, dass es ihnen nicht besser widerstehen kann.

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5. Die Zäsur des Rückblicks: ein persönlicher Moment Das Panorama der vorgestellten Lieder hat gezeigt, dass Todesnähe und Sündenabrechnung zu einer Art Motor der Ich-Darstellung werden, weil man sie als Argument braucht, um den Reflexionsprozess, das Nachdenken über das eigene Leben und seine Gestaltung anzustoßen. Der Umschlagpunkt, an dem das bisher völlig sorglose Dahinschreiten auf der Lebenslinie in eine existentielle Sündenverzweiflung umschlägt, ist über ein starkes personal ausgestaltetes Ich umgesetzt, das die geistliche Lehre von der Umkehr zwar formuliert, aber zugleich eben auch ein facettenreiches Leben erzählt oder dieses zumindest in Mikronarrativen andeutet. Der Punkt im Leben, an dem das Ich über die bisher verbrachte Lebenszeit reflektiert, ist eine Zäsur, die in den konventionellen Lebensaltermodellen nicht berücksichtigt ist und nicht berücksichtigt sein kann, weil sie an persönliches Erleben und an das reflektierende Bewusstsein des Ichs geknüpft ist. Der Moment, an dem das Ich mit Blick auf den Tod anfängt, die verbrachte Lebensstrecke mit der verbleibenden in einen Bezug zu setzen, ist in Oswalds Liedern als ein individueller Lebenspunkt inszeniert, der für das Ich eine existentielle Veränderung in seinem Lebensbezug impliziert. Während in Kl. 18 die typische Altersangabe von 40 Jahren begegnet, spricht in Kl. 24 ein 46-jähriges Ich, im Lied Zwar alte sünd pringt neues laid (Kl. 36) tritt der Fünfzigjährige in ähnlicher Sprech- und Reflexionshaltung auf. Die Varianz des Alters, in dem ein identischer Autor in der Ich-Stilisierung drohende Todesnähe suggeriert, legt die Vermutung nahe, dass man die konkrete Sicht auf die Endlichkeit des Lebens als Argument braucht, um den Reflexionsprozess anzustoßen, das Nachdenken und Sprechen über das eigene Leben und seine Gestaltung zu motivieren und in Gang zu setzen. Der Zeitpunkt der Reflexion ist dabei nicht objektiv gesetzt, sondern subjektiv vermittelt und immer mit der ängstlichen Frage verknüpft, ob an dieser Zäsur eine rechtzeitige Umkehr noch möglich ist oder nicht. Diese Inkongruenz von Lebensaltermodellen und subjektiver Zeitwahrnehmung angesichts des Todes thematisiert Oswald zusammen mit anderen Autoren wie etwa Walther, der in der Elegie fragt: Owê, wâr sint verswunden alliu mîniu jâr! / ist mîn leben mir getroumet, oder ist ez wâr?75 D e r re-

gelmäßige Ablauf des Lebens in geordneten Segmenten ist für den einzelnen Menschen in der subjektiven Wahrnehmung seines Lebens nicht nachvollziehbar, erscheint ihm in der strengen und eine klare Ordnung suggerierenden Sequenzierung unwirklich wie ein Traum. Doch das Ich 75

Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, L. 124,1f. – »O weh, wohin sind all meine Jahre verschwunden? Habe ich mein Leben nur geträumt, oder ist es wahr?«

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bei Oswald zieht andere Konsequenzen: Trotz Sündenerkenntnis und Todesangst bricht es aus dem geistlichen Verhaltensschema aus, es bleibt gegen alle Einsicht bei der Lebensweise, die vor der Reflexion stand. Die Zäsur der Erkenntnis ist nicht mit einer Zäsur der Verhaltens- und Handlungsweisen gekoppelt. Oswalds Ich inszeniert sich für seine Rezipienten als Negativbeispiel und kann somit nur noch auf göttliches Erbarmen mit dem armen Sünder hoffen. Der Umkehreffekt liegt allein beim Rezipienten, der das Versäumnis des weltverfallenen Ichs erkennt. Lange nach der ersten Rückschau als Vierzigjähriger in Kl. 18, nämlich als fünfzigjähriges Ich, hat sich die Position immer noch nicht wesentlich geändert: Ich han vermodelt mangen guss mit sündiklichem trepfen Von angefangk ains kindes gangk bis auff die schranck schier gen den fünfzig jaren. (Kl. 36, III,3ff.) (Ich habe so manchen Guss mit sündigem Verschütten ruiniert, von Kindesbeinen an bis zur Grenze, fast mit fünfzig Jahren.)

Doch wird nun die Prämisse, durch die sich das Ich eine solche Lethargie und Willensschwäche erlauben kann, deutlicher formuliert: O vas der barmung uberfluss, / das niemand kan erschepfen!76 Und so gehen die auf den ersten Blick so widerständigen Lieder, in denen das Ich an einem Wendepunkt seines Lebens die eigene Sündenverfallenheit erkennt und trotzdem die Konsequenz einer conversio verweigert, dennoch im geistlichen Sprechen und im angstvoll hoffenden Vertrauen auf die göttliche Gnade auf. Die zu Beginn thematisierte biographische Signatur des plastisch hervortretenden Ichs in Oswalds Liedern ist im Laufe der Analyse wie von selbst in den Hintergrund getreten: Die Alterskrise ist keine reale biographische, sondern eine literarisch inszenierte. Die Zäsur der innehaltenden Sündenreflexion ist strategisch gesetzt, trägt mit drastischen Entwürfen wie dem hustenden Sänger zur literarischen Ich-Stilisierung bei. Dabei ist und bleibt der persönliche Rückblick ein kunstvoll arrangierter, ist er als facettenreiches Spiel im breiten Spektrum zwischen Topik und persönlicher Biographie zu verorten. Selbst wenn man den autobiographischen Signaturen einen gewissen Realitätsgrund zugestehen will, sind sie dennoch vor allem ein Instrument, um jenseits der Rollenlyrik ein komplexes Ich zu konstruieren. Für vormoderne Entwürfe muss man Authentizität nicht notwendig als etwas fassen, was von Formen einer inszenierten Existenz zu unterscheiden wäre. Simulation und Authentizität schließen sich nicht notwendig aus, sondern auch eine wirklich empfundene Gefühlslage kann insze76

Kl. 36, III,1f. – »Oh, Fass der überfließenden Barmherzigkeit, das niemand leer schöpfen kann!«

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niert und gespielt werden, ohne dass die Darstellung durch die strategische Ausrichtung ihren authentischen Charakter verliert. Es geht somit weniger um die Frage, ob die dargestellte Emotion real oder künstlich ist, sondern eher darum, ob und wie eine Emotion als aufrichtig dargestellt und plausibilisiert wird. In diesem Sinne kann man der Ich-Darstellung in Oswalds Liedern durchaus einen authentischen Zug zusprechen. Das Ich ist ein authentisches und ein stilisiertes zugleich, es spricht in einer sehr persönlichen Reflexion zu sich selbst und verfolgt zugleich doch eine lehrhafte Pragmatik gegenüber dem Rezipienten, der sich ein Beispiel nehmen und es besser machen soll. Die quälende Frage angesichts des nahen Todes, ob es für eine Umkehr schon zu spät ist, bringt eine Alterszäsur hervor, die quer zu gängigen Lebensaltervorstellungen steht, weil sie allein in der persönlichen Reflexion auf das eigene Leben konstruiert wird und in ihrer gesteigerten Affektivität weder ein natürlich-biologisches Schema noch eine allgemein akzeptierte und konstante kulturelle Setzung darstellt. Oswalds Lieder nehmen so in einer geistesgeschichtlichen Denkbewegung, die von einer schematischen Altersbetrachtung hin zu einer individuell vermittelten führt, die den persönlichen Lebensverlauf auch einmal kontrastiv vom vorgegebenen Lebensalterschema absetzen kann, eine wichtige Position ein.

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»Alles ohne Hexerei«. Verjüngungsmedizin in Kunst und Literatur seit der Frühen Neuzeit The wish to stop the natural aging process is probably as old as human culture. This article gathers naturalistic, pictorial, and literary testimony – from Hans Sachs and Harsdörffer to Goethe and Heyse – presenting motifs involving juvenescent medicine. The motifs are manifest in two traditions in which observation and fantasy are blended. On the one hand, there is the tradition of comptoria ars: an art of beautification affecting bodily surfaces alone and operating with cosmetic means and miraculous alchemical tinctures. On the other hand, there is the tradition of cosmetica medicamenta, a form of medical practice aimed at endowing life with dietetic balance and the retention of natural forces (Triller, Hufeland). The doctrine of gerocomy, rejuvenation through close contact with flourishing (female) youth, represents a special case, one with strongly erotic connotations. The gerocomic tradition is traced here from a satirical treatise by J. H. Cohausens (1753) up to Philip Roth’s novel The Dying Animal (2001) and the film The Countess (2009).

»Und da ich Casanova bin, warum sollte an mir das klägliche Gesetz nicht zuschanden werden, dem andre unterworfen sind und das Altern heißt!«1 In Arthur Schnitzlers Erzählung Casanovas Heimfahrt (1918) überkommt den Chevalier von Seingalt diese Auflehnung gegen den Lauf der Natur auf seinem verstohlenen Weg zum letzten und vielleicht schwierigsten Sieg seines überreichen Liebeslebens. Die kühl sich entziehende Marcolina, die in seiner Phantasie zum ersten und einzigen »tugendhaften Weib« (270) überhaupt aufsteigt, vermag er nur durch List zu erobern. Getarnt durch den Mantel seines Rivalen Lorenzi, geschützt durch das Dunkel der Nacht und unter dem Sigel des Schweigens erschleicht Casanova sich nie gekannte Wonnen von ihr, während Marcolina seinen Nebenbuhler in den Armen zu halten glaubt. Erst im fahlen Licht des Morgens durchschaut sie den perfiden Betrug, und ihren Blicken muss der betrogene Betrüger ein viel vernichtenderes Urteil als »Dieb – Wüstling – 1

Arthur Schnitzler, »Casanovas Heimfahrt«, in: Die Erzählenden Schriften, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1961, S. 231–323, hier S. 305. Die folgenden Zitate werden mit der (Seitenzahl) im Text nachgewiesen.

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Schurke« entnehmen: Es lautet »Alter Mann« (310) und kündigt sich ihm im Laufe der Novelle schon mehrfach aus Spiegeln an. Über diesen ohne ein einziges Wort vermittelten Vernichtungsschlag kommt Casanova kaum hinweg, nicht einmal der auf der Flucht verübte Duellmord an seinem Nebenbuhler Lorenzi schafft wirklich Erleichterung. Zurück bleibt das schale Gefühl, »als hätte in dieser Nacht List gegen Vertrauen, Lust gegen Liebe, Alter gegen Jugend sich namenlos und unsühnbar vergangen« (311). Die amourös forcierte, wenn nicht gar listig herbeigeführte Überschreitung von Altersgrenzen ist seit je mit sozialen Stigmata verbunden. Der Wunsch nach künstlicher Verzögerung oder gar Aufhebung des natürlichen Alterungsprozesses zielt hingegen auf Möglichkeiten, bestehende gesellschaftliche Sanktionen zu unterlaufen oder zu überspielen. Diese beiden Optionen lassen sich anhand folgender Flugblätter der Frühen Neuzeit illustrieren. Das Lustige Gespräch Eines alten Greißen (1652) zeigt in Bild und Text, wie ein alter Mann sich durch sein Verhalten selbst eine »Oxenkron« (V. 15) aufsetzt und sich so zum »Hanrey« (V. 28) macht2 (Abb. 1). Zu sprechen scheint der Galan zur Linken, der mit hinweisender Gebärde auf das ungleiche Paar deutet: »Schaut doch den Greisen an / den alten Meister Gecken / / / Der nun bey zehen Jahr gegangen an den Stecken« (V. 1f.). Die ikonographisch wie poetisch gebotene Handlung ist konventionell, die junge Frau, auch als »Wölffin« (V. 26) tituliert, greift dem alten »Narr« (V. 7) und »Stinckbock« (V. 17) zu dessen eigenem »Schad« (V. 8) tief in den Beutel. Der Greis lässt sich derweil von Illusionen verblenden: »Hör was bildst du dir ein / und was gedenckst du doch? / / der auf Pantoffeln zöscht / der springet selten hoch« (V. 11f.). In Wirklichkeit, so suggeriert jedenfalls der Sprecher, stehe es ganz anders um den Alten: »was ihn zum Mann gemacht / ist längst bey ihm gestorben« (V. 21f.). Der Einblattdruck liefert den Greis gnadenlos dem öffentlichen »Spott« (V. 8) aus, die Mitschuld der um ihre »Gebühr« (V. 28) bemühten Frau fällt demgegenüber kaum ins Gewicht: »Man lacht den Gaugen auß / der nur bey Tag ein Mann / / der sehr viel mit dem Mund / und nichts im Wercke kan« (V. 31f.).

2

Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, hrsg. von Wolfgang Harms, Bd. 1, Tübingen 1985, S. 238f. (Nr. I, 111). Im Folgenden wird der Text dieses Einblattdruckes mit Verszahlen zitiert.

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Abb. 1: Lustiges Gespräch Eines alten Greißen. Nürnberg 1652, verlegt durch Paul Fürst. Reproduziert nach: Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, hrsg. von Wolfgang Harms, Bd. 1, Tübingen 1985, S. 239 (I, 111).

Teuer bezahlte Selbstüberschätzung und Verirrung wird man dem alten Mann in diesem Beispiel anlasten können, nicht aber raffinierte List. Seine Verblendung besteht lediglich in Verkennung der Altersdifferenz, die lächerlich wirkt. Das Emblem Senex puellam amans des Andreas Alciatus hält diesen zum Topos gewordenen Fall anhand des Sophokles fest, der noch

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im hohen Alter ein junges Mädchen liebte.3 Und Georg Philipp Harsdörffer variiert ihn zur Entstehungszeit des Flugblatts als Kriminalgeschichte: Ein Mailänder Edelmann und Witwer gewinnt eine junge »Beyschläfferin« für sich, die »ihres alten Jagdhunds« aber bald überdrüssig wird, sich in den ältesten Sohn des Hauses verliebt, diesen wie eine »Wölfin«4 verfolgt, anlässlich seiner Weigerung aber der Vergewaltigung bezichtigt. Eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn endet mit dem tödlichen Treppensturz des letzteren, der Vater und die Verleumderin nehmen sich selbst das Leben; die Intrige und der Totschlag können jedoch mit Hilfe einer Magd aufgeklärt werden. Im Zentrum des Textes steht die diätetische These, dass sexuelle »Beywohnung alte Leute zum Grab befördere / wegen Schwächung der natürlichen Hitze / und Zerrittung der krafftlosen LebensGeisterlein«.5 Mit dieser medizinischen Perspektive kommen wir zu dem zweiten angekündigten Flugblatt, das sich mit Möglichkeiten einer Lebensbeförderung im Alter befasst6 (Abb. 2). Zu sehen ist ein hochverdienter Greis, der während seines Lebens zahlreichen Frauen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen viel Gutes getan haben soll. Von welcher Art diese Dienste waren, geht aus den Versen unmissverständlich hervor: [...] Doch weil er nicht mehr kunt / Wie vormahls: und ihm auch der Sinne nicht mehr stund Nach Buhlen: Weil durchauß des gantzen Leibes-Kräfften Fast gantz und gar verderbt / durch viele Liebs-Geschäfften: Wol sprach die Buhlerin / kommt Schwestern / kommt herbey / Helfft / daß der unser Greiß bey Kräfften wider sey / (V. 19–24).

Im Vordergrund waschen, stützen und umsorgen sechs nackte oder spärlich bekleidete Damen den Greis im Bildzentrum. Ein »Trüncklein Wein« (V. 27) sowie kräftigende oder aphrodisische Speisen wie »Austern«, »Schnecken«, »Eyer«, »Mannswurzeln«, »Rettich« und »Rapunzeln« (V. 29– 34) werden aufgeboten, damit der Geschwächte »das süsse MannsVermögen« (V. 38) wiedererlangt und »den Schnabel bald wird können wieder recken« (V. 30). Dann könnte – so legt die temporale Bildlogik nahe – auch die im Hintergrund dargestellte Rückkehr ins Liebesnest gelingen. Die Lehre des Blattes weist der Verstext zum Schluss aus: »Darauß 3

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Vgl. Andreas Alicatus, A Book of Emblems. The Emblematum Liber in Latin and English, translated and ed. by John F. Moffitt, London 2004, S. 138 (Nr. 116). Kommentiert, mit gerahmter Pictura unter Nr. 117 auch in: Andreae Alciati Emblemata cvm commentariis [...], Passau 1661, S. 495–498. Georg Philipp Harsdörffer, Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte. Nachdr. Hildesheim und New York 1975, S. 382f. Ebd., S. 382. Harms (Hrsg.): Deutsche illustrierte Flugblätter, S. 240f. (Nr. I, 112). Der Text wird im Folgenden mit nachgestellter Verszahl zitiert.

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das Frauen-Volck hat diese Lehr zu mercken: / / Wie man soll’ alte Greiß / und junge Männer stärcken« (V. 45f.).

Abb. 2: Der Hochverdient und Wohlbelohnte Greise. Frankfurt a. M. Mitte des 17. Jahrhunderts, verlegt von Abraham Aubry. Reproduziert nach: Deutsche Illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, hrsg. von Wolfgang Harms, Bd. 1, Tübingen 1985, S. 241 (I, 112).

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Der Einblattdruck scheint gegen die barocke Vanitas und eine sanktionierende Sexualmoral zu votieren. Statt um das Prinzip des Carpe diem, mit dem in der erotischen Lyrik der Frühen Neuzeit junge Frauen zum raschen Vollzug der Liebe überredet werden, um dem Hässlichwerden zuvorzukommen, geht es hier um eine Überlistung der Vanitas selbst. Bereits die alten Ägypter und Griechen träumten davon, die Last des Alters und des körperlichen Verfalls aufhalten oder bekämpfen zu können. In der Frühen Neuzeit treten solche Verheißungen immer häufiger auf, besonders die Alchemie verspricht ihre – angeblich auch in diesem Bereich – wirksame Universalmedizin, den Stein der Weisen oder kosmetisch hilfreiche Tinkturen und Salben zur Lebenserhaltung (conservatio) oder Erneuerung (renovatio, restauratio).7 So verspricht beispielsweise der durch die Alchemieliteratur irrlichternde Salomon Trismosin im Jahre 1598, im Besitz einer bewährten Verjüngungstinktur zu sein: »Ich Trismosin hab selbst LXXXX.jährige Männer und Weiber mit diser Tinctur curiert / sind Spon new worden / und welche Weiber keine Kinder tragen / die werden von diser Medicin gantz fruchtbar«.8 Die »Giftmischerin« Medea,9 die ihre (wohl metaphorische) Verjüngungskunst in Ovids Metamorphosen an Aeson demonstriert, bietet dafür ein nicht nur ikonographisches Modell. Ausführlich beschreibt Ovid, wie sie aus Kräutern, tierischen Bestandteilen und Mineralien einen »Saft« braut, »durch den das Alter, erneut, zur Blüte zurückkehrt« (V. 215f.). Dieses magische Lebenselixier wird teils verabreicht, teils direkt infundiert und zeigt so eine erstaunliche Wirkung: Als Medea es sah, durchschnitt sie sogleich mit gezücktem Schwert die Kehle dem Greis, ließ aus dann fließen das alte Blut und ersetzt’s durch die Säfte. Als Aeson diese getrunken, teils durch den Mund und teils durch die Wunde, verloren sein Haar, sein Bart ihr Weiß und rafften die Schwärze der Jugend sich an, da Floh die Dürre, verscheucht, verschwanden Bleiche und Welkheit, füllten sich wieder, mit Fleisch sich ebnend, die Falten und Runzeln, strotzten die Glieder von Kraft. Und Aeson staunt und entsinnt sich, daß er vor vierzig Jahren ein solcher Jüngling gewesen. (V. 285–293) Solche Ideen wurden wiederholt ins Reich der Fabel verwiesen und für die Rezeption der kunstreichen Hexe Medea herangezogen.10 Der noch utopi7

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Vgl. Daniel Schäfer, Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase, Frankfurt a. M. und New York 2004, S. 133–144. Zit. nach Joachim Telle, »Der ›splendor solis‹ in der frühneuzeitlichen Respublica alchemica«. In: Daphnis, 35 (2006), S. 421–448, hier S. 435. Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und mit dem Text hrsg. von Erich Rösch, München 1968, S. 249 (VII. Buch, V. 314). Im Folgenden wird diese Ausgabe mit nachgestellter Verszahl zitiert. Vgl. Daniel Schäfer, »Gullivers Reise und Medeas Mixturen. Frühneuzeitliche Beispiele für Langlebigkeit im medizinischen und nichtmedizinischen Kontext«, in: Mariacarla Gade-

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sche Gedanke an eine verjüngende Bluttransfusion würde über die klassische Toilettenkunst und Kosmetik jedenfalls weit hinausgehen, die Ovid übrigens selbst vertritt. So rät er beispielsweise in der Ars amatoria – gegen vielfältige Vorbehalte seit Platon – ausdrücklich zum Schminken, um die Illusion der Jugend dauerhaft zu erzeugen. Dazu entsteht in der Frühen Neuzeit ein reiches Genre der Ratgeberliteratur, sogenannte Toilettenlektüren: Sie lassen sich in eine bloß überdeckende und vielfach verpönte Verschönerungskunst (comptoria ars) und eine aktive Erhaltung und Förderung natürlicher Gesundheit (cosmetica medicamenta) gliedern.11 Medeas Behandlung würde hingegen, wäre sie realistisch, einen aktiven chirurgischen Eingriff bedeuten. Historisch kam das erst mit der gefährlichen Chirurgia infusoria des 17. Jahrhunderts auf. Medeas Utopie weist so über die Grenzen von Wellness, Diät und Kosmetik hinaus zur Schönheitsmedizin. Medeas transmutatorischer Akt bei der Herstellung eines Elixiers nimmt alchemistische Vorstellungen einer Reinigung und Veredelung von Substanzen im Prozessgeschehen vorweg. Eng damit verwandt ist die von der Bildkunst tradierte Idee eines Jungbrunnens oder einer Altersmühle, in der unter Zuführung von Energie und katalysierenden Stoffen Einfluss auf den natürlichen Alterungsprozess genommen werden kann.12 Mit ausdrücklichem Verweis auf die Künste der Medea verspricht Mitte des 16. Jahrhunderts ein Altmännerofen (Abb. 3) mit dem Titel »Jung mann machen« besondere »medicamina«, »Die alten leut mit meisterschafft / / Zubringen auff die jungen tag«13.

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busch Bondio und Thomas Ricklin (Hrsg.), Exempla medicorum. Die Ärzte und ihre Beispiele (14.–18. Jahrhundert), Florenz 2008, S. 219–227, hier S. 222–224. Vgl. dazu ausführlich Gesa Dane, »Die heilsame Toilette«. Kosmetik und Bildung in Goethes ›Der Mann von funfzig Jahren‹, Göttingen 1994, S. 56–94; dies., »Flüchtige Gesichter: Das Schminken in literarischen Werken von Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Gottfried Benn«, in: Christian Janecke (Hrsg.), Gesichter auftragen. Argumente zum Schminken, Marburg 2006, S. 145–154. Vgl. Maurits de Meyer, »Verjüngung im Glutofen – Altweiber- und Altmännermühle«, in: Zeitschrift für Volkskunde, 60 (1964), S. 161–167; Rolf Wilhelm Brednich, Art. ›Altweibermühle‹, in: Kurt Ranke (Begr.), Enzyklopädie des Märchens, Bd. 1, Berlin und New York 1977, Sp. 441–443. Vgl. Nils-Arvid Bringéus, »Die Kunst wieder jung zu werden. Zu einem volkstümlichen Bildthema«, in: Ethnologia Scandinavica (1980), S. 5–30, hier S. 19.

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Abb. 3: Holzschnitt von Anthony Corthys, um 1550.

Wer auf der linken Seite des Blattes seine Behandlungsgebühr entrichtet hat, wird von oben in den Wunderofen eingeführt und verlässt diesen unten in einem deutlich verjüngten Zustand. Ähnlich geheimnisvoll scheint die ›Jungmühle‹ zu funktionieren, an die Stelle des Feuers ist lediglich die operative Kraft sich drehender Windflügel getreten (Abb. 4).

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Abb. 4: Holzschnitt von Marc Anton Hannas, Augsburg 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts.

Unter der verheißungsvollen Überschrift »Allhie werden alte Männer jung gemahlen«, stellt der Holzschnitt jüngeren Frauen eine Möglichkeit in Aussicht, der nachlassenden Manneskraft ihrer Begleiter aufzuhelfen. Das letzte Verspaar verweist den Vorschlag allerdings eher in das Gebiet uner-

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füllbarer Wunschvorstellungen: »In Schertzweiß wölle Jederman / Diß Gemähl thun nehmen an.«14 Das sagenhafte Verjüngungsmotiv begegnet in Märchen sowie der Bildkunst, etwa auf Lucas Cranachs berühmtem Gemälde Jungbrunnen (1546). Das Gedicht Der jungkprunn (1557) von Hans Sachs kann als eine Erläuterung dienen, die den illusionären, lediglich traumhaften Charakter solcher Wunschvorstellungen verdeutlicht. Der zweiundsechzigjährige Sprecher quält sich im Bett mit Gedanken an das »schwere Alter« und der »Jugend gute Tage«: Und warff mich im pett hin und her. Dacht: O das ein artzeney wer Für das alter oder ein salben, Wie wert würd sie sein allenthalben! Inn dem nach-dencken ich gar tieff Verwickelt ich samb halb entschlieff. Mir trambt, wie ich kem wol-besunnen Zu eynem grossen runden prunnen15

Das folgende Traumnarrativ beschreibt ausführlich einen Jungbrunnen, zu dem Menschen aus allen gesellschaftlichen Klassen drängen, um »sich verjungen [zu] lassen«.16 Solche Szenen sind etwa auf einem Holzschnitt von Albrecht Glockendon oder einem Bild von Sebald Behaim zu sehen. Doch beim Einstieg in das Zauberwasser erwacht der Schläfer und begreift: »Ich muß nun bey mein tagen / Die alten haut mein lebtag tragen, / Weil kein krawt auff erd ist gewachsen, / Heut zu verjüngen mich Hans Sachsen.«17 Paul Heyse knüpft mit seiner Novelle Der Jungbrunnen (1898) an diese Selbsterkenntnis an. Erzählt wird von einem alten Förster, der durch einen Zaubersaft in einen Abenteuertraum von Verjüngung, Liebeswerben und ritterlichen Duellen um eine Frau gerät, bis er schließlich mit den üblichen Gichtschmerzen neben seiner treuen Ehegefährtin erwacht und erkennen muss, »daß jedes Alter seine eigene Plage hat«.18 Auch im Märchen gelingt die Verjüngung nur mit Hilfe göttlicher Wunderkräfte. Die Brüder Grimm nehmen beispielsweise den Schwank Der affen ursprueng (1562) von Hans Sachs unter dem Titel Das junggeglühte Männlein in ihre Kinder- und Hausmärchen auf. Darin wird ein gebrechlicher alter Mann von Jesus auf wunderbare Weise verjüngt, während der assis14

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Ebd., S. 9. Hans Sachs, hrsg. von Adelbert von Keller, Bd. 4, Tübingen 1870, S. 141–143, hier S. 141. Ebd., S. 142. Ebd., S. 143. Paul Heyse, »Der Jungbrunnen«, in: Gesammelte Werke, hrsg. von Markus Bernauer und Norbert Miller, Reihe IV, Bd. 2, Hildesheim u. a. 1995, S. 76–102, hier S. 102.

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tierende Schmied beim Nachahmungsversuch an seiner Schwiegermutter aufs Grausamste scheitert: Der Schmied war ganz bereit, und St. Petrus zog die Bälge, und als das Kohlenfeuer auffunkte, groß und hoch, nahm unser Herr das alte Männlein, schob’s in die Esse, mitten ins rote Feuer, daß es drin glühte wie ein Rosenstock und Gott lobte mit lauter Stimme. Nachdem trat der Herr zum Löschtrog, zog das glühende Männlein hinein, daß das Wasser über ihm zusammenschlug, und nachdem er’s fein sittig abgekühlt, gab er ihm seinen Segen: siehe, zuhand sprang das Männlein heraus, zart, gerade, gesund und wie von zwanzig Jahren.19

Die hier exemplarisch abgestrafte prometheische Hybris, den natürlichen Alterungsprozess aufheben und so künstlich umgewandelte menschliche Kreaturen hervorbringen zu können, schreckt die Naturforscher der Frühen Neuzeit von der Suche nach einer wirksamen Verjüngungsmedizin keineswegs ab. Das Experiment mit unbekannten Elixieren ist freilich riskant, auch Faust schimpft zu Beginn der Szene »Hexenküche« auf »das tolle Zauberwesen« und die »Sudelköcherei«, nimmt dann aber doch etwas von dem »Trunk« der Hexe ein, weil natürliche Mittel kaum »dreißig Jahre« Verjüngung verheißen.20 Mephisto hingegen empfiehlt »natürlich Mittel« nach »einem andern Buch« (V. 2348f.), das Gesa Dane als die Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1796) des Weimarer Arztes Christoph Wilhelm Hufeland entschlüsselt:21 FAUST Ich will es wissen. MEPHISTOPHELES Gut! Ein

Mittel, ohne Geld Und Arzt und Zauberei, zu haben: Begib dich gleich hinaus aufs Feld, Fang an zu hacken und zu graben, Erhalte dich und deinen Sinn In einem ganz beschränkten Kreise, Ernähre dich mit ungemischter Speise, Leb mit dem Vieh als Vieh, und acht es nicht für Raub, Den Acker, den du erntest, selbst zu düngen; Das ist das beste Mittel, glaub, Auf achtzig Jahr dich zu verjüngen! (V. 2351–2361)

Statt auf »astralische Salze, Goldtinkturen, Wunder- und Luftsalzessenzen, himmlische Betten und magnetische Zauberkräfte« setzt Hufeland auf eine »Stärkung der Lebenskraft und der Organe, Retardation und Kon19

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Jacob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen, hrsg. von Carl Helbling, Zürich 1946, S. 327f. (Nr. 147). Vgl. Hans-Jörg Uther, Handbuch zu den »Kinder- und Hausmärchen« der Gebrüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation, Berlin und New York 2008, S. 308– 310. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd. 6.1, München 1986, S. 600–608 (V. 2337, 2341, 2580, 2341). Im Folgenden mit nachgestellter Verszahl zitiert. Dane, »Die heilsame Toilette«, S. 105.

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sumption, und Beförderung und Erleichterung der Wiederersetzung und Regeneration«.22 Im Wesentlichen geht es um eine Neuauflage der Diätetik, also einer natürlichen Balance der sex res non naturales – Gesundheit und langes Leben sind demnach nur garantiert, wenn die folgenden existentiellen Bedingungen in einem ausgewogenen Gleichgewicht stehen: (1) Licht und Luft, (2) Essen und Trinken, (3) Bewegung und Ruhe, (4) Schlafen und Wachen, (5) Füllung und Entleerung, (6) Gemütsbewegungen. Die Lebenskunst (ars vivendi) lehrt, wie diese Umstände in ein optimales Gleichgewicht zu bringen sind. Ratschläge, ein möglichst hohes Lebensalter zu erreichen, verbleiben Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr länger im engen Bezirk lateinischer Fachschriften und Dissertationen,23 sondern gelangen zunehmend in die öffentliche Diskussion. Im Werther-Jahr 1774 erscheint beispielsweise in der Berliner Wochenschrift Neue Mannigfaltigkeiten ein Auszug aus dem Traité de la nutrition et de l’accroissement (Paris, 1771) des französischen Arztes Jean Pierre David (1737–1784). Unter dem Titel Von den Mitteln, welche uns die Natur darbiethet, später die Stufe des Alters zu betreten warnt der Text vor allem vor Austrocknung und Unmäßigkeit. Empfohlen wird im Geiste der Diätetik »eine ordentliche Lebensart, mäßige Bewegung, die Ruhe der Seele, und die gute Beschaffenheit der Gegend, worinn wir wohnen«.24 Die vorgebrachten Gesundheitsregeln belegt man – wie schon in den Exempla-Sammlungen des 17. Jahrhunderts – gerne mit empirischen Beispielen besonders alt gewordener Menschen. Ein anonymer Verfasser in Wielands Teutschem Merkur präsentiert eine ganze Sammlung, um Antwort auf die Frage zu finden: Giebt es Mittel das menschliche Leben weit über das natürliche Ziel desselben zu verlängern? (1788). Wie schon in dem Beitrag zu den Neuen Mannigfaltigkeiten wird hier der Fall von Lodovico Cornaro (1467– 1566) hervorgehoben, auf dessen Discorsi della vita sobria (1558) noch Nietzsche in der Götzen-Dämmerung eingeht.25 Die asketischen Ideale, die

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Christoph Wilhelm Hufeland, Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, mit einem Brief Immanuel Kants an den Autor sowie einem modernen Nachwort von Rolf Brück, München 1978, S. 30 und 53. Vgl. Schäfer, Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit, S. 122–144 und 225–230. »Von den Mitteln, welche uns die Natur darbiethet, später die Stufe des Alters zu betreten«, in: Neue Mannigfaltigkeiten. Eine gemeinnützige Wochenschrift mit Kupfern, 1 (1774), S. 483–489, hier S. 484. Nietzsche zitiert den Fall exemplarisch als großen Irrtum einer Verwechslung von Ursache und Wirkung: nicht die karge Diät, sondern die Anlage eines langsamen Stoffwechsels habe das lange Leben bewirkt. Nietzsche spottet: »Ein Gelehrter unsrer Tage, mit seinem rapiden Verbrauch an Nervenkraft, würde sich mit dem régime Cornaros zugrunde richten.« Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung, Der Antichrist, Ecce homo, Gedichte, hrsg. von Alfred Baeumler, Stuttgart 1964, S. 108.

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Cornaro propagiert, zitiert der Verfasser im Teutschen Merkur mit sichtlichem Vergnügen: Aber leider! die meisten Menschen lassen sich durch die Reize der Wollust verführen. Sie haben nicht Kraft genug ihre Begierden zu bezwingen, oder glauben aus Vorurtheil daß sie diese Begierden nicht bezwingen können; daß es ihnen zuviel kosten würde, so manigfaltiges Vergnügen entbehren zu müßen. Daher machen sie sich eigne Grundsätze um sich zu überreden daß es besser sey, zehen Jahre weniger zu leben, als sich alles dessen zu berauben was ihnen das angenehmste ist.26

Solche Ideale der Kontrolle und Mäßigung gehen mit der Popularisierung einer medizinischen Ratgeberliteratur zur Bekämpfung von Alterssymptomen Hand in Hand. Seit Francis Bacons Historia vitae et mortis (1623) mit ihren vielfältigen Hinweisen zur Drosselung der Konsumption von Lebensgeistern und zur Abführung verbrauchter Säfte setzt sich das balancierende Modell der Diätetik deutlich gegen das chemiatrischer Stimulation der Spiritus vitae durch, wie es etwa Paracelsus vertritt.27 Nicht zuletzt passt dieser Ansatz auch bestens in die Ideenlandschaft der Spätaufklärung, insofern der Alterungsprozess statt durch spekulative oder oberflächlich überdeckende (kosmetische) Methoden durch natürliche Mittel einer gesunden, ausgewogenen, mit moralischen Vorstellungen im Einklang stehenden Lebensführung erzielt werden sollen. Gut beobachten lässt sich diese Tendenz in der seltenen Schrift Diätetische Lebensregeln oder Belehrung wie es anzufangen eine hohes Alter zu erlange (1783). Es handelt sich um ein einziges langes Lehrgedicht, bestehend aus 183 Strophen zu acht Versen, auf je zwei Paarreime folgen zwei Kreuzreime. Verfasst hat diese Lebensregeln der weitgehend vergessene Dichterarzt und Medizinprofessor Daniel Wilhelm Triller (1695–1782), der im Stile des physikotheologischen Lyrikers Barthold Hinrich Brockes auch didaktische Poeme über weitere medizinische Themen vorlegte: Hervorzuheben sind die Bände Geprüfte Pocken-Inoculation, ein physicalisch-moralisches Gedicht (1766) sowie Gedicht von der Veränderung der Arzneikunst (1768). Trillers Diätetische Lebensregeln verfolgen folgende These: Als Arzt, gebraucht ich keine Kunst, Ein hohes Alter zu erlangen;

Allein Gemüthsruh und Diät Macht, daß die Uhr stäts richtig gangen. 28

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»Giebt es Mittel das menschliche Leben weit über das natürliche Ziel desselben zu verlängern?«, in: Der Teutsche Merkur (1788), 2. Vierteljahr, S. 347–366, hier S. 352. Vgl. Schäfer, Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit, S. 123–144. Daniel Wilhelm Triller, Daniel Wilhelm Trillers diätetische Lebensregeln oder Belehrung wie es anzufangen ein hohes Alter zu erlangen. In Dessen Sieben und Achtzigsten Jahre aufgesetzet, Frankfurt und Leipzig 1783, S. 5f.

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Triller verwahrt sich also gegen alle künstlichen Eingriffe und setzt allein auf die Mittel balancierender Lebenskunst: Man hüte sich, will man gedeyen, Daher, für allen Arzeneyen, Sie schwächen und zerstöhren nur Umsonst, die Ordnung der Natur: Soll ich nun noch ein Mittel sagen, Das sicher, und doch wohlfeil sey? Hier ist es: Bey gesunden Tagen, Wird Nichts zur besten Arzeney.29

Auch Trillers Naturdiätetik kommt ohne »Wunderpulver« und »magnetisch Eisen« aus, Strophe für Strophe werden einzelne Nahrungs- und Genussmittel, Hygienevorschriften sowie die Lebensregeln der sex res non naturales vorgenommen und erläutert, während den medikamentösen res contra naturales eine klare Absage erteilt wird: Dieß ist auch von den Panaceen Der Alchymisten, zu verstehen Kein Mittel ist auf dieser Welt, Das diese große Probe hält.30

Für die beiden einfachen Grundregeln »Gemüthsruh nämlich, und Diät«31 bürgt erneut der schlagende empirische Fall des Cornaro, der Zuversicht auf diesem Weg verspricht: Was die Diät für Nutzen bringe, Wie sie die Lebenszeit verjünge; Stellt jener kränkliche Cornar Durch sein bekanntes Beyspiel, dar: Als alle Mittel nun vergebens; Nahm er nur die Diät in Acht, Und hat dadurch, sein Ziel des Lebens Auf Fünf und Neunzig Jahr gebracht.32

Zehn Jahre später kehren solche Empfehlungen – wenn auch in wissenschaftlich elaborierterer Form – bei dem bereits erwähnten Christoph Wilhelm Hufeland wieder, der mit seiner Makrobiotik zum prominentesten Anwalt einer diätetischen Altersmedizin wird. Vier Jahre vor Erscheinen dieses Werkes publiziert er ebenfalls in Wielands Neuem Teutschen Merkur einen zunächst in Goethes Freitagsgesellschaft vorgetragenen Aufsatz Ueber die Verlängerung des Lebens (1792), der ihm schließlich zur Medizinprofessur in Jena verhilft. Darin gibt er erstens einen historischen Abriss 29 30 31 32

Ebd., S. 6. Ebd., S. 8. Ebd., S. 60. Ebd., S. 19.

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lebensbalancierender Maßnahmen seit der ägyptischen wie griechischen Antike und verurteilt zweitens die »tausendjährige Nacht des Mönchthums«, das dem »spekulative[n] Müßiggang« vor allem auf dem Gebiet der Chemie, Alchemie und Astrologie Vorschub geleistet habe.33 Ziel seines Angriffs sind dabei Paracelsus und seine Schüler, die er dieser Tradition – kaum zutreffend – zurechnet und gegen die er Cornaro als empirische Fallgeschichte natürlicher Lebensverlängerung ausspielt. Zur Entlastung kann man indes anführen, dass solche Attacken gegen den Paracelsismus offenbar durch die aktuelle Empörung über Charlatanerien eines Cagliostro befeuert werden, auch wenn sie tatsächlich nichts miteinander zu tun haben. Erstaunlich ist hingegen, dass Hufeland die – seit König Davids Zeiten erwogene – Gerokomik ohne jede Kritik bedenkt. Hinter dieser Lehre verbirgt sich die Idee, »einen alten abgelebten Körper durch die nahe Atmosphäre frischer aufblühender Jugend zu verjüngen und zu erheben«.34 Das bereits gesehene Flugblatt Der Hochverdient und Wohlbelohnte Greise von Abraham Aubry legt so etwas im Hintergrundgeschehen nahe. Erotische Assoziationen werden dabei gerne dementiert, was sie sicher nicht verhindert. Hufeland verweist in diesem Zusammenhang auf eine seltsame Schrift Johann Heinrich Cohausens, des bischöflichen Leibarztes in Münster. Unter dem scheinbar seriösen Fachtitel Der wieder lebende Hermippius oder Curioese Physicalisch-Medicinische Abhandlung von der seltenen A sein Leben durch das Anhauchen Junger-Mägdchen bis auf 115. Jahr zu verlängern (1753) wird darin eine vorgeblich entdeckte römische Inschrift zum Anlass einer umfangreichen, zwischen historischer Rekonstruktion und pikanter Wissenschaftssatire changierenden Untersuchung genommen.35 Der fingierte lateinische Quellentext lautet in der deutschen Version: Dem Æsculapio, und der Gesundheit setzet dieses L. Clodius Hermippus, der 115. Jahr 5. Tage durch das Anhauchen junger Mädchens gelebet hat, worüber sich auch nach seinem Tode, die Naturkündiger nicht wenig verwundern. Ihr Nachkommen verlängert euer Leben auf eben diese Art.36

33

34 35

36

[Christoph Wilhelm] Hufeland, »Ueber die Verlängerung des Lebens«, in: Der Neue Teutsche Merkur (1792), 2. Vierteljahr, S. 242–263, hier S. 248f. Hufeland, Makrobiotik, S. 18. Cohausen trat durch weitere medizinisch-satirische Schriften hervor, etwa gegen den Gebrauch von Schnupftabak. Johann Heinrich Cohausen, Der wieder lebende Hermippius oder Curioese Physicalisch-Medicinische Abhandlung von der seltenen Art sein Leben durch das Anhauchen Junger-Mägdchen bis auf 115. Jahr zu verlängern [...], o.O. 1753, Nachdr. Zentralantiquariat Leipzig 1983, S. 10. Bereits die fingierte Verlagsangabe »Gedruckt in der alten Knaben Buchdruckerey« deutet auf den satirischen Gehalt, der durch flankierende historische Quellen und korrekte Zitate eher verstärkt als in Frage gestellt wird. Die Plausibilität einzelner medizinischer Überlegungen, wie sie sich auch in der Fachliteratur der Zeit finden, widersprechen nicht der Einschätzung,

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Die Betonung liegt auf der unschuldigen Jugend der Mädchen, die »noch keine Brüste hatten, mit welchen es sich gantz unschuldig umgehen, und eine keusche Ergötzung haben ließ«.37 In den detaillierten Ausführungen zur Übertragung des verjüngenden Anhauchs scheint der Text gerade durch solch betonte Arglosigkeit amouröse Phantasien beim Leser herauszufordern. Noch Mörike lässt sich davon in seinem Gedicht Hermippus (1860) beflügeln, das diesen »Pfleger / Weiblicher Jugend« zum Gegenstand hat: A b e r d e r k l e i n e r e n e i n s hielt er i n h o l d e r U m a r m u n g Allzeit s e l b s t a u f d e m S c h o ß ( i m m e r d a s ä r m s t e z u e r s t ) .

[...] U n d v o m M u n d e des M ä d c h e n s d e n H a u c h , wie Frühlingsatem H e r z e r f r i s c h e n d , e m p f i n g e r i n die w e l k e n d e B r u s t . 3 8

Die von Cohausen bemühte Denkfigur einer verjüngenden Übertragung jugendlicher Lebenskraft auf alte Menschen existiert in der Überlieferung auch als gewaltsame Bemächtigung und vampiristische Einverleibung. Der spektakulärste und in der Rezeption populärste Kriminalfall ist sicher die Mordserie der ungarischen Gräfin Erzsébet Báthory (1560–1614), die mindestens 80 junge Frauen getötet haben soll und dafür in ein Turmzimmer auf Burg Cachtice eingemauert wurde, in dem sie nach knapp vier Jahren starb. In einer langen Reihe literarischer Verarbeitungen, u. a. in Leopold von Sacher-Masochs Erzählung Ewige Jugend (1874)39 sowie in den aktuellen Verfilmungen Die Gräfin von Julie Delpy (2009) sowie Die Blutgräfin von Ulrike Ottinger (2011, mit Text von Elfriede Jelinek) verbindet sich der Serienmord mit der Legende, Báthory hätte die verjüngende Wirkung des Mädchenblutes auf ihre Haut entdeckt und dafür im großen Stile töten lassen. In der Literatur scheuen die meisten alternden Protagonisten derart umständliche Wege, um ihre erotischen Ziele zu verfolgen. Statt der Verjüngungsmedizin bedienen sie sich der List sowie der Macht des Geldes.

dass es sich insgesamt u m einen satirisch fingierten Fachtext und Ratgeber medizinischen Inhalts handelt. Schäfer, Alter und Krankheit, S. 207, beklagt, dass der satirische Charakter dieser Schrift meist nicht erkannt wurde. 37 38

39

Cohausen, Hermippius, S. 77. Eduard Mörike, Sämtliche Werke, hrsg. von Herbert G. Göpfert, München 5 1976, S. 191f, hier S. 191. Z u r Anspielung auf den Anhauch des Frühlings vgl. Thorsten Fitzon, »›Der Greis im Frühling‹. Schöpferische Toposvariationen in der Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts«, in: D o r o t h e e E l m / Thorsten Fitzon / Kathrin Liess / Sandra Linden (Hrsg.), Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin und N e w York 2009, S. 1 8 7 - 219. Vgl. die vorzügliche Dokumentation von Quellen und Adaptionen von M c h a e l Farin (Hrsg.), Heroine des Grauens. Wirken und Leben der Elisabeth Báthory in Briefen, Zeugenaussagen und Phantasiespielen, München 1989.

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Exemplarisch kann hierfür die knappe Kriminalgeschichte Der vorsetzliche Hanrey aus Harsdörffers Sammlung Der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte (1664) gelten. Darin versucht der »alte Bock« und »listige Hurenhängst« Cornelio den Bruder einer begehrten jungen Frau, der ihm zudem einen größeren Betrag schuldet, zur Auslieferung der eigenen Schwester zu erpressen. Doch von diesem betrügerischen Ansinnen erfährt der Herzog. Nach einem Verhör des Bruders stellt man Cornelio eine Falle, nimmt ihn fest, verpflichtet ihn zur Zahlung einer Aussteuer an das glücklicher Weise verschonte Mädchen und lässt ihn »auf einen Esel ruckwarts setzen / zwey grosse Hörner auf das Haupt binden / und in der Statt herum führen«.40 Von diesem vielfach variierten Schema, das letztlich auch Schnitzlers Casanova-Novelle zugrunde liegt, weicht Goethe in der WanderjahreBinnenhandlung Der Mann von funfzig Jahren ab. Statt um eine verwerfliche Buhlerei geht es dort um ökonomisch geschickte Heiratspolitik des fünfzigjährigen Majors, der zur Erhaltung des Familienerbes zunächst seinen Sohn mit der eigenen Nichte Hilarie verbinden will. Schließlich wirbt er aber selbst um sie, als er ihre Neigung für sich entdeckt. Auf diesem Weg, der am Ende gleichwohl zur Entsagung des Majors zugunsten seines Sohnes führt, spielt die »Verjüngerungskunst« eine zentrale Rolle.41 Der Major erlernt sie von einem befreundeten Schauspieler, der »alles ohne Hexerei« (403) zu betreiben verspricht und mit den »Tinkturen, Pomaden und Balsamen« (406f.) aus seinem »Toilettenkästchen« (404) wahre Wunder bewirkt: »Der Major mußte sich also gefallen lassen, daß sein Haupt gesalbt, sein Gesicht bestrichen, seine Augenbraunen bepinselt und seine Lippen betupft wurden.« (408). Doch nicht nur die oberflächliche comptoria ars kommt zur Anwendung, sondern zunehmend auch die alle gesundheitlichen Wurzeln behandelnde cosmetica medicamenta. Unter der kundigen Führung eines kosmetischen Kammerdieners absolviert der Major das folgende Kurprogramm: Mit allen Kleinigkeiten, die nur die Sorgfalt eines Mimen zu beschäftigen das Recht hatten, ließ er [der Kammerdiener] den Major schon einige Zeit verschont, aber desto strenger hielt er auf einige Hauptpunkte, welche bisher durch ein geringeres Hokus Pokus waren verschleiert gewesen. Alles was nicht nur den Schein der Gesundheit bezwecken, sondern was die Gesundheit selbst aufrecht erhalten sollte, ward eingeschärft, besonders aber Maß in allem und Abwechselung nach den Vorkommenheiten [...]. Dabei wurde Mäßigung aber und abermals in allem, was den Menschen aus seinem Gleichgewicht zu bringen pflegt,

40

41

Georg Philipp Harsdörffer, Der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte, Nachdr. Hildesheim und New York 1978, Bd. 1, S. 318–320. Goethe: Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 407. Im Folgenden wird der Roman nach dieser Ausgabe mit nachgestellter Seitenzahl zitiert.

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dringend anempfohlen, worauf denn dieser Schönheits-Erhaltungslehrer sich seinen Abschied erbat, weil er seinem Herrn nichts mehr nütze sei. (429f.)

Da sind sie wieder, die bewährten Empfehlungen der alten Diätetik. Frauen verspricht sie Beistand, wenn – wie es im Roman heißt – »ihre bisher unbestrittene Schönheit zweifelhaft werden will«; und »Männern in gewissen Jahren, obgleich noch im völligen Vigor«, also intakter Lebenskraft, mag sie die Angst vor der leisesten Ankündigung »einer unzulänglichen Kraft« abmildern (429). Zu den diätetischen Ratschlägen des »wohlkonservierten Schauspielers« gehört auch jener, sich im fortgeschrittenen Alter »des schönen Geschlechts zu enthalten und einer löblichen, bequemen Freiheit zu genießen« (447f.). Casanova hat gegen diesen Grundsatz der Mäßigung ein Leben lang verstoßen und in seiner eingangs anhand von Schnitzlers Novelle angedeuteten Eroberungspolitik auch auf kosmetische und medizinische Hilfsmittel verzichtet. Auf Hans Traxlers Cartoon Nachtgebet des alten Giacomo Casanova sind die Folgen unübersehbar. Der erschöpfte und stark gealterte Eroberer trennt sich da schweren Herzens von seiner schönen Muße und sinniert beim Ankleiden: Müde bin ich, gebe Ruh, mache meine Hose zu. Zehnmal hab ichs heut getan Gott, sieht man mir das etwa an?42

Koda: Das Phantom ewiger Jugend, das den unsterblichen Struldbruggs in Jonathan Swifts Gulliver (1726) zufolge »nur ein Wahnsinniger für sich erhoffen könne«,43 bleibt literarisch ein Faszinosum. Kaum einer hat es in den letzten Jahren wirkungsvoller in Szene gesetzt als Philip Roth in The Dying Animal (2001), 2008 von Isabel Coixet unter dem Titel Elegy filmisch umgesetzt. In geradezu barocker Manier wird das Lob weiblicher Schönheit und Verführung gegen die Vergänglichkeit angestimmt: Der über sechzigjährige Literaturprofessor David Kapesh – ein Womanizer wie er seit Casanova im Buche steht – steigert sich in eine leidenschaftliche Beziehung zur bildschönen Studentin Consuela Castillo hinein. Doch das erotische Abenteuer währt nicht ewig und nimmt nach acht Jahren der Trennung eine jähe Wendung. Völlig unerwartet sucht die inzwischen 32jährige Frau den – auch ohne altersmedizinische Hilfsmittel – nach wie vor rüstigen 70-Jährigen auf und eröffnet ihm die Diagnose eines großen Mammakarzinoms mit nur 60 % Überlebenschance. Diese junge Frau »mit den schönsten Brüsten der Welt«,44 bereits schwer gezeichnet von

42 43 44

Hans Traxler, Meine Klassiker. Bildergedichte, Stuttgart 2008, S. 28–30. Jonathan Swift, Gullivers Reisen. Mit Illustrationen von Grandville, München 1958, S. 330. Philip Roth, Das sterbende Tier. Roman, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 132.

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der Chemotherapie, fürchtet durch die bevorstehende Brustamputation nicht nur die Zerstörung ihres Körpers und den Verlust all ihrer überwältigenden Reize, sondern den vielleicht sehr nahen Tod. Die Mesalliance hat sich umgekehrt, plötzlich ist der alte Mann (der kurz zuvor einen weit jüngeren Freund sterben sah) der Einzige, von dem Consuela etwas von jener Lebenskraft zurückerwarten kann, die sie ihm einst so überreichlich schenkte. Der Roman schließt mit einer kleinen Relativitätstheorie der Lebenszeit, die auch für die zuvor diskutierten altersmedizinischen Überlegungen bedenkenswert scheint: Für alle außer den Alternden ist das Altern unvorstellbar, aber das gilt nicht mehr für Consuela. Sie misst die Zeit nicht mehr wie die Jungen, indem sie zurückblickt, dorthin, wo ihr Leben begann. Für alle, die jung sind, besteht die Zeit immer aus dem Vergangenen, doch für Consuela besteht sie aus der Zukunft, die ihr noch bleibt, und sie glaubt nicht, dass ihr viel bleibt. Jetzt bemisst sie die Zeit, indem sie nach vorn sieht, dem nahenden Tod entgegen. Die Illusion ist zerstört, die metronomische Illusion, der tröstliche Gedanke, dass alles – tick, tack – zur richtigen Zeit geschieht. Ihr Zeitgefühl ist nun wie meins: Es ist beschleunigt, und sie hat sogar noch mehr Anlass zu Verzweiflung als ich. Im Grunde hat sie mich überholt.45

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JUTTA HEINZ

Urszenen, Schwellenlektüren und ›Wünschperioden‹ – zu Kindheitszäsuren in Erzähltexten um 1800 This chapter analyses novels from the period between 1780 and 1820, concentrating on their description of childhood/youth and the associated concepts of time. Most of the novels are based on Rousseau’s model of childhood as a natural state of mankind; in many different ways they refer to the various phases his pupil Emile goes through in his idealized development. In such an Enlightenment context, their authors emphasize the teleological aspects of childhood as a natural process. They are thus very interested in phenomena involving borders, thresholds, and transitions between the different phases of this process, which they present in autobiographical texts and in novels of development (by, for example, Schummel, Jung-Stilling, Moritz, and Jean Paul). In contrast, Romantic authors tend to conceive of childhood as both a timeless state and a human ideal, best described through metaphorical language and in both fairy tales and allegories (for instance, in the writings of Novalis, Hölderlin, Friedrich Schlegel, and E. T. A. Hoffmann). At the same time, in their works representatives of both movements identify and illustrate the lasting influence of certain »threshold readings« from childhood lectures and the significance of certain early childhood experiences (or »primal scenes«). In this respect, these authors appear to anticipate findings of modern developmental psychology (as found for example in the work of Piaget). Angesichts der historisch späten Entdeckung der Kindheit als eigene Lebensphase durchlebt diese im 18. Jahrhundert einen erstaunlich rasanten diskursiven Aufstieg. Das mag mit dem besonderen Interesse der aufklärerisch gesonnenen Zeitgenossen für die Erziehung überhaupt – und zwar nicht nur der Kinder, sondern des Menschengeschlechts insgesamt – zusammenhängen, ebenso mit der Entstehung der Anthropologie und Psychologie als eigene Wissenschaften von der menschlichen Psyche und deren Zusammenhang mit ihrem Körper. Beinahe noch erstaunlicher sind jedoch die schnell aufeinander folgenden inhaltlichen Veränderungen der Kindheits-Konzepte, die sich vor allem in der Literatur niederschlagen. In den aufklärerischen Gattungen von Entwicklungs- und Erziehungsroman wird Kindheit meist ›realistisch‹ dargestellt – soll heißen: mit einem Anspruch auf psychologische Durchdringung und exemplarische Abbildung einer wichtigen menschlichen Bildungsphase mit dem klaren Ziel des Er-

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wachsenwerdens. In den romantischen Texten ab der Jahrhundertwende hingegen ist Kindheit zu einem zeitlosen Idealzustand geworden; das ›ewige Kind‹ verkörpert das goldene Zeitalter1 und überdies noch eine poetologisch empfehlenswerte Grundhaltung. Gegensätzlicher könnten die Positionen kaum sein: Ist Kindheit nun etwas, das – bei aller Wertschätzung auch durch die Aufklärer, vor allem im Gefolge von Rousseau – zugunsten der viel beschworenen ›Mündigkeit‹ des aufgeklärten Individuums überwunden und abgelegt werden muss? Oder bildet sie vielmehr einen menschlichen Ur- und Idealzustand, dessen unendliche Kontinuation über das Leben hinweg angestrebt werden sollte? Im Folgenden will ich exemplarische Erzähltexte aus dem Zeitraum zwischen 1780 und 1820 im Blick auf die Darstellung, Periodisierung und Abgrenzung von Kindheit sowie die damit verbundenen Zeitkonzepte untersuchen. Ich kann dabei in weiten Strecken auf eine reichlich vorliegende Forschungsliteratur verweisen, die wesentliche Aspekte und Unterschiede von aufklärerischen und romantischen Kindheitsvorstellungen bereits herausgearbeitet hat. Im Übrigen ist das zur Verfügung stehende Quellenmaterial nicht allzu umfangreich: Selbst in Entwicklungsromanen wird die Wichtigkeit der kindlichen Entwicklung meist eher theoretisch beschworen denn in Erzählung umgesetzt – wohl auch aus Gründen der Darstellbarkeit überhaupt. Ich werde deshalb zusätzlich Texte mit stärker autobiographischem Charakter heranziehen, wobei gerade zu dieser Zeit die Übergänge zwischen einer sozusagen ›reinen‹ Autobiographie und autobiographischem Roman nach dem Muster von Moritz’ Anton Reiser eher fließend sind. Die wesentliche Folie für meine Untersuchung wird, kaum überraschend, Jean-Jacques Rousseaus Emile bilden (Kap. I); im Anschluss daran werde ich ausführlicher auf Texte von Jung-Stilling, Schummel, Moritz und Jean Paul eingehen (Kap. II) und diese mit romantischen Texten von Friedrich Schlegel und E. T. A. Hoffmann (Kap. III) kontrastieren.

1. Topologische Ausgangspunkte: Kindheit als Zeitalter der Unschuld und als Naturzustand In Vielem zehren die Kindheitsdarstellungen des 18. Jahrhunderts, bei aller Betonung neuer psychologischer und anthropologischer Einsichten, 1

In der klassischen Formulierung bei Novalis in den Blüthenstaub-Fragmenten: »Wo Kinder sind, da ist ein goldnes Zeitalter« (in: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2: Das philosophische Werk, hrsg. von Richard Samuel und Paul Kluckohn, Darmstadt 1965, S. 457).

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von traditionellen Topoi, die nur kurz ins Gedächtnis gerufen werden sollen. So ist die Verbindung der Kindheit mit der Vorstellung des ›goldenen Zeitalters‹ beinahe allgegenwärtig, wenngleich im Einzelnen mit verschiedenen Vorstellungskomplexen und Wertungen verbunden.2 Relativ lebendig ist daneben noch die religiöse Konnotation von Kindheit mit Unschuld, einem Sein vor den Sündenfällen von Reflexion und Geschlechtlichkeit, einem natürlichen Gefühl für Gut und Böse, das keine theoretische Begründung braucht. Eine originelle Ausformung erhält diese Traditionslinie beispielsweise bei dem als Romanautor wenig bekannten Theodor Gottlieb von Hippel. In seinen Lebensläufen nach aufsteigender Linie (1778–1781) gewinnt der Bezug auf Matthäus 18, 3 geradezu leitmotivischen Charakter: »Wahrlich! ich sage euch, wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Reich Gottes eingehen!«3 Bezeichnenderweise ereilt jedoch den Sohn des Erzählers, Leopold, ein früher Tod. Er war ein wahres Gotteskind, das sich auf der Erde immer fremd fühlte und zu Gott und zur Natur ein innigeres Verhältnis hatte als selbst zu seinen Eltern; sein Tod wird als eine natürliche Heimkehr geschildert: »Wie ruhig Pold starb! – Es war ein lieber, lieber Junge, einen Himmelszug um die Augen, welcher laut lehrte, Pold sey nicht von dieser Welt, sondern von jener!«4 Leopold ist damit eine christlich umdefinierte Verkörperung der antiken Genius-Gestalt und ein Verwandter literarischer Genius-Kinder von Goethes früh versterbender Mignon bis hin zu Thomas Manns Echo.5 Mit seinem frühen Tod bleibt Hippels Leopold immerhin erspart, was sein Vater/Erzähler der zeitgenössischen Erziehung vorwirft: »Jetzt haben sich auch hier [bei der Erziehung] Staatsgrundsätze eingeschlichen, und jedes Kind wird jetzt schon an eine Kette gelegt, als ein beißiger Hund«.6 Diese grundsätzliche Erziehungskritik am »Treibhaus«7 der schulischen Erziehung, ihrer Ausrichtung auf Fibel-Weisheit und lebloses »Gedankenwerk«8, teilt Hippel mit vielen Zeitgenossen, vor allem jedoch mit JeanJacques Rousseau, an dessen Emile (1762) wohl in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts niemand vorbeikam, der über Kindheit und Erziehung 2

3

4 5 6 7 8

Vgl. dazu ausführlich Yvonne-Patricia Alefeld, Göttliche Kinder. Die Kindheitsideologie in der Romantik, München u. a. 1996, die auch die unterschiedlichen antiken Quellen für den Topos anführt (bes. Kap. II). Theodor Gottlieb von Hippel, Lebensläufe nach aufsteigender Linie, Dritter Theil, Leipzig 1859, S. 361. Hippel, Lebensläufe, S. 358. Vgl. Alefeld, Göttliche Kinder, S. 49f. Hippel, Lebensläufe, S. 361. Ebd. Ebd.

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dachte und schrieb.9 Die religiöse Herkunft von dessen Kindheitsauffassung wird noch deutlich in dem programmatischen Hauptsatz und deren argumentativem Apriori schlechthin: »Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen.«10 An der Natur hat sich die Kindererziehung deshalb in verschiedener Hinsicht zu orientieren. Zum Ersten dürfen die ursprünglichen natürlichen Anlagen im Menschen nicht verformt, sondern nur in ihrer Ausbildung sanft gefördert werden.11 Nur so ist gewährleistet, dass Erziehung die natürliche Identitätsbildung unterstützt und nicht verhindert: »Der natürliche Mensch ist sich selbst alles. Er ist die ungebrochene Einheit, das absolute Ganze, das nur zu sich selbst oder seinesgleichen eine Beziehung hat.«12 Demgegenüber ist der Mensch in der Gesellschaft immer sich selbst entfremdet, »nur eine Bruchzahl«13, ein »Sklave«14. Hier liegt die wesentliche Wurzel für das dann vor allem von der Romantik mit der Kindheit verbundene Identitäts- und Ganzheitsideal: Das Kind – als Vertreter des in der Kultur nicht mehr möglichen ›natürlichen Menschen‹ – bekommt nun all die Attribute zugeschrieben, die traditionellerweise Gott vorbehalten sind; das zeigt vor allem der Begriff der ›Absolutheit‹, der zwar eher eine mathematische Konnotation heraufbeschwört, dabei jedoch die traditionellen Gottesbilder mittransportiert. Zum Zweiten sollen alle Stufen der Kindheit, die Rousseau im Einzelnen unterscheidet, dem vorgezeichneten »Gang der Natur«15 folgen.16 9

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11

12

Vgl. zu Rousseau v. a. Hans-Heino Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck, München 1989, bes. Kap. I. Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, hrsg. von Martin Rang, Stuttgart 1963, S. 107. Das hier vertretene Prinzip ist das einer ›negativen Erziehung‹: »Die erste Erziehung muß also rein negativ sein. Sie besteht keineswegs darin, Tugend und Wahrheit zu lehren, sondern darin, das Herz vor dem Laster und den Geist vor dem Irrtum zu bewahren« (Rousseau, Emile, S. 213). Rousseau, Emile, S. 112.

13

Ebd.

14

Ebd., S. 118.

15

Ebd., S. 102. Die von ihm immer wieder hervorgehobene methodische Konzentration auf praktische Beobachtung und Erfahrung bewährt sich dabei, auch aus heutiger Sicht betrachtet, durchaus: Rousseaus Phasenmodell der kindlichen Entwicklung weist erstaunliche Parallelen beispielsweise zu dem entwicklungspsychologischen Modell der Kindheit von Jean Piaget auf. Das Säuglingsalter bei Rousseau entspricht weitgehend Piagets ›sensomotorischer Stufe‹ (vgl. Jean Piaget/Bärbel Inhelder, Die Psychologie des Kindes, München 1986, bes. Kap. 1). Auch Rousseaus Beobachtung, dass Kinder von Geburt an mit dem Lernen beginnen, ihre Unfähigkeit zwischen sich selbst und den sie affizierenden Gegenständen zu unterscheiden, die daran anschließende Entwicklung der kindlichen Egozentrik, die Ausbildung von prälogischen und prärationalen Formen der Urteilsbildung

16

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Die erste Phase des infans ist laut Rousseau (entsprechend der Wortbedeutung) dadurch abgegrenzt, dass das Kind noch nicht sprechen,17 aber bereits essen und gehen kann.18 Daran schließt sich als nächste Phase die des puer, des Knabenalters, an; diese reicht bis zum zwölften Lebensjahr, der »Reife der Kindheit«.19 Weiterhin bleibt die Natur die erste Ratgeberin für die Erziehung: Sie empfiehlt – wie bereits beim Säugling – zunächst physische Abhärtung, eine aktive Lebensweise und eine einfache Ernährung.20 Unbedingt ist darauf zu achten, dass die sich in dieser Zeit stark entwickelnden geistigen Fähigkeiten Schritt mit den Bedürfnissen halten; schon das Kind muss Selbstbeschränkung lernen. Nur so wird es einen dauerhaften, weil auf einem Gleichgewicht beruhenden Zustand von Glückseligkeit erlangen. Rousseau findet für diesen Gleichgewichtszustand ein interessantes Naturbild: »Messen wir den Radius unsrer Sphäre und bleiben wir im Zentrum so wie die Spinne in ihrem Netz, und wir werden uns immer selbst genügen«.21 Dazu muss vor allem die sich nun rapide entwickelnde Einbildungskraft im Zaum gehalten werden: »Sobald aber die virtuellen Fähigkeiten aktiv werden, erwacht die Einbildungskraft, die aktivste von allen, und überholt die andern.«22 Zu diesem Zweck macht Rousseau strenge Vorgaben, die ähnlich wie sein Konzept der physischen Erziehung in den Reform-Erziehungsprogrammen der Zeit aufgegriffen werden und die sich teilweise explizit gegen verbreitete, überkommene Erziehungspraktiken richten: Untersagt werden das Erzählen von Fabeln, das mechanische Auswendiglernen, die zu frühe Übung mehrerer Sprachen und völlig verboten schließlich Lektüre jedweder Art, die »Geißel der Kindheit«.23 Empfohlen hingegen werden, neben dem physischen Training, Übungen im Zeichnen24 und in praktischen Handwerken.25 Die in-

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18

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21 22 23 24 25

und des moralischen Handelns, der kindliche Animismus, der alles um sich selbst herum als belebt ansieht – all dies entspricht durchaus modernen Erkenntnissen. Das entspricht der etymologischen Herkunft von infans; vgl. z. B. Zedler in seinem Grossen vollständigen Universallexicon aller Wissenschafften und Künste (Art. »Kind«, Bd. 15, Graz 1982 Sp. 640–642), der auch gemäß den traditionellen Lebensalter-Zyklen die erste Grenze bei sieben Jahren ansetzt. In der allerersten Phase ist deshalb für Rousseau die Mutter als »natürliche Amme« die wesentliche Bezugsperson, die dann vom Vater als dem »natürlichen Erzieher« abgelöst wird (Rousseau, Emile, S. 130). Rousseau, Emile, S. 348. »Das große Geheimnis der Erziehung ist, die Leibesübungen und die Geistesübungen einander immer zur wechselseitigen Entspannung werden zu lassen« (Rousseau, Emile, S. 426). Ebd., S. 189. Ebd,. S. 188. Ebd., S. 258. Vgl. ebd., S. 311. Vgl. ebd., S. 397f.

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tellektuelle Betätigung schließlich soll sich auf sinnliche und konkrete Anschauungen beziehen, der einzig natürlichen Form der »sensitiven oder kindlichen Vernunft«26 auf dieser Entwicklungsstufe.27 Der Übergang zur dritten Phase von 12 bis 13 Jahren ist dann erreicht, wenn die kindlichen Fähigkeiten gegenüber den Bedürfnissen einen deutlichen Überschuss aufweisen. Das reif gewordene Kind will seine neuen Kräfte erproben; und es kann dies noch, uneingeschränkt von den Ablenkungen der drohend heraufziehenden Pubertät. Deshalb beginnt zu dieser Zeit der Anfangsunterricht in den einzelnen Fächern, der jedoch unmittelbar und konkret bleiben muss: keine Bücher und wissenschaftlichen Methoden, sondern unmittelbare Anschauung der das Kind umgebenden Naturgegenstände, erste eigene Experimente – nur so kann das erlangte Wissen nachhaltig mit der eigenen Lebenswirklichkeit verbunden werden und lebendig bleiben.28 Daran schließt sich die Pubertät an, nach Rousseau eine Art zweite Geburt als »Gattungs- und Geschlechtswesen«;29 damit ist auch die natürliche Grenze zwischen Kindheit und Jugend deutlich bezeichnet, wenn sie sich auch noch nicht in einer entsprechenden Terminologie niederschlägt. Nun treten die Leidenschaften entschieden in den Vordergrund, wobei auf die richtige, einmal mehr naturgemäße Reihenfolge geachtet werden sollte: Vor der Liebe kommt die Freundschaft. Gleichzeitig beginnen das selbständige Denken im eigentlichen Sinn, die Herausbildung von bewusster Moralität sowie die reflektierte Auseinandersetzung mit der Religion – dass diese bisher nur eine sehr geringe Rolle gespielt hatte, ist ebenfalls ein wesentliches Differenzkriterium zu gängigen Erziehungspraktiken der Zeit, für die gerade im frühkindlichen Alter die religiöse Erziehung zentral ist. Die gesellschaftliche Erziehung schließlich vollzieht sich für Rousseau am besten als Geschmacksbildung und orientiert sich am Mäßigungsprinzip der aurea mediocritas.30 Die ausführlichere Behandlung Rousseaus soll nicht nur seiner grundlegenden Bedeutung Rechnung tragen, sondern vor allem die Aufmerksamkeit für Details seines Konzepts schärfen. Dazu gehört der ganze Komplex der fatalen Einbildungskraft ebenso wie das Phasenkonzept, das 26

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29 30

Ebd., S. 339. Die von Rousseau hier dargestellte allmähliche Entwicklung der geistigen Fähigkeiten und des Abstraktionsvermögens entspricht bemerkenswert genau Piagets Modell, in dem eine präoperationale Phase, eine konkretoperationale und eine formaloperationale Phase unterschieden werden (vgl. Jean Piaget, Das Weltbild des Kindes, München 1988, bes. Erster Teil, Kap. II: »Der Realismus der Namen«). Die einzige auf dieser Stufe zugelassene Lektüre ist der Robinson Crusoe (vgl. Rousseau, Emile, S. 389f.) – eine Ausnahme, die zu einer regen Rezeptions- und Übersetzungstätigkeit Anlass gegeben hat. Rousseau, Emile, S. 438. Vgl. ebd., S. 718.

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im Wesentlichen auf verschiedenen psychischen ›Vermögen‹ aufsetzt, die einem bestimmten Entwicklungszustand zugeordnet werden: Von der Sinnlichkeit des Kleinkindes geht es über die dominierende Wirkung der Einbildungskraft in der Kindheit hin zu den Leidenschaften in der Pubertät, bis ganz am Schluss erst die Bildung von Vernunft und Moral steht. Zentral sind daneben die Auswahl des richtigen Erziehers – ein grundlegendes Problem, das Rousseau nur durch eine Idealgestalt auflösen kann –, die Betonung der körperlichen Erziehung im Kontrast zu einer zu frühen Intellektualisierung durch die Schule, die Verpflichtung auf Praxis, die Beschreibung möglicher negativer Einflüsse durch Lektüre, Umwelt und Gesellschaft. All dies werden im Folgenden unterschiedliche literarische Texte in Fallstudien auf den Prüfstand stellen.

2. Kindheit als aufklärerisch-pädagogische Herausforderung und lebensgeschichtliche Prägungsphase Schon vom Titel her explizit als ein solcher Testfall angelegt ist der 1780/81 erschienene Roman Wilhelm von Blumenthal, oder das Kind der Natur. Die Geschichte der Titelfigur teilt viele Züge mit der ihres Autors, des Pädagogen Johann Gottlieb Schummel.31 Noch deutlicher aber sind ihre Parallelen zu Rousseaus Emile. So enthält der Text immerhin eine kurze Schilderung der ersten Monate des natürlich weisungsgemäß von der Mutter selbst gestillten Wilhelms mit einer ersten Phasengliederung: Weiter ist nun von dem ersten Virteljahre [sic!] unsers Helden nichts zu sagen! Dieser Zeitraum heißt in der ganzen weiten Frauenwelt vorzugsweise das dumme Vierteljährchen, und soweit meine Beobachtung reicht, ist er es auch wirklich. Ein kleines Lächeln ausgenommen, das sich gegen die sechste oder siebente Woche einfindet, ist das Kind bloß Maschine und die Natur sucht lediglich durch Nahrung und Schlaf dem Körper Festigkeit und Dauer zu geben. Allein mit dem Anfange des zweyten Vierteljahres ändert sich die Scene! Das Kind betritt nun förmlich die erste Stufe der Menschheit fängt an sich zu freuen und zu betrüben, äussert den grossen Trieb der Thätigkeit und Aufmerksamkeit.32 Die weitere Entwicklung Wilhelms jedoch wird eher durch drastische äußere Einschnitte als durch den naturgemäßen Gang der Fähigkeiten und 31

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Vgl. M. Hippe, Art. »Schummel, Johann Gottlieb«, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 59f. Schummel verfasste drei Romane, die sich mit der Erziehungsproblematik auseinandersetzten: Spitzbart. Eine komi-tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert (1779), Wilhelm von Blumenthal, oder das Kind der Natur (1780–81) und Der kleine Voltaire. Eine deutsche Lebensgeschichte für unser Freygeistisches Jahrhundert (1782). Johann Gottlieb Schummel, Wilhelm von Blumenthal oder das Kind der Natur, Leipzig 1780–81, Bd. I, S. 53f.

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Bedürfnisse nach Rousseau gegliedert. Zunächst stirbt seine Mutter – die allerdings sowieso auf dem besten Wege war, das Kind zu verzärteln und damit für eine Rousseausche Erziehung zu verderben –, als Wilhelm erst eineinhalb Jahre ist. Bis zum fünften Lebensjahr – also in der Phase des puer – wird Wilhelm deshalb von der alten Susanne versorgt, die ganz im Einklang mit Rousseau sehr für »tüchtige Bewegung mit Laufen und Springen und Reiten auf dem Steckenpferde, und dabey viel frische Luft«33 ist. Zudem lehnt sie Gespenster- und Hexengeschichten explizit ab. Allerdings vermittelt sie im Gegensatz zu Rousseaus Rat eine religiöse Ersterziehung durch Gespräche und Erzählen von Geschichten, was der Erzähler in einer beigefügten Gesprächsprobe veranschaulicht, einem beliebten Darstellungsmittel des Entwicklungs- und anthropologischen Romans der Zeit. Schließlich, dies wieder ein Rousseausches Versatzstück, zeichnet und malt das Kind eifrig.34 Der gute Ansatz wird jedoch bald durch Susannes Tod zunichte gemacht; der Vater übernimmt nun, gemeinsam mit der öffentlichen Schule, die weitere Erziehung des Knaben. Widersprüchlicher könnten die Kräfte nicht sein, die jetzt auf Wilhelm einwirken: Während der Vater einen ›richtigen Mann‹ aus seinem Kind machen will und ihn zur Wildheit ermutigt, wird er in der Schule zum eifrigen Lernen und Gehorsam angeleitet. Dabei setzen sich letztlich Wilhelms gute natürliche Anlagen durch: Er bringt die öffentliche Schule mit einem Minimalprogramm hinter sich, was dazu führt, dass er eine »wenn nicht schöne, desto geschwindere Hand«35 schreibt, im Lateinischen Grundkenntnisse hat und im Rechnen der Beste ist. »Und ob er gleich für sich kein Buch las […], so studirte er dagegen desto fleissiger in dem grossen Buche der Natur, theoretisch und praktisch!«36 Gleichzeitig erwirbt er aufgrund seines natürlichen Autodidaktentums innerhalb kürzester Zeit ausgedehnte Kenntnisse in vielen Handwerken, die auf seine spätere Laufbahn voraus weisen: Das Kind der Natur ist von eben dieser bestimmt zum Mann des Staates, zum Unternehmer und ›Kameralisten‹. Sein Weg dorthin weist jedoch viele Umwege auf. Nachdem auch Wilhelms Vater stirbt, übernimmt ein Vormund, der Apotheker Henning, die Vormundschaft des nach Rousseau in der ›Reife der Kindheit‹ stehenden, aufgeweckten Knaben und stellt ihn als Lehrling an; mit dieser einschneidenden äußeren Veränderung beginnt Wilhelms Jugend. Die ungezügelte Ausbeutung und fortgesetzte körperliche Züchtigung machen den Lehrlingsstand dabei, so Schummel, zu demjenigen ge33 34 35 36

Schummel, Wilhelm von Blumenthal, I, S. 68. Vgl. ebd., S. 74. Ebd., S. 89. Ebd.

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sellschaftlichen Stand, der »bey weitem die meiste Plage hat«.37 Wilhelm weiß sich seinem Elend schließlich nicht anders als durch Flucht zu entziehen. Seine Schicksale als jugendlicher Student in Halle und als Reisender schildern die weiteren Bände, bis er schließlich als geschätzter Staatsdiener in den wohlverdienten Ehestand treten kann. An diesem Musterlebenslauf ist mehrerlei bemerkenswert. Zum einen wird die Idealentwicklung des ›Kindes der Natur‹ à la Rousseau zwar ständig durch sehr reale Zwänge überlagert – den Tod sämtlicher Bezugspersonen, den schlechten Zustand der Erziehungsinstitutionen, die Tortur des Lehrlingsdaseins. Gleichwohl bleibt Wilhelm sich selbst und seiner Natur auch unter den widrigsten Umständen treu; was, wie der Erzähler ständig betont, im Wesentlichen den guten natürlichen Anlagen und der sehr soliden, rousseau-gemäßen Erziehung in der frühen Kindheitsphase des infans geschuldet ist. Wilhelm von Blumenthal beweist sozusagen, dass all die fatalen Kräfte der Gesellschaft zusammen nicht hinreichend sind, das frühkindlich gefestigte Naturkind zu verderben. Dadurch jedoch, dass Wilhelm gerade wegen der Schwächen seiner wechselnden Erzieher häufig sich selbst überlassen bleibt, schlägt die ›negative Erziehung‹ des Autodidakten fast mehr an als die positive der Institutionen. Dass dabei eine altersgemäße Entwicklung, gar in säuberlich abtrennbaren Lebensphasen, angesichts der Kontingenz der äußeren Umstände nicht bewusst angestrebt werden kann, ist der Preis, den der Realismus des autobiographisch grundierten Romans fordert. Durchaus eine Parallele bei allen Unterschieden bildet Johann Heinrich Jung-Stillings romanhaft erzählte Lebensgeschichte. Der erste Teil, Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte, erscheint 1777, gefolgt von zwei weiteren Bänden, deren Titel bereits die Phasengliederung deutlich machen: Auf die »Jugend« folgen die »Jünglings-Jahre« (1778) und die »Wanderschaft« (1778). Auch Henrichs Kindheit ist geprägt durch den Wechsel der Bezugspersonen: Die Mutter stirbt früh an einer Fehlgeburt, er wird von seiner Großmutter aufgezogen, die dabei auf die von Rousseau verpönten Ammenmärchen zurückgreift und ihn verhätschelt: Margarethe nahm also ihren Enkel in völlige Verpflegung, futterte und kleidete ihn auf ihre altfränkische Manier aufs reinlichste. Die Mädchen gängelten ihn, lehrten ihn beten und andächtige Reimchen hersagen.38 Im Alter von sieben Jahren findet ein erster krasser Wechsel vom verzärtelten Säugling und Kleinkind zum rau aufgezogenen puer statt: Nun über37

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Ebd., S. 108. Johann-Heinrich Jung-Stilling, Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte, in: Ders.: Lebensgeschichte, hrsg. von Gustav Adolf Benrath, Darmstadt 1992, S. 1–79, hier S. 39.

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nimmt der Vater die Erziehung und zwingt dem Kind einen strengen Tagesablauf auf, der geprägt ist von häufigen Gebeten, strenger Disziplin, Isolation von anderen Kindern. Neben dem obligatorischen Auswendiglernen des Katechismus darf Henrich nur geistliche Literatur – auch das weitverbreitete Leben der Altväter von Gottfried Arnold ist zugelassen – und einige wenige, ältere deutsche Märchen lesen, darunter die Geschichte von den Haimonskindern und von der schönen Melusine, die leitmotivartig sein Leben begleiten werden. Doch selbst diese sorgsam beschränkte Lektüre führt dazu, dass die in diesem Alter laut Rousseau dominante Einbildungskraft alle ihre Gefahren frei entfaltet: Henrich genießt sein Leben nur noch in der Lektüre. Mit acht Jahren, so der Erzähler, hat er wahrscheinlich noch niemals laut gelacht; und als ihn der strenge Pfarrer betulich fragt, ob er denn schon lesen könne, antwortet der frühreife Achtjährige: »Ich bin ja ein Mensch«.39 Auch in der öffentlichen Lateinschule widmet er sich vor allem der Bibliothek des Schulmeisters und entwickelt gar autodidaktische Lernmethoden für den Latein-Unterricht. Emotionale Zuwendung erfährt er von niemandem, am wenigsten von seinem Vater: »Er wußte sich nicht zu besinnen, daß ihn sein Vater jemals in den Armen gehabt«.40 Hingegen hängt er an seinem Großvater, der ihm auch die Geschichte seiner Familienahnen erzählt – eine tiefgehende Erfahrung, die als eine Urszene für sein Leben prägend werden wird. Henrich ist also gerade kein ›Kind der Natur‹, sondern vielmehr das, was die Zeitgenossen einen ›Schwärmer‹ nennen: »Daher kam es denn, daß seine ganze Seele anfing, sich mit Idealen zu belustigen; seine Einbildungskraft ward erhöht, weil sie keine andere Gegenstände bekam, als idealische Personen und Handlungen«41 – die Charakteristik des kleinen Henrich enthält wesentliche Elemente der Schwärmerdefinition der Zeit. Wieder wird die natürliche kindliche Entwicklung überlagert durch den Wechsel von Erziehern; wieder geschieht ein Großteil der Bildung autodidaktisch oder zufällig. Von Spielen ist kaum die Rede, bis auf einen kurzen Versuch einer Komödienaufführung.42 Den wichtigsten Einschnitt markiert schließlich wiederum der Übergang zum Lehrlingsdasein mit 12 Jahren. Dazu kommen ein weiterer institutionalisierter Übergangsritus, die Katechisation und der Besuch des ersten Abendmahls mit 14 Jahren. Doch auch später, als Henrich kurz darauf bereits die erste eigene Schulmeisterstelle auf einem Dorf der Umgebung annimmt, prägen weiterhin die Bücher sein Leben: Über eine deutsche Übersetzung des Homer ist er 39

Ebd., S. 49.

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Ebd., S. 52.

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Ebd., S. 46. Vgl. Jung-Stilling, Henrich Stillings Jünglings-Jahre. Eine wahrhafte Geschichte, in: Ders.: Lebensgeschichte, hrsg. von Gustav Adolf Benrath, Darmstadt 1992, S. 81–186, hier S. 86.

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überglücklich; seine Schulkinder versorgt er zur Belohnung mit Geschichten; mit einem anderen Handwerker liest er gemeinsam mystische Schriften. In dieser Zweiteilung von harter Lebens- und verschönernder Lektürewelt vergeht seine gesamte Jugend: »Handwerksgeschäfte, Schulhalten, und verstohlne Lesestunden, hatten darinnen beständig abgewechselt«.43 Im folgenden häufigen Wechsel der Schulmeisterstellen und den kurzen Perioden als Hilfsschneider beim Vater ist tatsächlich so etwas wie eine Entwicklung nur noch über die Lektüre erkennbar: Von den Haimonskindern und Gottfried Arnolds Leben der Altväter über Homer und Jakob Böhme sowie das eine oder andere Geographiebuch gerät Henrich schließlich an eine echte Pubertätslektüre, die Asiatische Banise von Ziegler44 – einen verwirrenden barocken Liebes- und Heldenroman – und ist hingerissen: Die Schreibart war ihm neu und fremd. Er glaubte in ein fremdes Land gekommen zu seyn, und eine neue Sprache zu hören, aber sie entzückte und rührte ihn bis auf den Grund seines Herzens. […] Ueber alles aber schien ihm der Plan dieses Romans ein Meisterstück der Erdichtung zu seyn; und der Verfasser desselben war in seinen Augen der größte Poet, den jemals Teutschland hervorgebracht hatte.45

Bis er seine ersten eigenen – und eher frustrierenden – Liebesgeschichten erlebt, vergeht jedoch noch einige Zeit; und auch der sich durch das Zusammenleben verschärfende pubertäre Konflikt mit dem Vater kann schließlich nur durch Verlassen der Heimat gelöst werden. Henrich Stilling muss, nach einer ähnlich wirren, aber viel stärker als bei Wilhelm von Blumenthal schwärmerisch überlagerten Kindheit hinaus in die Welt; der Abschied vom Vaterland markiert den endgültigen Abschluss der Jugendjahre wie der Übergang in die Lehrlingswelt den der Kinderjahre. Die psychologische Entwicklung jedoch vollzieht sich anhand von Schwellenlektüren durch wechselnde Genres hindurch. Die Lektüre prägt bekanntermaßen auch nachdrücklich Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser (1785), das wohl wegen seiner eindrücklichen und bedrückenden Schilderungen berühmteste Kindheitsbuch des 18. Jahrhunderts, das ebenfalls in starkem Maße autobiographisch geprägt ist. Moritz selbst hat als Erfahrungs-Seelenkundler wesentliche Grundlagen seiner Kindheitsdarstellung theoretisch exponiert. In einem Beitrag zu seinem Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde mit dem Titel »Erinnerungen aus 43

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Ebd., S. 118. Heinrich Anselm von Ziegler: Die asiatische Banise oder Das blutige doch muthige Pegu, Leipzig 1689. Vgl. zur Erfolgsgeschichte dieses Romans im 18. Jahrhundert Dieter Martin, Barock um 1800, Frankfurt a. M. 2000, Dritter Teil, Kap. 1. Jung-Stilling, Jünglings-Jahre, S. 123.

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den frühesten Jahren der Kindheit«46 thematisiert er sowohl die Schwierigkeiten, die mit den notwendig dunklen und unklaren frühkindlichen Erinnerungen verbunden sind, sowie deren besondere Bedeutung für die Ausbildung von Identität und den späteren Lebenslauf: 47 Diese Eindrücke machen doch gewissermaßen die Grundlagen aller folgenden aus; sie mischen sich oft unmerklich unter unsre übrigen Ideen, und geben denselben eine Richtung, die sie sonst vielleicht nicht würden genommen haben.48

Im Folgenden schildert er einige Urszenen seiner Kindheit,49 die sich seinem Gedächtnis vor allem durch Farben und Größenverhältnisse eingeprägt haben. So erinnert er eine geradezu archetypisch embryonale Erfahrung von Geborgenheit, als ihn seine Mutter »einst im Sturm und Regen, in ihren Mantel gehüllt, auf dem Arme trug, und ich mich an sie anschloß«.50 Dazu kommen Gegenstände wie ein schwarzer Schrank, die gelbe Tür der Stube; schließlich, auch das wohl exemplarisch, eine erste Unrechtserfahrung sowie der erste Aufenthalt des Stadtkinds in der »freien offnen Natur«.51 Dabei stellt das Alter von drei Jahren eine Zäsur dar: Von diesem Zeitpunkt an, so Moritz, gewinnen seine Erinnerungen größere Klarheit und Lebhaftigkeit.

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In: Karl Philipp Moritz, Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, Band 1, 1. Stück, Berlin 1783, S. 65–70. Vgl. Annette Simonis, Kindheit in Romanen um 1800, Bielefeld 1993, S. 165: »Der Kindheit kommt hier die Aufgabe zu, als ein Experimentierfeld, als eine vorbereitende Phase, eine Identitätssuche und eigenständige Entwicklung des individuellen Menschen zu ermöglichen.« Vgl. dort ausführlich zum Anton Reiser Kap. 2. Moritz, Erinnerungen, S. 65. Der Terminus ›Urszene‹ wird hier nicht in einem strengen Freudschen Sinn verwendet, sondern steht für eine frühe, meist nicht mehr genau erinnerte und bewusste Erfahrung, die einen exemplarischen Zugang zu neuen Erfahrungsbereichen legt und spätere Erfahrungen damit psychisch determiniert; es kann sich dabei sowohl um positive als auch um negative Erlebnisse handeln, sie müssen jedoch sehr stark sein. Nicht nur Moritz beschreibt solche Eindrücke, auch für Goethe spielen sie eine wichtige Rolle. Theoretisch darüber reflektiert hat auch Herder, beispielsweise in seinem Journal meiner Reise im Jahre 1769, wo er sich im Kontext seiner Überlegungen zu einer idealen Erziehung mit den Lebensaltern beschäftigt, die er ähnlich wie Rousseau anhand der Vorherrschaft bestimmter seelischer Vermögen abgrenzt. Über die prägende Kraft von Kindheitserlebnissen heißt es dort: »Jeder Mensch wird finden, daß seine später verarbeiteten Gedanken immer von solchen Eindrücken, Visionen, Gefühlen, Sensationen, Phänomenen herrühren, die aber oft schwer zu suchen sind. Die Kindheit in ihrem langen tiefen Traum der Morgenröte verarbeitet solche Eindrücke und modifiziert sie nach allen Arten, dazu sie Methoden bekommt« (Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahre 1769, Nördlingen 1985, S. 172). Daraus leitet Herder ab: »Welche große Regel: mache deine Bilder der Einbildungskraft so ewig, daß du sie nicht verlierest, wiederhole sie aber auch nicht zur Unzeit! Eine Regel zur ewigen Jugend der Seele« (S. 178). Moritz, Erinnerungen, S. 66. Ebd., S. 69.

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Im Anton Reiser wird die Kindheit des Autors vor allem im ersten Buch geschildert; mit seinen Wanderungen beginnen auch hier die Jünglingsjahre. Dabei verfährt die Erzählung nicht streng chronologisch; das erste Buch setzt mit der späten Kindheit ein, frühere Erlebnisse und Erinnerungen werden assoziativ eingefügt – das entspricht dem unklaren Zeitgefühl der ersten Jahre, der nicht genauen zeitlichen Situierung der Urszenen sowie ihrem assoziativen Auftauchen, auch unerwartet, in späteren Lebenszusammenhängen. Dabei prägen gerade die negativen allerersten Eindrücke den künftigen Schwärmer und Hypochonder am intensivsten: »Die ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht«.52 Auch hier tauchen in diesem Zusammenhang die im Magazin bereits erwähnten Urszenen auf; dazu kommen von den berüchtigten Ammenmärchen ausgelöste traumatische Urängste – beispielsweise vor der Gestalt des »handlosen Mannes« – sowie eine frühe schwere Krankheitserfahrung. Bezeichnend sind, auch das ist bereits vielfach untersucht worden, die kindlich-destruktiven Spiele des kleinen Antons, die alle – ob im Nachspielen von Schlachtszenen mit Disteln- und Blumenheeren oder dem Fliegentöten – das für ihn charakteristische Persönlichkeitsmuster des ›joy of grief‹ illustrieren. Moritz schildert darüber hinaus eine Reihe kindlicher Erfahrungen, die mit Piaget dem »Realismus der Namen«53 zugeordnet werden könnten: So reflektiert er beispielsweise, wie aus dem Klang von Ortsnamen beim Kind bestimmte Vorstellungen des Ortes werden.54 Sobald Anton jedoch lesen kann – nämlich mit acht Jahren –, werden auch für ihn die verschiedenen Lektüren zu den eigentlichen Altersschwellen einer exemplarischen Schwärmerbiographie. Das Zerrissenheitsmuster setzt sich in seiner Anfangslektüre fort. Der kleine Anton erhält von seinem Vater »zwei kleine Bücher, wovon das eine eine Anweisung zum Buchstabieren, und das andre eine Abhandlung gegen das Buchstabieren«55 enthält. Verstärkt noch durch seine schwere Erkrankung im gleichen Jahr verwendet er von Anfang an die Lektüre entschieden zur Flucht aus seiner »natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealische Welt«.56 52

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Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, hrsg. von Wolfgang Martens, Stuttgart 1972, S. 13. Vgl. Piaget, Weltbild des Kindes, S. 88: »Für das Kind bedeutet Denken mit Wörtern umgehen«; dabei wird am Anfang kein Unterschied zwischen einem Ding und seinem Namen, dem Wort dafür, gemacht. »Überhaupt pflegte Anton in seiner Kindheit durch den Klang der eignen Namen von Personen und Städten zu sonderbaren Bildern und Vorstellungen von den dadurch bezeichneten Gegenständen veranlaßt zu werden« (Moritz, Anton Reiser, S. 55). Moritz, Anton Reiser, S. 15. Ebd., S. 16f.

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Dabei ist die Textauswahl mit der von Wilhelm von Blumenthal wegen der starken religiösen Prägung der Haushalte durchaus vergleichbar: Anton beginnt mit Bibellektüre und den Leben der Altväter von Gottfried Arnold, in denen er jede Menge Identifikationsmöglichkeiten für seine lebhafte Phantasie findet; eine besondere Rolle spielt auch ein Büchlein speziell für fromme Kinder von sechs Jahren, sieben Jahren etc. – das also bereits eine Altersstruktur für die Lektüre vorgibt.57 Die Neigung zur schwärmerischen Religiosität wird schließlich auf den Gipfel getrieben durch die Lektüre der Lieder der berühmten Quietistin Madame Guyon, die durch »so viel Seelenschmelzendes, eine so unnachahmliche Zärtlichkeit im Ausdrucke, solch ein sanftes Helldunkel in der Darstellung« einen »unauslöschlichen«58 Eindruck auf Antons Herz machen – offensichtlich eine Lektüre-Urszene. Die nächste Stufe der Lektüre erreicht Anton durch Fénelons Telemach-Roman59 und andere Erzählungen aus der Antike, die nun mit der christlichen Ideenwelt »die sonderbarste Ideenkombination, die wohl je in einem menschlichen Gehirn mag existiert haben«,60 herstellen. Im elften Jahr schließlich löst sich Anton von den restriktiven Lektürevorgaben des Vaters und genießt »zum ersten Male das unaussprechliche Vergnügen verbotner Lektüre«:61 Auch er liest Die asiatische Banise, dazu Tausendundeine Nacht und Die Insel Felsenburg und damit die vom Vater aufs allerstrengste und unter Androhung von Verbrennung verbotenen Romane. Daran schließen sich, wieder vom Vater als religiös korrekt genehmigt, Fénelons Totengespräche und Ramlers Tod Jesu62 an. Anton fällt daraufhin bereits die ersten Geschmacks- und Qualitätsurteile63 und verarbeitet seine Lektüre systematisch in »Nachahmungen von dem Gelesenen«.64 Auch seine mit dem Eintritt ins Gymnasium beginnende Jugend wird beinahe durchgehend durch verschiedene Lektüren geprägt, die ein genaues Abbild der literarischen Landschaft samt aller ihrer Moden und Strömungen bilden, bis hin zur Shakespeare-Begeisterung, die dann auch den Anstoß zu ersten eigenen Niederschriften gibt. Danach rücken wieder äußere Ereignisse in den Vordergrund: Ab dem zwölften Jahr besucht Anton die Stadtschule und erhält lateinischen Pri57 58 59

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Vgl. ebd., S. 19. Ebd., S. 21. François de Salignac de La Mothe-Fénelon: Les aventures de Télémaque, Fils d’Ulysee, Den Haag 1695 (erstmals auf Deutsch: Die seltsamen Begebenheiten des Telemach, übers. von Ludwig Ernst von Faramond, Nürnberg 1733.). Moritz, Anton Reiser, S. 27. Ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd. Ebd.

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vatunterricht. Als ihm dieser wieder genommen wird, wird er aus Verzweiflung von einem Musterschüler zu einem »bösen Buben«65 – ein drastischer Umschlag, der möglicherweise den Beginn der Pubertät markiert. Einen scharfen äußeren Einschnitt bildet schließlich erneut der Antritt einer Lehre bei einem Hutmacher, der Anton die leidvolle Erfahrung vollständiger Abhängigkeit, Unterdrückung, Gewalt und Ausbeutung verschafft. Seine einzige Lektüre ist zu dieser Zeit, ironischerweise, ein Buch, das ihm sein Meister geschenkt hat: Engelbrechts, eines Tuchmachergesellen zu Winsen an der Aller Beschreibung von dem Himmel und der Hölle. Deshalb konzentriert er all seine geistige Energie auf das Aufschreiben der Predigten des von ihm verehrten Pastor Paulmann sowie auf Spaziergänge über den Wall, bei denen er sich »seine ganze idealische Romanenwelt«66 weiterhin imaginiert. Mit 14 Jahren schließlich wird er konfirmiert und darf im Anschluss daran ein Gymnasium besuchen. Die Bilanz im Rückblick auf seine Kindheit jedoch ist wehmütig: So bestanden von seiner Kindheit auf seine eigentlichen Vergnügungen größtenteils in der Einbildungskraft, und er wurde dadurch einigermaßen für den Mangel der wirklichen Jugendfreuden, die andre in vollem Maße genießen, schadlos gehalten.67

Moritz bereitet damit im Anton Reiser, bei aller psychologischen Durchdringung und allem Realismus der Darstellung, bereits in einigen Zügen die Entzeitlichung der Jugend vor. Während vor allem die Lektüren einen relativ kontinuierlichen Entwicklungsprozess anhand eines Leitmotivs initiieren – des melancholisch-hypochondrischen ›joy of grief‹ nämlich, vor allem in seiner religiös motivierten Variante –, gibt es daneben sozusagen zeitlose, oft frühkindliche Prägungserfahrungen, die unerwartet immer wieder auftauchen können und Identität über die Zeit herstellen; so vermutete Moritz bereits in seinem anfangs zitierten, kurzen theoretischen Text: Sollten vielleicht gar die Kindheitsideen das feine unmerkliche Band seyn, welches unsern gegenwärtigen Zustand an den vergangnen knüpft, wenn anders dasjenige, was jetzt unser Ich ausmacht, schon einmal, in andern Verhältnissen, da war?68

Die groben Einschnitte in der Biographie hingegen bilden auch hier – das ist wiederum der autobiographischen Basis geschuldet – Wechsel der zentralen Bezugspersonen, Ortswechsel, Institutionen wie der Schulbesuch, die Lehrlingszeit oder das Übergangsritual der Konfirmation. 65 66 67

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Ebd., S. 49. Ebd., S. 108. Ebd., S. 147. Moritz, Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit, S. 66.

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Demgegenüber gibt es bei Jean Paul bereits eine stärker idealisierte Kindheitsdarstellung.69 In seiner Unsichtbaren Loge (1793) findet ein ganz besonderes Erziehungsexperiment statt, das von fern an Rousseau gemahnt, diesen aber sozusagen platonisch unterfüttert: Der kleine Gustav wird nämlich von seinem dritten Lebensjahre an von einem idealen Erzieher à la Rousseau, der als der ›Genius‹ figuriert, in einer unterirdischen Höhle erzogen, um ihn nicht vorzeitig gegen »die Schönheiten der Natur und die Verzerrungen der Menschen zugleich abzuhärten«.70 Auch dessen Erziehungsmaximen variieren Rousseausche Vorgaben: Die Erziehung findet vor allem durch Vorbild und Beispiele statt; sie basiert nicht auf Befehlen, sondern auf Erzählungen und Gewöhnung; dabei gilt ein Hauptaugenmerk der Beschränkung der Bedürfnisse und Wünsche. Gelesen wird gar nicht, eine wesentliche Rolle spielt hingegen das auch von Rousseau empfohlene Zeichnen, das als eine besonders eingängige Form ästhetischer Erziehung und Phantasieregulierung verstanden wird: Es ist der frühesten Entwicklung wert, weil es das Gitter wegnimmt, das uns von der schönen Natur absondert, weil es die phantasierende Seele wieder unter die äußern Dinge hinaustreibt und weil es das deutsche Auge zur schweren Kunst abrichtet, schöne Formen zu fassen.71

Auch nach der ›Auferstehung‹ des kleinen Gustav aus seiner Höhle – die aber eine umgekehrte ist, weil der Genius sie ihm als Todeserfahrung darstellte – orientiert sich seine Erziehung weiter an der Natur. Gustavs äußerer Wirkungsraum bleibt streng umgrenzt; er spielt nur mit Naturgegenständen. Ein Zugeständnis ist einzig das Theaterspielen, das auch schon bei Wilhelm von Blumenthal als typische kindliche Beschäftigung vorkam und bei Moritz wie später bei Goethe eine zentrale Rolle für die problematische Identitätsausbildung der Jugendbiographien bekommen wird, wobei der Erzähler bei Jean Paul Wert darauf legt, dass das kindliche Theaterspielen nicht Nachahmung der Erwachsenenwelt anhand von fertigen Stücken ist, sondern ein Ausagieren der kindlichen Kreativität als »zugleich Regisseur, Einbläser und Theaterdichter«.72 Wie ebenfalls für Wilhelm von Blumenthal sind die ersten, weil praktischen und anschaulichen Unterrichtsfächer die Naturgeschichte und die Geographie, wohingegen abstrakte Philosophie als »tödlich«73 bezeichnet wird; Kinderbücher schließlich sind ganz verboten. Für Gustav spielt also die Lektüre keine Rolle, er wächst auf in engem Kontakt zur Natur wie mit einer quasi69 70

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Vgl. insgesamt zur Kindheit bei Jean Paul: Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform, Kap. III. Jean Paul, Die unsichtbare Loge, in: Sämtliche Werke, Abteilung 1, Band 1, hrsg. von Norbert Miller, München 1960, S. 53. Ebd., S. 55. Ebd., S. 78. Ebd., S. 125.

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natürlichen Religiosität. Für ihn ist die untrennbare Verbindung von oben und unten, Diesseits und Jenseits, Leben und Tod eine selbstverständliche Erfahrung seit seiner ›Auferstehung‹. Hingegen dient seiner ästhetischen Erziehung das von Jean Paul bekanntermaßen hochgeschätzte Vermögen des Witzes als ›dichterische Phantasie‹: Bloß die Entwicklung des Witzes, an die man bei Kindern so selten denkt, ist die unschädlichste – weil er nur in leichten flüchtigen Anstrengungen arbeitet; – die nützlichste – weil er das neue Ideen-Räderwerk immer schneller zu gehen zwingt. […] Es ist unbeschreiblich, welche Gelenkigkeit aller Ideen dadurch in die Kinderköpfe kommt.74

Gustavs ›Auferstehung‹ in seinem elften Lebensjahr bildet selbstverständlich auch den wesentlichen zeitlichen Einschnitt. Daneben kommen die üblichen konventionellen Gliederungsmomente in typisch Jean-Paulscher Formulierung: So beginne mit der Taufe als »erstes Sakrament« die »Bildung des Herzens«, mit dem »zweiten Sakrament«, dem Abendmahl, diejenige des Kopfes.75 Die Jugend Gustavs hingegen wird durch den Antritt einer Kadettenstelle mit 18 Jahren abgeschlossen. Dazwischen jedoch finden sich noch weitere zeitliche Strukturierungsmuster. So gibt es auch bei Jean Paul eine Art von Urszenen76 – den klassischen Kindheits-SommerSonntag beispielsweise: »Nur im tausendjährigen Reiche gibt es solche Nachmittage, wie Gustav an der Anhöhe, gleichsam auf dem Schoß der Erde hatte«77;

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Ebd., S. 135. Ebd., S. 55. Vgl. auch die Darstellung einer solchen Urszene in Jean Pauls Selberlebensbeschreibung: »Ich bin zu meiner Freude imstande, aus meinem zwölf-, wenigstens vierzehnmonatlichen Alter eine bleiche kleine Erinnerung, gleichsam das erste geistige Schneeglöckchen aus dem dunkeln Erdboden der Kindheit noch aufzuheben. Ich erinnere mich nämlich noch, daß ein armer Schüler mich sehr liebgehabt und ich ihn und daß er mich immer auf den Armen – was angenehmer ist als oft später auf den Händen – getragen und daß er mir in einer großen schwarzen Stube der Alumnen Milch zu essen gegeben. Sein fernes nachdunkelndes Bild und sein Lieben schwebte mir über spätere Jahre herein; leider weiß ich seinen Namen längst nicht mehr; aber da es doch möglich wäre, daß er noch lebte hoch in den Sechzigern und als vielseitiger Gelehrter diese Vorlesungen in Druck vorbekäme und sich dann eines kleinen Professors erinnerte, den er getragen und geküßt – – ach Gott, wenn dies wäre und er schriebe oder der ältere Mann zum alten käme! – Dieses Morgensternchen frühester Erinnerung stand in den Knabenjahren noch ziemlich hell in seinem niedrigen Himmel, erblaßte aber immer mehr, je höher das Taglicht des Lebens stieg; – und eigentlich erinnere ich mich jetzo nur dies klar, daß ich mich früher von allem heller erinnert« (Jean Paul, Selberlebensbeschreibung, in: Werke in 3 Bänden, hrsg. von Norbert Miller, Bd. 3, München 1975, S. 707–828, hier S. 714f.). Jean Paul, Loge, S. 78.

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Jutta Heinz Könnt’ ich seinen ersten Kuß tausendmal brennender abmalen: ich tät’ es; denn er gehört unter die ersten Abdrücke der Seele, unter die Maiblumen der Liebe, er ist die beste mir bekannte Dephlegmation des erdigen Menschens.78

Letzterer fällt jedoch schon in die Jugend-Phase, die Jean Paul explizit unter dem Titel des zweiten Lebensjahrzehnts thematisiert und wie Rousseau vor allem mit den Leidenschaften assoziiert: Gustav war jetzt in der Mitte des schönsten und wichtigsten Jahrzehends der menschlichen Flucht ins Grab, im zweiten nämlich. Dieses Jahrzehend des Lebens besteht aus den längsten und heißesten Tagen; und […] so kocht sich an der Jünglingglut zwar die Liebe reif, die Freundschaft, der Wahrheit-Eifer, der Dichtergeist, aber auch die Leidenschaften mit ihren Giftzähnen und Giftblasen. […] O sie kehrt niemals, niemals wieder, die zweite Dekade des armen Lebens, die mehr hat als drei hohe Festtage: ist sie vorüber, so hat eine kalte Hand unsre Brust und unser Auge berührt.79

Die Zeitlosigkeit von kindlichen Augenblickserfahrungen kontrastiert zu chronologischen Verlaufsmustern wie der Unterscheidung von erstem und zweitem Lebensjahrzehnt, Kindheit und Jugend, oder der zweifachen Initiation in die kirchlichen Riten. Zur Veranschaulichung dieser chronologischen Modelle bedient sich der Metaphernkünstler Jean Paul der traditionellen Jahres-, Tageszeiten- oder auch Wochentagsmetaphorik; einige Beispiele: Der eisgraue Winter mit dem schneeweißen Chorhemd – der sammelnde Herbst mit Ernten unter dem Arm, die er Gott auf den Altar legt und die der Mensch nehmen darf – der feurige Jüngling, der Sommer, der bis nachts arbeitet, um zu opfern – und endlich der kindliche Frühling mit seinem weißen Kirchenschmuck von Blüten.80 Du armer Mensch! wenn der zarte weiße, die ganze Natur überzaubernde Nebel deiner Kinderjahre herunter ist: so bleibst du doch nicht lange in deinem Sonnenlichte, sondern der gefallene Nebel kriecht wieder als dichtere Gewitterwolke unten rings am Blauen herauf, und am Jünglings-Mittage stehest du unter den Blitzen und Schlägen deiner Leidenschaften! – Und abends regnet dein zerschlitzter Himmel noch fort! –81 Überhaupt: ist denn die Kindheit nur der mühselige Rüsttag zum genießenden Sonntag des spätern Alters, oder ist sie nicht vielmehr selbst eine Vigilie dazu, die ihre eigne Freuden bringt?82

Dabei ist mehrerlei bemerkenswert: die zeitliche Umkehrung im ersten Zitat, die der Umkehrung der Auferstehung zum Leben durch den Tod entspricht; die durchgängige Verbindung von Kindheit und der Farbe weiß 78 79 80 81 82

Ebd., S. 143. Ebd., S. 173. Ebd., S. 62. Ebd., S. 81. Ebd., S. 126.

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(in den Kirschblüten); die Verbindung der Jugend im Gegensatz zur Kindheit mit dem Motiv der Leidenschaftlichkeit; die starken religiösen Konnotationen (im Chorhemd, dem Altaropfer, dem Kirchenschmuck). Gustav wird im Übrigen explizit als »Himmels-Kind«83 benannt; er gehört, zumindest mit seiner früh ›verstorbenen‹ unterirdischen Hälfte, zu den Genius-Kindern, die auch ein moralisches Ideal der natürlichen Unschuld verkörpern:84 Wie heitern uns im steinichten Arabien der hassenden Welt Kinder wieder auf, die einander lieben und deren gute kleine Augen und kleine Lippen und kleine Hände noch keine Masken sind!85

3. Kindheit als ästhetische Ganzheit und Modell romantischer Universalpoesie Gustav steht damit sozusagen mit einem Bein noch in der Rousseauschen Tradition, mit dem anderen schreitet er energisch auf die romantische Neukonzeptualisierung von Kindheit als Identitäts- und Ganzheitsideal in zerrissenen Zeiten zu.86 Von den Romantikern werden mit der Kindheit verschiedene Zeitkonzepte verbunden: die einer statischen Zeitlosigkeit (ein immerwährendes goldenes Zeitalter) ebenso wie die einer zyklischen Wiederkehr (die Rückkehr des goldenen Zeitalters) oder gar eines Ineinanderfallens aller Zeiten. Die dynamischen Aspekte von Jugendlichkeit werden hingegen meistens explizit in die Krisenzeit der Jugend verlegt. Die Einsprüche der schlechten Realität gegen eine allzu starke Idealisierung der Kindheit – Tod der Eltern, Unfähigkeit der Erzieher, wirtschaftliche Not – sind im romantischen Roman mit seinem universalen Idealisierungs- und Poetisierungsgebot nicht statthaft; das Gleiche gilt für psychologisierende Darstellungsmuster nach dem autobiographischen Schema. 1794 wird Hölderlin in seinem Fragment zum Hyperion schreiben: »Ja! ein göttlich Wesen ist das Kind, solang es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist. Es ist ganz, was es ist, und

83

84 85 86

Ebd., S. 109. Vgl. Alefeld, Göttliche Kinder, S. 49f. Jean Paul, Loge, S. 95. Eine Art Übergangsmodell bilden Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, in denen auf der Handlungsebene durchaus eine realistische, bürgerlich geprägte Kindheit und Jugend stattfinden – bezeichnenderweise wird Wilhelm von seinen Lehrjahren freigesprochen, als er seine Vaterschaft an Felix anerkennt –, die gleichzeitig jedoch als exemplarischer Bildungsprozess symbolisch überlagert ist und der in Mignon eine auf die Romantik vorausweisende Verkörperung des Genius-Modells an die Seite gestellt wird.

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darum ist es so schön«.87 Und 1798 formuliert Novalis dann apodiktisch: »Wo Kinder sind, da ist ein goldnes Zeitalter«.88 Eine demgegenüber etwas stärker realistisch unterfütterte denn theoretisch postulierte Variante des romantischen Kindheitsbildes enthält Friedrich Schlegels Lucinde (1799).89 Dort wird in einer der arabesken Einlagen des Textes, der Charakteristik der kleinen Wilhelmine, das Bild einer zur zeitlosen Poetologie gesteigerten Kindheit gezeichnet, das romanintern die Ergänzung zur konfliktträchtigen Jugend, den Lehrjahren der Männlichkeit, bildet. Die »wilde Jugend« äußert sich in der »Fülle der empörten Kräfte«90 und ein »Chaos von innerem Leben«91, in Enthusiasmus und leidenschaftlichen Wünschen. Aus all dieser Bewegtheit kann sich jedoch nicht die Erfahrung personaler Identität entwickeln, es gibt vielmehr nur eine »Masse von Bruchstücken ohne Zusammenhang«.92 Wilhelmine ist zwei Jahre – also in einem Alter, das die realistischen Erzähltexte kaum für erzählwürdig und -fähig halten – und dem Erzähler zufolge bereits »die geistreichste Person ihrer Zeit oder ihres Alters«93. Sie verkörpert für ihn eine »harmonische Ausbildung«, »innere Vollendung« und »heitere Selbstzufriedenheit«94 – Attribute, die normalerweise eher mit hohem Alter verbunden werden, andererseits wegen der traditionellen Nähe von Kindheit und Alter offensichtlich ineinander umschlagen können.95 Dabei werden alle ihre kindlichen Eigenheiten als Äquivalent zur 87

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»Der Zwang des Gesezes und des Schiksaals betastet es nicht; im Kind ist Freiheit allein. In ihm ist Frieden; es ist noch mit sich selber nicht zerfallen. Reichtum ist in ihm; es kennt sein Herz, die Dürftigkeit des Lebens nicht. Es ist unsterblich, denn es weiss vom Tode nichts« (Friedrich Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, Erster Band, Tübingen 1797, S. 13). Die Abgrenzung zur Jugend wird mit dem Einsatz von Bewegung verbunden: »Aber schön ist auch die Zeit des Erwachens, wenn man nur zur Unzeit uns nicht wekt. O es sind heilige Tage, wo unser Herz zum erstenmale die Schwingen übt, wo wir, voll schnellen feurigen Wachsthums dastehn in der herrlichen Welt, wie die junge Pflanze, wenn sie der Morgensonne sich aufschliesst, und die kleinen Arme dem unendlichen Himmel entgegenstrekt« (Hölderlin, Hyperion, S. 14). Vgl. Anm. 1. Vgl. zur Lucinde: Simonis, Kindheit in Romanen um 1800, Kap. 4. Friedrich Schlegel, Lucinde, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. 1, Bd. 5: Dichtungen, hrsg. von Hans Eichner, Paderborn u. a. 1962, S. 1–82, hier S. 35. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd., S. 14. Ebd. Ähnlich ist auch Goethes Charakteristik der Kindheit als früher Identitätszustand in Dichtung und Wahrheit: »Das Kind, an und für sich betrachtet, mit seinesgleichen und in Beziehungen, die seinen Kräften angemessen sind, scheint so verständig, so vernünftig, daß nichts drüber geht, und zugleich so bequem, heiter und gewandt, daß man keine weitre Bildung für dasselbe wünschen möchte. Wüchsen die Kinder in der Art fort, wie sie sich

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romantischen Poetik gedeutet; als »kleines Kunstwerk schöner und zierlicher Lebensweisheit«96 ist die Zweijährige der poetologische Maßstab des gesamten Textes. Zu diesen Eigenschaften gehören im Einzelnen: zum Ersten die Neigung zu »Ironie« und »Bouffonerie«97 im Umgang mit den Erwachsenen, die auf ihrer natürlichen kindlichen Egozentrik beruht und natürlich als Äquivalent zur romantischen Ironie verstanden wird; zum Zweiten ihre Neigung zum Nachahmen, vor allem von Gebärden, die der Erzähler im romantischen Sinne als »Hieroglyphen«98 interpretiert; zum Dritten die noch weiche, verschleifende Aussprache und die Lust an Reimen und Gesang als Beispiel einer poetischen Ursprache; zum Vierten der kindliche Animismus, gedeutet als romantische Allbelebung. Nicht zuletzt dient Wilhelmine dazu, die gefährliche ›Unmoral‹ des erotischen Bildungsromans zu camouflieren, indem ihre kindliche Amoralität zum Maßstab einer natürlichen, spezifisch weiblichen Moral erklärt wird. Am wichtigsten ist jedoch die Nähe ihrer kindlich-ungebundenen Phantasie zur romantischen Universalpoesie und ihrem Verfahren der unendlichen Analogiebildung durch freigesetzte Phantasie: Die Blüten aller Dinge jeglicher Art flicht Poesie in einen leichten Kranz und so nennt und reimt auch Wilhelmine Gegenden, Zeiten, Begebenheiten, Personen, Spielwerke und Speisen, alles durcheinander in romantischer Verwirrung, so viel Worte so viel Bilder; und das ohne alle Nebenbestimmungen und künstlichen Übergänge, die am Ende doch nur dem Verstande frommen und jeden kühneren Schwung der Fantasie hemmen.99

Bei Schlegel wird also eine besonders enge Verbindung zwischen Kindheit und romantischer Poetik auf der Grundlage empirischer Beobachtung und Analyse hergeleitet; Wilhelmine ist kein unirdisches Genius-Kind, sondern eine sehr lebendige kleine Persönlichkeit, die nicht in einem abstrakten goldenen Zeitalter, sondern im Hier und Jetzt lebt und ein reales Vorbild hat.100 Eine stärker idealisierende Variante im Sinn von Novalis findet sich hingegen in einem 1817 erschienenen Text von E. T. A. Hoffmann, der hier am Ende stehen soll: Das fremde Kind, erschienen im zweiten Band der Kinder-Märchen. Felix und Christlieb leben abseits von der verderblichen Zivilisation auf dem Landschloss der Familie von Brakel; sie lieben nichts

96 97 98 99

100

andeuten, so hätten wir lauter Genies« (Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (Goethes Werke 9), Hamburg 1955, 2. Buch; HA 9, 72). Friedrich Schlegel, Lucinde, S. 15. Ebd., S. 14. Ebd., S. 16. Ebd., S. 14. Dem Kommentar nach handelt es sich dabei um seine Nichte Auguste, die Tochter seiner Schwester Charlotte Ernst (vgl. Schlegel, Lucinde, S. XLII).

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mehr als das Spielen im Wald. Ihr ›Naturzustand‹ wird aber empfindlich gestört durch den Besuch reicher Verwandter, die mit ihren gestutzten und geputzten Kindern Bonbons und künstliche mechanische Spielzeuge in die Idylle bringen und den Eltern die Idee in den Kopf setzen, Felix und Christlieb müssten auch von einem Hofmeister in den »Wissenschaften«101 unterrichtet werden – ihre bisherige Bildung hatte im Wesentlichen aus alten Geschichten bestanden, sie schreiben jedoch eine »saubere Handschrift«102 und kennen alle Tiere und Pflanzen im Wald. Härter als in den beiden unterschiedlichen Geschwisterpaaren könnte der Kontrast zwischen einer vermeintlich einseitig rationalen Aufklärung und ihrem kalten Verstandeswissen auf der einen Seite und der Romantik mit ihrem intuitiven Naturwissen, ihrer Neigung zur Phantasie und Poesie auf der anderen nicht gezeichnet werden. Deutlich zu erkennen ist zudem immer noch Rousseaus natürliche Erziehung mit ihrer Ablehnung frühzeitigen Bildungswissens zugunsten anschaulich vermittelter Naturkenntnis. Felix und Christlieb fliehen, durch die fremdartigen Spielsachen verwirrt und verstört, in ihren Wald, wo ihnen nun erstmals das ›fremde Kind‹ erscheint. Als eine offensichtliche Verkörperung der romantischen Phantasie und Poesie kann es alle Naturdinge zum Sprechen bringen. Seine Mutter, so berichtet es, sei die mächtigste Fee: »Alles was auf der Erde webt und lebt hält sie mit treuer Liebe umfangen«103; besonders hänge sie aber an den Kindern. Während die Fee eine romantische Allegorie des Gefühls und des Herzens ist, ist ihr Hauptgegner – der Gnomenkönig Pepser, der seit einiger Zeit ihr Reich bedroht – eine Verkörperung des Verstandes und der Wissenschaften, indem er behauptet, »er sei ein großer Gelehrter, er wisse mehr und würde größere Dinge bewirken als alle übrige«104. Zwar wird Pepser, als er als Hofmeister von Felix und Christlieb auftritt, schließlich von den Eltern verjagt, aber auch die Phantasie entfaltet am Schluss eine durchaus bedrohliche Macht. Es stellt sich heraus, dass bereits der Vater das ›fremde Kind‹ in seiner eigenen Kindheit gesehen, es dann aber im Laufe des Lebens vergessen hatte; nun zerreißt ihm die Sehnsucht sein Herz. Er stirbt letztlich an einer melancholischen Erinnerung an den Zauber seiner Jugend, der ihm im Erwachsenenleben verloren gegangen war. Das ›fremde Kind‹ versichert den Halbwaisen am Schluss jedoch, sie immer zu beschützen – wenn sie es nur nicht vergessen: »Und sie empfanden die Wonne des Himmels, die in ihrem Innersten 101

102 103 104

E. T. A. Hoffmann, Das fremde Kind, in: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 4, hrsg. von Wulf Segebrecht, Frankfurt a. M. 2001, S. 570–615, hier S. 577. Ebd., S. 601. Ebd., S. 594. Ebd., S. 597.

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aufgegangen«.105 Die Lehre aus dem Märchen ist nur allzu klar: Das Herz des Menschen kann am Verstand und den Wissenschaften kein Genügen finden, sondern wird durch sie seiner eigenen ebenso wie der ›Allnatur‹ entfremdet – ein Prozess, der prosaisch gemeinhin als Erwachsenwerden bezeichnet wird. Bleibt man jedoch in seinem Herzen ein Kind und der Märchen-Phantasie getreu, wird man immer, unter jeglichen äußeren Umständen, sein Glück finden.

4. Verzeitlichung und Entzeitlichung der Jugend – Zusammenfassung Auf einer sehr allgemeinen Ebene kann man die unterschiedlichen mit der Kindheit verbundenen Zeitmodelle in Aufklärung und Romantik auf den Gegensatz von Abgrenzung/Entwicklung auf der einen Seite und Identität/Perpetuation auf der anderen Seite zuspitzen. Letztlich jedoch basieren beide Kindheitskonzepte, so unterschiedlich sie in ihren Erscheinungsformen auch sein mögen, auf einer grundlegenden Naturalisierungsbewegung, die Rousseau auch für die Kindheit wirkungsmächtig eingeleitet hatte: sei es nun die natürliche Erziehung – mit Betonung der physischen Komponenten, der Wichtigkeit guter Vorbilder und Lektüreverboten – oder die Rückkehr in einen ungeteilten Naturzustand vor aller Zivilisation. Das Kind ist für ein Zeitalter, dem die eigene Natürlichkeit angesichts der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Rollenzuschreibungen abhanden zu kommen droht, der natürlichere und damit der bessere Mensch.106 In romantischen Texten stellt die Kindheit einen eigenen Raum mit einer von der äußeren Zeit beinahe unabhängigen temporalen Struktur dar: Kindheit ist ein zeitloser Idealzustand, der im realen Leben nur als allgemeine Orientierungslinie dienen kann – sei es als die Vorstellung ei105

106

Ebd., S. 615. Vgl. zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten auch die Studie von Hans-Heino Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform, S. 260: »Mit ihrer Entwicklung zur Metaphysik ist die romantische Kindheitsphilosophie zugleich auch zu ihrem historischen Höhepunkt gelangt; als Metaphysik der Kindheit, als mystische Kindheitslehre ist sie denn auch von der romantischen Bewegung im engeren Sinne vorgetragen worden […]. Die Überführung der anthropologischen Kindheitstheorie in eine Metaphysik der Kindheit verändert nicht die Inhalte, sondern einzig deren Fundierungs- und Ableitungsweise. An die Stelle der natürlichen Erklärung tritt die metaphysische Deduktion ein und derselben kindlichen Wesenzüge. Zudem findet dieser Austausch nicht bei sämtlichen Wesensmerkmalen des Kindlichen statt. Einen Restbestand anthropologischer Bestimmungen muß sich auch die extremste Kindheitsmetaphysik bewahren, gilt ihr das Kind doch wieder als sinnlichübersinnliches Doppelwesen.«

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nes ›goldenen Zeitalters‹, als Erhalt eines kindlichen Herzens oder als poetisch-natürliche Form der Einheit und Ganzheit.107 Eine Binnengliederung ist deshalb auch nicht nötig; der harte Einschnitt in entwicklungspsychologischer Hinsicht ist nur derjenige zur Jugend. Wie Günter Oesterle zu Recht festgestellt hat, wird diese der »lebensgeschichtlich genuine und sozial lizenzierte Zeitraum der Entfaltung von Subjektivität, ihrer Krisen und Risiken«.108 Kindheit selbst jedoch ist und sollte für den Romantiker unabschließbar sein. Sie ist insofern mehr ein seelischer Zustand, eine Wahrnehmungsdisposition, eine zeitlose Konstante im Universum der menschlichen Möglichkeiten als ein reales Lebensalter; daher entsprechen ihr als Darstellungsform die romantische Allegorie oder das Märchen am ehesten. Im aufklärerischen Kontext hingegen herrscht das teleologische Modell der menschlichen Entwicklung, die vom Kind ihren Ausgang nimmt und über verschiedene Phasen auf den Endzustand von Erwachsenheit und Mündigkeit ausgerichtet ist. In diesem Zusammenhang werden Übergänge, Schwellen und Grenzen wichtig. Diese können äußerer Art sein wie die gesellschaftlichen oder religiösen Übergangsrituale von Konfirmation und Lehrlingszeit; individualpsychologisch prägend ist der häufige Wechsel von engen Bezugspersonen beziehungsweise das schon von Rousseau thematisierte Problem der Erziehung des guten Erziehers selbst; entwicklungspsychologisch die Dominanz bestimmter Vermögen in bestimmten Phasen.109 Auch die Pädagogik der Zeit orientiert sich zunehmend an Phasen-Modellen, denen dann bestimmte Disziplinen zugeordnet werden – beispielsweise die Naturgeschichte und die Geographie als didaktische Grundlagenwissenschaften oder das Zeichnen als Wahrnehmungsschulung. Verbunden damit ist häufig Kritik an tradierten Erzie107

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Ein weiteres Beispiel dafür ist Schillers bekannte Bestimmung der Kindheit als natürlicher Zustand der Naivität in Über naive und sentimentalische Dichtung: »Sie [die Gegenstände der Natur] sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale, daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen« (Friedrich Schiller, »Über naive und sentimentalische Dichtung«, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1959, S. 694–780, hier S. 695). Vgl. Günter Oesterle, »Einleitung«, in: Ders. (Hrsg.), Jugend – ein romantisches Konzept?, Würzburg 1997, S. 9–29, hier S. 13. Vgl. dazu auch beispielsweise Herder, Journal meiner Reise, S. 162: »Aristoteles, Horaz, Hagedorn haben die Lebensalter geschildert; ihre Schilderung muß für die Seele auf gewisse Hauptbegriffe psychologisch zurückgeführt werden, und diese sind Neugierde, Einbildungskraft und Leidenschaft, Witz und Bonsens, endlich die alte Vernunft. Und aus ihnen wird so ein System des menschlichen Lebens, wie Montesquieu die Regierungsarten geschildert hat«.

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hungsgewohnheiten – den Ammenmärchen, einer allzu frühen religiösen Indoktrination – und überkommenen pädagogischen Konzepten – mechanischem Auswendiglernen, zu früher Intellektualisierung bereits in der Lateinschule, Vernachlässigung der physischen Erziehung. Die erzählerisch angemessene Form der Darstellung in diesem Kontext ist deshalb der anthropologisch-pragmatische Roman mit seinem (häufig) autobiographischen Hintergrund, seinem Realismus und seiner Verpflichtung auf Kausalität und psychologische Motivierung. Daneben gewinnen aber auch innerliche Prozesse an Bedeutung. Hier sind Erinnerungen an bestimmte Lebensepochen oder Übergänge auffallend häufig an Lektüreszenen, Lektüreverbote und Lektüreerinnerungen geknüpft. Auf einer tieferen zeitlichen Ebene schließlich gibt es aber auch hier eine Art Entzeitlichung: Zunehmend wird die Bedeutung kindlicher ›Urszenen‹ erkannt, die unabhängig vom jeweiligen Entwicklungsstatus jederzeit in der Erinnerung auftauchen können und auf einer kaum bewussten Ebene die Identitätsentwicklung lenken und beeinflussen. Die Kindheit ist somit auch für die Aufklärer niemals ganz überwunden, sondern behält eine enge Beziehung zu allen anderen Lebensaltern – sei es als unbewusste Traumatisierung (wie bei Anton Reiser) oder als unzerstörbare moralische und praktische Identitätsbasis (wie bei Wilhelm von Blumenthal). In einigen Punkten, so auch der anfangs zitierte Aufklärer Theodor Gottlieb von Hippel, bleibt der Mensch deshalb immer Kind. Das soll abschließend eine besonders originelle Lebensaltergliederung demonstrieren, die er einer seiner Figuren in seinem Roman Lebensläufe nach aufsteigender Linie in den Mund legt und die bis heute (nur leicht variiert: an die Stelle der Taschenuhr würde wohl das Handy treten) Bestand haben könnte: Mein Vater pflegte zu sagen: Es wären fünf Wünschperioden beim Menschen: Erstlich, Beinkleider. Zweitens, Taschenuhr. Drittens, Mädchen. Viertens, Vermögen. Fünftens, Landgut!110

110

Hippel, Lebensläufe, S. 364.

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Literatur Quellen [FÉNELON] François de Salignac de La Mothe-Fénelon, Les aventures de Télémaque, Fils d’Ulysee, Den Haag 1695 (erstmals auf Deutsch: Die seltsamen Begebenheiten des Telemach, übers. von Ludwig Ernst von Faramond, Nürnberg 1733.) GOETHE, Johann Wolfgang, Dichtung und Wahrheit (Goethes Werke 9), hrsg. von Erich Trunz, Hamburg 1955. HERDER, Johann Gottfried, Journal meiner Reise im Jahre 1769, Nördlingen 1985. HIPPEL, Theodor Gottlieb von, Lebensläufe nach aufsteigender Linie, Dritter Theil, Leipzig 1859. HÖLDERLIN, Friedrich, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, Erster Band, Tübingen 1797. HOFFMANN, E . T . A., Das fremde Kind, in: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 4, hrsg. von Wulf Segebrecht, Frankfurt a. M . 2001, S. 570–615. JEAN PAUL, Die unsichtbare Loge, in: Sämtliche Werke, Abteilung 1, Bd. 1, hrsg. von Norbert Miller, München 1960, S. 707–828. – Selberlebensbeschreibung, in: Werke in 3 Bänden, hrsg. von Norbert Miller, Bd. 3, München 1975. JUNG-STILLING, Johann-Heinrich, Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte, in: Lebensgeschichte, hrsg. von Gustav Adolf Benrath, Darmstadt 1992, S. 1–79. JUNG-STILLING, Johann Heinrich, Henrich Stilings Jünglings-Jahre. Eine wahrhafte Geschichte, in: Der.: Lebensgeschichte, hrsg. von Gustav Adolf Benrath, Darmstadt 1992, S. 81–186. MORITZ, Karl Philipp, »Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit«, in: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, Band 1, 1. Stück, Berlin 1783, S. 65–70. – Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, hrsg. von Wolfgang Martens, Stuttgart 1972. NOVALIS, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2: Das philosophische Werk, hrsg. von Richard Samuel und Paul Kluckohn, Darmstadt 1965. ROUSSEAU, Jean-Jacques, Emile oder Über die Erziehung, hrsg. von Martin Rang, Stuttgart 1963. SCHILLER, Friedrich, »Über naive und sentimentalische Dichtung«, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G . Göpfert, München 1959, S. 694–780.

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SCHLEGEL, Friedrich, Lucinde, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. 1, Bd. 5: Dichtungen, hrsg. von Hans Eichner, Paderborn u. a. 1962, S. 1– 82. SCHUMMEL, Johann Gottlieb, Wilhelm von Blumenthal oder das Kind der Natur, Leipzig 1780–81. ZIEGLER, Heinrich Anselm von: Die asiatische Banise oder Das blutige doch muthige Pegu, Leipzig 1689.

Forschung ALEFELD, Yvonne-Patricia, Göttliche Kinder. Die Kindheitsideologie in der Romantik, München u. a. 1996. EWERS, Hans-Heino, Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck, München 1989. H I P P E , Max, Art. »Schummel, Johann Gottlieb«, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 59–61. MARTIN, Dieter, Barock um 1800, Frankfurt a. M . 2000. OESTERLE, Günter, »Einleitung«, in: Ders. (Hrsg.), Jugend – ein romantisches Konzept?, Würzburg 1997, S. 9–29. PIAGET, Jean, Das Weltbild des Kindes, München 1988. – / Bärbel INHELDER, Die Psychologie des Kindes, München 1986. SIMONIS, Annette, Kindheit in Romanen um 1800, Bielefeld 1993. ZEDLER, Johann Heinrich, Art. »Kind«, in: Ders.: Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Graz 1982, Bd. 15, Sp. 640– 642.

THORSTEN FITZON

Schwellenjahre – Zeitreflexion im Alternsnarrativ. Arthur Schnitzlers Erzählung Frau Beate und ihr Sohn The mid-life crisis represents a constructed and variable caesura, resting on a complex set of biographically and socially mediated experiences. Interpretive models from the 1930s formulated in the framework of depth psychology ad psychosomatic theory were preceded by a series of literary texts narrativizing the crisis as a gradual awareness of the aging process. Taking Arthur Schnitzler’s story Frau Beate und ihr Sohn (Beatrice and Her Son) as an example, this chapter intends to show how the narratives of aging within classical modernism present midlife as a subjectively experienced crisis of conflicting sexual roles – a crisis sparked through an altered temporal perspective and a compulsion to choose between youth and age. Compared to Karin Michaëlis’s diary-form novel Das gefährliche Alter (The Dangerous Age), it is clear that Schnitzler has both distanced himself from contemporary theories of female menopause and – by using narrative distance to present the experience of aging as a subjective process – overcome traditional literary motifs (the old man in love; the romantic mismatch between youth and old age). In radicalized form and with a focus on the feminine, the description of aging in Schnitzler’s story underscores something also applying to the experience of men: that in midlife there is a mutual intensification of dissonances between the social code of expectations and self-perception, the objectively linear passage of time and time as something that is subjectively internalized and remembered.

I. ›Alternsnarrative‹ Wann ein Mensch seine Lebensmitte erreicht hat, lässt sich erst rückblickend zum Zeitpunkt des Todes bestimmen. Ob Scheideweg, Gipfel oder Zenit, die Vorstellung von der Teilbarkeit des Lebens in zwei Hälften ist mit archetypischen Bildern besetzt,1 die von einem Einschnitt im Lebensverlauf wissen und die mit dem Erreichen eines bestimmten Alters verbunden werden. Die dem Menschen in Bibel und Volksmärchen zugemessenen siebzig Jahre und Modelle wie die hundertjährige Lebenstreppe 1

Zu den Bildern des Scheidewegs und des Lebensbogens insbesondere in Dantes La Divina Commedia vgl. Willi Hirdt, »Lebensmitte. Zu archetypischen Vorstellungen im Zusammenhang mit ›Inferno I,1‹«, in: Deutsches Dante-Jahrbuch, 67 (1992), S. 7–32.

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suggerieren zwar, dass die Mitte des Lebens zwischen dem 35. und 50. Jahr liege, es handelt sich bei der Vorstellung von der Teilbarkeit des Lebens in zwei Hälften jedoch um eine komplexe individualbiographisch und sozial vermittelte Erfahrung, die sich nicht auf ein Datum reduzieren lässt. Somit erreicht der Einzelne die Hälfte seines Lebens weniger in einem bestimmten Jahr, als vielmehr mit dem allmählichen Bewusstwerden des eigenen Alterns. Ein Prozess, dessen lebenszeitliche Datierung geschlechtsspezifisch, kulturhistorisch und individuell variiert.2 Von der Lebensmitte als Erfahrungsprozess innerpsychischer Veränderungen handelt eine Reihe von Erzähltexten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die aufgrund ihrer thematischen und formalen Ähnlichkeit als ›Alternsnarrative‹ bezeichnet werden können.3 Unter einem ›Alternsnarrativ‹ soll im Folgenden ein Text verstanden werden, der von einer Krise der mittleren Jahre als identitätsbedrohende Bewusstwerdung des Alterns in mehr oder weniger subjektivierter Form erzählt und durch die Konfrontation wechselnder Zeitperspektiven4 in der Lebensmitte Al2

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Die kulturhistorische und literaturhistorische Forschung zur Lebensmitte als eigenständiger Lebensphase stellte psychologische und lebenspraktische Aspekte der Krise und ihrer Überwindung ins Zentrum. Die in diesem Fragehorizont aufgerufenen Beispiele aus der Literatur reichen von Dante Alighieris La Divina Commedia bis Ulla Hahns Halbzeit. Die historische Varianz tritt unter diesem Blickwinkel zugunsten einer vermeintlich anthropologisch konstanten Phänomenologie zurück. Zum überwiegenden Teil stammen die repetitiv angeführten Texte daher auch aus dem 20. Jahrhundert. Sie dienen als Quellen einer Phänomenologie der Lebensmitte, so etwa in der theologischen Studie von Bernhard Sill, Projekt Lebensmitte, Regensburg 1994, oder sie fungieren für die psychoanalytische Untersuchung von Schaffenskrisen als Dokumente der Gestaltung und Bewältigung von Midlife-Krisen durch und in Literatur, wie es Auswahl und Methode von Jürgen Daiber (Der Mittagsdämon. Zur literarischen Phänomenologie der Krise der Lebensmitte, Paderborn 2006) nahe legen. In der Literaturgeschichte lassen sich zwei Konjunkturen von Alternsnarrativen ausmachen: Eine erste Phase, in der die Erfahrung des Alterns erzählerisch gestaltet wurde, datiert zwischen 1800 und 1830. Hierzu gehören neben Goethes bekannter Erzählung Der Mann von funfzig Jahren (1817/29) aus dem Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre auch Therese Huber: Die Frau von vierzig Jahren (1799), Charlotte von Ahlefeld: Die Frau von vierzig Jahren (1829) und Honoré de Balzac: La femme de trentes ans (1830–42). Zu einer zweiten, ausgeprägteren Konjunktur der Alternsnarrative kam es knapp 100 Jahre später zwischen 1890 und 1930 mit Texten, welche zum Teil das traditionelle Titelmuster aufgreifen, in jedem Fall aber die Erzählung von der Alternskrise modernisieren. Hierzu zählen neben Schnitzlers Erzählung Frau Beate und ihr Sohn (1913) Max Nordaus Die Kunst zu altern (1892), John Henry Mackays Der Sybarit (1896), Franz Molnars Die schöne alte Frau (1913), Jakob Wassermanns »kleiner Roman« Der Mann von vierzig Jahren (1913), Arthur Zapps Der Mann von fünfzig Jahren (1918) und Ernst Wiecherts Der Mann von vierzig Jahren (1930). In der englischsprachigen Literatur entstand etwa zur gleichen Zeit mit Virginia Woolfs Mrs Dalloway (1925) ein Klassiker, dessen deutsche Übersetzung unter dem Titel Eine Frau von fünfzig Jahren den Text erkennbar in die Tradition der Alternsnarrative stellt. Mit einiger Verspätung kann auch Thomas Manns Erzählung Die Betrogene (1953) noch dieser zweiten Konjunktur zugerechnet werden. Den Begriff ›Zeitperspektive‹ hat erstmals Lawrence K. Frank Ende der 1930er Jahre in die Erkenntnisphilosophie eingeführt, um zu beschreiben, dass die Wahrnehmung des Men-

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tern als einen Prozess erfahrbar werden lässt, in dem es erstmals zu einer Vertiefung der Vergangenheits- und einer Verengung der Zukunftsperspektive kommt. Der Vergleich von Alternsnarrativen zeigt, dass die Krise meist durch eine Mesalliance zu einer jüngeren Frau beziehungsweise einem jüngeren Mann ausgelöst und von einer Destabilisierung der Selbstbilder und der Identität begleitet wird. In der deutschsprachigen Literatur werden Alternsnarrative zudem mit ›Ein Mann / Eine Frau von … Jahren‹ variierend betitelt, indem das Geschlecht oder das kritische Lebensjahrzehnt ersetzt werden.5 Die Zeit zwischen dem 35. und dem 50. Lebensjahr rückte nicht erst durch die psychopathologische Beschreibung der ›Midlife-Krise‹ in den

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schen bedingt wird durch eine variable Zeiterfahrung, die sowohl von seiner Kulturation als auch von seinem Lebensalter abhängt (vgl. Lawrence K. Frank, »Time Perspectives«, in: Journal of Social Philosophy, 4 (1938/39), S. 293–312). Das seither wiederholte Stereotyp vom alten Menschen, dessen Zeitperspektive sich nur auf die Gegenwart und Vergangenheit ausrichte, während sich die Zukunftsperspektive zunehmend verenge, wurde durch die empirische Sozialforschung und Alternspsychologie allerdings in Frage gestellt, welche die Zeitperspektive eher mit den Bildungsvoraussetzungen und individuellen Erfahrungen korreliert sieht als mit dem Lebensalter (vgl. hierzu den Überblick bei Franz Josef Mönks / Léandre Bouffard, »Zeitperspektive im Alter«, in: Andreas Kruse/ Reinhard SchmitzScherzer (Hrsg.), Psychologie der Lebensalter, Darmstadt 1995, S. 71–281). Eine vergleichende Analyse von Alternsnarrativen ist Gegenstand eines umfangreicheren Forschungsprojekts zur ›Erfindung des gefährlichen Alters in der Literatur‹, das Teil des Akademiekollegs für den wissenschaftlichen Nachwuchs ›Religiöse und poetische Konstruktion von Lebensaltern‹ ist. Die bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, dass die Variationsbreite der kritischen Jahre sich von Balzacs ›Frau von dreißig Jahren‹ bis hin zu Hermann Kestens Roman Ein Mann von sechzig Jahren (1972) erstreckt. Es ist die Tendenz erkennbar, dass Frauen in der Literatur früher, nämlich zwischen dem dreißigsten und fünfzigsten Jahr, die Krise der Mittleren Jahre durchlaufen, während von der männlichen Lebenskrise in einer Spannbreite erzählt wird, die etwa um ein Jahrzehnt verschoben ist und von der vierten bis sechsten Dekade reicht. Nur in seltenen Fällen verweist die Titelkonvention ›Eine Frau/Ein Mann von … Jahren‹ nicht auf eine Alternserzählung, wie etwa in Hugo Lubliners heiterem Unterhaltungsroman Eine Frau von 19 Jahren (1887), so dass man insgesamt von einem Genre sprechen kann, das eine ausgeprägte formale Einheitlichkeit aufweist, die durch mehrere Systemreferenzen vom Titel, über die Erzählform bis hin zur Figurenkonstellation und zum Stoff hergestellt wird. Außerhalb des deutschsprachigen Raums besteht allerdings kein vergleichbar enger Zusammenhang zwischen dem Genre der Alternserzählung und der beschriebenen Titelform. Neben Balzacs bekannter Erzählung La femme de trentes ans finden sich nur wenige meist unmittelbar auf Balzac reagierende Texte wie etwa die Novelle La femme de quarante ans von Charles de Bernard, die 1838 in der Sammlung Le Nœud gordien erschien. Vereinzelte Beispiele in der englischsprachigen Literatur, zu denen auch Child Roda Dorrs A Woman of Fifty (1924) gehört, verweisen auf Autobiographien und stehen nicht im Zusammenhang mit einem Alternsnarrativ im engeren Sinn, wenngleich sich solche Autobiographien gelegentlich durch intertextuelle Verweise in diese Tradition stellen. So zum Beispiel das Journal d’homme de 40 ans (1937) von Jean Guehénno, der sich explizit auf Dante bezieht und die Beschreibung seines politischen Lebens aus der Perspektive eines Vierzigjährigen als Schilderung eines Mannes beschreibt, der sich »au millieu du chemin de ma vie« sieht. Der deutsche Übersetzter vereindeutigt diesen intertextuellen Bezug, wenn er den Titel mit Ein Mann von 40 Jahren überträgt.

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1960er Jahren als Umbruchsphase ins allgemeine Bewusstsein.6 Sie wurde bereits vor der Thematisierung in der Literatur um 1800 als Zäsur im Lebensverlauf angesehen. Schon in der Antike sah man entsprechend der Einteilung des menschlichen Lebens in zwölf Siebenerschritte – den so genannten Heptomaden – die Hälfte des Lebens mit dem 42. Jahr vollendet und erkannte im 49. Jahr eine kritische Schwelle, die gehäuft zum Tod führt.7 Während sich aber mit den anni climacterii der ersten Lebensalter oftmals auch eine gesellschaftliche Statuspassage verbindet, war die Mitte des Lebens in der Antike eine sozial wenig markierte Schwelle.8 Die bekannteste Thematisierung der Krise in der Lebensmitte stellt Dantes Göttliche Komödie dar. Eine erzählerische Gestaltung des allmählichen Bewusstseinswandels erfolgt indes erst in der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Lange bevor empirische Studien erhoben und die ›Midlife-Crisis‹ auf den Begriff gebracht worden war, wurde in der Dichtung von der Krise der Lebensmitte als Alternserfahrung erzählt. Bereits um 1800 entstanden mit Therese Hubers Roman Die Frau von vierzig Jahren, der 1799 im Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1800 erschien, und mit Goethes Der Mann von funfzig Jahren Erzählungen, in welchen die individuelle, krisenhafte Erfahrung des Alterns zwischen dem 30. und 50. Lebensjahrzehnt als Wandlungsprozess gestaltet wird. Um 1900 schließlich erscheinen die mittleren Lebensjahre angesichts der agonalen Konfrontation der Generationen9 als von außen bedrohte individuelle Entwicklungskrise, da die Scheidejahre zunehmend als Übergang zwischen zwei gegensätzlich semantisierten Altersklassen markiert waren: dem Nicht-Leben der Alten trat das Leben der Jugend unüberbrückt gegenüber.10 Diese beiden Aspekte, Altern als innere Erfahrung und als äußere, 6

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Den Begriff der ›mid-life crisis‹ prägte erstmals der Psychoanalytiker Elliott Jaques in einem Aufsatz von 1965, in dem er die Auswertung einiger hundert prominenter Künstlerbiographien und Fallgeschichten seiner Patienten dokumentierte (vgl. Elliott Jaques, »Death and the Mid-life Crisis«, in: The International Journal of Psycho-Analysis, 46 (1965), S. 502–514). Vgl. Baptist Codronchi, De annis Climactericis. Bonn 1620, S. 10–21. Zusammengefasst bei Karl Friedrich Heinrich Marx, »Zur Beurteilung des Werths und der Bedeutung der medicinischen Zahlenlehre«, in: Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft zu Göttingen (1868), S. 3– 66, hier S. 50. Mit dem 45. Lebensjahr verband sich nach Servius Tullius allerdings der Eintritt in die senior aetas und damit die Befreiung von der militärischen Dienstpflicht. Vgl. Philipp Eduard Huschke, Die Verfassung des Königs Servius Tullius, Heidelberg 1838, S. 143f. Demgegenüber berichtet Sueton davon, dass den Rittern bereits mit dem 35. Lebensjahr das Recht zugesprochen wurde, ihr Pferd abzugeben (Sueton Aug, 38). Zur agonalen Beziehung zwischen der Jugend und dem Alter, wie sie im Ausgang des 19. Jahrhunderts vermehrt beobachtet werden kann, vgl. auch Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen, Frankfurt a. M. 2000, S. 222–261. In der ökonomisch vorangetriebenen Dichotomisierung der Gesellschaft in die Jungen und die Alten erkennt Barbara Lube die Ursache für eine Reihe von Texten, die nach 1900 von einer Krise der Vierzig- bis Fünfzigjährigen handeln. Erst »angesichts der süßen Jugend«,

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soziale Konfrontation, kennzeichnen in unterschiedlicher Gewichtung die Alternsnarrative in der Moderne. Untersucht man Erzählungen von der Lebensmitte, die zwischen 1900 und der ersten wissenschaftlichen Beschreibung des Phänomens in der Psychologie um 1930 entstanden, so sind beide genannten Aspekte zu berücksichtigen: die Tradition der entwicklungspsychologischen Alternserzählung in der Nachfolge Goethes und die soziale Semantik der Altersklassen, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat.11 Im Folgenden soll am Beispiel von Arthur Schnitzlers 1913 erschienener Erzählung Frau Beate und ihr Sohn nachgezeichnet werden, wie in der Interferenz von Selbst- und Fremdwahrnehmung der Prozess der Alternserfahrung narrativiert wird und dadurch Einsichten, wie sie erst später in der Psychologie skizziert werden, vorweggenommen wurden. Inwieweit mit der Innensicht auf die Alternskrise zugleich auch ein kritischer Kommentar zur epochalen Konfrontation von Jugend und Alter formuliert wird, soll abschließend erörtert werden, indem Schnitzlers Erzählung in den Kontext der literarischen Erfindung des so genannten ›gefährlichen Alters‹ gestellt wird.

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die um 1900 eine bis heute wirksame Idealisierung erfährt, stehe die Lebensmitte in so unterschiedlichen Erzählungen wie Der Tod in Venedig und Casanovas Heimfahrt sowie den Romanen Der Steppenwolf, Exil und Der Tod des Vergil unter dem Zeichen einer Krise, die mit dem »Wunsch nach Neubeginn und Veränderung« verbunden ist, jedoch fast immer »an den Rand des Untergangs« führt. Lubes kursorischer Überblick konzentriert sich vor allem auf die Begegnung alternder Männer mit schönen Jünglingen, die gegengeschlechtliche Herausforderung spielt hingegen in ihren Überlegungen ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass die Erzählungen von der krisenhaften Lebensmitte nicht erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzten. Vgl. Barbara Lube, »›Angesichts der süßen Jugend‹. Beobachtungen zur literarischen Darstellung der ›Krise der Lebensmitte‹«, in: Thomas Koebner / Rolf-Peter Janz / Frank Tommler (Hrsg.), ›Mit uns zieht die neue Zeit‹. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 590–603, hier S. 602. Während Göckenjan aus einer diskursgeschichtlichen und soziologischen Perspektive von ›Altersgruppen‹ spricht, wird in der literaturwissenschaftlichen Forschung in Anlehnung an die historische Ethnologie der Begriff ›Altersklasse‹ bevorzugt, um die Korrelation der »sukzessive[n] Phasen des Lebens« mit »sozialen Zuständen« und altersspezifischen Erwartungscodes zu beschreiben (vgl. Michael Titzmann, »Die ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte der Goethe-Zeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche«, in: Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 7–64, hier S. 7). Auf die klassische Moderne und das Werk Arthur Schnitzlers übertragen, greift Wolfgang Lukas diese sozialpsychologische Begrifflichkeit auf. Vgl. Wolfgang Lukas: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers, München 1993 (Münchner Germanistische Beiträge 41), S. 186.

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II. Psychologische Konzepte der Lebensmitte Während um 1900 in der psychiatrischen Forschung allein das Klimakterium für die schmerzhaft empfundene Krise des Alterns bei der Frau verantwortlich gemacht wurde, wird die Alternskrise der 1930er Jahre in der Psychologie unabhängig von einer psychiatrischen und endokrinologischen Ursachenforschung ganzheitlich als eine Regelkrise der menschlichen Entwicklung sowohl bei der Frau als auch beim Mann in den Blick genommen. Gestützt durch biographische Analysen und empirische Studien erkannte man, dass nicht nur die Frau in der Zeit vor der Menopause eine Alternskrise durchläuft, sondern dass die Jahre in der Mitte des Lebens für beide Geschlechter eine Gefährdung der psychischen Integrität darstellten, die nicht allein auf hormonelle Ursachen zurückgeführt werden konnte. Noch in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dominierte in der Wissenschaft allerdings die Vorstellung, dass es sich um einen Prozess handelt, der analog zu den Wechseljahren der Frau ausschließlich durch eine Hormonumstellung bedingt ist. So findet sich noch bis heute der zuerst von Sigmund Freud geprägte Begriff vom ›Klimakterium des Mannes‹12, wenngleich dieser dazu beitrug, dass die männliche Alternskrise entweder auf den Testosteronspiegel reduziert oder aufgrund dieses defizitären Erklärungsmodells gänzlich als Fiktion abgelehnt wurde.13 Erst geschlechtsunabhängige Beobachtungen zur Identitätskrise der mittleren Lebensjahre führten dazu, dass das Phänomen aus soziopsychologischer Perspektive als komplexes Zusammenspiel von biologi-

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Bereits 1895 sprach Freud im Rahmen der sexualpathologischen Neurasthenie davon, dass es Männer gebe, »die wie die Frauen ein Klimakterium zeigen und zur Zeit ihrer abnehmenden Potenz und steigenden Libido Angstneurosen produzieren« (Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. 6: Hysterie und Angst, hrsg. von Alexander Mitscherlich / Angela Richards / James Strachey, Frankfurt a. M. 1971, S. 37). Diese Einschätzung wiederholt Freud auch nochmals an einem konkreten Fall. In den zwischen 1910 und 1911 entstandenen Psychoanalytischen Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia deutet Freud die Lebenskrise, welche der Arzt Daniel Paul Schreber im Alter von 51 Jahren erfahren und in den Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903) geschildert hat, als ein Beispiel für das Klimakterium des Mannes, welches analog zu den Wechseljahren der Frau von der eingreifenden sexuellen Rückbildung um das fünfzigste Lebensjahr bestimmt sei, während es zuvor zu einer Steigerung der sexuellen Funktion komme (vgl. Sigmund Freud, Studienausgabe. Bd. 7: Zwang, Paranoia und Perversion, Frankfurt a. M. 1973, S. 171f.).

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Zur Geschichte des Begriffs und Konzepts eines ›climacterium virile‹ vgl. Hans-Georg Hofer, »Medizin, Alter, Männlichkeit. Zur Kulturgeschichte des männlichen Klimakteriums«, in: Medizinhistorisches Journal, 42, H. 2 (2007), S. 210–245. Für den vor- und frühmodernen Gebrauch des Konzepts vgl. auch Michael Stolberg: »Das männliche Klimakterium. Zur Vorgeschichte eines modernen Konzepts (1500–1900)«, in: Martin Dinges (Hrsg.), Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel, ca. 1800 bis ca. 2000, Stuttgart 2007, S. 105–121.

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schen Veränderungen und kulturellen Erwartungscodes im Lebenszusammenhang beschrieben wurde.14 Die ersten wissenschaftlichen Studien werteten, ähnlich wie Jahrzehnte später die ersten Arbeiten zur ›Mid-life-Crisis‹,15 aus Mangel an empirischen Erhebungen vor allem literarische und biographische Quellen aus und versuchten daraus eine Klassifikation abzuleiten. Meist geschieht dies allerdings in einer unredlichen Vermischung von Autorbiographie und Werkgeschichte. Gewiss mag es im Sinn einer literatur- und kulturgeschichtlichen Analyse methodisch fragwürdig erscheinen, das Spätere, nämlich die psychologische Klassifizierung, zuerst zu behandeln und die vorausgehende literarische Gestaltung der kritischen Lebensmitte erst danach anzuführen. Jedoch soll die Anachronie nicht dazu dienen, im Sinn einer retrospektiven Teleologie die Archäologie der Alternspsychologie aus dem Geist der Literatur zu schreiben. Sie soll – in Anbetracht annähernder Gleichzeitigkeit – vielmehr den Blick für die Symptomatik der Alternskrise schärfen. Dass die Literatur vorbegrifflich ein paar Jahrzehnte früher als die Psychologie und etwas nach der medizinischen Erforschung der Klimakteriums-Depression vermehrt von einer Krise der Lebensmitte erzählt, unterstreicht das enge Geflecht der Austauschbeziehungen und Diskurskreuzungen zwischen Medizin, Literatur und Psychologie, welche die Rede von der Alternskrise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts virulent erscheinen lässt. Um 1930 traten im Zuge der Psychologisierung an die Stelle der medizinisch eingeengten Begriffe ›Klimakterium‹ und ›Wechseljahre‹ Metaphern wie die des »Mittagsumsturzes« und der »psychischen Mittagsrevolution« bei Carl Gustav Jung16 und psychosomatische Modelle, welche die Krise der Lebensmitte für beide Geschlechter durch die »Anfänge des Al14

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Einen aktuellen Überblick über das komplexe Zusammenspiel von Lebenskrise, Alternserfahrung und Zeitperspektive bei der Frau wie beim Mann gibt Bernadette Müller, Identität. Soziologische Analysen zur gesellschaftlichen Konstitution der Individualität, Wiesbaden 2011, S. 202– 208. Zum Ursprung des Begriffs vgl. Anm. 6. Als populärwissenschaftlicher Modebegriff für eine plötzliche Umorientierung im fortgeschrittenen Erwachsenenalter tritt er erst in den 1970ern in den USA und wenig später in Deutschland auf. Ein frühes Beispiel für die lebenspraktische Übersetzung des Begriffs findet sich im Magazinartikel »Flame-out after 35« des Psychiaters Herbert L. Klemme (The Rotarian, 9 (1970), S. 20–23). In Deutschland wurde der Begriff ebenfalls schon früh von den Medien aufgegriffen, so etwa in einem Beitrag der Zeitschrift Emma zu den Wechseljahren des Mannes aus dem Jahr 1977. Im gleichen Jahr erschien die populäre Darstellung Midlifecrisis (München 1977) von Hermann Schreiber. Carl Gustav Jung, »Die Lebenswende«, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 8: Die Dynamik des Unbewussten, hrsg. von Marianne Niehus-Jung u. a., Olten und Freiburg i. Brsg. 1971, S. 441–460, hier S. 453f.

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terns«17 als Erfahrung begründet sahen. So charakterisiert Jung in einem Vortrag, den er im Frühjahr 1930 unter dem Titel Die Lebenswende hielt, die Krise der Lebensmitte als schleichenden Prozess, in dem sich ein Missverhältnis von persistenten, jugendlichen Selbstbildern und dynamisch fortschreitendem Lebensverlauf aufbaut, das um so größer wird, je erfolgreicher die erste Hälfte des Lebens gemeistert wurde: Je mehr man sich der Lebensmitte nähert und je mehr es einem gelungen ist, sich in seiner persönlichen Einstellung und sozialen Lage zu festigen, desto mehr will es einem scheinen, daß man den richtigen Lauf des Lebens und die richtigen Ideale und Prinzipien des Verhaltens entdeckt habe. Darum setzt man dann ihre ewige Gültigkeit voraus und macht sich eine Tugend daraus, an ihnen auf immer hängen zu bleiben. Man übersieht die eine wesentliche Tatsache, daß die Einrichtung des sozialen Zieles auf Kosten der Totalität der Persönlichkeit erfolgt. Vieles, allzuvieles: Leben, das auch hätte gelebt werden können, blieb vielleicht in den Rumpelkammern verstaubter Erinnerung liegen, manchmal sind es auch glühende Kohlen unter grauer Asche.18

Der Zusammenhang von Identitätsbildung und ungelebtem Leben, den Jung skizziert, verweist ebenso wie das Bild der »glühenden Kohlen« auf ein psychisches Risiko, das vom Bewusstsein ausgeht, die Lebensmitte erreicht zu haben: zum einen die Depression, die das eigentliche, aber versäumte Leben betrauert und zum anderen das anachronistische Verlangen, ausgeschlossene Aspekte des Kindes- und Jugendalters nachzuholen. Daher wird die »Lebenswende« auch in der aktuellen Forschung gelegentlich als »zweite Pubertät« bezeichnet, die sich lediglich darin von der ersten unterscheide, dass nicht mehr das Erwachsenwerden, sondern das Älterwerden erlernt werden müsse.19 Dass sich diese Bedrohung der bisherigen Identität nicht unvermittelt in der Lebensmitte einstellt, beschreibt Jung ebenfalls in seinem Essay. Sie sei zunächst keine bewusste und auffallende Veränderung, vielmehr handelt es sich um indirekte Anzeichen von Veränderungen, die im Unbewußten ihren Anfang zu nehmen scheinen. Manchmal ist es wie eine langsame Charakteränderung, ein anderes Mal kommen Eigenschaften wieder zum Vorschein, die seit dem Kindesalter verschwunden waren, oder die bisherigen Neigungen und Interessen fangen an zu verblassen, und an ihre Stelle treten andere […].20 Die Gründe, die Jung für diese tiefgreifenden Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur nennt, bleiben allerdings im Metaphorischen. Die Le17 18 19

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So etwa Erich Stern, Anfänge des Alterns. Ein psychologischer Versuch, Leipzig 1931. Jung, »Die Lebenswende«, S. 451. Vgl. Eva Monika Meili-Lüthy, Persönlichkeitsentwicklung als lebenslanger Prozess. Progressionen und Regressionen im menschlichen Lebenslauf, Bern u. a. 1982, S. 113. Die Formulierung von der ›zweiten Pubertät‹ greift auch Lube in ihrem Aufsatz zur literarischen Gestaltung der Midlife-Krise auf (vgl. Lube, »›Angesichts der süßen Jugend‹«, S. 590). Jung, »Die Lebenswende«, S. 451.

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bensmitte ist für ihn eine »Lebenswende«, an der das Leben wie der Lauf der Sonne eine andere Richtung nimmt. Nicht die zunehmende »Besorgnis vor Unglück«, die Schopenhauer als Scheide zwischen der ersten und zweiten Lebenshälfte erkennt,21 sondern die »Umkehrung aller Werte und Ideale des Morgens«,22 also der Jugendzeit, erzwingt für Jung in der Lebensmitte eine grundlegende Neubestimmung der eigenen Identität, die auf eine bewusste Selbstproblematisierung hinausläuft. Pathologisch werde die Krise der Lebensmitte nur dann, wenn sich der Wahn durchsetzt, dass »die zweite Lebenshälfte von den Prinzipien der ersten regiert werden müsse« und sich der Mensch aus Furcht vor dem Unbekannten der neuen Lebensphase an Jugend und Kindheit klammert.23 Während Jung die Alternskrise vor allem persönlichkeitspsychologisch auffasst, nimmt etwa zur gleichen Zeit der Gießener Psychologe und Pionier der Psychosomatik Erich Stern auch die soziale Figuration der Alternskrise in den Blick. In seinem Essay Anfänge des Alterns von 1931 verschränkt er Beobachtungen und Leseeindrücke zu einer Phänomenologie der kritischen Jahre, die sich neben der Furcht vor dem körperlichen Verfall und dem Bewusstwerden der eigenen Sterblichkeit vor allem durch ein verändertes subjektives Zeiterleben und eine prekäre soziale Position zwischen der Gruppe der Jungen und der Alten auszeichnen. Während der »Gegensatz zu den Älteren an Schärfe verliert«,24 obwohl noch Achtung eingefordert wird, wächst die Generation der eigenen Kinder insbesondere auf dem Gebiet der Sexualität zu Konkurrenten heran. In der Summe ist es vor allem der schleichende Verlust des sexuellen Geltungsanspruchs, der das eigene Altern in den mittleren Jahren bewusst werden lässt und oftmals zur kompensatorischen Flucht ins sexuelle Erlebnis führt: Die ›Liebe‹ soll hier zeigen, was man noch über andere Menschen vermag, sie ist, wie ja auch sonst häufig, nur Mittel zur Befriedigung des Geltungsanspruches. Und manchmal spielt auch […] das Motiv mit, nichts versäumen, keine Möglichkeit ungenutzt vorübergehen lassen zu wollen, die Furcht vor dem Alter, das keine Erlebnisse mehr ermöglicht. Das Schwinden der körperlichen Reize, das Begehrtwerden, der Genußfähigkeit auf erotischem Gebiet bringt überhaupt wie kaum etwas anderes dem Menschen zum Bewußtsein, daß die B l ü t e z e i t d e s L e b e n s v o r ü b e r ist, und die Furcht vor dem erotischen Verfall kann unmittelbar in die Neurose führen, besonders wiederum bei der Frau.25

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Arthur Schopenhauer, »Vom Unterschiede der Lebensalter«, in: ders., Aphorismen zur Lebensweisheit, hrsg. von Rudolf Marx, Stuttgart 41963, S. 234–263, hier S. 239. Ebd. Vgl. ebd., S. 452–455. Stern, Die Anfänge des Alterns, S. 29–35. Ebd., S. 36.

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III. Arthur Schnitzler Frau Beate und ihr Sohn (1913) Auch Stern zieht seine Schlüsse aus einer ganzen Reihe literarischer Werke, die er der Weltliteratur ebenso wie der zeitgenössischen Gegenwartsliteratur entnimmt und die zugleich die Allgemeingültigkeit seiner Beobachtungen beglaubigen sollen. Schnitzlers Erzählung Frau Beate und ihr Sohn führt er allerdings nicht an. Dies mag daran liegen, dass das Skandalon der Inzestgeschichte, die im ursprünglichen Titel »Mutter und Sohn« noch deutlicher hervor gehoben war,26 die erzählte Alternskrise in den Hintergrund treten ließ.27 Die Erzählung spielt während einiger Sommerwochen um 1910 an einem der Kärntner Seen.28 Seit fünf Jahren ist Beate 26

Die Entstehung der Erzählung erstreckte sich von 1906 bis Januar 1913. Die erste inhaltliche Skizze legte Schnitzler im November 1906 an. Sie enthält bereits den Parallelkonflikt von einer Mutter, die einerseits ihren »heranwachsenden« Sohn vor der sexuellen Verführung einer anderen Frau beschützen will, sich aber andererseits »ganz unbewusst« in »einen Freund, einen jungen Burschen«, ihres Sohnes verliebt, der »heranwächst« gleich ihrem Sohn (vgl. XXXVII Mappe 137, Blatt 10). Die erhaltenen Entwürfe tragen bis zum 16. April 1910 den Titel Mutter und Sohn, erst die endgültige Fassung, die Schnitzler im Winter 1911/12 diktiert, erhält den neuen Titel. In seiner Biographie gibt Giuseppe Farese den 14. Januar 1913 an, als das Datum, an dem die »Novelle Beate« abgeschlossen worden sei (vgl. Giuseppe Farese, Arthur Schnitzler. Ein Leben in Wien 1862–1931, München 1999, S. 161). Zitate aus den handschriftlichen Entwürfen und Typoskripten folgen den Kopien aus dem Arthur-Schnitzler-Archiv in Freiburg in der Zählung des Findbuches Gerhard Neumann / Jutta Müller, Der Nachlaß Arthur Schnitzlers. Verzeichnis des im Schnitzler-Archiv der Universität Freiburg i. Br. befindlichen Materials. Mit einem Vorwort von Gerhart Baumann und einem Anhang von Heinrich Schnitzler: Verzeichnis des in Wien vorhandenen Nachlaßmaterials, München 1969. Einen knappen Überblick über die Entstehungsgeschichte anhand der erhaltenen Aufzeichnungen im Schnitzler-Archiv findet sich in Reinhard Urbach, Schnitzler-Kommentar. Zu den erzählenden Schriften und dramatischen Werken, München 1974, S. 71.

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Schnitzler hatte die Erzählung für die autorisierte Ausgabe Gesammelter Werke von 1928 zusammen mit Doktor Gräsler, Badearzt (1917) und Casanovas Heimfahrt (1918) unter dem Sammeltitel Die Alternden (Novellen) als Band 6 zusammengefasst. Damit war deutlich markiert, dass auch in Frau Beate und ihr Sohn aus Sicht des Autors die Erfahrung des Alterns im Mittelpunkt stand, während die Kritik bis dahin vor allem die inzestuöse Figuration zwischen Mutter und Sohn beachtet hatte (vgl. Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. 6 Bde. Berlin: S. Fischer 1928). Noch in der Ausgabe von 1922 waren zwar die drei Texte im vierten Band der Erzählenden Schriften in der Ausgabe Gesammelte Werke in zwei Abteilungen bereits zusammengestellt, jedoch lediglich als Novellen betitelt. Der Sammeltitel Die Alternden korrespondiert in der Ausgabe von 1928 mit dem Band 5 Die Erwachenden, in dem Fräulein Else, Die Frau des Richters und Traumnovelle thematisch zusammengefasst sind. Peter Sprengel vermutet, dass Bad Ischl das Vorbild für den Handlungsort der Erzählung darstellt (vgl. Peter Sprengel, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 9: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 2004, S. 240). Dagegen spricht aber sowohl die fehlende Seelage Ischls als auch die Notiz in den Entwürfen, dass die Erzählung an einem der Kärntner Seen spielt (vgl. XXXVII Mappe 137, Blatt 11). Die Wahl eines Badeorts in Kärnten fügt sich in das Motivfeld der Mittagswärme und Schwüle, welche sich durch die gesamte Erzählung erstreckt, gelten die Kärntner Seen im Sommer doch als

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Heinold verwitwet, verbringt aber wie in den Jahren ihrer Ehe die Zeit der Sommerferien mit ihrem Sohn Hugo in der eigenen Seevilla auf dem Land. Sie ist gesellschaftlich angesehen und verkehrt in wohlhabenden bürgerlichen Kreisen. Argwöhnisch beobachtet sie das sexuelle Erwachen ihres pubertierenden Sohns, da sie fürchtet, ihn als Kind zu verlieren. Umgetrieben von der Sorge, Hugo könnte am Ort eine Affäre haben mit der wesentlich älteren Baronin Fortunata, einer früheren Schauspielkollegin ihres Mannes, stellt sie diese erfolglos zur Rede. Nach dem an erotischen Anspielungen reichen Gespräch scheinen alle Personen in ihrer Umgebung ein gesteigertes sexuelles Begehren aufzuweisen. Dieser projektiv überformten Wahrnehmung versucht Beate sich zunächst zu widersetzen: Während sie die zahlreichen Avancen, die ihr vom befreundeten Rechtsanwalt Doktor Teichmann, dem jugendlichen Arzt Doktor Bertram und dem verheirateten Direktor Welponer entgegengebracht werden, von sich weist, lässt sich die junge Witwe schließlich jedoch von Fritz Weber, einem Schulkameraden ihres Sohnes verführen. Als sie an einem schwülen Abend belauscht, wie Fritz mit seiner ›Errungenschaft‹ prahlt, fühlt sie sich zur Hure degradiert. Sie will der Situation entfliehen und mit ihrem Sohn nach Italien aufbrechen. Hugo vermag sie allerdings nicht von ihrem Plan zu überzeugen. Sie findet ihn niedergeschlagen und entfremdet vor und ahnt, dass er bereits alles von ihrer Affäre weiß. Den drohenden emotionalen Verlust ihres Sohnes wie auch die gesellschaftliche Schmach, die sich aus der Mesalliance ergibt, glaubt sie nur durch einen gemeinsamen Freitod aufheben zu können. Nach einem abendlichen Spaziergang fahren Mutter und Sohn alleine auf den nächtlichen See hinaus, um in einer inzestuösen Vereinigung ins Wasser zu gehen. Das Alter Beates wird in der ganzen Erzählung nicht explizit genannt, sondern ist nur indirekt über eine Reihe von Alters- und Zeitangaben erschließbar. Zum Zeitpunkt der Erzählung ist Beate seit fünf Jahren Witwe. Sie hat mit ihrem Gatten Ferdinand Heinold, einem einst erfolgreichen Wiener Schauspieler, den inzwischen siebzehnjährigen Sohn Hugo und erinnert sich daran, dass sie vor »bald zwanzig Jahre[n]«29 ihren Mann aus »stadtbekannten Beziehungen zu einer nicht mehr jungen, reichen Witwe« befreit und ihn bald darauf geheiratet hatte.30 Aufgrund dieser Angaben lässt sich Beate auf annähernd 40 Jahre schätzen.31 Während ei29

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besonders warme Gewässer. Arthur Schnitzler, »Frau Beate und ihr Sohn«, in: ders.: Ausgewählte Werke in acht Bänden. Bd. 2: Casanovas Heimfahrt. Erzählungen 1909–1917, hrsg. von. Heinz Ludwig Arnold, Frankfurt a. M. 1999, S. 76–154, hier S. 82. Ebd., S. 81. Im ersten Entwurf gibt Schnitzler zwar an, dass die Mutter »eine Frau von ungefähr 35 Jahren« sei. Im selben Entwurf sind jedoch auch alle anderen Altersangaben niedriger. So sei sie »seit drei oder vier Jahren Witwe, in behaglich ruhigen Verhältnissen. Einziger Sohn

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nerseits das genaue Alter Beates unbestimmt bleibt, finden sich in der Erzählung auffällig oft Zeitangaben, mit denen Beate sich die vergangenen zwanzig Jahre wiederholt ins Bewusstsein ruft und mit der Gegenwart abgleicht. So wurde ihre Villa in der Sommerfrische »vor nun zehn Jahren« gebaut,32 auch die den Ort umgebenden Berge hat sie zuletzt »vor zehn Jahren schon, in demselben Sommer also, als sie die neugebaute Villa bezogen hatten«,33 bestiegen und »[n]och deutlich erinnerte sie sich der Wettfahrt vor sieben Jahren, bei der Ferdinand Heinold mit der ›Roxane‹ den zweiten Preis gewonnen hatte«.34 Und wenn sie schließlich in einem imaginierten Gespräch versucht, ihren Sohn Hugo zu einer gemeinsamen Reise nach Italien zu überreden, ruft sie ihm ins Gedächtnis: »Wieder so eine Reise, wie vor zwei Jahren im Frühling. Erinnerst du dich?«35 Alle diese Zeitangaben gehören als direkte oder durch die temporalen Modalpartikel »nun« und »schon« als erlebte Rede dem Personentext an und markieren Beates Versuche, die gelebte Zeit zu rekonstruieren. Der Text lässt sich insoweit als Narrativierung der Alternskrise lesen, als die impliziten Altersangaben über den subjektiv eingefärbten Personentext vorführen, wie die Erfahrung des eigenen Alterns zunächst, wie es Carl Gustav Jung formuliert, nur im »Unbewußten ihren Anfang«36 nimmt. Schnitzlers Erzählung stellt das ›Unbewusste‹ allerdings nicht im Sinne Jungs oder Freuds dar. Vielmehr spiegeln die Passagen, in denen Beate ihr eigenes Altern allmählich wahrnimmt, jenen Bewusstseinszustand wider, den Schnitzler in seinen Notizen Über Psychoanalyse von 1924 als das ›Mittelbewusstsein‹ bezeichnet. Dieses entspricht weitgehend dem ›Vorbewusstsein‹, wie es Freud in seinem ersten Modell der menschlichen Psyche beschrieben hat, und galt für Schnitzler als das »ungeheuerste Gebiet des Seelen- und Geisteslebens«.37 Im Mittelbewusstsein »steigen die Elemente ununterbrochen ins Bewußte auf oder sinken ins Unbewußte

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ungefähr sechzehn« (vgl XXXVII Mappe 137, Blatt 11). Für die endgültige Fassung hat Schnitzler das Alter Beates etwas erhöht und sie damit näher an die Gruppe der Frauen von etwa vierzig Jahren herangeführt. Seit den titelgleichen Romanen Eine Frau von vierzig Jahren von Charlotte Ahlefeld und Therese Huber verweist dieser Typus auf ein Genre der Krisenerzählung, das wiederholt in der Literatur gestaltet wurde. Auch die zeitgenössische Kritik hat Beate im kritischen Alter von vierzig Jahren gesehen, wie etwa eine schwedische Doppelrezension von Schnitzlers Erzählung und Jakob Wassermanns kleinem Roman Der Mann von vierzig Jahren nahe legt (vgl. Margot Elfving Vogel, Schnitzler in Schweden. Zur Rezeption seiner Werke, Uppsala 1979 (Studia Germanistica Upsaliensia 23), S. 110). Schnitzler, »Frau Beate und ihr Sohn«, S. 84.

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Ebd., S. 105.

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Ebd., S. 109.

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Ebd., S. 129.

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Jung, »Die Lebenswende«, S. 451. Arthur Schnitzler, »Über Psychoanalyse«, in: Reinhard Urbach (Hrsg.), Protokolle, 2 (1976), S. 277–284, hier S. 283.

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hinab«.38 Daher ist es für Schnitzler die Scharnierstelle der menschlichen Psyche und das eigentliche Gebiet des literarischen Interesses, vor allem auch, weil die Inhalte des Mittelbewusstseins der Sprache zugänglich bleiben:39 »Die Elemente des Mittelbewusstseins sind in steter Bewegung und der leiseste Anreiz kann ein solches Element ins Bewußtsein hinauftreiben. Wäre dies nicht der Fall, so gäbe es weder ein Denken noch eine seelische Entwicklung«.40 Zu diesen ins Mittelbewusstein abgedrängten Elementen gehört auch die Erkenntnis der eigenen Zeitlichkeit, die plötzlich durch den »leiseste[n] Anreiz« zum Bewusstsein kommt, ähnlich wie es die Marschallin in Hugo von Hofmannsthals Rosenkavalier gegenüber ihrem jugendlichen Geliebten Octavian zu bedenken gibt: Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie: sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder. Lautlos, wie eine Sanduhr.41

Dieses plötzliche Bewusstwerden der unmerklich dahin schreitenden Zeit gestaltet auch Schnitzler in seiner Erzählung. Dort ist es Beate, die sich durch kleine Gesten und beiläufige Begegnungen nahezu unmerklich der desintegrierenden Wirkung der Zeit bewusst wird. Es gehört zur narrativen Strategie des Textes, diesen Prozess als einen fließenden Austausch mit dem Vorbewussten darzustellen, wie er etwa durch die correctio und die nachvollzogene Erinnerungen in einer der ersten Begegnungen mit Fritz, dem späteren Geliebten Beates, abgebildet wird: Fritz verbeugte sich etwas steif, dann küßte er Beatens Hand, was sie sich wie mit Ergebung in den raschen Lauf der Jahre gefallen ließ; endlich entfernte er sich mit gehobenem Selbstgefühl, das in seiner Haltung und seinem Gang zum Ausdruck kam. Und das, dachte Beate, ist nun ein Freund von meinem Hugo. Freilich, etwas älter als der, um eineinhalb oder zwei Jahre gewiß. Er war ja früher auch in einer höheren Klasse gewesen, Beate erinnerte sich, nur hatte er einmal repetieren müssen.42

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Ebd. Zu Schnitzlers Konzept des Mittelbewusstseins und den Strategien der Verbalisierung vgl. Achim Aurnhammer: »Lieutenant Gustl«. In: Hee-Ju Kim und Günter Saße (Hrsg.). Interpretationen. Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen, Stuttgart 2007, S. 69–88. Ebd., S. 284. Hugo von Hofmannsthal, »Der Rosenkavalier«, in: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 23: Operndichtungen I, Frankfurt a. M. 1986, S. 7–101, hier S. 40. Schnitzler: »Frau Beate und ihr Sohn«, S. 86.

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Von der Forschung wurde Frau Beate und ihr Sohn bisher nur wenig beachtet und im Zusammenhang mit Berta Garlan vor allem als Erzählung eines sexuellen Normenkonflikts gedeutet.43 Dass dieser Normenkonflikt auch über die Erzählhaltung vermittelt wird, darauf hat bereits Michael Titzmann hingewiesen:44 So entspreche dem Wechsel zwischen Unmittelbarkeit und Distanz, die der Erzähler zur Protagonistin aufbaut, der Grad der affektiven Besetzung des Geschehens und der Gedanken. Je stärker ein Vorgang emotional – man kann auch sagen im Sinne einer affektiven Dissonanz – besetzt ist, desto direkter gibt der Erzähler die Gedanken und psychischen Vorgänge seiner Protagonistin wieder. Er zwingt dem Leser Beates Perspektive dort auf, wo sie am unsichersten erscheint. Der Erzählmodus wechselt etwa nach Beates Besuch bei Fortunata, in dem Moment, als sie sich vorstellt, dass die jugendlichen Geschwisterpaare, die im Garten von Direktor Welponers Villa Tennis spielen, »ohne jedes Hindernis ihren geheimen, jetzt vielleicht von ihnen selbst nicht geahnten Trieben folgen dürften«.45 Die Personalisierung der Perspektive nimmt zu, je mehr Beate sich selbst in Beziehung zu einer als triebhaft imaginierten Gegenwelt der Jugend setzt und die Altersunterschiede in der erinnerten Identität aufhebt. In der suchenden Erinnerung, die im Text durch rhetorische Selbstbefragung, Korrekturen und Abbrüche, aber auch rhythmisierende Alliterationen und Antonyme abgebildet wird, inszeniert Schnitzler den Prozess der Bewusstwerdung von Erfahrungsinhalten, die Beate in ihr Mittelbewusstsein abgedrängt hatte: Und plötzlich fiel ihr ein, daß es ja solche gesetzlose Welten gab; daß sie selbst eben aus einer solchen emporgestiegen kam und den Duft von ihr [d. h. Fortunata, T.F.] noch in den Haaren trug. Darum nur sah sie ja heute, was ihren harmlosen Augen sonst immer entgangen war. Darum nur –? Waren jene Welten ihr einstmals nicht geheimnisvoll vertraut gewesen? War sie nicht selbst einst die Geliebte von Gesegneten und Gezeichneten . . Spiegelklaren und Rätselvollen . . von Verbrechern und Helden . . ?46

In der erlebten Rede wird die Projektion der »gesetzlose[n] Welten« mit der Erinnerung an ihre verdrängte Sexualität überblendet und so die Altersgrenze zu den jungen Paaren, die wenig älter als ihr Sohn sind, überspielt. Dadurch wird die spätere Beziehung zum ebenfalls achtzehnjährigen Fritz psychologisch vorbereitet und plausibilisiert. 43

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Vgl. etwa die Zusammenschau bei Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 bis 1918, S. 240f. Michael Titzmann, »Normenkrise und Psychologie in der Frühen Moderne. Zur Interpretation von Arthur Schnitzlers ›Frau Beate und ihr Sohn‹«, in: Recherches germaniques, 25 (1998), S. 91–112, hier S. 99. Schnitzler: »Frau Beate und ihr Sohn«, S. 97. Ebd.

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Mit der Zugehörigkeitsfrage ist aber auch jene nach Beates Identität aufgeworfen. Die gegenläufige Erinnerung an ihr verdrängtes, »gesetzloses« Begehren einer Vielzahl von Männern, die Ferdinand als Schauspieler verkörperte, und das bewusste Eingeständnis, dass auch Ferdinand nicht der treue und ausschließlich sie liebende Gatte und Vater war, zu dem sie ihn stilisiert hatte, unterminiert Beates aktuelles Selbstbild ebenso, wie die verdrängte aber latente Parallele zu Fortunata. Bereits die Namen beider Frauen spielen mit den gleitenden Übergängen von Differenz und Identität, da beide lateinische Namensformen doch auf Aspekte des Glücks referieren und beiden Frauen vor nicht allzu langer Zeit der Gatte gestorben ist. So fühlt sich Beate an einer späteren Stelle mit der zunächst abgewehrten Fortunata sogar seelenverwandt, nachdem sie sich ihres Verhältnisses mit dem Schulkameraden ihres Sohnes bewusst geworden ist und die Ausweglosigkeit ihrer Lage erkennt, bemerkt der Erzähler: »Und wie einer Schwester dachte sie für einen Augenblick jener andern«.47 Den jungen Paaren auf dem Tennisplatz steht die Welt der Älteren auf der Terrasse der Welponerschen Villa gegenüber. Die vermeintliche Stabilität und Sicherheit, die von dort ausgeht, wird durch die Erzählerrede distanziert. Das dargestellte Leben der Älteren entspricht zwar dem gesellschaftlichen Erwartungscode, der sich auch an die Witwe Beate richtet, berührt sie aber nicht. Ihre Zugehörigkeit bleibt vielmehr nur äußerlich, wie der unauffällige Modus des Erzählerberichts zeigt, der die Selbstvergewisserung Beates in ihrem Gefühl »von Sicherheit und Dazugehören« konterkariert: Oben auf der gedeckten, etwas zu prächtigen Terrasse fand Beate die beiden Ehepaare Welponer und Arbesbacher beim Tarockspiel. […] Ein Gefühl von Sicherheit und Dazugehören kam hier über sie, wie sie es bei den jungen Leuten draußen nicht empfunden hatte; – das sie beruhigte und zu gleicher Zeit traurig machte.48

Im Werben des etwas älteren Direktors, das Beate an diesem Tag erstmals deutlich wahrzunehmen glaubt, erkennt sie schließlich nur die Aussicht auf das eigene Alter. Wie schon die überzeichnete Darstellung Fortunatas als gealterte Frau, die in den Augen Beates zu einem Pierrot-Gesicht überformt nur mehr eine Scheinvitalität besitzt,49 erscheint auch Welponer als bedrohlicher Spiegel ihrer eigenen Zukunft. Zwar verlockt sie die Vorstellung, vielleicht einmal Gattin des wohlhabenden Direktors zu werden und 47

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Ebd., S. 149. Den Hinweis auf die Angleichung beider Frauenfiguren verdanke ich Victoria Weidemann, die Schnitzlers Erzählung ausführlich in ihrer im Sommersemester an der LMU München eingereichten Bachelor-Arbeit Inzest in Naturalismus und Décadence (hier S. 28) behandelt. Ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 90.

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in die Villa Welponer einzuziehen, doch seine Avancen erforderten den Bruch mit ihrer eigenen Jugend. Dass Beate emotional von der »Affektation« des Direktors wenig berührt wird, diese sogar zurückweist, bildet wiederum der distanzierte Erzählerbericht ab: Der Direktor warf einen trüben Blick nach jener Seite [zum Tennisplatz, T.F.], den Beate nicht zum erstenmal an ihm gewahrte. Aber ihr war, als verstünde sie auch den heute zum erstenmal. Sie wusste, dass der Direktor mitten in seiner angestrengten und erfolgreichen Tätigkeit eines kühnen Finanzmannes von der Melancholie des Alterns angerührt war. Und während er an ihrer Seite schritt, die hohe Gestalt nur wie aus Affektation ein wenig vorgebeugt, und ein leichtes Gespräch mit ihr führte […] spürte Beate immer wieder, dass es sich zwischen ihm und ihr, gleich unsichtbaren Herbstfäden, hin und her spann […].50

So ist es auch konsequenterweise Welponer, dem Schnitzler eine populärphilosophische Auffassung von der Opposition zwischen »Jugendmensch« und »Altgeborene[m]« in den Mund legt. Demnach sei der Alterungsprozess kein Resultat der gelebten Zeit, sondern Folge eines Charakterzugs. Seinen Vergleich mit dem »Jugendmenschen« Ferdinand nimmt Beate »gespannt, aber mit innerem Widerstand« auf,51 da sie ihn als implizite Aufforderung verstehen muss, sich selbst zwischen dem Schein einer andauernden Jugendlichkeit und dem Alter zu entscheiden: ›Was für ein unvergleichlicher Künstler war er doch gewesen, was für ein herrliches Menschenexemplar! Ein Jugendmensch dürfte man wohl sagen. […] Ich, liebe Frau Beate, ich bin nämlich ein Altgeborener. Sie wissen nicht, was das heißt? Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Sehen Sie, wir Altgeborenen, wir lassen im Laufe unseres Daseins gleichsam eine Maske nach der andern fallen, bis wir, als Achtzigjährige etwa, manche wohl etwas früher, der Mitwelt unser wahres Gesicht zeigen. Die andern, die Jugendmenschen, und so einer war Ferdinand‹, ganz gegen seine Gewohnheit nannte er ihn beim Vornamen, ›bleiben immer jung, ja Kinder, und sind daher genötigt, eine Maske nach der andern vors Gesicht zu nehmen, wenn sie unter den anderen Menschen nicht allzusehr auffallen wollen. Oder sie gleitet von irgendwoher über ihre Züge und sie wissen selber gar nicht, dass sie Masken tragen, und haben nur ein wunderliches dunkles Gefühl, dass irgend etwas in der Rechnung ihres Lebens nicht stimmen kann… weil sie sich immer jung fühlen‹.52

Die Erzählung führt schließlich vor, dass Beate Welponers CharakterDichotomie abwehrt, weil sie, die ihrem Mann im sexuellen Verlangen ähnlicher ist, als sie es sich zunächst eingestehen wollte, selbst eine Maske nach der anderen aufsetzt, um Jugendmensch bleiben zu können, und dies weniger als eine Frage des Charakters als vielmehr der Alternserfahrung wahrnimmt. So imaginiert sie sich insbesondere im abwehrenden Ver50 51 52

Ebd., S. 99. Ebd., S. 111. Ebd.

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gleich mit Fortunata nicht nur als jünger,53 sondern erfährt sich über das Begehren, das ihr vom Schüler Fritz entgegengebracht wird, tatsächlich als jung: War es nicht seltsam, dass man sie noch begehrte, sie, die schon die Mutter eines Sohnes war, der seine Nächte bei einer Geliebten verbrachte? Warum seltsam? Sie war so jung, jünger vielleicht als jene Fortunata war. Und mit einem Male, quälend deutlich und doch mit einer schmerzlichen Lust, vermochte sie unter ihrer leichten Hülle die Umrisse ihres Körpers zu fühlen.54

Je mehr sich in Beates Bewusstsein Erinnerungen früherer Leidenschaft mit dem Verlangen nach der Jugend überlagern, desto mehr verändert sich auch ihr Zeitbewusstsein. Wiederholt wird vom Erzähler vorgeführt, dass Beate den Zeitverlauf verinnerlicht und je nach affektiver Besetzung in seiner Dauer relativiert. So als hielte die Zeit auf der Schwelle zum Alter nochmals inne, wie auch der Sommer im Ferienort außerhalb der Zeittaktung des Wiener Alltags verstreicht, dehnt oder verkürzt sich für Beate die Zeit zur »reinen Dauer«55 im Sinn Henri Bergsons. »Wie viele Stunden oder Tage lang war sie von dort bis hierher gegangen!«56, fragt sich Beate mit Blick auf das Haus Fortunatas im Tal, das sie erst vor wenigen Minuten verlassen, dessen Besuch sie innerlich aber so verändert hat, als sei schon sehr viel mehr Zeit verstrichen. Noch deutlicher wird die subjektive Zeitdehnung in der Rückerinnerung an frühere Sommeraufenthalte: Beate empfand es als seltsam, dass ihr jenes vorige Jahr fern und wie unter einem andern Himmelsstrich ihres Lebens gelegen erschien, trotzdem sich ihr Dasein äußerlich kaum anders abgespielt hatte als in diesem Sommer.57

Je mehr sich Beate aus der ihr zugeschriebenen gesellschaftlichen Altersrolle als Mutter und Witwe löst, desto mehr gibt sie sich der »reinen Dauer« hin und verweigert sich der kalendarischen Zeit. So vermag sie nicht mehr genau zu erinnern, wann sie von Doktor Bertram begehrlich angeschaut wurde: »Ein Abend kommt ihr ins Gedächtnis – war es vor drei, vor acht Tagen? – sie weiß es nicht, die Zeit dehnt sich, verkürzt sich, die Stunden schwimmen ineinander und bedeuten nichts mehr […]«.58 Die Verinnerlichung der Alternskrise, die durch den distinktiven Vergleich mit Fortunata und Welponer begann, nimmt im Lauf der Erzählung 53 54 55

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Vgl. ebd., S. 82. Ebd., S. 119. Bergson stellt der chronologischen Metapher von der Zeit als Sukzession im Raum die intuitive »reine Dauer« gegenüber, welche »die Sukzession unserer Bewusstseinsgegenstände annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überlässt, wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen« (Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Hamburg 1994, S. 77). Schnitzler, »Frau Beate und ihr Sohn«, S. 98. Ebd., S. 113. Ebd., S. 130.

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narrativ an Unmittelbarkeit zu. Über zwei lange Innere Monologe – einem während eines Dämmerschlafs am Nachmittag und einem anderen, während sie heimlich Fritz im Gespräch mit Rudi Bertoner belauscht – wird Beate in die subjektiv empfundene Entscheidungsaporie geführt, entweder zu altern und die vermeintlich wieder gefühlte Jugendidentität aufzugeben oder zu sterben. Markiert wird die Alternskrise wiederholt dadurch, dass sie mit dem begehrlichen Blick auf die Jugend anderer einhergeht, sei es der verlorenen eigenen, sei es der anziehender junger Frauen und Männer. Als Beate sich vorstellt, wie sie mit Hugo durch Italien reist, wechselt die Erzählung in den Inneren Monolog, der in einer projizierten Fremdwahrnehmung Mutterrolle und Liebhaberin ebenso überblendet, wie es Beate tut, wenn sie später erinnert, dass sie Fritz im Augenblick höchster Erregung einen »Buben«59 nannte: So merkwürdig sehen sie sie an, mit frechem, zähneblitzendem Lachen und denken sich: Ah, die hat sich da einen hübschen Burschen auf die Reise mitgenommen. Seine Mutter könnte sie sein. Wie? Die Leute halten sie für ein Liebespaar? Nun, warum nicht. Die können ja nicht wissen, dass der Bursch da ihr Sohn ist; – und ihr merken sie wohl an, dass sie eine von den überreifen Frauen ist, denen die Laune nach so jungem Blute steht.60

Wie die »glühenden Kohlen unter grauer Asche«, von denen Jung mutmaßt, dass sie zur Zeit der Lebensmitte womöglich wieder zum Feuer entfacht werden, steigen Beate verdrängte Einsichten aus ihrer Jugend ins Bewusstsein auf. So bekennt sie schließlich gegen Ende der Passage, dass sie in Ferdinand immer nur die wechselnden Rollen begehrt hatte, die er spielte: So hatte sie ihn immer betrogen, wie er sie, – hatte stets, eine Verlorene von Anbeginn, ein Dasein phantastisch-wilder Lust geführt; nur dass es niemand hatte ahnen können, nicht einmal sie selbst.61

Die allmählich gewonnene Selbsterkenntnis, dass sie jahrzehntelang Persönlichkeitsmerkmale ausgeschlossen hat, die in der Krise der Lebensmitte wieder hervortreten, erinnert an Jungs Beschreibung der »Lebenswende« und an den Wunsch das Versäumte nachzuholen. Vor diesem Hintergrund scheint auch der problematische, konstruiert wirkende Schluss des inzestuösen Freitods von Mutter und Sohn als ein konsequenter Versuch, einen Ausweg nicht nur aus dem Rollen- und Normenkonflikt zu suchen, sondern sich auch der objektiv voranschreitenden Zeit zu entziehen und die rückwärtsgerichtete Zeitperspektive ans Ende zu denken. In der Vereinigung mit Hugo, den sie projektiv mit ihrem verstorbenen Gatten überformt, scheint für einen Augenblick die anachrone, subjektive Zeitwahr59 60 61

Ebd. Ebd. Ebd., S. 135.

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nehmung Beates mit der äußeren Wirklichkeit zusammenzufallen: »und Beate war es, als küßte sie in dieser Stunde einen, den sie nie gekannt hatte und der ihr Gatte gewesen war, zum erstenmal«.62 Im Paradox des ›unbekannten Gatten‹ nimmt Beate für einen Augenblick ihre Mutterschaft zurück, als könne sie nochmals mit einem anderen Ferdinand von vorne beginnen. Der Versuch, den Alternsprozess umzukehren, führt allerdings in den gesellschaftlich erzwungenen Freitod.

IV. Die Erfindung des ›gefährlichen Alters‹ um 1900 Betrachtet man die Erzählung im literaturgeschichtlichen Kontext, so gehört Frau Beate und ihr Sohn zu einer Reihe von Texten, die um 1900 entstanden und das gesellschaftlich stigmatisierte sexuelle Begehren einer Frau in den mittleren Lebensjahren als Rollenkonflikt zwischen Mutter, Ehefrau und Geliebter behandeln. Der Ausdruck vom ›gefährlichen Alter‹ war zwar bereits im 19. Jahrhundert bekannt und wurde vereinzelt auch auf die Frau in den mittleren Lebensjahren bezogen,63 allerdings verengt sich erst mit Karin Michaëlis intimem Tagebuchroman Den farlige alder von 1910 seine Bedeutung auf eine als bedrohlich empfundene Sexualisierung der Frau in der Zeit vor den Wechseljahren. Ein Strukturmerkmal der Erzählungen vom ›gefährlichen Alter‹ ist die Altersmesalliance oder, wie es August von Binzer formuliert, die »Altersungleichheit« von Liebenden. Nicht selten, wie in Franz Molnars Erzählung Die schöne alte Frau (1912) oder Paul Heyses Melusine (1895) begehrt die alternde Frau wie auch in Schnitzlers Erzählung einen Schüler oder Studenten, zumindest aber einen wesentlich jüngeren Mann. Meist wird die wieder erwachte Leidenschaft, so auch bei Heyse und Molnar, jedoch aus der männlichen Perspektive als Irrweg und Rollenverfehlung herabgewürdigt.64 Demgegenüber zeichnet 62

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Ebd., S. 154. So etwa in August von Binzers Erzählung Altersungleichheit von 1836. Demnach sei aus der Sicht der alternden Gräfin Frundsberg »das gefährliche Alter einer Frau die Jahre zwischen fünf-und-dreißig und vierzig […]. Dann ist der Verstand erwacht, sie reflektirt selbst, sie erkühnt sich wohl gar, die Pflichtgebote prüfend zu untersuchen, darüber zu grübeln, sie nach eigenem Gutdünken zu deuten und sich ihre eigene Moral, ihre eigene Religion zu bilden, während die glücklichere Jugend gläubig an den Lehren und Geboten hängt, wie sie der gewissenhafte Lehrer ihnen eingeprägt hat« (A. T. Beer [das ist: August von Binzer], »Altersungleichheit. Eine Erzählung«, in: Morgenblatt für gebildete Stände (1836), Nr. 54–71, hier Nr. 58, S. 230). So beispielsweise auch in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Datura fastuosa von 1821. Dort richtet sich die Kritik an der Mesalliance allerdings vor allem gegen den jungen Studenten Eugenius, der die verwitwete Gattin seines Professors ehelicht und sich in jeder Hinsicht seinem Alter unangemessen verhält. Zur Philisterkritik im Gewand der Altersmesalliance vgl. auch Stefan Diebitz, »Der Spießer im Treibhaus. Versuch einer Deutung und Wertung

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Schnitzlers Erzählung annähernd gleichzeitig mit Michaëlis’ Tagebuch das genaue Psychogramm einer Frau von annähernd vierzig Jahren, deren Sexualität trotz Witwen- und Mutterschaft, wie schon bei Berta Garlan, wieder erwacht. Die Mesalliance der Paare ungleichen Alters gehört seit Goethes Der Mann von funfzig Jahren zur wiederkehrenden Figuration der Erzählungen vom kritischen Alter. Diese Figuration kann auch inzestuöse Züge tragen, wenngleich etwa die Beziehung von Goethes fünfzigjährigem Major zu seiner Nichte auf der Grenze der Legitimität angesiedelt ist und wie bei Schnitzler vor allem der Spiegelung des Protagonisten in der anderen Generation gilt.65 Der innere Konflikt zwischen wieder erwachter Sexualität und dem Selbstbild als Mutter und Witwe, der mit dem Bewusstsein des eigenen Alterns verwoben ist, erinnert aufgrund der Thematik und der narrativen Darbietung im Modus interner Fokalisierung an den fiktiven Tagebuchund Briefroman Das gefährliche Alter der dänischen Autorin Karin Michaëlis von 1910.66 Schnitzler kannte Karin Michaëlis persönlich und hatte ihren Tagebuchroman am 24. Oktober 1912, am Vorabend eines gemeinsamen Treffens in Wien, gelesen.67 Offen bleibt, inwieweit Schnitzler auf Michaëlis antwortet, die von einer geschiedenen, kinderlosen Frau erzählt, welche versucht, sich auf einem einsamen Landgut vor den Männern zu verstecken, da sie fürchtet im Vorfeld der Menopause ihre sexuellen Triebe nicht mehr kontrollieren zu können.68 Ob Schnitzler womöglich während seines Dänemarkaufenthalts 1906 mit Peter Nansen über das Projekt, das Michaëlis 1905 begonnen hatte, gesprochen haben könnte, muss Spe-

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von E.T.A. Hoffmanns später Erzählung ›Datura fastuosa‹«, in: Mitteilungen der E.-T.-A.Hoffmann-Gesellschaft, 34 (1988), S. 52–66. Zur Bedeutung des Inzest-Motivs in der Erzählung Der Mann von funfzig Jahren vgl. Martin Lüdke, »Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ – ein Gegenwartsroman? Zehn zarte Gedanken über die Aktualität der Naturgeschichte«, in: Hans-Jörg Knobloch / Helmut Koopmann (Hrsg.), Goethe. Neue Ansichten, neue Einsichten, Würzburg 2007, S. 123–158, hier vor allem S. 156–158 und Klaus-Peter Hinze, Kommunikative Strukturen in Goethes Erzählungen, Köln 1975, S. 72. Nach dem Erscheinen der dänischen Originalausgabe Den farlige alder 1910 kam noch im selben Jahr eine von Mathilde Mann besorgte deutsche Übersetzung bei der Concordia Deutsche Verlagsanstalt unter dem Titel Das gefährliche Alter. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe in Berlin heraus. Zur Beziehung von Schnitzler und Michaëlis vgl. Ernst-Ullrich Pinkert, »›…rare mennesker, som jeg først lærte at kende i Danmark‹. Arthur Schnitzlers danske forbindelser«, in: Sprogforum, 32 (2004), S. 9–15, hier S. 12–13. Zum Skandal und der Kontroverse um die Sexualpathologisierung der Menopause, die Michaëlis’ Buch in ganz Europa ausgelöst hat, vgl. Beverley Driver Eddy, »›The Dangerous Age‹. Karin Michaëlis and the Politics of Menopause«, in: Women’s Studies, 21 (1992), S. 491–504.

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kulation bleiben.69 Dass er die Debatte um eine gesteigerte Sexualität der Frau vor den Wechseljahren,70 die durch Michaëlis’ Buch befeuert worden war, gekannt haben dürfte, erscheint aufgrund des Ausmaßes, in dem diese vor allem im Umfeld der medizinischen Psychologie geführt wurde, jedoch wahrscheinlich.71 Zwar kann aufgrund der parallelen Entstehungsgeschichte beider Texte nicht angenommen werden, dass er sich durch Das gefährliche Alter zu seiner Erzählung hat inspirieren lassen, sein Interesse an Michaëlis’ Buch steht jedoch in einem engen Zusammenhang mit seiner Arbeit an Frau Beate und ihr Sohn, wie eine Postkarte Schnitzlers vom 8. November 1916 belegt, aus der hervorgeht, dass beide ihre Texte ausgetauscht und kritisch gelesen haben: Verehrte Frau Karin Michaelis – es freut mich sehr, dass Ihnen die Beate gefallen hat, eins meiner Werke, das vielfach und mit besonderer Vorliebe mißverstanden wird. Der Schluß scheint ja (offenbar aus künstlerischen – nicht moralischen – Gründen) – wie mir der Zweifel auch Wohlwollender zu bedenken gibt – nicht durchaus überzeugend zu sein. – Ich schreibe Ihnen meinen Dank und Gruß auf einer Karte – die nach meiner Erfahrung sichrer ins neutrale Ausland gelangt als Briefe – auf die Gefahr hin, daß Sie mich für minder correct (aber geradezu langweilig) halten wie früher.72

Das 1910 erschienene und sogleich in mehrere Sprachen übersetzte Bekenntnisbuch der 42jährigen Elsie Lindtner,73 der es nach ihrer Scheidung trotz großer Anstrengung nicht gelingt, ihre Lust und ihr Bedürfnis nach sexueller Erfüllung zu zügeln, löste in Deutschland einen Skandal aus, der zahlreiche Gegenschriften provozierte.74 Während Michaëlis von feminis69

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Für die vergleichende Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte beider Texte und die Erörterung möglicher Abhängigkeiten danke ich Carsten Skou, der dies in einer Seminararbeit im Sommersemester 2008 dargelegt hat. Zur erhöhten Sexualität in den Jahren vor dem Klimakterium vgl. Freuds Ausführungen (wie Anm. 12). Vgl. zur Debatte Anm. 74. Zitiert nach Pinkert, »›…rare mennesker‹«, S. 13. Die Karte befindet sich in der Handschriftenabteilung der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen unter der Signatur: PALSBO, AC. In der Neuausgabe Das gefährliche Alter. Intime Tagebuchaufzeichnungen des Kore Verlags Freiburg von 1998 wird der Name zu »Elfie Lindtner« geändert, möglicherweise handelt es sich hier um einen Lesefehler der Erstausgabe in Frakturschrift. So etwa Christine Ruhland, Protest gegen ›Das gefährliche Alter‹ von Karin Michaelis, Halle a. S. 1911 und Victor Noack, »Die Dirnen der Karin Michaëlis«, in: Sexual-Probleme. Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik 7 (1911), S. 136–146. Karl Kraus reagierte schließlich auf die zahlreichen Versuche der zeitgenössischen Gynäkologie, die Darstellung von Michaëlis zu widerlegen, mit einer polemischen Glosse in der Fackel unter dem Titel Der Ausnahmsfall: »Im vorigen Jahr wars der Komet, heuer wird das gefährliche Alter dementiert«. Kraus entlarvt nicht zuletzt durch eine konkrete Lesart der Metapher von den »Wechseljahren« die Kritiker als schlichte Geister und Bewahrer eines idealisierten Bildes der Frau und Mutter, welches die Realität ausblendet oder als pathologische Einzelfälle marginalisiert: »Daß die Frau zur Zeit des Wechsels in ihrer Moral bedroht sei, ist ihm [d.i. Herzfeld,

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tischer Seite vorgeworfen wurde, die Wechseljahre der Frau zu pathologisieren, kritisierten bürgerliche, meist männliche Kreise, dass nicht das Klimakterium gefährlich sei, sondern vielmehr Michaëlis’ Buch, da es Frauen in den mittleren Jahren sexuell geradezu anstachele. Der Haupteinwand aber war der Vorwurf, eine solche sexuelle Spätblüte, wie sie Michaëlis schildert, durchleide ihre Protagonistin nur deshalb, weil sie es versäumt habe, Mutter zu werden.75 Dem gegenüber folgt Schnitzlers Erzählung der Argumentation von Otto Weininger, welche er 1903 in Charakter und Geschlecht aufgestellt hat. Demnach vereinen Frauen tatsächlich beide Typen: »absolute Mutter und absolute Dirne«.76 Während Schnitzlers Erzählung zu Michaëlis’ Tagebuchroman deutliche Parallelen in der Überlagerung von Alternskrise und scheiternder sexueller Enthaltsamkeit aufweist, unterscheidet sie sich klar in Figurenkonstellation und Handlungsverlauf. Mit der Inzestgeschichte unterläuft Schnitzler die Antinomie von Mutter oder Hure und löst so die Lebenskrise, die Beate durchläuft, von der Entscheidung für oder gegen die Mutterrolle. Schnitzlers Figurenkonstellation antwortet damit ebenso auf die bürgerlichen Polemiken wie auf die psychoanalytische Reduktion auf einen möglichen Vaterkomplex. Er stellt damit die Frage nach den Gründen für Beates sexuelles Begehren und Verlangen nach Jugend neu und legt nahe, sie nicht in einer inzestuösen Neigung

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T.F.] nicht bekannt. Der ehrliche Besitzer einer Wechselstube versichert, dass den Kunden, wenn sie das Geschäft verlassen, sonst nicht das Geringste passiert ist«. Mit einem scharfen Blick für die genderspezifische Fundierung der Debatte resümiert Kraus schließlich: »Und nur das eine haben sie zur vollen Beruhigung der Zeitungsleser auszusprechen versäumt: daß das gefährliche Alter, selbst wenn es irgendwo auftauchen sollte, bei weitem nicht so gefährlich sei wie der Hosenrock. Die Medizin hat ihnen noch keine Erkenntnis geliefert, die ihre moralischen Ansprüche verletzt hätte. Die Frau ist ein Gefäß für das in seiner heiligen Reellität erkannte Bedürfnis des Mannes. Das fehlte noch, daß ein Gefäß Bedürfnisse hat! So sagen die Männer, so sagen die Frauenärzte, die wahrscheinlich auch Männer sind«, vgl. Karl Kraus, »Glossen: Der Ausnahmsfall«, in: Die Fackel, Bd. 12 (1910/11), Nr. 319/20, S. 6–9. Diese Ansicht wird nicht nur in den polemischen Rezensionen des Buches vertreten, sondern fand auch Eingang in die zeitgenössische psychoanalytische Auseinandersetzung mit dem Text. So erläutert Tatiana Rosenthal in einem Vortrag vor der Berliner Psychoanalytischen Gesellschaft Anfang Januar 1911, dass Elsies Verhalten aus einem Vaterkomplex herrühre, der letztlich auch dafür verantwortlich sei, dass sie zur Mutterschaft unbefähigt sei: »Auch in der Phantasie ist ihr eine echte Mutterschaft eine psychologische Unmöglichkeit. […] Der Vaterkomplex persistiert noch immer in Form des Hasses gegen die Mutter. Die Vorstellung der Mutter bleibt mit verächtlichen Eigenschaften ausgestattet. Darum mag Elsie selbst keine ›Gluckhenne‹ werden. Sie hasst die Kinder, deren Mutter sie sein könnte« (Tatiana Rosenthal, »Karin Michaelis: ›Das gefährliche Alter‹ im Lichte der Psychoanalyse«, in: Zentralblatt für Psychoanalyse. Medizinische Monatsschrift für Seelenkunde, 1 (1911) H. 7/8, S. 277–294, hier S. 288). Vgl. Otto Weininger, Charakter und Geschlecht. Eine prinzipielle Untersuchung, Wien und Leipzig 1907, S. 287.

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oder pathologisch weiblichen Hysterie, sondern im Prozess der Alternskrise zu suchen.77 In diesem Licht scheint auch das Inzestmotiv, das sich eigentlich auf den problematischen gemeinsamen Freitod am Ende der Erzählung konzentriert, neu gelesen werden zu können: Im gemeinsamen Tod mit dem Sohn verbindet sich die Vorstellung von der Mutter, die sich durch den Tod des Kindes neue Jugend zu erkaufen hofft, oder wie es Karin Michaëlis formuliert: »Könnten Frauen sich neue Jugend erkaufen, indem sie das Herzblut ihrer Kinder tränken, so würden viele Mordtaten im Geheimen verübt werden«,78 mit der Gewissheit, dass dieser Weg unmöglich ist und für beide in den Tod führen muss. Mutterschaft und Alterung lassen sich auch durch das Opfer des Kindes nicht zurücknehmen. Festgehalten werden kann, dass Frau Beate und ihr Sohn im Kontext der psychologischen und literarischen Entdeckung des so genannten ›gefährlichen Alters‹ der mittleren Lebensjahre steht. Es hat sich gezeigt, dass Schnitzler durch eine intern fokalisierte Darstellung der Figurenpsychologie und eine kontrastive Figurenkonstellation die Krise der Lebensmitte – ähnlich wie es wenig später die Tiefenpsychologie erklärt – als allmähliche Bewusstwerdung des Alternsprozesses narrativiert. Im Vergleich mit Karin Michaëlis Roman Das gefährliche Alter wurde deutlich, dass sich Schnitzler von zeitgenössischen Theorien über das weibliche Klimakterium ebenso löst, wie er das traditionelle literarische Muster der Mesalliance vom ungleichen Alter überwindet, indem die Alternserfahrung als subjektiver Prozess in erzählerischer Distanz vorgeführt wird. Die in Schnitzlers Erzählung weiblich fokalisierte Erfahrung des Alterns zeigt lediglich in radikalisierter Form, was auch für den Mann gilt: dass sich bis zur Lebensmitte Dissonanzen zwischen sozialem Erwartungscode und Selbstwahrnehmung, zwischen objektiv linearem Zeitverlauf und subjektiv erinnerter Zeitüberlagerung anreichern. Diese Dissonanzen, das spielt die Erzählung simulativ durch, bedrohen dort die Identität, wo es in der agonalen Konfrontation zwischen Jungen und Alten nicht mehr gelingt, das Rollenfach der Lebensalter bruchlos zu wechseln. Die Schwellenjahre der Lebensmitte wurden in der Moderne nach 1900 zunehmend als Alterszäsur wahrgenommen, welche in einem Entscheidungszwang zwischen jung und alt gründet, der mit der Kontinuität des Erlebens und Verlangens nur schwer vereinbar war. So zeigt die erzählte Alternskrise in der Moderne jenes 77

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Frau Beate und ihr Sohn steht somit im Zusammenhang einer ganzen Reihe von Texten, in denen sich Schnitzler mit der Frage des Alterns als Identitätskrise und Destabilisierung sozialer Zugehörigkeiten und Rollen befasst. Neben Berta Garlan und Frau Beate und ihr Sohn gehören auf der männlichen Seite die Erzählung Casanovas Heimfahrt und Doktor Gräsler, Bäderarzt, aber auch das Konversationsdrama Der einsame Weg dazu. Wolfgang Lukas hat in diesem Zusammenhang auf ein »System der Altersklassen« hingewiesen, welches das Werk Schnitzlers bestimme (vgl. Wolfgang Lukas, Das Selbst und das Fremde, S. 83-95). Zitiert nach Rosenthal, »Karin Michaelis«, S. 288.

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Missverhältnis, das zwischen der unumkehrbar über das Individuum hinweggehenden chronologischen Zeit und einer durch das Erleben des Subjekts beständigen Dauer des Gefühls besteht. Mit der Reflexion auf die Zeiterfahrung im Alternsprozess steht Schnitzler keineswegs alleine. Sie ist vielmehr symptomatisch für die Literatur der Klassischen Moderne. So wie Arthur Schnitzler, der dem Topos von der verliebten alternden Frau neue Komplexität verlieh, verhandelt auch Hugo von Hofmannsthal an prominenter Stelle im Rosenkavalier das Missverhältnis zwischen der subjektiven Erfahrung von Zeit als Dauer und der von außen herangetragenen Zergliederung der Identität nach der Zeit. In der Rekombination der Namen und Bezeichnungen spielt die Marschallin durch, wie die Zeit ihre Identität unterläuft: Aber wie kann das wirklich sein, daß ich die kleine Resi war und daß ich auch einmal die alte Frau sein werd’... Die alte Frau, die alte Marschllin! ›Siegst es, da geht’s, die alte Fürstin Resi!‹ Wie kann denn das geschehen? Wie macht denn das der liebe Gott? Wo ich doch immer die gleiche bin. Und wenn er’s schon so machen muß, warum lasst er mich denn zuschau’n dabei, mit gar so klarem Sinn? Warum versteckt er’s nicht vor mir?79

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Hofmannsthal, »Der Rosenkavalier«, S. 36.

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WEININGER, Otto, Charakter und Geschlecht. Eine prinzipielle Untersuchung, Wien und Leipzig 1907.

Zu den Autorinnen und Autoren studierte Klassische Philologie und Geschichte in Berlin, Princeton, Oxford (Master of Studies) und Freiburg i.Br. Sie wurde 2000 in Freiburg mit einer Arbeit zur Darstellung und Konzeption der Göttin Venus in den Argonautica des Valerius Flaccus promoviert. Die Studienstiftung des deutschen Volkes förderte das Studium und die Promotion. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms Römische Reichs- und Provinzialreligion an der Universität Erfurt. Sie ist seit 2004 wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Latinistik an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg. Im Juli 2007 wurde sie Kollegiatin im WIN-Kolleg der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Ihr Habilitationsprojekt untersucht die Inszenierung von Religion und religiöser Kompetenz in Schriften des 2. Jhs. n. Chr. DOROTHEE ELM VON DER OSTEN

studierte Germanistik und Geschichte in Heidelberg, Bern (DAAD), Freiburg i.Br. und Leipzig. 2002 wurde er mit einer Studie zur Rezeption Pompejis in der deutschen Reiseliteratur und Dichtung an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg promoviert. Von 2001 bis 2004 war er wissenschaftlicher Referent für die Studienstiftung des deutschen Volkes in Bonn und Berlin, wo er das Hauptstadtbüro und das ›Studienkolleg zu Berlin‹ aufbaute. Seit 2004 arbeitet er als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Prof. Dr. Achim Aurnhammer (Freiburg) und verfasst eine Habilitationsschrift zur Figuration des hohen Alters in der deutschen Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert. Er ist Sprecher des Schwerpunktes Religiöse und poetische Konstruktion der Lebensalter im W I N Kolleg der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der Antikerezeption und der literarischen Anthropologie. THORSTEN FITZON

studierte Germanistik, Philosophie und Publizistik an der W W U Münster, 1992 Promotion an der Universität Hamburg, 2000 Habilitation an der L M U München: „Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter“, 20032007 Professor für Ältere Deutsche Philologie an der Universität Greifswald, seit 2007 Professor für Ältere Deutsche Literatur an der Universität U D O FRIEDRICH

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Zu den Autorinnen und Autoren

Göttingen. Veröffentlichungen zum Bereich der Ordnungen des Wissens, zur Kultursemiotik des Mittelalters und zur historischen Erzählforschung.

(1989 Promotion, 1995 Habilitation in Bern) war 19961997 ord. Professorin für Klassische Philologie/Latinistik an der Universität Trier, 1997-2004 an der Universität Zürich, 2004-2008 an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg; seit 2008 lehrt sie an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der antiken Philosophie, der christlichen Spätantike und der lateinischen Dichtung. Die wichtigsten Buchpublikationen sind Die Auseinandersetzung mit den Chorlyrikern in den Epinikien des Kallimachos, Basel und Kassel 1992; Augustin ‹Contra Academicos› (vel ‹De Academicis›) Bücher 2 und 3, Einleitung und Kommen tar, Berlin und New York 1997; Augustinus, Darmstadt 2004; (hg.) Die christlich-philosophischen Diskurse der Spätantike: Texte, Personen, Institutionen, Stuttgart 2008; (hg. zusammen mit Damien Nelis) Acting with words. Communication, rhetorical performance and performative acts in Latin literature, Heide berg 2010. THERESE FUHRER

studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 1995 wurde sie dort promoviert (Erzählen vom Einzelfall. Studien zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung). Seitdem war sie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena beschäftigt, wo sie sich 2003 habilitierte (Narrative Kulturkonzepte. Wielands „Aristipp“ und Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“). Im Rahmen des dortigen SFB 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ leitet sie ein Teilprojekt zum Thema „Monumente des Autors. Lebensgeschichte und Werkedition“. Sie ist beteiligt an der Jenaer Johann-Karl-Wezel-Ausgabe und der Wieland-Edition „Oßmannstedter Ausgabe“. 2008 erschien im Verlag J.B. Metzler (Stuttgart) das von ihr herausgegebene Wieland-Handbuch. JUTTA HEINZ

ist Universitätsprofessor für Alttestamentliche Wissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (seit 2007). Forschungsschwerpunkte: Levitikus (Kommentarprojekt für Herders Theologischen Kommentar zum Alten Testament), Biblische Theologie und Hermeneutik, Genesis, Psalmen, die Rezeption des Alten Testaments im Neuen. – Studium der Katholischen Theologie in Bamberg und Innsbruck (1987–1992), Promotionsstudium in Bamberg (1992–1996), Mitarbeit in neutestamentlichen Forschungsprojekten zur Logienquelle und den synoptischen Evangelien (1992–2000), Wissenschaftlicher Assistent an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg (2000–2006), 2003 Habilitation im Fach AlttestaTHOMAS HIEKE

Zu den Autorinnen und Autoren

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mentliche Wissenschaften. Herausgeberschaften: Fachherausgeber bei WiBiLex (Geschichtsbücher); Stuttgarter Biblische Aufsatzbände (SBAB); Associate Editor of Old Testament Abstracts. studierte Germanistik und Gräzistik in Wien, Promotion 1997, von 1996 bis 2000 Forschungsassistent und Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Universität Wien, von 2000 bis 2006 Universitätsassistent am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg, Habilitation 2006, von 2008 bis 2010 Professor für Ältere deutsche Literatur und Sprache am Institut für Germanistik der Universität Klagenfurt, seit März 2010 Professor für Ältere deutsche Literatur und Sprache am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg. – Forschungsschwerpunkte: Mediävistische Komparatistik, mittelalterliche Antikerezeption, Konzepte der Vergänglichkeit in der Literatur des Mittelalters, Interferenzen zwischen theologischen und poetischen Diskursen und Poetologie der mittelalterlichen Lyrik und Epik. MANFRED KERN

ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Leibniz Universität Hannover. Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie in Heidelberg und Berlin war er Assistent an der F U Berlin, wo er promovierte (1993) und sich habilitierte (2001). 2004–2008 Professor an der University of Bristol. Bücher über Ernst Platner (1989), Anthropologie und Schauspielkunst (1995), Gelehrtensatire (2003), Karl Philipp Moritz (2006), Literarische Anthropologie (2008), Blitzlichter der Aufklärung (2010). Aufsätze und Editionen zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte des 17.–21. Jahrhunderts. ALEXANDER KOŠENINA

studierte Evangelische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Naumburg und Rabbinische Literatur an der Hebräischen Universität Jerusalem. 1996 wurde er in Leipzig promoviert; 2001 habilitierte er sich dort mit der Arbeit Die Frauen und der König David. Studien zur Figuration von Frauen in den Daviderzählungen. Anschließend forschte er im Rahmen des DFG-Projekts Das Kind in Israel in alttestamentlicher Zeit. Derzeit ist er apl. Professor an der Universität Leipzig und Dozent für Altes Testament am Missionsseminar Hermannsburg. ANDREAS KUNZ-LÜBCKE

studierte Evangelische Theologie und Germanistik in Kiel und Heidelberg. Von 1996 bis 1999 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Tübingen im DFG-Projekt zur poetischen Satzsyntax im Alten Testament. Seit 1999 ist sie wissenschaftliche Assistentin im Fach Altes Testament an der Evang.-theol. Fakultät Tübingen. 2003 wurde sie mit der Arbeit Der Weg des Lebens. Psalm 16 und das LebensKATHRIN LIESS

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Zu den Autorinnen und Autoren

und Todesverständnis der Individualpsalmen promoviert, die mit dem Promotionspreis der Universität Tübingen ausgezeichnet wurde. Sie arbeitet an einer Habilitationsschrift über Herrschererwartungen im Jesajabuch und ist seit Juli 2007 Kollegiatin im WIN-Kolleg der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Aachen, Köln und Tübingen, Studium und Promotion wurden von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert. Die Dissertation (2002) trägt den Titel Kundschafter der Kommunikation. Modelle höfischer Kommunikation im ›Frauendienst‹ Ulrichs von Lichtenstein. Von 2001 bis 2002 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Seminar der Universität Tübingen tätig. 2003 erhielt sie ein Post-doc-Stipendium im Graduiertenkolleg Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Seit 2004 arbeitet sie als wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Tübingen. Ihr Habilitationsprojekt untersucht die spezifische Aussageform des Exkurses in volkssprachigen Romanen des Mittelalters. Seit Juli 2007 ist sie Kollegiatin im WIN-Kolleg der Heidelberger Akademie. SANDRA LINDEN

is an Associate Professor in the Department of Gerontology at St. Thomas University, Fredericton, New Brunswick, Canada, where he is also Director of the Centre for Interdisciplinary Research on Narrative. His research interests are in narrative gerontology and the storied complexity of human development. Author or co-author various monographs, including The Stories We Are (University of Toronto Press, 1995) and Ordinary Wisdom (Praeger, 2001), he has published articles in such journals as Narrative Inquiry, the Journal of Aging Studies, and Theory & Psychology. His most recent book, written with Elizabeth McKim, is entitled Reading Our Lives: The Poetics of Growing Old (Oxford University Press, 2008). WILLIAM L . RANDALL

SCHWEITZER ist Professor für Praktische Theologie/Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen (seit 2006 als Dekan). Vorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (2002–2008), Präsident der International Academy for Practical Theology (1997–1999), Vorsitzender der Bildungskammer der E K D (seit 2003). Forschungsschwerpunkte: religiöse Entwicklung und Erziehung, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Religionspädagogik, Gütersloh 2007; Konfirmandenarbeit in Deutschland (zus. mit W. Ilg und V. Elsenbast), Gütersloh 2009; Confirmation Work in Europe (zus. mit W . Ilg und H . Simojoki), FRIEDRICH

Zu den Autorinnen und Autoren

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Gütersloh 2010; Religionspädagogik als Wissenschaft (zus. mit H . Simojoki u.a.), Freiburg 2010.

studierte Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig, Promotion 1985, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen und am Institut für Germanistik der Universität Erlangen-Nürnberg, 1998 Habilitation in Erlangen, Professur für ältere deutsche Literatur und Sprache an der Universität Freiburg, seit 2002 Professorin für Literaturgeschichte älterer Epochen an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Mystik, historische Erzählforschung, historische Semantik. Ausgewählte Monographien: Gewissen und Buch. Über den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelalters (1998); Entrückte Welten. Einführung in die mittelalterliche Mystik (1998); Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman (2007). UTA STÖRMER-CAYSA

studierte Evangelische Theologie, Philosophie und Soziologie in Tübingen, Princeton und Heidelberg. (Th.M. 1986 Princeton; Dr. theol. 1996 Heidelberg; Dr. rer. soc. 1999 Tübingen; Habilitation 2004 Heidelberg) Seit 2004 ist er Professor für Systematische Theologie/ Ethik und Fundamentaltheorie an der Ruhr-Universität Bochum. 2008/2009 war er Fellow am Center of Theological Inquiry in Princeton/NJ. Seine Forschungsschwerpunkte sind medizinische Anthropologie, Medientheorie und -theologie, konstruktive Theologie. Die wichtigsten Publikationen sind Medien - Ritual - Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt 1998; Religiöse Funktionen des Fernsehens? Medien-, kultur- und religionswissenschaftliche Perspektiven, Opladen 2000; Implizite Religion. Theoriegeschichtliche und theoretische Untersuchung, Würzburg 2001; Neue Schöpfung. Theologische Untersuchungen zum ‘Leben der kommenden Welt’, Neukirchen-Vluyn 2009; Niklas Luhmann und die Theologie, Darmstadt 2006 (mit A . Schüle); Gegenwart des lebendigen Christus, Leipzig 2007 (mit A. Schüle); Who is Jesus Christ For Us Today? Pathways to Contemporary Christology, Louisville 2009 (mit A. Schüle); Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdis-ziplinären Gespräch, Stuttgart / Berlin / Köln 2009 (mit I . Karle); Endliches Leben. Interdisziplinäre Zugänge zum Phänomen der Krankheit, Tübingen 2010 (mit M. Höfner u. S. Schaede). GÜNTER THOMAS

studierte Geschichtswissenschaft, Alte Geschichte und evangelische Theologie an der Universität Bielefeld, wo er 2007 mit der Arbeit Altersgrenzen politischer Partizipation in antiken Gesellschaften promoviert wurde. Er war von 2001-2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter im BielefelJAN TIMMER

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Zu den Autorinnen und Autoren

der SFB 584 Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte. Seit 2005 ist er am Institut für Geschichtswissenschaft/Abteilung für Alte Geschichte der Universität Bonn beschäftigt. Zur Zeit arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zur Funktion von Vertrauen im politischen System der römischen Republik. hat Klassische Philologie, Geschichte der Naturwissenschaften und Kunstgeschichte studiert. Zu ihren Arbeitsgebieten gehört die antike Mentalitäts- und Technikgeschichte; eine Studie über die gesellschaftliche Strukturierung von Zeit und ihre Diskussion in der römischen Literatur erscheint demnächst. Sie hat einen Lehrstuhl für Lateinische Philologie an der Universität Tübingen inne. ANJA WOLKENHAUER

Autoren- und Werkregister Ägidius Romanus De regimine principum 71–74, 76 Aischines 1,23 197–199, 201, 214 Ahlefeld, Charlotte von Die Frau von vierzig Jahren 406, 416 Albumasar 59 Alciatus, Andreas Senex puellam amans 357f. Alighieri, Dante s. Dante Alighieri Ammianus Marcellinus 14,6,4f. 265f., 270, 278 Andreas Capellanus 337 De amore 337 Anselm von Canterbury 301f. Exhortatio ad contemptum temporalium et desiderium aeternorum 301f. Arat 263 Ariès, Philippe 104 Aristophanes 207 Nubes 1321–1510 211 Aristoteles 51–53, 59, 73, 75f., 343 Ath. pol. 42 206f. 1335a–b 126 Nikomachische Ethik 343 Physica 4,11 224f, 233 Poetik 51 Politica 1334b29ff. 204, 208 Arnold, Gottfried Vitae Patrum Oder Das Leben Der Altväter und anderer Gottseeligen Personen 386f., 390 Augustinus 23 Confessiones 223, 274 1,4 275 8,10 275 9,10 274 9,14 275 9,24 275

11,11 275 11,28 275 13,32 275 De Genesi contra Manichaeos 1,35–41 269–273, 275, 281–283 Sermo 81,8 273f., 284 Bacon, Francis Historia vitae et mortis 367 Baltes, Paul B. 22 Honoré de Balzac La femme de trentes ans 406f. Beda Venerabilis 52, 275f. Beheim, Sebald 364 Bergson, Henri Zeit und Freiheit (orig. Essai sur les donées immédiates de la conscience) 421 Bernard, Charles de La femme de quarantes ans 407 Bibel 1) Altes Testament Genesis (Gen) 2,7 186 3,19 186 37,2 112 37,5–8 112 37,9f. 112 Leviticus (Lev) 21,14 126 27,1–8 134 Numeri (Num) 30,4–6 126 Deuteronomium (Dtn) 32,4 142f. 37,2 142f. Richter (Ri) 5,30 116

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Register 8,13–17 116 8,14.20 116 1. Samuel (1Sam) 1,11 117 1,22 118 1,24 118 2,17 120 2,18f. 119f. 2,21 118f. 2,26 118 3,1 120 3,4.6.8 120 3,19 119 3,20f. 121 17,14 114 17,33 114 17,34 122 17,39 114 17,42 114 17,58 114 18,4 115 18,5 115 2. Samuel (2Sam) 14,21 121 19,32–41 134 2. Könige (2Kön) 2,23f. 122 5,1–4 122f. Jesaja (Jes) 13,9–11 183 65,22 139 Jeremia (Jer) 31,19 112 Ezechiel (Ez) 16 123 Psalmen (Ps) 1,3 139 6,8 163 8 29 22 333 22,2 156 22,10f. 148 22,15f. 153 23,5 141 25,7 112, 149 31,11–13 153 36,9 141f. 37,25 131, 161, 163

39,5–8 136 39,6 131 39[38],6 275 51,13 156 52,10 139 63,6 142 71 145–162 89,46 149 90–92 143f. 90 133–138, 143f. 90[89],4 268 91 143f. 91,16 32, 144 92 138–144, 163f. 102,25 136 103,5 149 103[102],5 275 104,29f. 186 119,110 163 127,4 149 144,12 149 148,12f. 163 Hiob (Hi) 13,26 112 Sprüche (Spr) 4,5 340 16,31 152 20,29 154 Prediger (Pred) 1,12–2,23 172 2,24 172 3,11 184 3,21 186f. 5,18f. 181f. 5,19 131 11,9–12,7.8 176–189 Esther (Est) 2,3 124 2,13f. 124 4,4.16 124 Daniel (Dan) 2,31f. 268 2) Apokryphen Sirach (Sir) 22,4 125 30,23f. 180 42,9f. 125 3) Neues Testament

Register Matthäus (Mk) 379 1,17 269f. Lukas (Lk) 3,34–38 269f. 19,1–11 40 Römerbrief (Röm) 7 343 1. Korinther (1Kor) 13,11 1 2. Korinther (2Kor) 4,16 272 Epheserbrief (Eph) 4,22.24 272 Kolosserbrief (Kol) 3,10 275 Johannes-Apokalypse (Apk) 21,4 34 Binzer, August von (A. T. Beer) Altersungleichheit 423 Birkerts, Sven The Gutenberg Elegies 96 Die Blutgräfin 370 Böhme, Jakob 287 Bossuet, Jacques-Bénigne Discours sur l’histoire universelle 276 Broch, Hermann Der Tod des Vergil 409 Brockes, Barthold Hinrich 367 Brunner, Hellmut 105 Carmina Burana 306 Cicero De re publica 2,2 265 Cohausen, Johann Heinrich Der wieder lebende Hermippius oder Curioese Physicalisch-Medicinische Abhandlung von der seltenen Art sein Leben durch das Anhauchen JungerMägdchen bis auf 115. Jahr zu verlängern 369f. Comenius, Johann Amos 3 Pampaedia 3 Cornaro, Lodovico Discorsi della vita sobria 366 Corthys, Anthony Jung mann machen 362 Cranach, Lucas (der Ältere) Jungbrunnen 364

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Dante Alighieri 302f., 305 La Divina Commedia 303, 405f., 407, 408 Vita Nova 302, 305 Das aristotelische Erziehungsprogramm 72 David, Jean-Pierre Von den Mitteln, welche uns die Natur darbiethet, später die Stufe des Alters zu betreten 366 Dorr, Child Rosa A Woman of Fifty 407 Dracontius 59 Ebstorfer Weltkarte 69 Elegy 372 Emma. Das politische Magazin von Frauen 411 Engelbrecht, Hans Engelbrechts, eines Tuchmachergesellen zu Winsen an der Aller Beschreibung von dem Himmel und der Hölle 391 Erikson, Erik H . 1, 6–10 Feuchtwanger, Lion Exil 409 Florus Epitoma de Tito Livio praef. 4–8 265f., 277f. Fraas, Hans-Jürgen 10 Freud, Sigmund 7f., 388, 416, 425 Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia 410 Friedrich von Hausen 310 MF 45,37 325 Gerhardt, Paul 23 Giebt es Mittel das menschliche Leben weit über das natürliche Ziel desselben zu verlängern ? 366f. Gise-Stele Amenophis’ II. 111 Goethe, Johann Wolfgang von Der Mann von funfzig Jahren 371, 406, 408, 424 Dichtung und Wahrheit 396f. Faust 365 Wilhelm Meisters Lehrjahre 379, 395 Gottfried von Straßburg Tristan 53, 318 Glockendon, Albrecht 364 Die Gräfin 370 Guardini, Romano 1, 4 Guyon du Chesnoy, Jeanne Marie 390

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Register

Grimm, Jacob und Wilhelm Das junggeglühte Männlein 364f. Hahn, Ulla Halbzeit 406 Hampl, Patricia I Could Tell You Stories. Sojourns in the Land of memory 96 Harsdörffer, Georg Philipp Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher MordGeschichte 358 Der vorsetzliche Hanrey 370f. Hartmann von Aue 310 Der arme Heinrich 53 Kaiser Heinrich 310 Heinrich von Melk Von des todes gehugede 336 Heinrich von Morungen Lied 3 306f. Lied 32 (Narzisslied) 305f. Heinrich von Rugge MF 96,1 325 Herder, Johann Gottfried Journal meiner Reise im Jahre 1769 400 Herodot Historiae 7,142 200 Hesiod Opera et Dies 263 111–120 245, 249 112–119 225–230 127–143 228 156–172 228 179–181 228f. 695–697 204 Hesse, Hermann Der Steppenwolf 409 Heyse, Paul Der Jungbrunnen 364 Melusine 425 Hildesheimer Stele der Cherenduanch 109 Theodor Gottlieb von Hippel Lebensläufe nach aufsteigender Linie 379, 401 Historia Augusta Vita Cari, Carini et Numeriani 2,2–3,2 266f., 278f. Der Hochverdient und Wohlbelohnte Greise 358– 360, 369 Hölderlin, Friedrich

Hyperion oder der Eremit in Griechenland 395f. Hoffmann, E. T. A. 397 Das fremde Kind 397f. Datura fastuosa 425f. Hoffmannsthal, Hugo von Der Rosenkavalier 417, 428 Homer 386f. Ilias 2,433 200 Odyssee 2,13–16 200 6,43–45 230 7,155–158 200 7,292–294 125 15,403 230 16,70–73 115 16,93–95.99–103 115 18,214–222 115 18,269f. 115 18,350–353 115 Horaz 223 Epodi 16 232 Huber, Therese Die Frau von vierzig Jahren 406, 408, 416 Hufeland, Christoph Wilhelm Makriobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern 365f., 368 Ueber die Verlängerung des Lebens 368f. Hugo von Trimberg Der Renner 336f. Innozenz III. s. Lothar von Segni Isidor von Sevilla Etymologien 275, 324 Johannitius 52 Joseph und Aseneth 1,4f. 123 7,5 124 8,1 124 11,1–6 124 12,12–14 124 18,9 124 Jung, Carl Gustav Die Lebenswende 411–413, 416, 422 Psychologische Typen 88 Jung-Stilling, Johann Heinrich 378 Lebensgeschichte 385–387

Register

Kesten, Hermann Ein Mann von sechzig Jahren 407 Kierkegaard, Søren 86 Konrad von Würzburg Der Welt Lohn 308 Straßburger Alexander 56 Trojanerkrieg 56 Kraus, Karl Glossen : Der Ausnahmefall 426 Kruse, Andreas 31 Küng, Hans 10 Kudrun 288 Laktanz Divinae institutiones 7,15,14–17 267, 279f. La Mothe-Fénelon, François de Salignac de Die seltsamen Begebenheiten des Telemach 390 Totengespräche 390 Lehre des Amenemope 140 Lehre des Ani 106–108, 110f. Lévi-Strauss, Claude 52 Lothar von Segni (Innozenz III.)

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1 250 2 250, 251 6 252 9 253 14–16 253 Xenia 238 Mescha-Stele 116 Michaëlis, Karin Das gefährliche Alter 405, 423–427 Molnar, Franz Die schöne alte Frau 406, 423 Mörike, Eduard Hermippus 370 Moritz, Karl Philipp Anton Reiser. Ein psychologischer Roman 387– 391 Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit 387f., 391 Morus, Thomas 224 Muskatblut Spruch 82 325

De miseria humanae conditionis 61, 63f., 339 Lubliner, Hugo Eine Frau von 19 Jahren 407 Lustiges Gespräch Eines alten Greißen 356f. Luther, Martin 23 Lysias 207

Nibelungenlied 288 Nietzsche, Friedrich 84 Götzen-Dämmerung 366 Nikolaus von Kues 276 Nordau, Max Die Kunst zu altern 406 Novalis Blüthenstaub 378, 396f.

Mackay, John Henry Der Sybarit 406 Mann, Thomas Die Betrogene 406 Doktor Faustus 379 Der Tod in Venedig 409 Martial 237–240, 248, 250–257 Apophoreta 238 Epigrammata 238, 248, 250, 254–257 4,1,1–4 248 5,7,1–4 249, 250 10 238, 254–257 10.23 254–256 10.24 255f. 10,28 257 10,72,3–4 254 Liber Spectaculorum 238, 239, 250–254

Oswald von Wolkenstein 320–344 Kl. 1 332 Kl. 5 330f., 335–344 Kl. 7 335 Kl. 6 330, 332–335 Kl. 11 345 Kl. 18 326–331, 345–347 Kl. 24 331f., 344–346 Kl. 23 325f. Kl. 36 346f. Otto von Botenlauben Lied 5 340 Otto von Freising Weltchronik 276 Ovid Ars amatoria 361 Metamorphoses 360

444 1,89–150 263 1,107–121 230–233 14,130–153 248 Pannenberg, Wolfhart 10 Papyrus Insinger 112 Paracelsus 367, 369 Paul, Jean 378 Die unsichtbare Loge 392–395 Selbsterlebensbeschreibung 393 Petrarca 318 Rerum vulgarium fragmenta 314f. Triumphus Mortis 303–305 Pindar Ode 2,61–62 230 Platon 224 Leges 4,721b; 6,772de 204, 208 Postman, Neil 104 Ramler, Karl Wilhelm Der Tod Jesu 390 Reinmar der Alte MF 167,13 307, 310f. Rentsch, Thomas 31 Ricceur, Paul 39 Le Temps raconté 86 Rolandslied 295 Roth, Philip The Dying Animal 372f. Rousseau, Jean-Jacques Emile oder über die Erziehung 378–383, 392, 394f., 398–400 Rudolf von Ems Weltchronik 276 Ruhland, Christine Protest gegen ›Das gefährliche Alter‹ von Karin Michaelis 427 Rumelant von Sachsen 340 Sacher-Masoch, Leopold von Ewige Jugend 370 Sachs, Hans Der affen ursprueng 364 Der jungkprunn 364 Scharfenberg, Joachim 10 Schleiermacher, Friedrich 27 Schnabel, Johann Gottfried Die Insel Felsenburg 390

Schnitzler, Arthur Casanovas Heimfahrt 409, 414, 427 Der einsame Weg 427 Doktor Gräsler, Badearzt 414, 427 Frau Beate und ihr Sohn 405, 406, 409, 414– 423, 425, 427 Frau Berta Garlan 418, 424, 427 Fräulein Else 414 Die Frau des Richters 414 Traumnovelle 414 Über Psychoanalyse 416 Schopenhauer, Arthur Aphorismen Zur Lebensweisheit 90 Vom Unterschiede der Lebensalter 413 Schiller, Friedrich Über naive und sentimentalische Dichtung 400 Scott-Maxwell, Florida The Measure of My Days 91f., 97f. Schlegel, Friedrich Lucinde 396f. Schnitzler, Arthur Casanovas Heimfahrt 355f. Schreber, Daniel Paul Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken 410 Schummel, Johann Gottlieb 378 Der kleine Voltaire. Eine deutsche Lebensgeschichte für unser Freygeistisches Jahrhundert 383 Spitzbart. Eine komi-tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert 383 Wilhelm von Blumenthal, oder das Kind der Natur 383–385 Seneca der Ältere 267 Shakespeare, Wilhelm 390 Solon 198–202, 229f. Statius Silvae 237–251, 252, 257 1 pr. 30–32 244 1.1 244 1,1,66–83 242f. 1,1,91–93 241f. 1,1,105–107 242 1,6 243–246 1,6,3 244 1,6,39–42 245, 252 1,6,98–102 246 2,5 238 3,4,99–102 248 4.2 238

Register 4,2,57–59 248 4,3 247f. 4,3,145–152 247f. 4,3,160–163 247f. Stern, Erich Anfänge des Alterns 411–414 Sueton Augustus 408 Sultantepe-Tafel 134f. Swift, Jonathan Gullivers Reisen 372 Tausendundeine Nacht 390 Thomasin von Zerclære Der welsche Gast 334 Thukydides 1.70.2 210

L. 72,31 307f. L. 100,24 308, 314 L. 124,1 (Elegie) 310, 312–314, 340, 346 Wassermann, Jakob Der Mann von vierzig Jahren 416 Weininger, Otto Charakter und Geschlecht 426 Wiecherts, Ernst Der Mann von vierzig Jahren 406 Whitehead, Alfred N . 37 Wieland, Christoph Martin Der Neue Teutsche Merkur 369 Der Teutsche Merkur 366f. Wilhelm Peraldus 76 De eruditione principum 62, 70f. Woolfe, Virginia Mrs Dalloway 406 Wolfe, Thomas Of Time and the River. A Legend of Man’s Hunger in the Youth 97

1.71.3 210 Tiling, Magdalene von 1, 4 Tondolus der Ritter 336 Traxler, Hans Zapp, Arthur Nachtgebet des alten Giacomo Casanova 372 Der Mann von fünfzig Jahren Triller, Daniel Wilhelm Ziegler, Heinrich Anselm von Daniel Wilhelm Trillers diätetische Lebensregeln oder die Belehrung wie es anzufangen ein hohes AlDie asiatische Banise 387, 390 ter zu erlangen. In Dessen Sieben und Achtzigsten Jahre aufgesetzet 367f. Gedicht von der Veränderung der Arzneikunst 367 Geprüfte Pocken-Inoculation, ein physicalischmoralisches Gedicht 367 Trismosin, Salomon 360 Tullius, Servius 408 Vergil Eclogae 4 248, 263, 264, 274, 275 Georgica 1,121f. 232 Vinzenz von Beauvais 76 De eruditione filiorum nobilium 62–68, 70f. Speculum naturale 51, 56f., 59 Visio Tnugdali 336 Walther von der Vogelweide 310, 312–314, 318 L. 8,4 311 L. 53,25 308, 316, 337 L. 57,23 312–314 L. 66,21 (Alterston) 310, 312–318

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