Adelsreformideen in Preußen: Zwischen bürokratischem Absolutismus und demokratisierendem Konstitutionalismus (1806-1854) 9783050051628, 9783050051604

During the first half of the 19th century, aristocratic reform concepts contended with problems stemming from the transi

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
1.1. Thematische Hinführung
1.2. Problemaufriss, Historiographie und Begriffe
1.2.1. Elitenspaltung, sozialkulturelles Adelsvorbild und nachständische „Adligkeit“
1.2.2. Das Thema Adelsreform in der Historiographie
1.2.3. Begriffe und Definitionen
1.3. Aufbau, Fragestellungen und Quellen
Teil I. Staatsreform und Adelsreform
2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche
2.1. Die preußische Staats- und Adelskrise nach 1806
2.1.1. Kriegsniederlage
2.1.2. Adel und Staatsgesellschaft in Preußen
2.1.3. Die neue Radikalität der Adelskritik nach 1806
2.2. Nation, Elitenreform und Repräsentation
2.2.1. Nationsbildung und Elitenreform
2.2.2. Elitenreform und Repräsentationsfrage
2.2.3. Repräsentationsfrage und Adelsreform
2.2.4. Von der Adelskritik der Spätaufklärung zum Leistungskonzept eines „neuen Adels“
2.3. Anläufe und Hindernisse zur Umsetzung einer Adelsreform 1808- 1815
2.3.1. Steins projektierte Umformung der überkommenen Adelskorporation zu einer „ruling class“
2.3.2. Die unvollständige Gesellschaftsreform durch das Oktoberedikt
2.3.3. Die eigentumsrechtliche Privilegierung des Adels als Hindernis eines „freien“ Elitenentwurfs
2.3.4. Die Adelsreform in den Auseinandersetzungen der Zentraladministration
2.4. Die Neubestimmung einer nachständischen preußischen „Adligkeit“
2.4.1. Die Strukturvoraussetzungen einer Bestimmung preußischer „Adligkeit“
2.4.2. Die Neubestimmung von „Adligkeit“ anhand des englischen Entwicklungsparadigmas
2.4.3. Landschaftstypische Suchmuster nachständischer Adligkeit? Beispiele aus Brandenburg, Ostpreußen und Westfalen
2.5. Zwischen Reformzeit und Vormärz: ständische Formierung und adlige Binnenstabilisierung
2.5.1. Der Provinzialständeverfassung als latente Adelsformierung
2.5.2. Friedrich Wilhelm IV.: die personale Klammer zwischen Reformepoche und vormärzlicher Adelspolitik
Teil II. Was ist Adel in Preußen?
3. Die Adelsreformdebatte der 1840er Jahre – ein diskursives „social engineering“?
3.1. Eine neue Adelspolitik in Preußen
3.1.1. Friedrich Wilhelms IV. „englische“ Adelsreform
3.1.2. Widerstand und Alternative: Rochows Gegenvorschläge zu einer Neuformierung des preußischen Adels
3.2. Identifikation und Auswahl historischer Gehalte von „Adligkeit“: das Staatsministerium
3.2.1. Die unterschiedlichen Positionen der Ministerrunde
3.2.2. Bleibende Dissonanzen des Staatsministeriums bezüglich der Grundbesitzfrage: die Auseinandersetzungen um Rochows „Instruktionsentwurf“
3.3. Auswahl und Verformung der historischen Gehalte von „Adligkeit“ durch „soziale Ingenieure“: die Adelskommission
3.3.1. Die Bildung der Adelskommission
3.3.2. Die Begutachtung durch die Adelskommission
3.3.3. Der Bericht der Adelskommission: kein Konsens über die Bedeutung von „Dienst“ und „Grundbesitz“ für die Erweiterung des Adelsstandes
3.4. Die Beratungen des Adelsgesetzes im Staatsministerium 1843 bis 1848: „Ritterschaft“, „Ritterstand“ und „Neuer Adel“
3.4.1. Die Verhandlung des Kommissionsberichtes im Staatsministerium
3.4.2. Ein entschiedener Unterstützer der königlichen Ideen: Christian Karl Josias v. Bunsen
3.4.3. Die zweite ministerielle Beratung vom Juni 1844
3.4.4. Die dritte ministerielle Beratung des Adelsgesetzes im September 1846
3.4.5. Der Patententwurf zu einer neuen Adelsordnung bis 1848
Teil III. Entsubstanzialisierung durch Formierung?
4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma?
4.1. Die Adelszeitung – eine kommunikativ-ideelle Formierung des Adels?
4.1.1. Der Beginn der „Zeitung für den deutschen Adel“
4.1.2. Die Redaktion und die Herausgeber der „Zeitung für den deutschen Adel“
4.1.3. Die Subskribenten
4.1.4. Der Aufbau und der Charakter der Zeitung
4.1.5. Inhaltsanalyse der „Zeitung für den deutschen Adel“
4.1.6. Nach dem Scheitern des Adelsvereinsprojekts
4.2. Adelsvereinsprojekte – Selbstformierung durch Sammlung des Adels?
4.2.1. Die Urform eines nachständischen Adelsvereins: die „Adelskette“ von 1815
4.2.2. Der Vorschlag einer Adelskette in der Provinz Preußen von 1826
4.2.3. Zwei Adelsvereinsprogramme aus Schlesien
4.2.4. Der Gründungsversuch des „Adelsvereins“ durch die „Adelszeitung“ 1841
4.3. Administrativ-politische Adelsformierung: Reform des Adels ohne „Adelsreform“?
4.3.1. Eine staatliche Adelskontrolle? Der Streit um eine Adelsmatrikel
4.3.2. Fideikommiss und Strict Settlement: neue Formen der Grundbesitzbindung als Basis eines neuen Adels?
4.3.3. Ein Ausblick nach 1848: Adelsreform durch „Aristokratisierung“? Die Etablierung des Herrenhauses als Adelsformierung ohne Adelsreform
5. Schluss: Zusammenfassung und Resümee
Anhang Literaturverzeichnis
Archivalische Quellen
Gedruckte Quellen
Forschungsliteratur
Periodika
Handbücher und Lexika
Peronenregister
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Adelsreformideen in Preußen: Zwischen bürokratischem Absolutismus und demokratisierendem Konstitutionalismus (1806-1854)
 9783050051628, 9783050051604

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Gunter Heinickel Adelsreformideen in Preußen

Elitenwandel in der Moderne

Herausgegeben von Heinz Reif

Band 16

Gunter Heinickel

Adelsreformideen in Preußen Zwischen bürokratischem Absolutismus und demokratisierendem Konstitutionalismus (1806–1854)

DE GRUYTER OLDENBOURG

Die vorliegende Arbeit beruht auf einer Dissertation, die im März 2010 am Europäischen Hochschulinstitut Florenz (EUI) im Department History and Civilisation verteidigt wurde. Die Publikation wurde durch das Europäische Hochschulinstitut finanziell unterstützt.

ISBN 978-3-05-005160-4 e-ISBN (PDF) 978-3-05-005162-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039712-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: Dr. Frank Hermenau, Kassel Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Für Susanne

Preußen trennt „das westliche Europa mit seinem Konstitutionalismus von dem östlichen mit seinem Absolutismus und während die Zeit fortschreitet, schwankt sein Entschluß, wohin es sich neigen soll.“ Anonyme Denkschrift an König Friedrich Wilhelm IV. 1844 „Der Haß gegen den Liberalismus ist das einzige, in dem die Deutschen einig sind.“ Ludwig von Mises 1927

Inhalt

1. Einleitung  9 1.1. Thematische Hinführung   9 1.2. Problemaufriss, Historiographie und Begriffe    17 1.2.1. Elitenspaltung, sozialkulturelles Adelsvorbild und nachständische „Adligkeit“    17 1.2.2. Das Thema Adelsreform in der Historiographie    34 1.2.3. Begriffe und Definitionen    38 1.3. Aufbau, Fragestellungen und Quellen    51

Teil I. Staatsreform und Adelsreform 

 63

 65 Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  2. 2.1. Die preußische Staats- und Adelskrise nach 1806   65 2.1.1. Kriegsniederlage    65 2.1.2. Adel und Staatsgesellschaft in Preußen    70 2.1.3. Die neue Radikalität der Adelskritik nach 1806    73 2.2. Nation, Elitenreform und Repräsentation    81 2.2.1. Nationsbildung und Elitenreform    81 2.2.2. Elitenreform und Repräsentationsfrage    84 2.2.3. Repräsentationsfrage und Adelsreform    90 2.2.4. Von der Adelskritik der Spätaufklärung zum Leistungskonzept eines „neuen Adels“    98 2.3. Anläufe und Hindernisse zur Umsetzung einer Adelsreform 1808 1815   106 2.3.1. Steins projektierte Umformung der überkommenen Adelskorporation zu einer „ruling class“    107 2.3.2. Die unvollständige Gesellschaftsreform durch das Oktoberedikt     114 2.3.3. Die eigentumsrechtliche Privilegierung des Adels als Hindernis eines „freien“ Elitenentwurfs     116 2.3.4. Die Adelsreform in den Auseinandersetzungen der Zentraladministration     119 2.4. Die Neubestimmung einer nachständischen preußischen „Adligkeit“      131 2.4.1. Die Strukturvoraussetzungen einer Bestimmung preußischer „Adligkeit“     131

2.4.2. 2.4.3. 2.5. 2.5.1. 2.5.2.

Die Neubestimmung von „Adligkeit“ anhand des englischen Entwicklungsparadigmas     156 Landschaftstypische Suchmuster nachständischer Adligkeit? Beispiele aus Brandenburg, Ostpreußen und Westfalen     173 Zwischen Reformzeit und Vormärz: ständische Formierung und adlige Binnenstabilisierung     249 Der Provinzialständeverfassung als latente Adelsformierung     249 Friedrich Wilhelm IV.: die personale Klammer zwischen Reformepoche und vormärzlicher Adelspolitik     272

Teil II. Was ist Adel in Preußen?   3.

 289

Die Adelsreformdebatte der 1840er Jahre – ein diskursives „social engineering“?    291 3.1. Eine neue Adelspolitik in Preußen     291 3.1.1. Friedrich Wilhelms IV. „englische“ Adelsreform     291 3.1.2. Widerstand und Alternative: Rochows Gegenvorschläge zu einer Neuformierung des preußischen Adels     307 3.2. Identifikation und Auswahl historischer Gehalte von „Adligkeit“: das Staatsministerium     320 3.2.1. Die unterschiedlichen Positionen der Ministerrunde     322 3.2.2. Bleibende Dissonanzen des Staatsministeriums bezüglich der Grundbesitzfrage: die Auseinandersetzungen um Rochows „Instruktionsentwurf“     340 3.3. Auswahl und Verformung der historischen Gehalte von „Adligkeit“ durch „soziale Ingenieure“: die Adelskommission     344 3.3.1. Die Bildung der Adelskommission     347 Die Begutachtung durch die Adelskommission   3.3.2.   356 3.3.3. Der Bericht der Adelskommission: kein Konsens über die Bedeutung von „Dienst“ und „Grundbesitz“ für die Erweiterung des Adels standes     393 3.4. Die Beratungen des Adelsgesetzes im Staatsministerium 1843 bis 1848: „Ritterschaft“, „Ritterstand“ und „Neuer Adel“     402 3.4.1. Die Verhandlung des Kommissionsberichtes im Staats ministerium     402 3.4.2. Ein entschiedener Unterstützer der königlichen Ideen: Christian Karl Josias v. Bunsen     406 3.4.3. Die zweite ministerielle Beratung vom Juni 1844     419 3.4.4. Die dritte ministerielle Beratung des Adelsgesetzes im September 1846     430 3.4.5. Der Patententwurf zu einer neuen Adelsordnung bis 1848     434

Teil III. Entsubstanzialisierung durch Formierung? 

 459

4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma?    463 4.1. Die Adelszeitung – eine kommunikativ-ideelle Formierung des Adels?     464 4.1.1. Der Beginn der „Zeitung für den deutschen Adel“     467 4.1.2. Die Redaktion und die Herausgeber der „Zeitung für den deutschen Adel“     472 4.1.3. Die Subskribenten     476 4.1.4. Der Aufbau und der Charakter der Zeitung     477 4.1.5. Inhaltsanalyse der „Zeitung für den deutschen Adel“     482 4.1.6. Nach dem Scheitern des Adelsvereinsprojekts     523 4.2. Adelsvereinsprojekte – Selbstformierung durch Sammlung des Adels?     531 4.2.1. Die Urform eines nachständischen Adelsvereins: die „Adelskette“ von 1815     531 4.2.2. Der Vorschlag einer Adelskette in der Provinz Preußen von 1826     542 4.2.3. Zwei Adelsvereinsprogramme aus Schlesien     549 4.2.4. Der Gründungsversuch des „Adelsvereins“ durch die „Adelszeitung“ 1841     573 4.3. Administrativ-politische Adelsformierung: Reform des Adels ohne „Adelsreform“?     582 4.3.1. Eine staatliche Adelskontrolle? Der Streit um eine Adelsmatrikel     586 4.3.2. Fideikommiss und Strict Settlement: neue Formen der Grundbesitzbindung als Basis eines neuen Adels?     600 4.3.3. Ein Ausblick nach 1848: Adelsreform durch „Aristokratisierung“? Die Etablierung des Herrenhauses als Adelsformierung ohne Adelsreform     613 5.

Schluss: Zusammenfassung und Resümee 

 671 Anhang Literaturverzeichnis   Archivalische Quellen    671 Gedruckte Quellen    672 Forschungsliteratur    675 Periodika     691 Handbücher und Lexika     691 Peronenregister

  693

 653

Danksagung Ursprünglich angeregt war die Idee einer Adelsstudie durch eindrückliche Studienjahre an der London School of Economics, den daraus erwachsenen Freundschaften und den gewährten Einblicken in eine gegenüber dem „Kontinent“ so anders gestimmte europäische Gesellschaft. So standen zu Anfang des Vorhabens Ideen eines deutsch-britischen Elitenvergleichs. Zudem befand sich die Welt noch ganz unter dem Eindruck des Epochenwechsels von 1989/90. Die seither eingetretenen weltweiten Umwälzungen wirkten schließlich auch auf die Perspektivenwahl dieser Studie. Der Haupttitel der Dissertation, die diesem Buch zugrunde liegt und im März 2010 am Europäischen Hochschulinstitut Florenz (EUI) verteidigt wurde, erklärt sich nicht zuletzt aus diesen Einflüssen: Adelsreformideen als „Suche nach einem dritten Weg“. Dass das Vorhaben ein so unvorhersehbares Eigenleben entwickeln durfte, verdankt sich allein der unendlichen Geduld meiner Förderer und Betreuer, Michael G. Müller und Heinz Reif, die dem Projekt vom Anfang bis zum langen Ende die Treue hielten. Dabei räumten sie mir wie allen von ihnen betreuten Kollegen der jüngeren Adelsforschung das Privileg ein, noch vom Forschungsmaterial lernen zu dürfen anstatt diesem die Erwartungen politischer und anderer Korrektheiten aufzutragen. Die ihnen geschuldeten Anregungen, Hinweise und ermutigenden Kritiken sind gar nicht aufzuzählen. Dem DAAD danke ich für das dreijährige Stipendium am Europäischen Hochschulinstitut Florenz (EUI). Insbesondere auf die Vermittlung Michael G. Müllers geht die Unterstützung der einstigen Historischen Kommission zu Berlin sowie des Deutschen Historischen Instituts in Warschau zurück, die mehrere Forschungsreisen nach Polen finanzierten. Und in der Schlussphase der Arbeit motivierte noch einmal ein von ihm ermöglichtes Kurzzeitstipendium am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig. Mein Dank für Heinz Reif gilt neben seiner intensiven Betreuung dafür, dass er es mir ermöglichte, als gewissermaßen „assoziiertes Mitglied“ in der DFG-Forschungsgruppe Elitenwandel in der Moderne Platz zu nehmen. So konnte ich an der dortigen Entwicklung neuer Ansätze in der Adelsforschung unmittelbar teilhaben. Aus dieser Forschergruppe entstanden mehr als nur kollegiale Verhältnisse. Insbesondere von Wolfram Theilemann erfuhr ich nicht nur inhaltliche, sondern auch die – oft nötigen – freundschaftlichen Ermutigungen, an den Grundideen der Arbeit unbedingt festzuhalten; ebenso eröffnete er mir zusammen mit seiner Familie sehr eigene Zugangswege und Einsichten in ein älteres und süd-östliches Europa. Des Weiteren geht mein Dank an Stephan Malinowski und Rainer Pomp. Vor allem Letzterem bin ich für die selbstlose Mühe und Unterstützung bei der Erstellung und Korrektur des Manuskriptes verpflichtet. Ein bedeutender Anteil bei der Konzeption der Arbeit kommt den Anregungen Dirk H. Müllers zu. Dessen unerbittliche Verweise auf die Unhintergehbarkeit des his-

8 

 Danksagung

torischen Adelsrechts begleiteten den Weg des Vorhabens von Florenz über Leipzig bis nach Berlin, und wollten dabei einen therapeutischen Unterton gegenüber den Sozialwissenschaften durchaus nicht verleugnen. Nur selten begegnet man im akademischen Leben dieser Kombination aus fachlicher Präzision und Humor. Danken möchte ich auch Karsten Holste (GWZO), und das nicht nur für die Diskussionen über Konservatismus und Ständewesen. Profitiert hat die Arbeit ebenfalls von den informellen Zigarillo-Kolloquien mit Hartwin Spenkuch im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, wie überhaupt von den zahlreichen inhaltlichen, biographischen und archivalischen Hinweisen von Christina Rathgeber und Bärbel Holz (alle Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften). Ohne sie wäre mir der vergangene (und irrtümlich mythisierte) preußische Verwaltungsapparat auf ewig ein Rätsel geblieben. Die Diskussionen mit Martin Schönberg während unserer gemeinsamen Zeit am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin halfen bei der Klärung vieler Gedanken und Formulierungen. Und meiner Kollegin und Mitbewohnerin in Italien, Aliocha Maldavsky, danke ich für unvergessliche Florentiner Tage und für die geschichtlichen Einblicke in ein ibero-amerikanisches outremer zwischen Jesuiten und Indianern. Vor allem danke ich aber Susanne für all die Geduld und Nachsicht auf einem langen Weg. Berlin-Tiergarten, Oktober 2014

1. Einleitung Stehen bleiben – es wäre der Tod, nachahmen – es ist schon eine Art Knechtschaft, eigne Ausbildung und Entwicklung – das ist Leben und Freiheit. Leopold v. Ranke, Zur Geschiche Deutschlands und Frankreichs im 19. Jahrhundert, hrsg. 1887

1.1.

Thematische Hinführung

Adelsreformen als Spielart eines dritten Weges der Elitenformierung Die Sehnsucht nach „dritten Wegen“ im Prozess des gesellschaftlichen Wandels der Neuzeit hat in der deutschen Geschichte eine lange Tradition. Insbesondere seit der Krise des Absolutismus im ausgehenden 18. Jahrhundert und der einsetzenden Auflösung der ständischen Gesellschaft finden sich im deutschen Raum vielfältige intellektuelle Strömungen, die, oft in Abgrenzung zu zeitgenössischen Vergleichsgesellschaften, zwischen radikalem Wandel und starrer Verharrung einen „maßvollen“, d.h. Innovation und Tradition integrierenden, eben einen „dritten Weg“ gesellschaftlicher Anpassungsleistungen suchten.1 Um eine elitenorientierte Spielart solcher „Dritte Wege“-Vorstellungen handelt es sich auch bei den Vorschlägen zu einer „Reform“ oder „Erneuerung“ des Adels in Deutschland, die seit dem Ausgang des „ancien régime“ im Alten (deutschen) Reich bis ins 20. Jahrhundert zu finden sind. Ausgelöst wurde der Ruf nach einer „Adelsreform“ durch die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgemein empfun-

1 Einen allgemeinen begriffsgeschichtlichen Überblick zum „Dritten Weg“ bieten Alexander Gallus/ Eckhard Jesse, Was sind Dritte Wege? Eine vergleichende Bestandsaufnahme, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16-17/2001, S. 6-15. Im 20. Jahrhundert waren Ideen eines „Dritten Weges“ überwiegend durch pragmatische Überlegungen darüber geleitet, inwieweit nichtökonomische Zielsetzungen und wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Logik in Übereinstimmung zu bringen sind. Diese Ordnungsvorstellungen schwankten daher schon immer stark um die Dichotomie kapitalistisch-marktwirtschaftlicher und sozialistisch-planwirtschaftlicher Ansätze. Ursprünglich konnte sich der Begriff holistisch „auf politische, kulturelle und wirtschaftliche Aspekte beziehen oder eine Gemengelage aus ihnen sein“, siehe: Ebd., S. 6. Vgl. auch die Definitionsversuche bei: Eckhard jesse, Dritter Weg, in: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Frankfurt a.M. 1992, S. 252-257; Manfred G. Schmidt, Stichwort „Dritter Weg“, in: Ders., Wörterbuch zur Politik, Stuttgart 1995, S. 240f; Heinz Timmermann, Dritter Weg, in: Thomas Meyer u.a. (Hrsg.), Lexikon des Sozialismus, Köln 1986, S. 173-140; Stefan Wolle, Dritter Weg, in: Hans-Joachim Veen u.a. (Hrsg.), Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, Berlin/München 2000, S. 109f. In den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts sollte dieser Begriff in diesem Sinne noch einmal eine Renaissance erfahren. Dafür zeichnete ausgerechnet ein Brite, nämlich Anthony Giddens mit seinen Anregungen zu einer Erneuerung der Sozialdemokratie verantwortlich: Ders., Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a. M. 1999 (zuerst 1998).

10 

 1. Einleitung

dene „Adelskrise“, manifest in einer umfassenden bürgerlichen Adelskritik, deren intellektuelles Zentrum in Frankreich lag.2 Die vorgebliche Insuffizienz des Adels in der Erfüllung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben und dessen aus dieser Perspektive unbegründbaren Privilegien bildeten die Hauptziele dieser Kritik.3 Die Erschütterungen der französischen Revolution und der Siegeslauf der napoleonischen Armeen ließen um 1800 das Problem neuer Führungsschichten für die meisten kontinentaleuropäischen Gesellschaften dringlich werden. Vor diesem Hintergrund wurde von aufklärerisch-bürgerlicher Seite den überkommenen Führungsansprüchen des Adels der Begriff der „Elite“ entgegengestellt, der im Kern auf allein meritokratische, nicht geburtsständische Vorstellungen von Führungslegitimation zielte.4 Denn anders als der Adel, der sich in der vormodernen Gesellschaft über Erblichkeit als Herrschaftsschicht rekrutierte und legitimierte, muss sich eine Elite in jeder Generation neu über nachweisbare Leistungen ausweisen, um sich an der gesellschaftlichen Spitze positionieren zu können. Indessen fällt auf, dass die deutschen Auseinandersetzungen über die künftige Rolle gesellschaftlicher Führungsgruppen stark am Adelsvorbild orientiert blieben, nicht zuletzt auf Seiten beteiligter Bürgerlicher. Deren Vorhaben, erneuerte und leistungsfähigere Führungsgruppen in der nachständischen Gesellschaft zu schaffen, grenzte sich einerseits von altständischen Legitimationsvorstellungen und Lebensidealen adliger Führungsschichten ab; andererseits wurde die Entwicklung einer „konsequent alternativ zum Adel verstandenen „élite“ als „bürgerlichem Projekt“ vermieden.5 Vielmehr forderten zahlreiche Stimmen während des ganzen 19., ja noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bildung eines „Neuen Adels“, einer

2 In der Forschung wird der Begriff der „Adelsreform“ freilich auch für frühere Epochen und Vorgänge benutzt. Die hier behandelten „modernen“ Adelsreformideen sind von älteren Forderungen einer „inneren“ und moralischen Erneuerung des Adels, wie sie schon im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit auftraten, zu unterscheiden. 3 Zur populären Variante dieser Adelskritik im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert vgl. Manuel Frey, „Offene Gesellschaft“ und „gemeinsame Klasse“. Adel und Adelskritik im bürgerlichen Trivialroman zwischen 1780 und 1815, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 44. Jahrgang 1996, S. 502525. 4 Zu den Begriffen „Adel“ und „Elite“ siehe: Werner Conze/Christian Meier, Artikel „Adel, Aristokratie“ in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 1-48. Rudolf Endres, Adel in der Frühen Neuzeit, München 1993. Tatsächlich sind diese Begriffe nicht einfach als historisch-zeitlich aufeinander folgend zu begreifen – schon in der altständischen Gesellschaft existierten beide Formen gesellschaftlicher Führungskonzepte und waren nicht notwendig deckungsgleich. So gab es sehr wohl nichtadlige Eliteangehörige, wie auch nicht jedes adlige Individuum zur Elite gezählt werden muss. 5 Heinz Reif erkennt in den Auseinandersetzungen um einen „Neuen Adel“ sogar eine vornehmlich bürgerliche Diskussion, vgl. Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd. 1 Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 12.



1. Einleitung 

 11

„neuen Aristokratie“, die dem alten Adel die angestammte Rolle eines Elitenreservoirs zuerkannten, vorausgesetzt, dieser akzeptierte die neue bürgerliche Konkurrenz und deren Leistungskriterien.6 Mit anderen Worten: moderne Leistungs- und Verdienstkriterien bei der Elitenauswahl sollten mit den Prinzipien der Geburtsauslese ständischer Gesellschaften in Einklang gebracht werden. Denn noch lange wurde dem Adel teils freiwillig, teils unwillig eine Überlegenheit an Prestige, Alltagskultur (mit vorbildhaftem Sozialverhalten), Lebensklugheit und Herrschaftswissen zugestanden, auf die auch eine sich verbürgerlichende Gesellschaft nicht einfach verzichten zu können glaubte.7 Nicht zuletzt bürgerliche Intellektuelle und Künstler bewunderten am Adel dessen spezifische Lebensformen, die ein der künstlerischen und intellektuellen Persönlichkeit günstigeres (mäzenatisches) Klima versprachen, als

6 Zu den parteiübergreifenden Neuadels-Idealen und aristokratischen Elitekonzeptionen in Deutschland bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts: Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008. Aufmerksam machte auf diesen Komplex schon Dieter Langewiesche, Bürgerliche Adelskritik zwischen Aufklärung und Reichsgründung in Enzyklopädien und Lexika, in: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848, München 1994 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 31), S. 11-28. So führte noch 1840 Meyer´s Conversations-Lexikon an: „Allein damit soll der Stab über den Adel nicht gebrochen seyn; auch die Meinung hat etwas für sich, dass das Institut des Adels eine Seite darbiete, von welcher sich dasselbe bei einigen Modifikationen der jetzt bestehenden Verhältnisse recht gut mit dem Geiste der Gegenwart aussöhnen und vereinigen lässt“. Diese Reformseite, resümiert Langewiesche, erkannte dieses „Conservationslexikon für die gebildeten Stände“ im „großen Vermögen des Adels an Grund und Boden“, dem darauf begründeten „sicheren Erwerb“, und der darauf gegründeten „verfeinerten“, „geistigen Ausbildung“ und „Unabhängigkeit von der Regierung“, vgl. Ders., Adelskritik, S. 15. Damit fügte sich Meyer´s Conversationslexikon in eine Argumentationstradition, wie sie u.a. schon von Johann Anselm Feuerbach 1812 in seinen „Betrachtungen über den Geist des Code Napoleon“ formuliert worden war: weder ein persönlicher Verdienstadel, noch ein nicht begüterter Erbadel könne eine verfassungsmäßige Rolle im Sinne eines Montesquieu ausfüllen und die monarchische Alleinherrschaft durch „Gesetz und Ehre“ beschränken. Nur ein „Majoratsadel im Sinne des französischen und englischen Staatsrechts“ könne dieser Aufgabe gerecht werden, zit. nach Robert v. Friedeburg, Das Modell England in der Adelsreformdiskussion zwischen Spätaufklärung und Kaiserreich, in: Reif, Adel und Bürgertum, S. 29-49, hier S. 29. 7 Heinz Reif fasste die gerade den deutschen Adel günstigen Ausgangsbedingungen zu Anfang des 19. Jahrhunderts folgendermaßen zusammen: „Das Odium, das nach Alexis de Tocqueville so schwer auf dem Adel im vorrevolutionären Frankreich lastete, Reichtum und Privilegien ohne Verdienst für die Allgemeinheit, traf ihn kaum. Er besaß gegenüber den bürgerlichen Gruppen einen Vorsprung an Prestige, Vermögen und Lebensklugheit in der Statussicherung. 35 (1918 immer noch 19) Höfe und der gesamte, relativ zahl­reiche, weiterhin „glänzende“ Hochadel blieben, wenn auch in veränderter Form, erhalten und damit bis 1918 eine sichtbare Repräsentation des Prinzips sozialer Ungleichheit.“, in: Ders., Einleitung, S. 8. Freiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig Knigge bezeichnete die Situation im Deutschland zu Ausgang des 18. Jahrhunderts ausdrücklich als nicht revolutionär, und verwies auf die in Vergleich zu Frankreich völlig anders gelagerte soziale Ausgangssituation, vgl. Ders., Über die Ursachen, warum wir vorerst in Teutschland wohl keine gefährliche politische Haupt-Revolution zu erwarten haben, in: Schleswigsches Journal 2, 1793, S. 273-290, hier S. 273.

12 

 1. Einleitung

das wirtschaftsbürgerliche „Schaffen und Raffen“.8 In der poetischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts kam diese Sehnsucht in einer künstlerisch äußerst fruchtbaren Symbiose bürgerlicher wie adliger Künstler und Autoren zu ihrem wirkungsvollsten Ausdruck.9 Zugleich verband sich mit der Idee einer solchen Adelsreform die Hoffnung, die Dynamisierung aller sozialen und politischen Ordnungsbereiche der nachabsolutistischen, „entsicherten Ständegesellschaft“ bremsen und steuerbar machen zu

8 „Der Historiker mag hier darauf hinweisen, daß jede Gesellschaftsepoche ihre eigenen Ordnungsbegriffe, ihre besonderen Auffassungen von Tugend und Tüchtigkeit, Leistung und Ansehen hat. Es gilt, ruhig zu begreifen, während der homo oeconomicus und der homo technicus nur Untätigkeit, Unernst, Zeitvergeudung, Faulenzerei feststellen wollen. Die Beanspruchung des Müßiggangs als adeliges Vorrecht und Grundlage höherer Kultur in Friedrich Schlegels „Lucinde“ ist gewiß problematisch, aber sie deutet an, daß bereits im gehobenen gesellschaftlichen Dasein an sich Sozialwerte liegen können“, vgl. Heinz Gollwitzer, Die Standesherren. Die politische und wirtschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815-1918, Stuttgart 1957, S. 339. Noch 1866 konzedierte der liberale Historiker und Publizist Hermann Baumgarten in seiner Schrift „Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik“, ein adlige Überlegenheit der politischen Klugheit und des diplomatischen Geschicks – das wiederholte Scheitern liberal-bürgerlicher Hoffnungen seit 1848, vor allem aber die innen- wie außenpolitischen Triumphe Bismarcks 1864-1871 schienen anschaulicher Beleg für diese Überlegenheit: „Aber zur eigent­lichen politischen Aktion ist nichtsdestoweniger der Mittelstand wenig geschaffen [...]. Die Natur seiner gesellschaftlichen Stellung, die Wirkung seiner Berufstätigkeit auf Lebensgewohnheiten und Charakterformen und Gedankenrichtungen wird den bürgerlichen Mann nur in seltenen Fällen befähigen, in großen politischen Geschäften mit Erfolg zu arbeiten. Er wird den Kammern die einsichtigsten und kenntnisreichsten Mitglieder, aber nur selten Führer geben, welche die gesamte Situation mit staatsmännischem Blick zu beherrschen und im entscheidenden Augenblick die entscheidende Tat zu tun verstehen. Er wird den Ministern die vortrefflichsten Räte liefern, aber nur selten gute Minister, welche im Stande sind, ebenso geschickt mit den regierenden Herrn zu verkehren wie mit den Abgeordneten“, Hermann Baumgarten, Historische und politische Aufsätze und Reden, Straßburg 1894, S. 95ff. Zugleich aber beklagte Baumgarten, dass der deutsche Adel, ungleich des englischen oder italienischen seine „nationale Aufgabe“ nicht erfasst habe, nämlich Absolutismus und Partikularismus zu zerbrechen. Seit 1815 sei diese Aufgabe gestellt gewesen: „In beiden Stücken hat bis zur Stunde der Adel als Stand gegen uns gekämpft, statt daß es sein wie des englischen und italienischen Adels Beruf gewesen wäre, an der Spitze der Nation nach einer politischen Gestaltung zu ringen, die allein auch ihm eine seiner würdige Stellung zu geben vermag“, wie oben. Auf die (teils unwillig-ironische) Konzessionierung der Überlegenheit der sozialen Formen der adelsständischen Welt von den Konservativen wie Burke und Lampedusa bis ganz links bei Marx verweist Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003, bes. S. 13-14. 9 Jochen Strobel, „Ein hoher Adel von Ideen“. Zur Neucodierung von „Adeligkeit“ in der Romantik (Adam Müller, Achim v. Arnim), in: Zwischen Aufklärung und Romantik. Neue Perspektiven der Forschung, hrsg. v. Konrad Feilchenfeldt, Ursula Hudson, York-Gothart Mix, Nicholas Saul, Würzburg 2006, S. 318-337, hier S. 319f.



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können.10 Das grundlegende Motiv bildete die Revolutionsabwehr.11 Gesellschaftliche Stagnation und Rückständigkeit wie im Alten Reich sollten ebenso ausgeschlossen werden wie der radikale Traditionsbruch des revolutionierten Frankreich. Es galt, den seit der Französischen Revolution als zerstörerisch erkannten Elitenkonflikt zwischen Adel und Bürgertum zu entschärfen. Auf dieser Grundlage verhandelten Adelsreformvorschläge die Potentiale und Inhalte adlig-bürgerlicher Bündnisse. Welche Konzessionen der jeweiligen Seite waren denkbar? Wie weit durfte die Zurücknahme eigener Positionen gehen, und welche Reichweite sollten die erzielten Kompromisse haben? Und das Phänomen „Adelsreform“ hatte als „Dritte-Weg“-Vorstellung alternativer Entwicklungsmöglichkeiten noch eine dritte, staats- und ordnungspolitische Dimension: zeitlich wie räumlich wurden Adelsreformideen in das Ideal einer übergreifenden politischen Ordnungsvorstellung eingebunden, die den absolutistisch-bürokratischen Zentralismus des 18. Jahrhunderts überwinden wollte, um doch niemals in der sich abzeichnenden Konstitutionalisierung unter demokratischem Vorzeichen zu enden. Diese ideal-imaginierte Ordnung wurde so zwischen überwundenem Absolutismus wie befürchtetem Konstitutionalismus verzeitlicht und zugleich räumlich assoziiert: zwischen Russland, dem zentralistisch-absolutistisch-bürokratischen Staat in despotischer Reinform im Osten, und dem post-ständisch konstitutionalisierten, schon teildemokratisierten Frankreich im Westen; oder, in den knapp sarkastischen Worten Otto v. Bismarcks von 1849: zwischen „wohltuendem Säbelregiment und Jakobinerherrschaft“.12

10 Der Begriff der „entsicherten Ständegesellschaft nach Ewald Frie, Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777-1837). Adelsbiographie vor entsicherter Ständegesellschaft, in: Heinz Reif (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 83-102, hier S. 86. 11 Zur Bereitschaft des liberalen Bürgertums zum Ziel kontinuierlichen statt revolutionären Wandels mit dem Adel einen Ausgleich anzustreben vgl. Elisabeth Fehrenbach, Adel und Bürgertum im deutschen Vormärz, in: Historische Zeitschrift, Bd. 258, Heft 1, 1994, S. 1-28. 12 Nur erbliche Pairie gebe Bürgschaft dafür, dass die preußische Verfassung „zwischen wohltuendem Säbelregiment und Jakobinerherrschaft hindurch komme“, so Bismarck, zit. aus der Rede Bismarcks vom 24.X.1849 in der 2. Preußischen Kammer, siehe: Fürst Bismarcks Reden: mit verbindender geschichtlicher Darstellung, Philipp Stein (Hrsg.), Bd. I, Leipzig 1895, S. 144ff. Schon vor Bismarck formulierte Joseph v. Radowitz 1844 denselben Gedanken angesichts einer angeblichen Bedrohung Deutschlands: „Von Frankreich aus durch die Lehren und Waffen der Volkssouveränität, von Russland her durch die des absoluten Imperatorenthums“, vgl. „Deutschlands Gefahren“ in: Joseph v. Radowitz, Gesammelte Schriften, Vierter Band, Berlin 1853, S. 140. Die Englandbegeisterung der politischen Spätaufklärung und Romantik hat hier ihre wesentliche Wurzel: die englischen Verfassungsverhältnisse „erschienen als Gegenpol zu der in Frankreich vorherrschenden revolutionären „Tradition des Traditionsbruches“, als Gegenpol aber auch zum bürokratisch-polizeilichen Despotismus russischer Prägung […]“, vgl. Frank-Lothar Kroll, Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik, Berlin 1990, S. 168.

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Untersuchungsgebiet und Untersuchungszeitraum Forderungen und Initiativen einer Adelsreform traten im gesamten Gebiet des Alten Reiches und des 1815 auf dem Wiener Kongress gegründeten Deutschen Bundes auf.13 Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich jedoch auf Adelsreformdiskussionen, welche die Situation des Adels in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Ausgangs- und Bezugspunkt ihrer Überlegungen machten. Auch wenn anders als z.B. in Bayern eine staatlich-administrative Adelsreform in Preußen schließlich nicht umgesetzt wurde, gibt es für diese Wahl gute Gründe.14 Nach den wiederholten militärischen Niederlagen gegen das napoleonische Frankreich, der Auflösung des Alten Reichs 1806, der Gründung des Rheinbundes und der preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt wurde in Preußen die veränderte Rolle des Adels in einer neuen Gesellschaft, bzw. die Rolle eines neuen Adels für die Gesellschaft diskutiert. Der schwer erschütterte historische Adel war auch nach der Niederwerfung Napoleons 1814/15, darin waren sich die maßgeblichen politischen Kräfte einig, in seinen altständischen Formen nicht mehr zu konservieren oder gar zu restaurieren. Aber der Adel als soziale Erscheinung wie als Korporation sollte sich auch nicht einfach in der verbürgerlichenden Gesellschaft auflösen. Dies wurde in Preußen selbst von der Mehrheit der liberalen Wegbereiter der nachständischen

13 Beispiele aus dem gesamtdeutschen mediatisierten Adel, der nach 1815 seine lan­desherrlichen Rechte verloren hatte, fasste Heinz Gollwitzer zusammen, vgl.: Ders., Die Standesherren, S. 327-328: „Angehörige des Mediatisiertenstandes sind teils mit eigenen Vorschlägen (Karl Leiningen, Wilhelm Löwenstein), teils in der Debatte über die von anderer Seite stammenden Entwürfe hervorgetreten (Giech, Leiningen, Eberhard Erbach-Erbach). Es ging bei den Projekten gewiß auch um praktische Fragen wie gegenseitige wirtschaftliche Unterstützung, um Selbsthilfe und Kreditinstitute, finanzielle Erleichterung der Ausbildung der Söhne und Versorgung der Töchter, aber man griff weit darüber hinaus, plante eine geistig-ethische Erneuerung und erörterte, wie Standessitte und historisches Familienbewußtsein fruchtbar zu pflegen seien. Zur Stellung des Adels im öffentlichen Leben und innerhalb der Gesamtgesellschaft lagen sehr durchdachte Vorschläge hinsichtlich der Auffrischung des Adels durch Neuaufnahmen und seiner Abgrenzung vor, man wollte zwischen Adelsfähigkeit und eigentlichem, vollberechtigtem Adel unterscheiden, man erwog Beschränkung des tatsächlichen Adels auf den (christlichen) Großgrundbesitz oder nach englischem Vorbild auf die Chefs und ihre Erstgeborenen und wollte die Nachgeborenen zur Ablegung des Adelstitels veranlassen, man diskutierte eine neue Klasseneinteilung des Adels und neue Formen korporativen Zusammenschlusses, das Recht der Souveräne zu nobilitieren einerseits und andererseits das Aufnahmerecht als Teil einer allfälligen Autonomie neu zu bildender Adelsgenossenschaften und schließlich die rechte Zuordnung von Besitz und Verdienst, Tradition und Leistung innerhalb einer umfassend reformierten Adelsorganisation.“ 14 Zur Adelsreform in Bayern, vgl. Walter Demel, Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/08-1817: staats- u. gesellschaftspolitische Motivationen u. Hintergründe der Reformära in der 1. Phase des Königreichs Bayern, München 1983. Allerdings scheiterten die von Montgelas in Bayern durchgeführten Bestimmungen zur Schaffung eines neuen Adels nach 1815 schnell wieder, so dass sie auch dort bis auf wenige Rudimente nur Episode blieben, vgl. Carl August Graf v. Drechsel, Über Entwürfe zur Reorganisation des deutschen Adels im 19. Jahrhundert, Ingolstadt 1912, S. 16-20.



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Gesellschaft anerkannt. Vielmehr wurde ihm noch einmal das Angebot gemacht, als Teil einer Elitenressource in der beabsichtigten Staatsreform berücksichtigt zu werden. Staatsreform verband sich deshalb in Preußen in enger Weise mit der Idee einer Adelsreform. So finden sich in Preußen Initiativen, Forderungen und Beiträge zu Fragen einer Adelsreform seit den Reformen ab 1806 bis in die Zeit des Vormärz, über die Zäsur der Revolution von 1848 hinweg bis in die Restaurationsepoche, und selbst noch im zweiten Deutschen Kaiserreich. Die dichteste und konsequenteste Diskussion um eine Adelsreform wurde aufgrund der persönlichen Initiative König Friedrich Wilhelms IV. allerdings in den 1840er Jahren geführt. Doch wäre es irreführend, die Ursachen dafür allein in einer persönlichen Marotte dieses Monarchen zu sehen, wie es die bisherige Forschung überwiegend tat. Vielmehr griffen die darin anklingenden Motive und Lösungsvorschläge die Diskussionen der Reformepoche wieder auf und verweisen so auf langfristige sozialkulturelle und verfassungspolitische Problemlagen im Preußen zwischen Reform und Revolution. Denn jenseits der situativen, taktischen und personalen Motive der jeweils Handelnden schienen die preußischen Rahmenbedingungen das Bedürfnis zur Bildung neuer überregionaler Eliten in besonderen Maße hervorzurufen: im Verband der „preußischen Staaten“, welcher wie die habsburgische Monarchie Gebiete innerhalb und außerhalb des Alten Reiches, bzw. des späteren Deutschen Bundes umfasste, stießen äußerst unterschiedliche Adelsformationen aufeinander. Eine gesamtstaatlich orientierte Elitenpolitik, die in gleichen Maßen auf diese unterschiedlichen Adelslandschaften als Elitenreservoir zurückgreifen wollte, kam nicht umhin, eine Homogenisierung und Synchronisierung dieser unterschiedlichen Adelsstrukturen anzustreben – woraus sich fast zwingend ein erstes Motiv für einen staatlichen Eingriff in die historisch überkommenen Adelsverhältnisse Preußens, also eine Adelsreform, ergab. Entsubstanzialisierung und Metaphorisierung des Adelsbegriffs Paradoxerweise, so die über den eigentlichen Zeithorizont dieser Untersuchung hinausweisende These der Arbeit, bereiteten die wiederholten Auseinandersetzungen um einen erneuerten Adel den Boden für eine Radikalisierung adliger Identität in der Eigen- wie Fremdzuschreibung: ursprünglich als ausgleichende, antizipatorische Lösungsstrategie latenter Elitenkonflikte entworfen, werden die in Preußen-Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehäuft auftretenden Adelsreformideen als Bestandteile einer ideengeschichtlichen Antezedenz verstanden, welche allerdings erst Jahrzehnte später in einer spezifischen, völkisch konnotierten Radikalisierung des Adelsbegriffs ihre volle Wirkung entfalten sollte.15 Denn Adelsreformideen

15 Zur Ausbildung von Elementen der späteren Sonderwegsideologie schon im deutschen Vormärz und ihrer späteren und späten Wirkung in Kaiserreich und Weimarer Republik vgl. Manfred Bot-

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sind nicht nur als Folge einer fortgeschrittenen „Entsubstanzialisierung“ der adligen Lebenswelt in der nachständischen Gesellschaft zu verstehen, sondern sie forcierten und strukturierten ihrerseits diese „Entsubstanzialisierung“. Denn durch ihren utilitaristischen gesellschaftspolitischen Ansatz nahmen sie eine Selektion, Zuspitzung und Abstrahierung adliger Selbstzuschreibungen und Leistungsmerkmale vor, und lösten diese latent von der Lebenswirklichkeit der konkreten Sozialformation „Adel“ ab – objektivierbare Zugehörigkeitskriterien machten Platz, oder wurden gar nicht erst entwickelt zugunsten von „semantisierten“ und „metaphorisierten“ Zuschreibungen. In dieser diskursiv vorbereiteten und „popularisierten“ Semantisierung und Metaphorisierung „adelsgemäßer“ Verhaltens- und Zugehörigkeitskriterien im Prozess der fortschreitenden rechtspolitischen und materiellen Erosion des Adels darf der womöglich entscheidende Grund gesehen werden, warum es um 1900 dem zunehmend ökonomisch wie sozial marginalisierten preußischen Kleinadel der östlichen Provinzen gelingen konnte, eine Deutungshoheit über standeskonforme Verhaltensmaßstäbe, Haltungen und Werte zu erringen, und diese auch gegenüber materiell und gesellschaftlich besser gestellten Standesgenossen zu behaupten.16 Nicht zufällig verweisen die älteren Adelsreformideen mit ihrer Mischung und teleologischen Deutung von reformerischen, auf Veränderung abzielenden, und konservierend traditionalen Anliegen schon auffällig auf Denkmuster der deutschen Sonderwegsideologie und neurechter Strömungen um 1900.17 Ihren tragischen Höhe- und Endpunkt erreichte die Idee eines „Neuen Adels“ bekanntlich erst in den ominösen nationalsozialistischen Konzepten eines „Neuadel aus Blut und Boden“.18 Diese wesentlich späteren Entwicklungen bleiben aber außerhalb des in dieser Arbeit betrachteten Zeithorizonts, der mit der Etablierung des preußischen Herrenhauses in der Mitte des 19. Jahrhunderts enden soll. Im Unterschied zu diesen späte-

zenhart, Anfänge des „deutschen Sonderwegs“ im Vormärz, in: Paul Leidinger/Dieter Metzler (Hrsg.), Geschichte und Geschichtsbewusstsein. Festschrift für Karl-Ernst Jeismann, Warendorf 1990, S. 366-379. Zur „Antezedenz“ latenter Adels- bzw. „Adligkeitsideale“ als vorbereitendem Element späterer kulturpolitischer Entwicklungen siehe István Bibo, Die deutsche Hysterie. Ursachen und Geschichte, Frankfurt a.M. 1999, S. 17f. 16 Den Weg der Radikalisierung und Umdeutung des Adelsbegriffs in Kaiserreich und Weimarer Republik speziell durch den ostelbischen Kleinadel beschreibt ausführlich und detailreich Mali­ nowski, Vom König zum Führer, bes. S. 104-117. 17 Zum „dritten Weg“ als Ideologie eines „deutschen Weges“ im Kaiserreich vgl. Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980. Zu den Denkmustern der „Neuen Rechten“ siehe Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871-1945, Darmstadt 2001, S. 14. Allerdings sagt Breuer nichts über die Entstehungsbedingungen der widersprüchlichen Amalgamierung dieser Ideologeme. 18 Eckart Conze, Adel unter dem Totenkopf. Die Idee eines Neuadels in den Gesellschaftsvorstellungen der SS, in: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Eckart Conze/Monika Wienfort, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 151-176.



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ren Entwicklungen sind Adelsreformprogramme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch immer als Teil eines rationalen Diskurses anzusehen, der noch keineswegs in den „Metaphern“ und dem „wolkig-Ungefähren“ der Neuadelsideen um 1900 aufging.19 Bei aller partieller Phantasterei konnten diese älteren Ideen eines „Neuen Adels“ auf funktionstüchtige Monarchien hoffen, die den Adel zu stützen bereit und fähig waren, und darauf, dass der Adel noch immer stark im großen Grundbesitz verankert war. Die noch wirksamen rechtlichen Restbestände der altständischen Zeit und die relative Erinnerungsnähe zum ancien régime ließen zudem praktische Vergleiche und historische Bezüge aus eigener Erfahrung und Anschauung der Akteure und Diskutanten zu, und gaben dem Glauben an die Umsetzbarkeit eines solchen Vorhabens zumindest bis 1848 einen realen Gehalt.

1.2.

Problemaufriss, Historiographie und Begriffe Ich versprach es Ihnen einst im Scherz, Ihnen das erste Werk, worin ich die Anonimität verließ, zuzueignen. Ich halte Wort und freue mich, an Ihnen ein Muster aufstellen zu können, auf den der Adel stolz sein darf; denn wer genießt und verbreitet wohl mehr Familienglück als Sie und Ihre würdige Frau Gemahlin? Dem Vice Landmarschall Herrn v. Oertz, Erbherrn auf Kottorf und Lükkersdorf gewidmet, Philipp v. Arnim, Über den Adel, Berlin 1792

1.2.1. Elitenspaltung, sozialkulturelles Adelsvorbild und nachständische „Adligkeit“ Zu ganz unterschiedlichen Epochen und aus verschiedenen gesellschaftspolitischen Lagern heraus ist für Deutschland eine Spaltung zwischen „geistig-kultureller“ und „politischer“ Lebenswelt behauptet worden, die in Vergleich zu anderen europäischen Staatsgesellschaften ein dauerhaftes Charakteristikum des Landes darstelle. 1927 konstatierte Alfred Weber als ein Vertreter der frühen Sozial- und Politikwissenschaften, dass „Bildung“, „Geist“ und der daraus resultierende „Idealismus“ in Deutschland bezüglich ihrer Trägergruppen wie ihrer Umsetzung von der Sphäre der praktischen Politik seit jeher scharf getrennt gewesen seien. Dies äußere sich in einem „inneren Verknöchertsein“, einer ausgeprägten Lebensfremdheit der geistigen Elite einerseits, wie andererseits einem „mangelnden Gesamterlebnis“, einer fehlenden „Totalitätsergreifung“ seitens der Gesamtgesellschaft.20 Mit anderem Schwerpunkt der Betrach-

19 Malinowski, Vom König zum Führer, S. 298 20 Alfred Weber sprach von einer regelrechten „Anämie“ der ideelle Sphäre in Deutschland, die „zu einem Zusammenschrumpfen, zum Spezialistentum, zur Karrieremäßigkeit und bloßen geistigen Handwerksverrichtung geführt habe und damit zu Verknöcherung in ihrem Selbstaufbau“. Die

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tung, aber mit ganz ähnlichen Worten und gleicher Zielrichtung hatte schon Heinrich v. Treitschke Jahrzehnte früher eine mangelnde Verbindung zwischen Verwaltung und Verfassung beklagt, indem alle „persönlichen Dienstpflichten“ des Staates nicht von den besitzenden Klassen, sondern vom Beamtentum erledigt würden. Dem stehe ein „staatsfeindlicher oder mindestens unpolitischer“ Adel gegenüber.21 Die Thematisierung dieses spezifischen Defizits der deutschen Gesellschaft(en) lässt sich bis in die Zeit der Romantik zurückverfolgen, und sollte in der Eigenwahrnehmung der (west-)deutschen Öffentlichkeit nach 1945 sogar eine Renaissance erfahren.22 Dass sich Treitschke in seiner gesellschaftspolitischen Philippika ausdrücklich über den „unpolitischen“ Adel enttäuscht äußerte, kann als indirekter Hinweis dafür gelten, wie sehr Vertreter eines liberal-konservativen Bürgertums noch um 1860 ihre heimlichen Hoffnungen zu einer Überwindung dieser kulturell-politischen Spaltung auf

Ursachen dieses Mangels eines kollektiven „totalen Gesamterlebens“, einer Verbindung von geistiger und politischer Führung, sei die zu geringe innere Anteilnahme am der „Schicksalsgestaltung“ der „Volksgesamtheit“, weil ein Heranziehen zur politischen Verantwortung (vor 1918) ausblieb. Die deutsche „Geistigkeit“ „schwebte“ um die deutsche „Existenz“ ohne sich mit ihr innerlich zu verbinden, da sie nicht selbst vor Aufgaben gestellt wurde, die zur tätigen Verantwortung verpflichtet und dazu gezwungen hätte, „Herr der problematischen Substanz“ zu werden. Das „Erlebnis der Totalität des Menschlichen“ hätten die Deutschen nur individuell, „in Einzelmenschen und als Befreiungstat der Einzelseele erfahren“, vgl. Ders., Über die Bedeutung der geistigen Führer in Deutschland, in: Ders., Ideen zur Staats- und Kulturszoziologie, Karlsruhe 1927, S. 102ff, S. 116f. Vgl. dazu allg. Sigmund Neumann, Die Stufen des preußischen Konservatismus. Ein Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im 19. Jahrhundert, Berlin 1930, S. 133, Anmk. 7. 21 Vgl. Heinrich v. Treitschke, Das Selfgovernment, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 6, 1860, S. 25-53, hier S. 32. 22 In den bundesdeutschen Nachkriegsjahrzehnten wurde verschiedentlich die mangelnde Empathie einer sich in bloßer „Staatsgesinnung“ erschöpfenden legalistischen Politikauffassung beklagt. Demgegenüber zeichne sich die englische politische Kultur durch ein „parochiales“ System aus, eine Übereinstimmung von Lebensstil der „politischen Klasse“ und institutionalisierter Politik, wodurch ein affektives Verhältnis zwischen beiden Bereiche bestünde. Allerdings verbände sich mit dieser „parochialen“ Politauffassung eine immanente Schwäche der Effizienz, eine Tendenz sich mit zeitlich begrenzt gedachten Lösungsansätzen zufriedenzugeben, das sogenannte „muddling through“. Der „technisch“ orientierten deutschen politischen Kultur fehle es hingegen an kultureller Legitimität und Fähigkeit der Integration: typisch sei eine Fragmentierung der gesellschaftlichen und politischen Eliten. Die Folge sei eine Neigung zur Ideologisierung der Politik um dadurch die affektive Kluft zwischen „Staatsapparat“ und dem Leben der Staatsbürger zu schließen, vgl. Wolfgang Mommsen, Deutscher und britischer Liberalismus. Versuch einer Bilanz, in: Dieter Langewiesche: Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988 S. 211-222, hier S. 220. Noch in den 1980er Jahren wurde die westdeutsche Gesellschaft mit dem Begriff „Stabilität ohne Sicherheit“ charakterisiert, vgl. Karl Rohe: Zur Typologie politischer Kultur in westlichen DemokratienÜberlegungen am Beispiel Großbritanniens und Deutschlands, in: Heinz Dollinger/Horst Gründer/ Almia Hanschmidt (Hrsg.): Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus. Festschrift für Heinz Gollwitzer zum 65. Geburtstag, Münster 1982, S. 581-596, hier S. 581. Zur „parochialen“ politischen Kultur Großbritanniens, in der noch lange ins 20. Jahrhundert hinein die „sozialen Eliten“ zugleich die „politischen Eliten“ stellten, vgl. Ebenda S. 589.



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eine universaldilettantische Adelsoberschicht setzten, bzw. auf eine Annäherung von Adel und Bürgertum zur Bildung einer „composite elite“ mit vergleichbaren Eigenschaften. Eine lebendige Verbindung zwischen „Verwaltung und Verfassung“, bzw. kultureller und politischer Sphäre schien jedenfalls ohne „dilettierende“ Individuen kaum zu leisten. Dieses sollten mehrere Lebens- wie Funktionsbereiche abdecken und in diesem Sinne „ungeteilte Persönlichkeiten“ darstellen. Rudolf v. Gneist, ein weiterer liberaler, erst 1888 nobilitierter Bürgerlicher, widmete demselben Gedanken gleich sein ganzes akademisches Leben. In seiner 1853 veröffentlichten Schrift „Adel und Ritterschaft in England“ führte er aus, dass eine sozialkulturelle Selbstdisziplinierung der „besitzenden Classen“ die eigentliche Voraussetzung „freier Verfassungen“ sei. In seiner zwischen 1857 und 1886 veröffentlichten dreibändigen Geschichte der englischen Politik- und Rechtsverhältnisse suchte er diesen Gedanken zu belegen, wobei er die Ursache dieser englischen Entwicklung wesentlich in der Sozialverfassung des englischen Adels und der durch diesen geleisteten „Selbstverwaltung“ des Landes zu finden meinte.23 Das Ideal der ungeteilten und öffentlich tätigen Persönlichkeit war offenbar selbst für das liberale Bürgertum noch am ehesten durch einen Rückgriff auf eine spezifische adlige Soziabilität evozierbar, wie sie sich in adligen Lebensentwürfen, adliger Familie und adligem Stand idealtypisch zu manifestieren schien.24

Die Wende des elitenhistorischen Ansatzes der neueren Adelsforschung Im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts hat sich die historische Elitenforschung dieser oben angerissenen Problemstellung der frühen deutschen Sozialforschung erneut zugewandt: inwiefern lässt sich das angenommene deutsche Elitenversagen im 20. Jahrhundert aus einer überkommenen Elitenspaltung erklären, was verursachte diese sozio-kulturelle Zerrissenheit der Führungsgruppen, und was verhinderte eine erfolgreichere Integration von Staatsordnung und Gesellschaftsverfassung? Die Überwindung der bis dahin dominierenden Sonderwegsthese verhalf dieser

23 Vgl. Erich J. Hahn, Rudolf v. Gneist (1816-1895). Ein politischer Jurist der Bismarckzeit, Frankfurt a. M. 1995, S. 57-59. 24 Nicht nur Adlige und konservative Bürgerliche schrieben der „Adelsfrage“ noch mindestens bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Bedeutung für eine gelingende neue politische Ordnung zu – Carl Welcker formulierte in seinem „Staatslexikon“ 1845: „Kaum giebt es für den europäischen Staatsmann ein Verhältniß, welches in Beziehung auf die richtige historische Auffassung, wie in Beziehung auf die praktische Gestaltung der politischen Einrichtungen der Völker zugleich wichtiger und schwieriger sich darstellte, als der Adelstand“; vgl. Stichwort „Adel (Im Allgemeinen)“ in: StaatsLexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, hrsg. v. Carl v. Rotteck und Carl Welcker, 1. Band, 1845, S. 244. Der gesamte Titel „Adel“ im „Staatslexikon“ umfasst beeindruckende 70 Seiten: S. 244-314, Adelstheorie (praktische) S. 314-329, Adels- und Ahnenprobe S. 330-332, und Adelsreunionen/Adelskette, S. 332-337.

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traditionsreichen Problembeschreibung zur Renaissance: nicht die Amalgamierung von kleindeutsch-preußischem Adel und Bürgertum habe zu den Verwerfungen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts beigetragen, sondern deren Scheitern. Nicht, dass sich das deutsche Bürgertum in seinen Werten, Lebenszielen und Lebensstilen zunehmend dem Adel, insbesondere dem preußischen Klein-, Militär- und Beamtenadel, angepasst, mit dessen Interessen identifiziert und schließlich selbst „feudalisiert“ habe, sei für das deutsche Elitenversagen im 20. Jahrhundert verantwortlich zu machen.25 Sondern dass es eben keinen wirklichen Interessenausgleich gegeben habe, vielmehr politische und soziale Sektoren auf allen Ebenen der Gesellschaft relativ unverbunden nebeneinander bestanden und konkurriert hätten, und so eine trag- und konsenfähige nationale politische Kultur nicht ausbilden konnten.26 Diesem neuen Ansatz lag die Erkenntnis zugrunde, dass mindestens bis 1914 in den meisten Gesellschaften Westeuropas adlig-bürgerliche Mischkulturen existierten, und dort ebenfalls ein ausgeprägtes „deference“-Verhalten bürgerlicher Gruppen gegenüber dem Adel und dessen leitbildhaft vorgelebtem Lebensstil zu beobachten ist. Das relativierte die Sonderwegsthese in zwei wichtigen Aspekten: weder die überdurchschnittliche Besetzung herausragender staatlicher und gesellschaftlicher Positionen durch Angehörige der alten adligen Eliten bis ins frühe 20. Jahrhundert, noch die lebensweltlich-kulturelle Orientierung des Bürgertums am Adel stellten ein Alleinstellungsmerkmal der deutschen politischen Kultur dar.27 Vielmehr spiegelte

25 Die hier paraphrasierten Thesen vom „Sonderweg“ nach: Hans Rosenberg, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: Ders. Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt a. Main 1969, S. 7-49. Derselben Linie war noch Francis L. Carsten verpflichtet: Geschichte der preußischen Junker, München 1988. Hans-Ulrich Wehler verfasste die „moderne“ Fassung dieser Interpretation: Ders., Das deutsche Kaiserreich, Göttingen 1973. 1990 fasste er diese Argumente noch einmal zusammen in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750-1950, (Geschichte und Gesellschaft Sonderheft 13), Göttingen 1990, Einleitung, S. 9-18. 26 Denn in Ermangelung einer sozialen, kulturellen und lebensweltlichen Fusion wichtiger Entscheidergruppen in Form einer „composite elite“ hätten die durch Industrialisierung und politische Massenpartizipation ausgelösten gesellschaftlichen Verwerfungen politisch nur unzureichend abgefedert und ausgeglichen werden können. In letzter Konsequenz verfestigten sich dadurch im Zweiten Kaiserreich unüberbrückbare soziale und politische Antagonismen, die endlich in der spezifischen Krisensituation der Weimarer Republik die gesellschaftspolitische Integration der „alten“ Eliten verhinderten, deren extreme politische Ideologisierung beförderten, und auf dieser Grundlage die fatalen Allianzversuche zwischen den konservativen alten Eliten und der pseudo-konservativen „Neuen Rechten“ in den Jahren 1930-1933 ermöglichten. 27 Es war die angelsächsische Forschung, die lange vor der deutschen und aus verschiedenen Perspektiven diese Idee eines „Normalwegs“ in die Moderne verwarf. Die klassische Studie dazu verfassten David Blackbourn und Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, Berlin 1980. Die ausführlichere Entwicklung ihrer Kritik an der neuen deutschen „Orthodoxie“ der Geschichtsschreibung des „Bielefelder Kreises“ um Hans-Ulrich Wehler erschien unter dem Titel: The Peculiarities of German History, Oxford 1984. Gerade die Forschungen zur englischen Adels- und Elitengeschichte, an der traditionell die preußisch-deutschen



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die deutsche Situation vor 1918 nur eine europäische Gesamterfahrung wider.28 Wenn aber adlig-bürgerliche Mischkulturen für eine bestimmte Periode der sich verbürgerlichenden Gesellschaft als europäischer Normalfall zu betrachten sind, dann sind Unterschiede der historischen Elitenentwicklung nicht mehr auf die „An- oder Abwesenheit von Adelsangehörigen in der politischen Führungsschicht“, oder auf das (politische) Vorherrschen von Großgrundbesitz zurückzuführen, sondern müssen im „Charakter der Aristokratie und der Natur der verschiedenen politischen Formen, die sie beherrschten“ untersucht werden.29 Gerade die jüngere Forschung zur englischen Adels- und Elitengeschichte suggerierte, diese Unterschiede zwischen der englischen zur deutschen Erfahrung im Übergang von der nachständischen, sich zunehmend parlamentarisierenden und demokratisierenden Epoche weniger in einer vorgeblich sozial „offeneren Elite“ in England zu suchen, als in der erfolgreicheren kulturell-sozialen Integrationsleistung des englischen Adels durch die Mediatisierung und dauerhafte Verankerung adlig-ländlicher Wertehorizonte und Lebensstile in der Gesamtgesellschaft.30 Unter diesem Gesichtspunkt richtete die neue deutsche Adelsforschung seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts ihr Augenmerk auf Faktoren, die eine Annäherung zwischen Adel und Bürgertum bremsten und blockierten, die Ausbildung einer homogeneren Elitenkultur erschwerten und den Wandel zur modernen Nationsgesellschaft belasteten.31

Entwicklungen, insbesondere für die Zeit nach 1871, gemessen wurden, relativierten erheblich die ältere „Whig-Interpretation of History“, welche das „Erfolgsgeheimnis“ des englisch-britischen Elitenwandels in einer freiwillig-einsichtigen Kompromiss- und Integrationsbereitschaft des britischen Adels sehen wollte. Grundlegend die sozialhistorische Gegenthese zum angeblich sozial „offeneren“ britischen Adel von Lawrence Stone/ und/ Jeanne Fawtier-Stone, An open Elite? England 15401880, Oxford 1984; John Cannon, Aristocratic Century. The Peerage of 18th century England, Cambridge 1984; David Cannadine, The Decline and Fall of the British Aristocracy, New Haven, Connecticut 1990. 28 Im deutschsprachigen Raum vertrat besonders Arno J. Mayer diesen Standpunkt, wofür er allerdings als „überzeichnend“ kritisiert wurde: Ders., Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848-1914, München 1984. 29 Gerald N. Izenberg, Die „Aristokratisierung“ der bürgerlichen Kultur im 19. Jahrhundert, in: Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200-1900 (= Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 11), Stuttgart 1979, S. 234. Zu den Versuchen, die deutschen elitenhistorischen Eigentümlichkeiten durch die Relationen adliger Anwesenheit in Führungspositionen zu erklären gehört die klassische Studie von Nikolaus v. Preradovich, Die Führungsschichten in Österreich und Preußen 1804-1918, Wiesbaden 1955. Dominic Lieven wagte als erster eine vergleichende „europäische“ Adelsgeschichte über „Charaktereigenschaften“ und Bestimmungen der Position adliger Elitengruppen in ihren jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Konstellationen, Ders., Abschied von Macht und Würden. Der europäische Adel 1815-1914, Frankfurt a. Main 1995. 30 Vgl. Bernd Weisbrod, Der englische „Sonderweg“ in der neueren Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, Nr. 16, 1990, S. 233-252, hier S. 240. 31 Dieser Ansatz rekurriert auf die Erkenntnis Bourdieus, dass „jede soziale Klasse, da sie in einer historisch bedingten Sozialstruktur eine Stellung einnimmt, von ihren Beziehungen zu den ande-

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Die vorliegende Untersuchung will hierzu einen Beitrag leisten, indem sie adligbürgerliche Kommunikations- und Ausgleichsversuche im Preußen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhand von Diskussionen um eine Adelsreform verfolgt. Dabei wird vornehmlich, wenn auch nicht exklusiv die adlige Perspektive berücksichtigt: Adelsreformideen und -pläne werden als ein zeitgenössisches Testfeld und Medium zugleich verstanden, ausgewählte Elemente und Eigenschaften adliger Existenz in der nachständischen, sich verbürgerlichenden Gesellschaft auf ihre weitere Nützlichkeit und ihre Übertragungsmöglichkeit auf nichtadlige Gruppen, notabene das Bürgertum, zu prüfen. Welche Elemente der adligen Lebenskultur konnten für die Sicherstellung einer sozialen und kulturellen Kohäsion der Gesellschaft unter den veränderten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Herausforderungen von Vorteil sein? Konnte aus dem großen adligen Erbe an sozialem, kulturellem und politischem Kapital für die sich wandelnde Vergesellschaftung noch sinnvoll geschöpft werden?32 Schließlich hatte der Adel in der ständischen Gesellschaft eine spezifische sozial-politische Kultur repräsentiert, die Staatsordnung und Gesellschaftsverfassung über seine soziale Korporation miteinander verband (ideologisch gefasst in der

ren konstitutiven Teilen der Struktur derart berührt wird, dass sie diesen Positionseigenschaften verdankt, die von ihren rein immanenten Eigenschaften – wie etwa einem bestimmten Berufstypus oder materiellen Existenzbedingungen – relativ unabhängig sind“. Vgl. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. Main, 1983, S. 42. Für die von Heinz Reif geführte DFG-Forschergruppe an der TU-Berlin (Elitenwandel in der gesellschaftlichen Modernisierung. Adlige und bürgerliche Führungsschichten 1750-1933) wurde dieser Ansatz forschungsleitend. Vgl. die ersten aus dieser Forschergruppe hervorgegangen Arbeiten in der Reihe „Elitenwandel in der Moderne“, vor allem die zwei Überblicksbände: Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd.1. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Berlin 2000; und: Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd.2. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Berlin 2001. In letzterem fasste Heinz Reif die oben formulierte These S. 37-39 und 60-67 zusammen. Von den Monographien besonders: René Schiller, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2003; Malinowski, Vom König zum Führer; Wolfram G. Theilemann, Adel im grünen Rock. Adliges Jägertum, Großprivatwaldbesitz und die preußische Forstbeamtenschaft 1866-1914, Berlin 2004; Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005; Rainer Pomp, Bauern und Großgrundbesitzer auf ihrem Weg ins Dritte Reich. Der Brandenburgische Landbund 1919-1933, Berlin 2010. 32 Eine Reihe neuerer Arbeiten über das adlig-bürgerliche Heiratsverhalten (dem Konnubium) oder Formen der Vergesellschaftung (Kommensualität) im öffentlichen und privaten Raum griff diesen Ansatz auf. Exemplarisch: Dolores L. Augustine, Die wilhelminische Wirtschaftselite: Sozialverhalten, soziales Selbstbewusstsein und Familie, Phil. Diss., FU Berlin 1991; Dies., Patricians and Parvenus. Wealth and High Society in Wilhelmine Germany, Oxford/Providence 1994. Vgl. zu den begrenzten Integrationsfähigkeiten des „deutschen Weges“ einer Elitenamalgamierung selbst im „Begegnungsfeld“ des Waldes und des Forstberufes: Wolfram Theilemann, Adel im grünen Rock, Berlin 2004, siehe die „Conclusion“ S. 486-492.



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Idee von der „societas civilis“).33 Ließen sich Elemente dieser spezifischen historischen politisch-kulturellen Stellung des Adels, und das daraus gewonnene und sozial tradierte Erfahrungswissen selbst nach dem Untergang der ständischen Gesellschaft bei der Schaffung einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung fruchtbar machen? Motivation des vorliegenden Ansatzes Die vorliegende Untersuchung zielt aber nicht vornehmlich auf die Identifikation von Elementen adligen Selbstverständnisses in den zeitgenössischen Adelsreformschriften und -debatten. Sondern auf die Voraussetzungen, die Begünstigungen, aber auch die Hindernisse für eine Mediatisierung dieser Elemente in die weitere Gesellschaft. Max Weber hatte behauptet, dass die „preußisch-deutschen Adelsverhältnisse im Gegensatz zu den britischen nicht demokratisierbar“, also nicht übertragbar und verallgemeinerungsfähig gewesen seien.34 Aber an welchen Konstellationen scheiterte ein solcher Vermittlungsprozess? Lag dies an grundsätzlichen standesstrukturellen und standeshabituellen („primordialen“) Elementen des preußisch-deutschen Adels, die u.a. die Ausbildung eines gesamtgesellschaftlich wirksamen sozial-kulturellen Persönlichkeitsideals entsprechend dem des englischen „Gentleman“ verhinderten? Oder doch mehr an situationsabhängigen, aber langfristig wirksamen („perennialen“) Entscheidungsphasen der politischen Entwicklung? Daran schließt sich die Frage an, was die möglichen direkten und indirekten Folgen dieser Vorgänge waren: hinterließen diese Auseinandersetzungen allein nur „beschriebenes Papier“, das lediglich zum Ausloten „kontrafaktischer“ historischer Möglichkeitsräume taugt?35 Oder wo und wie schlugen sie sich in beabsichtigter oder unbeabsichtigter Weise in den „realgeschichtlichen“ Entscheidungen und Wendepunkten der preußisch-deutschen Adels- und Elitenentwicklung nieder? Und wie wirkten sie auf den Adel zurück? Kam diesen Auseinandersetzungen eine besondere Rolle in der langfristigen Auflösung des traditionalen Standesethos des preußischen Adels zu, der als handlungsleitende und zivilisatorisch-kontrollierende Instanz schon um 1900 so sehr beeinträchtig scheint, dass Dominic Lieven darin eine erhebliche Ursache für die relative Radikalisierbarkeit dieser Adelsformation seit diesem

33 Vgl. zum Inhalt und zur Bedeutung der „societas civilis“ für das konservative Denken der ständischen wie nachständischen Epoche, Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986. Kondylis interpretierte die allmähliche Ablösung und schließliche Aufgabe der Idee von der „societas civilis“ als den Nieder- und endlich Untergang des eigentlichen Konservatismus schon im 19. Jahrhundert. 34 Vgl. Max Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, in: Johannes Winckelmann (Hrsg.), Max Weber. Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1988, S. 155-189, hier S. 277ff, bes. S. 283. 35 Zur Methode eines kontrafaktischen Lesens von Geschichte, um historische Problemlagen deutlicher erfassen zu können vgl. Maria Osietzki, Für eine neue Technikgeschichte, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 3/1992, S. 293-318.

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Zeitraum erkennen will?36 Mit anderen Worten: beförderten Adelsreformideen die Überwindung einer adligen Traditionalität und die Ausbildung einer sektoral erfolgreichen Anpassungsfähigkeit, die in einer verbürgerlichten Umwelt einzelnen preußisch-deutschen Adelsfaktionen schließlich den Übergang „vom König zum Führer“ (Malinowski), d.h. von traditionalen Herrschaftsauffassungen zu totalitären Machtmodellen, erleichtern sollten? Vor diesem Fragehorizont ist es nicht das zentrale Anliegen dieser Arbeit, die Gründe für das letztliche Scheitern einer preußischen Adelsreform und deren elitenintegrierender Zielsetzung in bestimmten politischen Interessen- oder Faktionskonstellationen aufzuspüren. Vielmehr stellt sich umgekehrt das zunächst drängendere Problem, wieso sich trotz wiederholter Fehlschläge und mannigfacher Hindernisse die Idee einer Adelsreform in der anbrechenden Moderne als notorisches Phänomen über den sehr langen Zeitraum (von faktisch über 150 Jahren!) in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in Preußen wie in Deutschland erhielt. Und was die Inhalte und der Verlauf der Adelsreformdiskussionen über die geistig-kulturellen Voraussetzungen und Möglichkeitsräume verschiedener preußischer Adelsformationen erschließen lässt. Dass es sich bei den in dieser Auseinandersetzung positionierenden Adelsangehörigen um relative Außenseiter handeln mag schadet dieser Zielsetzung nicht.37 Denn wenn die Potentiale und Grenzen adlig-bürgerlicher Kommunikations- und Kompromissmöglichkeiten auszuloten sind, werden diese intellektuell und sozialkulturell beweglichsten „Spitzenvertreter“ des Adels eben gerade deswegen geeignet sein, die weitesten Denk- und Wirkungsmöglichkeiten ihres Standes abzuschätzen.38 Das hier gewählte Vorgehen bedeutet also, dass weder ein prosopographisch, noch landschaftlich oder gruppenspezifisch a priori streng definierter Kreis von Akteuren untersucht wird, als vielmehr verschiedene Diskussionskonstellationen zu unterschiedlichen Zeitabschnitten, die gewissermaßen „Knotenpunkte“ langandauernder, aber diskontinuierlicher Diskussionsverläufe darstellen. Doch die hier behandelten Knotenpunkte und Diskussionsverläufe beziehen sich im Kern auf Preußen, auch wenn der Kommunikationsraum in vielfacher Weise über die eigentlichen preußischen Grenzen hinausging. Deutlich wird dies z.B. im Projekt der „Zeitung für den deutschen Adel“, die von preußischen Adligen (den gebürtigen Brandenburgern

36 „In extremis, would aristocrats be sufficiently reactionary or civilised to remain constrained by traditional conceptions of religion and honour, or would insecurity, resentment of lost status and agnosticism lead them down the path towards totalitarian nationalism and its inevitable companion, barbaric antisemitism?“ in: Dominic Lieven, The Aristocracy in Europe 1815–1914, London 1992, S. 242. 37 Dieser Einwand gegen die Aussagekraft adelspolitischer „Außenseiter“ bei Spenkuch, Her­ren­ haus, S. 25. 38 Bei Adelsreformschriften des Adels handelt es sich selbstverständlich immer auch um Selbststilisierungen, die nicht einfach als „Wahrheit“ über den Adel gedeutet werden dürfen, vgl. diese Warnung bei Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006, S. 154.



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Alvensleben und Motte Fouqué) in Leipzig mitbegründet wurde, deren behandelte Themen und die generelle Zielstellung trotzdem vorwiegend auf ein preußische Publikum und den preußischen Staat ausgerichtet waren.39

Adelsreformdiskussionen als Untersuchungsfeld von „Adligkeit“ Die in den Adelsreformideen aufscheinenden „Semantiken des Adeligen“, d.h. die darin vorgenommenen Selbstdeutungen und „Neukodierungen“ adligen Daseins, können zudem dazu genutzt werden, die Sozialformation „Adel“ in einem Zeitraum genauer zu erfassen, in dem dessen rechtliche, wirtschaftliche und sozialen Privilegien immer mehr abgebaut wurden.40 Denn dadurch fällt es in der retrospektiven Betrachtung schwer, den Adel jener Epoche von konkurrierenden sozialen Gruppen klar abzugrenzen. Der Adel selbst sah sich mit dem wachsenden Problem konfrontiert, wie er sich weiterhin als die „durch Vorrang der Rechte und Pflichten vor dem Volk, zunächst den Bauern, vom Hochmittelalter an auch der Stadtbürger, hervorgehobene Herrenschicht [definieren konnte, G.  H.], deren Stand erblich und demgemäß stets darauf gerichtet war, sich durch geschlossenes Konnubium vom Volk abzuschließen“.41 In der sich ausbildenden bürgerlichen Gesellschaft wurde die soziale Position des Adels als Stand zunehmend undefinierbar.42 Diesen Prozess bezeichnete Reinhard Koselleck mit dem Begriff der „Entsubstanzialisierung“, und zielte damit gleichermaßen auf Verluste der Mentalitätsgehalte wie der institutionellen Verfasstheit des Adels, während Josef Matzerath dasselbe Phänomen unter dem Begriff „Entkonkretisierung“ vornehmlich auf die institutionellen Verluste des Adels

39 Vgl. unten Teil III. Kap. 4.1. 40 Die Begriffe der „Semantik“ und der „Neukodierung“ des Adeligen nach Strobel, „Ein hoher Adel von Ideen“, S. 319-320. „Klassifizierungs- und Auslegungskonflikte“ können den Blick auf „Kampfzonen eröffnen, die umso entscheidender sind, als sie materiell weniger greifbar sind“; diese verraten mehr über die Mechanismen, mit denen „eine Gruppe ihre Sicht der sozialen Welt, ihre Werte und ihre Herrschaft durchsetzt oder durchzusetzen sucht“, vgl. Roger Chartier, Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Berlin 1989, S.10ff. 41 Conze/Meier, „Adel, Aristokratie“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 1. Ewald Frie fasste die unterschiedlichen Strategien der Historiographie zusammen, für den Adel der nachständischen Gesellschaft noch eine gemeinsame definitorische Grundlage zu finden, zusammen in: Ders., Adel um 1800. Oben bleiben?, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 3, [13.12.2005], URL: http://www.zeitenblicke. de/2005/3/Frie/index_html (25.1.2007), Absatz 2. 42 „Die Führungspositionen der durch Erblichkeit sich legitmierenden und sich kontinuierenden Herrenschicht mussten in der bürgerlichen Ordnung zu Berufsrollen werden: Offizier, hoher Beamter, Bischof, Politiker etc. Der Zugang zu ihnen konnte nicht mehr von Geburtsvorrechten abhängig gemacht werden. Vom Stand zur Elite verlief tendenziell der Weg. Doch diese Elite konnte nicht mehr adlig im Sinne der frühneuzeitlichen Definition sein, konnte keine von der Geburt abhängigen Zugangsbeschränkungen mehr aufweisen. So zerfiel allmählich der Adelsstand, ohne dass eine Folgeberufsrolle sich entwickelte“. Zu dieser sozialen „Ortlosigkeit“ des Adel in der nachständischen Gesellschaft vgl. Frie, Adel um 1800, Absatz 4 und bes. 5.

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deutet.43 Beschrieben wurde dieser Prozess schon früher als „Verbürgerlichung, Vereinzelung, Aufgabe der Standessolidarität“, z.B. durch Monika Wienfort.44 Gerade in Preußen begann dieser Auflösungsprozeß schon um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Dieser säkulare Vorgang lässt unmittelbar einleuchten, warum sich im Laufe den „langen 19. Jahrhunderts“ die Selbst- und Fremdzuschreibung von „Adel“, bzw. adliger Existenz zunehmend auf soziokulturelle Merkmale verschob (Wienfort), „Binnenkommunikation“ und „Selbstsymbolisierung“ als Abgrenzungsmechanismen immer wichtiger wurden (Matzerath), damit zugleich aber eine „Metapherisierung“ adliger Eigenschaften auslöste (Frie), die die eigenen Abgrenzungsmöglichkeiten gegenüber „nichtadligen“ Gruppen bedrohlich konterkarierte, die Grenzen definierter adliger Existenz immer fließender und offener werden ließ.45 Aufgrund dieser „Entsubstanzialisierung“, bzw. „Entkonkretisierung“ sieht Heinz Reif in den Versuchen einer „zeitgemäßen, selektiven Reinvention dessen, was ‚Adel’ eigentlich ist“ sogar die letztlich einzig verbleibende Möglichkeit für den damaligen Adel, „eine stets prekär bleibende Einheit“ noch einmal zu entwerfen.46 Diese sich aufweichenden und oszillierenden mentalen und habituellen, also soziokulturellen Merkmale nachständischer adliger Leitbilder werden in der neueren Forschung mit dem Begriff der „Adligkeit“ umrissen, auf dessen nähere Bestimmung noch genauer einzugehen sein wird. Wenn aber der Adel hinsichtlich seiner ständischen Verfassung und seiner Mentalitätsgehalte nach 1800 allmählich verfiel, was konnte dann von ihm noch bleiben? Löste er sich mitsamt seinem ständischen Bewusstsein einfach in eine Vielzahl sich isolierender Familien, in regionale und funktionale Teileliten auf wie verschiedentlich suggeriert wurde?47 Und wenn er dies nicht tat: wie konnte er sich

43 Diese Entsubstanzialisierung ermöglichte, so Reinhart Koselleck, die funktionale Neudefinition des Adelsbegriffs, und führte zu dessen Metaphorisierung, ja Ideologisierbarkeit, vgl.: Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper, in: neue politische literatur (NPL), 43 Jahrgang, 1998, S. 187-205, hier S. 200f. Zur „Entkonkretisierung“ vgl. Josef Matzerath, Adelsprobe an der Moderne: sächsischer Adel 1763-1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation, Stuttgart 2006. 44 Monika Wienfort, Ostpreußischer „Gutsbesitzerliberalismus“ und märkischer „Adelskonservatismus“, in: Kurt Adamy/Kristina Hübener (Hrsg.), Adel und Staatsverwaltung in Brandenburg im 19. und 20.Jahrhundert, Berlin 1996, S. 305-324. Ausführlicher noch einmal in: Dies., Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006, S. 9, 20. 45 Vgl. dazu auch die ausführliche Gegenüberstellung dieser Autoren in der Sammelbesprechung von Charlotte Tacke, „Es kommt also darauf an, den Kurzschluss von der Begriffssprache auf die politische Geschichte zu vermeiden.“ ‚Adel’ und ‚Adeligkeit’ in der modernen Gesellschaft, in: neue politische literatur (NPL). Bericht über das internationale Schrifttum, 52. Jahrgang, Heft 2, 2007, S. 91123, hier S. 93. Tacke betont meines Erachtens die Unterschiede zwischen diesen Autoren zu sehr, da doch die Gemeinsamkeiten in der Beschreibung dieser Prozesse, teils bis zu den begrifflichen Überschneidungen, jenseits der unterschiedlichen Akzentsetzungen unübersehbar sind. 46 Reif, Einleitung, S. 16, Anmk. 3. 47 Frie, Adel um 1800, Absatz 14.



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dann noch in der nachständischen Epoche definieren?48 Gab es spezifische Elemente adliger Existenz, die relativ unabhängig von der ständisch verfassten Gesellschaftsordnung bestanden, und daher auch nach deren Untergang weiter existieren und im Spiel gehalten werden konnten? Und in welchem Verhältnis und in welcher Abhängigkeit befanden sich diese Elemente von den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lagen und Betätigungen, die historisch mit dem Adel assoziiert waren? Erst in jüngerer Zeit fanden die vielfältigen Versuche adliger Akteure, sich während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in die nachständischen Verhältnisse einzupassen, eine verständnisvollere Würdigung. Ewald Frie charakterisierte die Jahrzehnte zwischen 1790 und 1830 als die „verwirrenden Jahre […], als alles im Fluss und nichts sicher schien, und die Akteure versuchten, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen“.49 Noch war das Verhältnis zwischen Adel, Staat und Gesamtgesellschaft flexibler und für eine Reihe von Entwicklungsoptionen offen, die sich nach 1848, im Zuge der Konstitutionalisierung Preußens und der deutschen Reichsgründung 1871 verschließen sollten. In besonderem Maße galt dies für Preußen, wo der Adel bis zur Reformepoche Anfang des 19. Jahrhunderts in den Staatsbildungsprozess durch die Krone eingebunden worden war, und in dessen städtearmen östlichen Provinzen die soziale Konkurrenz durch ein starkes Bürgertum erst spät einsetzte.50 So konnten gerade hier noch einmal die Überlieferungen der ständischen

48 Die gesellschaftspolitisch durchaus schizophrene Lage des Adels bis in den Vormärz erfasste selbst der scharfe Adelskritier Ludwig Buhl genau wenn er schrieb: „Man würde Unrecht thun, die hier ausgesprochenen Ansichten und Bestrebungen [zu einer Adelsreogranisation, G. H.] bloß zu verlachen. Allerdings sind sie sehr geeignet, einen komischen Eindruck zu machen, aber sie haben auch eine ernste Bedeutung, insofern sie aus der gegenwärtigen Stellung, oder vielmehr Mißstellung des Adels hervorgehen. Seine Mißstellung hat ihren Grund darin, daß er angetastet und beschädigt worden ist, ohne vernichtet worden zu sein. Daß er zwar aus einigen seiner Positionen herausgetrieben worden ist, daß er sich aber in fast allen Hauptwerken behauptet hat. Er steht noch aufrecht, aber seine Basis ist erschüttert worden; er wird fortwährend als eine Stütze des Bestehenden anerkannt, und doch hat ihm der Sieg des Bestehenden nicht alle seine Begünstigungen zurückgegeben. Dadurch erhält er einen aggressiven Charakter: die Vorrechte, die ihm geblieben sind, dienen ihm als Vorwand, auch die zurück zu verlangen, die er verloren hat, und wenn er seinen früheren status quo wieder erobern sollte, so würde er darauf die Notwendigkeit fernerer Erweiterungen seiner Macht begründen. Er ist also in fortwährendem Kriegszustande begriffen, sowohl gegen den Staat, der in zwar auszeichnet und bevorrechtet, aber sich ihm nicht ganz hingeben will, wie gegen die Zeitrichtungen und die Meinung, die von ihm abgefallen sind. Dies Dilemma kann nur auf zweierlei Weise gelöst werden: entweder der Adel wird vernichtet und findet in seiner Aufhebung die Beruhigung, die ihm der jetzige unbehagliche und halbe Zustand nicht gewähren können (sic!), oder er wird wieder vollkommen rehabilitiert.“; Ders., Die Herrschaft des Geburts- und Bodenprivilegiums in Preußen, Mannheim 1844, S. 30f. 49 Frie, Adel um 1800, Absatz 19. 50 Wie im gesamten östlichen Mitteleuropa und Osteuropa war der Adel mit dem Prozess der Staatswerdung historisch besonders eng verbunden. Aufgrund dieser Vorgeschichte war der Adel bei der Neuordnung von Staat und Gesellschaft nach 1800 nicht einfach zu übergehen. Diese Ausgangs-

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Traditionen besonders intensiv „durchgearbeitet“ (Frie), auf ihre Brauchbarkeit unter neuen Funktionsanforderungen befragt, und als Versatzstücke adlig-ständischer Neuentwürfe „rekombiniert“ werden. Diese Epoche war deshalb nicht nur eine Zeit „literarischer Blüte, sondern auch politischer Experimente, Reformen und Modelle“, die eine große Zahl biographischer Selbstentwürfe und sozialer (Gedanken-)Experimente hervorbrachte, ein „Laboratorium vor der Moderne“51 – dessen Produkte eben auch in einer Anzahl von Adelsreformideen und -initiativen bestand. Eine Untersuchung solcher semantischer Selbstdeutungen und Neukodierungen adligen Daseins anhand von Adelsreformentwürfen bietet eine Alternative gegenüber den bisher in der Forschung dominierenden Interpretationsansätzen des Zerfalls der adligen Standeswelt. Entweder wurde auf diesen Befund mit einer Reihe von Einzeluntersuchungen zu Adelslandschaften, Adelsfamilien und adlig dominierten Institutionen reagiert, unter bewusstem Verzicht, den Adel „als Gesamtgruppe oder repräsentativen Querschnitt“ zu beschreiben. Im Regelfalle bestätigten diese die generelle Annahme eines adligen Zerfalls und der Auflösung der Standessolidarität. Oder es wurde versucht, adlige Identitätsmerkmale ausfindig zu machen, welche nicht von ständischen Institutionen und formalrechtlichen Bedingungen abhängig waren, und deshalb auch in der nachständischen Zeit weiterwirken, bzw. neu eingesetzt werden konnten.52 Den letzteren Ansatz verfolgte erstmals Robert M. Berdahl.53 Auf die ständische Auflösung nach der Reformepoche habe sich der preußische Adel mit der Entwicklung einer „Ideologie“ neu zu stabilisieren gesucht, welche auf ausgewählte Elemente des ständisch-patrimonialen Denkens zurückgriff, wie „Patrimonialität“, „Hierarchie“, oder „Herrschaft“.54 Ähnliches wiesen Stephan Malinowski für den preußischen (Klein-)Adel des späten 19. und frühen 20. Jahrunderts und Josef Matzerath für den sächsischen Adel vom 18. bis ins späte 19. Jahrhundert unter Berücksich-

bedingung ließ Christoph Dipper die Ursachen des bekannten adligen „Gutsbesitzerliberalismus“ in Ostpreußen in deren Position als „Ersatzbürgertum“ vermuten, vgl. Ders., Adelsliberalismus in Deutschland, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Liberalismus im 19.Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 172-192. 51 Frie, Adel um 1800, Absatz 12 und 15. Zu diesem „Durcharbeiten“ der ständischen Überlieferungen am Beispiel der Biographie des preußischen Adligen F.A.L. v.d. Marwitz siehe: Ders., Friedrich August Ludwig von der Marwitz, S. 31ff. 52 Diese Zweiteilung der historiographischen Reaktionen auf das Adelsproblem registrierte schon Ewald FRIE, Adel um 1800, Absatz 7. 53 Robert M. Berdahl, The Politics of the Prussian Nobility 1770-1848. The Development of a Con­ servative Ideology, Princeton, 1988. 54 Im Gegensatz zu Berdahl sieht Edgar Melton das ideologisierte Konzept des „Paternalismus“ keineswegs als Folge der preußischen Reformen und auch nicht als „Kompensation“ für die sich durchsetzende „kapitalistische“ Produktionsweise in der Gutswirtschaft seit dem späten 18. Jahrhundert, sondern als deren funktionslogische Voraussetzung, die entsprechend nicht nachfolgend sondern zeitgleich entstand, vgl.: Ders., The Decline of Prussian Gutsherrschaft and the Rise of the Junkers as rural Patron, in: German History, 12, Nr. 3, 1994, S. 334-350.



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tigung bestimmter Schlüsselbegriffe des adligen Mentalitätshaushalts nach.55 Wie Berdahl begreifen Malinowski und Matzerath die Parameter dieser Zuschreibungen als epochenübergreifend, so dass sie selbst unter den Bedingungen der nachständischen Gesellschaft relativ ungebrochen eingesetzt werden konnten. Für Berdahl wie für Malinowski bleibt die entscheidende Bezugsgruppe der ritterschaftliche Gutsadel, die „Junker“, deren mentalitäre Referenzmuster selbst für solche Adelsangehörigen verbindlich gegolten hätten, die noch nie, oder nicht mehr mit dem Gutsbesitz in Verbindung standen. Andere, alternative Versuche adliger Neupositionierungen, die einerseits auf einer selektiven Neukodierung und Mischung dieser älteren Referenzmuster aufbauten, andererseits völlig andere Bezugsrahmen zum Maßstab adliger Handlungsmöglichkeiten zugrunde legten, blieben vernachlässigt. Dabei war Berdahl der erste, der gerade diesen Aspekt der durch Friedrich Wilhelm IV. im Vormärz ausgelösten Adelsreformdiskussion hervorhob und diese daher neben den parallelen Verfassungsdebatten zu den interessantesten Diskussionen der Zeit zählte. Ausdrücklich wies er auf die darin zum Ausdruck kommende erstaunliche Wandlungs- und Kompromissbereitschaft bezüglich der adligen Deutungsmuster hin, die das Bild eines Deutungsmonopols des grundbesitzenden „Junker“-Adels in Preußen in-all-matters-noble grundsätzlich fragwürdig werden lassen.56 Aber eine korrigierende oder relativierende Konsequenz auf seine eigene Untersuchung hatte diese Beobachtung nicht. Die Vermittelung von Adelseigenschaften durch Adelsreformentwürfe Dagegen erlaubt die Betrachtung von Adelsreformideen nicht nur eine Identifikation und Abwägung von oszillierenden Adelseigenschaften, bzw. „Adligkeitselementen“, die in der nachständischen Gesellschaft virulent blieben. Adelsreformentwürfe belegen zudem, wie Adlige und (einige) Bürgerliche gleichermaßen versuchten, den sozialen Auflösungserscheinungen der Zeit neu-ständische Ordnungsvorstellungen entgegenzustellen, und dabei die politisch-soziale Stellung des Adels mit den veränderten sozialpolitischen Bedingungen in Übereinstimmung zu bringen, Adel und Elitenanforderungen wieder aneinander anzunähern. Anders gesagt: es handelte sich um den Versuch, das Prinzip der „Stratifikation“ der ständischen Gesellschaft mit dem Ordnungsprinzip der „Funktionalisierung“ der bürgerlichen Gesellschaft zu versöhnen. Das Thema „Adelsreform“ widerstrebt also einer Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts im Sinne einer stetigen ständischen Auflösung und Selbstaufgabe ebenso wie dem Klischee eines reaktionären Adels, der sich ausschließlich in starren Restau-

55 Stefan Malinowski, Vom König zum Führer; Josef Matzerath, Adelsprobe an der Moderne: sächsischer Adel 1763-1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation, Stuttgart 2006. 56 Zum „Leitbild“ der alten gutsbesitzenden Familien als „sozialem Kern“ des Adels, dessen Vorbild noch im 20. Jahrhundert auf die „sozialen Ränder des Adels“ ausstrahlte vgl. Stefan Malinowski, Vom König zum Führer, S. 35.

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rationsneigungen äußerte. Die darin selbstgestellte Aufgabe einer zu reaktivierenden „Adligkeit“ erschöpfte sich eben nicht in der Herausforderung einer adelsinternen (Selbst-)Stabilisierung, wie sie Josef Matzerath formulierte und als entscheidenden Faktor adligen „Obenbleibens“ und Überlebens im langen 19. Jahrhundert identifizierte. Nicht nur innere „Moral“ (Gesinnung) und die standesrechtliche Verfasstheit des Adels bildeten die Themen von Adelsreformideen, sondern ob und wie Standeskriterien und Standeswerte für die gesamte Gesellschaft fruchtbar gemacht, bzw. zur Aufnahme neuer Mitglieder reformuliert oder auf bisher nichtadlige Gruppen ausgedehnt werden konnten. Dieser Versuch musste notwendig die Frage nach den Existenzbedingungen für adliges Dasein und Leben aufwerfen, und die „Idee“ des Adels überhaupt problematisieren.57 In diesem Sinne sprach sich Sigmund Neumann schon um 1930 dafür aus, durch eine „Aufreihung“ der Gedanken des Adels über sich selbst eine „Vorlösung“ für eine „klarere Schichtungsanalyse“ der historisch untersuchten Gesellschaft vorzunehmen.58 Zugleich wäre es voreilig, diese historische (Selbst-)herausforderung des Adels, nämlich „die Idee“ seiner selbst über eine neue Verschränkung von „Stratifikation“ und „Funktion“ regenerieren zu wollen, unter Verweis auf Tomasi di Lampedusas berühmtes Diktum – „es muss sich alles ändern, damit es bleibt wie es ist“ – als unlösbares Paradoxon ad acta zu legen.59 Vielmehr ist zuerst einmal zu fragen, was

57 Aufgrund dieser innersten Stellungnahme des Adels zu sich selbst mussten darin bestimmte Positionen deutlicher hervortreten, als in seinen tagespolitischen „Außenwendungen“, die notwendigerweise immer von unmittelbaren utilitären Erfolgsversprechen gelenkt wurden, so Sigmund Neumann. Die Bedeutung von Adelsreformentwürfen für die Forschung umriss er folgendermaßen: „So wird die Geschichte der Adelsreformpläne  – die theoretische Antwort auf die großen Wandlungen des 19. Jahrhunderts, – zu einer Geschichte der Idee des Adels selbst“, siehe: Ders., Die Stufen des preußischen Konservatismus. Ein Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im 19. Jahrhundert, Berlin 1930, S. 44. 58 Adelsreformideen kann also für eine historische Analyse eine größere Bedeutung zukommen, als lediglich verstreute und isolierte Indizien des inneren Zerfalls und der Ablösung der alteuropäischen ständischen Adelswelt, der „societas civilis“ zu bieten, wie Panajotis Kondylis meinte, vgl. Ders., Konservativismus, S. 402. 59 „Wie ist aber Stratifikation in der funktional differenzierten Gesellschaft möglich oder durchsetzbar? Höchstens doch wohl im Sinne Lampedusas „Gattopardo“: Es muss sich alles ändern, damit es bleibt wie es ist. Aber das heißt auch umgekehrt: wenn sich alles ändert, bleibt es eben nicht, wie es ist“, fragt Charlotte Tacke, Adel und Adeligkeit, S. 94. Dabei gibt eine Hauptfigur im „Gattopardo“ die Antwort auf diese scheinbar paradoxe Ausgangsstellung: Tancredi (der Neffe des alten Fürsten Salina) nämlich, der sich bewusst der siegversprechenden italienischen Nationalbewegung anschließt, um nach dem Erfolg dem Adel eine aussichstreiche politische Stellung zu sichern. Genau in diese Richtung deuteten auch in Deutschland zahleiche Adelsreformentwürfe: der Adel solle sich an die „Spitze der Nation“, ja selbst der Verfassungsbewegung stellen! Vgl. diese Forderung z.B. durch den Vormärz-Liberalen Carl Welcker, siehe Teil III. Kap. 4.2. Das Dilemma für den deutschen Adel bestand u. a. darin, dass lange offenblieb, was die vielversprechendsten politischen Optionen wären, ob schließlich die populäre Nationalbewegung, oder doch das Territorialfürstentum den Sieg davon



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sich aus adliger Perspektive ändern konnte und durfte, und was unbedingt „bleiben sollte, wie es war“. Vorausgreifend kann vermutet werden: unbedingt erhalten wollte der Adel eine politische und soziale Vorbild- und Führungsrolle (gleich ob in Allianz mit Nichtadligen, oder durch Inkorporierung vormals Nichtadliger), bzw. den privilegierten Zugang zu einer solchen Rolle; verhandelbar erschienen hingegen historische Bezeichnungen und Symbolssprache, Teile der „kulturellen Codes“, selbst rechtliche und soziale Details der Eigenverfassung und binnenständischen Struktur. Adelsreformentwürfe verweisen also auf Potentiale der Anpassungs- und Wandelbereitschaft des Adels, ohne dass deshalb der Adel in der nachständischen Gesellschaft (mental) „verbürgerlichen“ oder funktional „Ersatzbürgertum“ werden musste.60 So betrachtet erschöpft sich Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht in einer unilinearen Verfallsgeschichte zwischen ökonomischem Niedergang, bürgerlichem Angriff auf die ständische Ordnung und der eigenen Verteidigung altständisch-adliger Wertkategorien. Noch lange konnte sich in einer Epoche der „unentschiedenen Konkurrenz“ für den Adel die Frage stellen, wieviel Kontinuität im Wandel möglich und wieviel Wandel in der Kontinuität nötig sei.61 Die Untersuchung von Adelsreformansätzen eröffnet insofern eine Perspektive auf Prozesse wechselseitiger Abhängigkeiten, gegenseitiger Einflussnahmen und strategischer Kompromissversuche zwischen Adel und bürgerlicher Gesellschaft. Adelsreformdiskussionen als Identifikationsfeld habitueller und mentaler Elemente nachständischer „Adligkeit“ Genügt aber für eine Untersuchung solcher Vermittlungsprozesse ständisch-sozialer Mentalitätssubstrate zwischen der alten erblichen Herrenschicht und dem Bürgertum eine Definition von „Adligkeit“, die sich in der Abgrenzung zur „Bürgerlichkeit“ erschöpft, indem „adelsgemäße Stratifikation“ und „bürgerliche Funktionsidee“ gegenübergestellt werden? Sind Adel und „Adligkeit“, wie sie in den notwendig verknappend und abstrahierend argumentierenden Adelsreformentwürfen nach den „Bedingungen und Möglichkeiten adliger Existenz in Behauptung und Kritik“ (Oexle) unter den Auspizien der nachständischen Gesellschaft ausgelotet wurden, tatsächlich ausschließlich als hierarchisch gedachte Gesellschaftsvorstellung beschreibbar?62 Oder benötigt eine

tragen würde: um so mehr, als zudem die dritte Möglichkeit bestand, durch das (preußische oder gar österreichische) „Territorialfürstentum“ eine nationalpolitische Lösung erzielen zu können! 60 Einen Verlust an Standesbewusstsein und „Verbürgerlichung“ vermutet Monika Wienfort in: Adel in der Moderne. Adel als „Ersatzbürgertum“ bei Christoph Dipper, Adelsliberalismus in Deutschland, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Liberalismus im 19.Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 172-192. 61 Zur „unentschiedenen Konkurrenz“ von Adel und Bürgertum siehe Hansjoachim Henning, Die unentschiedene Konkurrenz. Beobachtungen zum sozialen Verhalten des norddeutschen Adels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1994. 62 Vgl. Otto-Gehard Oexle, Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, S. 19-56, hier S. 48.

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Definition von „Adligkeit“ nicht zugleich eine spezifische Vorstellung von den Wertinhalten und der Organisation von Funktionsaufgaben in der Gesellschaft? In der Forschung haben die Konzessionen „des Adels“, bzw. verschiedener adli­ ger Individuen an die „bürgerlichen“ Parameter von „Professionalisierung“, „Individualisierung“ und „Funktionalisierung“ zu der etwas voreiligen Schlussfolgerung verleitet, jede idealtypisierende Gegenüberstellung von „Adligkeit“ und „Bürgerlichkeit“ für das 19. Jahrhundert in Frage stellen zu müssen.63 Seitdem sich der Adel der „bürgerlichen“ Logik der „Funktionalisierung“ geöffnet habe, ursprünglich bürgerlich geprägte Berufsfelder und Karrierewege betrat, sich der darin geforderten Spezialisierung unterwarf, währenddessen „Stratifikation“ als gesellschaftliches Ordnungsprinzip an Bedeutung verlor, habe sich „Adel“ und „Adligkeit“ immer weniger über adelsspezifische Lebensformen definieren lassen.64 Doch Adelsreformentwürfe beschäftigten sich in erheblichem Maße mit der Problematik, welche multifunktionalen Verwirklichungsmöglichkeiten den Individuen in der zeitgenössischen Gesellschaft noch blieben:65 inwiefern lässt sich also der „Adlige“ vom Bürgerlichen gerade

63 Charlotte Tacke (Adel und Adeligkeit, S. 98f) bietet beispielhaft eine solche relativierende, die Begriffe „Bürgerlichkeit“ und „Adligkeit“ tendenziell von objektivierbaren, positiven Zuschreibungsmöglichkeiten lösende Interpretation unter Bezug auf Monika Wienfort (Der Adel in der Moderne, S. 154, Anmk. 11). Besonders fragwürdig wird dieses Vorgehen beim herangezogenen Beispiel adliger und bürgerlicher Großgrundbesitzer, Ebd., S. 104f: Gegenüber René Schiller, der konstatiert, dass über den Gutsbesitz im Verlaufe des 19. Jahrhunderts, trotz gewisser Interessenüberschneidungen, keine adlig-bürgerliche Grundbesitzerelite in Brandenburg entstand, führt Tacke als Grund für dieses Scheitern andere Gründe als die als „adlig“ bzw. „bürgerlich“ charakterisierten sozio-kulturellen Parameter an. Doch die versuchte Auflösung dieses sozio-kulturellen Gegensatzes durch Tacke wirkt konstruiert (z.B. in der Behauptung fehlender räumlicher Kontaktmöglichkeiten zwischen beiden Gruppen) und auch nicht durch Befunde gedeckt. In den Quellen finden sich dagegen deutliche Verweise auf sozio-kulturellen Unterschiede zwischen diesen Gruppen in deren jeweiliger Bewertung und Behandlung des Grundbesitzes und den daran hängenden sozial-politischen Erwartungen. 64 Charlotte Tacke, Adel und Adeligkeit, S. 97f. 65 Eine Bestätigung ex negativo dieses Befundes einer immer noch verbreiteten „Tätigkeitsmischung“ gerade des gutsgesessenen Adels gab Hermann Fürst v. Pückler-Muskau, wenn er 1834 (für einen Adligen, besonders des „hohen“ Adels, völlig überraschend) forderte, dass der (gutsgesessene) Adel seine Rollendiversifikation zugunsten einer Konzentration auf gutswirtschaftliche und ausgesuchte, d.h. wiederum auf das direkte Umfeld des Gutes und Landbesitzes beschränkte kulturelle Tätigkeiten, aufgeben solle. Der Adel solle sich vor allem als Grundbesitzer verstehen, sich nicht in einer Vielzahl von Interessen und Tätigkeiten verlieren, „vom Hundertsten und Tausendsten ein für allemal zu abstrahieren, nach Göthes (sic!) Rath, Politik und Staat für sich selbst sorgen zu lassen [!], und uns nur der eignen, entweder schon angebornen, oder früh gewählten Bestimmung ganz und allein zu widmen.“ Kurz: Pückler-Muskau forderte eine klare „Berufswahl“ der Adligen! Trotzdem insistierte selbst Fürst Pückler auf ästhetischer Betätigung des Adels: „Nur müssen sie sich nicht wähnen, genug zu thun, wenn sie sich als Gutsbesitzer, bloß potentzierte Landbauern zu seyn bestreben. Damit sollen sie zwar anfangen, aber dann, ihrem höheren Wirkungskreise angemessen, auch weiter gehen, und alles Gute und Schöne des Lebens in ihren Bereich zu ziehen suchen, so weit sie können, doch immer mit Bezug auf einen bleibenden Vortheil für ihren Besitz. Ist also zuerst für die bestmög-



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(in der ersten Hälfte) des 19. Jahrhunderts noch einmal idealtypisch darin unterscheiden, dass er die übernommenen Funktionspositionen zwar nicht weniger „professionell“ und sachorientiert ausfüllte als der Bürgerliche, diese aber in einer angestrebten Vielfalt und Mischung von Funktionen, Tätigkeiten und Interessen zu einer (idealtypischen) adligen Biographie zusammenzuführen suchte? Die Thematisierung einer solchen spezifischen Ordnungsstruktur von „Funktionalität“ fehlt bisher in der neueren Adelforschung für das 19. Jahrhundert: worin wurde damals noch die eigentliche politische Dimension des Adels, oder besser gesagt: die politische Dimension der Idee des Adels und der „Adligkeit“ gesehen? Eine politische Dimension, die sich nicht in den parteipolitischen Neigungen des Adels erschöpft (davon ist die Forschung voll), sondern die eine als spezifisch adlig gedachte gesamtgesellschaftliche Aufgabenzuschreibung und Selbstverpflichtungsidee zum Thema hat, wie sie das Eigenbild des Adel im ancien régime bestimmte. Was blieb im 19. Jahrhundert noch von dieser Selbstüberzeugung eine Wertelite zu sein, Träger, Garant und Repräsentant einer (selbstverständlich ständisch gedachten) Verfassungs- und Gesellschaftsordnung, mit dem Anspruch die standesspezifischen Sozialwerte über den (adligen Personen-)Stand hinaus in die ganze Gesellschaft hinein wirken zu lassen?66 Diese eigenbezogene sozialkulturelle Bedeutungszuschreibung des Adels als Träger einer Gesellschafts- und (daraus abgeleitet) einer Staatsordnung wird kaum addressiert:67 es geht um wirtschaftliche Anpassung und Scheitern, Lebensstile und Karrierechancen. Dieses Wahrnehmungsdefizit ergibt aus der Methode der gezielt vorgehenden sozialgeschichtlichen Studien fast von selbst: die Konzentration auf einzelne Funktions- und Lebensbereiche des Adels (Landwirtschaft, Militär, Verwaltung), oder Adelsgruppen (Hoher Adel, Militär-, Klein- oder „armer“ Adel) lässt die immer wieder beeindruckende Verschränkung, verwandtschaftliche Verflechtung, die Vielzahl der sozialen Kontakte unterschätzen, die für

liche Bewirthschaftung ihrer Güter gesorgt, so wird die ästhetische Ausschmückung derselben folgen müssen. Dieser kann sich dann jeder edlere Luxus, wie er dem Geschmacke des Besitzers am besten zusagt, anschließen, es seyen nun Sammlungen von Gegenständen der Kunst und der Wissenschaft, neue Zweige der Industrie, Musterwirthschaften, oder andere gemeinnützige Anstalten, kurz Alles, was in dem Bereiche der Mittel liegt, um das Familieneigenthum fortwährend nicht nur werthvoller, sonder auch würdiger in seiner Erscheinung für jede Zeit und in jedem Sinne zu machen.“ Vgl. Ders.,‚Trocknere Variation auf ein früher berührtes Thema‘, in: Tutti Frutti. Aus den Papieren des Verstorbenen, Erster Band, 1834, S. 224-237, bes. S. 225, 235f. 66 So schrieb Philipp v. Arnim 1792 dem Adel die Repräsentation und Beförderung von Werten zu, die nach moderner Auffassung allein der privaten Sphäre zugeordnet werden: „So hat denn der Adel, der diesen zwar nicht als Belohnung seiner Tugenden erhalten hat, dennoch Pflichten als Mensch und als Stand, und diese sind, wenn mich nicht alles trügt: Familienglück in einem ausgebreiteteren Kreise zu befördern, als es der bloße Bürger kann.“; vgl. Philipp v. Arnim, Über den Adel, Berlin 1792, S. 31. 67 Selbstverständlich mit der großen Ausnahme der Studie Hartwin Spenkuchs über das preußische Herrenhaus.

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den Adel charakteristisch sind, und die selbst zahlreiche oberflächlich „marginalisierte“ Standesvertreter noch lange in den Stand zu integrieren vermochten.68 Stratifikation und Funktionalisierung als soziale Logik schließen sich womöglich keineswegs so sehr aus, wie es idealtypisierende Modernisierungstheorien suggerieren. Jedenfalls solange es gelingt, den privilegierten „sozialen Rekrutierungspool“ stratifikatorisch definierter Eliten relativ zu dynamisieren! Die in den Adelsreformideen vorgenommene Neutarierung und Kodierung von habituellen und mentalen Elementen einer überkommenen „Adligkeit“ erlauben womöglich zusätzliche Aufund Rückschlüsse über neue Ordnungsvorstellungen zwischen Stratifikation und Funktionsanforderungen in der Gesellschaft, die den zeitgenössischen Elitenformationen zugleich eine Verwirklichung von holistischen Lebens- und Persönlichkeitskonzepten ermöglichen sollten. Diese neuentworfenen hierarchisch-funktionalen Ordnungsgefüge wären dann ebenfalls als Bestandteil einer nachständischen „Adligkeit“ zu betrachten, und insbesondere in ihrem kritischen Gehalt gegenüber der zeitgenössisch fortschreitenden und schon damals thematisierten „Verstaatlichung“ des Gesellschaftslebens durch den immer spürbareren Aus- und Zugriff der Bürokratie zu befragen: in welcher Form entwarfen die Pläne Alternativentwürfe einer anderen Vergesellschaftung gegenüber und innerhalb des Staates?

1.2.2.

Das Thema Adelsreform in der Historiographie

Die stereotype Gleichsetzung des preußisch-deutschen Adels mit der Figur des ostelbischen „Junkers“ schloss eine nähere Beschäftigung mit solchen Versuchen adliger Neuorientierung, trotz sporadischer Nennungen in unterschiedlichen Zusammenhängen, fast von selbst aus. Gutswirtschaft wie Gutsherrschaft schienen über alle politischen Brüche des 19. Jahrhunderts hinweg dieser Adelsformation ein festes Gerüst zu geben. Die ältere Forschung beschränkte sich entsprechend darauf, die adligen Einstellungen wie die staatliche Adelspolitik zwischen 1815 und 1848 vornehmlich als teil-angepasstes Fortsetzen oder restauratives Wiederanknüpfen an die Verhältnisse vor den großen Reformen und Umstürzen des frühen 19. Jahrhunderts zu lesen, wobei

68 Der Versuch von Charlotte Tacke, „Adel und Adeligkeit“ über einzelne Parameter dingfest zu machen wie „wirtschaftlich rational und gewinnorientiert“ oder „statuskonsumorientiert“ (am Beispiel der Studie von Eckart Conze, Von deutschem Adel: die Grafen von Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart 2000), die sie immer wieder nach dem Schema „stratifikatorisch“ versus „funktionalistisch“ auszuspielen sucht, muss deshalb notwendig scheitern, vgl. Ebd., S. 107. Dagegen führt meines Erachtens Conze zu Recht aus, dass über Unterschiede der Wirtschaftsstile und des äußeren Statuskonsums hinaus selbst noch für den (gutsgesessenen) Adel des 20. Jahrhunderts eine gruppenübergreifende Gemeinsamkeit in den Versuchen erkannt werden kann, sich als ländliche Elite zu inszenieren. Also wieder über die Dimension polit-kultureller Handlungen und Symbole, die eben bei „bürgerlichen“ Gutsbesitzern kaum – eigentlich: gar nicht – anzutreffen sind.



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der Adel vor allem als Unterkategorie der „Gutsbesitzer“ figurierte.69 Ein weiterer Grund für diese Nichtbeachtung liegt in der ebenfalls lange dominierenden Konzentration der Adelsforschung auf die Epoche des Zweiten Kaiserreichs. Diese zeitliche Fokussierung verleitete dazu, die elitenhistorisch „unentschiedenere“ Situation vor den „harten Entscheidungen“ 1866-1870/71, schon gar vor 1848 voreilig aus den politischen Konstellationen des späten 19. Jahrhunderts zu interpretieren.70 Fragen nach den Entwicklungschancen einer adlig-bürgerlichen „composite elite“ in Deutschland und Preußen schienen damit erledigt, noch bevor sie recht gestellt waren.71 Das Thema „Adelsreform“ wurde bestenfalls als ein irritierendes, aber letztlich folgenlo-

69 Exemplarisch für diese klassischer Deutung des Adels aus den gutsherrlichen Verhältnissen noch in den späten achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts: Francis L. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, München 1988. Geleitet von diesen Prämissen der „Junkerforschung“, die in großflächiger Übereinstimmung von der bundesrepublikanischen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte wie von der marxistisch bestimmten Forschung der DDR geteilt wurden, gelang es dagegen Hartmut Harnisch im selben Zeitraum schon differenziertere Akzente zu setzen: Ders., Kapitalistische Agrarreform und industrielle Revolution: agrarhistorische Untersuchungen über das ostelbische Preußen zwischen Spätfeudalismus und bürgerlich-demokratischer Revolution von 1848/49 unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Brandenburg, Weimar 1984; Ders., Adel und Großgrundbesitz im ostelbischen Preußen 1800-1914: Antrittsvorlesung 16. Juni 1992. Unter „Großgrundbesitzer“ rubriziert werden „adlige“ Aspekte unscharf bei: Klaus Hess, Junker und bürgerliche Großgrundbesitzer im Kaiserreich. Landwirtschaftlicher Großbetrieb, Großgrundbesitz und Familienfideikommiß in Preußen (1867/71-1914), Stuttgart 1990; dagegen differenzierender Hanna Schissler, Preußische Agrargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763 bis 1847, Göttingen 1978. Weitere Beispiele: Ilona Buchsteiner, Großgrundbesitz in Pommern 1871-1914. Ökonomische, soziale und politische Transformation der Großgrundbesitzer, Berlin 1993; Dies., Pommerscher Adel im Wandel des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, 25, 1999, S. 343-374; Armgard v. Reden-Dohna/Ralph Melville (Hrsg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780-1860, Stuttgart 1988; Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750-1950, (Geschichte und Gesellschaft Sonderheft  13), Göttingen 1990; Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848, München 1994; Gregory W. Pedlow, The Survival of the Hessian Nobility, 1770-1870, Princeton 1988. Diese „Tradition“ aufgreifend, doch in Fragestellung, Untersuchungsumfang und elitenhistorischen Schlüssen das adlig-(land)bürgerliche Verhältnis neu analysierend René Schiller, Vom Rittergutsbesitz zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2003. 70 Ewald Frie erklärt diesen Hang der deutschen Historiographie, das ganze 19. Jahrhundert „vom Ende her“ zu interpretieren als Reaktion auf die späte Gründung des deutschen Nationalstaates, vgl. Ders., Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts? Eine Skizze, in: Geschichte und Gesellschaft, Heft 3, 2007, S. 398-415, hier S. 413. 71 Zu den Chancen einer „composite elite“ in Preußen nach 1848 vgl. Hartwin Spenkuch, Das preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918, Düsseldorf 1998, hier: S. 441-455. Zum Begriff der „composite elite“ vgl. Werner Mosse, Adel und Bürgertum im Europa des 19. Jahrhunderts. Eine vergleichende Betrachtung, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum, Bd. 2, S. 276-314.

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ses Nebengleis eines „realgeschichtlichen Normalwegs“ in der preußisch-deutschen Elitengeschichte wahrgenommen.72 Allein in der älteren Forschungsliteratur wurden Adelsreformdiskussionen ernsthaft als Auseinandersetzung mit denkbaren alternativen Wegen einer deutschen Elitengeschichte behandelt. Während die immer noch hochinformative und dichte, auf wissenschaftliche Ansprüche gar nicht abzielende klassische Darstellung von Carl August Graf v. Drechsel von 1912 die zahlreichen Adelsreorganisations- und reformvorhaben im 19. Jahrhundert lediglich zusammenstellte (und auf Brauchbarkeit und Anwendungsmöglichkeit seitens eines zeitgenössischen adligen Publikums befragte), unterwarf die Studie Annelise Mayers von 1931 erstmals diese Ideen einer wissenschaftlichen Einschätzung.73 Ihre Untersuchung der intellektuellen Einbettung dieser Ideen und die von ihr berücksichtigten politischen Akteure beschränkte sie auf das späte 18. Jahrhundert und das preußische Reformerumfeld bis zur JuliRevolution 1830. Auch zwei weitere ältere Auseinandersetzungen über das Bild und Selbstverständnis des Adels in Kritik und Verteidigung, sowie den sich daran anschließenden Überlegungen und Vorschlägen einer Reform der ständischen Verhältnisse, entstanden auffällig in den Jahren eines herausgehobenen Krisenbewusstseins in Deutschland: Johanna Schultze und Adelheid Bues schrieben ihre Arbeiten jeweils wenige Jahre nach einem verlorenen Weltkrieg. Allerdings bearbeiteten diese Untersuchungen allein die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, ließen die Zeit des europäischen Umbruchs nach 1800 und seiner Folgen bewusst aus. Insbesondere Johanna Schultzes Perspektive blieb deshalb einer statischen Auffassung des adlig-

72 Hartwin Spenkuch möchte in der Behandlung der Adelsreformproblematik allein „reizvolle kontrafaktische Ansätze“ erkennen, deren Erhellungsgrad gegenüber den „realen politisch-sozialwirtschaftlichen Prozessen“ extrem begrenzte Bedeutung zukommt. Spenkuch verweist in Hinblick auf die Adelsreformansätze unter Friedrich Wilhelm IV. auf den stark defensiven (d.h. nicht den alten Adel betreffenden) Charakter dieser Pläne, sowie dass die darin vorgesehene starke Orientierung an einem Gutsbesitzeradelsideal für die spätere (sozial extrem konservativierende) Einführung einer Kategorie des „alten und befestigten Grundbesitzes“ bei der Herrenhausgründung entscheidend wurde. Spenkuch übersieht dabei, dass gerade dieses Ergebnis einer einseitig retrospektiven Grundadelsdefinition nach 1848 indirekt auf das Scheitern, bzw. die Nichtumsetzung im Sinne der vormärzlichen Adelsreformdebatte unter Friedrich Wilhelm IV. zurückgeführt werden kann. Dieses Beispiel illustriert die drohende Verkürzung, wenn von Ergebnissen direkt auf die Absichten, von erfolgten Entscheidungen auf die Motivation und ursprüngliche Zielsetzung rückgeschlossen wird. Die Zäsur der Revolution von 1848 in ihren bewußtseinsbildenden und politisch-praktischen Folgen wird dabei leicht unterschätzt. Vgl. Ders. Herrenhaus, hier S. 25f. Siehe dazu im Einzelnen unten Teil III. Kap. 4.3.3. „Verkünstelt“ wurden die Adelsreformideen Friedrich Wilhelms IV. allerdings schon von Heinz Gollwitzer bezeichnet, vgl. Ders., Die Standesherren, S.327. 73 Carl August Graf v. Drechsel, Über Entwürfe zur Reorganisation des deutschen Adels im 19. Jahrhundert, Ingolstadt 1912. Annelise Mayer, England als politisches Vorbild und sein Einfluß auf die politische Entwicklung in Deutschland bis 1830, Endingen 1931.



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bürgerlichen Antagonismus und seiner Inhalte seit der Aufklärung bis in ihre Zeit verpflichtet.74 Diese beiden älteren Arbeiten haben inzwischen eine wichtige Ergänzung in der auf adels- und elitentheoretisch aktuellem Niveau argumentierenden Magisterarbeit von Frank H. Hirsch erhalten. Es ist das besondere Verdienst dieser Arbeit, herausgearbeitet zu haben, dass sich „Aufklärung“ und ständisches Denken keineswegs ausschließen mussten, einige Vertreter der „Aufklärung“ sogar an einer Weiterentwicklung und Modernisierung des Ständewesens unter Einschluss des Adels interessiert waren.75 Annelise Mayers Studie widmete sich hingegen der Epoche der Umwälzungen seit 1806 und den bis 1830 diskutierten adlig-ständischen Restabilisierungsversuchen. Ihre Arbeit, die durch Gerhard Ritter angeregt und betreut worden war, strebte offenkundig eine praktische Orientierungshilfe für einen an sich selbst irre gegangenen deutschen Konservatismus in der Endphase der Weimarer Republik an: der Blick zurück auf ältere Ansätze zu einer Elitenversöhnung sollte diesem neue Optionsmöglichkeiten in der Gegenwart eröffnen. Ihre Darstellung entwirft ein Phasenmodell, das für die früheren Jahre „liberalere“, „progressivere“ Adelsreformideale feststellen will, während um 1830 die Idee einer Adelsreform insgesamt und endgültig ins konservativ-reaktionäre gewendet worden sei. Eine solche Zweiteilung erscheint aber mit Blick auf eine längerfristige Entwicklung und breitere Quellenbasis als zu vereinfachend. Vorgreifend kann festgestellt werden, dass die Ambivalenz „liberalisierender“ und „konservativer“ Elemente in allen Adelsreformplänen vorhanden und charakteristisch für diesen Entwicklungsansatz war. In der jüngeren Literatur fällt die fast völlige Abwesenheit des Themas „Adelsreform“ vor allem da auf, wo eine ansonsten intensive und aus den Quellen dicht gearbeitete Reflektion über das Weltbild und die politischen Ideale König Friedrich Wilhelms IV. vorliegt. So ist der Einschätzung Frank-Lothar Krolls nur schwer zu folgen, dass das Verhältnis zwischen dem „romantischen“ König Friedrich Wilhelm IV. und Friedrich de la Motte Fouqué ein „unpolitisches“ gewesen sein soll.76 Über deren mögliches, ja sogar wahrscheinliches Zusammenwirken im Projekt der ab 1840 erschienenen „Zeitung für den deutschen Adel“ macht Kroll leider keine Angaben. Panajotis Kondylis epochales Werk über den „Konservativismus, seinen „geschichtlichen Gehalt und Untergang“ thematisiert Adelsreformschriften zwar als

74 Johanna Schultze, Die Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum in den deutschen Zeitschriften der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts (1773-1806), Berlin 1925, ND Vaduz 1965. Adelheid Bues, Adelskritik – Adelsreform. Ein Versuch zur Kritik der öffentlichen Meinung in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts an Hand der politischen Journale und der Aeusserungen des Freiherrn vom Stein, Diss. Masch., Göttingen 1948. 75 Frank H. Hirsch, Aufklärerische Adelskritik im Spiegel der Zeitschriften. Magisterarbeit, Universität Saarbrücken 2004, hier bes. S. 10. 76 Frank-Lothar Kroll: Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik (Einzelveröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 72) Berlin 1990, S. 67.

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Indizes des Zerfalls der konservativ-ständischen Ideen- und Lebenswelt des Adels als sozialer Träger- und Repräsentantengruppe des historischen Konservatismus. Aber als eigenständige ideengeschichtliche Antezedenz zur argumentativen und ideellen Vorbereitung späterer neo- bzw. pseudo-konservativer Ideologeme nimmt er sie nicht wahr.77 Diese Bedeutung der Adelsreformauseinandersetzungen hatte dagegen schon Sigmund Neumann um 1930 klar erkannt und benannt.78 Erst Heinz Reif hat in mehreren Aufsätzen und Beiträgen diese Brisanz adelsreformerischer Ideenverläufe auch theoretisch genauer zu fassen gesucht.79 Die unten noch genauer dargestellte Entwicklung des Konzeptbegriffes der „Adligkeit“ geht wesentlich auf dessen Studien zurück. Die vorliegende Arbeit ist ohne diese konzeptuellen Vorleistungen nicht denkbar und nimmt bei Gelegenheit darauf Bezug.

1.2.3. Begriffe und Definitionen Der Begriff der „Adligkeit“: Mentalität und Habitus des historischen Adels und nachständisches Leitbild Berdahls Ansatz, die Lage des Adels in der sich verbürgerlichenden Gesellschaft anstelle der überkommenen Positionsanalysen über die dauernden Wirkungen und Veränderungen altständischer Eigenvorstellungen und Handlungsmuster zu untersuchen, fand eine fruchtbare Fortsetzung. Vor zwanzig Jahren schlugen Michael G. Müller, Heinz Reif als auch Gerhard Dilcher und Otto Gerhard Oexle vor, Leitbilder adliger Existenz, und zwar in der Eigen- wie Fremdzuschreibung, als eigentliche Bestimmungsgrößen adliger Lebenswelt und adligen Selbstverständnisses heranzuziehen. An Stelle einer Definition wurde ein „geglaubtes Leitbild, eine Essenz, ein Habitus, eine Modellfigur“ (Frie) gesetzt, welche für das adlige Handeln in der ständischen wie in der nachständischen Zeit bestimmend wirkte.80 Diese Leitbilder, Ideen

77 Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, bes. S. 402. 78 Sigmund Neumann, Die Stufen des preußischen Konservatismus. Ein Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im 19. Jahrhundert, Berlin 1930, bes. S. 44. 79 Erstmals überblicksartig und vor allem gestützt auf seine Arbeit über den westfälischen Adel und Drechsels Zusammenstellung in: Heinz Reif, Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 18151874, in: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1789-1848, München 1993. Eine knappe Zusammenfassung dieser Thesen in: Ders., Adel im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, hrsg. v. Lothar Gall, Bd. 55), München 1999. Reifs große Monographie zum westfälischen Adel beschäftigt sich auch mit den in dieser Adelslandschaft virulenten Reformgedanken, die allerdings in ihrer Zielrichtung fast ausschließlich einer standesexklusiven, binnenadligen Reorganisationsidee verpflichtet blieben, vgl. Ders., Westfälischer Adel 1770-1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979, S. 203, 418-431, 449-450. 80 Gerhard Dilcher spricht sich grundsätzlich dagegen aus aus, den Seinsgehalt des Adels mithilfe „funktionalistischer Theorieansätze“ greifen zu wollen, d.h. durch die Analyse seiner politischen,



1. Einleitung 

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und Haltungen spiegeln sich in „Wortfeldern, denen die drei in allen romanischgermanischen Sprachen existierenden Bezeichnungen dieses sozialen Phänomens angehören, nämlich Adel, Nobilität und Aristokratie: Man ist „edel“ im Vergleich zum (all-)“gemeinen“ Volk, fällt auf (lat. no(ta)bilis) durch Bekanntheit und „nobles“ also vornehmes, großmütiges Verhalten und bildet schließlich in Bezug auf hervorragende menschliche Eigenschaften – Talente, Tugenden, Tüchtigkeit auf unterschiedlichen Gebieten – eine Gemeinschaft der „Besten“ (griech. aristoi).81 Die Bestimmungsinhalte eines solchermaßen umschriebenen adligen Seinsgehaltes werden in der aktuellen Adelsforschung unter dem Begriff der „Adligkeit“ subsumiert.82 Diese „Adligkeit“ lässt sich zum einen in einem überzeitlichen, relativ stabilen und konstanten Sinne definieren, wie er sich insbesondere in der ständischen Epoche darstellte; andererseits eignet sich dieser Begriff, um die sich „verflüssigenden“, von rechtlichen Absicherungen zunehmend gelösten Inhalte adliger Mentalität und Haltungen in der Epoche des Übergangs von der ständischen zur nachständischen Gesellschaft immer noch zu greifen, und im Prozess ihres „Abschleifens“ und der Suche nach neuem Halt unter neuen sozialen Bedingungen nachzuverfolgen. Denn wie der Begriff der „Bürgerlichkeit“ im Umbruch von der ständischen zur nachständischen Gesellschaft auch auf solche Bevölkerungsteile ausgedehnt wurde, die

rechtlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Funktionen. Denn eine funktionalistische Betrachtungsweise würde nicht dem Selbstverständnis einer ständisch-traditionalen Gesellschaft entsprechen: Ders., Der alteuropäische Adel, – ein verfassungsgeschichtlicher Typus?, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750-1950, S. 57-86, hier bes. S. 57f. 81 Walter Demel, Die Spezifika des europäischen Adels. Erste Überlegungen zu einem globalhistorischen Thema, in: zeitenblicke 4, 2005, Nr. 3 (13.12.2005) URL: http://www.zeitenblicke.de/2005/3/ Demel/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-2440 (30.1.2008), Absatz 2. Vgl. auch ausführlich Ders., Der europäische Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2005. 82 Der Begriff der „Adligkeit“ selbst wurde erstmals von Michael G. Müller am Europäischen Hochschulinstitut Florenz in den frühen 1990er Jahren in Anlehnung an den Begriff „Bürgerlichkeit“ der Bürgertumsforschung vorgeschlagen, vgl. u. a. Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987; Ders., (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3. Bde., München 1988; Klaus Tenfelde/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994. Über meine eigenen Kontakte und Diskussionen mit der DFG-Forschergruppe um Heinz Reif „wanderte“ dieser Begriff in den folgenden Jahren nach Berlin, wo er u.a. von Heinz Reif theoretisch ausgelotet wurde: „Adeligkeit“ – historische und elitentheoretische Überlegungen zum Adelshabitus in Deutschland um 1800, Berlin 1997 (MS). Im Umfeld der Arbeitsgruppe wurde der Begriff erstmals operationalisiert. Zum variierenden, wenn sich auch überschneidenden Verständnis und Gebrauch dieses Begriffs durch verschiedene Autoren vgl. die weiteren Ausführungen unten. Ewald Frie macht auf den Zusammenhang dieser Auffassung von „Adligkeit“ mit der überkommenen Eigenbeschreibung adliger Wertigkeit aufmerksam, wenn er schreibt: „Der Adel als „Meister der Sichtbarkeit“ [Heinz Reif], […], kann nicht durch seinen Durchschnitt, seinen Umfang, seine Masse angemessen beschrieben werden, sondern durch seine hervorragendsten Vertreter bzw. durch das sie leitende Ideal. Der Adel lebte von diesen Modellen, war gedanklich auf sie ausgerichtet“, in: Ders., Adel um 1800, Absatz 6.

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im alten ständisch-rechtlichen Sinne (noch) nicht zum (Stadt-)Bürgertum gehörten, so lassen sich mit „Adligkeit“ solche Individuen und Gruppenbestandteile fassen, deren Zugehörigkeit zum Adel im ständisch-rechtlichen Sinne „nicht mehr“, oder (als Aspiranten der Aufnahme in den Adel) „noch nicht“ gesichert war.83 Auch wenn „Adligkeit“ in erster Linie als Arbeitsbegriff zu verstehen ist, handelt es sich keineswegs um einen analytischen „Kurzschluss“, den Begriffsinhalt von „Adligkeit“ in den historischen Auseinandersetzungen um Sinn und Rolle des Adels aufspüren zu wollen.84 Unter den Bedingungen der nachständischen Gesellschaft handelt es sich z.B. bei „Adligkeit“ vor allem um einen Begriff der Latenz, der Potentialität – um die Umschreibung einer angenommenen „Adelsfähigkeit“. Und mit dieser Bedeutung lassen sich tatsächlich Avatar-Begriffe von „Adligkeit“ in den Quellen des Untersuchungszeitraumes ausfindig machen: „Edelgeborene“, „Krohnlehnbefähigte“ (Justus Möser), „Ritterbürtigkeit“ und „Adelsbefähigung“ (Josias v. Bunsen), „Edelinge“ (Rudolf v. Stillfried-Alcantara), oder auch „(ruhende) Junkerschaft“ (Johann Caspar Bluntschli) sollten eine solche Qualifizierung zur „Adligkeit“ bezeichnen. U.a. mit Hilfe dieser Avatare lässt sich der abstrakte Begriff der „Adligkeit“ in seinem engen, dependenten Verhältnis zur politischen Geschichte der nachständischen deutsch-preußischen Gesellschaft ebenso inhaltlich füllen wie im historischen Verlauf nachzeichnen.

Die Elemente einer überzeitlichen „Adligkeit“ Der historische „Adel“ war ein Führungsschichtenmodell, in welchem sich eine soziale Gruppierung, eben der Adel, durch die Vererbung von Zugangschancen auf Machtpositionen und gezieltes Heiraten untereinander (Konnubium) gegenüber anderen sozialen Gruppen tendenziell abschloss. Dabei lässt sich seit der Antike bis in die Neuzeit über alle politisch und sozial bedingten Veränderungen und Brüche hinweg eine substantielle Konstanz des Adelsbegriffs feststellen.85 Dieser „stabile

83 Zur „Bürgerlichkeit“ in diesem Sinne vgl. Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. 84 Allerdings ist dieses Vorhaben besonders erschwert, wenn eine genauere Inhaltsbestimmung von „Adligkeit“ ausgerechnet „vom Ende“ der Adelsgeschichte her versucht wird, also der Zeit von 1900 bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Aus der Perspektive einer früheren Epochenbetrachtung möchte ich deshalb die Warnung von Charlotte Tacke ausdrücklich entschärfen, es käme „darauf an, den Kurzschluss von der Begriffssprache auf die politische Geschichte zu vermeiden“‚ vgl. Dies., Adel und Adeligkeit. 85 Schon für die römisch-griechisch antike Welt sind Bezeichnungen und Begriffsbestimmungen des Adels in diesem Sinne nachweisbar. In spätantiker, bzw. frühmittelalterlicher Zeit wurden in den auf römischem Territorium entstehenden germanisch-romanischen Monarchien diese Bezeichnungen für neue Träger adliger Herrschaft übernommen. Vgl. die Ausführungen zum Stichwort Conze/Meier, „Adel, Aristokratie“ in: Geschichtliche Grundbegriffe, bes. S. 9-13.



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Kern“ und die daraus abgeleiteten „mentalitätsprägenden Handlungsräume“ des Adels (Frie) lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Adel ist eine Denkform des Individuums und der Gesellschaft, die dem Individuum Adel zuschreibt.86 Diese „Denkform“ oder „Mentalität“ betrachtete den „Adel“ und das „Adligsein“ als ein Geburtscharisma der adligen Personen, welches sich aus der Abstammung von als adlig betrachteten Familien oder Geschlechtern, dem sogenannten „Geblüt“, ableitete. Die der Zuschreibung als „Adel“ oder „Adligsein“ zugrunde liegende „soziale Schätzung“, sowie die damit behauptete Eignung zur Herrschaft begründete sich nach adligem Verständnis nicht etwa auf geleistete Verdienste jedes Einzelnen, sondern wurden aus dem über Generationen von der Familie, dem Geschlecht, akkumulierten sozialen Kapitals abgeleitet.87 Nach dieser Auffassung konnte „Adel“ also nicht einfach individuell erworben werden.88 Das adlige Ansehen begründete sich nicht auf Ämterbesitz, sondern über ausgehandelte Rangbeziehungen zwischen verschiedenen Adelsfamilien.89 Das adlige Individuum hatte an diesem erworbenen Rang über ein „Geburts- oder Erbcharisma“ teil. Als solche „Hervorragende“ kam ihnen die Rolle als soziales Vorbild zu, wenn auch nicht notwendig und in jedem Falle die Stellung eines (politischen) „Führers“ daraus erwuchs.90 Auf diesen Zuschreibungen beruhte das Bewusstsein eines persönlichen „Anders- und Eigenseins“ des Adligen, das sich unmittelbarer Ein- und Unterord-

86 Diese Zuschreibung kann als „Mentalität“ im Sinne einer geistig seelischen Disposition, als „subjektiver (wenn auch Kollektiv-)Geist“, als „Geistesverfassung“ bezeichnet werden. „Mentalität“ ist also „früher“, „erster Ordnung“, während die Auswirkungen und Manifestationen dieser Mentalität als Habitus in Erscheinung treten. Vgl. zu „Mentalität“: Gerd Tellenbach, „Mentalität“, in: Erich Hassinger/J. Heinz Müller/Hugo Ott (Hrsg.), Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer zum 75. Geburtstag, Berlin 1974, S. 11-30, hier S. 19f. 87 Oexle, Aspekte, S. 21. Zur Notwendigkeit der „Ererbung“ von „Adel“, der nicht durch eigenes Verdienst „erworben“ werden könne vgl. bes. S. 22-23. 88 Selbstbewusstsein und Herrschaftslegitimation schöpften ihre Kraft aus dem Geschlechterdenken, das den einzelnen Adligen in eine lange Tradition einreihte, derer er von Geburt an verpflichtet war – noblesse oblige! – und zu deren Gunsten das Individuum zurückzutreten hatte. In dem festen Glauben, dass sich die als erhaben angenommenen Eigenschaften der Ahnen mit der Geburt auf die Nachkommen übertrügen, beanspruchte der Adel eine herausragende Position in der ständischen Gesellschaft des Alten Reichs. Die überragende Bedeutung der Vorfahren und damit der Vergangenheit, rückte die Erinnerung an diese in den Vordergrund“, vgl. Oexle, Aspekte, S. 25. 89 Gerhard Dilcher, Der alteuropäische Adel – ein verfassungsgeschichtlicher Typus?, in: HansUlrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750-1950, S. 57-86, hier bes. S. 67f, 72. 90 Adel war „Vorbild“, aber nicht notwendig „Führer“, sowenig die Qualität des „Weisen“ zugleich die Eignung als „Lehrer“ bedeutet, so Neumann, Stufen, S. 14. Die Forderung nach einer persönlichen und allgemeinen Eignung zur „Führerschaft“ wurde dem Adel bezeichnenderweise erst in einem Stadium schon weit fortgeschrittenen Standeszerfalls und weitgehender Entsubstanzialisierung adliger Lebensweise abverlangt, vgl. die Kapitel „Führertum und neuer Adel“ in: Malinowski, Vom König zum Führer, S. 299-320.

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nung verweigerte, und im Gegenzug das Denken in Größen von „Herrschaft“ und „geschichtetem“ Gesellschaftsaufbau (Sigmund Neumann) begünstigte. 2. Trotz, oder gerade wegen des ausgeprägten Persönlichkeitskultes im Adel sieht sich das adlige Individuum der historischen Existenzweise in sozialen Gruppen verpflichtet, nämlich in „Haus“ und „Geschlecht“. In diesem sozialen Zusammenhang konnte das adlige Individuum sogar als bloße Verkörperung „dauernder Wertsubstanzen“ erscheinen.91 Denn das individuelle „Geburtscharisma“ ging letztlich aus einem generationentiefen, aufmerksam kontrollierten (Ahnenproben, gezielte und beschränkte Gattenwahl) wie dokumentierten (mündliche und schriftliche Überlieferung, Wappen u.a. symbolische „Garanten“ generationaler Zugehörigkeit) Prozess der „Geburtsauslese“ im Rahmen von Familie und Geschlecht hervor.92 Der einzelne Adlige partizipierte also vorwiegend an den durch seinen räumlichen wie zeitlichen Geschlechterverband kollektiv erworbenen Familienprivilegien.93 Deshalb ging die Familienvorstellung nicht nur räumlich über die Kernfamilie hinaus, sondern auch zeitlich, in der Idee des „Generationen- oder Geschlechterkette“.94 Neben dem überzeitlich und -räumlich gedachten Geschlecht vereinte die Vorstellung vom „ganzen Haus“ nicht nur familiäre sondern auch allgemein räumliche, ökonomische, politische und soziale Handlungsfelder, die in ihrer Gesamtheit die adlige Existenz repräsentierten und sichtbar werden ließen. Diese eigentümliche Verflechtung von Individualität und gruppenbezogenem Verpflichtungsdenken, das sich in der spezifisch gelebten Tradition eines „geschichtstragenden Kreises“ ausdrückte, brachte einen „Seigneuralcharakter“ der Adligen hervor, der dem Anforderungsprofil einer effizienzorientierten, kapitalistischen Produktionsgesellschaft entgegenstand, weil nicht soziale Kategorien der Übereinstimmung und Verschmelzung mit anderen Menschen die Wertigkeit des Einzelnen bestimmten, sondern idealiter vor allem solche Eigenschaften den Rang verliehen, den nur der Einzelne einnehmen konnte.95 Die adlige

91 Neumann, Stufen, S. 15 nach Georg Simmel, Soziologie, Leipzig 1922, S. 549. 92 Denn der Rang der Familie begründet sich vor allem darauf, was sie selbst und andere über ihre Vergangenheit wissen, siehe Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis, Berlin/Neuwied 1966, S. 308. 93 Adam Müller warnte Anfang des 19. Jahrhunderts den Adel ausdrücklich davor, seine politischen und sozialen Privilegien als „bürgerliches Eigentum“ zu verstehen und zu behandeln: dies würde die Idee des Adels allein auf „sächliche“ Grundlagen zurückführen, und damit den Adel zerstören, vgl. Neumann, Stufen, S. 47. 94 Wie präsent dieses Familienverständnis noch im Adel des 20. Jahrhunderts war (und ist!) belegt Malinowski, Vom König zum Führer, S. 49f. 95 Die moderne Ökonomie ist dagegen tendenziell auf das unpersönliche Tun ausgerichtet, aus dem die Persönlichkeit des Einzelmenschen in der Erfüllung von Aufgaben ihren Wert bezieht, vgl. Halbwachs, Gedächtnis, S. 307. Rangstreitigkeiten bestimmten deshalb die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des ancien régime: „If a corps [oder eine Familie, G. H.] allowed a rival to poach part of its authority, then it risked a decline in its rank and prestige. Nothing could be more dangerous, not only would face be lost, but also its position in the hierarchy would be eroded and in the future the government might feel justified in ignoring its rights. Early modern corporations were, therefore, in a



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Persönlichkeitsauffassung nähert sich insofern dem Leistungstyp des (modernen) Künstlers mit der zugrundeliegenden Idee einer Einheit und Unverwechselbarkeit von Werk (bzw. Leben) und Persönlichkeit.96 Lebensweltlich war dieses adlige Persönlichkeitsideal „universaldilettantisch“ angelegt, und entsprach der Adelsrolle einer „Multifunktionselite“.97 Von wichtiger, doch nicht exklusiver Bedeutung war dabei der durch Grundbesitz definierte Handlungs- und Herrschaftsraum, der idealiter durch die bauliche Manifestation eines großen Hauses oder Schlosses gekrönt wurde.98 Der Grundbesitz stattete den Adel zusätzlich noch mit besonderen Herrschaftsrechten und ökonomischen Ressourcen aus. 3. Der Adel als „Stand“. Durch Selbstverständnis und Gruppenverhalten, erblich und rechtlich fixierte Privilegien, soziale Kultur, Vererbung und Konnubium konstituierte sich der Adel seit dem 11./12. Jahrhundert sozial als „Stand“, d.h. einem Zusammenschluss bestimmter Familienverbände, der im mittelalterlichen und neuzeitlichen Staat sogar rechtlich definiert wurde. Als solcher verfügte er über zahlreiche Monopole bestimmter Herrschafts- und Gerichtsrechte, wie Jagdrecht auf fremdem Grund, begünstigenden Vererbungsregeln in Vermögenssachen, Befreiung von staatlichen Lasten und Abgaben u. a.99 4. Eine Besonderheit des europäischen Adels gegenüber ähnlichen, durch Erblichkeit und Konnubium abgegrenzte Funktions- und Herrschaftsgruppen außereuropäischer Kulturen bestand in seiner politischen Stellung in der europäischen Monarchie. In den Begriffen Walter Demels war er nicht nur sozial als „Adelsstand“ definiert, sondern zugleich politisch als „ständischer Adel“ ausgezeichnet, dem eine autonome, nicht (vom Monarchen) abgeleitete Herrschaftsausübung zustand. Ihm waren, zwar binnenständisch differenziert und regional differierend, aber aus eigenem Recht (autogen) als legitim zuerkannte politische Partizipationsrechte eigen, die vergleichbaren Gruppierungen außerhalb Europas fast überall fehlten. Nach außen manifestierte sich diese besondere politische Rolle in eigenen ständischen

permanent state of readiness to repulse attacks on their privileges, no matter how slight a threat might first appear.“, vgl. Juliann Swann, Politics and the State in eighteenth-century Europe, in: Timothy C. W. Blanning (ed.), The Eighteenth Century. Europe 1688-1815, Oxford 2000, S. 11-51, hier S. 32. 96 Neumann, S. 16 u. S. 134; „Seigneuralnatur“ nach Werner Sombart, Der Bourgeois, München/ Leipzig 1923, S. 260ff. 97 Demel, Die Spezifika, Absatz 3. Der Begriff „Multifunktionselite“, bzw. „Mehrzweckelite“ nach Karl Ferdinand Werner, Adel – „Mehrzweck-Elite“ vor der Moderne?, in: Rainer Hudemann/GeorgesHenri Soutou (Hrsg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Strukturen und Beziehungen, München 1994, S. 17-32; und Ders., „Mehrzweck-Elite“ vor der Moderne?, in: Ders.: Einheit der Geschichte, Sigmaringen 1999, S. 120-135. 98 Zum Konzept des „ganzen Hauses“ vgl. Siegfried Grillmeyer, Der Adel und sein Haus. Zur Geschichte eines Begriffs und eines erfolgreichen Konzepts, in: Anja Victorine Hartmann/Matgorzata Morawiec/Peter Voss (Hrsg.), Eliten um 1800. Erfahrungshorizonte, Verhaltensweisen, Handlungsmöglichkeiten, Mainz 2000, S. 355-370, zur Diskussion bes. 357f. 99 Demel, Die Spezifika, Absatz 5.

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Korporationen, die auf Reichs- und Landtagen, meist in einer eigenen Adelskammer zusammengefasst, politische Mitsprache praktizierten.100 Dies prägte sein Verhältnis zum Königtum und daraus leitete der Adel besondere Vorrechte auf die wichtigsten Machtpositionen im Staat ab, auch wenn daneben immer auch durch König, Kirche oder Korporationen delegierte Herrschaftsfunktionen existierten.101 Gerade diesem Aspekt sollte mit den nicht zuletzt durch das liberale Bürgertum unterstützten Oberoder Herrenhausprojekten bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts besondere Bedeutung zukommen.

Nachständische „Adligkeit“ im Spannungsfeld zwischen „Stand“ und „Elite“ „Adligkeit“ erschöpft sich nach dem oben Gesagten also nicht in einem Schichtungsmodell oder der Stratifikationslogik einer Gesellschaft. Unter Bezug auf die aufgeführten vielfältigen Aspekte einer Grundsubstanz des „Adligen“ hat die Adelsforschung deshalb seit den neunziger Jahren versucht, über den langzeitlichen Wandel der politisch-sozialen Verhältnisse in Europa von der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinweg „Adligkeit“ als ein verbindliches Kulturmodell zu beschreiben, das sich selbst noch in der nachständischen Epoche identifizieren lässt.102 „Adligkeit“ wäre in diesem Sinne als ein Substrat „historisch tief gegründeter Elemente adliger Identität“ zu verstehen, die sich jenseits der vielfältigen Adelsvarianten und unterhalb des Wandels des Adels in Mittelalter und Neuzeit bewegten.103 Vorgreifend lässt sich sagen: diese Überzeugung von einem solchen „Substrat“ des „Adligen“ teilten auch viele Vertreter von Adelsreformideen – denn wenn „der Adel“ historisch schon lange vor der ständerechtlich verfassten Gesellschaft, also vor dem konstituierenden Zusammenschluss privilegierter Familienverbände im Mittelalter existierte, dann stellte sich die Frage, ob der Adel nicht auch als vornehmlich kulturell definierte soziale Gruppe weiter bestehen konnte – und insofern die ständische Gesellschaft nur eine vorübergehende (wenn auch langanhaltende) Phase einer längeren Adelsgeschichte bedeutete. Dies war z.B. die Überzeugung des Freiherrn vom Stein.104 Um ein solches Kulturmodell der „Adligkeit“ unabhängig vom rechtlichen Korsett wie den Erscheinungsformen adliger Existenz in der Ständegesellschaft entwickeln zu können, haben Heinz Reif wie Michael G. Müller vorgeschlagen, nicht wie

100 Demel, Die Spezifika, Absatz 9. 101 Oexle, Aspekte, S. 21. 102 Ein erster Versuch in diese Richtung erfolgte schon in den Ausführungen zum Stichwort Conze/ Meier, „Adel, Aristokratie“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hier S. 15. 103 Vgl. Heinz Reif, „Adeligkeit“ – historische und elitentheoretische Überlegungen zum Adelshabitus in Deutschland um 1800, Berlin 1997 (Arbeitsmanuskript, ungedruckt). 104 Ganz explizit formulierte Stein diesen Gedanken von der ewigen Wandlung der Rahmenbedingungen adliger Existenz und der daran ausgerichteten Anpassung des Adels in der sogenannten „Schlosserschen Denkschrift“ von 1818, vgl. unten Teil II. Kap. 2.4.3.



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herkömmlich die Begriffe „Adel“ und „Elite“ als Gegensatzpaar zu verstehen. „Elite“ wird sonst in Abgrenzung zum Adel als eine Gruppe von Entscheidungsträgern definiert, die ihre Position nicht geburtscharismatisch begründeten Privilegien verdankt, deren Ämterpositionen also nicht Ausfluss ihres sozialen Status sind, sondern die idealtypisch allein aufgrund persönlicher Qualitäten, individueller Leistungen und unabhängig von sozialem Herkommen ihre Machtpositionen zuerkannt bekommt (Auslese nach „Gesinnung, Charakter und Leistung“).105 Als Führungsschichtenmodell wird die Idee einer „Elitenformation“ insofern der von einem adligen Herrschaftsstand geführten Ständegesellschaft gegenübergestellt, und folgt nach landläufiger Lesart historisch letzterer nach („vom Adel zur Elite“). Reif und Müller legen nun nahe, den Elitenbegriff weiter zu fassen und auf all jene sozialen Formationen zu beziehen, aus denen die Führungspositionen einer Gesellschaft vornehmlich besetzt werden, und welche zugleich die Zugangsvoraussetzungen und Erfolgskriterien dieser Führungsstellen bestimmen. Damit ließe sich selbst für die Ständegesellschaft eine Elite identifizeren, die nicht notwendig mit dem Adel deckungsgleich sein muss. „Elite“ wäre so betrachtet kein Gegenentwurf zum ständischen Modell der Adelsherrschaft, vielmehr erschiene nach dieser Definition der Adel als die wesentlichste und sichtbarste, aber nicht notwendig einzige Elitenressource der Ständegesellschaft, wie umgekehrt nicht unbedingt der gesamte Adel der ständischen Elite zuzurechnen wäre.106 Diese Beobachtung lässt sich vor allem im ostmitteleuropäischen Raum machen. In diesem Sinne spricht Walter Demel aber auch für das übrige Europa in Mittelalter und früher Neuzeit von einer „adeligen Elite“.107 Die eigentlichen Gegensatzbegriffe wären unter dieser Betrachtung nicht „Adel“ und „Elite“, sondern „Elite“ und „Stand“. „Eliten“ in diesem Sinne zeichnen sich also nicht notwendig über gemeinsame Lebensformen aus, sondern über spezifische „elite practices“, durch welche sie die Besetzung von Führungspositionen und die „Leistungsrationalität“ der Elitenfunktionen bestimmen.108 In einer vom Adel geführten und repräsentierten Ständegesellschaft würden diese „elite practices“, bzw. die geforderte „Leistungsrationali-

105 Vgl. Conze/Meier, „Adel, Aristokratie“ in: Geschichtliche Grundbegriffe, hier S. 31. 106 Diesen Ansatz verfolgte erstmals Vilfredo Pareto, siehe Wolfgang Schwentker, Die alte und die neue Aristokratie. Zum Problem von Adel und Bürgerlicher Elite in den deutschen Sozialwissenschaften 1900-1930, in: Les Noblesses Europeénnes au XIXe Siècle. Collection de l’école française de Rome, Rom 1988, S. 659-684, hier S. 662. Vgl. Heinz Reif in seinem Manuskript: „Adeligkeit“ – historische und elitentheoretische Überlegungen zum Adelshabitus in Deutschland um 1800, Berlin 1997 (ungedruckt). 107 Demel, Die Spezifika. 108 Den Begriff der „Leistungsrationalität“ entwickelte Heinz Reif am Gehalt und der Bedeutung der „elite practices“ die Harold D. Lasswell, Daniel Lerner und C. Easton Rothwell schon 1952 formulierten: Dies., The Comparative Study of Elites. An Introduction and Bibliography. (Hoover Institute Studies, Series B: Elites, Nr. 1, January 1952), Stanford University Press 1954.

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tät“ allerdings in besonderem oder sogar exklusivem Maße solchen Eigenschaften entsprechen, die von der Gesellschaft als adelsgemäß verstanden und bezeichnet würden – kurz: „Adligkeit“ wäre als ein „Leitbild“ der ständischen Gesellschaft zu verstehen, wobei „Adel“ und „Elite“ gleichzeitige, aber nicht notwendig deckungsgleiche soziale Formationen darstellten.109 Im Sinne eines Leitbildes könnte „Adligkeit“ dann wie der Begriff der „Bürgerlichkeit“ die Teilhabe an einer bestimmten Kultur meinen, sich auf eine adlige Lebensform beziehen, wobei die entsprechende Zuschreibung eines Individuum unabhängig von dessen tatsächlicher sozialer Position erfolgen würde. Eine solche flexiblere Auffassung vom Verhältnis zwischen Adel und Elite käme nicht nur der Beschreibung historischer Gesellschaftsverhältnisse entgegen, in denen Adelswirklichkeit und Elitenanforderungen deutlich voneinander abwichen. Sondern sie wäre auch dazu geeignet, den Übergang von der ständisch strukturierten zur nachständischen Gesellschaft nicht als „harte“ und kompromisslose Ablösung „unterschiedlicher Prinzipien der Systemstabilität“, von der „Stratifikation“ zur „Funktionalität“ zu zeichnen, sondern als eine allmähliche Verschiebung von Leitbildvorgaben, Kriterienbestimmungen und Rekrutierungspools bei der Elitenbildung.110 Eine solche Kräfteverschiebung anstelle einer Brucherfahrung würde zudem erklären helfen, warum selbst in einer sich zunehmend funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft dem Adel noch lange Chancen als Elitenressource wie als sozialem Vorbild eingeräumt werden konnten. Nachständische „Adligkeit“ als Ergebnis von Neutarierungen, nicht „Inventionen“ Diesen Parametern folgend wären Prozesse einer nachständischen Neutarierung von „Adligkeit“ streng von Vorgängen zu unterscheiden, welche tatsächlich mehr oder minder willkürliche „Wiedererfindungen“ des Adels vornahmen: zum Beispiel im Fall des von Claude-Isabel Brelot untersuchten napoleonischen Neuadels, der sich

109 Allerdings wäre zu erwarten, dass sich diese kongruent verhielten. Ein Indiz für dieses dependente Verhältnis von Adel und Elite in der Ständegesellschaft wäre in der typischen Argumentationsstruktur der Adelskritik und Adelserneuerungskonzepte der ständischen Epoche zu sehen: denn diese beschränkten sich im Kern darauf, dem Adel vorzuhalten, den von ihm selbst formulierten und repräsentierten Ansprüchen an die Standeselite nicht zu genügen. Vgl. zu dem ähnlichen Verständnis einer Verschränkung von „Klasse“ und „Stand“ z.B. Bourdieu, Zur Soziologie, S.59; Robert M. Berdahl (Hrsg.), Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1982, S. 263-282. 110 Ewald Frie bezeichnete diesen Wandel unter Berufung auf Niklas Luhmann als „Umsetzung auf ein anderes Prinzip der Systemstabilität“: „Das Gesellschaftssystem änderte die Grundlage seiner Erhaltung und Fortführung. Es stellte sich von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung um. Nicht mehr die Schichtung (Adel, Bürgertum, Bauern), sondern die Funktion (Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst etc.) bildete das Grundmuster der gesellschaftlichen Operationsweise“, vgl. Ders., Adel um 1800, Absatz 9.



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in der Tat vollkommen neu erfinden musste.111 Auseinandersetzungen über „Adligkeit“ sind dagegen vor allem in Gesellschaften zu erwarten, in denen die „ständische Zugehörigkeit“ von Individuen und Gruppen entweder historisch relativ unscharf definiert, oder in Bewegung geraten, unsicher geworden war, ohne dass ein substantieller Bruch adliger Tradition und Lebensformen vorausging – die Neubestimmung von „Adligkeit“ musste dort, wie de facto im Falle Preußens nach 1806, unter den Voraussetzungen bewusster und noch wirkmächtiger Kontinuität, und damit in enger Abhängigkeit von historischen Strukturvoraussetzungen erfolgen.112 Nicht zuletzt deshalb soll in der vorliegenden Untersuchung eine umfassende Berücksichtigung der historischen Strukturvoraussetzungen der jeweiligen Adelsreformkonzepte erfolgen, um den methodischen und interpretativen Defiziten des poststrukturalistisch inspirierten „cultural turn“ zu entgehen. Seit der Poststrukturalismus im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts zur dominierenden Herangehensweise an sozial-kulturelle und intellektuelle historische Prozesse in den Sozialwissenschaften wurde, um die zuvor überwiegenden materiellen Begründungen gruppensozialen Verhaltens zu Recht in ihre Schranken der Erkenntnismöglichkeit zu weisen, zeigt sich immer offener das gegenläufige Problem, dass in den Sozialwissenschaften Selbstdeutungen historischer oder sonstiger sozialer Subjekte als beliebig gestaltbare Prozesse aufgefasst werden. Eigen- wie Fremdbeschreibungen erscheinen dann als (nicht zuletzt individuell!) beliebig wählbare „Bedeutungen“, bzw. „Deutungen“; eine Auffassung, die mit dem vor Jahren geradezu inflationär eingesetzten Konzeptbegriffs der „invention“ so sehr popularisiert wie banalisiert wurde.113

111 Claude-Isabel Brelot, La noblesse réinventée : nobles de Franche-Comté de 1814 à 1870, 2. Bd., Paris 1992. 112 Dieser Gedanke wurde schon in einer dialogisch gehaltenen zeitgenössischen Auseinandersetzung mit den möglichen Positionen der Adelskritik und der Adelsapologetik aus sächsischer Sicht formuliert in: Anonymus, Der Adel und der Bürgerstand im neunzehnten Jahrhundert. Ein Dialog, Gotha 1825, S. 34ff. Auf den Vorschlag eines „Adelskritikers“, dass wenn der Adel noch aus Interesse des erblichen Fürstentums und des „monarchischen Prinzips“ heraus erhalten werden solle, man sich an dem entpolitisierten napoleonischen Neu-Adelsmodell orientieren solle, antwortete ein „Verteidiger“ des Adels: „Viel leichter war es dem Kaiser der Franzosen, auf geebneten Boden ein neues Gebäude aufzuführen, als es ist, einen mit altem und festen Gestein und Gemäuer bereits durchschnittenen Boden dazu zu benutzen. Und was ein Regent in einer durch die Gewalt der Waffen an sich gebrachten Provinz sich erlauben darf, was ein Usurpator wollen kann, kann ein friedliebender Fürst in Zeiten der Ruhe nicht mit einem Gewaltschritte bewirken wollen.“ 113 Diese postmodernistische Vorstellung von der fast willkürlichen Möglichkeit, Gesellschaft über Sprache (und Symbole) zu konstituieren, brachte Eric Hobsbawm in die eingängige und wirkungsvolle Formel von der „Erfindung von Tradition“, vgl. Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1996 (zuerst 1983). Vgl. zur tendenziellen Gleichsetzung von Mythos und Historiographie als Folge dieser Ansätze die Einleitung von Bo Strath (Hrsg.), Myth and Memory in the Construction of Community: Historical Patterns in Europe and Beyond, Brüssel/Berlin 2000, S. 19-46.

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Der Grund für diese fragwürdige Entwicklung liegt in dem aus der Linguistik in die sozialwissenschaftlichen Disziplinen übernommenen Verfahren, die sozialen und historischen Phänomene menschlicher Lebensäußerungen idealistisch in einem doppelten Sinne „zu versprachlichen“:114 zum einen, indem vornehmlich die Sprachebene historischer Bedingungen und Überlieferungen zum Untersuchungsgegenstand gemacht, und zum zweiten, insofern in der Sprache der exklusive Austragungsort menschlicher Konflikte überhaupt erkannt werden möchte.115 In Abgrenzung zu diesen Tendenzen des Poststrukturalismus werden in dieser Untersuchung diese Klassifizierungs- und Auslegungskonflikte nicht als beliebig offene Deutungsangebote der jeweiligen Akteure aufgefasst, trotz dem vorausgesetzten Verständnis von Adelsreformäußerungen als (oft genug semantisierend vorgehenden) Neukodierungen des „Adligen“; sondern als individueller Ausdruck allgemeinerer, und dadurch auch sozial-historisch gebundener kollektiver Erfahrungsdesiderate. Damit ordnet sich diese Arbeit in ein methodisches Verständnis ein, das in der jüngeren Histori-

114 Zur Kritik an diesem postmodernen „Verfahren“ vgl. Dieter Langewiesche, Was heißt „Erfindung der Nation“? Nationalgeschichte als Artefakt – oder Geschichtsdeutung als Machtkampf, in: Historische Zeitschrift Band 277, 2003, S. 593-617; Ders., Geschichtswissenschaft in der Postmoderne? – ein Postskriptum, in: Ders., Liberalismus und Sozialismus – Ausgewählte Beiträge. Hrsg. v. Friedrich Lenger, Bonn 2003, S. 28-38. Diese kritisierte Tendenz führte in der sozialwissenschaftlichen Forschung zu der unübersehbaren Neigung, nicht nur soziale Phänomene, sondern auch materielle Tatbestände und Sachverhalte zu semantisieren. Diese Semantisierung belegt zugleich ein „pathologisches Verhältnis der Subjekte zur Welt der Objekte“: „Wenn Barthes auf die fortwährende Semantisierung der Objekte verweist und Sprachtheoretiker, Semiologen wie Diskursanalytiker von einer prinzipiellen Spaltung zwischen Signifikat und Signifikant ausgehen, dann liegt es nicht allzu fern, diese Disjunktion nicht nur den historisch gewandelten Funktionsweisen der Sprache in der Moderne, sondern auch einem von Barthes angedeuteten, gleichsam in den obsessiven Semantisierungspraktiken zum Ausdruck kommenden pathologischen Verhältnis der Subjekte zur Welt der Objekte zuzuschreiben“, vgl. Maria Osietzki, „...unser Ohr dem Nichtgesagten öffnen...“. Anmerkungen zu einer kulturhistorischen Ingenieurbiographik, in: Wilhelm Füßl/Stefan Ittner (Hrsg.), Biographie und Technikgeschichte. BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History. Sonderheft, 1998, S. 112-126, hier S. 121. 115 Das „Verfahren“ der „Dekonstruktion“ nimmt eine Isolierung von Diskurselementen und deren Examinierung jenseits ihrer „natürlichen“ Funktion als Elemente einer Erzählung oder Lebensäußerung einer Person vor. Der Poststrukturalismus verstand dies als ein Mittel gegen einen „ideologischen Holismus“ des Subjekts (Bourdieu) – konkret bedeutete dies jedoch eine Dekontextualisierung von Sachverhalten. Letztlich erscheinen durch diesen analytischen Zugang alle sozialen und politischen Verhältnisse allein durch Sprache „kreiert“ und konstituiert zu sein. Der Erfolg eines „Diskurses“ erscheint aus dieser sozialwissenschaftlichen Perspektive nur noch von seiner eigenen, immanenten Plausibilität und seiner Fähigkeit abzuhängen, die Beteiligten aus sich selbst heraus zu überzeugen – äußere, materielle bzw. übersoziale und -personale Gegebenheiten wie Geographie, Klima, materielle Ressourcenverteilungen, Rechtsverhältnisse, Technikbestand und Produktionsweisen werden dagegen als Grenzen- und Richtungsgeber dieses Diskurses gar nicht mehr wahrgenommen, ebenso wenig wie Routinen und Erfahrungswissen – das soziale und intellektuelle Geschehen wird gewissermaßen völlig „entkörperlicht“.



1. Einleitung 

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ographie als „Neue Ideengeschichte“ bezeichnet wird.116 Ein kursorischer Blick auf die sozialen und ökonomischen Strukturvoraussetzungen, sowie die in der kollektiven Erinnerung gespeicherten Formierungserfahrungen der preußischen Staatsgesellschaft sollen dabei helfen, die Interpretationen und teleologischen Erzählungen bezüglich „Adligkeit“ in den Adelsreformprogrammen und -diskussionen wieder zu „kontextualisieren“ und in ihrer räumlichen, materiellen und historischen Bedingtheit zu zeigen – und damit auch als Formierung von Vorhandenem, und nicht als willkürliche Kreierung beliebiger neuer Inhalte erkennbar werden zu lassen.

Der Begriff der „Adelsreform“ im zeitlichen Wandel Moralische Adelskritik und Adelsapologetik begleiteten den Adel solange sich dieser in der Geschichte zurückverfolgen lässt. Mindestens seit dem Mittelalter könnte die Geschichte des Adels sogar als Abfolge von „Aproprations- und Reproprationsprozessen“ beschrieben werden.117 Die aus diesen dialektischen Prozessen hervorgehenden „Tugendadelsprogramme“ waren ambivalente ideologische Konstrukte: denn sie vereinten Adelskritik und Adelsapologetik in einem Argumentationszusammenhang, um aus diesem die Synthese einer dritten Lösungsmöglichkeit hervorgehen zu lassen. Die nachständischen Adelsreformideen standen ganz in der Tradition dieser Ambivalenz der älteren Tugendadelsprogramme und moralischen Adelsreformaufrufe.118 Um

116 Vgl. zum Ansatz der „Neuen Ideengeschichte“: Günther Lottes, Neue Ideengeschichte, in: Kompass für Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, hrsg. v. Joachim Eibach und Günther Lottes, Göttingen 2002, S. 261-269; Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Exempel einer neuen Geistesgeschichte, München 2006. 117 Rudolf Braun, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750-1950, S. 87. 118 Als Beispiele solcher „vormodernen“ Adelsreformideen und der ihnen verpflichteten Standesvereinigungen können die von den Reichsritterschaften ausgearbeiteten „Ritterordnungen“ gelten (die vom Kaiser bestätigt wurden). Die älteste davon ist die schwäbische, die rheinische lehnte sich wiederum an die fränkische an. Diese ritterschaftlichen Zusammenschlüsse, die zugleich adlige Tugendkataloge verfassten, richteten sich bezeichnenderweise gegen die entstehenden Territorialfürstentümer, hatten also eine völlig andere politische Stoßrichtung als die Adelsreformideen des 19. Jahrhunderts. Sie formulierten eine „Moral“ und waren an Rechtsnormen ausgerichtet, gaben aber auch einer humanistischen Bildungsorientierung (Studien wurden als Formen adliger Exerzitien aufgefasst) und Hochschätzung bürgerlicher Tugenden Ausdruck. Dagegen fällt die verblassende Militärorientierung auf, vgl. Max Lehmann, Freiherr vom Stein, 3 Bände, Leipzig 1902-1905, Bd. 1, S. 5-7. Die rheinische Ritterordnung von 1652 statuierte z.B. schon in der Einleitung, dass der Adel nicht im bloßen Namen bestünde, sondern in adligen Tugenden, denen die Laster der „Unzucht“, des „Trinkens“ und „Spielens“ entgegengestellt wurden. Zudem dürften Untertanen nicht „gegen Recht und Billigkeit beschwert“ werden; auch „gutes Wirtschaften“ wurde gefordert. Dagegen verwahrten sich die Ritterordnungen scharf gegen die tendenzielle Wegnahme der eigenen politischen und juristischen Autonomie durch den frühneuzeitlichen Territorialstaat: Rechtshändel seien vor ritterschaftlichen Behörden oder Reichsgerichten auszutragen, und nicht vor den fürstlichen Gerichten. Vgl. dazu auch

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 1. Einleitung

so mehr ist im Zuge dieser Untersuchung auf mögliche charakteristische Veränderungen in Inhalt und Zielrichtung der nachständischen Adelsreformideen gegenüber diesen früheren Tugendadelsprogrammen zu achten: worin spiegeln sich die veränderten Rahmenbedingungen, die Herausforderungen durch die sich intensivierende Verstaatlichung der Gesellschaft, die neue Konkurrenz durch nichtadlige Gruppierungen, die neuen Leistungs- und Effizienzgesichtspunkte, kurz: die aufkommende neue soziale Logik wider? Um diese Abgrenzung besser leisten zu können, bliebe kurz zu rekapitulieren, worin das Charakteristische dieses älteren, traditionsreichen Topos von einer „Reform“ oder „Erneuerung“ des Adels bestand. Der Idee des „Geblütsadels“ stand schon seit der Antike eine fundamentale Adelskritik gegenüber, die, ursprünglich aus der Philosophie der Stoa formuliert, von einer „natürlichen“ Gleichheit der Menschen ausging. Die Stoa hielt dem Geburts- und Geblütsadel das Bild eines individuell erwerbbaren, inneren, und von den Machtverhältnissen unabhängigen „Tugendadels“ entgegen. Doch erst durch das frühe Christentum wurde diese Idee eines auf „virtus“ gegründeten individuellen Tugendadels weiter ausgedeutet und gesellschaftlich verallgemeinert – und begründete damit eine Antinomie zwischen der älteren Idee des Geblütsadels und der christlichen Heilslehre, welche eine grundsätzliche Gleichheit aller Gläubigen ungeachtet der irdischen Rangordnung behauptet. Diese Antinomie bestimmte seither die europäische Adelsgeschichte bis zum Untergang der alteuropäisch-ständischen Welt um 1800:119 „Der Adel einer christlichen Glaubensbewährung wurde also ausdrücklicher für „adliger“ gehalten als ein unchristlicher bloßer Geblütsadel“.120 Diese Spannung zwischen den Vorstellungen eines von individuellen Leistungen unabhängigen Erbcharismas des Adels und der Vorstellung, dass das (adlige) Individuum sich dieses Anteils am Erbadel erst durch persönliche (christliche) Tugend (virtus) würdig erweisen müsse, bildete das Grundthema der zahlreichen (moralischen) Adelskritiken, die schon im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit nach-

Thomas Schulz, Der Kanton Kocher der Schwäbischen Reichsritterschaft 1542-1805. Entstehung, Geschichte, Verfassung und Mitgliederstruktur eines korporativen Adelsverbandes im System des alten Reiches, Sigmaringen 1986. Die durch die Kaiser im Spätmittelalter gegebene Privilegierung zur Bildung dieser Adelsvereinigungen zielte anders als die älteren Turniergenossenschaften nicht nur auf rein gesellige sondern auch politische Zielsetzungen. So z.B. die Gesellschaft mit St. Jörgenschild, vgl. dazu auch Herbert Obenaus, Recht und Verfassung der Gesellschaften mit St. Jörgenschild in Schwaben. Untersuchung über Adel, Einigung, Schiedsgericht und Fehde im 15. Jahrhundert, Göttingen 1961. 119 Ursprünglich aus einer christlich-theologischen „Antinomie“ gegen die Idee eines „natürlichen“ Geburtsvorzugs formuliert, „verengte“ und „rationalisierte“ sich dieser Konflikt in der Frühneuzeit im Konkurrenzstreit zwischen den verbeamteten (und teilweise „nobilitierten“) Juristen und dem Adel über die Frage, „woher“ der Adel eigentlich „stamme“, aus „eigenem Recht und Herkommen“ (Abstammung und Blut), oder aus königlicher Privilegierung, vgl. Oexle, Aspekte, S. 48-56. 120 Vgl. Conze/Meier, „Adel, Aristokratie“, S. 13.



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weisbar sind:121 „Alle Adelsliteratur bis zum 18. Jahrhundert ist erfüllt vom AdelTugend-Topos, der ebenso anklagend wie verteidigend verwendet werden konnte [...].122 Diese Polarität des Adels-Tugend-Themas bildete auch die Basis der Adelsreform- und Adelserneuerungsideen in der ständischen Gesellschaft.123 Denn das Ziel dieser Adelskritik war nicht die Abschaffung des Adels, sondern die Forderung, vornehme Geburt und persönliche Tugendbewährung im Ideal eines „Christenadels“ zu vereinen. Die Tugendforderung dieser älteren Adelskritik nahm schon wesentliche Motive der späteren, insbesondere seit der Aufklärung entwickelten Elitenvorstellungen vorweg. Oder umgekehrt: noch in den nachständischen Adelsreformentwürfen hallte das Motiv der christlich geprägten „Tugend“-Ideale nach, auch wenn seit dem 18. Jahrhundert zunehmend ökonomische Nützlichkeitserwägungen und effizienzorientierte Funktions- und Leistungskriterien an deren Stelle traten.124

1.3.

Aufbau, Fragestellungen und Quellen

Eine chronologisch geschlossene wie inhaltlich konsistente „Debatte“ um eine Adelsreform in Preußen lässt sich für die Zeit von den preußischen Reformen bis in die Jahre nach der Revolution 1848 methodisch und quellenmäßig nur schwer greifen, bzw. eingrenzen. Zum einen war der Organisationsgrad des Adels gering, gab es

121 Vgl. Oexle, Aspekte, S. 21-22. Dem widerspricht auch nicht die Feststellung von Klaus Bleeck und Jörn Garber, dass in der staatstheoretischen Literatur der frühen Neuzeit die erbcharismatischen Adels- und Tugendkonzepte eine nachgeordnete Rolle spielten – denn in dieser Literatur ging es nicht um die Legitimation und Herleitung von „Adel“ selbst, sondern um die staatsrechtliche Privilegienbegründung der ständisch eximierten „nobilitas politica“, vgl. Dies., Nobilitas, S. 63f. 122 Vgl. Conze/Meier, „Adel, Aristokratie“, S. 16. 123 Das Beispiel einer Adelskritik, die, ohne den Adel grundsätzlich zu verwerfen, ihn vielmehr zu seinem unbezweifelten idealen Tugendkanon bzw. seinen ursprünglichen gesellschaftlichen Aufgaben „zurückführen“ möchte bietet: Philipp v. Arnim, Über den Adel Berlin 1792. Zu noch älteren Beispielen dieses Topos im 16. und 17. Jahrhundert, vgl. Bleeck/Garber, Nobilitas, S. 66. Ein weiteres dafür typisches Beispiel sind die Diskussionen um das Verhältnis des Adels zu Handel und Gewerbe, bzw. des „Handelsverbots“ für den Adel, vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Handelsgeist und Adelsethos. Zur Diskussion um das Handelsverbot für den deutschen Adel vom 16. bis zum 18. Jh., in: Zeitschrift für historische Forschung 15 (1988), 273-309. 124 In der adelskritischen Literatur des 18. Jahrhunderts löste der Begriff des „Verdienstes“ den Topos der „Tugend“ allmählich ab, vgl. Klaus Bleeck/Jörn Garber, Adel und Revolution. Deutsche Adelstheorien im Zeichen der französischen Revolution (1789-1815), in: Das Achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, Jahrgang 13, Heft 2 (Französische Revolution und Aufklärung), Wolfenbüttel 1989, S. 79-107, hier S. 96. „Der traditionell gegen die neuerkannten Gesetze des Wirtschaftskreislaufs verstoßende Adel wurde selbstverständlich auch durch die Physiokraten – vgl. besonders das „Tableau économique“ von Quesnay – abgelehnt, ohne dass daraus (ebenso wenig wie bei Adam Smith) gefolgert worden wäre, den Adel als politisch bevorrechtigten Stand überhaupt abzuschaffen“, vgl. Conze/Meier, „Adel, Aristokratie“, S. 24.

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weder eine landschaftsübergreifende „Deutsche Adelsgenossenschaft“ noch (für den gesamten Zeitraum) ein dem „Deutschen Adelsblatt“ vergleichbares Organ, in welchem sich ein verdichteter Quellenniederschlag hätte bilden können. Der Adel selbst orientierte sich weitgehend territorial und dynastisch, hatte ein gesamtpreußisches Bewusstsein erst in individuell wie landschaftlich unterschiedlichen Graden entwickelt. Der Gedankenaustausch fand teils über privat weitergereichte Denkschriften und (ungedruckte) briefliche Erörterungen statt, deren Ermittlung kaum systematisch zu leisten ist, teils wurden die Adelsreformschriften aufgrund der bestehenden Zensur anonymisiert veröffentlicht. Zum anderen wurde das Thema einer Adelsreform bis zur Revolution 1848, bzw. bis zur Etablierung des preußischen Herrenhauses 1854 vordringlich im Zusammenhang mit einer Anzahl anderer Problemkomplexe behandelt, für welche die „Adelsfrage“ jeweils relevant war ohne mit diesen identisch zu sein. Diese Überlieferungsstruktur erforderte einen enormen Aufwand an Quellensichtung in verschiedene Richtungen, ohne dass ein Erfolg für die jeweiligen Bestände garantiert war, d.h. Aussagen zu finden waren, die sich auf eine projektierte Adelsreform oder eine zu entwickelnde nachständische „Adligkeit“ beziehen lassen. Diese sachliche Bindung, bzw. Verschränkung der Adelsreformfrage mit sehr unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Feldern indiziert andererseits die zwischen 1806/7 und 1848/1854 immer noch gegebene rechts- und verfassungspolitische Relevanz des Adels: anders als um 1900 war das Thema „Adel“ (und „Aristokratie“) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eben nicht ausschließlich das Projekt einer intellektuellen Kulturkritik an der sich durchsetzenden Moderne, sondern eng mit allen Fragen der Verfassungs- und Rechtsordnung, der Verwaltungsorganisation und funktionalen Organisation der Gesellschaft verschränkt.125 Die Problematik des zeitgenössischen Adels und der „Adligkeit“ traten also nicht als isolierte ideologische Konstrukte auf, sondern widerspiegelten noch immer die ursprüngliche „Natur“ des Adels als einer Multifunktionselite, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer noch fast selbstverständlich dominierend in zahlreichen Funktions- und Repräsentationsbereichen der Gesellschaft auftrat. Adelsreformvorhaben mussten deshalb in eine Vielfalt von Gesellschafts- und Rechtsbereichen eingreifen, ohne dass sich diese Thematiken in der „Adelsfrage“ erschöpften. So liegt die Behandlung von Adelsreformideen im Zusammenhang mit dem in der Historiographie traditionsreich und breit behandelten Problem des adligen Grundbesitzes in Preußen nahe, aber dieser Ansatz stößt auch schnell an seine Grenzen. Denn es setzten sich zwar alle adelspolitischen und adelsreformerischen Ansätze in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensiv mit der Grundbesitzproblematik auseinander, doch beschränkten sich Adelsreformkonzepte keineswegs auf diese Problema-

125 Dagegen stellen die von Alexandra Gerstner untersuchten Neuadelsideen seit 1900 ausgesprochene Intellektuellendebatten dar: vgl. Dies., Neuer Adel.



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tik, wie umgekehrt eine staatliche Politik, die sich mit dem historisch bevorrechteten Rittergutsbesitz befasste, weder auf eine eigentliche Adelspolitik, geschweige denn eine Adelsreformpolitik abzielen musste. Insbesondere nach dem 1807 offiziell aufgehobenen Besitzprivileg des politisch bevorrechteten Rittergutsbesitzes für Adlige war die von vielen Adelsreformentwürfen geforderte „Wiederherstellung einer engeren Verbindung des Adels zum Grundbesitz“ nicht mehr ausreichend, den Adel und eine neue „Adligkeit“ zu definieren. In vielen Adelsreformplänen stellte der Grundbesitz eine zwar notwendige, aber keineswegs ausreichende Qualifizierung zur „Adligkeit“ dar, wie andere Vorschläge eine engere Bindung des Adels an den Grundbesitz wünschten, ohne ihn als notwendige Bedingung zu fordern. Ebenso wenig lässt sich die Adelsreformfrage in Preußen allein in Bezug auf die Problematik einer neuständischen Gesellschafts- und Staatsordnung, bzw. der in Preußen bis 1848 schwelenden Verfassungsfrage ausreichend beleuchten. Denn die 1823 eingeführte Provinzialständeordnung sprach die seit 1807 gleichberechtigten adligen wie bürgerlichen Rittergutsbesitzer als ersten politischen Stand an, wie überhaupt neuständische Ansätze nicht notwendig mit den alten Sozialständen konform gingen. Andererseits musste eine neuständische, grundbesitzbasierte Reprivilegierungspolitik nicht zwingend in die Sozialformation „Adel“ formierend eingreifen, worin ja die Kernidee der Adelsreformkonzepte bestand. Zusätzlich verkompliziert wird in diesem Zusammenhang der quellenpraktische Zugriff, weil im gleichen Zeitraum die sozialrechtlichen Privilegien des Adels (Heirats- und Erbbestimmungen, Gerichtsstand und Hofzugang, Jagdrecht und Ehrenrechte) immer weiter abgebaut und damit die Zuschreibungsmöglichkeiten von Adel und „Adligkeit“ materiell wie rechtlich und ideell entsubstanzialisiert wurden. Adelsreformideen handelten also von der geplanten Erneuerung einer Sache, die zugleich als rechtlich-politische Größe tendenziell verschwand. Ein dritter Kontext, in welchem Adelsreformideen während des ganzen 19. Jahrhunderts nicht nur in Preußen, sondern in ganz Deutschland diskutiert wurden, bildete das Thema des englischen Entwicklungsvorbilds für eine neue Staats- und Gesellschaftsordnung.126 Aber die isolierte Betrachtung dieses Argumentationsstranges würde ebenfalls die Problematik von Adelsreformideen in Preußen nur unzureichend erfassen helfen. Weder erschöpfte sich der Bezug auf das englische Leitbild in Ideen zu einer Adelsreform, wie sich umgekehrt nicht alle Adelsreformideen auf das englische Vorbild bezogen. Und schließlich lassen sich die untersuchten Adelsreformdebatten auch geographisch nicht streng eingrenzen; die Auseinandersetzungen um eine preußische

126 Vgl. hierzu den allgemeinen Überblick des Topos „Adelsreform nach dem englischen Vorbild“ bei Friedeburg, Modell England. Die weitere Perspektive einer allgemeinen gesellschaftspolitischen Orientierung an England seit der Aufklärung untersuchte schon Michael Maurer, Michael: Aufklärung und Anglophilie in Deutschland, Göttingen 1987.

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Adelsreform strahlten immer auch in andere Territorien aus, bzw. nahmen Anregungen aus anderen deutschen Ländern und Regionen auf, was der überkommenen politischen Einbindung Preußens im ehemaligen Alten Reich und dem späteren Deutschen Bund entsprach. Dennoch lassen sich bestimmte Stränge von Adelsreformdiskussionen über ihren Bezug auf die preußischen politischen Institutionen, Initiativen und Strukturvoraussetzungen identifizieren, und insofern als preußische Adelsreformdiskussio­nen ein- und abgrenzen. Aufbau Diese komplizierte Ausgangslage hatte für das methodische Vorgehen zur Konsequenz, dass die vorliegende Arbeit eine strikte Vorauswahl des zu untersuchenden Materials weder nach Sachprovenienz, noch einer konsequent landschaftlichen, prosopographischen oder gruppenspezifischen Definition eines bestimmten Akteurkreises vornehmen konnte. Stattdessen wurden verschiedene Diskussionskonstellationen zu identifizieren gesucht, in denen zu unterschiedlichen Zeitabschnitten die oben angesprochenen vielfältigen adelspolitischen Problemkreise im Motiv von Adelsreformideen gebündelt diskutiert wurden. Diese Diskussionskonstellationen bildeten gewissermaßen „Knotenpunkte“, in denen die lang andauernden, aber diskontinuierlichen Verhandlungsverläufe deutlicher hervortraten. Tatsächlich erlebten die Auseinandersetzungen um eine „Konstitutierung“, „Erneuerung“, „Neubelebung“, „Reform“ des Adels in Preußen zwei herausragende Konjunkturen. Die eine setzte unmittelbar mit der Niederlage Preußens gegen Napoleon 1806 und dem preußischen Reformprozess ein, und endete etwas unbestimmt in den zwanziger Jahren. Die zweite wurde 1840 vom gerade auf den Thron gelangten König Friedrich Wilhelm IV. in Gang gesetzt und brach erst mit der Revolution von 1848 ab. Beide Zeitphasen waren nicht zufällig zugleich Perioden intensiver Staatsreform- und Verfassungsdebatten. Diese beiden zeitlichen Schwerpunkte bilden deshalb die Ausgangspunkte der Untersuchung. Im ersten Teil der Darstellung (Teil I.) werden die politischen und strukturellen Ausgangsbedingungen der Adelsreformideen in Preußen ab 1806 beleuchtet, um das Motiv der Adelsreform in die politische und gesellschaftliche Situation um 1800 einzubetten, ihre Abhängigkeiten von den historischen Voraussetzungen der preußischen Adelslandschaften, den zeitgenössischen gesellschaftlichen Herausforderungen und den angestrebten politischen Lösungsversuchen aufzuzeigen. Zugleich soll dieser Teil der Betrachtung verdeutlichen, dass die von König Friedrich Wilhelm IV. in den vierziger Jahren initiierte Adelsreformpolitik kein in der preußischen Geschichte isoliertes, willkürlich durch Monarchenwillen aufgezwungenes Vorhaben darstellte, sondern von spezifischen langfristigen Problemlagen der preußischen Monarchie bestimmt wurde. Die von diesem Monarchen angestoßene vormärzliche Adelsdebatte bildet den zweiten Untersuchungsschwerpunkt (Teil II.) und repräsentiert die am systematischsten geführte Debatte in Preußen um die Frage, welche gesellschafts- und staatspolitische Rolle dem Adel noch zukommen sollte, und welche Voraussetzungen er dafür mitbrachte. Der dritte Darstellungsteil (Teil III.) wendet sich schließlich



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dem Problem nach der weiteren Resonanz, den Äquivalenzen, bzw. Wirkungen dieser inneradministrativen Debatten im preußischen Adel sowie innerhalb der praktischen administrativ-politischen Entscheidungsebene zu. Dazu wird der gesamte Untersuchungszeitraum noch einmal diachronisch in den Blick genommen. Fragestellungen und Quellen Die von Fritz Martiny identifizierten und bis heute in der Forschung beachteten vier Erklärungsansätze für die seit 1800 deutlich hervortretenden Adelskrise in Preußen bieten sich als Ausgangspunkte für die Befragung dieser oben genannten Diskussionskonstellationen an. Tatsächlich wurden diese vier Erklärungen schon in den zeitgenössischen Adelsreformschriften mit unterschiedlicher Gewichtung intensiv behandelt:127 zunächst die von Martiny beleuchtete moralische Adelskritik, die sich in Fortführung der älteren, christlich konnotierten Ablehnung einer durch Geburt vermittelten sozialen Ungleichheit in der Aufklärung noch einmal verschärft und säkularisiert hatte. Zum zweiten die wachsende Bedeutung des Staates und seiner Organe, welche die patrimonialen Rechte des Adels immer weiter einschränkten und die adlige Stellung selbst nur noch als delegierte Funktionen des Staat gelten lassen wollten. Zum dritten schließlich die von Martiny ausführlicher behandelte Bedeutung und Konkurrenz des Bürgertums, dessen materieller Wohlstand und Bildungsethos die adligen Parameter der Elitenauswahl zunehmend in Frage stellte. Martiny hielt allerdings diese drei Erklärungsansätze allein nicht für ausreichend und bot einen weiteren, eigenen an: die Krise des preußischen Adels zum Ausgang des 18. Jahrhunderts sei durch eigenen, inneren Zerfall verschärft worden, wofür Martiny hauptsächlich die Verluste an Grund und Boden verantwortlich machte. Denn dadurch seien die persönlichen Bindungen vieler Adliger an das Land und zugleich ein Rückgang eines inneradligen Zusammenhalts ausgelöst worden. Unter Teil I. wird daher auf die Bedeutung des Staatsausbaus für die Adelsfrage in Preußen näher eingegangen. Warum und in welcher Weise wurde die Bedeutung einer nachständischen „Adligkeit“ in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vor allem in Verbindung mit den Möglichkeiten und Bedingungen des preußischen Staatsbildungsprozesses nach dem militärischen Zusammenbruch von 1806 verhandelt? Wieso wurde die Adelsfrage als Bestandteil einer notwendigen „NeuKonstitution“ des Staates betrachtet? Und warum wurde dieser Reformweg unter dem unscharf formulierten Paradigma eines „Dritten Weges“ entworfen, das den Staatsausbau Preußens einerseits unter einen Kontinuitätsvorbehalt stellte, als auch eine neue Form der „Repräsentation“ der Gesellschaft gegenüber dem Staat entwickeln wollte? In diesem Problemzusammenhang ist es offensichtlich notwendig, auf die Voraussetzungen und Strukturbedingungen für den spezifischen preußischen Reformweg näher einzugehen. Welche Rolle spielte für dieses Entwicklungsparadigma die

127 Fritz Martiny, Adelsfrage, S. 2-4.

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spätaufklärerische Adelskritik und die daraus hervorgehenden älteren Adelsreformideen mit ihren sozialpolitischen Programmentwürfen über die Rolle des Adels in Staat und Gesellschaft? Wie wandelte sich dabei die ältere moralische Adelskritik in ihren Argumentationsfiguren und historisch-teleologischen Entwicklungsdeutungen des „Adelsinstituts“? Wie schon Fritz Martiny feststellte, folgte aus einer moralischen Adelskritik keineswegs zwingend die Forderung nach einer grundsätzlichen Abschaffung des Adels. Wie konnte aber nun ein völlig neuer Legitimationszusammenhang hergestellt werden, der den Adel womöglich funktionalistisch neu deutete? Und wie verlief der Übergang von dieser älteren moralisch-aufklärerischen Adelskritik zu jenen nachständischen Adelsreformansätzen, die den Adel als Ausfluss einer zeitlich und räumlich immer gültigen „conditio humana“ zu begründen suchten, und die sich in einem notwendig hierarchisch geschichteten Gesellschaftsaufbau ausdrücke? Allerdings gab es im Gegensatz zu den vormärzlichen Adelsreformdiskussionen bis zur Einführung der provinzialständischen „Verfassung“ 1823 keine zentral geführte oder geleitete Adelsreformdiskussion. Dies machte es notwendig, adelsreformerische Initiativen und Absichtserklärungen aus einer Vielzahl themenverwandter Vorgänge zu deduzieren. Dabei erwies es sich, dass es kaum ein politisches Handlungsfeld gab, auf dem nicht direkt oder indirekt zugleich die fraglich gewordenene Rolle des Adels in Staat und Gesellschaft berührt wurde. Die Auseinandersetzungen verliefen deshalb situativ und unsystematisch, und offenbarten einen noch suchenden Charakter. Zudem waren die bis dahin bestehenden ständischen Repräsentationsorgane großenteils außer Kraft gesetzt. Der daraus resultierende amorphe Charakter der damaligen Adelsreformdiskussion ließ es nicht nur zur Herausforderung werden, diese in ihren inhaltlichen Bezügen und Verläufen nachzuzeichnen; sondern er vermag neben der äußerst gedrängten politischen Entscheidungslage zwischen Reformgeschehen und napoleonischen Kriegen auch erklären, warum es zu keiner abschließenden Lösung kam. Für diesen ersten Untersuchungsteil wurden neben gedruckten Quellen und Zeitschriften die regierungsamtlichen Aktenbestände im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem, Akten der provinzialen Behörden und Einrichtungen im Landeshauptarchiv Brandenburg in Potsdam, dem Polnischen Staatsarchiv Olsztyn/Allenstein, sowie die dort lagernden privaten Briefwechseln und Denkschriften herangezogen. Ziel war es, zunächst private wie amtliche Adelsreformentwürfe zu ermitteln und in die zeitgenössischen politischen Zusammenhänge einzuordnen. Eine zentrale Akte, die Reformminister Freiherr vom Stein mit den an ihn gerichteten Vorschlägen und Entwürfen zu einer „dem Adel zu gebenden Verfassung“ angelegt hatte, konnte leider schon vom ersten Biographen Steins, Georg Heinrich Pertz, nicht mehr ermittelt werden.128 Damit ist eine wichtige

128 Ein Briefwechsel des zeitgenössischen Staatsministers Dohna belegt die Existenz dieser Akte: am 13. Oktober 1809 bat Dohna in einem Schreiben an Beyme um die Zurücksendung einer Akte, die an den Staatsminister v. Stein gerichtete Vorschläge und Entwürfe wegen einer dem Adel zu gebenden



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Quelle, die über den damaligen Umfang und die Hauptstoßrichtungen der an den führenden Minister gerichteten einschlägigen Reformideen Auskunft geben könnte, verloren. Allein den hohen Stellenwert dieses Themas im damaligen Reformzusammenhang kann diese verschollene Akte noch belegen. Offensichtlich war die im Zuge der projektierten staatlichen Neuordnung erfolgte „Ausdehnung“ der staatlichen Kompetenzen gegenüber der ländlichen Elite des Adels keine entscheidende Ursache der grundsätzlichen Adelskrise in Preußen: schon Martiny widersprach dieser in der Historiographie verbreiteten Deutung, und auch die adligen Zeitgenossen empfanden dies offenbar anders. Nach deren Dafürhalten musste das „Wachsen des Staates“, d.h. die Ausdehnung der zentralstaatlichen Kompetenzen keineswegs ausschließlich gegen und ohne „den Adel“ erfolgen. Es ist also in diesem Zusammenhang zu untersuchen, inwiefern Adelsreformprogramme einen Weg zu eröffnen suchten, den Staat gerade mit und durch den Adel effizient zu stärken. Wie wirkte sich dieses Anliegen in der Gewichtung der „Adligkeitsproblematik“ hinsichtlich der ständischen Herrschaftsrechte des Adels einerseits, und dem Verhältnis des Adels zum Bürgertum und anderen nichtadligen Gruppen andererseits aus? Und welche Rolle spielte in diesen Entwicklungskonzepten das englische Entwicklungsparadigma? Welche Vorstellungen und Angebote seitens Adliger dazu entworfen wurden, und ob sich damit sozialständische Öffnungen oder neue ständische Verschließungen verbanden, soll ein Überblick von Adelsreformkonzepten aus dem Adel mit dem Schwerpunkt auf den Provinzen Brandenburg, Preußen und Westfalen bieten. Schließlich ist der Frage nachzugehen, warum eine die Reformjahre abschließende Verfassungslösung schließlich nur auf provinzialer Ebene durch die Provinzialständeordnung erfolgte, und warum diese darauf verzichtete, einen (politisch bevorrechteten) Adel neu zu definieren. Und warum ersetzte diese Lösung den Adel durch einen adlig-bürgerlichen Rittergutsbesitzerstand, auch wenn dessen Entwicklungsmöglichkeit in Richtung einer neuen, sozial einheitlicheren Elitenformation mit eventuell sogar aristokratisierender Tendenz noch offen gehalten wurde? Denn informell blieb diese neuständische Formation doch vom alten Adel dominiert. Und die preußische Regierung machte in den folgenden Jahrzehnten verschiedene Ver-

Verfassung enthielt. Er, Dohna, habe diese im „verflossenen Winter“ an Beyme gegeben; er brauche dieses Aktenstück „jetzt dringend“. Beyme bat Dohna daraufhin um Nachsicht (18. Oktober 1809), doch hätte er die Akte an den Staatsrath v. Klewitz weitergegeben. Dort müsse Dohna nun die Akte zurückerbitten. Dohna scheint dies auch getan zu haben, doch erschließt sich aus dem Aktenvorgang nicht, ob er erfolgreich war: GSTAPK Rep. 77, Tit. 1108, Nr. 31, Bd. 1 (Die staatsrechtlichen Verhältnisse des Adels 1809-1850), ohne Paginierung. Die Vermutung von Erich Botzenhart, dass diese Handakte Steins vielleicht nie existiert habe, da sich „in so langer Zeit keine Spur mehr davon hat finden lassen“ lässt sich mit Verweis auf die oben geschilderte Anfrage Dohnas und Beymes Antwort klar zurückweisen, vgl. Erich Botzenhart, Adelsideal und Adelsreform beim Freiherrn von Stein, in: Westfälisches Adelsblatt 5, 1928, S. 210-241, hier S. 240.

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suche, den landgesessenen Adel gegenüber den bürgerlichen Rittergutsbesitzern hervorzuheben, und nicht etwa diese Gruppierung über eine gezielte Nobilitierungspolitik sozial zu einen. Das Ausbleiben einer Adelsreform hinterließ so eine empfindliche Lücke in der neuen preußischen Staats- und Gesellschaftsverfassung.129 Infolge verband sich auch weiterhin die Adelsfrage in Preußen besonders eng mit der bis 1848/49 bestehenden Verfassungsproblematik, d.h. der fehlenden Repräsentation für den Gesamtstaat. Damit blieb die Entwicklung einer Gesamtstaatsverfassung latent abhängig von einer Klärung der verfassungsmäßigen Rolle des Adels – bzw. einer „Adelsverfassung“ – und umgekehrt. Welche Schlüsse und Konsequenzen zog aber der in diesen Entscheidungsprozess über diese Provinzialständeordnung stark eingebundene Kronprinz, der spätere König Friedrich Wilhelm (IV.) aus diesen Vorgängen? Inwieweit war er durch die damals verhandelten Problematiken und den in den Jahren zuvor verfolgten Reformkonzepten politisch geprägt worden? Und welche Verknüpfungen lassen sich zwischen diesen älteren Problemstellungen und seiner eigenen Politik einer inneren Erneuerung Preußens nach 1840 ausmachen? In Teil II. soll dann genauer verfolgt werden, wie König Friedrich Wilhelm IV. durch eine Adelsreform im Rahmen einer neuständischen Politik versuchte, diese konzeptionelle Lücke der ständischen Verfassungsordnung zu schließen. Die beabsichtigte Adelsreform sollte seiner eigentlichen Verfassungspolitik offenbar vorausgehen, um diese sozialpolitisch absichern zu können. Da der König seine Adels- wie seine Verfassungspolitik aber nicht über einseitige administrative Akte durchsetzen wollte, weil dies seinem Selbstbild als zwar souveränem, aber nicht willkürlich vorgehendem Herrscher widersprochen hätte, entwickelte sich zuerst im Staatsministerium, dann innerhalb einer eigens bestellten Kommission aus extern berufenen Beratern eine langjährige Auseinandersetzung über das Adelswesen in Preußen. Dieser verdichtete Austausch zwischen den Vertretern vornehmlich adliger Elitenangehöriger über Zielstellungen, Motivationen und Argumentationsstrategien bezüglich der Denk- und Wünschbarkeit einer Adelsreform in Preußen schlug sich in einem umfangreichen und gut greifbaren Aktenbestand des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin nieder, der im Teil II. dieser Arbeit umfassend ausgewertet wurde. Ergänzt wurde diese Auswertung durch die Berücksichtigung von privaten Überlieferungen in den Nachlässen der involvierten Akteure sowie in geringem Umfange von gedrucktem Material.

129 Zu diesem Schluss kam schon Paul Nolte, der eine Adelsreform als Voraussetzung für das Gelingen des spezifischen Steinschen Ansatzes einer Gesellschafts- und Staatsreform erkannte, vgl. Ders., Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800-1820, Frankfurt a.M./New York 1990, S. 65.



1. Einleitung 

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In diesen Auseinandersetzungen zeigten sich grundlegend unterschiedliche Erwartungshaltungen und Entwicklungsorientierungen bezüglich der Rolle des Adels in Staat und Gesellschaft. Worin bestanden diese Deutungen der preußischen Adelsgeschichte, und welche Zukunftserwartungen wurden in diesen zentralen Gremien formuliert? Was für Verschiebungen, Reduktionen und Interpretationen einer preußischen Adligkeit unter den Bedingungen einer nachständischen Situation lassen sich darin ablesen? Besonders intensiv wurde bei dieser Gelegenheit das Verhältnis des Adels gegenüber dem Bürgertum diskutiert – doch war die Beziehung des Adels zum Staat durch die Provinzialständeordnung tatsächlich schon geklärt, bzw. durch die seither erfolgte tendenzielle Deprivilegierung ausreichend entschärft worden? Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang, inwieweit die geäußerten Adligkeitsvorstellungen auf die bürgerliche Adelskritik konstruktiv-antizipatorisch zu antworten suchten, bzw. den von bürgerlicher Seite gemachten Integrationsangeboten entgegenkamen. War dafür die Aufnahme bürgerlicher Leistungskataloge und der Appell an ein gemeinsames Bildungsideal ausreichend? Der Teil III. der Darstellung löst sich von diesem verfassungspolitischen Hintergrund und fragt nach der weiteren Resonanz, den Äquivalenzen, bzw. Wirkungen dieser inneradministrativen Debatten im preußischen Adel sowie innerhalb der praktischen administrativ-politischen Entscheidungsebene. Wie sind die im ersten und zweiten Teil vorgestellten Adelsreformideen bezüglich ihrer Bedeutung und Wirkung für die Formierung des preußischen Adels und allgemeiner Adligkeitsvorstellungen im 19. Jahrhundert zu bewerten? Mit welchen gesellschaftlichen Chancen wurden Maßnahmen einer zeitgemäß angepassten binnenadligen Restabilisierung oder Ausbildung neuer Strukturen verhandelt? Welche der übergreifenden mentalen, habituellen und ständerechtlichen Elemente sollten erhalten, welche ständelandschaftlichen Besonderheiten zur Disposition gestellt werden? Handelte es sich bei den Adelsreformdiskussionen seit der Reformepoche allein um die Gedankenspiele von intellektualisierten Privatiers oder behördeninterner Akteure, ohne wirkliche Bedeutung und Konsequenz für die zeitgenössische adlige Lebenswirklichkeit? Oder wirkten sich die darin auftretenden Differenzen und Erwartungshaltungen der Akteure im politischen Handeln sowie den adelspolitischen Dispositionen der preußischen Ministerien aus? Dazu werden im Teil III. zwei Bereiche versuchter adliger Selbstorganisation sowie drei Bereiche gouvernementaler bzw. ministeriell-innerbehördlicher Formierungsansätze bezüglich der Adelsverhältnisse in den Blick genommen. Dabei handelt es sich um eine ausführliche, erstmals in der Historiographie durchgeführte Auswertung der von Friedrich de la Motte Fouqué und Gustav v. Alvensleben herausgegebenen „Zeitung für den deutschen Adel“. Diese Publikation stellt Jahrzehnte vor dem „Deutschen Adelsblatt“, dem Organ der „Deutschen Adelsgenossenschaft“, den erstmaligen Versuch einer landschaftsübergreifenden Organisation des deutschen Kleinadels dar. Wenn nicht direkt initiiert, so wurde dieses Projekt zweifellos ermutigt durch Friedrich Wilhelm IV. und seine neue Adelspolitik,

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 1. Einleitung

wie sich umgekehrt diese Publikation rückhaltlos in den Dienst von dessen Adelsreformabsichten stellte. Nirgendwo zuvor, und lange nicht mehr danach lassen sich in gedruckter Form so ausführliche wie vielfältige Auseinandersetzungen eines überregionalen deutschen Adels zur Ausbildung einer übergreifend konsensfähigen „Adligkeit“ finden wie in der „Adelszeitung“. Zugleich präsentierte die Redaktion dieser Zeitung in Gestalt des verabschiedeten Militärs, Schriftstellers und Poeten Friedrich de la Motte Fouqué die zeitgenössisch wohl radikalsten Ansätze zu einer poetischidealistischen Neuformierung adliger Selbstzuschreibungen und Verständigungsversuche über binnenadlige Standes- und Landschaftsgrenzen hinweg. Die Adelszeitung wird ausführlich danach ausgewertet, welche Gehalte einer nachständischen „Adligkeit“ darin verhandelt wurden, welche Planungsziele und Entwürfe zwischen den Vertretern verschiedener Adelslandschaften konsensfähig bzw. konzessionierbar waren, aber auch welche Grenzen sich in der inneradligen Kommunikationsfähigkeit zeigten. Aus diesem Publikationsprojekt ging der ebenfalls einmalige Versuch einer vereinsmäßigen Organisation des deutschen Kleinadels hervor. Eine Totgeburt wie sich zwar erweisen sollte, dessen Ansatz aber – Jahrzehnte vor der „Deutschen Adelsgenossenschaft“ – zukunftsweisend war. Durch einen glücklichen Zufall konnten die gedruckten Vereinsstatuten dieses „Adelsvereins“ und das Protokoll der Gründungsversammlung ausfindig gemacht und ebenfalls nach den Gesichtspunkten konsensfähiger „Adligkeit“ ausgewertet werden. Dieses Projekt wird zudem vor dem Hintergrund vorangegangener adliger Selbstorganisationsversuche beleuchtet. Für die reale, politisch-rechtliche Formierung der preußischen Adelslandschaften erwiesen sich hingegen die ministeriell-behördlichen adelspolitischen Prämissen und Dispositionen als bedeutend. Dazu werden im dritten Teil drei Felder avisierter, bzw. durchgeführter Formierungsansätze staatlichen Verwaltungshandelns in Bezug auf den preußischen Adel betrachtet: die Auseinandersetzungen um die Einführung einer Adelsmatrikel nach 1815, sowie die parallel zu Friedrich Wilhelms IV. diskutierter Adelsreform geplante Einführung einer neuen Besitzbindungsform nach dem Modell des englischen „strict settlement“. Und schließlich die nach der Provinzialständeordnung von 1823 bedeutendste adelspolitische Formierung: die Einrichtung des preußischen Herrenhauses und die dabei definierten Kategorien staatlich „erwünschter“ „Adligkeit“. Tatsächlich baute diese Kategorienbildung wesentlich auf Elementen auf, welche in der vormärzlichen Adelsreformdiskussion zwischen dem König und seinen Beratergremien als konsensfähige Parameter einer neuen preußischen „Adligkeit“ ausgehandelt worden waren – um diese dann aber in einer die ursprünglichen königlichen Absichten konterkarierenden Weise umzusetzen! Allen drei Untersuchungsbereichen liegt die nach der Anregung von Dominic Lieven gebildete Hypothese zugrunde, dass die identifizierten Wert- und Auswahlentscheidungen einer zu entwickelnden nachständischen „Adligkeit“ zur Ablösung des preußisch-deutschen Adels von überkommenen Rechts- und Lebensnormen beitru-



1. Einleitung 

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gen.130 Nach dieser Hypothese wurden adliges Selbstverständnis und neuer adliger Selbstentwurf durch die in den Reformdiskussionen forcierten utilitaristischen Gesichtspunkte sowie die beabsichtigte Überwindung regionaler und standessektoraler Besonderheiten aus den überkommenen provinzialen und ständehistorischen Strukturen tendenziell herausgelöst – und insofern eine argumentative und rhetorische Entsubstanzialisierung und Enttraditionalisierung des Adels lange vor den ökonomischen und sozial-kulturellen Herausforderungen um 1900 vorbereitet. Lässt sich also aus dieser Perspektive von einem zumindest teilweise mitverantworteten „inneren Verfall“ des Adels sprechen? Trugen die diskontinuierlichen, aber langzeitlichen Adelsreformdiskussionen zu einer inneren Orientierungskrise, zu einer zunehmenden Dysfunktionalität adliger Ordnungsvorstellungen, Wertkategorien und sozialmoralischer Sicherungen bei? Und könnte dies schon, grundlegender und relativ unabhängig von ökonomischen Lebensbedingungen, einer latenten Radikalisierbarkeit des preußisch-deutschen Adelsbegriffs in der Eigen- wie der Fremdzuschreibung vorgearbeitet haben?

130 Vgl. die oben unter Kap. 1.2. Problemaufriss, zur „Motivation des vorliegenden Ansatzes“, vorgestellte These Dominic Lievens, dass um 1900 der traditionale Standesethos der preußischen Adel als handlungsleitende und selbstkontrollierende Instanz – durch den Verfall von religiösen und ehrbezogenen Konzepten der kollektiven und individuellen Selbstkontrolle – schon stark kompromittiert war, und dies politische Radikalisierungen zu erleichtern schien, nach: Dominic Lieven, The Aristocracy in Europe, S. 242.

Teil I. Staatsreform und Adelsreform

2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche Nicht die Geister zu vertreiben, / steht des Volkes Geist jetzt auf, Nein, daß jedem freier Lauf, / Jedem Haus ein Geist soll bleiben: Nein, daß adlig all auf Erden, / Muß der Adel Bürger werden. Achim v. Arnim, Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores, 1810

2.1.

Die preußische Staats- und Adelskrise nach 1806

2.1.1. Kriegsniederlage Der verlorene Krieg gegen Napoleon 1806/07 stürzte Preußen in eine tiefe Staatsund Gesellschaftskrise. Nach der Niederlage bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806, welche die Selbstüberschätzung des preußischen Militärs vor Augen führte, zeigten sich regelrechte Auflösungserscheinungen der staatlichen Autorität und Institutionen.1 Hatten die preußischen Truppen und die Linienoffiziere durchaus tapfer gekämpft und hohe Verluste erlitten, so war das Versagen der militärischen Führungsstäbe offenkundig.2 Überstürzte Rückzüge ohne Leitung durch höhere Kommandoebenen, die Unfähigkeit der militärischen Spitzen, einen erneuten Widerstand zu organisieren, die daraus resultierende „psychische Kettenreaktion“ der fast kampflosen Übergabe der Festungen ließen die verlorene Schlacht zur militärischen Katastrophe werden. Derweil verließen der Hof und die königliche Familie überstürzt die Residenz Berlin und flüchteten sich an die östliche Grenze Preußens.3 Die Öffentlichkeit reagierte verstört und fassungslos – die Niederlage wandelte sich in ihren Augen zu einem Scherbengericht über den preußischen Staat, seine Repräsentanten und Führungsgruppen.4 Durch diese Ereignisse sei die „alte“ preußische Monarchie

1 Der vierte Koalitionskrieg des mit dem Kurfürstentum Sachsen und dem Kaiserreich Russland verbündeten Preußen gegen das napoleonische Frankreich begann im Oktober 1807. Schon am 27. Oktober hielt Napoleon Einzug in Berlin. Zu den außenpolitischen Entwicklungen, die zum 4. Koalitionskrieg gegen das napoleonische Frankreich unter Aufgabe der bisherigen preußischen Neutralitätspolitik geführt hatten vgl. Dominique Bourel, Zwischen Abwehr und Neutralität. Preußen und die Französische Revolution 1789 bis 1795/1795 bis 1803/06, in: Otto Büsch/Monika Neugebauer-Wölk (Hrsg.), Preußen und die revolutionäre Herausforderung seit 1789 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 78), Berlin/New York 1991, S. 43-57. 2 Zu den Verlusten der vereinten preußisch-sächsischen Armee und dem Versagen der preußischen Führung vgl. Ewald Frie, Marwitz, S. 186-189. 3 Bernd v. Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg. Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809-1812, Göttingen 1987, S. 37-41. 4 „Nicht nur eine – dem Geschmack des 19. Jahrhunderts entsprechende – moralisierende Geschichtsbetrachtung, welche die preußische Geschichte nach 1786 ohnehin mit Vorliebe im Licht kraftlosen

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

für „immer“ untergegangen, so die verbreitete Annahme, die „gänzliche Auflösung der Monarchie [...] nur noch das Werk weniger Tage [...]“. Diese Eindrücke konnten selbst durch den doch noch aufgebrachten Widerstand mit russischer Unterstützung im winterlichen Ostpreußen, der blutigen Schlacht bei Preußisch-Eylau im Februar, und der verlängerten Kriegsdauer bis zur Schlacht von Friedland am 14. Juni 1807 nicht mehr gewendet werden.5 Unmittelbar nach dem harten Friedensschluss von Tilsit im Juli 1807, der den preußischen Staat mit enormen Reparationskosten belastete, sowie durch die Wegnahme der linkselbischen Gebiete und fast aller polnischen Teilungsgebiete um die Hälfte seines Territoriums reduzierte, brandete eine wütende Pamphletliteratur gegen die preußische Regierung und die überkommenen Verhältnisse auf, von der Zensur der französischen Besatzer bewusst geduldet. Darin wurde der Sieg Napoleons weniger als Niederlage der ganzen „Nation“ gewertet, denn als Debakel der überkommenen Ordnung, der Armee und der Staatsführung.6 Während die Person des Monarchen geschont wurde, richtete sich die Polemik in ganzer Schärfe gegen die gesellschaftlichen Spitzen am Hof, in der Armee und der Verwaltung, und das hieß: vornehmlich gegen den Adel, aus dem sich diese Gruppen fast ausschließlich rekrutierten: Der Bürger zürnt über Regiment und Staat; der Staat klagt die Selbstsucht der Individuen an; der Adel habe, den Ruhm der Ahnen vergessend, mit Schmach das Vaterland bedeckt, Feldherren und

Epigonentums darstellte, schon die zeitgenössische Kritik hat als tieferliegende Ursache dieser Entwicklung einen sittlich-moralischen Verfall angeprangert, als dessen sichtbarste äußere Anzeichen sich Verschwendungssucht und Günstlingswirtschaft bei Hofe, Ineffektivität und Kleingeist in der Verwaltung und maßlose Überheblichkeit und Ignoranz des Offizierskorps offenbart hätten: ‚[...] Der Hof ging in allem, was nur Luxus, Verschwendung, Üppigkeit, Liederlichkeit und Hintenansetzung aller Sittlichkeit genannt werden konnte, voran; die Hauptstadt stimmte mit ein und die Provinzen folgten bald nach. Man konnte Berlin das große Bordel [sic!] des Preußischen Staates nennen [...]‘, (Originalzitat Friedrich von Cölln, Vertraute Briefe über die inneren Verhältnisse am Preußischen Hofe seit dem Tode Friedrichs II., 1-6, Amsterdam, 1807-9, 1, S. 88), zit. nach: Münchow-Pohl, Reform und Krieg, S. 31. 5 Bernd v. Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg. Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809-1812, Göttingen 1987, S. 46. 6 Am 7. und am 9. Juli 1807 wurden durch die Friedensverträge von Tilsit zwischen Kaiser Napoleon I., Zar Alexander I. von Russland und König Friedrich-Wilhelm III. von Preußen der 4. Koalitionskrieg (1806/07) beendet. Am 7. Juli trafen sich Napoleon I. und Alexander I. auf einem in der Mitte der Memel schwimmenden Pontonboot, das die Demarkationslinie zwischen der französischen und russischen Einflusszone markierte. Der russisch-französische Friedensschluss teilte Osteuropa in eine französische und eine russische Interessensphäre; durch das preußisch-französische Abkommen verlor Preußen alle seine Provinzen und Gebiete westlich der Elbe – Preußen wurde auf den Status einer europäischen Mittelmacht zurückgestuft. Vgl. für einen exemplarischen Überblick der damaligen polemischen Publizistik: Münchow-Pohl, Reform und Krieg, S. 41-47. Münchow-Pohl vermisst in dieser Pamphletliteratur allerdings „wirklich konstruktive Kritik“ und eine „konkrete Vorstellung, wie das künftige Preußen denn beschaffen sein müsste“.



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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Offiziere hätten den Krieg nicht zu führen verstanden, die Heere nicht tapfer gekämpft, die Staatsbeamten der Sorge um Erhaltung eigener Vortheile die Pflicht für’s Ganze nachgesetzt [...].7

Vor allem das adlige Offizierskorps sah sich der Schadenfreude, der Verachtung und Verhöhnung durch die Öffentlichkeit ausgesetzt.8 Doch stand ganz allgemein der Adel im Zentrum der Kritik. Während der sich anschließenden französischen Besatzungszeit wurde gerade im preußischen „Kernland“ der Kurmark der diffamierende Vorwurf laut, der gutsbesitzende Adel würde den französischen Kontributionsforderungen nur allzu bereitwillig nachkommen und die verlangten Geld- und Naturallieferungen entweder auf den „kontribuablen Stand“ der Bauern abwälzen, oder über Anleihen zum langfristigen finanziellen Nachteil der Provinz und des Gesamtstaates finanzieren.9 Niederlage des Adels Dass die erlittene staatliche Katastrophe als faktische wie moralische Niederlage seiner adligen Führungsschicht gedeutet wurde, war in gewissem Sinne plausibel und konsequent. Schon angesichts des bevorstehenden Waffengangs 1806 stellte Karl Georg Heinrich v. Hoym, Wirklicher Geheimer Rat und dirigierender Minister von Schlesien, mit Besorgnis fest, „daß der einzige Stand, dem der Staat moralische Würde zuerkannt und von dem er daher die höchste moralische Anstrengung zu fordern habe, der Adel [...]“ sei. Dieser aber könne, „[...] teils in Weichlichkeit, teils in Egoismus versunken, teils durch die Geringfügigkeit der Zahl beschränkt, nichts leisten [...]“. Wogegen „der Bürgerstand, eingedenk seiner Entwürdigung, seiner geraubten und verkürzten Rechte, durch die Unglücksfälle der vorigen Jahre verstimmt und durch die Demütigung des adligen Militärs sogar zur Schadenfreude gereizt, nichts leisten wolle, [und]

7 Heinrich Bardeleben, Preußens Zukunft: An das Vaterland, Berlin 1807, S. 53, zit. nach Bernd v. Münchow-Pohl, Reform und Krieg, S. 47. 8 „Wer es nicht erlebt hat, kann es kaum noch glaublich finden, in welchen Ausdrücken der Ingrimm preußischer Patrioten gegen das Militär wütete, mit welcher haßerfüllter Verachtung die einst gepriesenen Namen, auf denen der Vorwurf des Verrats haftete, genannt wurden“, Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens, Bd. 1, Leipzig 1843, S. 416f. Weitere Belege vgl. Bernd v. Münchow-Pohl, Reform und Krieg, S. 41. Den Prestigeverlust des Adels als Folge der militärischen Niederlagen dokumentiert auch die Polemik der Schrift „Der Adel. Was er ursprünglich war, was er jetzt ist, und was er künftig seyn soll. Ein Angebinde zum Geburtstage aller ächtadligen Herren und Damen insbesondere auch für die Herren von Jena und Auerstädt, Berlin 1808. Zweite Fortsetzung: „Insbesondere auch ein Präservativ gegen die Sucht, sich durch ein VON entbürgern zu lassen“, S. 13, in welcher der Triumph des amerikanischen Bürgerheeres gegen „alte Edelleute, an England vermiethet“ als Zeichen adliger Überlebtheit zitiert wurde. 9 Die französische Besatzungsmacht hatte den (adlig-dominierten) Ständen die Eintreibung der Kriegskontributionen übertragen, die zu diesem Zweck eigene ständische „Comités“ bildeten. Die ständischen Comités agierten sehr selbständig von der Zentralregierung, schlossen Anleihen ab und gaben eigenes Papiergeld aus, oft gegen den Willen der königlichen Kammern, vgl. Bernd v. Münchow-Pohl, Reform und Krieg, S. 43.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

der Bauer größtenteils in die [durch die Reformen von 1799 angeblich] zwar erleichterten, aber immer noch drückenden Bande der Erbuntertänigkeit verstrickt, gegen einen Feind, der die Zerbrechung dieser Fesseln ankündigte, nichts leisten werde“.10 Die Ereignisse von 1806 konnten eine solche Einschätzung nur bestätigen. Die ganze europäische Staatenwelt war zum Ausgang des 18. Jahrhunderts durch „Vergangenheitsentsicherung“ und „Gegenwartserschütterung“ geprägt, die aufgeklärte Zukunftsgewissheit verlorengegangen. Wie konnte nach der Erfahrung der Revolution in Frankreich politische Legitimation noch einmal in Traditionen begründet und abgesichert werden?11 Der Einklang der Klage über das Versagen des „alten“ Staates mit einer fundamentalen Adelskritik war in Preußen aber nicht allein dieser gesamteuropäischen Problematik geschuldet, der fragwürdig gewordenen Legitimationsbasis einer ständisch gebundenen Monarchie, sondern hatte zudem spezifisch preußische Gründe. Kein anderer europäischer Staat konnte so wenig seine Legitimation aus einheitlich oder gesamtstaatlich gewachsenen Traditionen und Loyalitäten begründen, aus einem Selbstgefühl bewährter „Anciennität“ schöpfen, wie es doch das Selbstverständnis der monarchisch-ständischen Staatenwelt des ancien régime einforderte.12 Erst 1701 zu einem Königtum mit dem defizitären Titel eines „König

10 Lehmann, Freiherr vom Stein, Bd. 2, S. 63. Hoym (1739-1807), dem pommerschen Zweig der braunschweigischen Linie seiner Familie entstammend, trat nach einem kurzzeitigen Militärdienst 1758 in den preußischen Staatsdienst ein. Er wurde 1767 Direktor der Breslauer Kriegs- und Domänenkammer und 1769 Präsident der Kleveschen Kammer. Zwischen 1770 und 1806 besaß er als Dirigierender Minister für Schlesien eine quasi vizekönigliche Stellung. Seit der dritten Teilung Polens (1795) hatte er daneben die Verwaltung Südpreußens inne, die er nach Vorwürfen über seine despotische Amtsführung 1798 wieder abgeben musste. Sehr um die Hebung der Wirtschaft und der sozialen Verhältnisse in Schlesien verdient, versagte er selbst jedoch in der Krise 1806, indem er, ohne Vertrauen in den Patriotismus der Bevölkerung, Abwehrmaßnahmen gegen den Feind unterließ und sich gegen Ideen einer Volksbewaffnung wandte. Dafür am 22. Dezember 1806 aus dem Staatsdienst entlassen, verfasste er noch einen Entwurf zu einer Reorganisation des Staates und des Heeres mit dem Titel: „Über das Unglück des preußischen Staates“. Er starb nicht zuletzt an den Folgen dieser tiefen Enttäuschungen am 22. Oktober 1807 auf seinem Gut Dyhernfurth in Schlesien; vgl. Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), 13. Band, Berlin 1969, S. 219-225; Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), Band 5, München 1997, S. 190-191; Neue Deutsche Biographie (NDB), Neunter Band, Berlin 1972, S. 670-672. 11 Ewald Frie, Marwitz, S. 238. 12 August Freiherr v. Haxthausen hielt 1839 fest, dass zu diesem Zeitpunkt nur etwa 1/3 des preußischen Staatsgebietes und ¼ seiner Bevölkerung länger als ein Jahrhundert ununterbrochen zur Monarchie gehörten, vgl. Ders., Die ländliche Verfassung in den einzelnen Provinzen der preußischen Monarchie, Erster Band, Königsberg 1839, S. 5. Der konservative Staatsrechtler Theodor Schmalz behauptete noch 1822 in seiner Schrift „Ansicht der Ständischen Verfassung der Preußischen Monarchie“, die eine allgemeine Furcht vor dem „Jakobinertum“ landständischer Repräsentativverfassungen wecken sollte, dass die Preußische Monarchie wie die USA (!) allein eine „Anzahl verschiedener Staaten“ umfasse, der preußische König in jedem seiner Landesteile „eine andere (Herrscher-)Person darstelle“, wie eigentlich die Preußische Monarchie nur ein Inbegriff von Staaten sei, der in der Person des Königs die alten „Landeshoheiten“ des deutschen und polnischen (für Ost- und Westpreußen)



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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in Preußen“ erhoben, setzte sich der junge Staat aus Kernregionen zusammen, die in ihrer europäischen Lage eher peripherer Charakter auszeichnete:13 Brandenburg als wichtigste, aber dem Reich untergeordnete Heimat- und Residenzlandschaft der Hohenzollern, sowie das zum „Königreich“ erhobene Herzogtum Preußen, das zwar souverän, aber territorial bis ins späte 18. Jahrhundert ein fernes „Außenland“ blieb.14 In keinem anderen Staatswesen trafen „Diskontinuität und Traditionalität“ (Wolfgang Neugebauer) so konfliktreich aufeinander: schon den Zeitgenossen erschien ähnlich zur Entwicklung des brandenburgisch-preußischen Hofes der ganze Staat politisch-strukturell durch nicht vorhandene oder gebrochene Traditionen gekennzeichnet, wie andererseits der Staatsausbau im europäischen Vergleich verzögert war.15 Das Verhältnis der preußischen Gesellschaft zur Geschichte des eigenen Staats-

Reiches vereine! Vgl. hierzu die historische Einordnung von Schmalz’ Schrift in: Stefan Hartmann, Die Kontroverse zwischen Boyen und Schmalz über die Einführung einer Ständischen Verfassung in Preußen, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge, 1. Band 1991, S. 209-239. Vgl. dazu unten Kap. 2.5.2. 13 Ernst Hinrichs spricht im Zusammenhang der preußischen Selbstkrönung von Königsberg sogar von einer regelrechten „Neuerfindung der Monarchie“ die deshalb eine bewusst manierierte Stil- und Traditionsbildung nach sich zog. U. a. zeigte sich dies in der eigentümlich nachholenden Traditionsbildung des „neo“-barocken Bauens Friedrichs II., der damit auf seinen Großvater verwies, vgl. Ders., Die Königskrönung vom 18. Januar 1701. Ein historiographisches und ein historisches Problem, in: Matthias Weber (Hrsg.), Preußen in Ostmitteleuropa. Geschehensgeschichte und Verstehensgeschichte, München 2003, S. 35-61, hier S. 47, u. S. 59, Anmk. 55. Anciennität (frz. Anciennité: Altersstufe) bezeichnet die Rangfolge, die sich aufgrund des Dienstalters ergibt, und war in Armee und Verwaltung das normale Beförderungsprinzip in der frühmodernen Staatsverwaltung. Das Prinzip, dass aus dem Alter (eines Geschlechts oder einer Dynastie) zugleich deren besondere „Würde“ und „Legitimität“ (zur Besetzung von Ämtern oder Thronen) abgeleitet wurde, war allerdings der adlig geführten Standeswelt des alten Europas seit jeher immanent, und ist ein wichtiges Grundelement adligen Selbstverständnisses, vgl. Halbwachs, Gedächtnis, S. 307. 14 Zur peripheren Lage im europäischen Kontext des baltischen Raumes dem Ostpreußen zugezählt werden kann, vgl. Mathias Mesenhöller, Ständische Modernisierung. Der kurländische Ritterschaftsadel 1760-1830 (Bd. 9 der Reihe „Elitenwandel in der Moderne“), Berlin 2008. Ostpreußen erhielt bekanntlich erst mit der ersten polnischen Teilung 1772 über Pomerellen/Westpreußen eine Landbrücke zum brandenburgisch-pommerschen Kernland. Zu Brandenburg mit seiner mittelmärkischen Residenzlandschaft, die anstellte einer starken Zentralität des Berliner Schlosses durch ein Geflecht von Nebenresidenzen charakterisiert war, siehe Wolfgang Neugebauer, Hof und politisches System in Brandenburg-Preußen: das 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 46, 2000, S. 139-169. 15 Zur „gebrochenen“ und gegenüber dem übrigen Europa „defizitären“ Tradition des preußischen Hofes als Spiegel der preußischen Staatsentwicklung: Neugebauer, Hof, hier S. 169. Auch in ihrer ständischen Verfassung wiesen die preußischen Territorien bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine extreme Heterogenität auf: „In Ostpreußen gab es einen Landtag, der aus drei Korporationen bestand: den Landräten, der Ritterschaft und den Städten. [...]. In Pommern galten die Landräte als Vertreter der Landstände. Vor- und Hinterpommern hatten getrennte Körperschaften. Die vorpommerschen Landstände bestanden aus vier adligen und zwei städtischen, die hinterpommerschen aus sechzehn adligen und vier städtischen Landräten. [...]. Die Stände der Neumark bestanden aus zwei Korpora-

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

wesen war unsicher und das Fehlen einer gewachsenen sozialen Grundlage für ein Gesamtstaatsverständnis offensichtlich – hinter der wütenden Adelskritik nach 1806 verbarg sich auch „[...] ein Gutteil Verblüffung über die Fragilität des verhaßten Junkerregiments [...]“.16 Der Adel hatte nicht einfach als Funktionsträger in Armee und Verwaltung versagt, sondern als Vertreter der Gesellschaft, bzw. als der eigentlichen, präsumptiven „Staatsgesellschaft“ des kaum entwickelten Gesamtstaates Preußen.17 So traf sich die Kritik am Adel mit dem zeitgenössischen Bewusstsein, dass der Staat keine ausreichenden gesellschaftlichen Fundamente besaß, eine eigentliche Staatsgesellschaft bis 1806 nicht existierte. Die im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts offen zu Tage tretenden Konflikte zwischen den (adligen) Gutsherrschaften und ihren ländlichen Untertanen beförderten diese Wahrnehmung innerer Schwäche, und wirkten wohl mit in der preußischen Neutralitätspolitik gegenüber dem revolutionär ausgreifenden Frankreich zwischen 1795 bis 1806 – denn: „Mit der Sorge vor der Revolution im Rücken kämpft es sich schlecht.“18 2.1.2.

Adel und Staatsgesellschaft in Preußen

Als Parvenü unter den Großmächten wurde die Länderagglomeration der „preußischen Staaten“ (wie die offizielle Bezeichnung immer noch lautete) fast ausschließlich über eine Personalunion des Monarchen, daneben durch Armee und Verwaltung locker zusammengehalten.19 Der einzige Personenkreis, der die verschiedenen Ter-

tionen, der Ritterschaft und den Städten. Wie in Pommern galten die Landräte als Vertreter der Ritterschaft“; Klaus Vetter, Kurmärkischer Adel und preußische Reformen, Weimar 1979, S. 20. 16 So die Einschätzung von Münchow-Pohl, Reform und Krieg, S. 282. 17 Schon 1800 hatte der später im Reformerkreis wirkende Westfale Ludwig Freiherr v. Vincke den Verdacht geäußert, dass der preußische Adel nicht bereit sei, für den Staat auf eigene Vorteile und Privilegien zu verzichten, vgl. Wilhelm Schulze-Marmeling, Schön und Vincke. Englische Verfassungs- und Wirtschaftseinflüsse in Preußen um 1800, Diss. Münster 1950, S. 172. 18 Vor allem in Schlesien brachen diese Konflikte offen aus. Just in diesem Zeitraum wurden die preußische Außenpolitik und der Hof durch die beiden schlesischen Adligen Christian August Heinrich Kurt Graf v. Haugwitz (1752-1833) und Franz Ludwig v. Hatzfeldt (1756-1827) bestimmt. Hatzfeldt, seit 1792 Staats- und Kabinettsminister, schloss 1795 den Basler Frieden mit Frankreich ab, vgl. Johannes Ziekursch, Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluß der Bauernbefreiung, Breslau 1915, S. 276. Vgl. auch Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), Band 4, 1996, S. 441 und Allgemeine Deutsche Biographie, Elfter Band, Berlin 1969, S. 57-69. 19 Eine weitere übliche Bezeichnung der preußischen Monarchie lautete: „Alle Seiner Königlichen Majestät Provincien und Lande“; erst in der Reformzeit verfügte Hardenberg 1807: „der ganze Staat heiße künftig Preußen“, vgl. Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. I, Freiburg i. Brsg. 1929, S. 362. Das „Allgemeine Landrecht“ trug den offiziellen Titel „Allgemeines Landrecht der preußischen Staaten“. Die „Gesetzsammlung für die preußischen Staaten“ (erstmals publiziert 1810) behielt diesen Titel bis 1907 (!) bei, vgl. Eduard Hubrich, Die Entstehung der preußischen Staatseinheit, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 20.Band, 1907, S. 43-123, hier S. 100.



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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ritorien in Anspruch und Ideal jenseits der Figur des Königs nicht nur funktional, sondern auch gesellschaftlich und kulturell verbinden sollte, bestand aus zwei rechtlich eng definierten personenständisch privilegierten Gruppen. Diese Gruppen waren erstmals im 1794 eingeführten „Allgemeinen Landrecht der Preußischen Staaten“ mit ihrem Sonderverhältnis zur Staatlichkeit definiert worden.20 Dabei handelte es sich um alle Angehörigen des Adels aus den verschiedenen Teilregionen; zum anderen um funktional bestimmte Gruppierungen von Bürgerlichen, denen aufgrund ihrer besonderen Stellung in der Staatsgesellschaft adelsähnliche Privilegien eingeräumt wurden, und deren Bezeichnung als „Eximierte“ diesen Ausnahmestatus unterstrich. Für diese Gruppierungen war die regionale Rechtszuständigkeit in der Monarchie zumindest in der Tendenz und subsidiär durch das „Allgemeine Landrecht“ (ALR) teils gebrochen, teils formalisiert worden.21 Allein der Adel und die „eximierten“ Bürger waren offiziell, wenn auch noch nicht für alle Angehörigen selbstverständlich, dem Gesamtstaatsverband verpflichtet worden. Doch nur der (grundbesitzende) Adel begründete als Stand eine (jeweils provinzial geschlossene) Sozialformation, die Amtspflichten mit Geselligkeit verband, und damit die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft symbolisch und lebensweltlich aufhob (dies im Gegensatz zu den reinen Funktionsständen der Beamten und Militärs).22 Zwar hatte der landsässige Adel als Herrschaftsstand den preußischen Staatsbildungs- und Vereinigungsprozess vornehmlich als Verlierer erfahren, weil die Verstaatlichung immer stärker in dessen landständischen Rechte eingriff, diese formte und beschränkte, sowie die überkommenen Herrschaftsrechte auf den Gütern tendenziell in staatlich delegierte Dienstfunktionen umdeutete.23 Dennoch profitierten von eben dieser Verstaatlichung

20 Das „Allgemeine Gesetzbuch“, in der Regierungszeit Friedrichs II. entworfen, war ursprünglich schon am 20. März 1792 durch den Thronfolger Friedrich Wilhelm II. (1786-1797) publiziert worden, und sollte am 1. Juni 1792 in Kraft treten. Doch aufgrund des Protests der (adligen) Stände, vorweg der kurmärkischen, wurde es vorübergehend suspendiert, bis es am 1. Juni 1794 nach geringfügiger Überarbeitung unter dem Titel „Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten“ Gesetzeskraft erhielt, vgl. Vetter, Kurmärkischer Adel, S. 27. Im Folgenden wird das „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten“ als ALR abgekürzt zitiert. 21 Vgl. Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution: allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967, S. 75-76. Die „Eximierten“ teilten mit dem Adel vor allem die Privilegien eines herausgehobenen Gerichtsstandes direkt unter die königlichen Gerichte, Ebd., S. 89. Die staatlichen Funktionsstände waren eigentlich die „Beamten der bürgerlichen Gesellschaft“ und der „Stand der Staatsdiener“, also Geistliche und Lehrer einerseits und Offiziere und Staatsbeamte andererseits. Diese Funktionsstände rekrutierten sich wiederum aus Adel und Bürgerlichen. Zur Entwicklung des Verhältnisses des Adels und des eximierten Bürgertums: Ebd., besonders S. 78-115. 22 Koselleck, Landrecht, S. 79. Zur durchaus politischen Dimension dieser adligen „Geselligkeit“ im Interesse der Staatsintegration, sowie der damit verbundenen „schweren finanziellen Last“ vgl. Neugebauer, Hof, S. 151. 23 Elisabeth Fehrenbach, Adel und Bürgertum. Der Adel in Frankreich und Deutschland im Zeitalter der Französischen Revolution, in: Elisabeth Fehrenbach, Politischer Umbruch und gesellschaftliche

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

nicht nur vereinzelte Adlige und Adelsfamilien, indem sie bei der Besetzung gesamtstaatlicher Schlüsselstellungen besonders berücksichtigt wurden.24 Im ALR wurde der gesamte Adel erstmals als Repräsentationsstand des Staates angesprochen: der Zweite Teil, 9. Titel, § 1 der neuen Rechtskodifikation definierte ihn als „erster Stand des Staates“, dem als Aufgabe „die Verteidigung des Staates, so wie die Unterstützung der äußeren Würde und inneren Verfassung desselben hauptsächlich“ zugesprochen war. Diese Stellung als designierter „Aktivbürger“ hatte der Adel jedoch erst unter Friedrich II. (1740-1786) erreicht.25 Diese Sonderbeziehung zur Staatlichkeit drückte sich auch darin aus, dass das ALR den Adel, im Gegensatz zum Bürgertum, als eine homogene personenständische Gruppe behandelte, ohne Rücksicht auf Geschlechtsalter, Rang oder Besitz, den gerade erst Nobilitierten wie den Fürsten gleichermaßen einbegriff.26 Im ausgehenden 18. Jahrhundert war der Adel damit am deutlichsten auf den Staat verpflichtet worden, einerseits mit geburtsrechtlich vermittelten persönlichen Privilegien ausgezeichnet, zugleich staatsbezogener als alle anderen.27 Als geburtsrechtlich privilegierter Personenstand konnte sich der Adel damit als präformierte Staatselite fühlen, dessen Funktion als Verwaltungselite auf dem Lande allerdings an das besitzständische Kriterium des Rittergutsbesitzes gebunden war. Die fortschreitende Verstaatlichung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war so wesentlich mit Angehörigen des Adels verwirklicht worden.

Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Werner Hahn/Jürgen Müller, München 1997, S. 165-193, hier S. 184. 24 Zur „charakteristischen Zwitterstellung“ des Adels und zur individuellen Gewinnersituation einzelner Adliger siehe Frie, Marwitz, S. 238 unter Bezug auf Kondylis, Konservativismus, S. 83: Allerdings unterschätzt meines Erachtens Frie diese potentielle Gewinnermöglichkeit des Adels als Korporation im Staatsbildungsprozess. 25 Der Begriff „Aktivbürgerschaft“ nach Neumann, Stufen, S. 20. Wenige Jahre nach der Veröffentlichung des ALR wurde diese Entwicklung von August Wilhelm Rehberg grundsätzlich kritisiert: damit hätte das Vorurteil, dass man von Adel sein müsse, um Minister werden zu können sogar in einem Gesetzbuch Rückhalt gefunden, vgl. Ders., Über den deutschen Adel, Göttingen 1803, hier zitiert nach der erweiterten Fassung: Ders., Sämmtliche Schriften, 2. Band, Hannover 1831, S. 193-269, hier S. 231. 26 Zugleich wurde der Adel mit dieser Gesetzgebung noch schärfer ständisch von Volk abgegrenzt: dem Adel wurden „standesungleiche Ehen“, d.h. Ehen mit Frauen aus dem unteren Bürgertum, verboten, während nach sonstigem „gemeinen Recht“ des Reiches nur Ehen mit „anrüchigen Personen“ untersagt waren, bei standesungleichen Ehen lediglich die Kinder nicht dem Stand des Vaters, sondern dem der Mutter folgten. Durch diese schärfere Sanktionierung wurde der gesamte preußische Adel einer Rechtslogik unterworfen, die sonst nur für den hohen Adel galt, vgl. Koselleck, Landrecht, S. 105. Vgl. auch ALR Zweiter Teil, 9. Titel, § 21, in: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Mit einer Einführung von Dr. Hans Hattenhauer, hrsg. v. Hans Hattenhauer, Frankfurt a.M./Berlin 1970, S. 535. 27 Koselleck, Landrecht, S. 80 u. 88-89. Diese Einheit von „Nation“ und „Adel“ bestätigt ex negativo Paul Nolte, wenn er schreibt, „Nation“ sei in Preußen bis 1815 die „Nation adliger, ständischer, damit reformfeindlicher Kräfte“ gewesen, vgl. Ders., Staatsbildung, S. 100.



2.1.3.

2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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Die neue Radikalität der Adelskritik nach 1806

In der dramatischen Situation nach 1806 erfuhr der Adel die Nachteile dieser Identifikation seines Standes mit dem preußischen Staat. Bürgerliche Adelskritiker konnten nun plausibel die Rolle des „Erbadels“ für das Versagen von Staat und Gesellschaft verantwortlich machen. Und diese waren dazu um so bereiter, als die konstituierenden Grundlagen dieses Standes „bürgerlichen“ Lebens- und Leistungsidealen schon lange ein Dorn im Auge waren: die bürgerlich-aufklärerische Adelskritik verlangte immer dringlicher den Nachweis individueller Eignung und Leistung als Kriterium zur Besetzung staatlicher Positionen.28 Die adelskritische Polemik zögerte nicht länger, das Leistungsversagen des Adels aus dessen historischen Ursprüngen und seiner sozialen „Verfasstheit“ abzuleiten: seiner Herkunft aus „vorzeitlicher roher körperlicher Stärke“ und (militärischer) „Gewalt“, aus der „jahrhundertelang unrechtmäßig“ erfolgten Aneignung materieller und immaterieller Privilegien als erblichen Rechtsbeständen, dem Rückstand des Adels gegenüber der Bildung des Bürgertums.29 Auch wurde die adlige Familienkultur als defizitär bezeichnet, insofern die spezifisch eingeschränkte Gattenwahl in Rücksicht auf Standesinteressen eine sittliche und gesellschaftliche Erneuerung des Adels verhindert habe. Diese Faktoren würden sich ungünstig auf die Eignung für öffentlich-staatliche Führungsaufgaben auswirken: „Hätten wir keinen Erbadel, so hätten wir ohnfehlbar mehr Adliche“, so eine Schlussfolgerung von 1808. Obwohl hier offenkundig ein Adelsideal, eine Vorstellung von dem, wie „eigentlicher“ Adel zu sein habe, gegen den konkreten zeitgenössischen Adel ausgespielt wurde, behauptete dieselbe Schrift, dass sich die Ausnahmen hervorragender adliger Persönlichkeiten keineswegs ihrem Adel verdankten, „nicht dem Einflusse ihrer Familien und dem Geist ihrer Kaste“, sondern allein deren persönlicher Eigenschaften und der Berührung mit „der Kultur des Bürgerstandes“.30

28 Dies auch und gerade im Gewand der moralisierenden „Trivialliteratur“ unter Rückgriff auf die traditionelle Hofkritik, wie sie sich seit Erasmus von Rotterdam etabliert hatte. Angewandt wurden dabei utilitaristisch-ökonomische und naturrechtliche Argumente, vgl. Frey, „Offene Gesellschaft“, S. 502, 507. 29 Das Motiv vom Adel, der seine Privilegien allein der Usurpation und Verdrängung älterer Rechtsverhältnisse „verdankte“, bildete seit der Spätaufklärung einen festen Topoi, vgl. Aufklärerische Adelskritik im Spiegel der Zeitschriften. Magisterarbeit von Hirsch, Aufklärerische Adelskritik , S. 33. Vgl. dazu auch den Artikel: Anonymus, Über den Geburtsadel, in: Minerva. Ein Journal Historischen und Politischen Inhalts, Bd. II, Hamburg 1808, S. 265-269. 30 So die Streitschrift Anonymus „Der Adel. Was er ursprünglich war, was er jetzt ist, und was er künftig seyn soll. Ein Angebinde zum Geburtstage aller ächtadligen Herren und Damen insbesondere auch für die Herren von Jena und Auerstädt, Berlin 1808 (geschrieben Dezember 1807), hier S. 29. Diese Polemik ist allein 1808 in wenigstens vier Auflagen erschienen. Darüber hinaus erschienen noch im gleichen Jahr zwei „Fortsetzungen“ unter dem beigefügten Untertitel „Insbesondere auch ein Präservativ gegen die Sucht, sich durch ein VON entbürgern zu lassen“. Der anonyme Verfasser verdichtete die genannten Punkte einer bürgerlichen Adelskritik in seinem polemischen Abriss einer

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

Bemerkenswert an dieser noch keineswegs allgemein typischen Adelskritik war, dass sie die konsequente Abschaffung des Adels forderte – also eine moralische und funktionsorientierte „Läuterung“ des Adels gar nicht mehr anstrebte, vielmehr als größte Gefahr für das Bürgertum bezeichnete: Man denke einmal, was erfolgen müsste, wenn der Adel sich entschlösse, das zu thun, was ihr von ihm verlangt: seine ungeheuern Vorrechte und Vortheile auf wahre Talente zu stützen, sich in Künsten, Wissenschaften und Handel hervorzuthun! Bei seinen Vermögensumständen, bei den Begünstigungen, welche die Kameradschaft der Mächtigen ihm angedeihen lässt, würde er in Kurzem den bloßen Bürger von allen Plätzen verdrängt und als immerwährenden Subaltern in Fesseln gelegt haben. Welch ein furchtbarer Unterschied! die größte Geißel für die Menschheit wäre eine erbliche Aristokratenkette, welche sich auf intellektuelle Vorzüge gründete.31

Damit erklangen nach 1806 neue Töne und Themen speziell in der preußischen Adelskritik. Erstmals wurde die Elitenfähigkeit des Adels grundsätzlich in Zweifel gezogen.32 Zwar hatte es schon vor 1800 eine verbreitete Adelskritik gegeben, die sich insbesondere am schwunghaften Güterhandel des Gutsbesitzeradels im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entzündete.33 Aber diese ältere Adelskritik war noch vorwiegend „moralische Kritik“ gewesen, noch ging es um „Läuterung“, die „Rückkehr“

„europäischen Adelsgeschichte“, und hoffte auf nichts weniger, als die völlige Vernichtung des Adels (Ebd., S. 29): „Friedrich Wilhelm III. achtete den Adel, weil er ihn als die Schutzwehr seines Staates ansehen mußte. Er hat nun seinen Werth in jenen feigen, treulosen Feldherrn, in jenen falschen, selbstsüchtigen Staatskünstlern kennengelernt. Von Grundsätzen des Rechts und der Gerechtigkeit, von den reinsten Gefühlen für Menschenglück beseelt, hat er bereits einen großen Schritt gethan, der ihn bei der Nachwelt unsterblich machen wird. – Er wird es bei diesem ersten Schritte nicht bewenden lassen, er wird einen zweiten thun: er wird den Geburtsadel, als die Geißel der Unterthanen, die Pest des Staats, den bösartigsten, immer mehr um sich fressenden, Auswuchs der menschlichen Gesellschaft, – die Schande der Menschheit vernichten.“ In diesen Schriften wird die enge Verbindung von militärischem Erfolg, bzw. Versagen und Adelskritik besonders deutlich – so wird der militärische Erfolg des „Bürgerheeres“ im amerikanischen Revolutionskrieg besonders hervorgehoben, vgl. „Zweite Fortsetzung“, S. 15. 31 „Der Adel. Was er ursprünglich war“, Zweite Fortsetzung, Berlin 1808, hier S. 62f. 32 Vgl. zum qualitativen Wandel der Adelskritik in Deutschland zwischen 1790 und 1815 Bleeck/ Garber. Adel und Revolution, S. 84: Die aufklärerische Forderung, die adligen Privilegien in nachfeudale Eigentumsrechte zu verwandeln und den Adel nach den Kriterien größtmöglicher Produktivität in der verbürgerlichenden Gesellschaft auszurichten, mündete schließlich in den Entwurf einer „natürlichen“ Universalgeschichte des Bürgertums, welche den Adel als Bestandteil und Träger einer vergangenen Gesellschafts- und Staatsordnung identifizierte. Ein Überblick über die zeitgenössische Zeitschriften- und Monographienliteratur zu diesem Thema: Ebd, S. 98-103. 33 Münchow-Pohl, Reform und Krieg, S. 286. Insbesondere der schlesische Adel war in die Kritik geraten, so bei Gneisenau als auch bei Friedrich v. Cölln, vgl. Ebd., S. 286f, Anmk. 12. Zur Rolle des schlesischen Adels, der sich gegen die Reformen in „Kreiskränzchen“ organisierte, Ebd., S. 291. Dieser hohe Organisationsgrad scheint den schlesischen Adel auch Jahrzehnte später in den Auseinandersetzungen um eine adlige Reorganisation ausgezeichnet zu haben.



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des Adels zu einem vorgeblich standeskonformen Verhalten.34 Nun konzentrierte sich die Adelskritik auf ein vollkommen verändertes Verhältnis des Adels zu Staat und Gesellschaft. Unter den adelskritischen Schriften dieser neuen Zielrichtung ragen die 1807 veröffentlichten „Untersuchungen über den Geburtsadel“ von Friedrich Buchholz hervor, eines studierten Theologen, Publizisten und Begründers der deutschen positivistischen Soziologie.35 Buchholz hatte schon früher in glanzvoller Polemik, die auch von seinen politischen Gegnern anerkannt wurde, die politisch-sozialen Zustände in Preußen kritisiert.36 Keine andere adelskritische Publikation traf auf eine so breite zustimmende wie ablehnende Resonanz.37 Der später als Mitbegründer des romantischen Konservatismus bekannt und einflussreich gewordene Adam Müller bemerkte über ihre Wirkung: „Sie haben keine Idee von der Consternation, in welche die Buchholz’schen Schriften die Denkenden unter dem alten Adel geworfen haben [...].38 Allein auf die „Untersuchungen über den Geburtsadel“ antworteten mehr als 2.000 Seiten Kontroversliteratur, wozu auch eine durch Friedrich Gentz veranlasste Gegenschrift von Adam Müller zu zählen ist: „Die Elemente der Staatskunst“ von 1809, die wiederum zu einem zentralen Ausgangspunkt romantisch-konservativen Denkens werden sollten.39 Um Buchholz gruppierte sich ein ganzer Kreis scharfer Gesell-

34 So z.B. noch in der nachrevolutionären Adelskritik August v. Kotzebues, der am Adel vor allem eine übertriebene Hof- und Höflichkeitskultur aufs Korn nahm und sarkastisch die angeblich bescheideneren Verhältnisse der Vergangenheit dagegenhielt, vgl. Ders., Vom Adel. Bruchstücke eines größeren historisch-philosophischen Werkes über Ehre und Schande, Ruhm und Nachruhm aller Völker, aller Jahrhunderte, Leipzig 1792. 35 Friedrich Buchholz, Untersuchungen über den Geburtsadel und die Möglichkeit seiner Fortdauer im neunzehnten Jahrhundert, Berlin/Leipzig 1807. 36 Friedrich Buchholz, Der neue Leviathan, Tübingen 1805. Ein Neudruck mit einem Vorwort v. Rütger Schäfer erschien Aalen 1970. Ein noch schärferes Gesellschaftsportrait folgte 1808 mit dem „Gemälde des gesellschaftlichen Zustandes im Königreich Preußen bis zum 14. Oktober 1806, 1. und 2. Theil, Berlin/Leipzig. 37 Vgl. als ein Beispiel den gemäßigt adelsapologetischen Aufsatz: Anonymus, „Auch etwas über den Adel“, in: Minerva. Ein Journal historischen und politischen Inhalts, Bd. III, Amsterdam/Köln 1808, S. 303-316. Der Verfasser sprach sich darin ausdrücklich für eine Beibehaltung der adligen Namen und Titel bei sonstiger vollkommener Gleichstellung der Staatsbürger aus: dann könne sich der „wahre Adel“ in der Gesinnung und Leistung erweisen! 38 So in einem Brief an Friedrich Gentz, vgl.: Rütger Schäfer, Friedrich Buchholz – ein vergessener Vorläufer der Soziologie. Eine historische und bibliographische Untersuchung über den ersten Vertreter des Positivismus und des Saint-Simonismus in Deutschland, 2. Bde., Göppingen 1972, hier Bd. 1, S. 74f. 39 Jörn Garber, Politische Revolution und industrielle Evolution: Reformstrategien des preußischen Saint-Simonismus (Friedrich Buchholz), in: Preußen und die revolutionäre Herausforderung seit 1789. Ergebnisse eine Konferenz, hrsg. v. Otto Büsch/Monika Neugebauer-Wölk, Berlin/New York 1991, S. 301-330, hier S. 305.

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schaftskritiker in Preußen, deren enge Zusammenarbeit die Autorschaft einzelner adelskritischer Publikationen nicht für alle Fällen klarstellen lässt.40 An radikaler Polemik kam den Buchholzschen Schriften vielleicht nur noch die im gleichen Jahr anonym erscheinende „Apologie des Adels“ nahe, die als Gegenschrift

40 Dies gilt insbesondere für die Buchholz zugeschriebene „Galerie preußischer Charaktere“ von 1808, vgl. Garber, Politische Revolution, S. 306. Zum Kreis um Buchholz gehörten u.a. Friedrich v. Cölln, Hans Heinrich Ludwig v. Held und Christian Karl August Ludwig v. Massenbach. Friedrich v. Cölln (1766-1820) stammte aus der Grafschaft Lippe-Detmold und studierte in Marburg, Halle und Jena. Er trat 1790 in Minden in den preußischen Staatsdienst, und wurde ab 1793 in verschiedenen Positionen in den neuannektierten polnischen Provinzen Preußens eingesetzt. 1803 wurde er nach Schlesien versetzt, und 1805 als Kriegs- und Domänenrat nach Berlin. Mit den Beamten-, Gelehrten- und Militärkreisen vertraut, veröffentlichte er nach Jena und Auerstedt die sechsbändige Schrift über die inneren Verhältnisse Preußens „Vertraute Briefe über die inneren Verhältnisse am preußischen Hof seit dem Tode Friedrichs II.“, Amsterdam und Köln 1807. Im gleichen Jahr erschienen seine „Neuen Feuerbrände. Marginalien zu der Schrift Vertraute Briefe etc.“, Amsterdam und Köln. Aufgrund dieser und anderer Publikationen geriet er zuerst mit der französischen Zensur, dann mit den preußischen Staatsbehörden Konflikt, die ihn verhafteten und einen Prozess wegen „Staatsverrats“ anstrengten. Durch die Vermittlung Hardenbergs wurde 1811 der Prozess gegen ihn niedergeschlagen. Hans Heinrich Ludwig v. Held (1764-1842) wurde als Sohn eines abgedankten Offiziers in der Nähe von Breslau geboren, und studierte in Frankfurt a. O., Halle und Helmstedt. 1788 trat er in den preußischen Staatsdienst ein. Er diletierte als Dichter und geriet schnell in einen Kreis um den späteren Oberpräsidenten und ebenfalls staatskritischen Zerboni di Sposetti, mit dem er den 1793 idealistischen Geheimbund der Evergeten gründete. Nach dem Sturz Zerbonis 1796 war auch Held den Behörden verdächtig, und er geriet durch seine kritischen Gedichte in immer stärkere Opposition zum offiziellen Preußen. Er wurde nach Brandenburg/Havel strafversetzt, wo er Buchholz kennenlernte, der an der dortigen Ritterakademie lehrte. 1801 veröffentlichte er mit dem sogenannten „Schwarzen Buch“ eine Kampfschrift gegen die Regierung des schlesischen Ministers v. Hoym, was ihm Amtsenthebung, Verhaftung und Gefängnis eintrug. Nach Verbüßung seiner Haft kehrte er nach Berlin zurück, schlug sich als Literat durch, und gelangte erst 1812 durch Vermittlung Hardenbergs in eine bescheidene Stellung im preußischen Staatsdienst. Christian Karl August Ludwig v. Massenbach (1758-1827) wurde in Schmalkalden geboren und wuchs bei Heilbronn auf. Schon früh interessierte er sich für Mathematik und wurde mit 20 Jahren Offizier in Württemberg. 1782 wechselte er in preußische Dienste und veröffentlichte in den folgenden Jahren viele Werke über mathematische Probleme und kriegstheoretische Schriften, während König Friedrich Wilhelm II. ihn zum Lehrer für Mathematik des Kronprinzen ernannte. Um 1800 verfasste er verschiedene Denkschriften über eine Reorganisation des Generalstabes. 1805 wurde er Generalquartiermeister beim preußischen Heerführer Fürsten Hohenlohe, in dessen Stab Massenbach erhebliche Mitverantwortung für die militärische Katastrophe nach Jena zukam. Seine Publikationen nach 1806 trugen deshalb stark apologetischen Charakter. Siehe z.B. „Der Obrist Massenbach den Thronen, Pallästen und Hütten Teutschlands.“ Erstes Heft: „Was ist ein konstitutionelles oder gesetzmäßiges Fürsten- oder Königthum?“; Zweites Heft: „Was für eine Stellung gebührt dem Adel in den neu zu constituierenden Staaten Teutschlands?“ Teutschland, im Jahr 1817. Stein verachtete deshalb Massenbach als „eitlen Narr und Wirrkopf“. Er sei „höchst verbittert, und daher zu allem fähig.“ So Stein in einem Brief an Gagern, 17. Mai 1817, vgl. Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, hrsg. v. Erich Botzenhart/Walther Hubatsch, Tübingen 1964, Fünfter Band, Nr. 535, S. 626-628, hier S. 627.



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zu den Buchholzschen „Untersuchungen“ getarnt war.41 Der anonymisierte Autor nahm darin eine so übertrieben „adelsstolze“, den „Nichtadel“ in scheinbar naivem „Standesbewusstsein“ herabsetzende Haltung ein, dass sich schnell die schneidende Ironie offenbart, mit der er die Buchholzsche Argumentation vordergründig angriff, um sie doch eigentlich zu bestätigten.42 Womöglich ist diese Schrift sogar aus dem oben erwähnten Buchholzschen Umfeld kalkuliert entstanden, um die Wirkung der „Untersuchungen“ noch zu steigern.43 Verblüffenderweise scheint diese Satire auf eine teils ganz unironische Aufnahme gestoßen zu sein. Ein Beispiel dafür ist die maßvoll-vermittelnde Adelskritik der sogenannten „Friedensartikel zur Endigung des Krieges zwischen Adel und Bürger“, die im Jahr darauf in Breslau erschienen. Diese Schrift blieb ganz dem Muster der älteren „Tugendadelsideale“ verpflichtet, und handelte ihre vorgeschlagenen „Friedensartikel“ zwischen Adel und Bürgertum auffällig in ernsthafter Widerrede der abstrusen pseudo-wissenschaftlichen Argumente der „Apologie des Adels“ ab.44

41 „Apologie des Adels. Gegen den Verfasser der sogenannten Untersuchungen über den Geburtsadel“, Berlin 1807. Aus unerfindlichen Gründen wird in einigen Bibliotheksvermerken der als Hans Albert Freiherr v. S anonymisierte Verfasser als ein Freiherr v. Stillfried ausgewiesen. Ein solcher Verfasser ist aber auszuschließen: zum einen ließ sich über die üblichen genealogischen Nachschlagewerke kein Vertreter dieses schlesischen Adelsgeschlechts mit passendem Vornamen und Alter ausfindig machen. Zum anderen ist die Stoßrichtung dieser getarnten „Apologie“, welche Kernvorstellungen des Adels über Familie und Genealogie der Lächerlichkeit preisgibt, selbst für standeskritische Adelsangehörige der Zeit höchst unüblich. Tatsächlich geben andere Bibliotheksvermerke (z.B. der Staatsbibliothek Berlin) einen „Professor Fischer“ als Verfasser an. Dieser ließ sich aber nicht näher ermitteln. 42 Als Beispiel sei nur genannt, dass der anonyme Verfasser ausführlich das adlige Familienverständnis als Agnatenverband und intergenerationelle Geschlechterkette so lebhaft verteidigt, dass er sich dazu „versteigt“, den Nichtadligen überhaupt die Zugehörigkeit zu einer „Familie“ abzustreiten, weil diese ja keine gesicherten Kenntnisse über ihre Vorfahren und weiteren Verwandten besäßen. Die Kritik an dieser adligen „Auffassung“ war ein etablierter Topos seit der Aufklärung. Schon der Dichter Christoph Martin Wieland hatte sich darüber lustig gemacht, dass Bürgerliche (nach adligem Verständnis) „ungeboren“ sein sollten, vgl. Bues, Adelskritik – Adelsreform, S. 47. 43 Dafür spricht auch die direkte, ebenfalls ironisierende Bezugnahme auf Buchholz, sowie auf Hans v. Held und Friedrich v. Cölln im zweiten Kapitel mit dem Titel: „Von den Schriftstellern, welche über den Adel geschrieben, und welche darüber schreiben könnten“: Buchholtz sei „die Capacität zu diesem Geschäfte nicht abzusprechen (wäre), besonders wenn er vorher nobilitiert werden könnte“, vgl. „Apologie des Adels.“, S. 13. 44 „Die Friedensartikel zur Endigung des Krieges zwischen Adel und Bürger. Ein Seitenstück zu der Organisation der Staaten im neunzehnten Seculo und Berücksichtigung der preußischen, seit dem 6. August 1808“. Nach dem Russischen von G.I.P., Breslau 1808. So greift diese Schrift die in der „Apologie“ ausgeführte physiologische Begründung der Höherwertigkeit des Adels auf, der angeblich „wissenschaftlich erwiesen“ dank besserer und feinerer Ernährung über „feinere Nerven“ verfüge, und dementsprechend auch körperliche Anstrengung wie Strafen schlechter vertrage als Nichtadlige, die ihrerseits aus „Erdtoffelmasse“ bestünden. Die „Friedensartikel“ wiesen diese Argumentation ganz ernsthaft als „lächerlich“ zurück, u.a. unter Verweis auf antike (!) Quellen (S. 12-13), und entwarfen

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Die radikal frühsoziologisch argumentierenden „Untersuchungen“ von Buchholz ließen jedoch methodisch wie argumentativ alles hinter sich, was seit der „aufgeklärten“ Adelskritik üblich war: nicht moralischer Verfall, sondern die erhöhte Dynamik der modernen Eigentumsgesellschaft habe den Adel um seine Herrenstellung gebracht; der unter den Bedingungen einer „nomadischen“ und später agrarischen Gesellschaft funktionstüchtige Adel musste so zum Hindernis der weiteren Entwicklung werden.45 Unter diesen veränderten historischen Umständen unterschied Buchholz mit (natur-)wissenschaftlichem Positivismus in den sozialen Verhältnissen zwischen „Anspruch“ und „Recht“: während Ungleichheit des Rechts in der Gesellschaft legitimiert werden könne, beruhe die Privilegierung des Adels auf einer angenommenen Ungleichheit des Anspruchs. Diese Unterschiedlichkeit im „Anspruch“ gründe sich aber auf der Annahme einer (kulturell wie biologisch dispositionierten) Vererblichkeit von Wesenseigenschaften von einer Generation auf die nächste. Diese Kernüberzeugung eines Erbcharismas, welches die personengebundene Erblichkeit von Privilegien begründen könnte, wies Buchholz entschieden zurück.46 Buchholz plädierte in seinen „Untersuchungen“ wie in seinen kurz darauf erscheinenden „Idee einer arithmetischen Staatskunst mit Anwendung auf das Königreich Preußen in seiner gegenwärtigen Lage“ (Tübingen 1809), sowie im „Hermes oder über die Natur der Gesellschaft mit Blicken in die Zukunft“ (Tübingen 1810) für die „Idee eines neuen

in 15 (Friedens-)Artikeln ein ideales Verhältnis von Adel und Bürgertum zueinander: der Adel solle „menschenfreundlich, wahrhaftig gnädig, daher sanft“ sein, „tugendhaft“ und „religiös“, „nicht ohne Kenntnisse“, solle „das Ganze, den Staat“ im Auge behalten und sich dem „Wohl des Ganzen“ unterordnen, „Bürger des Staates“ werden. Umgekehrt fordert die Schrift vom Bürgertum die Anerkennung der „Notwendigkeit“ eines Adels für das staatliche wie gesellschaftliche Leben: „Der vernünftige Bürgerliche giebt das Geständnis: der Adel sey zu genauer Vereinigung (Concentricitaet) des Staats nöthig. Wird deine Nation beleidigt, so ist’s der Adel zuerst der die Schmach für die Zukunft abhält“ (Ebd. S. 6). Der Verfasser plädierte unter Rückgriff auf (pseudo-)historische Bilder (Rittertum) einer Elitenzirkulation durch bewährte Erziehung und Leistung (S. 23-24) für einen nichterblichen Verdienstadel: „Freuet euch Edle, für euch bricht jetzt die goldene Zeit an, wo man Euch, nicht andre, öfters unbekannt durchs Leben gleißende Vorfahren, [...], ehret; [...] nicht Todte, sondern Dich Lebendigen schätzet [...].“ Diese funktionalistische Auffassung von der Rolle des Adels sah in diesem vor allem eine wichtige Möglichkeit zur Auszeichnung und Belohnung von „Verdienten“: „Der Bürgerliche lasse sich nicht durch den Schwall von Schreibereien über Abschaffung des Adels bethören. Ich habe schon einmal gesagt: Gott behüte uns, daß der Adel aufhöre. Wo hätte denn der Bürgerliche selbst seine Belohnungen zu erwarten?“ (S. 29). Die Forderung nach einem reinen Verdienstadel findet sich schon regelmäßig in der aufklärerischen Adelskritik, vgl. Bues, Adelskritik – Adelsreform, S. 41. 45 Bleeck/Garber. Adel und Revolution, S. 87f. 46 Buchholz, Untersuchungen, S. 22-23. Allerdings geriet Buchholz damit in das Dilemma, die Monarchie ebenfalls nicht eigentlich rechtfertigen zu können: dieses versuchte er zu umgehen, in dem er über die „notwendige Grenze“ der Gleichheit des Anspruchs räsonierte, vgl. Ebd., S. 74ff. Seine Theorie über die Entstehung des Adels findet sich neben den „Untersuchungen“ im „Hermes“, S. 107ff und „Leviathan“ S. 64ff.



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Adels, der, an seinen Stand gebunden, in allen Stücken das Gegentheil des FeudalAdels ist“.47 Also selbst dieser schärfste Adelskritiker forderte nicht die Abschaffung, sondern die Einführung eines neuen Adels! Auch Buchholz ging von (biologischen) Unterschieden in den Befähigungen der Individuen aus; die Vorstellung von der Existenz eines „natürlichen“ Adels in der „Personifikation der Tugendlichkeit oder Virtuosität“, gleich in welchen „Verrichtungen des gesellschaftlichen Lebens“, war ihm selbstverständlich.48 Diese wollte er auch in den sozialen Verhältnissen und im Gesellschaftsrecht berücksichtigt sehen. Aber diese „Tugendlichkeit“ oder „Virtuosität“ sei eben nicht vererblich, denn dazu „müsste der Mensch das Naturgesetz in seine Gewalt bekommen“.49 Deshalb könne es keinen anderen als nur den „persönlichen“ Adel geben. Dieser „persönliche Adel“ sollte nach Buchholz nur noch reiner Funktionsträger in einem extrem machtstaatlich zentrierten Gesellschaftsbau sein.50 Dabei dachte er an das Vorbild des napoleonischen Neuadels der Ehrenlegion, wie es seinem cäsaristisch-bonapartistischen Staatsideal entsprach.51 Konsequent griff

47 Seine „Idee eines neuen Adels, der, an seinen Stand gebunden, in allen Stücken das Gegentheil des Feudal-Adels ist“ findet sich ausgeführt in den „Untersuchungen“ S. 276-295; 327-339. 48 Buchholz, Untersuchungen, S. 37. 49 Ebd., S. 38f. 50 Friedrich Buchholz’ eigentümlich positivistisch-liberale Weltanschauung, die in Folge ihrer Zurückweisung der „englischen Idee“ der Gewaltenteilung wie der Verwerfung der Rousseauschen Idee der „Volkssouveränität“ zur Forderung einer extrem machtstaatszentrierten Einheit von Legislative und Exekutive führte, kann schon fast als frühfaschistisch bezeichnet werden, vgl. Garber, Politische Revolution, S. 315-317 u. 327. In keinem Punkt wird diese bedenkliche Tendenz deutlicher als in dem entschiedenen Antisemitismus von Buchholz, der im Übrigen argumentativ sogar auf einer sachlich unsinnigen wirtschaftstheoretischen Analogie zwischen adligem Privilegienwesen und (jüdisch dominierter) Geldwirtschaft aufbaute, vgl. Buchholz, Untersuchungen, S. 162ff. 51 Den Vorschlag zur Bildung einer „Ehrenlegion“ nach französischen Muster, als einer „Errichtung eines neuen Adels“ machte z.B. 1808 auch Theodor v. Hippel (1775-1843). Dieser war Sohn eines adligen Predigers in Ostpreußen, der von seinem Onkel 1796 ein erhebliches Vermögen und Güter erbte, letztere aber aufgrund landwirtschaftlicher Inkompetenz schließlich verkaufen musste. Hippel gehörte politisch aktiv, wenn auch nicht in prominenten Ämtern, zur politischen Bewegung Ostpreußens um Dohna, Schön und Auerswald, und befreundete sich mit Hardenberg. Dieser führte Hippel in den Staatsdienst ein. Hippel verfasste zahlreiche, darunter nie veröffentlichte Schriften über Staats- und Gesellschaftsfragen. Bekannt wurde seine Formulierung des königlichen Aufrufs zum Widerstand gegen Napoleon „An mein Volk“ von 1813. 1808 hatte Hippel auch einen Ständeplan nach dem Beispiel der italienischen Konstitution entworfen. Nach Hippel bestanden die drei „natürlichen“ Stände aus adligen und bürgerlichen Gutsbesitzern, sowie Bauern und anderen Grundstücksbesitzern (Possidenti), den Städtern (Kaufleute, Fabrikanten und andere „Commercianti“), sowie den „Volkslehrern“: die Gebildeten und Gelehrten („Dotti“). Vgl. Theodor Bach, Theodor Gottlieb von Hippel, der Verfasser des Aufrufs: „An mein Volk“. Ein Gedenkblatt zur fünfzigjährigen Feier der Erhebung Preußens, hrsg. v. Dr. Theodor Bach, Breslau 1813, S. 121. Hippels Ständeplan scheint aber nicht zur Kenntnis des führenden Reformers Freiherrn v. Stein gelangt zu sein, vgl. Alfred Stern, Abhandlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit 1807-1815, Leipzig 1885, S. 150.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

er deshalb die „englische Fraktion“ innerhalb der preußischen Reformbürokratie an, und forderte eine Verwaltungsreorganisation nach französischem Muster.52 Doch überwog auch nach 1800 eine Adelskritik, die den historischen Adel am Maßstab der kollektiven Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben maß, und insofern noch immer die Berechtigung zusprach, bei einer Neuordnung der Gesellschaft als Personenstand, nicht nur als Gemeinschaft herausragender Individuen, berücksichtigt zu werden. Diese Richtung der Adelskritik und der Adelspolitik sollte für die unmittelbar nach der preußischen Niederlage einsetzende Reformpolitik Leitbildcharakter erhalten. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung ist der rheinfränkische Reichsfreiherr vom und zum Stein, der seit 1780 im preußischen Staatsdienst stand, und ab 1807 das erste Reformministerium leitete. Alles andere als ein „Adelsfeind“ bezweifelte auch dieser die „Elitenfähigkeit“ des preußisch-ostelbischen Adels, d.h. die kompetente Erfüllung funktionaler Herrschaftspositionen in Staat und Gesellschaft, wie er in seiner berühmten Formulierung zusammenfasste: Der Adel im Preußischen ist der Nation lästig, weil er zahlreich, größtenteils arm und anspruchsvoll auf Gehälter, Ämter, Privilegien und Vorzüge jeder Art ist. Eine Folge seiner Armut ist Mangel an Bildung, Notwendigkeit, in unvollkommen eingerichteten Cadettenhäusern erzogen zu werden, Unfähigkeit zu den oberen Stellen (wozu man durch Dienstalter gelangt) oder Drängen des Brods halber nach niedrigen, geringfügigen Stellen. Diese große Zahl halbgebildeter Menschen übt nun sein Anmaßungen zur großen Last seiner Mitbürger in ihrer doppelten Eigenschaft als Edelleute und Beamte aus. Man verringere also die Zahl der Edelleute, man hebe den armen Adel auf.53

Gemeinsam war diesen Adelskritikern also die Diagnose eines Elitenversagens als Ursache des staatlichen Zusammenbruchs Preußens. Bei allen Unterschieden in Schärfe und Stoßrichtung konnten Stein wie Buchholz darin übereinstimmen, dass eine Staatselite, die sich vornehmlich aus einem kulturell und moralisch unzureichenden Adel rekrutierte, die Niederlage von 1806 verantwortete. Weiterhin konsensfähig erschien eine ständische Gliederung der Gesellschaft – auch Buchholz wollte die Unterschiede des Talents und der darauf gegründeten gesellschaftlichen Funktion in neuen Ständeordnungen fassen – was einmal mehr auf das Spektrum ständischer Ordnungsvorstellungen und die fließenden Übergänge zwischen den zeitgenössischen Begriffen und Deutungsmodellen verweist, und vereinfachten Gegenüberstellungen von „altständisch-feudal“ und zukunftsorientierten Gesellschaftsentwürfen

52 Die Kritik an der „englischen Faktion“ der Reformer findet sich in der „Idee einer arithmetischen Staatskunst mit Anwendung auf das Königreich Preußen in seiner gegenwärtigen Lage“, Tübingen 1809. 53 So in seinen „Bemerkungen zum Rhediger’schen Entwurf über Reichsstände“, Königsberg, 8.9.1808, zit. nach: Walther Hubatsch (Hrsg.), Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, Stuttgart 1957, Bd. 2.2, S. 853.



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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widerspricht.54 Innerhalb dieses breiten Spektrums ständischer Leitvorstellungen sollte in den nächsten Jahren eine Adels- und Elitenreform als Teil einer umfassenden Staatsreform verhandelt werden.

2.2.

Nation, Elitenreform und Repräsentation

2.2.1.

Nationsbildung und Elitenreform

Vor dem Hintergrund der Staatskrise verbanden sich die Reformanstrengungen zur Rettung des preußischen Staates untrennbar mit Überlegungen einer Elitenreform. Der Kreis der Reformer in Preußen beschäftigte sich nicht allein mit Fragen der politischen und verwaltungsstrukturellen Integration der Institutionen und ökonomischen Mobilisierung. Sondern er zielte auf eine umfassende gesellschaftspolitische Lösung. Aus einem „sehr neuen Aggregat vieler einzelner durch Erbschaft, Kauf, Eroberung zusammengebrachter Provinzen“ (Stein), der außerdem durch starke soziale Friktionen gezeichnet war, sollte ein moderner, homogener Einheitsstaat geschaffen werden, der über eine Führungsschicht verfügte, die sich diesem auch verpflichtet fühlte.55 Zwischen 1806 bis nach 1815 erschien dieses Ziel besonders dringlich: durch die Notwendigkeit, den 1806 fast zerfallenen, dann den auf dem Wiener Kongress 1815 stark vergrößerten preußischen Staat neu zu konstituieren, und dessen Bevölkerung(en) zu integrieren.56 Die Reformen sollten die Entfremdung zwischen Staat und Gesellschaft

54 Tatsächlich näherte sich Buchholz in späteren Jahren in seinen gesellschaftsstrukturellen Analysen und Schlussfolgerungen in vielen Punkten den „(alt)“-ständischen Interpretationen eines Friedrich August Ludwig v. d. Marwitz oder Gustav v. Rochow an, siehe unten Kap. 2.4.3. Vgl. zu Buchholz und dem Problem der Einordnung des zeitgenössischen Gebrauchs des Begriffs „liberal“ z.B. Frie, Marwitz, S. 288-289. „Liberal“ konnte um 1800 einfach Kritik am bürokratischen Behördenwesen und Zentralismus, bzw. generell einen „Antietatismus“ meinen. Dazu auch Paul Nolte, Stände, Selbstverwaltung und politische Nation. Die Ordnungsvorstellungen Steins in der deutschen Geschichte (18001945), in: Karl vom und zum Stein: der Akteur, der Autor, seine Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, Mainz 2003, S. 139-158, hier S. 142. 55 Das Zitat über Preußen als „neuem Aggregat“ stammt aus der Denkschrift Steins vom April/Mai 1806, vgl. zu dieser Denkschrift Max Lehmann, Freiherr vom Stein, 3 Bände, Leipzig 1902-1905, Bd. 1, S. 401-403. Das Motiv der extremen Heterogenität Preußens als Ursache der Notwendigkeit zur Bildung einer Staatsverfassung findet sich noch in einer Denkschrift Steins von 1816: „Ihm [dem preußischen Staat] fehlt geographische Einheit, Volkseinheit, denn er besteht aus reinen Slawen, aus germanisierten Slawen, aus Sassen, aus Franken, Religionseinheit, denn 2/5 seiner Bevölkerung sind Katholiken, und diesen Mängeln kann nur durch Bildung eines Vereinigungspunktes für alle diese fremdartigen Teile abgeholfen werden, einer Nationalanstalt, wo alle zusammentreten und über die gemeinschaftlichen Angelegenheiten sich beraten.“ (Hervorheb. im Original) Vgl. Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 455, S. 537-540, hier S. 538. 56 Vgl. Nolte, Staatsbildung, S. 90-91.

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überwinden, indem sie endlich eine geschlossene Nation begründeten.57 Der daraus resultierende „immanente Zwang zu radikalen Maßnahmen“ galt hiermit nicht nur für das Verhältnis zwischen Staat und Untertanen, sondern auch für die Beziehungen der sozialen Formationen untereinander: also vordringlich der Sozialstruktur und Ständeordnung.58 Eine neugeformte Elite sollte gesellschaftliche Spitze wie Repräsentant dieser Nation werden. Neben dem utilitaristischen Charakter und der Erziehungsgläubigkeit spricht aus diesem Reformprogramm vor allem die (aufklärungstypische) Überzeugung, dass eine neue Gesellschaft „planbar“ und „machbar“ sei, der Ansatz eines „utopian social engineering“.59 Der Adel, der gerade erst durch das ALR als präformierte Staatselite angesprochen worden war, konnte dabei nicht einfach übergangen werden. Vor allem sein Verhältnis zu einer neuen Elite galt es zu klären. Das zentrale Feld, auf dem diese komplexen Anforderungen an ein Reformprofil gelöst werden sollten, war die Idee einer „Repräsentation“, also einer Vertretung der

57 Die ganz gleichlautende Zielsetzung sollte noch die Verfassungsdebatte im Vormärz bestimmen: vgl. Siegfried Bahne, Die Verfassungspläne König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und die Prinzenopposition im Vormärz, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Ruhr-Universität Bochum 1970/71, S. 25. Der Begriff der „Nation“ bezog sich nach damaligen Gebrauch neutral auf alle Einwohner eines staatsrechtlich wie auch immer definierten Gebietes, die Anteil an einem „speziellen partikulären Staatswesen haben“, und denen sogar ein distinkter „Nationalcharakter“ zuerkannte werden konnte. Aufgrund der eigentümlichen territorialstaatlichen Entwicklung im deutschen Raum konnte „Nationalität“ gleichermaßen auf einen (deutschen) „Reichspatriotismus“, wie auf einen gesamtpreußischen „National-Patriotismus“ bezogen werden, Vgl. Hubrich, Entstehung, S. 84f. Zur Konkurrenz zwischen gesamtpreußischem und deutschem Nationalpatriotismus seit dem späten 18. Jahrhundert siehe auch Stefan Nienhaus, Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, Tübingen 2003, S. 93-95. So verwandte Ewald Friedrich v. Hertzberg anlässlich einer Feier auf Friedrichs II. Geburtstag schon 1782 die Begriffe „Vaterland“, „Nation“ und „Nationalcharakter“ konsequent auf Preußen, ebenda, S. 94, Anmk. 37 (nach Hellmuth Eckhart, Die ‚Wiedergeburt‘ Friedrichs des Großen und der ‚Tod fürs Vaterland‘. Zum patriotischen Selbstverständnis in Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Ders./R. Stauber (Hrsg.), Nationalismus vor dem Nationalismus, in: Aufklärung, 10. Jhrg., Heft 2, 1998, S. 23-54). Zum Nationsbegriff in der frühen Neuzeit siehe auch: Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hrsg.), Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780-1815, Mainz 1998, S. 317; Otto Dann/Miroslav Hroch/Johannes Koll (Hrsg.), Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches, Köln 2003. 58 Münchow-Pohl, Reform und Krieg, S. 46. 59 „Diese Erziehungsgläubigkeit, die Überzeugung, dass eine neue, bessere Gesellschaft „machbar“ sei, verband alle Reformer, wie sie eine Gemeinvorstellung des Zeitalters schlechthin war. Überhaupt sollte das ganze staatliche und gesellschaftliche Leben gleichsam von einer höheren Idee, von gewissen Grundprinzipien geleitet sein, um die „Nation“, die es freilich noch zu schaffen galt, fester an die Geschicke des Staatswesens zu binden [...] – Hardenbergs viel zitierte „demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung“ gehören in diese Kategorie.“, siehe Münchow-Pohl, Reform und Krieg, S. 69-70. Karl Popper bewertete solche Herangehensweisen eines „utopian social engineering“ als die typischen Äußerungen eines totalitären Systems, welchem er zur Alternative ein „piecemeal social engineering“ gegenüberstellte, also die politische Taktik eines situativ reagierenden und improvisierenden Handelns, vgl. Ders., The open Society and its Enemies, 2 Bde., London 1943-45.



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Gesellschaft in und gegenüber der Staatsverwaltung. Für dieses Programm zeichnete maßgeblich Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein verantwortlich, der nur über einen kurzen Zeitraum an der politischen Spitze in Preußen wirkende Inspirator und Verfechter der preußischen Reformen.60 Ihm unterstand ab September 1807 die sogenannte „Immediatkommission“, welche eine Art provisorische Regierung mit leitender und koordinierender Funktion darstellte, und die neben einer Anzahl von Kommittees, die ebenfalls von Stein geleitet wurden, die Hauptinstitution zur Formulierung der Reformvorschläge wurde.61 Daneben zählte noch das preußische Provinzialministerium (also zuständig für die Gebiete außerhalb des ehemaligen Reichsterritoriums: West- und Ostpreußen) unter der Leitung des Ministers Friedrich Leopold Freiherr v. Schroetter zu den zentralen Reformbehörden. In diesem Umfeld wirkte Stein als spiritus rector und Koordinator, dem wiederum zentrale programmatische Formulierungen und Gesetzesentwürfe von seinen Mitarbeitern entworfen und zugetragen wurden.62 Es bleibt festzuhalten, dass, wie auch unter seinem Nachfolger

60 Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein (1757-1831) entstammte der rheinfränkischen Reichsritterschaft. Seit 1780 im preußischen Staatsdienst begann er aufgrund der Vermittlung des Ministers v. Heinitz, eines Freundes seiner Eltern, seine Karriere im Bergwerks- und Hütten-Departement. Seit 1784 leitete er das Bergwesen und die Fabriken in den westfälischen Provinzen Preußens. Nach kurzen diplomatischen Aufträgen wechselte er 1787 als Kammerdirektor zur Kriegs- und Domänenkammer nach Cleve und Hamm, deren Präsident er 1793 wurde. Im Oktober 1804 wurde er Minister des Accise-, Zoll-, Fabrik-, Manufaktur- und Kommerzwesens. Nach der Kriegsniederlage 1806 sollte Stein im Dezember Minister des Inneren und der Finanzen werden. Da ihm die Umbildungen hinsichtlich des Kabinettssystems nicht ausreichend schienen, lehnte er ab und wurde im Januar 1807 ungnädig aus dem Staatsdienst entlassen. Aufgrund der Notlage nach dem Frieden von Tilsit wurde er im September 1807 als leitender Minister mit fast diktatorischen Vollmachten bis zur Herstellung neuer Behördenorganisationen berufen. Direkte Weisungsbefugnis hatte er dabei für die Zivilverwaltung, gegenüber den anderen Ressorts verfügte Stein über Kontrollrechte. Am 24. November 1808 wurde Stein auf Druck Frankreichs entlassen. Seitdem versuchte er ausschließlich über diplomatische Kanäle und Denkschriften auf die weitere Politik Preußens einzuwirken. Allein als Berater des russischen Zaren ab 1812 und dessen Gesandter auf dem Wiener Kongress 1814/15 erhielt er noch einmal eine politische Position, der ihn auch wieder in näheren Kontakt zu preußischen Funktionsträgern brachte, vgl. ADB, Bd. 35, Leipzig, 1893, S. 614-641. 61 Sie wurde am 25.Juli 1808 zur Generalkonferenz erklärt und vereinte die Gruppe der entschiedensten Reformer die ausschließlich der preußischen Verwaltung entstammten. Der Vorsitzende der Immediatkommission wurde Theodor Anton v. Klewitz (1760-1838), der bürgerlicher Herkunft war, aber wegen seiner Verdienst 1803 geadelt wurde. Entgegen ihrem Namen hatten die Mitglieder der Immediatkommission keinen direkten (immediaten) Zugang zum König. Klewitz wurde als Kompromisskandidat Vorsitzender. Offenbar galt er dem König im Gegensatz zu den radikaleren ursprünglichen Mitgliedern der Kommission als sozial akzeptabel. Neben Klewitz und Stein zählten noch Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein, Barthold Georg Niebuhr, Theodor v. Schön und Friedrich August Stägemann zu dieser Kommission. Zum weiteren Reformerkreis gehörten rund 52 Personen, vgl. Herbert Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848 (= Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düsseldorf 1984, S. 30; Nolte, Staatsbildung, S. 36. 62 Nolte, Stände, S. 142.

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Hardenberg, viele Stellungnahmen und Denkschriften aus dem Reformerkreis als kollektive Leistungen verstanden werden müssen.63 Diese Reformbürokratie debattierte und verhandelte in ihren internen Auseinandersetzungen sozusagen in „Stellvertretung“ die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen aus.64 Eine Vielzahl diverser Einflüsse wirkte in ihren Vorhaben und Programmen mit: [...] Montesquieu, Kant und Fichte, Smith, Kraus und die Physiokraten, friderizianische Tradition und altständische Ordnung, englische und französische Vorbilder, in Ansbach-Bayreuth, Westfalen und Neuostpreußen erprobte neue Verwaltungspraktiken – dieses und anderes wirkte ineinander, nebeneinander oder auch gegeneinander und ging mitunter recht merkwürdige Kombinationen ein.65

Bei allen Unterschieden im Detail teilte dieser Reformerkreis jedoch bestimmte Orientierungen und Grundüberzeugungen, deren Ausformulierung und präferierte institutionelle Umsetzung sich mit den Erfahrungen der kommenden Jahre auch verändern konnten.66 Zu diesen Überzeugungen gehörte das Ziel, vermittels einer „Repräsentation“ die Trennung von Staat und Gesellschaft zu überwinden.67

2.2.2. Elitenreform und Repräsentationsfrage Bürokratiekritik und Repräsentationsforderung Stein betrachtete seit seiner Zeit als königlicher Beamter in Westfalen die preußische Verwaltung als größtes Hindernis einer Interessenidentität zwischen der Gesellschaft und den Staatszielen. Seine Reformüberlegungen waren von einer grundsätzlichen Bürokratiekritik geleitet.68 Vor seiner Zeit als leitender Minister in Preußen hatte er

63 So hat Johann Gottfried Frey die Städteordnung von 1808, Theodor v. Schön das „Politische Testament“ Steins entworfen. Die von Hardenberg vorgelegte „Rigaer Denkschrift“ ist ebenfalls eine solche „kollektive Leistung“, vgl. Manfred Botzenhart, Reform, Restauration, Krise: Deutschland 1789-1847, Frankfurt 1985, S. 95. 64 Dieser „Vertretungscharakter“ der Reformergruppe erklärt sich auch daraus, dass es sich dabei keineswegs um eine exklusive, sozial isolierte Formation handelte, sondern um einen durchaus repräsentativen Querschnitt der gebildeten, auch fachlich qualifizierten (und geprüften) „Intelligentzia“ der preußischen Gesellschaft, vgl. Hagen Schulze, The Prussian Reformers and their Impact on German History, in: Timothy C. W. Blanning/Peter Wende (Hrsg.), Reform in Great Britain and Germany 1750-1850, Oxford 1999, S. 61-77, hier S. 66. 65 Münchow-Pohl, Reform und Krieg, S. 66. 66 Stein teilte dennoch gewisse dauerhafte „Leitmotive“ mit der Mehrzahl der Mitglieder des Reformerkreises über die gesamte Reformperiode hinweg, vgl. Nolte, Stände, S. 143. 67 Zu den Differenzen in den Repräsentationsvorstellungen innerhalb der Reformergruppe vgl. Paul Haake, Der preußische Verfassungskampf vor hundert Jahren, München/Berlin 1921, bes. S. 33ff. 68 Zu Beispielen der Steinschen Bürokratiekritik und der schon zeitgenössischen Kritik daran vgl. Paul Nolte, Staatsbildung, S. 31, Anmk. 22.



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im April/Mai 1806 eine „Darstellung der fehlerhaften Organisation des Cabinets und der Nothwendigkeit der Bildung einer Ministerial-Conferenz“ entwickelt, und nach seiner Entlassung als Minister in der sogenannten „Nassauer Denkschrift“ vom Juni 1807 seine Gedanken „über die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial- Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monarchie“ als umfassendes Programm ausgeführt.69 Neben einer grundlegenden Reform an der gesamtstaatlichen Regierungsspitze, die vor allem auf die Überwindung der bisherigen „Kabinettsregierung“ abzielte, um den direkten Kontakt der verantwortlichen Ressort-Minister mit dem Monarchen herzustellen, forderte Stein unter Berufung auf Montesquieu schon im Frühjahr 1806 eine Teilung der obersten Regierungsgewalt zwischen dem Monarchen und den „Stellvertretern der Nation“ auf gesamtstaatlicher Ebene. Zwar gebe es in den Provinzen ständische Vertretungen, aber sie wirkten eben nur in der Provinzial­verwaltung mit. Deshalb fehle Preußen eine echte „Staatsverfassung“.70 Nach dem ersten Vorhaben Steins sollte eine solche Repräsentation den staatlichen Entscheidungs- und Verwaltungsorganen nicht antagonistisch gegenüberstehen, sondern mit diesen verknüpft, ja regelrecht „amalgamiert“ werden, ein Gedanke, den Stein mit Ernst Brandes teilte, und schon in der erwähnten „Nassauer Denkschrift“ aufführte.71 In derselben Denkschrift schlug er auch die Beteiligung ständischer Repräsentanten in Gestalt „freier Eigentümer aus allen Ständen“ vor, mit einem beratenden Votum in den Verwaltungsbehörden auf allen Ebenen des Staates. Er beabsichtigte also keine parlamentarische Form der Beteiligung an der Legislative, vielmehr eine direkte Mitwirkung an der Exekutive, an der staatlichen Bürokratie.72 Dies sollte das bisherige Konkurrenzverhältnis provinziell-ständischer, vom Adel dominierter Institutionen und einer den Interessen des Gesamtstaates verpflichteten

69 Zur Denkschrift vom April/Mai 1806 siehe Lehmann, Freiherr vom Stein, Bd. 1, S. 401-403. Zur sog. „Nassauer Denkschrift“ vom Juni 1807 vgl. Lehmann, Freiherr vom Stein, Bd. 2, S. 65-87; sowie G. H. Pertz, Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein, 6. Bände, Berlin 1850-1851, hier 1. Band, S. 415-438. 70 „Der preußische Staat hat keine Staatsverfassung; die oberste Gewalt ist nicht zwischen dem Oberhaupt und den Stellvertretern der Nation geteilt“, vgl. Denkschrift Steins, April/Mai 1806, in: Leopold v. Ranke (Hrsg.), Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Hardenberg, Leipzig 1877, 5 Bände, Bd. 5, S. 368-376, hier S. 369. 71 Der Begriff der „Amalgamierung“ von Repräsentation und Verwaltung taucht allerdings erst in der Rigaer Denkschrift auf, und stammte von Altenstein, vgl. Georg Winter (Hrsg.), Die Reorganisation des preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, Leipzig 1931, S. 318 u. 339f. Ernst Brandes hatte ähnliche Überlegungen in seinen „Betrachtungen über die französische Revolution“ von 1790 angestellt. Zur Ausführung kam dieses Konzept einer „amalgamierten Repräsentation“ für kurze Zeit nur in Ostpreußen, in Form ständischer Beigeordneter bei den 1808 neu eingeführten Provinzialregierungen. Insbesondere die Erfahrungen mit den kurmärkischen Provinziallandtagen 1809 ließen die Potsdamer Regierung eine Ausschließung der Stände von der Verwaltung für angebracht halten, vgl. Münchow-Pohl, Reform und Krieg, S. 293. 72 Hartwig Brandt, Europa 1815-1850. Reaktion, Konstitution, Revolution, Stuttgart 2002, S. 182.

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königlichen Beamtenschaft überwinden. Zudem sollte dadurch einer Eigenständigkeit der „bürokratischen Form von Herrschaft“ vorgebaut werden. Die direkte Beteiligung der Gesellschaft an der Staatsverwaltung sollte deren „Gemeingeist“ und „Bürgersinn“ beleben, und einen Erziehungsauftrag erfüllen, indem die gesellschaftlichen „Repräsentanten“ mit den Staatsgeschäften vertraut gemacht, ihre Einsicht in die Notwendigkeiten des staatlichen Handeln gefördert, „mit dem Geist und den Absichten ihrer Maßregeln“ bekannt gemacht würden: kurz, sie zielte auf eine „moralische Nationalerziehung größten Stils“.73 Im Kern bedeutete dies die Kontrolle der vereinfachten und vereinheitlichten Verwaltung durch reformierte und modernisierte Stände auf provinzialer, wie gesamtstaatlicher Ebene.74 Repräsentation und Eigentümergesellschaft Stein war mit seinen Ansichten über eine Repräsentation durch große Landeigentümer durchaus ein Kind des frühliberalen Zeitgeistes. Dass erst Eigentum den „Menschen zum Bürger macht“ verfocht schon Ernst Brandes in seinen „Betrachtungen über die französische Revolution“. Und August Wilhelm Rehberg zitierte 1803 diese ältere wie zeitgenössische Überzeugung in dem Sprichwort, dass „niemand mit rathen [beratschlagen, G. H.] dürfe, der „nicht auch mit thaten solle“.75 Die Überzeugung, dass eine besitzständische Partizipation auf der Grundlage einer vorwiegend agrarisch gedachten Eigentümergesellschaft aufbauen musste, war keineswegs eine Sonderheit der deutschen politischen Vorstellungswelt.76 Diese Überzeugung von der politisch qualifizierenden Eigenschaft von (großem) (Grund-)Eigentum lässt sich europaweit bis auf die englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts zurückführen.77 Gerade in England und den USA gab es zeitgleich starke Strömungen einer antibü-

73 Die einzelnen Punkte der Steinschen Zielsetzung wie er sie schon 1802 anlässlich der Einrichtung der preußischen Verwaltung im eben nach dem Frieden von Lunéville annektierten Münster zusammenfasste, vgl. Lehmann, Freiherr vom Stein, Bd. 1, S. 251. „Nationalerziehung größten Stils“ nach Gerhard Ritter, zit. nach: Ernst Walter Zeeden, Hardenberg und der Gedanke einer Volksvertretung in Preußen 1807-1812, Berlin 1940, S. 156. 74 Nolte, Staatsbildung, S. 86. 75 Vgl. Ernst Brandes, Betrachtungen über die französische Revolution, Jena 1790, S. 10; August Wilhelm Rehberg, Über den deutschen Adel, Göttingen 1803, zitiert nach der erweiterten Fassung: Ders., Sämmtliche Schriften, 2. Band, Hannover 1831, S. 193-269, hier S. 216. Zur „spezifisch preußischen Eigentumsideologie“ vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 25f. 76 „Auf der Grundlage der gesellschaftlichen Ungleichheit kamen die Aufklärer auch zu Überlegungen, dass die politischen Mitwirkungsrechte, vor allem bei der Gesetzgebung, nicht allgemein und für alle vergeben seien: nur die Eigentümer waren zu politischer Partizipation berechtigt, nur sie hatten Anspruch auf Repräsentation.“ Wer seine Arbeitskraft nicht auf eigenes Besitztum verwenden konnte, schied aus dem Kreis der Mündigen aus. Auch nach Kant setzte „bürgerliche Persönlichkeit“ eine Selbständigkeit voraus, die ihre Existenz nicht der „Willkür eines Anderen im Volke“ verdankt, vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 25, Anmk. 21. 77 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 26.



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rokratischen „Country-Ideologie“, die sich einer einseitig städtisch-kommerziellen Gesellschaftsordnung entgegenzustemmen suchte.78 Die frühliberale Bewegung sah in den Grund- und Vermögensbesitzern, vor allem im großen agrarischen Grundbesitz die natürliche Basis für jedwedes repräsentative politische System. „Nation“ und „Volk“ (people) wurden in der amerikanischen Revolution wie in den verbreiteten französischen Ideen der Aufklärung im Wesentlichen mit den großen Grundbesitzern gleichgesetzt. In den Worten Steins sollte „nicht eine auf kümmerlichen und schwachen Fundamenten beruhende Herrschaft weniger Gutsbesitzer“ angestrebt werden, „sondern es kommt die Teilnahme an der Verwaltung der Provinzialgelegenheiten sämtlichen Besitzern eines bedeutenden Eigentums jeder Art zu“.79 Bezeichnenderweise faszinierte die 1804 erschienene englische Schrift „An Inquiry into the Nature and Origin of Public Wealth and into the Means and Causes of its Increase“ von James Maitland, Eighth Earl of Lauderdale, die diesen Zusammenhang theoretisch fundierte, den engen Mitarbeiter Steins, Theodor v. Schön.80 Schön war in Gegensatz zu Stein kein ausgesprochener Adelsfreund, doch von Maitlands großgrundbesitzfreundlicher Schrift war er so begeistert, dass er sie eigenhändig übersetzte.81 Dieser Zusammenhang von Repräsentationsidee und Grundbesitzerideal erklärt, warum im weiteren Verlauf der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuordnung in Preußen eine Gleichsetzung von politischer und wirtschaftlicher Freiheit bestimmend werden konnte.82

78 Nolte, Stände, S. 143. 79 Pertz, Stein, S. 429. 80 James Maitland, Eighth Earl of Lauderdale, „An Inquiry into the Nature and Origin of Public Wealth and into the Means and Causes of its Increase“, 1804. Ed. Morton Paglin, Reprints of Economic Classics, New York 1962. Maitland unterstützte darin den Freihandel und d. Schutz d. Landwirtschaft zugleich. Später wurde er ein Verfechter der Corn Laws. Die Übersetzung von Theodor v. Schön: Lauderdale, Über NationalWohlstand, erschien Berlin 1808. Ein Entwurf davon ist im GSTA PK Berlin erhalten, unter der Signatur: STA Königsberg, Dep. Brünneck, no.2. 81 Marion Gray, Prussia in Transition: society and politics under the Stein Reform ministry of 1808, Philadelphia/Penn. 1986, S. 99. Heinrich Theodor von Schön (1773-1856), geboren im Kreis Tilsit in Ostpreußen, war der Nachkomme einer alt-etablierten Gutspächterfamilie, studierte Rechts- und Staatswissenschaften in Königsberg, und stand in engem Kontakt mit dem mit der Familie befreundeten Immanuel Kant. 1793 trat er in der Königsberger Kriegs- und Domänenkammer ein. 1798 reiste er für fast ein Jahr nach England, was ihm bleibende staatspolitische Eindrücke hinterließ: „Durch England wurde ich erst ein Staatsmann“. 1807 wurde er als Mitglied der Immediatkommission einer der engsten Mitarbeiter Steins, bereitete den wichtigen Vorentwurf für das Edikt vom 9. Oktober vor, und verfasste das sogenannte „Politische Testament“ Steins im Herbst 1808. Nach Steins Ausscheiden aus der Reformregierung wechselte Schön in das von Graf Alexander Dohna geleitete Ministerium des Inneren, zuständig für das Departement für Gewerbe und Handel, vgl. ADB Bd. 32, S. 781-792. 82 Diesen Gleichklang betont vor allem Reinhart Koselleck, und machte ihn zugleich für das partielle Scheitern der Reformpolitik verantwortlich.

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Repräsentationsidee als zentrale Leitvorstellung der Reformen Die Steinschen Ideen von Selbstverwaltung und Repräsentanz wurde von den übrigen Reformern mehrheitlich geteilt. Auch sein Nachfolger an der Spitze der preußischen Reformverwaltung, der wesentlich „etatistischer“ denkende Staatskanzler Karl August Freiherr v. Hardenberg stimmte mit dieser Grundüberzeugung überein, einschließlich des gestuften Repräsentationsideals, das noch in seinen letzten Verfassungsentwürfen der auslaufenden Reformjahre 1819/20 zu finden ist.83 Nach dem Interims-Ministerium Dohna-Altenstein übernahm er am 4. Juni 1810 die Leitung der Regierung, und wurde schließlich in der Funktion eines „Staatskanzlers“ dem Ministerkollegium übergeordnet (27. Okt. 1810). Er legte zwar einen deutlich anderen Schwerpunkt bei den Reformen.84 Von einer Geringschätzung der Bürokratie wie bei

83 Vgl. Nolte, Staatsbildung, S. 93-105. Ursprünglich soll Hardenberg noch weniger als Stein ein Freund einer von der Verwaltung losgelösten „Repräsentation“ gewesen sein, vgl. Stern, Abhandlungen, S. 161. Karl August Freiherr von Hardenberg (1750-1822) entstammte einem kurhannoverschen Adelsgeschlecht. Er studierte in Göttingen und Leipzig und begann 1770 seine Karriere im Staatsdienst von Kurhannover. Sein Karriereverlauf war sehr wechselvoll, zum Teil durch Skandale überschattet und beeinflusst. Nachdem er 1772/73 aufgrund eines vorübergehenden Karrieretiefs eine Grand Tour absolviert hatte, übersiedelte er 1781 als kurhannoverscher Kammerrat nach London, um den Hannoveraner Kurfürsten und König von England von seinen staatspolitischen Reformplänen zu überzeugen. Aufgrund eines sich anbahnenden Eheskandals seiner ersten Frau Christiane (geb. v. Reventlow) mit dem britischen Thronfolger reichte er noch im selben Jahr seinen Abschied ein. Nachdem er sich 1790 von seiner ersten Frau scheiden ließ und die ebenfalls geschiedene Sophie v. Lenthe heiratete, war dies Anlass, den Braunschweiger Staatsdienst zugunsten einer Anstellung in der Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth aufzugeben. Mit dem Übergang dieses Territoriums an die preußische Krone 1791 gelangte auch Hardenberg in den preußischen Staatsdienst, und leitete jahrelang als oberster Beamter die Markgrafschaft als selbständige Provinz. Durch das Vertrauen Friedrich Wilhelms III. v. Preußen wurde er 1803 Minister für auswärtige Angelegenheiten, und 1804 offiziell preußischer Außenminister bis 1806. Weil er mit der preußischen Neutralitätspolitik gegenüber Frankreich nicht einverstanden war, trat er 1806 zurück. Auf Betreiben des Zaren wurde er im April 1807 erneut mit der preußischen Außenpolitik betraut, musste aber nach dem Frieden von Tilsit wieder zurücktreten. Von seinem Exil-Aufenthalt in Riga aus begleitete er den ersten Reformprozess unter Stein („Rigaer Denkschrift“). Auf Hardenbergs Betreiben musste dessen Nachfolger Karl vom Stein zum Altenstein im Juni 1810 zurücktreten, worauf Hardenberg mit Billigung Napoleons zum preußischen Staatskanzler ernannt wurde. Zuständig für die Innen-, Außen- und Finanzpolitik vereinte er eine bis dahin ungekannte Machtfülle bis zu seinen Tod 1822. 1814 wurde er für seine Verdienste in den Fürstenstand erhoben. 84 Nach dem erzwungenen Ausscheiden Steins aus der Regierung wurde diese von Karl Sigmund Franz Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770-1840) weitergeführt. Ihm zur Seite stand Alexander Graf Dohna-Schlobitten, der zugleich auf die dringenden Empfehlungen des Reichsfreiherrn und unter Zureden Hardenbergs 1808 zum Minister des Inneren ernannt wurde. Als Dohna den Plan seines Vorgängers einer Zusammenfassung der obersten Staats- und Verwaltungsbehörden im Staatsrat verwirklichen wollte kam es zum Konflikt mit seinem Kabinettschef Karl August von Hardenberg. Der leitende Minister interpretierte die Schaffung einer über ihm stehenden Zentralbehörde als einen Angriff auf seine Stellung. Als Hardenberg Staatskanzler wurde, nahm Dohna-Schlobitten im November



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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Stein konnte bei ihm keine Rede sein.85 Eine strikt zentralisierte Verwaltung nach französischem Muster, um gegen die noch bestehenden korporativen und patrimonialen Herrschaftsträger vorzugehen, war in seinen Augen unabdingbar, um die Reformziele zu erreichen und zu sichern.86 Hardenbergs Primat lag auf der Durchsetzung der Verwaltung, die einzurichtende Repräsentation sollte vor allem der Vermittlung der Regierungs- und Verwaltungsmaßnahmen in der Öffentlichkeit dienen. Das „Interesse“ der „Nation“ an der Staatsverwaltung sollte durch die Repräsentanten geweckt, weniger ihre Mitgestaltung eingefordert werden.87 Unter diesen anderen Vorzeichen blieb Hardenberg aber an dem ursprünglich geplanten ständisch-repräsentativen Projekt interessiert. Der Aufbau sollte sich „von unten nach oben“ entwickeln, indem von der Gemeinde über den Kreis und die Provinz bis zur gesamtstaatlichen Ebene durch indirekte Wahlen Repräsentanten durch die jeweils untere Stufe gewählt würden.88 Neigte Hardenberg um 1807 ebenfalls noch den Steinschen Ideen einer „Amalgamierung“ von „Nation“ und „Verwaltung“ zu, entfernte er sich zwischen 1807 und 1810 als Zeitzeuge der ständischen Experimente und Misserfolge des Ministeriums Dohna-Altenstein von solchen Vorstellungen. Aber noch lange konnte er sich nicht zum Prinzip moderner Partizipation nach den Kriterien allgemeiner Rechtsgleichheit (mit Besitzbindung) durchringen. Er strebte vielmehr eine „vernünftige Rangordnung“ der neuentworfenen „Staatsbürger“ an, die nach Leistungskriterien legitimiert werden, und nicht nur Gleichheit vor dem Gesetz, sondern auch Steuergleichheit in einer freien Wirtschaftsgesellschaft beinhalten sollte.89 Als autonom begründeten Herrschaftsstand unterhalb und neben der Staatsgewalt wollte Hardenberg zwar die (adlig dominierten) Stände beseitigen, indem die politische Herrschaft monopolisiert und auf alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen ausgedehnt werden sollte; keinesfalls jedoch wollte er den landsässigen Adel ökonomisch schwächen – im Gegenteil!90 Diese Vermischung von Verwaltungsreform mit Verfassungs- und Gesellschaftspolitik darf mithin als ein besonderes Charakteristikum des preußischen Reformweges gelten.91 Es beruhte auf Präferenzen, die aufgrund politisch-ideologischer Anschauungen und Überzeugungen gesetzt wurden – Ideen darüber, was „Staat“,

1810 aus Protest gegen dessen autoritären Führungsstil seinen Abschied. Vgl. Ernst Walter Zeeden, Hardenberg und der Gedanke einer Volksvertretung in Preußen 1807-1812, Berlin 1940, S. 48. 85 Zeeden, Hardenberg, S. 35. 86 Nolte, Staatsbildung, S. 32-39. 87 Zeeden, Hardenberg, S. 42-45. 88 Diese gestufte, auf indirekten Wahlen aufbauende Verfassungsidee scheint ebenfalls um 1800 im gesamten westlichen Verfassungsdenken vorherrschend gewesen zu sein, vgl. Nolte, Stände, S. 147. 89 Die Idee von einem „allgemeinen Staatsbürgertum“ kann als „festes Rückgrat“ von Hardenbergs politischen Überzeugungen bezeichnet werden, vgl. Zeeden, Hardenberg, S. 47. 90 Nolte, Staatsbildung, S. 41. 91 Ebd., S. 46.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

„Verfassung“ und „Verwaltung“ bedeuteten, und wie sie zueinander in Beziehung stehen. Verwaltungsreform meinte in Preußen nicht ausschließlich zentralisierte, rationalisierte Staatsorganisation, sondern „Beteiligung der Nation“ und Repräsentation der (Besitz-)Bürger, wofür schließlich auch von einer vollständigen staatlichen Herrschaftsausdehnung über den (adligen) Gutsbesitz abgesehen werden sollte. Reinhart Koselleck verwies auf diese sich selbst auferlegten restriktiven Bedingungen der Reformer, welche dazu führten, dass die Frage der Staatsverfassung nach 1806 für lange Jahre unentschieden blieb. Koselleck machte diese Selbstbeschränkung vor allem im Vorzug ökonomischer Reformen aus, wofür wesentlich Hardenberg verantwortlich zeichnete. Diese Präferenz einer Wirtschaftsreform erklärt sich aber allein aus dem selbstgewählten Ziel, eine Repräsentation auf der Grundlage einer „Gesellschaft freier Eigentümer“ einzurichten, die zum Zeitpunkt der Reformen ja noch gar nicht existierte.92 Noch beherrschten die Erb-Strukturen des Landadels den Markt an Grund und Boden, der erst durch die Wirtschaftsreformen zu dynamisieren war, bevor die Einrichtung einer Repräsentation in Angriff genommen werden konnte, welche dann tatsächlich die alten Ständestrukturen überwand!93

2.2.3.

Repräsentationsfrage und Adelsreform

Die Idee einer historisch gegründeten Repräsentation spielt dem Adel neue Chancen zu Stein und die ihm nahestehenden Reformer gerieten mit ihrer Gesellschaftspolitik unbewusst in ein „semantisches Spannungsfeld“ (Willibald Steinmetz): einerseits beabsichtigten sie über die (Neu-)Schaffung von Institutionen die Bildung einer „preußischen“ Nation überhaupt erst vorzubereiten, die emotionale Bindung „des Volkes“, bzw. seiner „Repräsentanten“ an den Staat zu befördern.94 Andererseits wollte nicht nur Stein bei dieser Institutionenbildung möglichst große Rücksicht auf die überkommenen Einrichtungen nehmen, auf historische Grundlagen der neu zu bildenden Institutionen zurückgreifen: „Soll eine Verfassung gebildet werden, so muß sie geschichtlich sein. Wir müssen sie nicht erfinden, wir müssen sie erneuern.“95 Wenn Stein auch klar war, dass man in den deutschen Verhältnissen

92 Ebd., S. 84f. 93 Dies erklärt auch, warum Stein an einer geschriebenen Konstitution gar nicht, Hardenberg erst sehr spät interessiert war, so Nolte, Staatsbildung, S. 82. 94 Willibald Steinmetz, Steins Institutionenbegriff und das Beispiel des englischen Parlaments, in: Heinz Duchhardt/Karl Teppe (Hrsg.), Karl vom und zum Stein: der Akteur, der Autor, seine Wirkungsund Rezeptionsgeschichte, Mainz 2003, S. 1-27, hier S. 9-10. 95 So die berühmte Formulierung in einer Denkschrift Steins über die Einrichtung der Oberpräsidien der Provinzialbehörden, Münster 20. August 1816, vgl.: Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 455, S. 537-540, hier S. 539. In einem Brief an Schlosser vom 1. Mai 1817 betonte Stein einmal mehr, dass es bei den



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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„neue Einrichtungen und Verfassungen“ schaffen müsse, so wollte er diese doch mit dem „vorhandenen Zustand der Dinge“ und der Geschichte verknüpft sehen, sonst erhalte die „neue Institution ein abenteuerliches Dasein ohne Vergangenheit und ohne Bürgschaft für die Zukunft“, wie er 1816 in einem außerpreußischen Kontext einmal formulierte.96 Während seiner Zeit in Münster hatte Stein in seinem Bemühen um eine historische Begründung sogar noch weiter zurückgegriffen, und sich auf „die alte deutsche Verfassung“ der Germanen berufen.97 Diese „semantische Spannung“ zwischen Erschaffung neuer Institutionen und deren Legitimation durch historisch gewachsene Einrichtungen spielte dem Adel daher nicht nur als faktisch größtem Grundbesitzer, sondern auch als historischer Korporation zweifach neue Chancen für die Berücksichtigung bei einer Elitenreformierung zu. Schon 1802 warnte Stein „vor dem zur Mode gewordenen Hass gegen den Adel“. Nicht dessen „Monopol der Stellen, Stammbäume, Präbenden, sondern das Corpus der großen Landeigenthümer“ bilde den erhaltenswerten Kern dieser Sozialformation, weil diese „[...] der Natur der Sache nach Einfluß haben und durch unauflösliche Bande an das Interesse des Landes gekettet sind.“98 Denn Stein (und die Mehrheit der theoretisierenden Zeitgenossen) lehnte eine „interesselose“, d.h. nicht durch Gut und wirtschaftliche Aktivitäten an den Staat gebundene Führungsgruppe ab – nicht nur bei Stein, sondern in zahlreichen ständepolitischen Reformschriften der Zeit tauchte als abschreckendes Gegenbild dieses Politikerideals immer wieder die Figur des „Advokaten“ auf. Denn der strebe, ohne besondere Rücksicht auf eigene ökonomische Interessen und materiell gebundene Abhängigkeiten nehmen zu müssen, keine Politik des kompromissorientierten „Ausgleichs“ der sozialen Konflikte an, sondern erkenne gerade im gegenseitigen Aufwiegeln der verschiedenen Parteien den größten Vorteil für sich.99

Verhandlungen über die Verfassung nicht um die Schließung eines neuen „Gesellschaftsvertrages“ gehe, denn Preußen sei „keine Kolonie“, in der „weder Volk noch Regent Recht und Pflichten gehabt“ hätten, vgl. Ebd., Nr. 528, S. 616-618, hier S. 617. 96 In der Denkschrift „Über die Herrenbank“ zum Problem des Zweikammerproblems in Baden, 10./12. Februar 1816, zit. nach Steinmetz, Institutionenbegriff, S. 9. 97 Aus dieser Motivation erklärt sich auch Steins Faszination für die englische Verfassung, die er wie viele Zeitgenossen als eine im Kern „altgermanische“ interpretierte, vgl. Lehmann, Freiherr vom Stein, Bd. 2, S. 83. Theodor Schmalz z.B. behauptete in seiner Schrift „Ansicht der Ständischen Verfassung der Preußischen Monarchie“ von 1822, dass umgekehrt „England immer dankbar anerkannt [habe], dass aus Deutschlands Wäldern die Wurzeln seiner Verfassung stammen“, vgl. Hartmann, Kontroverse. Hingegen lehnte Stein 1819 die Benutzung englischer Begriffe für die beabsichtigten neuständischen Einrichtungen in Preußen ab, so die von Niebuhr in einem Verfassungsvorschlag gebrauchten Begriffe „Oberhaus“, „Freeholders“ und selbst „Friedensrichter“ (einen Begriff, den er 1808 noch selbst benutzte), vgl. Mayer, England als Vorbild, S. 43. 98 Brief an Sack, 2. Oktober 1802, vgl. Pertz, Aus Steins Leben, 1856, 1, S. 118f. Siehe ebenso Max Lehmann, Freiherr vom Stein, Leipzig 1902, Bd. 1, S. 253. 99 Dieses „Schreckbild“ des „Advokaten“ könnte nicht schärfer mit Max Webers Forderungen an den

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

Der Adel sollte daher die zentrale Säule einer erneuerten Staats-„Elite“ bilden, deren erstes Qualifikationsmerkmal der große Grundbesitz war. Zudem aber sei der Adel, wie die ständische Gliederung der Gesellschaft überhaupt, historisch legitimiert.100 So designierten die Überlegungen des bis 1808 maßgeblichen Reformers den Adel nicht nur als größten Grundbesitzer zum einem Hauptbestandteil einer neudefinierten Repräsentantenschicht. Sondern zugleich zu einem Garanten der historischen Kontinuität dieser Gruppierung, ihrer Institutionen und Funktionsweisen. Die Öffnung und Überlappung von Adel und Bürgertum, kurz: die soziale Zusammensetzung der neuen Basis einer Landbesitzerschicht aus überkommenen und neu Privilegierten sollte die neue „Verfassungsordnung“ an die Geschichte rückbinden und dadurch stabilisieren.101 Noch in seinem „politischen Testament“, einer im Wesentlichen von Schön verfassten Schrift, die er nach seiner durch Napoleon erzwungenen Dienstentlassung im Herbst 1808 den Mitgliedern des Königshauses wie des Staatsrates übersandte, mahnte er neben den notwendigen weiteren Schritten der „Gemeinheitsteilung“, der Aufhebung der Fronarbeit, der Einführung einer Staatsrepräsentation, der Erziehung der Jugend zu Religion und Vaterlandsliebe ausdrücklich eine Stärkung des Adels an.102 Neue Eliten aus reformiertem Adel: ein gemeineuropäisches Thema? Dem in der Literatur immer wieder gern erhobenen Vorwurf, dieses reformerische Leitbild im Umfeld Steins sei schon im Ansatz nicht progressiv genug, und daher zu verständigungsbereit mit den (adligen) Interessenvertretern der altständischen Welt gewesen, wäre entgegenzuhalten, dass sich dieses politische Ideal weit näher an der damaligen gesamteuropäischen „Normalität“ politischer Erwartungen bewegte, als die Alternativen, die aus der Perspektive heutiger modernisierungstheoretischer

modernen Politikertyp kontrastieren: Weber sah gerade in der wirtschaftlichen „Interesselosigkeit“ das wesentliche Qualifizierungsmerkmal für den modernen Politiker. Weshalb der Rechtsanwalt mit seiner (scheinbaren?) Distanz zu den „privatwirtschaftlichen Alltagsinteressenkämpfen“ die ideale Besetzung für diesen Politikertyp sei! Vgl. Weber, Wahlrecht, S. 274. 100 Zu Steins Auffassungen über den Adel im Einzelnen, Erich Botzenhart, Adelsideal und Adelsreform beim Freiherrn von Stein, in: Westfälisches Adelsblatt 5, 1928, S. 210-241. Ders., Die Staats- und Verfassungsideen des Freiherrn vom Stein: Ihre geistige Grundlagen und ihre praktischen Vorbilder, Tübingen 1927. Ebenso G. H. Pertz, Aus Steins Leben, Bd. 1, S. 35, S. 259, S. 332f. 101 Insbesondere seit der französischen Revolution war nicht nur das Bedürfnis verbreitet, traditionale Verfassungsverhältnisse theoretisch neu zu legitimieren, sondern auch neue Verfassungsprojekte historisch zu begründen, vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches, Historische Forschungen, Bd. 64, Berlin 1999, S. 303. 102 Sein „politisches Testament“ vom November 1808 führte zudem einige für Stein in ihrer Radikalität untypische Grundsätze auf, die tatsächlich auf seinen liberalen Mitarbeiter Theodor v. Schön zurück gehen, vgl. Nolte, Staatsbildung, S. 29.



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Idealentwürfe formuliert werden.103 Gerade der französische Vergleichsfall illustriert dies. Dass die preußischen Reformer die erwünschte Repräsentantenschicht großer Landeigentümer in ihrem Kern und Wesen letztlich als einen neuen, bzw. erneuerten Adel imaginierten, war keineswegs eine preußische „Anomalie“, die erklärungsbedürftig wäre: selbst Napoleon sah auf der doch ganz anders gearteten Grundlage der post-revolutionären Gesellschaftsordnung Frankreichs keinen anderen Weg, eine sozialpolitische Absicherung und Festigung der neuen französischen Machtverhältnisse zu erreichen, als durch die Bildung einer an Grundbesitz „haftenden“, sich durch Vererblichkeit perpetuierenden und über geschichtliche Kontinuität legitimierenden Elite – also eines neuen Adels! Seit 1806 experimentierte er mit der Bildung von vasallitischen Satellitenstaaten seines „Grand Empire“ und nachgeordneten Lehnfürstentümern aus Territorien eroberter Gebiete in Italien und Deutschland, die er mit neuen Königs- und Fürstentiteln versehen vor allem an Mitglieder seiner Familie vergab. Seine diesbezüglichen Dekrete vom 30. März 1806 zielten auf die Bildung einer vom Thron abhängigen, aber materiell kräftig abgesicherten Aristokratie mit titularen Würden.104 Offenkundig schien ihm eine Unterstützung durch die mittleren und unteren Bevölkerungsschichten herrschaftspolitisch unzureichend, vielmehr eine Neuhierarchisierung der Gesellschaft, sogar eine „hiérarchie sociale héréditaire“ als Grundlage für eine dauernde politische Ordnung unabdingbar. Nur „Würde“ und „Reichtum“, so sein Kalkül, könnten das Sozialprestige verleihen, das einer Führungsschicht zur Erfüllung herrschaftspolitischer Funktionen unverzichtbar sei. Eigentümlich an Napoleons Vorgehen war, dass er diese neue Aristokratie von der Spitze her begründete: erst zwei Jahre nach den neuen Königs- und Fürstentiteln stiftete er am 1. März 1808 in zwei Statuten einen neuen „Adel“, deren Bestimmungen diesem eine klar definierte, vierfach gestufte Gliederung gaben, und die Verleihungsund Vererbungsmodalitäten sowie Einkommensvoraussetzungen festsetzten.105 In

103 Diese Kritik an Stein und dem preußischen Reformansatz überhaupt, findet sich vielfach variiert. Sie bildet sogar eine Grundthese von Nolte, Staatsbildung. 104 Um die nachrevolutionäre Besitzordnung in Frankreich nicht durch administrative Eingriffe zu erschüttern, die zugleich seine Herrschaftslegitimation als „Erbe der Revolution“ gefährdet hätten, blieb Napoleon keine andere Möglichkeit, als seine neue Adelspolitik auf nichtfranzösischem „eroberten“ Besitz zu begründen – allein durch allmählichen Gütertausch und vorübergehende Besitzmobilisierung der außerfranzösischen „Dotationen“ zugunsten französischen Grundbesitzes hätte dieser neue Adel auch in Frankreich Fuß fassen können, vgl. zur napoleonischen Neuadelspolitik: Helmut Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 18071813, Göttingen 1973, S. 53-62, bes. S. 56f. 105 Der Adel war in Herzöge, Grafen, Barone und Ritter gegliedert. Die Nobilitierung konnte aufgrund einer administrativen Funktion oder allein kaiserlicher Entscheidung erfolgen, wobei den Stufen der Administration und der Bedeutung der Ämter die Titel entsprachen, z.B. der Herzogstitel für die Erstgeborenen der Würdenträger; Grafentitel für Minister, Senatoren, Staatsräte und Erzbischöfe; den Präsidenten der departementalen Wahlkollegien und den Bischöfen der Baronstitel. Zur Führung der Titel musste ein Mindesteinkommen nachgewiesen werden: 200.000 Franken für Herzöge, 30.000

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

diese neue Adelsordnung wurde nicht nur die schon 1802 gegründete Ehrenlegion als unterste Stufe der „Ritter“ eingebunden, sondern weitere privilegierte Gruppen, die in den vorangegangenen Jahren aus unterschiedlichen Initiativen einer Reprivilegierungspolitik hervorgegangen waren: Großwürdenträger, Marschälle und hoher Klerus, die Senatoren und die Spitzen der Administration.106 Diese neue Adelsordnung war zudem darauf angelegt, die zu einer sozial-kulturellen Verschmelzung bereiten Teile des historischen Adels in sich aufzunehmen. Es war bezeichnend, dass sich Napoleon in dieser Politik ganz wie die preußischen Reformer an das Beispiel der englischen Adelsverhältnisse anlehnte:107 das schon von Montesquieu aufgegriffene ältere Konzept von einem „corps intermédiaire“ betrachtete auch er als notwendiges Verbindungsglied zwischen Thron und Volk; ein herausragender materieller Wohlstand dieses neuen Adels war durch die Stiftung von Majoratsgütern zu sichern, die zugleich die Vererblichkeit der verliehenen Titel garantierten; diese Güter vererbten sich unteilbar und unverschuldbar in Primogenitur allein in männlicher Linie. Um dies zu ermöglichen, musste dem Code Civil 1807 in widersprüchlicher „Ergänzung“ ein neuer Passus eingefügt werden, welcher das bisherige Verbot von Familienstiftungen und Fideikommissen für eben diese kaiserlichen Dotationen aufhob. Kon­ trolliert werden sollten diese Dotationsgüter und der neue Adel durch ein ebenfalls neu gegründetes „Heroldsamt“, dem „Sceau des Titres“. Welche Bedeutung der erwünschten Immobilität der materiellen Basis dieser neuen Elitenformation zugeschrieben wurde wird daraus ersichtlich, dass zwar Geldvermögen für das nachzuweisende Mindesteinkommen der verschiedenen Adelsstufen angerechnet werden konnte, dieses Geld aber in dauerhaften Anlageformen wie Hypotheken zu investieren war.108

für Grafen, 15.000 für Barone und 3.000 für Ritter, vgl. Berding, Herrschafts- und Gesellschaftspolitik, S. 60. 106 Entgegen der klassischen Auffassung geht die neuere Forschung über die französische Revolution davon aus, dass mit Ausnahme der Jahre der Jakobinerherrschaft 1794-1797 die 1790 dekretierte Abschaffung des Adels nicht so abschließend und vollkommen erfolgte, wie es diese Absichtserklärung vermuten ließ. Dies erleichterte ein Anknüpfen des neuen napoleonischen Donataradels an die ältere Adelsformation, vgl. Bleeck/Garber. Adel und Revolution, S. 81. 107 Schon vor der Gründung des französischen Kaiserreiches, im Zeichen des Scheiterns der Revolutionsregierungen (Sturz des Direktoriums), wurde eine Reihe von Vorschlägen zu einem neuen Adel eingereicht. Ausschlaggebend wirkten die Vorschläge des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten, Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord, der ausdrücklich mit Fragen der inneren Reorganisation des Empire betraut worden war. Am 26. November 1805 hatte dieser einen Plan zur Neukonstituierung eines erblichen Adels vorgelegt. Talleyrand konzipierte den Adel ganz nach Montesquieu als Gegengewicht zur politischen Zentrale, wogegen Napoleon in keinem Falle den neuen Adel als Machtkonkurrenz verstanden wissen wollte, und entsprechend diesem keine eigenständige Machtressource oder Legitimation jenseits des Monarchen zugestand, vgl. Berding, Herrschafts und Gesellschaftspolitik, S. 55f. 108 Vgl. Berding, Herrschafts- und Gesellschaftspolitik, S. 61f.



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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Die napoleonische Neuadelspolitik wirkte sich nicht nur im Westen, vor allem in dem als „Modellstaat“ entworfenen Königreich Westfalen aus, sondern auch beim östlichen Nachbarn Preußens, dem Herzogtum Warschau. Diesem im Frieden von Tilsit gebildeten polnischen Rumpfstaat hatte Napoleon am 22. Juli 1807 eine Verfassung oktroyiert. Diese Verfassung markierte sehr deutlich die elitenpolitische Wende der napoleonischen Politik. Anders als bei dem in Frankreich erst mit den Statuten vom 1. März 1808 geschaffenen neuen Adel baute die Warschauer Verfassung auf dem bestehenden Adel auf, erhielten Adel und Klerus sofort eine bedeutende Stellung zuerkannt. Der darin liegende Widerspruch zu den Idealen der Revolution wurde von den deutschen Zeitgenossen deshalb gerade am Beispiel der Warschauer Verfassung diskutiert.109 Bemerkenswert an dieser Warschauer Verfassung waren vor allem die §§ 35 und 54, die den Adel in der Repräsentation nicht nur numerisch, sondern auch durch die exklusive Wahlberechtigung zu Friedensrichtern (!), Districts- und Departements-Räten privilegierten! Die Parallelen nicht nur zur den strategischen Ansätzen der preußischen Reformversuche, sondern selbst in den gewählten Begriffen und Amtsbezeichnungen sind einmal mehr bemerkenswert, auch wenn jene aus nachvollziehbaren Gründen davor zurückscheuten, ihre neuständischen Ziele unter Verweis auf das Beispiel des französischen „Erzfeindes“ zu formulieren.110 Die preußischen Reformer bemühten, wovon noch zu sprechen ist, direkt das englische Vorbild. Im wesentlichen Unterschied zum napoleonischen Ansatz wiesen sie jedoch die Idee eines reinen „Staatsadels“ zurück, d.h. eine Führungsschicht, die ihre Existenz und Legitimation allein dem Staatsoberhaupt verdankte.111 Der Verweis auf die Ähnlichkeit der französischen Neu-Adelspolitik zu der preußischen unterstreicht allerdings die ganz ähnliche Lagerung der Elitenproblematik, mit der sich die post-revolutionäre französische Gesellschaft und die durch eine erheblich größere Kontinuität ausgezeichnete preußische Gesellschaft konfrontiert sahen. Dieses Beispiel illustriert, dass die preußischen Neuadelspläne den sonstigen Reformabsichten keineswegs widerstreben, eine vom Reformweg abweichende restaurierende Zielsetzung verfol-

109 So z.B. in dem Artikel Anonymus, „Ueber die Beybehaltung des Adels in dem Herzogthum Warschau“, in: Minerva. Ein Journal Historischen und politischen Inhalts, Bd. II, Hamburg 1808, S. 512520. 110 Mit diesem Verweis auf den französischen Fall soll keinesfalls suggeriert werden, dass die napoleonische Adelspolitik direkten Einfluss auf die entsprechenden Überlegungen im preußischen Reformerkreis ausgeübt hätte. Die Kontroverse über einen generellen französischen Einfluss auf die preußische Reformpolitik darf als abgeschlossen und heute nur noch als von historiographischem Interesse gelten. Um 1900 entbrannte darüber eine polemische Debatte, in der einerseits die französische Gesellschaftspolitik nach der Revolution apodiktisch zum regelrecht „kopierten“ Vorbild der preußischen Reformpolitik überhöht wurde (Max Lehmann), bzw. jegliche Einflüsse mit gleicher Vehemenz geleugnet wurden (Ernst v. Meier). Vgl. zu dieser Auseinandersetzung Walther Hubatsch, Die Stein-Hardenbergschen Reformen, Darmstadt 1977, S. 65-68 („Die ‚französischen Einflüsse‘“). 111 Lehmann, Freiherr vom Stein, Bd. 1, S. 252.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

gen mussten, sondern von den Reformern sogar als widerspruchsfrei notwendige Maßnahme zur dauernden Absicherung der erzielten neuen sozialen und ökonomischen Verhältnisse wahrgenommen werden konnten. Die Idee der Repräsentation stellt neue Anforderungen an die binnenständischen Strukturen der Adelskorporation Die auffälligen Parallelen der preußischen Vorstellungen zur zeitgleich einsetzenden napoleonischen Neuadelspolitik verdeutlichen einmal mehr die semantische Spannung in die sie eingebunden waren. Trotz ihres scheinbar traditionalen Ansatzes musste die Suche nach einer neuen Adelslegitimation auch in Preußen dynamisierend wirken, überkommene, altständische Auffassungen in Frage stellen. Auch wenn ein totaler Bruch mit den politischen Verhältnissen des alten Regimes in Preußen nicht eingetreten war, deuteten die Implikationen der avisierten Elitenpolitik in eine ganz ähnliche Richtung wie in Frankreich: eine neue politische Elite sollte am rationalen Staatsinteresse ausgerichtet, also in einem letztlich modernen Sinne neu konstituiert und legitimiert werden! „Eignung“ in diesem Sinne, objektiv messbar an Vermögen und Grundeigentum, sollte die Repräsentanten vordringlich qualifizieren.112 Konsequent deutete Stein die ihm vorschwebende neue Repräsentantenschicht nicht mehr statisch, sondern vorsichtig im Sinne einer perpetuierlichen Elitenzirkulation: Alle Kräfte der Nation werden in Anspruch genommen, und sinken die höheren Classen derselben durch Weichlichkeit und Gewinnsucht, so treten die folgenden mit verjüngter Kraft auf, erringen sich Einfluss, Ansehen und Vermögen, und erhalten das ehrwürdige Gebäude einer freien, selbständigen, unabhängigen Verfassung.113

Dagegen hatte die ältere Vorstellung von „Repräsentation“ der vorrevolutionären Gesellschaft danach getrachtet, die einzelnen ohnehin Konsensberechtigten zu einer handlungsfähigen Einheit zusammenzuschließen, und diese nicht etwa erst zu dieser Befugnis zu legitimieren!114 Dieses veränderte Verständnis über die Zusammensetzung und kontinuierliche soziale Erneuerung der „Repräsentation“ musste entscheidende Auswirkungen auf die auch dem Adel anzulegenden Elitenkriterien haben. Stein zeigte sich vor wie auch nach 1815 grundsätzlich bereit, solche neuen Elitenkriterien für den Adel zu akzeptieren. Noch in den ständepolitischen Auseinandersetzungen von 1817/18 hielt er gegenüber dem niederrheinischen Adel fest, dass die adligen Korporationsrechte im Gesamtstaat neu definiert werden müssten auch wenn seiner Ansicht nach zwischen einer politischen Aktivierung des (bürgerlichen) Mittelstandes und einem Festhalten am Adel als erstem politischen Stand kein Wider-

112 Zeeden, Hardenberg, S. 22. 113 Stein, Nassauer Denkschrift Juni 1807, vgl. Lehmann, Freiherr vom Stein, Bd. 2, S. 401-403. 114 Stollberg-Rilinger, Vormünder, S. 299.



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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spruch bestünde.115 Auf die in der Forschungsliteratur bis heute andauernde Debatte über die bei oberflächlicher Betrachtung scheinbar „widersprüchlichen“ Positionen Steins, und ob diese eigentlich als „liberal“ oder doch „konservativ“ zu bezeichnen sind, ob Stein gar eine „konservative“ Wende um 1815 vollzogen habe, wird unten noch näher eingegangen.116 Doch das Axiom einer verbesserten gesellschaftlichen Repräsentation in, bzw. gegenüber der Verwaltung warf die Frage auf, wie sich die alten korporativen Formationen der Stände in dieser neuen Repräsentation wiederfinden sollten. Welche Gewichtung wäre den überkommenen sozialen Gruppen einzuräumen? Die alt-patrimoniale Gesellschaft verlieh über Generationen erbrechtlich weitergereichte und abgesicherte Unterschiede im Zugang zu Besitz und Ämtern. Wie wäre dann ein Adel neu zu positionieren, wenn die Rittergüter vollständig privatisiert, die Teilnahme an politischer Mitsprache wie administrativer Kooperation nicht mehr geburtsrechtlich vermittelt, der Adel ohne besondere Standesethik nur noch als ein Mitbewerber unter anderen auftreten, und militärische wie zivile Ränge nach Leistung vergeben würden?117 Darin lag offensichtlich ein Widerspruch. Die Verschränkung von Staatsnationsbildung und Elitenneuformierung über das Mittel einer Repräsentation erforderte geradezu zwingend eine Adelsreform. Solange keine allgemeine soziale Revolution erfolgen, und sogar ein erheblicher Teil der alten geburtsständischen Elitenangehörigen in corpore in die avisierten neuen Funktionsstände überführt werden sollte, konnte nur eine Adelsreform den Widerspruch zwischen einer sozialen, mit ständischen Elementen verbundenen Stratifikation und einer politischen Funktionsteilung aufheben. Mit diesem Problem hatte sich schon die Adelskritik der Spätaufklärung auseinandergesetzt.

115 Die zeitgenössisch verbreitete Referenz an das (alt-)ständische Kurienprinzip sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass damit tendenziell die Stände keine qua Korporations- und Herrschaftsrechten persönlich Teilhabeberechtigten mehr waren, sondern sich zu (ökonomisch definierten) Funktionsklassen wandelten, vgl. Stollberg-Rilinger, Vormünder, S. 302f. 116 Mit der Neigung, Stein vor allem in den Jahren nach 1815 gar als „konservativen“ Bremser der preußischen Verfassungsentwicklung darzustellen, fasste Michael Hundt kürzlich diese bis heute unbefriedigenden Antwortversuche zusammen, vgl. Ders., Stein und die preußische Verfassungsfrage in den Jahren 1815 bis 1824, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Stein. Die späten Jahre des preußischen Reformers 1815-1831, Göttingen 2007, S. 59-82. Vgl. unten Kap. 2.4.3. 117 Der Adel würde also nicht mehr das Land „beherrschen“, sondern nur noch Agrarunternehmer sein, er würde keine „herausgehobene, ererbte Staatsnähe“ mehr besitzen, keine „ausgezeichnete Standesethik“ (Ehre), und jeder Versuch einer partikularen Standesabgrenzung würde als gesellschaftsschädigend aufgefasst, vgl. Bleeck/Garber. Adel und Revolution, S. 83f.

98  2.2.4.

 Teil I: Staatsform und Adelsreform

Von der Adelskritik der Spätaufklärung zum Leistungskonzept eines „neuen Adels“

Der Aufklärung des 18. Jahrhunderts war der Adel keineswegs durchgängig als „Gedankending ohne alle Realität“ erschienen.118 Ständisch-orientierte, „konservative“ Aufklärer des Bürgertums fanden sich vor allem unter Beamten und Professoren, welche eine erbständische Gesellschaftsordnung mit einem Adel an der Spitze verteidigten, und mit „aufgeklärten“ Rationalitätsargumenten als „naturgegeben“ oder funktionslogisch neu zu legitimieren suchten. Gerade im Alten Reich wurde der Adel noch zu den Selbstverständlichkeiten des Lebens gerechnet, auch wenn seine Reform als nötig empfunden wurde.119 So wurden in Zuschreibungen des Adligseins anthropologische Konstanten des menschlichen Sozialverhaltens gesehen, die in der „Natur des Menschen“ selbst gründeten: die Idee des adligen Erbcharismas etwa sei in dem „unserer Vernunft eigentümlichen Hang zur Analogie“ verwurzelt, der zur Folge habe, dass die Menschen eine natürliche Achtung für die Nachkommen verdienstvoller Mitglieder der Gesellschaft entwickelten.120 Strenger rationaler Prüfung möge eine solche generationenübergreifende Analogiebildung nicht standhalten können, doch sei sie als Bestandteil der menschlichen Beschaffenheit als unabänderlich zu berücksichtigen.121 Andere Publizisten suchten das historische Phänomen der erbständisch-adligen Privilegierung auf funktionslogische oder materielle Ursachen zurückzuführen. Die dauernde, schließlich notorisch werdende Vererbung sozialer Privilegien, die ursprünglich allein mit der Übertragung bestimmter Gesellschaftsfunktionen (Kriegs- und Verwaltungs-

118 So die heute noch immer gern zitierte abschätzige Meinung Immanuel Kants über den Adel in seiner „Metaphysik der Sitten“, Königsberg, S. 329, zit. nach: Hirsch, Aufklärerische Adelskritik, S. 33. 119 Die These einer „konservativen Aufklärung“, die grundsätzlich antirevolutionär dem heutigen Bewusstsein lange verschollen war, untersuchte ausführlich Jörn Garber, Drei Theoriemodelle frükonservativer Revolutionsabwehr. Altständischer Funktionalismus, Spätabsolutistisches Vernunftrecht, Evolutionärer „Historismus“, in: Jahrbuch für deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv, Institut für deutsche Geschichte, Band VIII, 1979, S. 65-101, hier bes. S. 68: Ältere Vorstellungen eines Vernunftrechts konnten sich dabei mit funktional gefassten (Berufs-)Ständeideen verbinden, indem eine individuell begründete Gesellschaftstheorie den korporativen Ständebegriff negierte, ohne die sich abzeichnende „bürgerliche Gesellschaft aus der Verfügungsgewalt des absoluten Staates, bzw. der sozial gestuften Ständeordnung zu entlassen. Der „süsse Traum“ (allgemeiner) Gleichheit wurde dabei in die „Rousseauschen Waldrepubliken“ verwiesen, z.B. im Artikel „Etwas über weibliche Stifter“ in der Zeitschrift „Deutsches Museum“ (hrsg. v. H. C. Boie, C. K. W. v. Dohm), Leipzig, 1. Bd. 1786, S. 29-41. 120 Bues, Adelskritik – Adelsreform, S. 47f. „Verdienst“ bezog sich in der zeitgenössischen Bedeutung nicht auf eine (objektiv) messbare „Leistung“, sondern auf die „Tat“: neben moralischen, geistigen, wirtschaftlichen Qualitäten muss die (herausragende) „Tat“ des Individuums treten, um den Ausweis adliger Befähigung zu geben, vgl. Ebd., S. 35. 121 So z.B. der Dichter und Schriftsteller Christoph Martin Wieland (1733-1813), der den „Schein“ des Adels als sehr wohl real bezeichnete, weil die Menschen irrational seien und das Bedürfnis hätten, „anzubeten“ und zu „glauben“, vgl. Bues, Adelskritik – Adelsreform, S. 78.



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dienste) an Landbesitz geknüpft waren, hätte sich schließlich zu Herrschaftsrechten verfestigt.122 Während das letzte Argumentationsmuster die adligen Privilegien und den Adel als Stand allein auf ein „Gewohnheitsrecht“ zurückführten, offerierten wieder andere Stimmen, z.B. Friedrich Wilhelm Basilius v. Ramdohr (1757-1822), eine deutlich anspruchsvollere soziokulturelle Adelslegitimation: die adlige Erziehung und Lebensweise sei darauf angelegt, den einzelnen Adligen darauf vorzubereiten, den tragischen Konflikt zwischen der Augenblicksnotwendigkeit öffentlicher Pflichten und Aufgaben und dem persönlichem Ethos auszuhalten. Dies befähige ihn in besonderem Maße zur Übernahme öffentlicher Stellungen.123 So beschränkte sich die Adelskritik bis um 1800 weitgehend auf die Forderung nach Anerkennung der bürgerlichen Werte, der Abschaffung einer begrenzten Zahl adliger Privilegien, wie dem Ämterzugang und der Steuerfreiheit.124 Ein allgemeines, über den Adel hinausgehendes Repräsentationsrecht wurde ebenso wenig gefordert, wie die Aufhebung des privilegierten Gerichtsstandes und vor allem des adligen Offiziersprivilegs – letzteres wurde sogar von Adelsskeptikern ausdrücklich dem Adel zuerkannt.125 Trotzdem waren sich fast alle Aufklärer darüber einig, dass der Adel in seiner aktuellen Verfassung nicht zukunftsfähig sei. Es stellte sich die Frage, wie der Adel als bevorrechteter Stand mit besonderer Ehre in gewandelter Form weiter bestehen könne.126 Unter den Voraussetzungen der öffentlichen Meinung des späten

122 In der Literatur wird vor allem Justus Möser als Vertreter einer solchen „ständischen“ oder „konservativen“ Aufklärung genannt. Möser begründete die ständischen Unterschiede ebenso wie Ernst Brandes mit diesen unabänderlich gegebenen materiellen, aber auch immateriellen Unterschieden in den „Startvoraussetzungen“ der individuellen Biographie: „Man hat ganz dabei vergessen, wie mit so verschiedenen körperlichen Kräften die Menschen auf die Welt kommen, und welchen Unterschied Erziehung und Umstände, die der Staat, wenn er auch noch so viel für die Erziehung tut, so wenig in seiner Gewalt hat, hervorzubringen; einen Unterschied, den keine Regierungsform heben kann“, Ernst Brandes, Über den politischen Geist Englands, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 7, 1786, S. 101126, hier S. 117. Vgl. dazu Hirsch, Aufklärerische Adelskritik, S. 33-34. 123 Mit dieser Argumentation, die er in einem Artikel der „Berlinischen Monatsschrift“ (Bd. 17, S. 124) von 1791 vorbrachte, suchte Ramdohr das Vorrecht des Adels auf die führenden Stellungen im Staat zu verteidigen, vgl. Bues, Adelskritik – Adelsreform, S. 59-60. Ramdohr hatte zeitgleich mit Ernst Brandes August Wilhelm Rehberg in Göttingen Jura studiert, und mit diesen in der Studentenverbindung „Z.N.“ gewesen. Als hannoverscher Jurist wechselte er 1806 in den preußischen diplomatischen Staatsdienst. Er dilettierte als Kunstkritiker und Journalist. Bekannt wurde er durch den sog. „Ramdohr-Streit“ von 1809, in welchem er das Bild „Kreuz im Gebirge“ von Caspar David Friedrich, und mit ihm die gesamte Romantik scharf kritisierte. 124 Selbst die bürgerliche Kritik bezüglich der „Nützlichkeit“ des Adels blieb altständisch orientiert – der Adel sollte keine Gewerbe auf seinen (steuerlich exempten) Gütern betreiben, um keine Konkurrenz des Bürgerstandes zu bilden, vgl. Bues, Adelskritik – Adelsreform, S. 34f. 125 Bues, Adelskritik – Adelsreform, S. 45-56. Insbesondere auch die Eigentumsverfassung und die Herrenstellung des Adels auf dem Land wurde von der bürgerlichen Adelskritik mit wenigen Ausnahmen nicht in Frage gestellt, vgl. Bleeck/Garber. Adel und Revolution, S. 82. 126 Hirsch, Aufklärerische Adelskritik, S. 12.

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18. Jahrhunderts schien immerhin eine Fortentwicklung oder Verjüngung des Adels unter Beibehaltung des gesamten rechtlichen Gefüges der ständischen Gesellschaft denkbar, wenn nur die Kriterien von Adelszugang und -zugehörigkeit aufgabenorientierter und stärker nach rationalen Gesichtspunkten der Leistung gefasst würde.127 Zwei alternative Wege boten sich dazu an: entweder, indem man den Adel enger und (gemessen an einer Leistungsorientierung) strenger definierte und eingrenzte, oder den Kreis der Adelszugehörigkeit leistungsbezogen gezielt erweiterte.128 Evolutive Adelsreformüberlegungen der Spätaufklärung: Brandes, Möser, Rehberg Die Wenigen, die schon vor 1800 diese beiden Wege einer neu-ständischen Adelsreform in Deutschland skizzierten und gegeneinander abwogen, hatten auf die Elitenvorstellungen des Freiherrn vom Stein den größten Einfluss: Ernst Brandes (1758-1810), Justus Möser (1720-1794) und in deren Gefolge August Wilhelm Rehberg (1757-1836).129 Brandes und Rehberg, Freunde und Studienkollegen Steins, vermittelten ihm zugleich die dauerhaftesten theoretischen Impulse eines englischen Verfassungsvorbildes.130 Vor allem Brandes hatte ihm Montesquieus Werk über den „Geist der Gesetze“ nahegebracht, welches am wirkmächtigsten bis weit ins 19. Jahrhundert die Rolle des Adels als einer „pouvoir intermédiare“, einer vermittelnden Gewalt zwischen der monarchischem Exekutive und der legislativen Gewalt des Volkes, propagierte.131 Gemeinsam lehnten diese drei Inspiratoren Steins die einfache Konser-

127 Eine dringende Forderung war entsprechend, dass der neue „Verdienst-Adel“ sofort und ohne weitere ständische Schranken wie Adelsproben dem alten Adel gleichgestellt würde, vgl. Bues, Adelskritik – Adelsreform, S. 40. 128 Bues, Adelskritik – Adelsreform, S. 63ff. 129 Justus Möser wurde im geistlichen Fürstentum Osnabrück geboren und studierte in Jena und Göttingen Jura. In der komplizierten paritätischen Landesverwaltung Osnabrücks machte Möser eine bemerkenswerte Karriere. Diplomatische Missionen für Osnabrück führten ihn 1763 für acht Monate nach London, wo er bleibende Eindrücke der Verfassung und Staatsverwaltung erhielt. Im Auftrage des englischen Königs, König Georg III. aus dem Haus Hannover, der Vater und Vormund des designierten, aber noch lange minorennen Fürstbischofs Friedrich Herzog v. York war, wurde Möser bis 1783 zum faktischen Leiter der Regierung des geistlichen Fürstentums, vgl. NDB, Bd 17, 1994, S. 687-688. 130 Mayer, England als Vorbild, bes. S. 33-37; Botzenhart, Adelsideal, S. 217. Der Jurist Ernst Brandes (1758-1810), und der Philosoph, Staatsmann und politische Schriftsteller August Wilhelm Rehberg (1757-1836) waren in Hannover zeitweise zusammen aufgewachsen. Stein hatte beide während seines Göttinger Studienaufenthaltes kennengelernt. Zu Steins Göttinger Lektüre über die englischen Verfassungsverhältnisse siehe Steinmetz, Institutionenbegriff, S. 20. 131 Ernst Brandes, geb. in Hannover, hatte in Göttingen Jura studiert. Er wurde wie sein Vater Kanzlei-Sekretär der Universität Göttingen, Kommerzienrat und Geheimer Kabinettsrat in Hannover, Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1806), unter der französischen Besatzung Mitglied der Gouvernements-Commission. Wie Stein hatte er selbst persönliche Englanderfahrungen durch eine Aufenthalt im Jahr 1784/85 während dessen er die Bekanntschaft des britischen Staatsphiloso-



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vierung der bestehenden Ständeverhältnisse ab, obgleich sie den Ständestaat keinesfalls aufgeben wollten. Möser als hoher Beamter und faktischer Leiter der Regierung im Fürstbistum Osnabrück, Brandes als Kabinettssekretär für Universitätssachen in Kurhannover bekamen als Bürgerliche den ausgeprägten Adelsstolz in ihren Landschaften sehr deutlich zu spüren, wussten von den Grenzen, die der Vorzug der Geburt ihren eigenen Karrieremöglichkeiten setzte.132 Ihnen schwebte eine neuformierte Elite vor, die zwar weiterhin vor allem auf dem bestehenden Adel aufbaute, aber stärker als bisher verdiente und geeignete Angehörige anderer Stände aufnehmen sollte.133 Brandes wurde in seinen Ansichten ganz praktisch durch das englische Beispiel angeregt, das er über die enge Verbindung Kurhannovers zu England näher kennengelernt hatte. Eine völlig offene Elitenbildung, wie er sie aus eigener Anschauung in Großbritannien beobachtet zu haben glaubte, schien Brandes für Deutschland allerdings nicht umsetzbar – denn da fehle die „Öffentlichkeit“ und „Transparenz“ des

phen, Publizisten und Politikers Edmund Burke (1729-1797) machte. Burkes „organische“ Staatsauffassung einer kontinuierlichen Entwicklung von Nationen und ihrer Staatsverfassungen hatte großen Einfluss auf Brandes. Nur Freiheit („liberty“) in Verbund mit Ordnung („order“) sei wirkliche Freiheit, und fände ihren Ausdruck in der englischen Volksvertretung, die auf Grundbesitz und Besitz überhaupt gegründet sei. Auch sei der Adel in seinen sozialen Vorrechten zu erhalten. Burkes Hauptwerk „Reflections on the Revolution in France“ beeinflussten stark Brandes eigene Schriften über die französische Revolution: Politische Betrachtungen über die französische Revolution, Jena 1790; und: Ueber einige bisherige Folgen der Französischen Revolution, in Rücksicht auf Deutschland, Hannover 1792. Die geschichtsphilosophische und staatstheoretische Schrift „L’esprit des lois“ wurde 1748 von dem französischen Schriftsteller und Staatstheoretiker Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu (1689-1755) veröffentlicht. Als zentrales Prinzip propagierte Montesquieu darin in absolutismuskritischer Absicht die säuberliche Trennung von Gesetzgebung (Legislative), Rechtsprechung (Judikative) und ausführender Gewalt (Exekutive), die sog. Gewaltenteilung – ein Begriff, der als solcher in dem Werk allerdings nicht vorkommt. Dabei berief er sich auf das – idealisierte – englische Verfassungsbeispiel. 132 Gerade der Hannoveraner Adel war für seinen kastenartigen Abschluss und seinen ausgeprägten Adelsstolz berüchtigt, vgl. Hirsch, Aufklärerische Adelskritik, S. 78, unter Bezug auf: C. S. Krause, Noch etwas über Adelshochmut, in: Deutsches Museum, 2 (1787), S. 428-437. Die Adelskontroverse, die von Möser, Brandes und Ramdohr in der Berlinischen Monatsschrift geführt wurde, nahm auf Anregung der Herausgeber wohl bewusst das Beispiel Hannover auf, als einem besonders ausgeprägten Fall von Adelsherrschaft und Adelshochmut, vgl. Elisabeth Fehrenbach, August Wilhelm Rehbergs Adelskritik und seine Reformbestrebungen im Königreich Hannover, in: Dies., Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Werner Hahn/Jürgen Müller, München 1997, S. 233-246, hier S. 236, Anmk. 18. 133 Hirsch, Aufklärerische Adelskritik, S. 35. Für Preußen war die „Berlinische Monatsschrift“ das zentrale Selbstverständigungsmittel der preußischen Aufklärungsanhänger. Das an der aufklärerischen Diskussion beteiligte Publikum schätzte der Berliner Verleger Friedrich Nicolai auf ca. „2000 Köpfe“: höhere Beamte und Offiziere, Lehrer, Publizisten, Verleger und Geistliche. Da unter ihnen ein hoher Anteil des höheren Adels auszumachen ist, ist eine Eingrenzung der Aufklärer auf das Bürgertum nicht angebracht, vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 25.

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britischen politischen Lebens, das den Einfluss der Herrschenden begrenze und eine freie Elitenauswahl ermögliche, wie auch die standardisierten Ausbildungswege, welche die Kandidaten auf ihre Aufgaben vorbereiteten.134 In den deutschen Territorialfürstentümern seien vielmehr die „Konnexionen“, die Empfehlungen und persönlichen Bekanntschaften, die durch den Namen gestiftet würden, zwar einerseits ein Grund für die adlige Vorherrschaft, jedoch auch eine legitime Form der Elitenrekrutierung! Die „Konnexionen“ als Mittel der Elitenauswahl hätten den Vorteil, geeignete „Kandidaten“ bekannt zu machen, wogegen auf dem normalen Karriereweg nur „Schmeicheleien“ und „moralische Unvollkommenheit“ die Aufmerksamkeit auf eine Person lenken könnten.135 Hohe Geburt als alleiniges Qualifikationsmerkmal lehnte Brandes jedoch ab. Brandes deutete den Adel also funktionell als sozialen Verband, der einerseits finanzielle Unabhängigkeit und persönliche Eignung zahlreicher Kandidaten garantiere könne, vorausgesetzt, die Besetzung von Ämtern diene nicht der Versorgung oder der Befriedigung adliger Ehrvorstellungen. Deshalb dürften auch „besitzlose Landjunker“ nicht für solche Positionen berücksichtigt werden, da sie nicht zum „Befehlen erzogen“ worden seien. Aufstiegskriterium war insofern die Leistungsfähigkeit in Amtspflichten. Bürgerliche sollten bis auf Ausnahmen nicht den Staatsdienst wählen, sondern ihre „herausragende Intelligenz“ der Bildung und Wissenschaft widmen. Die bürgerlichen Ausnahmen seien immerhin vonnöten, um den Adel einem verstärkten Leistungsdruck auszusetzen. Bei vorhandenem Vermögen und herausragenden Leistungen sollten diese Bürgerlichen auch durch Nobilitierung belohnt werden können, nicht zuletzt, um die Ausbildung von Familienoligarchien (wie sie gerade in den deutschen Kleinterritorien wahrscheinlich waren) zu verhindern. Diese Skizzierung eines veränderten adlig-bürgerlichen Verhältnisses zeichnete insgesamt also eine vorsichtige Umformung des Adels in eine Leistungs- und ÄmterElite vor, deren dominierender Kern durch ein adliges Milieu geprägt blieb. Brandes

134 Vgl. Ernst Brandes, Ueber den politischen Geist Englands, in: Berlinische Monatsschrift Bd. 7 (1786), S. 101-126, hier S. 102ff. Siehe außerdem: Ders., Ist es den deutschen Staaten vortheilhaft, daß der Adel die ersten Staatsbedienungen besitzt?, in: Berlinische Monatsschrift Bd. 10 (1787), S. 395-439; und: Ders., Über das Verhältnis des anerkannten Geburtsadels deutscher monarchischer Staaten zu den übrigen Klassen ihrer Bürger, in Rücksicht des Anspruchs auf die ersten Staatsbedienungen, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 17, 1791, S. 124-174, S. 250-284. 135 Diese Idee über die Rolle der „Konnexionen“ bei der Elitenauswahl liegt noch der 1826 von einem vermutlich adligen Autor anonym in Danzig herausgegebenen Schrift zugrunde: [Anonym], „Einige Bemerkungen, über den Vorzug des Adels zu den ersten Staats-Bedienungen, ohne Vorurtheil entworfen“, Danzig, 1826. Diese Schrift verfolgte nicht nur eine ausgesprochen stände-segregierende Zielsetzung, sondern war zudem auffällig defensiv gehalten: der Adel solle im Zweifelsfalle nicht „die Person des Fürsten“ oder hohe Stellungen im Staat suchen, sondern sich (notfalls) auf seinen Güterbesitz konzentrieren und den bürgerlichen Beamten das Feld überlassen, um eine „Vermengung“ der Stände nicht zu befördern. Die „Fürsten-Nähe“ sei in der Geschichte außerdem zu oft gebraucht worden, um den Adel abhängig zu machen und zu schwächen.



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deutete weiterhin den sozialen Verband des Adels unhinterfragt als vorteilhaft für die charakterliche Vorbereitung auf hohe Staatsämter.136 In seiner Verteidigung informeller sozialer Vorrechte des Adels bei der Ämtervergabe vertrat Brandes gewissermaßen eine „Milieutheorie“ – nicht vererbtes Charisma, nicht grundsätzliche moralische Überlegenheit, sondern die Funktionslogik eines spezifischen sozialen Zusammenhangs, gegründet auf Erfahrung und generationentief tradiertem Verhaltenswissen, schuf in seinen Augen den entscheidenden adligen „Mehrwert“ im gesellschaftlichen wie staatlichen Leben. Möser setzte einen anderen Schwerpunkt: „Warum bildet sich der deutsche Adel nicht nach dem englischen?“ fragte er in der „Berlinischen Monatsschrift“ von 1785, und ergänzte diesen Reformplan in einem Aufsatz im „Staatsanzeiger“: „Über die Adelsprobe in Deutschland“.137 Während Brandes den armen, für die von ihm definierten Elitenaufgaben (leistungsorientierte Amtsführung) nicht geeignet scheinenden Adligen bei der Vergabe von Elitenaufgaben einfach übergehen wollte, schlug Möser vor, in das Adelsrecht selbst einzugreifen. Ganz nach englischem Vorbild sollten adlige Titel und Würden nur noch auf die Erstgeborenen übergehen („Primogenitur“), während die Nachgeborenen sich mit bürgerlichen Aufsteigern zu einer Art „Gentry“ zusammenfinden müssten. Zur besseren Unterscheidung schlug Möser für diese Nachgeborenen, von ihm als „Edelgeborene“, bzw. „Kronlehnfähiggeborene“ bezeichnet, die Titulatur „aus“ anstelle des volladligen „von“ vor. Damit hatte Möser nicht nur das Konzept, sondern auch schon eine mögliche Bezeichnung für das Qualifikationsmerkmal einer latenten oder potentiellen „Adelsfähigkeit“, einer künftig zu institutionalisierenden „Adligkeit“ entwickelt!138 Brandes wie Möser sahen neben der Begrenzung des Adels (entweder durch Nichtberücksichtigung bestimmter Adliger wie bei Brandes oder gar dem formellen Austritt von Nachgeborenen aus dem Adel wie bei Möser) eine jeweils nur behutsame Öffnung des Adels gegenüber neuen Kräften aus dem Bürgertum vor.139 Über Brandes hinausgehend wollte Möser jeden (nichtadligen) Besitzer eines „stimmbaren Gutes“, der 16 „freigeborene“ Ahnen nachweisen könne, als „ehefähig“ mit dem Adel erklären. Damit variierte Möser nicht nur die vor allem in Westfalen verbreitete „harte“

136 Diese Zusammenfassung der Positionen von Brandes folgt im Wesentlichen den Ausführungen von Hirsch, Aufklärerische Adelskritik, S. 66. 137 Justus Möser, Warum bildet sich der deutsche Adel nicht nach dem englischen?“, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 6, 1785, S. 193-208; Ders., „Über die Adelsprobe in Deutschland“, in: Statsanzeigen (hrsg. v. A. L. Schlözer) Göttingen, 8. Band 1785, S. 185-209. Darin beschreibt Möser auch, dass der Sitte der 16 geforderten Ahnen wohl daher stamme, dass man nach „uraltem Brauch“ und unter Berufung auf die Bibel annahm, dass die Sünden der Väter bis ins vierte Glied der Nachkommen der göttlichen Bestrafung anheimfielen, erst nach vier Generationen verjährten und verschwänden, Ebd., S. 197. 138 Der Ausdruck „Kronlehnfähiggeborene“ und die neu vorgeschlagene Titulatur nach Möser, „Warum“, S. 193, 200. 139 Möser, „Warum“, S. 202.

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Adelsprobe, die 16 adlig geborene Ahnen für die binnenadlige Ebenbürtigkeit verlangte, ins bürgerliche, sondern verschob tendenziell das Auslesekriterium für eine politisch-ständische Berechtigung ausschließlich auf den qualifizierten Grundbesitz. Auf diese Weise sollten nicht nur in Amtsgeschäften verdiente Personen via Nobilitierung direkt in den Adel aufsteigen können, sondern vor allem die Eheverbindungen zwischen Adel und Nichtadel gefördert werden, und so die von Möser neu designierte standesähnliche Gruppe der „Kronlehnbefähigten“ mit bürgerlichen Kräften in der von ihm erwünschten „Gentry“ fusionieren helfen. August Wilhelm Rehberg, dessen Adels- und Verfassungsvorstellungen stark durch Brandes und Möser beeinflusst worden waren, verband seine Überlegungen zu einer Adelsreform deutlicher mit einer Reform der ständischen Repräsentation und allgemeinen Verfassungsfragen.140 Brandes hatte ihn auf das englische politische System aufmerksam gemacht, bevor ihn 1783 seine Funktion als Sekretär des Herzogs von York und Fürstbischofs von Osnabrück, zu Justus Möser führte, der (inoffiziell) der Regierung Osnabrücks vorstand.141 Rehbergs weitere politische Anschauungen wurden durch die praktische Arbeit unter Mösers Leitung ausgeformt. In seiner programmatischen Schrift „Über den deutschen Adel“ von 1803, die großen Widerhall in der Öffentlichkeit fand, ging er in einer umfassenden Betrachtung auf die Ausgangsbedingungen, möglichen Maßnahmen und die Ziele einer Adelsreform ein. Bemerkenswert daran war die methodische Vielfalt der Ansätze, mit denen er sich dem Adelsproblem der Zeit näherte, und durch die er schon sämtliche Argumente für und wider eine Adelsreform ansprach, die in den folgenden Jahrzehnten in der Debatte bestimmend bleiben sollten. Nachdem Rehberg sich ausführlich den Ursprüngen und der Entwicklung des Adels in Deutschland, immer unter dichter Vergleichung mit den englischen und französischen Verhältnissen, gewidmet hatte, reflektierte er die Rolle des Adels als Landstand, in seiner Funktion im Staatsdienst und seinen allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnissen „zur deutschen Nation“.142 Seine Forderung zu einer Adelsreform begründete Rehberg aus seiner historischen Herleitung des Adels: die von ihm als „ritterbürtig“ bezeichneten Adelsfamilien hätten sich erst seit dem Mittelalter dem eigentlichen Adel „anzuschließen“ versucht. Allein die ursprünglich „regierenden“ (Fürsten)Familien seien als eigentlicher Adel zu betrachten. Dieser angenommenen historischen Tatsache entgegen habe sich „das Vorurtheil“ verbreitet,

140 August Wilhelm Rehberg, Über die Staatsverwaltung deutscher Länder und die Dienerschaft des Regenten, Hannover 1807. 141 Die Möglichkeit einer Adelsreform nach englischem Modell wurde nicht zufällig innerhalb dieses kleinen Personenkreises geführt, der aufgrund seiner Herkunft und professionellen Verbindungen von den Erfahrungen des Kurfürstentums Hannover geprägt war, vgl. Fehrenbach, Rehbergs Adelskritik, S. 235f. 142 Rehberg, Über den deutschen Adel, in: Sämmtliche Schriften, S. 193-269.



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als ob ursprünglich eine Verwandtschaft obgewaltet habe, zwischen den regierenden Familien, welche in der Sprache des neueren Staatsrechts Fürstenmäßige heißen, und denen für welche der alte Name Baron in einer neuen Bedeutung aufgelebt ist, seitdem der Titel edler Herr, den jene vormals führten, neuerlich auch für die Ritterbürtigen zu geringe geworden ist.

Diese Ansicht sei aber falsch, ebenso wie die darauf aufbauende Unterscheidung zwischen „hohem“ und „niederem“ Adel, vielmehr seien die „Ritterbürtigen“ ursprünglich nur die „erste Classe freyer Bürger und Unterthanen“ gewesen – eine Argumentation, die sich noch in der preußischen Adelsreformdiskussion im Vormärz wiederfindet.143 Ein adliges Vorrecht auf die Stellen im Staatsdienst wies Rehberg (darin von Möser, aber insbesondere Brandes abweichend) mit Verweis auf die historische Entwicklung zurück – in der älteren Zeit hätte ein solches Privileg nicht existiert, und insbesondere die zeitgenössischen englischen Verhältnisse gäben diese ursprünglicheren „richtigen Begriffen von der monarchischen Verfassung“ wieder. Allein aufgrund der retardierenden politischen Entwicklung seit 1648 habe sich in Deutschland die Meinung verbreitet, dass man von Adel sein müsse, um Minister werden zu können.144 Rehberg wollte die politischen Rechte des Adels deshalb ausschließlich an das ritterschaftliche Gut binden, also auf die sog. „Landstandschaft“ beschränken. Bei Veräußerung des Gutes sollten diese auch auf Nichtadlige übergehen. Aus dem selben Grund befürwortete er jedoch gesetzliche Maßnahmen gegen den häufigen Wechsel von Rittergütern, da ein zu regelmäßiges „Ein- und Austreten“ von Mitgliedern der politischen Korporation dem Landesinteresse schade.145 Wirtschaftliche Privilegien der Güter, wie Erbuntertänigkeit der Bauern, ungemessene Dienste, die Steuerfreiheit und selbst die Patrimonialgerichtsbarkeit sollten aber verloren gehen. Die Einrichtung eines Oberhauses hätte dem Adel einen starken politischen Einfluss zu sichern, dessen Mitglieder vom König nach Verdienst und Reichtum berufen würden.146 Für eine „englische“ Adelsreform nach Mösers Vorschlägen äußerte Rehberg zwar Sympathien, hielt solche Maßnahmen praktisch aber für nicht umsetzbar – das Einverständnis des Adels wäre dafür nicht zu erhalten, und würde man diesen Weg allein für neu-nobilitierte Geschlechter wählen, so wäre eine gesellschaftspolitische Wirkung erst nach Jahrhunderten zu erwarten. Auch mit dieser Kritik an einer englischen Adelsreform, die er 1831 wiederholte, griff Rehberg einmal mehr dem Argumentationsaustausch der späteren Adelsreformdiskussionen im vormärzlichen Preußen vor.147

143 Ebd., S. 208-209. 144 Ebd., S. 230-233. 145 Ebd., S. 218-224. 146 Mayer, England als Vorbild, S. 34-35. 147 Rehberg, Über den deutschen Adel, in: Sämmtliche Schriften, hier S. 248. Die Wiederholung seiner Kritik an den Möserschen Ideen findet sich im Anhang der erweiterten Fassung seiner Schrift von 1831, Ebd., S. 267-268.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

2.3.

Anläufe und Hindernisse zur Umsetzung einer Adelsreform 1808-1815

Um 1800 hatte sich die Adelskritik also schon verstärkt politisiert; sie gab die traditionsreiche, in der Aufklärung durch rationalisierende und utilitaristische Nützlichkeitsmotive angereicherte moralische Adelskritik zwar nicht auf, beschäftigte sich jetzt aber vordringlich mit dem Problem der Stellung und Rolle des Adels im Verhältnis zu Staat und Gesellschaft. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit wanderte in den Jahren der preußischen Reformen die Herausforderung durch die „Ausdehnung des Staates“ (Martiny). Dies warf Fragen bezüglich der binnenadligen Strukturen und ihres Verhältnisses zu den staatlichen Institutionen auf.148 Im preußischen Reformansatz tritt uns diese Verlagerung der „Adelsfrage“ deutlich entgegen und in den politisch-administrativen Vorgängen wurde sie als handlungsrelevant offen thematisiert. Allerdings blieben während der Reformjahre die diesbezüglichen Positionierungen eher sporadisch und situativ gebunden. Im Gegensatz zur Adelsreformdiskussion in den achtzehnhundertvierziger Jahren fand noch keine zentral geleitete Auseinandersetzung statt. Denn die bis dahin bestehenden ständischen Repräsentationsorgane waren während der Reformen großenteils außer Kraft gesetzt – nicht zuletzt aus dem Grund, um rückwärts oder einseitig adelsorientierte Interessenvertretungen der überkommenen ständischen Organe zu unterbinden. Trotzdem begegnet man bei der Durchsicht der reformbezogenen Verwaltungsvorgänge, Reformschritte und Denkschriften mit Bezug auf den Adel regelmäßig Verweisen auf eine „wünschbare“, ja „notwendige“ Adelsreform, bzw. Vorschläge zu deren praktischer Durchführung, aber meist auf den gerade aktuellen Arbeitszusammenhang bezogen und begrenzt.149 Es blieb vorerst bei inneradministrativen Gutachten und Denkschriften; konkrete Vorhaben zu einer neuen Ständeordnung wurden bis 1810 nicht vorangetrieben.150

148 Diese Einschätzung der Adelsreformdebatte nach Bues, Adelskritik – Adelsreform, S. 52ff. 149 Reinhart Koselleck dokumentierte die langwierigen Auseinandersetzungen innerhalb der Reformbürokratie über die Konsequenzen, die gesellschaftspolitisch aus den Bestimmungen des Oktoberedikts zu ziehen wären: Wie sollten die ständischen Abgrenzungen zwischen höherem Bürgertum und Adel neu gezogen werden? Das Ministerium verhandelte dabei vor allem die Frage der Ehebeschränkungen, und welche Bestimmungen des ALR zu überarbeiten wären. Schließlich wurden diese Auseinandersetzungen um 1812 abgebrochen: die Anweisung Hardenbergs an Kircheisen am 21. März 1812, die „Adelsreform“ sofort für die Gesetzeskommission vorzubereiten, blieb ohne Folgen, vgl. Ders., Landrecht, S. 105-109. 150 Innenminister Dohna, „ängstlich und schwerfällig von Natur“ ließ zwar reihenweise Gutachten zur ständischen Verfassung ausarbeiten (etwa sieben derselben sollen zustande gekommen sein), kam aber zu keinem Entschluss, vgl. Haake, Verfassungskampf, S. 43. Dazu auch Stern, Abhandlungen, S. 157f. Graf Alexander v. Dohna als Minister des Inneren und Finanzminister Altenstein hatten Stein in der Leitung des Reformministeriums abgelöst. Friedrich Ferdinand Alexander, Burggraf und Graf zu Dohna-Schlobitten (1771-1831) hatte Kameralistik in Frankfurt/O. und Göttingen studiert, und war 1790 in den preußischen Staatsdienst eingetreten. 1806 Direktor der Kriegs- und Domänenkam-



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Reinhart Koselleck vermutete, dass letztlich die Zähigkeit der „Privat- und Provinzialrechte“ des Adels die Durchführung einer „Adelsreform“ verhindert haben.151 Dem wäre an dieser Stelle vorgreifend anzufügen, dass eine personenständische „Adelsreform“ (d.h. eine stärkere gegenseitige Öffnung von Adel und Bürgertum) vorwiegend deshalb abgebrochen wurde, weil zuvörderst eine politische Adelsreform die Stellung des Adels im Staat hätte neu bestimmen müssen! Erst aus dieser neuen politischen Stellung wären dann folgerichtige Konsequenzen für die soziale Stellung des Adels und seines Verhältnisses zu den Mitständen zu ziehen gewesen. Doch eine solche politische Adelsreform unterblieb aus Gründen, denen im folgenden näher nachgegangen werden soll.

2.3.1.

Steins projektierte Umformung der überkommenen Adelskorporation zu einer „ruling class“

Selbst Stein verfügte in der Zeit seiner Amtsführung über keine entscheidungsreifen ständepolitischen Modelle. In der kurzen Zeit seiner Leitung der Reformadministration formulierte Steins seine eigenen Ideen über eine Adelsreform folgerichtig nur allgemein und verstreut. Seine Haltung in dieser Frage kann indirekt aus seinen Reaktionen auf die Vorschläge anderer, sowie aus seinen späteren Schriften erschlossen werden.152 Aber nicht nur Stein, die gesamte Administration befand sich in dieser Frage bis nach 1815 in einer Phase des Suchens und Tastens, Reflektierens und Verwerfens. Memoranden wurden ausgetauscht, Bücher über auswärtige gesellschaftliche und ständische Verhältnisse geschrieben und vergleichend diskutiert, Meinungen und Informationen eingeholt. In Steins kurzer Amtszeit wurden mehrere Pläne zur Neubildung der Stände ausgearbeitet und an ihn eingereicht. Dazu zählen auch die Entwürfe, die von den nicht zur eigentlichen Reformbürokratie zählenden Vincke und Rehdiger ausgearbeitet und von Stein kommentiert wurden. Auf Vinckes Positionen wird unten noch genauer einzugehen sein. Rehdigers Ständeplan und Ideen zu einer „Adelsconstitution“ Der schlesische Privatmann und Rittergutsbesitzer Karl Nikolaus v. Rehdiger unterbreitete einen stark historisch orientierten Adelsreformplan, obgleich er darin z.B.

mer in Marienwerder/Westpreußen, wurde Dohna aufgrund seiner Verdienste um die Verteidigung der Provinz 1807 zum Wirklichen Präsidenten der Kriegs- und Domänenkammer befördert. 151 Koselleck, Landrecht, S. 109. 152 Pertz fasste die „Hauptzüge“ von Steins Adelsreformideen nach diesen verstreuten Aktenüberlieferungen, aber auch nach dessen ihm in persönlichen Gesprächen gemachten Aussagen lange nach der Reformzeit (1827) zusammen: vgl. Ders., Stein, 2. Band, S. 155-161, bes. S. 158-159. Erst ab 1815 legte Stein selbst detailliertere Verfassungs- und Ständepläne vor, vgl. Stern, Abhandlungen, S. 146f. Zu Einzelheiten des Steinschen Repräsentationsmodells siehe auch Haake, Verfassungskampf, S. 31-35.

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vom Landeigentum als alleinigem Repräsentationskriterium abrückte.153 Statt Grundbesitzer in Stadt und Land strebte er eine „Aristokratie der Vernünftigkeit und Rechtlichkeit“ an, „eine Notabilität von Männern, die sich im bürgerlichen Leben irgendwie hervorgetan, öffentliches Vertrauen im engeren Kreise bereits gewonnen haben“. Aufgrund von Steins Kritik überarbeitete Rehdiger seinen Entwurf noch einmal, und entwarf parallel dazu im September 1808 eigene „Ideen über eine Adelsconstitution“. Diese sah ein „erstes Kollegium“ vor, das aus 36 geistlichen Würdenträgern, Inhabern von Erbämtern, Standesherren und fünfzehn Adelssenioren bestand, wobei die letzteren durch die adligen Gutsbesitzer gewählt werden sollten. Auf diese auffälligen Parallelen zu den Bestimmungen der später tatsächlich erfolgten preußischen Herrenhausbildung in den achtzehnhundertfünfziger Jahren wird zurückzukommen sein. Diese Adelssenioren bildeten das „Adelskollegium“, das in einem bestimm-

153 Karl Nikolaus v. Rehdiger war ein autodidaktisch gebildeter Experte in Ständefragen und verfasste seinen auf den 20. Mai 1808 datierten Ständeplan nach Vermittlung durch den Kriegs- und Domänenrat, späteren schlesischen Oberpräsidenten, Merckel. Am 8. September 1808 reagierte Stein darauf mit einem kritischen Gutachten worauf Rehdiger seine zweite Fassung erarbeitete (überliefert in: GSTAPK Rep. 92 Nachlass Gneisenau, 17 A 11, Bl. 77-80v). Rehdiger „übersprang“ in seinem Repräsentationsmodell die provinziale Ebene, und zielte allein auf eine gesamtstaatliche Vertretung der Gesellschaft, was ganz besonders Steins Missfallen erregte, vgl. Zeeden, Hardenberg, S. 151. Gerhard Ritter vermutete, dass Rehdigers parallel entstandene „Ideen zu einer Adelsconstitution“ einen Teil der verschwundenen Akten Steins über Adelsreform bildete. Rehdiger fürchtete wohl selbst, dass der von ihm unterbreitete Adelsreformvorschlag eher unpraktisch sei, und markierte die ihm fragwürdig erscheinenden Stellen mit Rotstift! Vgl. dazu die Zusammenfassung der Rehdigerschen Denkschrift durch Gerhard Ritter, Stein. Eine politische Biographie, 2 Bände, Stuttgart 1931, hier: Bd. 1 S. 537 Anmk. 35. Zur Kritik Steins an Rehdigers Plan vgl. Stein, Briefe Bd. 2, S. 853f (sowie ebd. Anhang II Bl. 84v). Über die weitere Bearbeitung dieser Pläne ist nichts bekannt: vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 31 mit Anmk. 48, sowie S. 37-39f. Schon vor Rehdiger hatte mit Joseph Bernhard August Gebel ein anderer bürgerlicher Schlesier „Ideen zur Reorganisation Preußens“ (September 1807) entworfen, die als Substrat aller in den damaligen Jahren von bürgerlichen Schlesiern vorgebrachten politischen Ideen gelten können, vgl. Ders., Ideen zu Preußens Verfassung und Rettung: Zwei Denkschriften (1804), Breslau 1871. Er übergab seine Reformdenkschrift noch im Oktober 1807 an den Geh. Kabinettsrat v. Beyme, und im Februar 1808 an den Generalzivilkommissar für Schlesien v. Massow. Gebel war ein bürgerlicher Aufsteiger, der 1772 in Reichenbach/Schlesien geboren in Breslau Medizin studierte. Als Arzt in Frankenstein machte er eine politische und soziale Karriere, indem er zum Kreis- und Stadtphysikus gewählt wurde, und sich zweimal mit adligen Frauen verheiratete, in zweiter Ehe mit Henriette v. Manstein. Dies brachte ihn in die Kreise des hohen schlesischen Adels. Das Vermögen seiner zweiten Frau erlaubte ihm, sich in den Kreis der Rittergutsbesitzer einzukaufen. Seit 1806 vertrat er interimistisch den erkrankten Landrat, und gelangte so in den preußischen Verwaltungsdienst. In seiner Reformschrift plädierte Gebel für eine Gleichheit aller Bürger, wogegen der Adel allein erhalten bleiben solle, um soziale Friktionen über dessen Abschaffung zu vermeiden und das Institut zur Auszeichnung verdienter Bürger zu erhalten. Verdienst- wie gutsgesessener Dominialadel sollten sich allein primogenital vererben. Die Bedingung, dass sich der Dominialadel nur mit dem Gute vererbe, würde den erwünschten Effekt erzielen, dass dem Güterhandel wie gleichermaßen der Besitzkonzentration von Gütern in einer Hand entgegengewirkt würde. Zu Gebels Reformplan und Biographie vgl. Ziekursch, Hundert Jahre, S. 436-447.



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ten Turnus eine Anzahl der adligen Familien zu „familles d’élite“ ernennen sollte. Aus diesen wiederum sollten bestimmte „Reichswürden“ und „Reichsvizewürden“ besetzt werden, die aber fast ausschließlich repräsentativen Charakter trügen: Reichskanzler, Reichsfeldhauptmann, Reichsmarschall u.a. Die bürgerlichen Gutsbesitzer sollten dagegen im „zweiten Kollegium“, dem sogenannten „Nationalkollegium“ mit den „kleinen Landbesitzern“ (Bauern), den städtischen Grundbesitzern, dem Gelehrtenstand, Staatsdienern und Militär zusammengefasst werden. Als dritte Repräsentantengruppe sah Rehdiger außerdem ein „Kollegium der Regierungsklassen“ vor das vom König ernannt würde. Steins Reaktionen auf Rehdigers Entwürfe zeigen, dass er im Gegensatz zur älteren Adelskritik und Adelsapologetik seinen Interessenschwerpunkt bzgl. der adligen Rolle in Staat und Gesellschaft vom adligen Fürsten-, Staats- und Armeedienst wegrückte, und sich – darin Rehberg folgend – vor allem der adligen Rolle als Gutsherr und Landbesitzer zuwandte.154 Von diesem Komplex aus thematisierte er die adlige Funktion der gesellschaftlichen Vernetzung und Regierung. Steins Auffassungen über die Beziehungen zwischen adligem Grundbesitz, Regierung und Landesverwaltung waren in erheblichem Maße von westdeutschen Adelsbegriffen geprägt, wie es ja seiner eigenen Herkunft entsprach. Weder war der ostelbische Kleinadel Rentneradel, wie der süddeutsche oder rheinisch-westfälische, noch war er in Herkunft und Selbstverständnis mit den westlichen Abkömmlingen „germanischer Optimaten“ und „fränkischer Ministerialer“ vergleichbar. Insofern ließen sich Steins adelspolitische Absichten als eine Übertragung westdeutscher Muster auf die Situation des „Ostens“ charakterisieren, als Politik einer versuchten „Verwestlichung“155 – wie ja sein Grundgedanke, ständische Deputierte und fürstliche Beamten in einem Collegium zu vereinen schon in den altständischen Mustern Westfalens zu finden sind!156 Dass sich der Rheinfranke Stein persönlich nicht für die anders gearteten Sozialund Adelsverhältnisse der östlichen Provinzen Preußens erwärmen konnte, wurde schon erwähnt:157 besonders in den Jahren zwischen 1808 bis 1812 warf Stein in zahlreichen Äußerungen dem preußischen Adel „Lauheit“, „Schwächlichkeit“ und

154 Pertz wies darauf hin, dass der direkte Einfluss von Rehberg und anderen auf Stein nicht mehr mit Bestimmtheit nachvollzogen werden kann, da die einschlägigen Akten über eine Adelsreform verloren gegangen sind: Ders., Stein, 2. Band, S. 157. 155 Ritter, Stein, Bd. 1, S. 435f. Diese gleichzeitig und scheinbar gegenläufigen Tendenzen „verwestlichender“ und „veröstlichender“ adelspolitischer Tendenzen geben der preußischen Reformpolitik ihren komplexen, und in ihren Intentionen schwer zu fassenden Charakter. 156 Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 83. 157 Dies änderte sich allerdings nach 1815: Stein wandte sich mit neuer Aufmerksamkeit den ostelbischen Verhältnissen zu, vgl. Reinhold K. Weitz, Der Niederrheinische und Westfälische Adel im ersten Preußischen Verfassungskampf 1815-1823/24. Die verfassungs- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Adelskreises um den Freiherrn vom Stein, Dissertation d. Universität Bonn, Bonn 1970, S. 235-236.

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„mangelnde Operbereitschaft“ vor.158 In diesen Zeitraum fallen auch Steins radikalste Ideen einer Adelsreform, die darin gipfelten, im Falle eines neuen Krieges gegen das napoleonische Frankreich den Adel generell aufzuheben, und nur solchen Standesgenossen neu zu erteilen, die sich im Kampf auszeichneten.159 Solche Gedankensplitter, die mehr der damaligen tagespolitischen Lage als wirklicher Grundüberzeugung zuzurechnen sind, brachten Stein in einigen retrospektiven Betrachtungen fälschlicherweise den Ruf der „Adelsfeindschaft“ ein.160 Vielmehr wollte Stein den Adel als Grund- wie als Geschlechtsadel unbedingt erhalten, ja überhaupt erst als „classe disponible“, oder besser: „classe politique“ bzw. „ruling class“ tauglich machen.161 Einen genauen Plan zur Erreichung dieses Zieles hatte Stein jedoch nicht. Zu einer genaueren Ausarbeitung seiner Ideen, wie er sich die im Adel verkörperte Verschränkung von adelsständischen und allgemeinen gesellschaftlichen Sozialwerten, dessen wirtschaftlich-materielle Stellung und Absicherung, der Erhalt sozialer Exklusivität bei gleichzeitiger vorsichtiger Öffnung für neue Mitglieder vorstellte, dazu kam es in den eigentlichen Reformjahren nicht mehr. Deshalb wird bei späterer Gelegenheit noch einmal darauf zurückgekommen. Hier soll zunächst einmal betrachtet werden, welche Folgen eine solche neue Rollenzuschreibung für die preußische Adelspolitik zu gewärtigen hatte.

158 „Den Adel selbst würde man an Geburt und Grundbesitz heften und darnach ihn klassifizieren, denn diese Menge armen, güterlosen, verschuldeten Adels ist dem Staate äußerst lästig. Er ist ungebildet, hilfsbedürftig, anmaßend, er drängt sich in die Stellen […]. Die Lage dieses Adels verschlimmert sich durch die Verminderung der preußischen Armee […]. […] Es ist daher ratsam, dieses Missverhältnis zu heben, den Adel auf seine ursprüngliche Bestimmung zurückzubringen, ihn nur mit Geburt und Gutsbesitz nach einer gewissen Stufenfolge zu verbinden und den übrigen ganz in die Masse der Staatsbürger zurücktreten zu lassen“, so Stein z.B. in einer Denkschrift vom Sommer 1810, zit. nach Pertz, Stein, 2. Band, S. 500f. 159 Vgl. Botzenhart, Adelsideal, S. 212. 160 Dabei ist zu beachten, dass viele der negativen Äußerungen des Freiherrn über den kurmärkischostelbischen Adel schlicht auch privat-familiären Ärgernissen geschuldet waren! Als persönlicher Freund der gräflichen (Hofadels-)Familie Brühl in Berlin, ergriff er deren Seite im Streit mit Friedrich August Ludwig v. d. Marwitz wegen einer Familiensache: „Aus der Familienstreiterfahrung erwachsen hier Landadelskritik und politische Stellungnahme“, so Frie, Marwitz, S. 63-64. Nichtsdestoweniger empfand der Reichsritter Stein, der sich kraft seines Erbes als eigenständiger politischer Akteur im Reichsverband fühlen durfte, die tiefe sozial-kulturelle Kluft zum ostelbischen Adel vor allem aufgrund von dessen völlig anders gearteter politischer Verfassung (im vollen Wortsinne) und Stellung. 161 Eine solche „classe disponible“ wenig beschäftigter Rentenempfänger hatte schon den französischen Physiokraten als Leitbild einer politischen Klasse gedient, vgl. Ritter, Stein, Bd. 1, S. 436.



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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Die Formierung einer landgesessenen „ruling class“ erfordert eine Teilung des Adels Steins Elitenvorstellungen kreisten offensichtlich vordringlich um das Problem der Umbildung der bestehenden Adelskorporation. In seinen zahlreichen Schriften ließ er offen, wie aufgrund von Verdiensten neuzuadelnde Personen in den Besitz des geforderten Grundeigentums kommen sollten, sofern sie solches nicht schon besaßen. Mehr als die Frage der Aufnahme neuer Mitglieder beschäftigte ihn das Problem der Exklusion von Standesmitgliedern. Denn letztlich erforderten alle funktionsorientierten, evolutiven Adelsreformüberlegungen eine Teilung der Adelskorporation: ein Teil des Adels bliebe als Kernbestandteil der neuen großen Grundbesitzerschicht erhalten, die Übrigen verlören ihre personenrechtlichen Privilegien zusammen mit den besitzständischen. Nur so konnte der überkommene Adelsstand in eine besitzständisch organisierte Gesellschaft freier Eigentümer eingepasst werden. Diese Teilung der alten „Adelsgenossenschaft“ bildete den Zentralpunkt aller Überlegungen Mösers, Rehbergs wie auch Steins – erst das Zusammentreffen von persönlicher Adelswürdigkeit und Großgrundbesitz würde zu neuer Standeszugehörigkeit qualifizieren:162 Ein achtbarer Bürger- und Bauern-Stand, ein Adel, der einen bedeutenden Anteil an den reichsständischen Rechten hat, der wohlhabend, wenig zahlreich ist, dies scheint eine wünschenswerte Organisation der Volksbestandteile,

so formulierte Stein gegen Ende seiner Amtszeit.163 Zukünftig dürften aus den weitverzweigten Erbverbindungen des (adligen) Grundbesitzes (die ja über den Familienzusammenhang – ausgedrückt in der Namenszugehörigkeit – bestehen blieben) keine unmittelbaren sozial-rechtlichen Konsequenzen mehr erfolgen: Teilhabe an einer Erbengemeinschaft durfte keine geburts- und personenrechtliche Privilegierung begründen. Dies betraf vornehmlich die „weichen“ sozialen Privilegien des erleichterten Zugangs zu höheren Ämter- und Offiziersstellen, eventuell auch die Zugehörigkeit zum eximierten Gerichtsstand.164

162 Stein hat deshalb die bayerische Verfassungsurkunde und das Verfassungsedikt von 1818 begrüßt: die Gefahren der dadurch vorgenommenen Teilung des Adelsstandes, sowie die Überforderung des Adels durch öffentlich-rechtliche Aufgaben hat er nicht beachtet. Dies wirkte sich besonders in Bayern aus, da es in Franken wie in Altbayern einen ausgeprägten Gutsadel (mit geschlossenen Gutsbezirken) nie gegeben hatte, die Einkünfte hauptsächlich aus grund- und gerichtsherrlichen Rechten herrührten, vgl. Hanns Hubert Hofmann, Adelige Herrschaft und souveräner Staat. Studien über Staat und Gesellschaft in Franken und Bayern im 18. und 19. Jahrhundert, München 1962, S. 379, 385402., bes. S. 402f; S. 473. Vgl. Brief v. Stein an Schlosser 19. Juni 1818, in: Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 709, S. 800-802, hier S. 801. 163 So einem Brief Steins an Beyme vom 2. Januar 1809, vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 36f. 164 Konsequent forderte Stein die Abschaffung der meisten der sozialen und wirtschaftlichen Standesvorrechte, wie das adlige Vorrecht auf Offiziers- und höhere Beamtenstellen, das Privileg der

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So kam den allgemeinen Überlegungen für die Überführung der älteren erbständischen in eine neue Ordnung von Funktions- und Leistungsständen dem Besitzkriterium eine zentrale Rolle zu. Die Umdeutung des rechtlichen Gliederungskriteriums von Herrschaftsständen in das wirtschaftliche Gliederungskriterium von Besitzklassen war um 1800 ein verbreitetes Muster der politischen Theorie, um den „hinderlichen Einfluss des landsässigen Adels“ einem „staatlichen Rationalisierungswillen“ zu unterwerfen.165 Das Besitzkriterium relativierte jedoch zugleich das für eine erbständische Gesellschaft entscheidende Auswahlkriterium von Verwandtschaftsbeziehungen – eine Konsequenz, der Stein allerdings, wie noch zu sehen sein wird, zwar nicht staatspolitisch, aber standespolitisch entgegenzutreten suchte. Ein solches Vorgehen berührte damit die zentrale Problematik der Natur, bzw. „Herkunft“ adliger Privilegierung: sind die „Vorrechte und Vorpflichten, welche den Adel charakterisieren, ein natürliches Zubehör der Landbesitzer oder eine willkürliche Beauftragung einer Menschengruppe?“166 Diese Fragen wurden in Preußen schon in den zwei Jahrzehnten vor 1806 lebhaft diskutiert, als Folge des verstärkten Übergangs von Rittergütern in die Hände Bürgerlicher. Wären die ständischen Rechte einfach ein „natürliches Zubehör“ des Landbesitzes, dann müssten sie auch allesamt und konsequent an die bürgerlichen Käufer von Rittergütern übergehen. Wären sie aber einer sozial definierten Menschengruppe (dem Adel in summa) zugesprochen, so bräuchten sie zwar nicht bürgerlichen Einkäufern in den Rittergutsbesitz zugestanden, könnten aber den rittergutslosen Adligen im Grunde ebenfalls nicht verweigert, bzw. entzogen werden. Tatsächlich stellte sich die ständerechtliche Ausgangslage in Brandenburg-Preußen quer zu dieser rationalisierenden Darstellung scheinbar unvereinbarer Alternativen: historisch wurden weder den Gutsbesitzern pauschal (geschweige denn den Bauern) die politischen Privilegien des Landbesitzes gewährt, andererseits diese aber bürgerlichen Einkäufern in den Rittergutsbesitz auch nicht vollständig verwehrt. Gleichfalls hatten seit jeher Adlige ohne Grundbesitz keinen Anteil an Privilegien wie Steuerfreiheit und Standschaft. Die ständisch-politische Bevorrechtigung des Adels erfolgte also über eine Verschränkung von dinglicher Gegebenheit (Besitz von „Rittergütern“ als rechtlich bevorrechtetem Grundbesitz) und persönlicher, durch Geburt

Steuerfreiheit sowie zentraler gutsherrlicher Rechte, wie die Patrimonialgerichtsbarkeit. Allein das Privileg der eigenen Gerichtsbarkeit sollte dem Adel verbleiben. 165 Vgl. Stollberg-Rilinger, Vormünder, S. 226. Stollberg-Rilinger identifiziert als einen herausragenden Vertreter dieser Denkschule Ewald Friedrich Graf von Hertzberg (1725-1795), preußischer Staatsminister unter Friedrich II. und Friedrich Wilhelm II., der sich zudem als Archivar und Historiker eine Bedeutung für die brandenburgisch-preußische Geschichtsschreibung erarbeitet hatte, vgl. ADB Bd. 12, S. 241-249. Stollberg verweist insbesondere auf die Parallelen zwischen dem von Hertzberg entwickelten Ständebegriff und dem des Freiherrn vom Stein in der „Nassauer Denkschrift“. 166 So formulierte Martiny das Kernproblem der „Adelsfrage“ in Preußen schon für die Zeit vor 1800; vgl. Ders., Adelsfrage, S. 40.



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und Herkunft garantierter Eigenschaft.167 An dieser eigentümlichen Verschränkung der Privilegierungsgrundlagen scheiterten schon die ersten, vorsichtig tastenden Überlegungen innerhalb der preußischen Administration zu einer Adelsreform vor 1806. Den logischen Schritt zur Lösung dieses Dilemmas als Antwort auf die erhöhte soziale Mobilität der Gesellschaft: den Adligen ohne Verbindung zum (bevorrechteten) Landbesitz den Adel für ihre Person und Nachkommen entziehen; diejenigen Bürgerlichen, die nicht nur Rittergutsbesitz erwarben, sondern sich durch besondere Leistungen in Öffentlichkeit oder Staatsdienst auszeichneten, konsequent zu nobilitieren, diese Konsequenz wagte vor 1806 keiner der politisch Verantwortlichen zu formulieren.168 Doch jetzt, unter den verschärften Bedingungen nach Niederlage und Zusammenbruch konnte erstmals offen die Überlegung angestellt werden, ob der Adel als Korporation nicht ausschließlich über seine Teilhabe an landständischen Herrschaften definiert werden solle, mit der drohenden Konsequenz, dass der landlose Adel, sofern er nicht über Lehensverbindungen oder Fideikommisse rechtlich, und über Renteneinkünfte finanziell am Landbesitz teilnahm, als sozial undefinierter Überhang übrig blieb. Die Durchsetzung neuer personenständischer Abgrenzungen auf der Grundlage des Grundbesitzkriteriums musste die schon in der preußischen Gesellschaftsentwicklung und im ALR latent vorgenommene Teilung des adligen Personenstandes erst recht vorantreiben und den Adel in seinem innersten Selbstverständnis treffen. Bevor auf die daraus resultierenden Folgen näher eingegangen wird, sollen die schon oben anklingenden privatrechtlichen Hindernisse eines solchen Reformweges als entscheidende Bedingungen der preußischen Reformpolitik rekapituliert werden.169

167 Vgl. zur ständerechtlichen Ausgangslage unten Kap. 2.4.1. 168 Martiny skizzierte diese Diskussion zwischen 1802 und 1806, die sich vor allem an der Frage entzündete, ob einer Ver(erb)pachtung adligen Grundbesitzes an Bürgerliche und Bauern durch die Administration unbedenklich zugestimmt werden könne, bzw. ob dies sogar von wirtschaftlichem und sozialem Vorteil sei. Die Mehrheit wollte die restriktive Rittergutsgesetzgebung beibehalten, und grundsätzlich den Adel auf seinen Rittergütern ansässig sehen – die Alternative, die der damalige Departementsminister und spätere scharfe Gegner der Stein-Hardenbergschen Reformen, Otto Karl Friedrich v. Voß (1755-1823) bei dieser Gelegenheit einwarf, dass der Adel wie in England seine Güter unbedenklich verpachten könne, und dies auch sozialen Spannungen vorbaue, erkannte sonst niemand, vgl. Ders., Adelsfrage, S. 41-46. Die englische Form der Vererbpachtung, mit ihrer „tenant“ und „sub-tenant“-Struktur verhinderte tatsächlich in erheblichem Maße die direkte (Interessens-) Konfrontation der adligen Grundbesitzer mit den ländlichen Unterschichten, bzw. stellte den adligen Landlords nichtadlige Großpächter als „Verbündete“ zur Seite, vgl. Michael L. Bush, The English Aristocracy. A comparative study, Manchester University Press 1984, S. 127-129. 169 Eine solche latente Teilung der adligen Korporation zeichnete sich schon durch die dem ALR vorausgehende Gesellschaftsentwicklung ab: in den Fällen wo einzelne Adlige oder Adelsfamilien ihren wirtschaftlich-sozialen Schwerpunkt auf die Bekleidung von Staatsämtern gelegt hatten, wurde deren ständisch-gesellschaftliche Abgrenzung gegenüber der zahlreichen bürgerlichen Beamten-

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2.3.2.

Die unvollständige Gesellschaftsreform durch das Oktoberedikt

Die sozialständischen Aussagen des Oktoberedikts Der Auftakt zur neuen preußischen Gesellschaftspolitik bildete das Edikt vom 9. Oktober 1807. Dessen voller Titel: „Edict, den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigenthums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend“ gewährt in dessen Inhalt ebenso wenige Einblicke, wie die einzelnen Bestimmungen die gesamten ständepolitischen Implikationen offenbaren.170 Am offensichtlichsten verschaffte dieses Edikt den Bauern die persönliche Freiheit von der noch bestehenden Erb- und Gutsuntertänigkeit auf den Gütern. Desweiteren gewährte es den „erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums“, indem es Bürgern wie Bauern den Erwerb von „adligen“ Gütern erlaubte, ohne jede Einschränkung oder Suspension gutsherrlicher Vorrechte, wie es in den bis dahin gewährten Ausnahmefällen nichtadligen Gutserwerbs praktiziert wurde.171 Umgekehrt durften Adlige nun auch Güter mit bürgerlichen und bäuerlichen Gerechtsamen („Güter aller Art“) in Besitz nehmen, d.h. mit den Rechten und Pflichten zur Ausübung daran haftender nicht agrarischer Gewerbe. Diese Gewerbefreiheit wurde für den Adel sogar auf die Stadt ausgedehnt, indem „jedem Edelmann“ zugestanden wurde [...] ohne allen Nachtheil seines Standes befugt, bürgerliche Gewerbe zu treiben.“ Damit war die ständische Gliederung des Allgemeinen Landrechts, die darin angestrebte Gleichsetzung der drei „Erwerbsstände“ mit den drei „Geburtsständen“ aufgegeben worden. Zugleich wurde die Beschränkung der politischen „Standesfähigkeit“ auf den Adel aufgehoben, während die personenrechtlichen „Standesgrenzen“ zwischen Adel und Bürgertum erhalten blieben.172 Eine grundlegende Reform

schicht fragwürdig, vgl. Koselleck, Landrecht, S. 81. Diese seit dem 18. Jahrhundert latente Gefahr für die Adelskorporation hatte schon F. A. L. v. d. Marwitz scharfsichtig erkannt, und die Steinsche Reform- und (designierte) Adelspolitik als Fortführung dieser Tendenzen kritisiert, vgl. unten Kap. 2.4.3. 170 Der Entwurf des „Oktoberediktes“ entstand unter maßgeblichen Einflüssen Theodor v. Schöns, als dem engsten Mitarbeiter Steins, aber auch durch Friedrich Leopold Reichsfreiherr v. Schroetter (1743-1815), dem Leiter des preußischen Provinzialdepartements, in dem die meisten der Reformgesetze der Jahre 1807 und 1808 entwickelt wurden. Schroetter stand seiner Herkunft wie in seiner historischen Orientierung der Ideenwelt Steins deutlich näher als Schön. Sein Bruder Karl Wilhelm v. Schroetter (1748-1819), Inhaber des Hofamts „Kanzler des Königreichs Preußen“, war als Minister des Justiz-, Lehns- und geistlichen Departements seit August 1807 ebenfalls Teil der Reformadministration. Vor allem die im Oktoberedikt verfügte Erweiterung der grundsätzlichen Gewerbefreiheit über den agrarischen Bereich hinaus wird Friedrich Leopold v. Schroetter zugeschrieben, vgl. Ernst v. Meier, Die Reform der Verwaltungsorganisation unter Stein und Hardenberg, Leipzig 1881, S. 154. 171 Das heißt, bürgerliche Rittergutsbesitzer sahen sich nicht mehr von der Teilnahme an Kreis- und Landtagen, vom Patronat, der Gerichtsbarkeit und der Jagdgerechtigkeit ausgeschlossen. 172 An ein Repräsentationsrecht für Bauern(güter) war zu diesem Zeitpunkt noch nicht gedacht. Erst im Zuge der weiteren Reformen und der wirtschaftlichen und rechtlichen Bauernemanzipation sollten diesen auch Repräsentationsrechte eingeräumt werden.



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des adligen Erbrechts schien in greifbare Nähe gerückt, und damit auch eine Revision von Kriterien einer Adelszugehörigkeit, bzw. die Formierung einer neu verfassten erblichen Schicht großer Landbesitzer, die als Spitze und Repräsentantenreservoir der neuen Gesellschaft hätte dienen können.173 Die Überleitung des Adels vom Erb- zum Besitz- und Leistungsstand bleibt unvollständig Doch die Überwindung des ständisch verfassten Staates war vor allem wirtschaftlich, nicht aber konsequent politisch-rechtlich eingeleitet worden: die Idee von personenrechtlichen Geburts-Ständen war nicht aufgegeben worden. Schon die widersprüchliche Formulierung des Ediktes selbst: dass „jeder Edelmann, ohne Nachteil seines Standes [...]“ jedes Gewerbe wählen konnte, durfte als indirekte Bestätigung adligen Standesbewusstseins verstanden werden. Ein gleiches Staatsbürgerrecht war noch nicht geschaffen, und zudem hatte es noch im Vorfeld dieses Ediktes Überlegungen gegeben, jene Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts beizubehalten, welche ausdrücklich den Adel in Fällen für verlustig erklärten, in denen Adlige „unehrbare“ Beschäftigungen annehmen, oder auch nur eine solche Lebensart „wählten“, die sie zu „dem gemeinen Volk herabsetzten“; auch sollten solche Gewerbe dem Adel verboten bleiben, die eine direkte persönliche Dienstleistung an Jedermann voraussetzten.174 Zwar wurde dieser Vorstoß vom Ministerkabinett mit der Begründung abgelehnt, es bliebe dem Adel selbst überlassen darüber zu entscheiden, welche Gewerbe er als standesgemäß betrachte. Doch behielt der Adel sein Eherecht. Auch wurden weder die familienrechtlichen Lehensordnungen noch die Fideikommisse aufgehoben, wovon gleich noch zu sprechen ist. Das Edikt überließ die Entscheidung über deren Fortdauer den adligen Familien selbst.175 In Konsequenz war damit der Adel als sozialer Stand nicht abgeschafft, gewissermaßen sogar (latent) erweitert worden – nämlich auf solche gesellschaftlichen Gruppen, denen es gelänge, sich dem Adel über Grundbesitz und Lebensführung anzunähern!176 Tatsächlich lag der Mehrzahl der Reformer nichts ferner, als bei der Kreierung einer neuen Staatselite den Adel einfach zu zerschlagen. Theodor v. Schön, der als überzeugter Adelsgegner hoffte,

173 Botzenhart, Adelsideal, S. 210-241, hier S. 232. 174 So der Vorschlag der beiden Brüder Schroetter in ihren Vorentwürfen des Edikts, vgl. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 291. 175 Der zugehörige Paragraph 9 war schon im ostpreußischen Provinzialrecht von 1801 angelegt, welcher den ostpreußischen Vasallen befugte, durch Familienschluss die Lehensverbindung aufzuheben, vgl. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 291. 176 Ernst v. Meier, Der Minister von Stein, die französische Revolution und der preußische Adel. Eine Streitschrift gegen Max Lehmann, Leipzig 1908, S. 48.

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dass auch sozial der Adel in Folge der Reformen einfach in der restlichen (landbesitzenden) Bevölkerung aufgehen würde, stand mit diesen Ansichten völlig isoliert.177 2.3.3. Die eigentumsrechtliche Privilegierung des Adels verhindert einen „freien“ Elitenentwurf Gewichtiger noch als diese Unklarheiten des Oktoberediktes, die u.a. auf die persönlichen Rücksichten und Sympathien einzelner Reformer zugunsten eines ständischen Adels zurückgeführt werden können, bildete jedoch die soziale und rechtliche „Verfasstheit“ der ostelbischen Adelslandschaften ein massives Hindernis für jede konsequente Adelsreform. Aufgrund des von den Reformern formulierten Staatsziels einer Repräsentantenschicht „großer Grundbesitzer“ in einer Gesellschaft „freier Eigentümer“ konnte der grundbesitzende Adel in diesen Plänen nicht ignoriert werden. Denn er bildete in Besitzumfang wie Anzahl seiner Angehörigen die größte Gruppe von Grundbesitzern.178 Um aber den grundbesitzenden Adel in eine völlig neu definierte Gruppe individueller Eigentümer einzuschmelzen, hätten die familienrechtlichen Verbindungen des Adels zerschlagen, d.h. die Eigentumsverfassung der lehnsrechtlichen Bindung seiner Familiengüter, aufgelöst werden müssen. Die Eigentumsverfassung des Adels Diese Eigentumsverfassung des Adels war Bestandteil eines komplexen Gefüges aus personenrechtlichen, besitzständischen und eigentumsrechtlichen Bevorrechtigungen. Sie bedingten und überschnitten sich mehrfach.179 Der Adel besaß bis zum Oktoberedikt 1807 das personenrechtliche Privileg, Rittergüter zu besitzen, das Recht auf politische Mitsprache und administrative Kooperation in den Landständen, sowie einem privilegierten Zugang zu den höheren Stellen und Ämtern im Staat. Die im Oktoberedikt verfügte Aufhebung der Erb- und Gutsuntertänigkeit der Bauern leitete zugleich das Ende der besitzständischen Privilegien der Gutsherrschaft ein, obgleich

177 Bei den Beratungen um den Adel soll Schön ca. 1808 geäußert haben, dass man diesen „allmählich mit den anderen Ständen [verketten solle], so löset er sich allmählich auf und verschwindet, ohne es selbst gewahr zu werden“. Den Adel als einer Idee von erblich weitergegebenen Eigenschaften lehnte Schön scharf ab. Wirtschaftlich wollte er, dass sich der gutsbesitzende Adel aus eigener Tüchtigkeit, ohne die Unterstützung von Privilegien und rechtlichen Schranken des Güterhandels bewähren sollte. Um 1808 scheint Schön mit der Idee einer „Gentry“ nach englischem Vorbild sympathisiert zu haben; vgl. dazu: Eduard Wilhelm Mayer, Politische Erfahrungen und Gedanken Theodor v. Schöns nach 1815, in: Historische Zeitschrift, Dritte Folge 21. Band, München/Berlin 1917, S. 432-464, hier bes. S. 443. Siehe auch Gray, Prussia, S. 89. 178 Vgl. unten Kap. 2.4.1. 179 Diese personenrechtlichen Privilegien des Adels waren in der Regel ererbt, manchmal auch verliehen, und in solchen Fällen nicht immer vererbbar. Die folgenden Ausführungen stützen sich wesentlich auf die Arbeiten von Dirk H. Müller, dem ich für diese Einsichten aus zahlreichen Diskussionen und großzügig zur Verfügung gestelltem Material zu großem Dank verpflichtet bin.



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sich diese Konsequenz erst mit der Zeit erweisen sollte.180 Zu diesen besitzständischen Rechten, die an der Gutsherrschaft „klebten“ (wie der zeitgenössische Begriff lautete), gehörte eine Reihe von Administrations- und Herrschaftsrechten, sowie wirtschaftlichen Privilegien, die aber mit der im Oktoberedikt offiziell erlaubten freien Veräußerung von Gutsherrschaften an Bürgerliche ebenfalls nicht mehr exklusiv dem Adel zustanden. Schließlich sollte die Einführung der provinzialständischen Verfassung zu Anfang der achtzehnhundertzwanziger Jahre auch das personenrechtliche Vorrecht des landsässigen Adels beenden, als Person oder durch adlige Vertreter an den ständischen Versammlungen in Kreisen und Provinzen teilzunehmen. Entscheidend blieb aber die dritte, nämlich die eigentumsrechtliche Form adliger Privilegien. Diese Familienlehen, Majorate oder Fideikommisse bezogen sich hauptsächlich auf immobiles Eigentum. Das „vinkulierte“, d.h. gebundene Eigentum verlieh dem Adel weiterhin ein starkes reales „korporatives“ Gerüst, mit erheblichen juristischen wie ökonomischen Konsequenzen für die Individuen. Vor allem die Lehen gaben dem gesamten Adel noch immer eine Art „Verfassung“ – nämlich in Form einer komplexen, familien- und regionenübergreifenden Gruppe von gesamthänderisch Erbberechtigten, die vor den Ansprüchen weiblicher Erben, Gläubigern und potentieller bürgerlicher Erwerber von Rittergütern geschützt wurden. Diese privilegierte Eigentumsordnung durch Formen der Bodenbindung stellte das letzte geburtsrechtlich vermittelte materielle Vorrecht der ehemaligen Lehnrittergüter dar. Die Form des Lehnguts schützte das Familieneigentum vor der Realteilung unter allen Erbberechtigten und schränkte diesen Kreis auf die vollbürtigen ehelichen Söhne ein, während Witwen und Töchter – solange der Mannesstamm nicht erloschen war – sowie außerehelich geborene Kinder keine Erbansprüche an das Familieneigentum hatten. Nach dem Tode eines Besitzers ohne vollbürtig geborene eheliche Söhne teilten sich die nächsten vollbürtigen ehelich geborenen männlichen Nachkommen des ersten Besitzers, die sogenannten „Agnaten“, das Gut. Auch konnte jeder Agnat privilegierte Vorund Rückkaufsrechte gegenüber Dritten realisieren, so dass auch im Konkursfalle das Gut der Familie nicht verlorenging. Dieses Lehnrecht war zwar mit der „Lehnsallodifikation“ ab 1717 und der „Lehnsassekuration“ von 1718 durch König Friedrich Wilhlem I. „privatisiert“ worden, d.h. das vasallitische Verhältnis zwischen Landesherrn und adligen Untertanen (der sog. „Lehnsnexus“) wurde aufgehoben; doch bestanden die

180 Als „Spätfolgen“ der Reformpolitik sind noch der Verlust des Privilegs auf die patrimoniale Gerichtsbarkeit und Polizei auf den Gütern 1837, sowie das 1839 auch den Bürgern eingeräumte Recht zur Gründung von Fideikommissen, zu nennen. Die rein personenrechtlichen Privilegien des „eximierten Gerichtsstandes“, der Bevorzugung bei der Besetzung hoher Staatsämter und Offiziersstellen, sowie der Verlust des Jagdrechts auf Bauernland gingen allerdings erst in der Revolution 1848 verloren. Das adligen wie bürgerlichen Rittergutsbesitzern gemeinsame Recht der patrimonialen Gerichtsbarkeit wurde 1849 abgeschafft, die patrimoniale Polizei allerdings erst 1872 entzogen, die Auflösung der gutsherrlichen Patronate – der Besetzung der Pfarrstellen im Gutsbezirk – wurde sogar erst ab 1920 ermöglicht.

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überkommenen Erbordnungen der Lehen als Familienrecht mit ihren innerfamilialen und adelsständischen Abhängigkeiten und Verpflichtungen weiter fort.181 Neben diesem „privatisierten“ Lehnrecht gab es als weitere rechtliche Grundlage inneradliger familialer Abhängigkeiten und Verpflichtungen noch majoratische oder fideikommissarische Familienstiftungen.182 Beide unterlagen nicht dem gemeinen Erbrecht und schützten so ebenfalls den Gutsbesitz vor Zerstückelung. Im Gegensatz zum Lehen beruhten weder Majorat noch das Fideikommiss auf einer „Leihe“ durch den Landesherrn, sondern waren eine autonome privatrechtliche Stiftung. Im Majorat, ursprünglich eine Besitzbindungsform des hohen oder autonomen Adels, ging der Besitz nur auf einen Nachkommmen über. Dies konnte bei entsprechender Sukzessionsordnung auch beim Familienfideikommiss geschehen, wobei die entsprechende Erbordnung entweder den Ältesten oder den Jüngsten im nächsten Verwandtschaftsgrad begünstigte. Trotz der wiederholten Versuche im 18. Jahrhundert, diese Formen von „vinkuliertem“ Eigentum zu modifizieren, bzw. in Individualeigentum zu „allodifizieren“, um die Gutswirtschaften auf dem Gütermarkt wirtschaftlich zu dynamisieren, sollte sich gerade dieser Komplex am hartnäckigsten und dauerhaftesten über die Reformepoche bis in das beginnende 20. Jahrhundert erhalten.183 Denn auch in der Reformzeit scheiterte der Versuch, alle drei Formen adliger Privilegierung entweder ganz abzuschaffen, oder zumindest einzuschränken. Die entscheidende Ursache für dieses Scheitern war, dass unmöglich die eigentumsrechtliche Form der adligen Privilegierung beseitigt werden konnte, ohne die Erbansprüche der lehensrechtlichen Agnaten abzufinden. Dazu waren aber weder die gutsgesessenen Besitzer noch der Staat finanziell oder wirtschaftlich in der

181 Vom König war dem Adel ausdrücklich und mehrfach bestätigt ein Oberaufsichts- und Gestaltungsrecht, das zuvor bei der fürstlichen Lehnskanzlei gelegen hatte, zuerkannt worden, bezogen auf die Korporation, wie auch für jede Familie in ihren eigenen Lehensangelegenheiten. Vgl. zu den Einzelheiten am Beispiel der Kurmark und den daraus folgenden Konsequenzen für den Lehensverband wie die Familien: Fritz Martiny, Die Adelsfrage in Preußen vor 1806 als politisches und soziales Problem, Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 35, Stuttgart 1938, S. 14-25. 182 Vgl. dazu unten Teil III. Kap. 4.3.2. 183 Dies in scharfem Gegensatz zu den in der bisherigen Historiographie dominierenden Darstellungen, die irrtümlich von einer sukzessiven Auflösung der Lehen schon im 18. Jahrhundert ausgehen. Eine umfassende – und längst überfällige – Berichtigung dieser Sachverhalte bieten endlich Dirk H. Müllers Arbeiten: Dirk H. Müller, Die Umwandlung der märkischen Rittergüter in lehnsrechtlich verfasstes Familieneigentum unter Friedrich Wilhelm I., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Zeitschrift für vergleichende und preußische Landesgeschichte, Bd. 46, 2000, S. 171203; Dirk H. Müller, Feudale und bürgerliche Eigentumsformen im adligen Grundbesitz Brandenburgs, in: Ursula Balzer/Heiner M. Becker/Jaap Klostermann (Hrsg.), Kein Nachruf! Beiträge über und für Götz Langkau, Amsterdam 2003, S. 53-58. Und schließlich: Dirk H. Müller, Adliges Eigentumsrecht und Landesverfassung. Die Auseinandersetzungen um die eigentumsrechtlichen Privilegien des Adels im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel Brandenburgs und Pommerns (Band 11 Elitenwandel in Moderne), Berlin 2011.



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Lage – erst recht nicht unter den Bedingungen des verlorenen Krieges und der harten Kontributionsleistungen. Die einzige Alternative wäre die Zerstückelung des adligen Grundbesitzes ins Bäuerliche gewesen, um alle Agnaten durch Grundbesitz auszuzahlen. Dies wollte ebenfalls niemand, denn ein solch drastischer Schritt hätte nicht nur das erklärte Reformziel von einer Gesellschaft großer Eigentümer konterkariert, sondern auch verhindert, dass der König die Stände zur Bürgschaft der verpfändeten Domänen heranziehen konnte, um den Staatskredit zu retten.184 Und so strahlte diese schier unüberwindliche Eigentumsverfassung auch in andere Bereiche der immer noch ständischen Gesellschaftsverfassung Preußens aus: bezeichnenderweise warnte Justizminister Friedrich Leopold v. Kircheisen (1749-1825), der persönlich Ehebeschränkungen zwischen den Ständen als unzeitgemäß ablehnte, die diesbezüglichen Bestimmungen für den Adel aufzuheben: weil hinter diesen Ehebeschränkungen die „Lehnskonstitutionen“ stünden!185

2.3.4. Die Adelsreform in den Auseinandersetzungen der Zentraladministration Aufgrund dieser rechtlichen wie materiellen Ausgangslage, die eine schnelle Abund Auflösung der Lehensverhältnisse unrealistisch werden ließ, kann es kaum verwundern, dass die Ministerien und Ressorts davor zurückschreckten, zur Vorbereitung einer Adelsreform in diese komplexen Parameter einzugreifen. Schon in der Frage einer neuen Ständeordnung äußerst zögerlich und unentschlossen, wandte sich Innenminister Graf Alexander zu Dohna-Schlobitten 1810 in einem Schreiben an Staatskanzler Hardenberg gegen Elitenentwürfe, die eine Zerschlagung dieser ständisch-rechtlichen Verhältnisse erforderten. Für ihn bildeten das Eigentumsrecht, der Status und die ständischen Rechte des Adels einen zusammenhängenden Komplex, den er ausdrücklich bei der Bildung einer Repräsentation berücksichtigt sehen wollte.186 Dohna reagierte damit auf eine Anfrage, die der enge Mitarbeiter Hardenbergs, Friedrich v. Raumer, schon im Mai 1810 an das Innenministerium gerichtet

184 Selbst der „adelsfeindliche“ Theodor v. Schön, der entschieden gegen die Lehen und Fideikommisse eingestellt war, weil diese dem Adel selbst „nachteilig“ gewesen seien, lehnte deshalb deren „gewaltsame Vernichtung“ ab, vgl. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 291. 185 Diese Lehenskonstitutionen enthielten zudem vom König sanktionierte Privatregelungen über Erbschaftsbeschränkungen und Missheiraten. Und so nahm auch weiterhin „der Staat [...] weder Ehrbegriffe noch adliges Eherecht in Obhut“ – „Privat- und Provinzialrechte“ erwiesen sich noch als stärker, vgl. Koselleck, Landrecht, S. 109. 186 Das Schreiben v. Dohna-Schlobitten vom 26. Oktober 1810, in: GSTAPK Rep. 84, Nr. 3438, Bl. 295298. Der Entwurf ist in der Akte GSTAPK Rep. 77 Tit. 1108, Nr. 31 (Die staatsrechtlichen Verhältnisse des Adels, Bd. 1 1809-1850, unpaginiert) überliefert.

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hatte.187 Raumer hatte wissen wollen, welche adelspolitischen Maßregeln die Regierung zu treffen beabsichtige, damit die durch das Edikt vom 9. Oktober 1807 neu geschaffenen sozialen Freiheiten auch ausgeschöpft und gesellschaftlich verwirklicht würden – denn „Vorurtheil besiegt nur die Zeit“. Raumer hatte vorgeschlagen, die künftige Nobilitierungspolitik restriktiv zu handhaben, nur in solchen Fällen den Adel zu erteilen, wo „Vermögen und Verdienst in jeder Rücksicht dazu raten“. Zudem sei zu bedenken, ob für „Kriegs- und Civilbeamte“ nicht ein persönlicher Adel einzuführen wäre. Er persönlich lehne eine solche Maßnahme zwar ab, da diese Einrichtung in Deutschland nicht bekannt und der bürgerliche Beamte durch sein Amt ausreichend geehrt sei.188 Zur Auszeichnung niederer Offiziersränge wäre diese Art der Ehrung jedoch immerhin denkbar. Desweiteren warf Raumer die Frage auf, ob die Ehehindernisse für den niederen Adel nicht gänzlich auzuheben wären. Auch dies lehnte Raumer für seine Person jenseits der schon durch die Reformen eingeführten

187 Friedrich v. Raumer (1781-1873) war der Sohn eines Pächters der großen Domäne in Wörlitz und fürstlichen Kammerdieners in Dessau. Nachdem Friedrich v. Raumer Privatunterricht erhalten hatte, besuchte er ab 1793 das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin, und studierte 1798-1801 in Halle und Göttingen. Ursprünglich der Jurisprudenz verpflichtet, konzentrierte er sich zunehmend auf das Studium der Geschichte. Nach seiner Studienzeit absolvierte er in seiner Dessauer Heimat ein Praktikum der Landwirtschaft, und wurde 1802 Referendar in der Kurmärkischen Kammer. Nach dem großen Examen in Hildesheim, welches ihn für die Bewerbung auf Ratsstellen qualifizierte, und einem Aufenthalt im Eichsfeld, kehrte er 1804 nach Berlin in seine alte Stellung zurück und begann neben seiner Arbeit selbst mit Geschichtsschreibung. 1805 veröffentlichte er die „Sechs Gespräche über Krieg und Handel“. Im August 1806 übernahm er kommissarisch die Stelle eines Rats der Domänenkammer in Königs-Wusterhausen. 1809 wurde er Rat bei der Regierung zu Potsdam. Seine Schrift „Über das brittische Besteuerungssystem“ von 1810 wurde begeistert in höchsten Stellen aufgenommen und war Veranlassung, ihn im Mai 1810 als Rat in das Finanzministerium (Minister Altenstein) zu übernehmen. Hardenberg war zwischenzeitlich auf ihn aufmerksam geworden, und zog ihn in seinen engeren Mitarbeiterkreis, wo Raumer großen Einfluss auf alle Reorganisationsaufgaben erhielt (Spitzname: Kleiner Staatskanzler). Ein Konflikt mit Niebuhr, der im selben Ministerium arbeitete, die generelle Enttäuschung über seine Arbeit und die Vorliebe für historische Studien ließen ihn 1811 eine Professur in Breslau nachsuchen und aus dem Ministerium ausscheiden; vgl. ADB, Bd. 27, S. 403-414. 188 Heinz Reif skizzierte Raumers Stellungnahme gegenüber Dohna als viel adelskritischer als angemessen erscheint – Raumers persönliche Ablehnung des Dienstadelsprinzips ist nicht als generelle Adelskritik zu lesen, sondern als Interesse an einer Stabilisierung des grundbesitzenden Adels und der ständischen Gliederung der Gesellschaft insgesamt. Vgl. zu Heinz Reifs Einschätzung: Ders., Adelspolitik in Preußen zwischen Reformzeit und Revolution 1848, in: Hans-Peter Ullmann/Clemens Zimmermann (Hrsg.), Restaurationssystem und Reformpolitik. Süddeutschland und Preußen im Vergleich, München 1996, S. 199-224, hier S. 202f. Begründet auf den Sozialwerten einer projektierten gemeinsamen „Sittlichkeit“ und „Bildung“ befürwortete Raumer allerdings die weitere Öffnung des Adels zum höheren Bürgertum. Zugleich zog er mithilfe dieser Kriterien die Grenzen zu den unteren Schichten um so strenger, und plädierte diesbezüglich für eine Verschärfung der Ehedispense! Vgl. Koselleck, Landrecht, S. 108.



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Lockerungen ab.189 Dagegen schien ihm eine bessere Kontrolle des Adels durch die Einführung von Adelslisten sinnvoll, in die sich nicht nur Gutsbesitzer, sondern der gesamte Adel immatrikulieren müsste, um zukünftighin Adelsanmaßungen auszuschließen.

Die Skizze einer Adelsreform durch Innenminister Dohna Innenminister Dohna ging in seinem Antwortschreiben weit über den von Raumer skizzierten Fragehorizont hinaus, und führte die in der Reformzeit meist nur getrennt unter den jeweiligen Einzelgesichtspunkten verhandelten Problematiken von Staatsreform, Repräsentationsfrage und Neuformierung des Adels in einem Eliten- und Staatsentwurf zusammen. Den von ihm angesprochenen Nexus zwischen Eigentumsrecht, Status und ständischen Rechten des Adels wollte er nicht einfach aufheben, sondern dynamisieren – eine bloße Konservierung des Bestehenden schien auch ihm ausgeschlossen. Dabei identifizierte Dohna drei Handlungsfelder für eine staatliche Adelspolitik, die tatsächlich für die weiteren Adelsreformdiskussionen bis in den Vormärz relevant bleiben sollten. Für eine solche Adelspolitik reklamierte der Innenminister die Kompetenz und Zuständigkeit allein für sein Ressort, schließlich hätten die Verordnungen vom 24. und 26. November 1808 dieses Ministerium mit all jenen Adelsangelegenheiten betraut, die nicht der speziellen Rücksprache anderer Behörden bedurften. Schon diese Ressort-Zuordnung belege, dass auch zukünftig der Adel nicht „als leere Hofrepräsentation und Titulatur“ angesehen werden solle. Aus diesem Grund verwarf Dohna ganz wie Raumer die Idee eines Dienstadels: insbesondere ein erblicher Dienstadel „würde vollends ein Unding seyn.“ Denn ein Adel ohne politische Bedeutung arte nur in „geistlose, lästige, verderbliche Titelsucht“ aus.190 Aufsicht und Kontrolle des Adels – Adelslisten und Heroldsamt Zum ersten stimmte Dohna dem Wunsch Raumers nach einer systematischen staatlichen Adelskontrolle ausdrücklich zu. Er verwies auf die gemeinschaftlich mit dem

189 Raumer entwarf seinerseits im Herbst 1810 eine Verfassungsdenkschrift, die dem Staat eine Vormundschaftsrolle über die zu schaffenden neuen Stände geben sollte, vgl. Pertz, Stein, Bd. 2, S. 517ff. Raumer erklärte darin die „sittliche Bildung“ zum Kriterium einer neu-ständischen Gliederung: „Besitz, Einsicht, Sitten“ – das Recht zum Repräsentiertwerden darf nicht mehr allein von Geburt und großem Vermögen abhängen – aus dem Adelsschutz des ALR leitete Raumer nun eine Privilegierung aller „Gebildeten“ ab. „Gesinnung“ als bürgerlich-adlige Standesgrundlage, wie sie dann intensiviert in den 1840er Jahren diskutiert werden sollte, wurde schon von diesem Mitglied der Reformadministration vorgeschlagen, vgl. Zeeden, Hardenberg, S. 100. 190 Allein in diesem pro-adligen Sinne darf Dohnas Ablehnung des „inkonsequenten leeren Titelwesens“ verstanden werden, das Reinhart Koselleck ihm in einem anderen Zusammenhang zuschreibt – denn es ist eben gerade Dohnas Anliegen, dem Adel, und damit seinen Titeln, (wieder) politische Bedeutung zu geben! Vgl. dazu Koselleck, Landrecht, S. 107.

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Staatskanzleramt getroffenen Verordnungen vom vergangenen April und Mai, auf deren Grundlage er Raumer aufforderte, eine „Generalmatrikel des jetzt bestehenden Adels“ und seines Grundbesitzes zu entwerfen, in die auch „kurze Notizen“ über die Geschichte jeder Familie aufgenommen werden sollten.191 Vorbild für diese neue Einrichtung könne die „Heraldie“ in England sein. Nicht nur der Bestand des Güterbesitzes, sondern auch wie lange sich dieser in einer Familie erhalten habe, sei dabei von Interesse. Wirtschaftliche Dynamisierung und neue Besitzbindungsform („strict settlement“) Ausführlicher wandte sich Dohna der Frage zu, wie die erwünschte wirtschaftliche und soziale Dynamisierung der Gesellschaft zugleich mit einem Minimum an neuen Bindungsmöglichkeiten einzugrenzen und zu steuern wäre. Schließlich sei erwiesen, „daß der durch eine lange Reihe von Jahren ohne zu absoluten gesetzlichen Zwang in einer Familie fortgesetzte Besitz bedeutender Landgüter [...] gewöhnlich von einem guten Familiengeiste“ zeuge, „eine sehr edle und wohlthätige Wechselwirkung auf denselben ausübt, mit einem „dergleichen lange fortgesetzten Besiz der Cultur gedient“ sei, sowie eine „innigste“ und „einsichtige“ Anhänglichkeit an das Land und die Regierung aus der Natur der Verhältnisse selbst sich“ ergebe. Solchen „Familien-Personen“ (!) wohne „eine viel tiefere Kenntnis von den innersten Verhältnissen des Landes und seiner Bewohner“ bei, so dass sie in „vielfacher Hinsicht [...] einen tiefer eingreifenden Einfluß auf die Gemüther ihrer Mituntertanen ausüben“. Deshalb solle der „Grundstücksverkehr“ zwar nicht behindert, aber doch „die Zerstörung all dessen was dem raschen Wechsel der Grundstücke hemmen könne“ vermieden, und „jede Disposition von Privatpersonen welche darauf abzielen mögte unmöglich“ gemacht werden. Die staatlichen Vorgaben müssten sicherstellen, dass „dadurch die Möglichkeit entsteht zufolge welcher dergleichen Einrichtungen ganz genau in dem Maaße entstehen und sich erhalten können, als jener ächte Geist in ihnen waltet“. Umgekehrt müssten diese neue Politik Vorkehrungen treffen, damit jene Bindungen „baldigst aufhören müssen“, sobald dieser Geist verschwunden sei und nur noch die „todte Form zurückgelassen hat.“ Um dieses doppelte Ziel zu erreichen, schlug Dohna vor, die bestehenden Vorschriften über die Unveräußerlichkeit der ländlichen Grundstücke auf jene Landgüter zu beschränken, welche dem oben beschriebenen Zweck entsprechend „einigerma-

191 Denn „[…] nothwendig ist es die actenmäßig erwiesenen Abscheulichkeiten aufzubewahren, wegen welchen so manche in diesem jezt so sehr gesunkenen Stand zu dessen konsequent immer größerer Depravation aufgenommen worden sind, wovon wir noch ganz kürzlich ein höchst trauriges Beispiel erlebt haben.“ Welcher Vorgang damit gemeint war ließ sich leider nicht ermitteln.



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ßen entsprechende Revenüen abwerfen“.192 Diese Einkommenshöhe sah der Innenminister bei etwa 3-4tausend Reichstalern gegeben. Die wirtschaftliche Dynamisierung dieser größeren Landgüter sollte vorangetrieben werden, indem („in Analogie des Edikts vom 9. Okt. 1807“) deren Verschuldung zwecks „Meliorationen“ und „Conservation“ erleichtert würde, solange damit nur ein „angemessener Amortisationsplan“ verbunden sei. Damit sollte es den Gutsbesitzern erleichtert werden, ihre üblichen sozialen Verpflichtungen hinsichtlich der Witwenversorgung und der Geschwister zu übernehmen, sowie die Ausbildungskosten der männlichen Verwandten „für den Staatsdienst“ („und zur wirklichen Ausübung desselben“ – also zur Unterstützung des knappen Salärs) aufzubringen.193 Die kleineren Landgüter sollten dagegen leichter auf den Gütermarkt gebracht werden, indem, „sobald der Besizzer es wünscht und ein näher zu bestimmende Zahl der nächsten Verwandten darin willigt“, die Auflösung der Unveräußerlichkeitsbedingung „jederzeit möglich seyn“ solle. Anstelle der überkommenen Lehen und Fideikommisse sollten zukünftige Formen der Grundbesitzbindung immer nur auf mehrere (z.B. drei) Generationen begrenzt Gültigkeit haben. Danach müsste ein neuer Familienschluss darüber entscheiden, ob diese Bindungsbestimmungen aufhörten, oder erneut für drei Generationen abgeschlossen werden sollten. Aber auch während dieser immer wieder zu erneuernden Bindungsphase sollte der Grundbesitz durch Familienschluss jederzeit veräußerlich gemacht werden können. Die Ähnlichkeit dieser vorgeschlagenen neuen Bindungsform zum englischen Institut des „strict settlement“ ist bemerkenswert; zugleich stellt diese Äußerung eine der frühesten Anklänge an diese englische Erbform in den preußischen Adelsreformverhandlungen dar.194 Neue „Classe von Landgüterbesitzern“ als latent „Neuer Adel“ Die von Dohna identifizierten größeren Landgüter sollten darüber hinaus Träger einer besonderen „Classe von Landgüterbesitzern“ werden. Diese „Classe“ sollte sich neben

192 Die Hoffnung auf eine solche wirtschaftliche Dynamisierung des adligen Grundbesitzes bildete schon ein wesentliches Motiv der königlichen Allodifikationspolitik im frühen 18. Jahrhundert: der Wert „freier“ Güter war auf dem Markt höher als der von erbrechtlich gebundenen; die Besitzer hatten leichtere Möglichkeiten, Kredit auf dem Kapitalmarkt für Investitionen und „Meliorationen“ zu erhalten und der bewegliche Gütermarkt würde frisches Kapital, das sich im Boden einkaufen wolle, in die Landschaften ziehen, und so auch helfen, das Land zu „peublieren“, so die verbreitete Hoffnung, vgl. Müller, Umwandlung, hier S. 173. 193 Die Kosten insbesondere für die Witwen- und Töchterauszahlungen waren erheblich, vor allem, da sie, anders als die Erbteile männlicher Verwandter, nicht als „Lehnstamm“ auf den Gütern gegen Zahlung mäßiger Zinsen „stehen gelassen“ wurden, sondern für Unterhalt und Mitgift in bar ausgezahlt werden mussten, vgl. Martiny, Adelsfrage, S. 17. 194 Allerdings handelte es sich bei Dohnas Vorschlag nicht um einen Erbvertrag zwischen Individuen dreier Generationen, der immer wieder erneuert werden muss, sondern um einen Familienschluss mit festgelegter zeitlicher Gültigkeit. Vgl. näheres zu den Unterschieden zwischen Lehen, Fideikommiss und strict settlement unten Teil III. Kap. 4.3.2.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

ihrem ausgedehnten Besitz auch durch den Zeitraum auszeichnen, über welchen der Grundbesitz sich in ihrer Familie befände: hundert, mindestens aber fünfzig Jahre!195 Obwohl in Dohnas Ausführungen immer nur von Gutsbesitzern die Rede ist, trug die von ihm skizzierte neue „Classe“ von Gutsbesitzern deutliche Züge eines (idealisierten) Adelskonzeptes. Denn ausschließlich aus dieser „Classe“ sollten zukünftig die ständischen Repräsentanten auf der Provinzialebene gewählt werden, und dieser exklusive Kreis sollte wiederum allein die Mitglieder eines zukünftigen „Reichstages“ wählen. Diejenigen Gutsbesitzer, die für die Provinzial- wie die Reichsstände qualifiziert seien, würden „für ihre Person“ als der „wirkliche Adel“ betrachtet werden, dem eine möglichst ausgezeichnete Stellung zu geben sei. Standeserhöhungen nach bisheriger Weise wären damit ausgeschlossen, lediglich der „gewöhnliche kleine Adel“ könne („jedoch nur nach zuvor eingeholtem Gutachten der Provinzialstände“) ausnahmsweise dabei berücksichtigt werden. In den Fällen einer wünschenswerten Nobilitierung, z.B. um herausragende militärische Verdienste auszuzeichnen, wäre nach dem englischen Muster zu verfahren, und mit der Standeserhöhung eine materielle Ausstattung wie im Falle Marlboroughs zu vergeben. Der bisherige Adel würde sich dann ganz von selbst auflösen, sofern ihn nicht seine „Gesinnung“ davor bewahrte. Er, Dohna, beabsichtige jedenfalls, „diese Sache“ (also die Adels- und Standesfragen) dahingehend zu bearbeiten, dass da wo „die Gesinnung sich bildet“ die entsprechenden Formen entstünden, mit dem Verlust der Gesinnung aber auch die Form wieder „fallen und sich zerstören muß“, wie es ihm ja schon in der Besitzbindungsfrage vorschwebte. Mit diesen drei Zielstellungen – bessere Kontrolle des Adelsstandes wie des adligen Grundbesitzes durch den Staat, die Schaffung einer dynamischeren Form der überkommenen Grundbesitzbindung in diesem Stand, und der konsequenten Bindung der politischen Privilegierung an den durch Größe und zeitliche Besitzdauer qualifizierten Grundbesitz – hatte Dohna schon die gesamte Palette der neuen adelspolitischen Ansätze des Vormärz umrissen. An keiner anderen Stelle treten die Kontinuitätslinien der durch Friedrich Wilhelm IV. angestoßenen Adelsreformdebatte der 1840er Jahre zu den adelsreformerischen Überlegungen der Reformzeit so deutlich hervor wie in diesem Vorgang.

Der Widerstand gegen eine „evolutive“ Dynamisierung der Grundbesitzbindungen Während Dohna durch eine Lockerung der Besitzbindungsformen und die Erleichterung landwirtschaftlicher Investitionen eine kontrollierte Dynamisierung der gutswirtschaftlichen wie der sozialständischen Verhältnisse anstrebte, sprach sich ein

195 Dieser Kriterienvorschlag sollte bei der preußischen Herrenhausbildung 1854 eine überraschende Wiederauferstehung und sogar Durchführung erfahren! Vgl. unten Teil III. Kap. 4.3.3.



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Jahr später der Präsident des Obertribunals, der 1786 geadelte Heinrich Dietrich v. Grolmann (1740-1840), in einem Gutachten seines Kollegiums pauschal gegen die „Aufhebung der Lehne und Fideikommisse“ aus.196 Die lehn- und erbrechtliche adlige Sozial- und Rechtsordnung garantiere schon für sich die loyale Bindung an den Staat. Diese Übereinstimmung mit dem zentralen Anliegen der Reformpolitik machte in den Augen Grolmanns diese Besitzbindungsformen selbst dann erhaltenswert, wenn sie der „Cultur des Landes nachtheilig“ wären: Ein Gutsbesitzer, der sein Gut nicht verkaufen kann, ein Agnat der ein SuccessionsRecht an ein Gut hat, ist an das Vaterland gebunden. Seine Wohlfahrt hängt von der Wohlfahrt des Staats genau ab. [...]. Ganz anders ist es mit dem Mann beschaffen, der heute ein Gut kauft, es morgen wieder verkauft und übermorgen mit dem Geld außer Landes zieht.

Auch Neustiftungen dürften unter den gegebenen Bedingungen nicht behindert werden, denn: Solange der Staat noch fortfährt, Fürsten, Grafen, Freiherrn, Edelleute zu machen, so lange muß er auch wünschen, daß diese ihrem Stande gemäß leben können, denn mit bettelnden Fürsten, Grafen und Edelleuten kann ihm nicht gedient sein.197

Grolmann brachte damit ein Motiv ein, das in den Verhandlungen über die Einführung einer Provinzialständeordnung und der darin vorgesehenen Sitz und Stimmenverteilung eine zentrale Rolle spielen sollte: dem Rittergutsbesitz müsse ein besonderes Stimmengewicht eingeräumt werden, da über dessen Landbindung eine besondere Staatstreue erwartet werden könne.198 Trotzdem schloss Grolmann ähnlich wie Dohna sein Gutachten mit eigenen Vorschlägen, den „Adelsstand“ neu zu formieren. Allerdings beschränkte er sich darauf, eine wertmäßige Obergrenze für Fideikommisse und Majorate zu fordern, um eine überstarke Besitzkonzentration auszuschließen. In die eigentlichen ständischen Verhältnisse des Adels gedachte er nur insofern einzugreifen, als die höheren adligen Titel der Grafen und Fürsten ausschließlich primogenital vererbt werden sollten, während sich die Nachgeborenen mit dem Prädikat „Edelleute“ bescheiden sollten.

196 Heinrich Dietrich v. Grolmann wurde in den westlichen Provinzen Preußens als Sohn des Regierungsdirektors in Cleve geboren. Nachdem er in Halle und Göttingen Jurisprudenz studiert hatte, kam er 1765 am Berliner Kammergericht in den preußischen Staatsdienst. 1787 zum Mitglied der Gesetzgebungskommission ernannt, wurde er 1804 Präsident des Obertribunals und 1817 Mitglied des neugebildeten Staatsrats; vgl. ADB Bd. 9, S. 713. 197 Das um die Jahreswende 1811/12 verfasste Gutachten Grolmanns findet sich in: GSTAPK Rep. 74, R I, Nr. 3, Bl. 42-49, die Zitate Bl. 47, bzw. Bl. 49. Die Kenntnis dieser Stellungnahme Grolmanns verdanke ich Dirk H. Müller. 198 Vgl. zu dieser preußischen „Eigentumsideologie“ Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 183.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

Es bleibt jedoch festzuhalten: so unterschiedlich die Einstellungen von Grolmann und Dohna gegenüber den überkommenen Besitzbindungsformen waren, und entsprechend unterschiedlich stark sie in die Verhältnisse des überkommenen Adels einzugreifen gedachten – so waren sie doch zu solchen innerständischen Eingriffen bereit, die die Souveränität des Adels bezüglich seiner eigenen Standesangelenheiten empfindlich berühren mussten. Zwar beschränkten sich beide wesentlich auf den Umgang mit dem bestehenden Adel. Dessen Ergänzung bzw. Erweiterung spielte (ähnlich wie vorerst bei Stein) in ihren Überlegungen keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. Aber die Gesamtheit ihrer Vorschläge – die primogenitale Vererbung höherer Adelstitel, die Erfassung des Adels in einer Matrikel, die wirtschaftliche Dynamisierung eines dennoch gebundenen adligen Grundbesitzes, eine auf drei Generationen beschränkte neue Form der Besitzbindung – nahm schon sämtliche Ideen und Forderungen vorweg, die noch in der durch Friedrich Wilhelm IV. initiierten Adelsreformdebatte des Vormärz verhandelt werden sollten. Zugleich verdeutlichen diese beiden Beipiele, wie die immer noch bestehende, privatisierte lehnsrechtliche Verfassung des Adels es erforderte, den Adel auch weiterhin als korporative Einheit bei der Konstituierung neuer Funktionseliten zu berücksichtigen. Diese Ausgangslage eines noch mächtigen, weil nicht zuletzt korporativ bestehenden Adels in Preußen bestätigte noch Stein im Jahr 1819: Der Adel bildet in der preußischen Monarchie noch eine zahlreiche Klasse von Staatsbürgern in Besitz von großem Grundeigentum, von vielen bedeutenden Stellen im Staat, in der Mehrzahl der Provinzen noch in Genossenschaften verbunden; er ist nicht zerstört, verbannt, erschlagen, ausgeplündert, zum großen Leidwesen eines Teils der demokratischen Schule; wollte man ihn gegenwärtig nivellieren und mit der Sense der Gleichheit und Freiheit ihn abmähen, so würde eine zahlreiche Klasse gekränkt, mißhandelt und zu einem tiefen Unwillen gereizt; der Glanz des Geldreichtums und der Beamtenwelt würde erhöht und der Einfluss der Landeigentümer geschwächt; mit Recht will der geistvolle Verfasser dem Adel sein politisches Leben erhalten.199

Der Adelsreformansatz Hardenbergs: „Adelung“ allein als innerbehördliche Gleichstellung Aber in den Jahren der Kanzlerschaft Hardenbergs unterblieb jeder Versuch einer politischen Adelsreform. Die inneradministrativen Auseinandersetzungen über diese Problematik einer „Adelsreform“ erschöpften sich in der seit dem ancien régime notorischen Ebenbürtigkeitsproblematik bezüglich des sozialen Verkehrs zwischen Adel und Bürgertum allgemein und speziell innerhalb der staatlichen Behörden: wie wäre eine „Adelung“ Bürgerlicher, ihre Gleichstellung hinsichtlich ihrer „Ehrenhaftigkeit“

199 Mit dieser Einschätzung reagierte Stein am 25. Februar 1819 zustimmend auf eine pro-adlige Denk­ schrift des Ministers des Inneren, Wilhelm v. Humboldt, vgl. G. H. Pertz, Denkschriften, S. 186f.



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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und „Satisfaktionsfähigkeit“ mit den Adligen zu bewerkstelligen?200 Tatsächlich suggerieren die Zahlenrelationen der während der Reformjahre erfolgten Nobilitierungen, dass „die bürgerlichen Reformer an der Macht [...] ihre zeitweilig starke Position offensichtlich kaum benutzt [hatten], um in den Stand aufzusteigen, aus dem die Masse ihrer stärksten Gegner kam“.201 Dohnas weit ehrgeizigere Vorstellungen bezüglich einer neuen politischen Standesdefinition des Adels inklusive neu zu integrierender Mitglieder wurden vom Staatskanzler nicht aufgegriffen. Ausdrücklich sprach sich Hardenberg gegen spezifische, allein für den Adel geltende Verordnungen bezüglich der zu überarbeitenden Gesetzeslage aus. Da alle staatsbürgerlichen Verhältnisse einer Revision zu unterziehen wären (ständische Verhältnisse, Dienste der Untertanen, Gewerbe und Zünfte, Domänen, Patrimonialgerichtsbarkeit u.a.), sei eine dringende Überarbeitung der Gerichtsordnung vonnöten, bis dahin aber Verordnungen über den Adel auszusetzen.202 Und als Hardenberg am 21. März 1812 Justizminister Kircheisen schließlich anwies, die „Adelsreform“ sofort für die Gesetzeskommission vorzubereiten, zielte dies allein auf das Problem, wie die einzelnen Adelsbestimmungen des ALR an die Reformgesetzgebung anzupassen wären.203 Ein zeitgleicher Entwurf des sprechenden Titels „Die Vorschläge zu einer National-Rangordnung u. Vertilgung gefährlicher Gesinnungen des Adels gegen Bürger und vice versa“, der in der 118. Sitzung der „Nationalrepräsentation“ von 1812 verhandelt wurde, widmete sich in bezeichnender Weise allein diesem begrenzten Verständnis

200 Eine solche Tendenz lässt sich in der Tat aus der Entwicklung des Titelwesens in Preußen im Verlauf des 19. Jahrhunderts ablesen. Die kulturellen Symbole der adlig-ständischen Herrschaft wurden ja seit der Reformzeit tendenziell dem (höheren) Bürgertum zugänglich: so beklagten sich Adlige, dass bürgerliche Rittergutsbesitzer dieselben ständischen Uniformen tragen durften wie sie selbst. Auch wurde kritisiert, dass sich bis 1840 eingebürgert hatte, Armeeoffizieren bürgerlicher Herkunft die Anrede „Hochwohlgeboren“ zuzugestehen. Ein Reskript des Justizministeriums vom 3. Januar 1840 empfahl deshalb die nichtadligen Offiziere (außer den Stabsoffizieren) nur mit „Wohlgeboren“ anzusprechen. Trotzdem wurde aus diesem Reskript deutlich, wie der Berufstitel des Stabsoffiziers dem Adel gleichgestellt wurde, weshalb in weiterer Konsequenz Karriereoffiziere um die Nobilitierung allein mit Begründung ihres Berufsstandes nachfragten. Der Adelstitel wurde zum „Charaktermajor“, vgl. Robert M. Berdahl, Anthropologie und Geschichte: einige theoretische Perspektiven und ein Beispiel aus der preußisch-deutschen Geschichte, in: Robert M. Berdahl u.a. (Hrsg.), Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1982. 201 René Schiller, Vom Rittergut zum Adelstitel? Großgrundbesitz und Nobilitierungen im 19. Jahrhundert, in: Ralf Pröve/Bernd Kölling (Hrsg.), Leben und Arbeiten auf märkischem Sand. Wege in die Gesellschaftsgeschichte Brandenburgs 1700-1914, Bielefeld 1999, S. 49-89, hier S. 68. 202 Im selben Schreiben informierte Hardenberg Kircheisen noch über einen vom Landrat v. Dewitz eingereichten Vorschlag, einen Amtsadel einzuführen, ohne weiter darüber zu kommentieren, vgl. Schreiben Hardenbergs an Kircheisen vom 21. März 1812, in: GSTAPK Rep. 84 A Nr. 9232 (Justizministerium, Heiraten Adliger mit Frauen bäuerlicher und kleinbürgerlicher Herkunft 1798-1896), Bl. 90. 203 Vgl. Koselleck, Landrecht, S. 107ff.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

einer Adelsreform.204 Beklagt wurde darin, dass angeblich immer noch Vorurteile vor allem des Bürgerstandes gegenüber dem Adel bestünden, obwohl doch die Standesprivilegien aufgehoben seien, staatliche Stellen nur noch nach Können, und die Rittergüter nach dem „vollem Geldbeutel“ vergeben würden. Die in diesem Entwurf enthaltenen Vorschläge beschränkten sich darauf, die behördlichen Positionen in der preußischen Administration verschiedenen Adelsprädikaten gleichzustellen. Die Begründung hierfür lautete, dass „schon jetzt in Privat-Briefen an nicht adlige Geheime Staats-Räte, Staatsräte und Präsidenten gewöhnlich ‚Hochwohlgeboren‘ adressiert wird, obwohl dies, solange es nicht offiziell vom Staate vorgeschrieben wird eher als Arroganz denn als Höflichkeit von Seiten Adliger erscheinen muß, da auf diese Weise der Adlige den Nichtadligen gleichsam zu sich ‚erhebt‘.“ Deshalb solle der Staat den hohen Beamten, die „aufgrund ihrer Verdienste [...] den „inneren“ Adel schon bewährt hätten“, auch offiziell anerkennen. Dadurch würden die Stände amalgamiert, und sozusagen die ganze Nation in den Adelsstand erhoben.205Diese Standeserhebungen würden lebenslänglich gelten, aber nicht vererbt werden können. Diese nach Lage der Dinge recht kurzsichtigen Lösungsansätze wurden ausgerechnet unter Abgrenzung von der zeitgenössischen französischen Politik motiviert, deren Bestreben, so die „Vorschläge“, durch die Förderung von Majoraten einen napoleonischen Neuadel zu begründen doch nur noch mehr Geld („eh schon das Ziel alles Strebens“) an den Grundbesitz binden würde, während man ja gerade diesen Effekt mit der beabsichtigten Aufhebung der alten Lehnverfassung beseitigen wolle. Fazit Es bleibt also festzuhalten: in den Reformjahren von 1807 bis 1812 hatte sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat und Adel in den Vordergrund von adelsreformerischen Überlegungen geschoben, überlagerte die ältere, moralische Adelskritik und ihre „klassischen“ Topoi einer Standeserneuerung. Ein starker adliger Kern für die angestrebte neue preußische Elitenformation „großer Grundbesitzer“ wurde einerseits durch die Reformer ausdrücklich gewünscht, um die neue Staats- und Gesellschaftsordnung historisch zu legitimieren. Andererseits war ein solcher adliger Kern aus faktischen Gründen unvermeidlich: die Verteilung des großen Agrarbesitzes, sowie die besitzrechtlichen Konsequenzen der noch unauflösbaren Lehnsverfassung machten dies unumgänglich. Doch die Einpassung des gutsbesitzenden Teils des

204 Vgl. GSTAPK Rep. 77 Tit. 320, Nr. 7 (Die Vorschläge zu einer National-Rangordnung u. Vertilgung gefährlicher Gesinnungen des Adels gegen Bürger und vice versa, 1812). 205 Vorgeschlagen wurde, den Staatskanzler mit der Fürstenwürde, die Staats-Minister und in gleichem Range stehenden Militär- und Zivil-Beamten mit der Grafenwürde, die Geheimen Staatsräte und den ihnen gleichstehenden Militär- und Zivilbeamten die Freiherrn Würde auszustatten, während „Staatsräte, Präsidenten, Vice-Präsidenten der Landes-Collegien“ und Militärs und Beamten ihrer Stufe den einfachen Adel erhielten.



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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Adels in eine neue Elitenordnung erforderte eine „innere“ Adelsreform, einen Eingriff in die binnenständischen Strukturen von Erbrechten auf Titel und soziale Privilegien. Mithin hatte sich nicht nur der sozial-ökonomische Kontext des Adels in den Kernprovinzen Brandenburg-Preußens grundlegend verändert, als zudem auch die Erwartungen, die an diesen Adel von außen, durch eine adelskritische und reformorientierte (Halb-)Öffentlichkeit herangetragen wurden. Die Idee der Erweiterung einer gesellschaftlichen Partizipation am Staat, die wesentlich durch eine Gruppe großer Grundbesitzer als „idealen“ Landesvertretern getragen werden sollte, zog zwangsläufig Überlegungen nach sich, welche Konsequenzen daraus für den Adel in seinen binnenständischen Verhältnissen zu ziehen wären.206Im Zentrum der sich in der Reformzeit abzeichnenden neuen Adelspolitik stand die von Stein (und seinen Vorläufern) programmatisch geforderte, von Innenminister Dohna erstmals als Ziel einer neuen Ständepolitik skizzierte Teilung der Adelskorporation bei gleichzeitiger (vorsichtiger) Aufnahme neuer Gruppierungen in die alte Herrschafsformation. Dies musste das adlige Selbstverständnis als „Stand“ und sozialen Verband erschüttern. Die Zugehörigkeit zum Adel qualifizierte nicht mehr automatisch zum „richtigen“, „geeigneten“ „Adligsein“! Die Gesellschaftskonzepte „Adel“ und „Elite“ wichen nun noch deutlicher in doppelter Weise voneinander ab: weder wurde der Adel in seiner Gesamtheit als potentiell „elitenfähig“ betrachtet, noch rekrutierte sich die „Elite“ ausschließlich mehr aus Adligen. Trotz der durch die innerfamilialen Lehens- und sonstigen Erbordnungen unterstützten sozialen Bindungen innerhalb des Adels trieben damit die Vorstellungen von Adel und „Adligsein“ im Sinne eines Ideals adliger Existenz weiter auseinander: die Auswahl, Priorisierung und Hierarchisierung ursprünglich adliger Elitenkriterien konnte nun nicht mehr als standesinterne Angelegenheit des Adels behandelt werden, wie dies für die älteren, „involutiven“ „Tugendadelsmodelle“ typisch gewesen war.207

206 Vgl. Neumann, Stufen, S. 21. Dieser völlig andere Reformansatz gegenüber der Zeit vor 1806, der eben die ganze Gesellschaft neu entwerfen wollte, relativiert auch stark die von E v. Meier behauptete Kontinuität der Reformgedanken vor und nach 1806, vgl. Ders., Reform, S. 113ff. Zu diesen „Reformen vor der Reform“ vgl. Otto Hintze, Preußische Reformbestrebungen vor 1806, in: Historische Zeitschrift 76, 1896, S. 413-443. 207 Am deutlichsten wurde diese „Verflüssigung“ und Ausdehnung von „Adligkeit“ in Barthold Georg Niebuhrs Verfassungsentwurf von 1819 angesprochen. Dieser Entwurf ist nur noch indirekt über Steins Reaktion darauf erschließbar: unter Punkt 4. („Für das Land möchte ich eingeführt sehen“), b. hatte Niebuhr gefordert, dass zukünftig „jeder Besitzer eines Ritterguts für adlig gelte und adlig für sich und sein Geschlecht sei [(!) Hervorhebung G. H.], der bis zum Stabsoffizier gedient oder einen bestimmten bedeutenden Rang in der Ziviladministration erlangt“. Also auch Niebuhr wollte neben der Grundbesitzqualifikation weitere staatlich-gesellschaftliche Leistungen potentieller Adelsanwärter einfordern. Dennoch hatte Stein diesen Passus Niebuhrs brüsk abgelehnt: dies war ihm doch der allein ökonomisch und leistungsbezogenen Definition von „Adligkeit“ zuviel. Stein vermisste besonders die Berücksichtigung von „Sozialwerten“, die sich in seinen knappen Worten in „Sittlichkeit“ und „Geschlecht“(bewusstsein) ausdrückten, vgl. „Bemerkungen Steins zu Gedanken

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Diese Entwicklung berührte tief das adlige Verständnis von sozialem Zusammenhang und gesellschaftlicher Autorität der eigenen Gruppe. Denn dieses stand ja in enger Abhängigkeit zu standesspezifischen Vorstellungen über die Bedeutung der „erweiterten Familie“ als Geschlecht, ihrem Geschlechtsalter als Ausweis der dauernden Generationenkette und dem über die Lehnsbindung gemeinsamen Grundbesitz als Handlungsraum, und musste entsprechend auf das Familien- als Geschlechterverständnis des Adels zurückwirken. Die überkommenen adligen Vorstellungen und Kriterien vom „Adligsein“, von der ganzheitlichen adligen Existenz und Zugehörigkeit als Persönlichkeit in Verbindung zu Familie, Geschlecht und Stand waren grundsätzlich in Frage gestellt. Die ins Auge gefasste „Teilung“ der alten Adelskorporation bedrohte nicht nur den Zusammenhang verschiedener Familien, die sich bisher als Mitglieder derselben Korporation verstanden hatten, sondern musste im Zweifelsfalle sogar durch einzelne Familien „hindurchgehen“, d.h. die unterschiedlichen „Zweige“ und „Äste“ des Geschlechtsverbandes, eventuell sogar Geschwister, unterschiedlichen ständischen Rechtssphären und Lebenswirklichkeiten zuordnen. Dieses Ansinnen überwarf notwendig alle überkommenen Kriterien des Adels über Zugehörigkeit und Ausschluss seiner Angehörigen.208 Zugleich aber dispositionierte die Vorgeschichte im preußischen ancien régime mit ihrer Akzentuierung des (personenrechtlichen) Adelsstandes als präformierter Staatselite die Ausweitung einer neu-ständischen Partizipation als Angleichung weiterer Bevölkerungsgruppen an den Adel - in gewissem Sinne eine „Erweiterung des Adels“. Eine solche „Adelung“ nichtadliger Gruppen warf aber notwendig die Frage auf, welche vormals exklusiv dem Adel zugesprochenen Standeseigenschaften und Standeskriterien „evolutiv“ auch auf bürgerliche Elite-Aspiranten auszudehnen, bzw. in nichtadlige Gruppen zu „exportieren“ seien.209 Dass ein adliger Kern innerhalb der neugefassten Elitenformation nach Absicht der Reformer wie als Folge der Verhältnisse erhalten bleiben musste hatte zur Folge, dass in Preußen adlige Standeskriterien auch bei der künftigen Elitenauswahl stark in Latenz gehalten wurden. Dies betraf neben der vorausgesetzten Geburtsauslese bei der Besetzung von Ämtern vor allem das Grundprinzip des Erbcharismas der persönlichen „Würdigkeit“ und der individuellen wie familialen „Ehre“, bzw. des „Geschlechtsbewußtseins“ als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur neuen Elite. Mit anderen Worten: die gesellschaftspoliti-

Niebuhrs über Verfassung, Frankfurt, Februar/März 1819“, in: Stein, Briefe, Sechster Band, Nr. 30, S. 43. Barthold Georg Niebuhr (1776-1831) war Historiker, Staatsmann und Altertumsforscher, und beteiligte sich als Mitglied der Immediatkommission und Finanzberater Steins und Hardenbergs an den Verfassungsdebatten. 208 Vgl. zu den Elementen der „klassischen“ „Adligkeit“ der ständischen Epoche oben Kap. 1.2.3. 209 Insbesondere das kollektive „Erweckungserlebnis“ der folgenden Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich wurde schon zeitgenössisch als kriegerische „Adelung“ des ganzen Volkes beschrieben, um daraus Forderungen der politischen Teilhabe abzuleiten: vgl. Hubrich, Entstehung, S. 98.



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schen Zielstellungen und besitzständisch-rechtlichen Verhältnisse dispositionieren eine „Adelung“ nichtadliger Gruppen über die Ausdehnung einer hybridisierten „Adligkeit“. Wie und in welcher Form konnten aber diese Inhalte „verallgemeinerbar“ formuliert, und lebensweltlich verbindlich auf vormals nichtadlige Gesellschaftsmitglieder übertragen werden?210 Erst diese präsumptive Spaltung der Adelskorporation und die latente Ausdehnung ihrer habituellen Bestände auf (vormals) nichtadlige Gruppen lässt es sinnvoll erscheinen, retrospektiv überhaupt von einem Problem der „Adligkeit“ im nachständischen Sinne zu sprechen: nicht mehr als begriffliche Zusammenfassung des Habitus einer sozialen Formation (des Adels); sondern im Sinne einer potentiellen Adelsfähigkeit, die Adligen wie Nichtadligen zugeschrieben werden konnte, aber nicht selbstverständlich alle Adligen umfasste. Adlige wie Bürgerliche konnten nun gleichermaßen auf ihre potentielle „Adelsfähigkeit“, auf ihre „Adligkeit“ befragt werden! Von nun an sollten alle nachständischen Adelsreformideen um diese beiden Problemkomplexe kreisen: binnenadlige Neuformierung einerseits und die soziale Ausdehnung von Elementen des „Adligseins“ auf potentiell neue Mitgliedsgruppen andererseits – in welchem Sinne waren auch sie „adlig“, oder konnten sie es werden? Aber wie wäre diese zur Elitenfunktion qualifizierende „Adligkeit“ vor dem Hintergrund der preußischen Geschichte und bezogen auf die konkreten Bedürfnisse Reform-Preußens überhaupt genauer zu bestimmen?

2.4.

Die Neubestimmung einer nachständischen preußischen „Adligkeit“

2.4.1.

Die Strukturvoraussetzungen einer Bestimmung preußischer „Adligkeit“

Da in Reform-Preußen, anders als in Frankreich, kein Traditionsbruch eingetreten war, musste die nachgesuchte Neubestimmung einer preußischen „Adligkeit“ zur Integration alter und neuer privilegierter Herrschaftsgruppen an die historischen Strukturvoraussetzungen der Adelslandschaften anknüpfen, die für preußische Reformer wie für die Betroffenen Anschauungsbeispiel und Handlungsgegenstand waren. In der Situation nach 1806 waren dies in gesteigerten Maße die Adelslandschaften der preußischen Ostprovinzen, da Preußen auf diese seit jeher dominierenden Kerngebiete der Monarchie durch den Frieden von Tilsit reduziert worden war. Wie aber sah es mit den dortigen adelspolitischen Strukturvoraussetzungen aus? Welche Grundlagen

210 Als ein solches „Exportgut“ ehemals adliger Zuschreibung ins Bürgertum ist die adlige Vorstellung der „Ehre“ beschrieben worden, vgl. Ute FREVERT, Ehrenmänner: das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991.

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boten die alt-preußischen Ständelandschaften, um eine nachständische „Adligkeit“ deduzieren und strukturell wie historisch legitimieren zu können? Gaben die dortigen überkommenen Adels- und Ständestrukturen etwa schon „Richtungstendenzen“ für eine Kriterienauswahl zuzumessender „Adligkeit“ vor? Hierzu wäre näher zu beleuchten, wie es zuvörderst mit der Größenordnung und dem Charakter des dortigen „Elitenreservoirs“ aussah. Und des weiteren, welche überkommene Handlungsrelevanz die dortigen Adelsformationen bei der Elitenauswahl auszeichnete. Und zum dritten ist ein Blick auf die Machtpotentiale zu werfen, die den fraglichen Adelslandschaften bei der Bestimmung der bisher üblichen Elitenkriterien zukam.211

Charakter der Adelslandschaften der ostelbischen Kernprovinzen Preußens Die flächen- und bevölkerungsmäßig dominierende Ländermasse des brandenburgisch-preußischen Königtums setzte sich aus ostmitteleuropäischen Stände- und Adelsregionen zusammen. Die „preußischen Staaten“ schnitten in ihrer gesamten West-Ost-Ausdehnung von über 1.000 Kilometern extrem unterschiedliche Ständeverfassungen: Von den niederrheinischen Gebieten mit sozialexklusiver Ahnenprobe über die Landschaften, die in ihrer Ständeverfassung bis zu den Säkularisationen des frühen 19. Jahrhunderts die Zugehörigkeit zur Germania Sacra nicht verleugneten, bis hin zu den auch im Hochabsolutismus lebenskräftigen klassischen „ostelbischen“ Ständeprovinzen Brandenburg und Pommern mit vergleichsweise armen und – in Prozenten gemessen – zahlenmäßig kleinem Adel schließlich zu den altpreußischen Gebieten reichte das typologische Spektrum. Letztere, d.h. diejenigen Landschaften, die nach der ersten Teilung Polens von 1772 West- bzw. Ostpreußen genannt wurden, reichten in diejenigen partizipationsstarken ostmitteleuropäischen Regionen hinein, die wie Polen und Ungarn, gewissermaßen der von Hintze als Randzone gekennzeichneten Großregion zugehörend, sich an den „karolingischen“ Kern – im weitesten Sinn – anschlossen.212

Die durch Erfahrungen in den östlichen Kernländern geprägten brandenburgischpreußischen Verwaltungsbeamten reagierten schon im 18. Jahrhundert mit administrativem Unverständnis auf die anders strukturierten west- und reichsdeutschen Landschaften der Monarchie, die wirtschaftlich, ständepolitisch und adelsrechtlich von den östlichen Gebieten stark abwichen.213 Diese östlichen alten Kernprovinzen

211  Die Potentiale von „Adligkeit“ für bestimmte Ständelandschaften nach diesem „Dreierschema“ zu erfragen geht auf eine Anregung Michael G. Müllers zurück, die dieser 1999 anlässlich der Tagung „Bauern und Adel im Prozess der Modernisierung. Agrarische Eliten im ostelbischen Deutschland, Nordeuropa und Ostmitteleuropa im 19. Jahrhundert“ am Herder-Institut in Marburg formuliert hatte. 212 Wolfgang Neugebauer, Standschaft als Verfassungsproblem. Die historischen Grundlagen ständischer Partizipation in ostmitteleuropäischen Regionen. Mit einem Geleitwort von Klaus Zernack, Goldbach (bei Aschaffenburg) 1995, S. 47. 213 Max Lehmann schilderte diese Konflikte am Beispiel der Versuche seitens der Zentralverwaltung, die ständepolitischen Verhältnisse der westlichen Provinzen (d.h. den preußischen Territorien



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der Monarchie, die hinsichtlich des Verhältnisses der Stände zur monarchischen Spitze und deren Zentralverwaltung noch einmal deutliche Unterschiede zwischen den „mittleren (Kern)provinzen“ (Brandenburg, Pommern) und der ostmitteleuropäisch geprägten „Libertaskultur“ Ost- und Westpreußens aufwiesen, teilten dennoch eine Reihe von Merkmalen, die sie als strukturell identifizierbaren Geschichtstraum gegenüber „dem Westen“ ausweisen lassen.214 Dabei zeigten sie eine charakteristische „Mischung“ von west- und mitteleuropäischen mit ostmitteleuropäischen adelsrechtlichen und standessozialen Merkmalen.215 1. Merkmal: Gutsherrschaft im ostelbischen Raum In Folge des mittelalterlichen Landesausbaus und der deutschen Siedlungsbewegung war in den neu erschlossenen Gebieten innerhalb des römisch-deutschen Reiches, sowie in den weiter östlich daraus resultierenden, überwiegend deutschsprachigen Territorien die ständische Situation des Adels seit jeher stark mit der Wirtschaftsverfassung der Gutsherrschaft verbunden.216 Auch wenn entgegen älteren Auffassungen diese Wirtschaftsform keineswegs exklusiv für diese Regionen war, herrschte doch eine von Teilregion zu Teilregion variierende Mischung aus grundherrschaftlichen und gutsherrschaftlichen Elementen vor, die sich deutlich gegenüber den überwie-

der Grafschaften Mark, Kleve, Moers, Geldern, Ravensberg, Minden, Tecklenburg, Lingen und Ostfriesland) den östlichen Territorien anzugleichen: Ders., Freiherr vom Stein, Bd. 1, S. 88-89. Diese Strukturunterschiede zwischen Ost und West betrafen die Wirtschafts- und Sozialverfassung mit dem Übergewicht des (adligen) Großgrundbesitzes, und der scharfen rechtlichen und lebensweltlichen Trennung zwischen Stadt und Land im Osten. Dagegen waren in den westlichen Territorien Gewerbe und landwirtschaftliche Produktion stark miteinander verflochten, Handwerker und Bergarbeiter betrieben Landwirtschaft, und die industrielle Produktion war schon auf dem Land angesiedelt. Auch waren die rechtlichen und ständischen Grenzen zwischen „Rittersitzen“ und anderen großen Besitzungen geringer ausgeprägt (z.B. bezüglich der Verteilung der Jagdgerechtigkeit), Größe und Anzahl des adligen Besitzes geringer, und die Wirtschafts- und Sozialstruktur durch die Frühindustrialisierung stärker gemischt und dynamisiert. 214 Neugebauer, Standschaft, S. 22. 215 Vgl. die zu einem Vergleich geeignete Übersicht der ostmitteleuropäischen adelslandschaftlichen Merkmale, die Michael G. Müller vor allem am Beispiel des polnischen Adels hervorhebt, die aber auch für den baltischen Raum und Ungarn gültig sind. Diese treffen teilweise auch für den ostelbisch-deutschen Raum zu. Im Folgenden wird auf diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede noch im Einzelnen verwiesen, vgl. Ders., Adel und Elitenwandel in Ostmitteleuropa. Fragen an die polnische Adelsgeschichte im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für OstmitteleuropaForschung. Neue Folge der Zeitschrift für Ostforschung (hrsg. Im Auftrag des Herder-Instituts e.V.), 50. Jahrgang 2001, S. 497-513, hier S. 499. 216 Zu den vom Westen Deutschlands abweichenden Entstehungsbedingungen des Adelswesens in der Mark Brandenburg, und den bis weit in die Neuzeit sehr flüssigen und unsicheren Standesverhältnissen immer noch instruktiv: Felix Priebatsch, Die Hohenzollern und der Adel der Mark, in: Historische Zeitschrift, Neue Folge 52. Band, München/Berlin 1902, S. 193-246.

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gend grundherrschaftlichen Verhältnissen westlich der Elbe abgrenzen lassen.217 Die Gutswirtschaft zeichnet sich gegenüber der Grundherrschaft durch eine Kombination von ökonomischen und rechtlichen Sonderheiten aus. Das überwiegende Einkommen der Gutswirtschaften wurde in marktorientierter Eigenwirtschaft (und nicht aus Pachten) erzielt, während die meistenteils adligen Besitzer eine starke Marktdominanz auf dem Getreidesektor ausübten.218 Diesen (adligen) Eigenwirtschaften standen darüber hinaus noch eine Reihe von Dienstbarkeiten seitens der Gutsuntertanen wie Spann- und Handdienste zu. Dieses zog ein direkteres und alltäglicheres Abhängigkeitsverhältnis der Einlieger, Tagelöhner und anderen gutsabhängigen Personen von der Gutsherrschaft nach sich, als die Pachtbeziehungen zwischen adliger Herrschaft und Bauern im westlichen Deutschland. Weitere wirtschaftliche Privilegien der Gutsherrschaft bestanden aus dem Mühlenzwang (d.h. der Verpflichtung der bäuerlichen Untertanen zur Nutzung einer bestimmten Mühle), sowie dem Recht, alleinig in einem Gebiet alkoholische Getränke produzieren und verkaufen zu dürfen.219 Rechtlich war diese privilegierte Wirtschaftsform der Güter durch eine weitgehende Einheit von Grund-, Leib- und Gerichtsherrschaft in der Hand der Gutsherren abgesichert. Dazu verfügten die Gutsherrn über die Polizeigewalt, die sie im Namen der Landesherrschaft auf ihren Gütern ausübten.220 Seit dem 16. und 17. Jahrhundert hatte eine relativ schwache Landesherrschaft die Expansion der ursprünglich kleinen adligen Eigenwirtschaften zu mehrere hundert Hektar großen Gutswirtschaften begünstigt.221

217 Die ältere, klassische Darstellung von Georg v. Below betont diese Unterschiede: Ders., Der Osten und der Westen Deutschlands, in: Ders., Territorium und Stadt. Aufsätze zur deutschen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, München/Leipzig 1900, bes. S. 11-74 (Der Ursprung der Gutsherrschaft). Differenzierend auf der Grundlage der heutigen Forschung der zusammenfassende Überblick bei René Schiller, auf dessen Resümée sich diese Darstellung wesentlich bezieht: Ders., Rittergut, S. 36-41. Vgl. ebenfalls Endres, Adel, S. 100-104. 218 Im 19. Jahrhundert lag der Anteil des verpachteten adligen Grundbesitzes im Westen bei 60-80 %, in Mitteldeutschland bei ca. 50 %, in Nordwestdeutschland noch bei 30-50  %, im ostelbischen Preußen und Mecklenburg dagegen nur bei 18-27 %, vgl. Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 90. 219 Hartmut Harnisch, Die Gutsherrschaft in Brandenburg. Ergebnisse und Probleme, in: Ingrid Mittenzwei/Karl Heinz Noak (Hrsg.), Preußen in der deutschen Geschichte vor 1789, Berlin 1983; Christoph Dipper, Deutsche Geschichte, 1648-1789, Frankfurt a. M. 1991, S. 117ff. 220 Äußerer Ausdruck dieser Rechtsherrschaft der Gutsherrn ist die Patrimonialgerichtsbarkeit, die Kriminal-, Strafgerichts- und Zivilgerichtsbarkeit einschloss und in der überwiegenden Zahl der Gutsherrschaften gegeben war. Aber auch bei der Gerichtsbarkeit gab es differierende Qualitäten, vgl.: Schiller, Rittergut, S. 38-39. 221 Begünstigt wurde dieser Prozess durch wirtschaftliche Faktoren wie die großen Wüstungen in jener Epoche, verursacht insbesondere durch die enormen Kriegszerstörungen des Dreißigjährigen Krieges.



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2. Merkmal: Das Verhältnis des Adelsstands zum bevorrechtete Güterbesitz Schon im 18. Jahrhundert war nur eine Minderheit der Angehörigen ostelbischer Adelsfamilien auf ständepolitisch bevorrechteten („adligen“) Gütern ansässig gewesen. Für den Adel in seiner Formation als „ständischer Adel“ im Sinne Walter Demels, d.h. bezüglich seiner sozialen und politischen Privilegierung, bedeutete dies, dass nicht der Adel in seiner Gesamtheit an der politischen Bevorrechtigung partizipierte.222 Die ältere Forschung neigte dazu, diesen Sachverhalt als Zeichen eines Niedergangs und der Krisis der ostelbischen Adelsformationen zu deuten, wie sie überhaupt die ostelbische Adelsgeschichte vornehmlich aus der Perspektive der Gutsbesitzverhältnisse problematisierte.223 So wurde 1828 für die (seit 1815 gegenüber der Mitte des 18. Jahrhunderts allerdings territorial stark vergrößerte) preußische Monarchie eine Anzahl von ca. 20.000 adligen Familien angenommen, also ungefähr 100.000 Personen (gerechnet zu 5 Personen pro Kernfamilie). Spätere Schätzungen liegen für 1850 bei einer Anzahl von 177.325 Personen (1,03 % Anteil an der Gesamtbevölkerung), bzw. 141.860 Personen für 1860 (0.8 % der Gesamtbevölkerung). Mitte des 19. Jahrhunderts können also zwischen 28.000 bis 35.000 Familien zum Adel in Preußen gerechnet werden. Dagegen gab es im Vergleichszeitraum nur 12.342 Herrschaften und Güter welche die Kreisbzw. Landtagsberechtigung hatten, also politisch bevorrechtigt waren.224 Dabei fällt auf, dass von diesen nur 893 in den westlichen Provinzen Rheinland und Westfalen aber 11.449 in den östlichen Provinzen Preußens inkl. der Provinz Sachsen lagen. Von diesen 12.342 bevorrechtigten Herrschaften und Rittergütern waren um 1857 noch 7.025 in adligem Besitz, dagegen 5.317, bzw. 43  % in bürgerlicher Hand. Betrachtet man alleine die 11.449 bevorrechteten Güter und Herrschaftskomplexe der sieben östlichen Provinzen, waren zu diesem Zeitpunkt 5.122, also sogar schon 44,7 % in bürgerlicher Hand. Dagegen betrug der entsprechende Wert zwischen 1799 und 1804 in den Provinzen Ostpreußen, Pommern, der Neu- und der Kurmark nur etwa 8,5 %.225 Für die Gesamtmonarchie lässt sich aus verstreuten Quellen für 1800 auf ca. 1.000 Rittergüter in bürgerlichem Besitz schließen. Besonders dramatisch zeigte sich diese Entwicklung des Güterübergangs von adligen in bürgerliche Hände in der residenzumgebenden Kurmark (Berlin und Potsdam), wo 1801 6 %, um 1855 in der diesem Raum etwa entsprechenden Provinz Brandenburg aber schon 41  % der Rittergüter

222 Zur Begriffsunterscheidung zwischen „Adelsstand“ und „ständischer Adel“ nach Walter Demel, vgl. Kap. 1.2. 223 Schiller, Rittergut, S. 83ff. 224 Die Zahl der Güter insgesamt lag mit 12 544 Rittergütern etwas höher, vgl. Spenkuch, Herrenhaus, S. 156. 225 Hanna Schissler schätzte den Anteil bürgerlichen Rittergutsbesitzes um 1800 für ganz Preußen auf ca. 10 %, vgl. Dies., Agrargesellschaft, S. 129.

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nicht mehr dem Adel gehörten. Drei Viertel bis vier Fünftel des gesamten preußischen Adels waren also in der Mitte des 19. Jahrhunderts ohne eigenen Gutsbesitz.226 Fritz Martiny, der durch die Auszählung der im 18. Jahrhundert in BrandenburgPreußen eingeführten Vasallentabellen die Überzahl des nicht gutsgesessenen Adels erstmals belegte, interpretierte die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gleichfalls zu beobachtende Dynamisierung des Gütermarktes als ein weiteres Indiz einer wachsenden Entfremdung des Adels von seiner angestammten und vorgeblich standesnotwendigen Lebensweise auf den Gütern.227 Die auf diesen Zahlenrelationen aufbauende Zeichnung einer „Dekadenzgeschichte“ prägt aber nicht nur das Bild des ostelbisch-preußischen Adels in der Literatur bis heute, sondern bestimmte schon im 19. Jahrhundert wirkmächtig die adelspolitischen Befürchtungen und Erwartungen. Unwillkürlich wurden bei dieser zeitgenössischen wie forschungsgeschichtlichen Bewertung die westdeutschen, reichsständischen Adelsverhältnisse als Maßstab an die Vererbungs- und Wirtschaftsstrategien des ostelbischen Adels angelegt. Jüngere Studien, vor allem die René Schillers zu Brandenburg, haben nun nachgewiesen, dass trotz der im 19. Jahrhundert sogar noch einmal zunehmenden Güterbewegungen die Kontinuität und Konzentration des großen Grundbesitzes in der Hand des Adels bis ins 20. Jahrhundert dominierte und sogar zunahm.228 Wie schon während der Phase der ausgeprägten „Güterspekulation“ im 18. Jahrhundert flottierten vorwiegend kleinere Güter und Vorwerke recht flexibel auf dem Gütermarkt.229 Viele dieser Güterverkäufe stellten außerdem vor wie auch nach der Reformzeit eine übliche Form der familieninternen Vererbungsstrategie dar. Deshalb ereigneten sich diese Besitzwechsel bis zur Reformepoche fast ausschließlich zwischen engen Verwandten des Adels (z.B. zwischen Vater und Sohn, Schwiegervater und Schwiegersohn, oder auch zwischen Brüdern), bzw. innerhalb der unterschiedlichen Zweige und Äste derselben (adligen) Familie.230 Die Agrarkrise der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte vor

226 Diese Zahlen nach: Harnisch, Adel und Großgrundbesitz, S. 14-16. Harnisch stützt sich für die Adelszahlen auf: Leopold Freiherr v. Zedlitz, Die Staatskräfte der preußischen Monarchie unter Friedrich Wilhelm III., Bd. 1, Berlin 1828, S. 472 (für 1828); für 1857: Carl Friedrich Wilhelm Dieterici, Handbuch der Statistik des preußischen Staates, Berlin 1961, S. 182f; Georg v. Viebahn, Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, Zweiter Teil, Berlin 1862, S. 309f. Für die Zahlen des Rittergutsbesitzes: Leopold Krug, Geschichte der staatswirthschaftlichen Gesetzgebung im preußischen Staat, Bd. 1, Berlin 1808, S. 33ff.; Johannes Conrad, Agrarstatistische Untersuchungen, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 50, 1888, S. 139. 227 Martiny, Adelsfrage. 228 Schiller, Rittergut. Für Pommern kommt zu ähnlichen Ergebnissen Buchsteiner, Großgrundbesitz. 229 Aufgrund der generellen konjunkturellen Aufwärtsbewegung stiegen seit 1780 die Preise für den ländlichen Grundbesitz rapide, vor allem der Adel wurde von einer Spekulationswelle erfasst; vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 24. 230 Schon deshalb geben ältere Studien, die aus den zunehmenden Güterverkäufen automatisch auf einen wachsenden Gütermarkt schlossen, ein verzerrtes Bild der wirtschaftlichen Situation des Adels



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allem zur Folge, dass dieser seit jeher bewegliche Güteranteil verstärkt in bürgerliche Hände kam. Zwischen Jahrhundertbeginn und Jahrhundertmitte waren in den östlichen Provinzen Preußens tatsächlich rund 4.000 Rittergüter in nichtadlige Hände übergegangen.231 Bis 1830, darin ist sich die Forschung einig, fand der größte Verlust adligen Grundbesitzes statt, den dieser bis dahin und anschließend bis ins 20. Jahrhundert zu verschmerzen hatte.232 Die größten Gutskomplexe, oft als „Stamm- oder Lehngüter“ lehnrechtlich gebunden und auch in ideeller Hinsicht für die Familie von zentraler Bedeutung, wurden dagegen konsequent in der Familie erhalten und vererbt. Um diese Stammund Lehngüter gruppierte sich der agnatische Familienverband, zu welchem auch viele nichtangesessene Mitglieder zählten. Die adlige Familie stellte sich insofern vor allem als Erbengemeinschaft dar, die auch nichtbegüterten entfernten Verwandten sogenannte „Anwartschaften“ sicherte, sowie ein Mitspracherecht über den gebundenen Grundbesitz garantierte. So musste zur Aufnahme von Krediten der Konsens dieser agnatischen „Lehns-Vettern“ eingeholt werden, und in Fällen, in denen ein Gut an Gläubiger überzugehen drohte, konnten diese Agnaten lehnrechtliche Vor- und Rückkaufrechte wahrnehmen.233 Die gegenüber den westdeutschen Adelslandschaften zahlreicheren „nichtangesessenen“ Adelsangehörigen östlich der Elbe, abgesichert als Agnaten und Mitbelehnte, zählten ohne Abstriche zum Adelsstand, ohne dass sie aber ständepolitisch, eben als „ständischer Adel“ (wieder im Sinne Walter Demels) an der politischen Privilegierung beteiligt waren. Diese Adelsangehörigen, in den Vassallentabellen als „Nichtangesessene“ geführt, sind also keineswegs pauschal als marginalisiertes, von „Land“ und „Stand“ entfremdetes „Adelsproletariat“ anzusprechen.234 Die Kreisritterschaften bezeichneten jedenfalls noch gegenüber

wider – eine deutlich geringere Anzahl dieser Güterverkäufe ist als Verlust für den Adel zu verbuchen. Diese von René Schiller für das 19. Jahrhundert nachgewiesene inneradlige Vererbungsstrategie durch innerfamiliären Verkauf lässt sich anhand der Besitzgeschichten in den Gutsarchiven bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen, vgl. z.B. die Gutsarchive im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam unter der Repositur 37. Vgl. dazu auch: Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, hrsg. v. Lothar Gall, Bd. 55), München 1999, S. 69-71. 231 Harnisch, Adel und Großgrundbesitz, S. 16. 232 So die übereinstimmende Einschätzung: Spenkuch, Herrenhaus, S. 157 beruft sich auf W. Görlitz, Junker (4.Auflage), S. 215; Koselleck, Landrecht, S. 512f; Carsten, Junker, S. 96f; Wolfgang Neugebauer, Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von den alten Ständen zum Konstitutionalismus, Stuttgart 1992, S. 180-182; Friedrich-Wilhelm Henning, Die Entwicklung des Grundstücksverkehrs vom ausgehenden 18. und in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts, in: H. Coing/W. Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. 3, Frankfurt a. M., 1976, S. 273-325. 233 Vgl. Müller, Umwandlung. 234 Dies behauptet auch Fritz Martiny nicht, der das „Adelsproletariat“ unter den vollkommen von der Landbindung (durch Lehen und Fideikommisse) entfremdeten Adelsangehörigen sucht. Diese sind in ihrem zahlenmäßigen Anteil aber immer noch schwer bis gar nicht zu greifen. Martiny ver-

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Friedrich Wilhelm I. diese Gruppe der Agnaten und Mitbelehnten als „Bestandsgarantie für den adligen Besitzstand insgesamt“.235 Adlige Existenz und Zugehörigkeit stand in den ostelbischen Adelslandschaften offenbar weniger streng in Deckung mit dem (bevorrechteten) Grundbesitz, als dies im westlichen Europa des „karolingischen Kerns“ der Fall war. Dass in den weitverzweigten Familien oft die einzelnen Familienmitglieder, oder auch die verschiedenen „Äste“ und „Zweige“ unter sehr unterschiedlichen ökonomischen Bedingungen lebten, war in diesen Regionen ein etabliertes Muster adliger Existenz, ohne dass dies die Adelsqualität von Individuen oder nichtangesessenen Familienteilen in Frage stellen musste. Guts- oder Grundbesitz war also weder für Individuen, noch ganze Familien ein zwingendes Kriterium für die Adelszugehörigkeit.236 Umgekehrt lässt sich in Brandenburg bis ins 16. Jahrhundert beobachten, dass mehrere Kernfamilien des gleichen „Geschlechts“, bzw. desselben Familienzweiges, auf einem „Rittersitz“ lebten, der in „ungeteilter Wirtschaft“ bewirtschaftet wurde.237 3. Merkmal: geringe Binnendifferenzierung des Adelsstandes Eine weitere Gemeinsamkeit der ostelbisch-brandenburgisch-preußischen Adelslandschaften mit den übergreifenden ostmitteleuopäischen Adelsstrukturen, wie sie das Baltikum, Polen und Ungarn charakterisierten, bestand in der geringen bis gar nicht vorhandenen rechtlichen Binnendifferenzierung des Adelsstandes.238 Aufgrund einer

mutete diese vor allem im Offizierskorps ohne ungefähre Zahlenrelationen anbieten zu können, vgl. Ders., Adelsfrage, S. 66-72. Viele dieser verarmten Adelsexistenzen waren ohne Zweifel aber den zeitgenössischen Kriegsläuften geschuldet. Es muss deshalb offen bleiben, ob dieses „Adelsproletariat“ tatsächlich ein dauerndes drängendes zeitgenössisches Problem war, oder die Behauptung der Existenz eines solchen und die Klage darüber nur verbreitete Befürchtungen und Zukunftserwartungen reflektierte, vgl. dazu Hartwin Spenkuch, der seinerseits vor einer Überschätzung der „Adelsproletarisierung“ warnt: Ders., Herrenhaus, S. 25f. 235 Vgl. Müller, Umwandlung, S. 174f. 236 Lieselott Enders wies z.B. für die Priegnitz nach, dass von den dort zwischen 1700 und 1800 ansässigen 115 Adelsfamilien nur 24 durchgängig Güter besaßen, vgl. Dies., Die Vermögensverhältnisse des Priegnitzer Adels im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 46, 1995, S. 76-93. Dies korrespondiert mit dem ostmitteleuropäischen Muster, welches kein „hartes“ rechtliches Kriterium für Standeszugehörigkeit kannte: dort dominierte das Kriterium der „Geburt“ bei der Zuweisung ständischer Privilegierung, andererseits konnte aufgrund von Lebensführung die Anerkennung durch die adligen „Herren Brüder“ informell der Adel zuerkannt werden. Desweiteren war die starke wirtschaftlich-soziale Fragmentierung des adligen Standes in ganz Ostmitteleuropa typisch und historisch, die den größten Teil des Adels „an oder unterhalb der Schwelle zwischen adliger und bäuerlicher bzw. stadtbürgerlicher Lebensführung“ positionierte, vgl. Müller, Adel, S. 500. 237 So berichtet Christian Wilhelm Grundmann, Versuch einer Ucker-Märkischen Adelshistorie, Prenzlau 1744, zit. nach Müller , Umwandlung, S. 182, Anmk. 61. 238 Einen Vergleich der polnischen mit den deutschen Adelsverhältnissen aus rechtshistorischer Perspektive bietet Peter Mikliss, Deutscher und polnischer Adel im Vergleich. Adel und Adelsbezeichnungen in der deutschen und polnischen verfassungsgeschichtlichen Entwicklung sowie die



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fehlenden eigentlichen Lehensperiode hatte sich im ostmitteleuropäischen Raum keine lehnsrechtliche Zersplitterung des Territoriums ergeben, welche die adligen Nachbarn auf unterschiedlichen Ebenen der Lehenspyramide eingeordnet hätte.239 Diese ältere Entwicklungsgeschichte ließ eine Unterscheidung zwischen älterem Stammesadel und jüngeren ministerialen Geschlechtern kaum zu, und der Übergang eingesessener Geschlechter in Ministerialverhältnisse, und umgekehrt neuer Geschlechter in den angesessenen Adel war schon in der Frühneuzeit weit fortgeschritten.240 Wie in ganz Nord- und Osteuropa bildete sich deshalb eine binnenständische Titelhierarchie nur verzögert und unvollständig aus, in Polen sogar überhaupt nicht.241 Diese Rechtstradition begünstigte ein ausgesprochen homogenes, sich als politisch-rechtlich gleichgestellt empfindendes Adelsselbstverständnis.242 Höhere Adelstitel wie die des „Freiherrn“ oder „Grafen“ kamen in Ostpreußen (und Schlesien) vereinzelt vor, waren jedoch in der Mark Brandenburg und Pommern sowie im Raum

rechtliche Problematik polnischer Adelsbezeichnungen nach deutschem Recht, Berlin 1981. Die darin vorliegende Darstellung bzgl. der Entstehung insbesondere der deutschen Adelsverhältnisse in der Frühzeit dürfte in einigen Aspekten allerdings etwas überholt sein – so in der Ableitung des Adels aus der monarchischen Verfassung im Frühmittelalter. Leider wird auch nicht auf die geographische Differenzierung speziell der sehr heterogenen deutschen Verhältnisse eingegangen. 239 Gottfried Schramm, Polen – Böhmen – Ungarn: Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Joachim Bahlcke/Hans-Jürgen Bömmelburg/Norbert Kersken (Hrsg.), Ständefreiheit und Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa, Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur vom 16.-18. Jahrhundert, Leipzig 1996, S. 13-37, hier S. 22. 240 Henning v. Bonin, Adel und Bürgertum in der höheren Beamtenschaft der preußischen Monarchie 1794-1806, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Band 15, 1966, S. 139-174, hier S. 142. 241 Verzögert wanderte die adlige Titulatur von West nach Ost, bzw. Süd nach Nord, vgl. Demel, Spezifika, Absatz 10. Auf den Übergangscharakter der preußischen Ostprovinzen zwischen mittelund osteuropäischen, vor allem der polnischen Adelslandschaften machte schon eine Denkschrift des preußischen Hausministeriums (übersandt v. Wittgenstein und Stolberg) vom 15. April 1843 aufmerksam. Darin wurde unter Zitation polnisch-deutscher Quellen und Literatur diese besondere polnisch-slawische Adelsstruktur erläutert: die Gliederung des Adels nach Wappengemeinschaften (und nicht Familien!), sowie die fehlende binnenständische Differenzierung des polnischen Adels. Unter Verweis auf Pommern wurde dies als gemeinsames Merkmal der slawischen Adelslandschaften festgestellt; vgl. I. HA Rep. 89 Nr. 919 (Geheimes Zivilkabinett, betr. die allgemeinen Bestimmungen in Adels-Sachen 1824-1874), Bl. 100-109. Die Usurpation höherer (nicht-polnischer) Titel durch reiche polnische Adelsgeschlechter seit dem 17. Jahrhundert wurde von der polnischen Republik nie anerkannt, bzw. wo sie geduldet wurde, nur als Titel, ohne besondere Vorrechte gewährt! Diese Ähnlichkeit des Titelverständnisses zu den vor allem seit dem 18. Jahrhundert vergebenen höheren Adelstiteln in Preußen (Grafenerhebungen) ist auffällig! 242 Sigmund Neumann spricht in diesem Zusammenhang sogar von „einem mehr polnischen als deutschen Begriff der traditionellen Landadelsgleichheit“, die noch einem Otto v. Bismarck „den Weg vom Landjunker zum Minister nicht verzieh, vor allem auch nicht den Fürstentitel.“, vgl. Ders., Stufen, S. 63, Anmk. 41.a

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der erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum preußischen Staatsverband Preußen hinzugekommenen Provinz Sachsen bis weit ins 17. Jahrhundert unüblich.243 Die meisten Grafentitel wurden erst nach dem Dreißigjährigen Krieg verliehen, wie selbst die schlesischen „Freien Standes-Herrschaften“ nach 1648 gebildet wurden und als „Quasi-Herzogtümer“ (Tomasz Jurek) einen gewissen „Ersatz“ für „wirkliche“ Fürstentümer (Marian J. Ptak) boten.244 So begründeten die sich ab dem 15. Jahrhundert bildenden schlesischen „Freien Standes-Herrschaften“ (in ihrer Mehrzahl aber erst nach 1648 bestehend). In Brandenburg hatte sich ein eigentlicher Herrenstand nie entwickelt.245 Das inneradlige Bewusstsein für diese gering ausgebildete, und nicht formalisierte Binnendifferenzierung illustriert die erfolgreiche Abwehr des 1773 durch die reicheren Standesgenossen initiierten ritterschaftlichen Kreditwerkes durch die Mehrheit der adligen Rittergutsbesitzer in der Kurmark. Der Protest dieser Mehrheit war durch die Befürchtung motiviert, die im „Engeren Ausschuss“ des landschaftlichen Kreditwerkes vertretenen ökonomisch besser gestellten Rittergutsbesitzer könnten sich über diese Initiative an die Spitze der Kreisritterschaften setzen, sich also politisch gegenüber der Mehrheit profilieren: aus ökonomischer Distanz sollte auf keinen Fall eine politisch-rechtliche Differenzierung innerhalb des adligen Standes erwachsen!246 Ganz ähnlich hatte sich der kleine Landadel in Ostpreußen schon im 17. Jahrhundert gegen eine förmliche Konstituierung der großen „Dynastengeschlechter“ als selbständiger und besonderer Stand erfolgreich zur Wehr gesetzt.247 Ähnlich der Situation der polnischen „Magnaten“ wuchs den „großen“ Geschlechtern Ostpreußens allein eine informelle Führungsrolle für den gesamten Stand zu.248

243 Demel, Spezifika, Absatz 10. Peter-Michael Hahn, Aristokratisierung und Professionalisierung. Der Aufstieg der Obristen zu einer militärischen und höfischen Elite in Brandenburg-Preußen von 1650-1725, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge, I. Band 1991, S. 161-208, hier S. 165: Hahn stellt fest, dass trotz erheblicher Unterschiede jene Adelslandschaften allesamt in der ständischen Hierarchie des Reiches zum niederen Adel zählten und eine ständisch differenzierte Magnatenschicht in den Kernprovinzen Brandenburg-Preußens nicht existierte. 244 Bonin, Beamtenschaft, S. 143. Tomasz Jurek, Vom Rittertum zum Adel. Zur Herausbildung des Adelsstandes im mittelalterlichen Schlesien, in: Jan Harasimowicz/Matthias Weber (Hrsg.), Adel in Schlesien. Band 1, Herrschaft – Kultur – Selbstdarstellung, München 2010, S. 53-76, hier bes. S. 7475; sowie Marian J. Ptak, Zur politischen Bedeutung des schlesischen Adels, in: Jan Harasimowicz/ Matthias Weber (Hrsg.), Adel in Schlesien. Band 1, Herrschaft – Kultur – Selbstdarstellung, München 2010, S. 321-336, hier bes. S. 328. 245 Schiller, Rittergut, S. 44. 246 Müller, Umwandlung. Noch bei der Etablierung des preußischen Herrenhauses in den 1850er Jahren löste die vom König projektierte Bevorrechtigung der Grafengeschlechter einen Konflikt mit seinem Innenminister aus, der aus diesen historischen Gründen eine solche Bevorrechtigung vehement ablehnte, vgl. Teil III. Kap. 4.3.3. 247 Neugebauer, Wandel, S. 43. 248 Denn faktisch gab es auch in Polen trotz der nicht differenzierten adelsrechtlichen Ausgangslage erhebliche Unterschiede der Machtchancen und Funktionsrollen zwischen der Masse des



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Dass das Allgemeine Landrecht keinen Versuch unternommen hatte, den Adel binnenständisch zu gliedern, darf wohl ebenso als Folge dieser Entwicklungsgeschichte gesehen werden, wie dem schon oben angesprochenen Bedürfnis, den Adel als einen geschlossenen Staatsstand anzusprechen.249 Diese charakteristische Homogenität in der Titulatur des Adels in den alten Kernprovinzen Preußens wurde erst durch die Politik Friedrich Wilhelms II. durchbrochen, der gezielt viele der großen altadligen und landbesitzenden Familien durch höhere Titel aufwertete, vor allem um die neuerworbenen Provinzen besser zu integrieren.250 4. Merkmal: politische Standschaft kein Exklusivrecht des Adels Die eigentliche politische Privilegierung „hing“ allerdings entsprechend dem west- und mitteleuropäischem Muster „des karolingischen Kerns“ am (bevorrechteten) Grundbesitz. Die überwiegende Zahl dieser mit den Bevorrechtigungen der Gutsherrschaft ausgestatteten Güter waren landesherrliche Lehen. Sie wurden bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts entsprechend als Lehngüter oder adlige Lehen bezeichnet. Aber der Adel hatte kein exklusives Zugriffsrecht auf diese Lehen. Auch Bürgerliche konnten durch den Landesherrn belehnt werden oder auch Lehen von Adligen kaufen.251 Als „ständischer Adel“ (im politischen Sinne) war er also weniger scharf von nichtadligen Gruppen geschieden, als dies im westlichen Europa der Fall war. Die Lebensweise konnte im Zweifelsfalle für die ständische Zuordnung in Mittelalter und früher Neuzeit noch entscheidender sein als Geburt oder Titel. Entsprechend flüssig waren die ständischen Verhältnisse zwischen Adel und Bürgern in dieser früheren Periode; häufig waren Ehen zwischen diesen

armen Landadels und der Magnatenschicht der „bene possessionati“, vgl. Müller, Adel, S. 500501. 249 Koselleck, Landrecht, S. 88. 250 Kai-Uwe Holländer, Vom märkischen Sand zum höfischen Parkett. Der Hof Friedrich Wilhelms III. – ein Reservat für die alte Elite des kurbrandenburgischen Adels?, in: Ralf Pröve/Bernd Kölling (Hrsg.), Leben und Arbeiten auf märkischem Sand. Wege in die Gesellschaftsgeschichte Brandenburgs 1700-1914, Bielefeld 1999, S. 15-48, hier S. 37. Zur Nobilitierung als Integrationsmaßnahme vgl. Schiller, Nobilitierungen, S. 60. Das Bedürfnis nach höheren Titeln stieg allerdings zugleich im Adel selbst wegen der zeitgenössischen „Inflationierung“ des Adels (aufgrund hoher Nobilitierungszahlen), vgl. Martiny, Adelsfrage, S. 78. 251 Auch der Bürger, der ein Lehngut erwirbt und die Lebensweise seiner adligen Nachbarn annimmt, wird noch um 1500 „ohne viel Umstände“ zum Kleinadel gezählt, vgl. Priebatsch, Hohenzollern, S. 200f. Zahlenbeispiele bürgerlicher Rittergutsbesitzer in der Kurmark des 18. Jahrhunderts in: René Schiller, „Edelleute müssen Güther haben, Bürger müssen die Elle gebrauchen“. Friderizianische Adelsschutzpolitik und die Folgen, in: Wolfgang Neugebauer/Ralf Pröve (Hrsg.), Agrarische Verfassung und politische Struktur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte Preußens 1700-1918, Berlin, 1998, S. 257-286, hier S. 260, 276f; um 1800: S. 280f. Und zusammenfassend: Ders. Vom Rittergut, S. 40-41.

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Ständen und erregten keinen Anstoß.252 Selbst das Verhältnis zwischen landgesessenem Adel und den Städten war in der damaligen Epoche mehr von gegenseitigen Interessenüberschneidungen ohne scharfe Abgrenzung der standesgemäßen Beschäftigungen geprägt, denn von dauerndem Konflikt.253 Zwar propagierte die frühneuzeitliche Auffassung den exklusiven Besitz bevorrechteter Güter in adliger Hand, doch die regelmäßig zu findenden Ausnahmen, in denen nichtadlige Familien solche Güter besaßen oder erwarben, sprechen für ursprünglich flüssigere und durchlässigere Grenzen zwischen den Ständen.254 Inwiefern der ostelbische Adelstypus ursprünglich im Zuge des ostmitteleuropäischen Landesausbaus überhaupt als Adel bevorrechtete Güter erwarb, oder selbst erst aus Familien hervorgegangen war, welchen es gelang, bevorrechtete Güter über Generationen in Besitz zu nehmen und zu sichern, lässt sich heute kaum mehr klären.255 Es spricht einiges dafür, dass sich erst allmählich die „Gewohnheit“ ausbildete, grundherrlich ausgestattete Güter vorzugsweise an Adlige zu vergeben, die so zu „adligen Gütern“ mit besseren Rechten (vor allem mit der höheren Gerichtsbarkeit) wurden.256 Die

252 Wie diese Auffassung seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zunehmend zugunsten adliger Exklusivität in Frage gestellt wurde, zeigt das Beispiel des Matthias Gebhard v. d. Schulenburg, der mit der Magdeburger Bürgerstochter Marie Christina Kurtz verheiratet war, und dessen Brüder nach seinem Tod die Lehnsfähigkeit seiner Söhne in Frage stellten. Dabei beriefen sich die Brüder bezeichnenderweise auf ein kurfürstliches Edikt vom 30. November 1697, nach welchem die Söhne „von Adlichen, welche mit Bauern oder anderer Leute, so gar geringen Standes und Herkommens sind, Töchter sich verhehelichen würden“, nicht lehnsfähig seien. Doch auf Bericht der Magdeburger Regierung in diesem Streitfall entschied König Friedrich I. durch Kabinettsorder vom 12. November 1708, dass mit „Leuten geringen Standes“ nur solche Personen gemeint seien, die noch unter den Bauern ständen! Die Söhne Matthias Gebhards seien also lehnsfähig! Vgl. Dietrich Werner Graf v. d. Schulenburg/ Hans Wätjen, Geschichte des Geschlechtes von der Schulenburg 1237-1983, Wolfsburg 1984, S. 247. 253 Priebatsch, Hohenzollern, S. 201-203. In einem anderen „kolonialen“ Territorium, Schlesien, erhält sich diese ständische „Flüssigkeit“ noch bis ins 17. Jahrhundert, vgl. Ebd., S. 215. 254 Ein Beispiel einer solchen Forderung nach exklusiv adligem Besitzrecht in: Priebatsch, Hohenzollern, S. 214, Anmk. 2. 255 Nicht zuletzt deshalb, da in diesem Raum die einzelnen Geschlechter erst zu Zeitpunkten zu greifen sind, als die Verschmelzung eingesessener Geschlechter und ministerialer Familien schon weit fortgeschritten war, vgl. Bonin, Beamtenschaft, S. 142. 256 Vgl. Robert Stein, Die Umwandlung der Agrarverfassung Ostpreußens durch die Reform des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, Jena 1918, S. 187. So hielten auch die „Besonderen Bestimmungen über die Wählbarkeit im Stande der Ritterschaft“ der Pro­vinzialständegesetze von 1823 für die Provinz Preußen, § 136, Zusatz 177 fest, dass es ursprünglich gar keine „adeligen Güter“ in Preußen gegeben habe, sondern diese erst im 17. Jahrhundert durch Bestimmungen des Großen Kurfürsten nach bestimmten Kriterien dazu erklärt wurden, siehe: Karl Friedrich Rauer, Die ständische Gesetzgebung der Preußischen Staaten, Berlin 1845, 2. Teil, S. 102. Entschieden gegen die in der Historiographie dominierenden Darstellungen der „Modernisierungzäsuren“ an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert betont Wolfgang Neugebauer die alte, bis weit ins 18. Jahrhundert befolgte Standschaft Bürgerlicher: vgl. Ders., Standschaft, S. 19-20. Allerdings stellt Neugebauer fest, dass die gegenüber Bürgerlichen



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ältere Lehnsordnung unterstützte jedenfalls keine scharfe ständische Abgrenzung zwischen Adel und Nichtadel.257 Entsprechendes galt für die am Gutsbesitz hängenden „Standschaftsrechte“, d.h. der politischen Teilhabeberechtigung.258 Wie bevorrechteter Grundbesitz sich nicht nur in adliger Hand befand, wurde auch die politische Teilhabe nicht ausschließlich vom Adel ausgeübt, wie es in den westlichen Reichsterritorien üblich war.259 Nach west- und mitteleuropäischem Muster, und im Unterschied zu ostmitteleuropäischen Beispielen wie Polen, stellte in Brandenburg, Pommern, wie im außerhalb der alten Reichsgrenzen gelegenen Herzogtum Preußen, die Bodenbindung das entscheidende „Charakteristikum bei der Zumessung ständischer Teilhaberechte“ dar.260 Die „Standschaft“ als Qualität eines bevorrechteten Gutes erlaubte (später in gemindertem Umfang) auch dem bürgerlichen Besitzer die Teilnahme an den Kreis- und Landtagen.261 Selbst Friedrich II., der den Erwerb von Rittergütern durch Bürgerliche systematisch unterbinden wollte, machte immer wieder charakteristische Ausnahmen, so z.B. nach dem siebenjährigen Krieg in Ostpreußen, wo Güter mit allen standschaftlichen Rechten an Bürgerliche gingen.262 In Brandenburg waren sie bis ins späte 18. Jahrhundert (mindestens informell) an den ständischen Versammlungen, vor allem den Kreistagen, beteiligt.263 Auch für Pommern berichtete 1817 Karl Friedrich v. Beyme als Mitglied der Kommission zur Ermittelung der älteren ständischen Verfassung in Pommern, dass dort

zunehmend restriktivere Zulassung zu ständischen Aktivitäten keine isolierte Erscheinung des frideriziansischen Preußen war, sondern auch in anderen Teilen Mitteleuropas zu beobachten ist. 257 Peter Baumgart, Zur Geschichte der kurmärkischen Stände im 17. und 18. Jahrhundert, in: Dietrich Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1974, S. 131-161. 258 Neugebauer, Standschaft. 259 In diesem Sinne können die brandenburgisch-preußischen Kernprovinzen östlich der Elbe insgesamt (mit Ausnahme Schlesiens) im Sinne Neugebauers einer „ostmitteleuropäischen Randzone“ zugerechnet werden: vgl. Neugebauer, Standschaft, S. 49. 260 In Polen dagegen besaß ursprünglich auch der besitzlose Adel aktives und passives Wahlrecht, vgl. Müller, Adel, S. 503. In Polen fand insofern mit der Maiverfassung 1791 eine Angleichung an die westlichen Partizipationsmuster Ende des 18. Jahrhunderts statt, die eine Stärkung der Bodenbindung als Partizipationsvoraussetzung zur Folge hatte, sowie Bürgerlichen den Kauf von Landgütern gestattete, vgl. Neugebauer, Standschaft, S. 17-18, 43-44. Siehe auch Bonin, Beamtenschaft, S. 154. 261 Dies galt selbst noch im 18. Jahrhundert, vgl. Schiller, René: „Edelleute …“, S. 266f. 262 Vgl. Neugebauer, Wandel, S. 174f. Zur restriktiven Adelsschutzpolitik Friedrich II., vgl. unten Kap. 2.4.1. 263 Dies bestätigte z.B. Regierungspräsident v. Bassewitz für die Kurmark in einem Pro Memoria, dass der Klewitz-Altensteinschen Kommission über die historischen Ständeverfassungen 1817 zugeleitet wurde, vgl. „Historische Bemerkungen über die kurmärkischen Stände“ in: GSTAPK Rep. 77 Tit. 514, Nr. B 28 (Nachrichten und Ansichten über Stände-Verfassung in der Kur- Alt- und Neumark – gehörig zur Provinz Brandenburg, auch Sachsen 1809-1818), Bl. 91-98, hier Bl. 92v. Zu den Verhältnissen bürgerlicher Rittergutsbesitzer: vgl. Vetter, Kurmärkischer Adel, S. 29.

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Die den vorbemerkten verschiedenen Arten von Landgütern zustehenden Vorrechte [...] ur­sprünglich wohl eine Folge der dem Adel für seine Person zugestandenen Vorrechte vor anderen Ständen gewesen, sie sind aber nicht nur durch die lange Zeit ihrer Ausübung in Dingliche mit dem Besitze des Grundstücks auf jeden, auch nicht adlichen Besitzer übergegangene Rechte verwandelt [Hervorhebung G. H.]“ worden.264

In Ostpreußen gewannen neben den bürgerlichen Rittergutsbesitzern sogar die Kölmer (ein Stand freier Bauern) im Verlaufe des 18. Jahrhunderts ein verstärktes Recht der Mitbestimmung.265 Und in Westpreußen, das nach der ersten polnischen Teilung 1772 zur Monarchie gekommen war, entwickelte sich Ende des 18. Jahrhunderts ebenfalls eine bemerkenswerte Bereitschaft seitens der Stände, nichtadlige Grundbesitzer an der ständischen Partizipation teilhaben zu lassen.266 Am ausgeprägtesten waren die Potentiale einer sich abzeichnenden „Gentrifizierung“ bürgerlicher Gutsbesitzer

264 Vgl. den Bericht des Staatsrats für Justizsachen Karl Friedrich v. Beyme für die Klewitz-Altensteinsche Kommission in: GSTAPK Rep. 77 Tit. 489, Nr. 23 (Die Bereisung der Provinzen der Monarchie durch königliche Commissarien in ständischen Angelegenheiten im Jahre 1817 zur Ermittelung der früheren ständischen Verfassung derselben. 1818-1835), Bl. 20v, vgl. gleichlautende Aussagen Bl. 39v. 265 Neugebauer, Wandel, S. 117ff. Weitere Beispiele für die Versuche der ostpreußischen Stände, ihre Mitgliedschaft auszudehnen: Ebd., S. 207. Ebenso Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 159, über den großen Konsens in Ost- und Westpreußen über die Gewährung der Standschaft aller großen Grundbesitzer, unter Einschluss der bäuerlichen Kölmer. In seinem Bericht über die vergangenen ständischen Verhältnisse in Ostpreußen hielt Beyme fest, dass die Unterscheidung zwischen Gütern mit „adligen Rechten“ und solchen ohne diese das Ergebnis eines historischen Prozesses war: ursprünglich seien alle Güter gleich gewesen, allein die Adligen hätten ihre persönlichen Vorrechte dem Gut verliehen. Erst nach dem später erfolgten Verbot solcher Privilegienübertragung auf das Gut hätten sich die grundrechtlichen Verhältnisse dauerhaft verfestigt. Unter dem Großen Kurfürsten seien dann durch eine Instruktion vom 7. Februar 1684 diese unterschiedlichen Rechtsverhältnisse der Güter nach dem Stich- und Normaljahr 1612 festgesetzt worden. Falls diese Darstellung Beymes stimmte, dann wäre in diesem Fall von einer „Entwicklung“ von den mehr polnisch-ostmitteleuropäischen Adelsverhältnissen (Adelsprivilegierung hängt an der Person) zu mehr mitteleuropäischen Verhältnissen (Privilegierung hängt am Boden) zu sprechen. Vgl. dazu GSTAPK Rep. 77 Tit. 489, Nr. 23, Bl. 65ff. 266 Neugebauer, Wandel, S. 122f. Die besonders flüssigen sozialen Adelsverhältnisse Polens sollten nach den Annektionen polnischer Gebiete durch die preußische Monarchie deren heterogenen Adelsverhältnisse noch weiter verkomplizierten. Bis weit ins 19. Jahrhundert blieben deshalb Fragen der Anerkennung des polnischen Adels, bzw. der Abgrenzung dieser Adelsformation ständig Gegenstand für Auseinandersetzungen der preußischen Verwaltung. So konnte sich in Polen der Geschlechtername regelmäßig mit dem Wechsel des Grundbesitzes ändern, bzw. konnten völlig verschiedene Familien zu verschiedenen Zeiten denselben (Guts-)Namen tragen, vgl.: Bonin, Adel, S. 143. Vgl. zu diesen Auseinandersetzungen der preußischen Verwaltung mit dem Adel im 19. Jhd.: Neugebauer, Standschaft, S. 56. Ein weiterer, indirekter Verweis auf diese Parallelität der preußischen und polnischen adelsständischen Verhältnisse bieten die preußischen Reformversuche vor 1806, welche wesentlich durch die damaligen Ereignisse in der polnischen Adelsrepublik inspiriert worden sind, vgl. Klaus Zernack, Polen in der Geschichte Preußens, in: Otto Büsch (Hrsg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 2, Das 19. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, Berlin 1992, S. 377-448, hier S. 428.



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aber in Ostpreußen.267 Denn in Ostpreußen überschnitten sich die mitteleuropäische Bodenbindung der „Standschaft“ mit einer sozial sehr breit gelagerten stände-partizipativen Tradition, wie sie für den ostmitteleuropäischen Raum, notabene Polen, mit seiner breiten, rechtlich homogenen Adelsschicht charakteristisch war.268 Die Neubelebung älterer ständischer Traditionen im späten 18. Jahrhundert gipfelte dort um 1800 sogar in der Forderung nach der Gewährung der vollen Standschaft für bürgerliche Besitzer adliger Güter – entgegen der von der monarchischen Zentrale zwischenzeitlich verfolgten Politik, die seit den königlichen Bestimmungen Friedrichs II. von 1775 die größtmögliche Übereinstimmung von politischem und sozialem Stand durchzusetzen wünschte.269 Handlungsrelevanz des Adels bei der Elitenauswahl Die adelige Führungsstellung beruhte in Ostelbien also vor allem auf dem privilegierten, aber keineswegs exklusiven Zugriff auf die bevorrechteten Güter, die wiederum die wirtschaftliche und politische Stellung der adeligen Gruppe sicherten. Doch fehlte eine eigentliche politische Kompetenz auf gesamtstaatlicher Ebene. Dort erstreckte sich dies allein auf ein Veto-, bzw. Zustimmungsrecht für die den Adel selbst berüh-

267 Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezog sich der Oberpräsident der aus Ost- und Westpreußen zusammengelegten Provinz Preußen, Theodor v. Schön, auf diese spezifischen altständischen Verhältnisse dieser Region, als er die Stellung der Kölmer mit der englischen Gentry verglich, die jeweils die Verbindung zwischen Adel und Nicht-Adel repräsentierten, und damit zum Ausgleich sozialer Spannungen beitrügen. „Schön hätte auch an ein eigentlich näherliegendes Beispiel erinnern können, in dem deutlicher die breite Repräsentationstradition des ostmitteleuropäischen Raumes zum Ausdruck gekommen wäre, doch war bei ihm eine positive Bezugnahme auf die polnische Szlachta wohl schon vor 1830 ausgeschlossen.“, Neugebauer, Wandel, S. 40ff. 268 Neugebauer, Wandel, S. 81. Und ausführlich zu diesen Parallelen im übergreifenden Vergleich auch mit Böhmen und Ungarn: Ders., Raumtypologie und Ständeverfassung. Betrachtungen zur vergleichenden Verfassungsgeschichte am ostmitteleuropäischen Beispiel, in: Joachim Bahlke/ Hans-Jürgen Bömmelburg/Norbert Kersken (Hrsg.), Ständefreiheit und Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa. Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur vom 16.-18. Jahrhundert, Leipzig 1996, S. 283-310. Im Polen vor den Teilungen hatte der Adel an der Bevölkerung über 7 %, regional sogar bis zu 20 % Anteil. Im ungarischen Reichsteil der Doppelmonarchie betrug der Adelsanteil Mitte des 19. Jahrhunderts 6 %, unter den Magyaren sogar 12-13 %! Vgl. Jerzy Jedlicki, Der Adel im Königreich Polen bis zum Jahre 1863, in: Armgard v. Reden-Dohna/Ralph Melville (Hrsg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780-1860, Stuttgart 1988, S. 89-116. Michael G. Müller, Der polnische Adel von 1750-1863, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750-1950, S. 166-216. Zu Ungarn: László Katus, Die Magyaren, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanisch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 3: Die Völker des Reiches, Wien 1980, S. 411-488. 269 Friedrich II. sprach sich 1769 in einer Streitsache gegen die Gewohnheit aus, dass bürgerliche Rittergutsbesitzer an den Kreistagen teilnahmen. In einer Verordnung vom 18. Februar 1775 verbot er ausdrücklich Sitz und Stimme bürgerlicher Gutsbesitzer an Kreis- und Landtagen, vgl. Vetter, Kurmärkischer Adel, S. 29. Zu den Auswirkungen dieser königlichen Erlasse auf die ostpreußische Situation vgl. Neugebauer, Standschaft, S. 60-63. Vgl. dazu unten Kap. 2.4.1.

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renden Angelegenheiten.270 Auf den Gütern weitgehend autonom agierend, in der ständischen Kreis- und Landtagsverwaltung noch bis in den Hochabsolutismus beteiligt, fehlte dem Adel eine formal-legale Position, die ihn an der gesamtstaatlichen Politik beteiligt hätte. Seit einigen Jahren wird in der Historiographie unter Rekurs auf die klassischen verfassungsgeschichtlichen Ansätze Otto Hintzes diskutiert, inwiefern diese geringe politische Präsenz des ostelbisch-preußischen Adels auf der gesamtstaatlichen Ebene nur scheinbar paradox gerade durch seine ausgeprägte Stärke auf der Ebene der Kreisverfassung zu erklären ist. Die schon oben erwähnte geringe Ausbildung des Lehnssystems außerhalb des „karolingischen Kerns“ in Mittelalter und früher Neuzeit hätte nach dieser Deutung anders als in Frankreich und im westlichen Deutschland nie die regierenden (adlig dominierten) Kommunalverbände „zersetzen“ können. Doch im Gegensatz zu anderen ost-mitteleuropäischen Nachbarregionen wie Polen, aber auch Mecklenburg, Kursachsen und Böhmen, führte diese Ausgangslage nach Otto Hintze in Brandenburg-Preußen deshalb nicht zu einer erfolgreichen „Abwendung“ des Absolutismus, weil es sich im preußischen Fall um einen „zusammengesetzten Staat“ handelte, der die Ausbildung von aus der Kreisverfassung hervorgehenden „Vollversammlungen“ als Gegenspieler der Fürsten erschwerte.271 Auch wenn diese Debatte noch lange nicht abschließend bewertet werden kann, so lässt sich doch für die brandenburgisch-preußische Ständeentwicklung feststellen, dass hier eine starke (adlig bestimmte) Kreisverfassung mit einem relativ erfolgreich durchgesetzten Absolutismus einherging. Die unterdurchschnittliche Präsenz von alteingesessenen Grundbesitzerfamilien in den zentralen Verwaltungsstellen des frühneuzeitlichen Brandenburg-Preußen, insbesondere im preußischen Staatsministerium, aber auch dem diplomatischen Dienst vor 1806 widerspiegelt diese Ausgangslage.272 Während des preußischen Staatsausbaus im 18. Jahrhundert zeichnete sich eine deutliche „Arbeitsteilung“ zwischen dem alt angesessenem Gutsbesitzeradel und dem (in der Regel jüngeren) Beam-

270 Wie es sich z.B. anlässlich des ständischen Protests gegen die Einführung des Allgemeinen Landrechts gezeigt hatte. Dieses Zustimmungsrecht blieb allerdings allein auf die jeweilige Provinz und deren Gesetzgebung fixiert – wie der kurmärkische Adel sich in Verteidigung seiner „Gerechtsame“ vornehmlich auf den brandenburgischen Landtagsrezess von 1653 stützte, vgl. Vetter, Kurmärkischer Adel, S. 24ff. 271 Vgl. zu dieser Debatte: Thomas Ertman, Otto Hintze und der preußische Staat des 18. Jahrhunderts, in: Eckhart Hellmuth/Immo Meenken/Michael Trauth (Hrsg.), Zeitenwende? Preußen um 1800, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 21-41, hier S. 33-35. Otto Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlands, in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte. Hrsg. v. Gerhard Oestreich, Göttingen 1970, S. 120-139. 272 Entgegen regelmäßig in der Literatur zu findenden Darstellungen scheint dies nicht erst eine Folge des Absolutismus gewesen zu sein. Schon im 16. Jahrhundert konnten und wollten sich die Hohenzollern nicht auf den märkischen Adel als Herrschaftsstütze verlassen, und zogen regelmäßig Landfremde zu Herrschaft und Verwaltung ins Land, vgl. Priebatsch, Hohenzollern, S. 206f, 212. Für die spätere Zeit: Bonin, Beamtenschaft, S. 172.



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tenadel ab.273 Jenseits der Besetzung von Landratsstellen zeigte der eingesessene Adel bis 1806 kein ausgeprägtes Interesse an der Besetzung von Behördenstellen.274 Selbst in der adligen Domäne des Hofes war der Adel der alten Provinzen der Monarchie, der Kurmark, Neumark, Pommerns, Ostpreußens, aber auch Magdeburgs und Halberstadts auffällig unterrepräsentiert – so z.B. in den wichtigen Hofstellen der Kammerherren. Diese Adelslandschaften hielten bis ins beginnende 19. Jahrhundert eine deutliche Distanz zu dem Berliner Hofleben und damit auch zu den dortigen Kontaktund Entscheidungspositionen.275 Eine integrationsorientierte Politik der Krone, die im 18. Jahrhundert danach bestrebt war, vor allem den Adel der Grenzregionen und der neu zur Monarchie gekommenen Territorien (Schlesien, Ost- und Westpreußen, Ostfriesland, Ansbach und Westfalen) an den Hof zu binden, unterstützte diese „Arbeitsteilung“ der Adelsgruppen.276 Ein bemerkenswert hoher Adelsanteil aus nicht-preußischen Ländern wurde aus repräsentativen und funktionalen Gesichtspunkten an den Berliner Hof geholt.277 Noch in der Zeit Friedrich Wilhelms III. war der Adel aus anderen deutschen Ländern mit 30 % (vornehmlich aus Thüringen, Sachsen und Mecklenburg) sowie weiteren 8 % nichtdeutschen Adels außerordentlich stark am Hof präsent. Andererseits zeigte sich gerade Friedrich Wilhelm III. daran interessiert, die Anwesenheit des alten, eingesessenen Adels zu steigern.278

273 Pertz schätzte noch für die Reformepoche die gesellschaftliche Zusammensetzung Berlins folgendermaßen ein: „Die große Welt der Hauptstadt, deren Meinungen und Ansichten zunächst auf die Regierung wirken, bestand nicht aus Familien ansehnlicher Grundeigenthümer, bei denen langjähriger Besitz großer Reichthümer, Bekleidung wichtiger Staatsämter, Grundsätze von Freisinnigkeit Würde und Selbständigkeit heiligte, sondern aus den oberen Staatsbeamten, emporgestiegen aus der Wachstube oder dem Collegienstaube oder aus dem wenig begüterten Brandenburger Adel; der reichere Schlesische und Preußische blieb von Berlin entfernt oder erschien nur bei einzelnen Veranlassungen.“, vgl. Pertz, Stein, Bd. 1, S. 179. 274 Bonin, Beamtenschaft, zum diplomatischen Dienst: S. 146; zur Konzentration auf Landratsstellen: S. 155. 275 In der Kurmark war es nicht einmal gelungen, ein ius indigenatus durchzusetzen, also das Recht des einheimischen Adels, ausschließlich bei der Besetzung von Landes-Ämtern berücksichtigt zu werden. Zusätzlich hatte der Konfessionswechsel des Herrscherhauses vom Luthertum zur reformierten Konfession calvinistischer Prägung die Beziehungen zwischen „court and country“ gelockert, vgl. Hahn, Aristokratisierung, S. 164. 276 So besetzte Friedrich II. nach der Annektion Schlesiens die Chargen von Oberschenk, Obermarschall und Oberstallmeister bewusst mit Angehörigen des dortigen Adels, vgl. Neugebauer, Hof, S. 153. 277 Adlige in Hofstellen waren nur zu 21 % einer reinen landadligen Herkunft, während bei 60 % schon die Väter in Militär und Verwaltung einer professionalisierten Tätigkeit nachgingen, und 41 % selbst als hohe Offiziere oder Beamte der staatlichen Funktionselite zuzuzählen sind: vgl. Holländer, Sand, S. 19-20, S. 27. 278 Auch Bonin konstatierte für die Zeit bis 1806 eine deutliche Distanz des eingesessenen Adels zum Hofe, vgl.: Henning v. Bonin, Beamtenschaft, S. 160. Dagegen stellte Holländer eine „absolute Vorherrschaft“ des „alten“ Adels am Hofe fest, wobei die alten Kernprovinzen, also Kur- und Neu-

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Überhaupt entwickelten sich in der Epoche des Hochabsolutismus seit der Wende des 17. bis zum späten 18. Jahrhundert gewisse Eigentümlichkeien in der Struktur des preußischen Hofes und dessen Beziehungen zu den politischen Entscheidungsgremien um den Monarchen.279 In der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. trennten sich die Wirkungskreise des Hofes und der politischen Administration zunehmend; durch die gezielte Rekrutierung des Kabinettspersonals aus nichtadligen, zum Teil subalternen Schichten wurde diese Tendenz noch verstärkt. Mit diesen Kabinettsräten schien der „dritte Stand“ in Preußen eine „Schlüsselstellung“, gar eine „Repräsentation in der Nähe des Königs“ zu gewinnen, was diese Institution den adligen Ministern und Beamten zusätzlich entfremdete. Durch seine Übersiedelung nach Potsdam besiegelte Friedrich II. auch räumlich diese Trennung des in Potsdam ansässigen Kabinettspersonaldes vom Berliner Hof und seinen hochadligen Amtsträgern. Die den König in der täglichen Arbeitspraxis umgebenden schreibenden und beratenden Personen waren damit nicht nur sozial, sondern auch räumlich von den adligen Gesellschaftsspitzen getrennt. Die in Potsdam ansässigen Adligen rekrutierten sich eben nicht „aus bekannten und vermögenden Familien“.280 Demgegenüber entwickelte sich Berlin im Ausgang des 18. Jahrhunderts zu einer Stadt der Intellektuellen im Zeichen der Aufklärung. Diese organisierten sich vor allem seit der Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. außerhalb des Hofes, dessen kulturelle Deutungsmacht damit weiter sank. Allein in der neuen Kulturform der frühromantischen „Salons“ (mehrheitlich von jüdischen Frauen – also wiederum Außenseiterinnen – organisiert) überwand die bürgerliche Intellektuellenbewegung und ein Teil des Hofadels, häufig zusätzlich durch die gemeinsame Erfahrung des Staatsdienstes funktionsständisch verbunden, „mit dem gemeinsamen Projekt der Bildung“ die Standesschranken.281 Die Handlungsrelevanz des eingesessenen brandenburgisch-preußischen Adels bei der Elitenbildung, gleich ob sich diese auf die überkommene Form des Hofes, auf das Kabinettspersonal, oder eben die intellektuelle Avantgardekultur von der Klassik zur Frühromantik bezog, erwies sich als vergleichsweise schwach entwickelt, eine „durch Ahnenprobe bewehrte „erste Gesellschaft“ [...] konnte Berlin im Gegensatz zu Wien nicht aufbieten [...]“:282 „Berlin war zu jung und zu groß, um seinen Rhythmus

mark, sowie Pommern, den größten Teil des einheimischen Hofadels stellten. Allerdings können die Kategorien „alter Adel“ im Sinne Holländers und „eingesessener Adel“ im Sinne Bonins nicht gleichgesetzt werden. Zur Rolle und Position des preußischen Adels am Hof in seiner Funktionsmischung als monarchisches Machtzentrum, Verbindungsinstitution von monarchischem Herrschaftsanspruch und öffentlicher Staats-Repräsentation, sowie Ort zur Kanalisierung bürokratisch-administrativer Machtausübung, vgl.: Holländer, Sand. 279 Neugebauer, Hof, S. 139. 280 Ebd., S. 150-152, u. S. 168. 281 Frie, Marwitz, S. 49-51. 282 Zur strengen Trennung „der ersten Gesellschaft“, der „wahren haute volée“, bzw. „Sozietät“ von der „zweiten Gesellschaft“ in Österreich vgl. Hannes Stekl, Österreichs Aris­tokratie im Vormärz.



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von einem im internationalen Vergleich doch recht armen Landadel bestimmen zu lassen“.283 Starke konkurrierende Adelsgruppen in der Beamtenschaft (Beamtenadel) und sogar aus dem nichtpreußischen „Ausland“ herangezogener Adel am Hof und in der Diplomatie relativierten die Bedeutung des einheimischen Adels für den Ausbau und die Funktionsfähigkeit des Gesamtstaates. Die Einwanderungswellen aus Frankreich infolge der Hugenottenverfolgung seit 1685 (Refugiés) und der französischen Revolution (Emigranten) brachten jeweils weitere Adelsgruppen nach Preußen, die über ein hohes Sozialprestige und funktional-professionelle Qualifikationen verfügten, und so dem einheimischen Adel am Hof und in herausragenden Staatsstellungen leicht Konkurrenz machen konnten.284 Insgesamt bietet sich also schon für die Zeit des ancien régime das Bild extrem fraktionierter Führungsgruppen in Preußen. Die Masse des preußischen landgesessenen Adels ist unter diesen Bedingungen einer starken Konkurrenz außerpreußischer wie nichtadliger Gruppen bei der Besetzung wichtiger funktionaler und symbolischer Positionen eher als „Elitenreservoir“ denn als eigentliche „Elite“ des brandenburgisch-preußischen Staates anzusprechen. Auch darin ähnelt seine Ausgangslage dem ostmitteleuropäischen Muster.285 Die schon wiederholt erwähnte „neue“, ständerechtlich den Adel fördernde Politik Friedrichs II., die schließlich in den Bestimmungen des ALR gipfelte, ist insofern als „Absichtserklärung“ und „sozial-politisches Programm“ zu werten, und nicht als konsequent-zwingende Fortführung einer historisch überkommenen staatspolitischen Rolle des eingesessenen Adels. Ironischerweise motivierte gerade diese relative politische und kulturelle Schwäche des einheimischen landsässigen Adels auf gesamtstaatlicher Ebene die preußischen Reformer um Stein dazu eine Stärkung seiner ständisch-gesellschaftlichen Partizipation gegenüber dem bürokratisch-absolutistischen Staat anzustreben.286 Stein lag allerdings mit seiner scheinbar historischen Begründung dieses sozialpolitischen Reformziels falsch, insofern er dies als „Wiedereinsetzung“ älterer, vor-absolutistischer ständestaatlicher Verhältnisse auffasste – die aber so in den östlichen Kernlandschaften Preußens nie existiert hatten!287

Herrschaftsstil und Lebensformen der Fürstenhäuser Liechtenstein und Schwarzenberg, München 1973, insbesondere S. 131ff. 283 Frie, Marwitz, S. 50. 284 Martiny, Adelsfrage, S. 79f. 285 Für den ungarischen Adel wurde diese Position eines „Elitenreservoirs“ sogar mit der Formel „Adel aber nicht Elite“ zugespitzt formuliert, vgl. Müller, Adel, S. 501. 286 Heinrich v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1-5, Leipzig 1879-1894, Bd. 1, S. 435ff. 287 Diesen Schluss zog schon Ritter, Stein, Bd. 1, S. 435f. Die Auswirkungen dieses „falschen“ Geschichtsbildes auf die Ständeideen Steins betont neuerdings Hundt, Stein, S. 63. Einer vergleichbaren historischen Fehleinschätzung bei der Entwicklung seiner Ständeideen unterlag F. A. L v. d. Marwitz, worauf unten näher eingegangen wird, vgl. Frie, Marwitz, S. 283.

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Definitionsmacht des Adels von Elitenkriterien Nicht nur im Rahmen der Elitenrekrutierung, auch bei der Definitionsmacht der nachgesuchten Elitenkriterien des sich entwickelnden Gesamtstaates kam dem einheimischen Adel Brandenburg-Preußens keine beherrschende Rolle zu.288 Das „Elitenreservoir“ des einheimischen Adels wurde in erheblichem Maße durch den wiederholten, wenn auch nicht widerspruchsfreien Zugriff der preußischen Monarchen nach deren eigenen Erwartungen und Ansprüchen zu formieren gesucht. Im Unterschied zur Reformepoche und der intendierten Adelspolitik Friedrich Wilhelms IV. im Vormärz spielte in diesen früheren Ansätzen einer Adels(re)formierung das Verhältnis zwischen Adel und Nichtadel keine Rolle. Die beherrschenden Themen waren vielmehr das Verhältnis des Adels zum Staat, die ständische Ein- bzw. Unterordnung des Adels in die sich entwickelnden staatlichen Institutionen sowie die daraus abgeleiteten Funktionsanforderungen an den einzelnen Adligen. Ein erster Versuch, auf den brandenburgisch-preußischen Adel im Staatsinteresse des jungen Königtums formierend zuzugreifen, ist in der Gründung des ersten preußischen Heraldsamtes durch Friedrich I., dem ersten Preußenkönig, zu beobachten. 1706 gegründet, wurde das preußische Oberheraldsamt allerdings unmittelbar nach Friedrichs Tod 1713 durch seinen Nachfolger Friedrich Wilhelm I. wieder aufgelöst. Dieses Projekt einer staatlichen Oberaufsicht und versuchten Kontrolle des Adels scheiterte schon vorher am passiven Widerstand desselben: nur neun Familien ließen sich registrieren; ein Zeichen für die Stärke und das ständische Selbstbewusstsein des Adels gegenüber der jungen Krone. Seitdem gab es bis zur Errichtung des preußischen Heroldsamtes durch Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1855 keine zentrale Adelsbehörde mehr in Preußen. Erst als die ständische Gesellschaft schon in vollständiger Auflösung begriffen war, und neu-ständisches und Adelsrecht längst nicht mehr in Übereinstimmung gebracht werden konnten, wurde diese institutionelle Anlaufstelle für die systematische Bearbeitung von Adelsfragen geschaffen.289 Bis dahin wurden Adels- und Standesfragen parallel und in Abstimmung zwischen dem Ministerium des königlichen Hauses (bzw. dem Monarchen), dem Innenministerium und dem Justizministerium ausgehandelt. Eine konsistente Adelspolitik, bzw. eine zentralisierte Erfassung aller adelsrechtlichen Fallentscheidungen lässt sich aufgrund dieser administrativen Verhältnisse für die Zeit des Hochabsolutismus bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur schwer vornehmen – die Entscheidungen wurden meist ad hoc und

288 Wie sich dies in den westdeutschen Adelslandschaften z.B. an der Ahnenprobe festmachen ließe, mit deren Hilfe sich die dortigen Adelskorporationen den Zugang zu bestimmten Stellen und Pfründen gegenüber möglichen Konkurrenten sichern konnten. 289 Zum Oberheroldsamt und der Vorgeschichte seines deutlich verspäteten Nachfolgers Heroldsamt vgl. Kalm, Heroldsamt, S. 18-26; sowie unten Teil III. Kap. 4.3.1.



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situativ gefällt, oft auch nicht veröffentlicht, wobei persönliche Rücksichten und Ausnahmen eine große Rolle spielten.290 Einen anderen Weg beschritt Friedrich Wilhelm I., der Soldatenkönig, nach der Aufhebung des Heraldsamtes seines Vaters. Die von ihm angestrebte Ablösung des lehnsherrlich-vasallitischen Verhältnisses zwischen Landesherrn und Adel („Lehnsnexus“) ab 1717 hatte weitreichendere Implikationen als die bloße Neubestimmung des ständischen Verhältnisses zwischen Adel und Krone.291 Wären die adligen Lehnrittergüter entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung tatsächlich „allodifiziert“, d.h. aus dem Besitz „zur gesamten Hand“ (der Familie) in das persönliche Eigentum der damals aktuellen Gutsinhaber übergegangen, so wäre dies einer Revolution der binnenadligen Verhältnisse gleichgekommen. Dies hätte einen erheblichen Schritt in Richtung der in der Reformepoche angedachten Elite „großer Landbesitzer“ bedeutet. Diesen drohenden massiven Eingriff in seine sozial-rechtlichen Verhältnisse konnte der Adel jedoch abschmettern.292 Der sogenannte „Lehnsnexus“, d.h. die Bindung der Lehen an den Landesherrn, wurde zwar aufgehoben, das Lehnsinstitut selbst wurde mit diesem Schritt aber lediglich „privatisiert“: das Lehen wurde in eine Form der Familienbesitzbindung umgewandelt. Damit blieben die alten über die Lehen gestifteten Abhängigkeits- und Garantieverhältnisse zwischen den verschiedenen Zweigen und Individuen der adligen Familien erhalten und ökonomisch und rechtlich wirksam. Hatte sich das ständische Verhältnis zu Krone und Staat gewandelt, so blieb doch der Adel als Stand in seiner inneren Verfassung unverändert bestehen. Der nächste Thronfolger, Friedrich II., unternahm dann mit seiner Adelsschutzpolitik bekanntlich den völlig anders gearteten Versuch, aus dem „esprit du corps“ des Adels einen „esprit de nation“ zu formen. Er bemühte sich, den Adel als eigentlichen Träger einer neuen preußischen „Nationalidentität“ heranzuziehen.293 Unmittelbar nach der Thronbesteigung 1740 erließ Friedrich II. eine Reihe von Verordnungen, um die älteren Bestimmungen, den Erwerb von Rittergütern durch Bürgerliche zu unterbinden, endlich konsequent durchzusetzen.294 So wurden z.B. eine Reihe der an diesen Gütern haftenden Privilegien für die bürgerliche Besitzer ausgesetzt, um

290 Zu den „unklaren“ Adelsverhältnissen vgl. Bonin, Beamtenschaft, S. 144. Zur den formierenden adelspolitischen Vorgaben durch das Heroldsamt im 19. Jahrhundert: Kalm, Heroldsamt. Vgl. zur „erratischen Nobilitierungspolitik“ und ihren Folgen unten Kap. 2.5. 291 Müller, Umwandlung. 292 Müller, Eigentumsformen, S. 54-55. 293 Hubrich, Entstehung, S. 82ff. 294 Solche Bestimmungen war z.B. schon durch den brandenburgischen Landtagsrezess von 1653 erfolgt, vgl. Wolfgang Neugebauer, Brandenburg im absolutistischen Staat. Das 17. Und 18. Jahrhundert, in: Ingo Materna/Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Brandenburgische Geschichte, Berlin 1995, S. 291-394, hier S. 381. Dazu auch Schiller, „Edelleute…“, S. 259-260.

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den Erwerb der Güter für Bürgerliche unattraktiv zu machen.295 Eine königliche Kabinettsordre legte 1775 verschärfend fest, dass bürgerliche Rittergutsbesitzer keinen Sitz und Stimme auf Kreis- und Landtagen erhalten dürften.296 Zwar wurde diese Bestimmung 1777 wieder relativiert, indem die Beschränkung nur für Güter gelten sollte, die nach dem 18. Februar 1775 erworben worden waren; doch bedeutete diese Einschränkung ein Präjudiz, das die erwünschte schärfere Abgrenzung zwischen den Ständen verdeutlichte.297 Allein innerständisch suchte selbst Friedrich II. den adligen Grundbesitz wirtschaftlich zu dynamisieren, insofern auch er die Verwandlung der Lehensbindung in Fideikommissstiftungen befürwortete.298 Gleichzeitig wirkte die „zentralisierende“ Politik Friedrichs gegen sozial-dynamisierende Impulse aus den Provinzen. Die Ständepolitik Friedrichs II. verstärkte Tendenzen, die seit der antiständischen Politik der brandenburgischen Kurfürsten im 17. Jahrhundert die adlige Dominanz in den Ständevertretungen erhöhten: die allgemeinen Landtage der Provinzen waren seither durch ständische Ausschüsse ersetzt worden in denen der Adel die numerische Stimmenmehrheit besaß, da in diesen Ausschüssen nicht mehr nach Kurien, sondern nach Einzelstimmen abgestimmt wurde.299 Gerade weil die Stände im Absolutismus nicht mehr selbst gesetzgeberisch tätig wurden, entwickelten sie sich umso ausschließlicher zu Interessenvertretungen des (gutsgesessenen) Adels gegenüber dem Monarchen.300 Flankiert wurde diese friderizianische Politik durch

295 Vgl. zu dieser mit dem historischen Herkommen brechenden Politik: Neugebauer, Standschaft, S. 19. Die bürgerlichen Rittergutsbesitzer sollten keinen Anspruch haben auf: Sitz und Stimme in den Landtagen, Mitspracherecht in Kreisangelegenheiten; sie sollten die Patrimonialgerichtsbarkeit nicht unter ihrem, sondern nur dem Namen der Gemeinde ausüben dürfen und vom Patronatsrecht ausgeschlossen sein; sie hätten adligen Erben den Vortritt zu geben, vgl. Schiller, „Edelleute …“, S. 267. 296 Verordnung vom 18. Februar 1775, vgl. Vetter, Kurmärkischer Adel, S. 29; ebenfalls: Schiller, „Edelleute …“, S. 267. 297 Neugebauer, Brandenburg, S. 376. Von dieser Regelung wurden indirekt auch die ostpreußischen Kölmer betroffen, vgl. Neugebauer, Wandel, S. 40. 298 Solange aber die Lehnsordnung noch funktionstüchtig war, zeigte der Adel ein ausgesprochen geringes Interesse an diesem für Preußen im 18. Jahrhundert noch relativ „neuen“ Rechtsinstitut, vgl. Theodor Schieder, Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Frankfurt a.M./Berlin 1986, S. 74f. 299 Eine grundsätzlich anti-bürgerliche Stoßrichtung der preußischen Monarchen seit der Regierungszeit des großen Kurfürsten behauptet z.B. Andreas Nachama, Ersatzbürger und Staatsbildung. Zur Zerstörung des Bürgertums in Brandenburg-Preußen (= Schriften zur Europäischen Sozial- und Verfassungsgeschichte), Frankfurt a.M. 1984. Die den ständischen Einrichtungen gegenübergestellte Parallelverwaltung sei dagegen nicht mit einheimischen, sondern von auswärts zugezogenem Bürgern besetzt worden. Nicht nur eine Weiterentwicklung ständischer Einrichtungen sei, so Nachama, dadurch verhindert, sondern auch das Bürgertum nachhaltig geschwächt worden, Ebd., S. 44. Im Fall Ostpreußens ging Nachama aufgrund der dort noch bestehenden ständischen Verbindungen nach Polen im 17. Jahrhundert von einer Sondersituation aus, Ebd. S. 77ff. 300 Zu diesen von der politischen Kernlandschaft der Kurmark ausgehenden politischen Tendenzen in der preußischen Monarchie vgl.: Vetter, Kurmärkischer Adel, S. 35ff.



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aktive finanzielle Zuwendungen und Krediterleichterungen für den begüterten Adel, speziell nach der wirtschaftlichen Zerrüttung des 7jährigen Krieges.301 Den Motivationshintergrund dieser Politik bildeten Friedrichs merkantilistische Staatsauffassungen, mit ihrer Forderung einer klaren Aufgabenteilung zwischen Adel und Bürgertum, sowie der Wunsch, die wirtschaftlichen Grundlagen der Herkunftsfamilien des adligen Offizierskorps zu schützen.302 Diese gegenüber bürgerlichen Rittergutsbesitzern restriktive Politik war allerdings keine isolierte Erscheinung des friderizianischen Preußen, sondern findet sich ebenso in anderen Teilen Mitteleuropas.303 Die Auseinandersetzung zwischen königlicher Zentralgewalt und Landständen, und der Aufbau einer beamteten „Konkurrenzverwaltung“ hatte dem Ständewesen im Verlauf des 18. Jahrhunderts ihren Stempel aufgedrückt und den Adel in bedeutsamer Weise geprägt.304 Tatsächlich gelang es während der Regierungszeit Friedrichs II., den Verkauf von Rittergütern an Bürgerliche zu bremsen und die Anzahl bürgerlicher Rittergutsbesitzer zu reduzieren.305 Eine eigenständige Entwicklung der Stände als Repräsentationsorgane mit sozial-integrativer Ausstrahlungskraft über die sozial-ständischen Grenzen hinweg war durch die anti-ständische Politik der Krone stark erschwert worden. Die ständischen Kräfte in Regierung und Verwaltung nahmen einen fast exklusiv adligen Charakter an. Langfristig dispositionierte diese Politik bestimmte mentale Schranken und Erwartungshaltungen gegenüber den adlig-bürgerlichen Verhältnissen in Brandenburg-Preußen. Auch wenn die friderizianische Adelsschutzpolitik unter seinen Nachfolgern weitgehend zurückgenommen wurde, so fanden deren Grundgedanken doch Eingang in das unter Friedrich entworfene, und von seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm II. mit einigen Modifikationen 1794 eingeführte „Allgemeine Landrecht“, nicht zuletzt in dem schon zitierten Passus des Teil II, Titel 9 §1.306 Diese Dispositionen wirkten noch über die Zäsur der Reformgesetzgebung hinaus, obwohl mit dem Oktoberedikt von 1807 die rechtlichen Schranken bürgerlichen Rittergutserwerbs völlig aufgeho-

301 Schiller, „Edelleute ...“, S. 264-266. 302 Schiller, „Edelleute …“, S. 261, S. 263, und resümierend S. 269. 303 Neugebauer, Standschaft, S. 19-20. Demgegenüber interpretiert René Schiller in der friderizianischen Adelspolitik als eine Sonderentwicklung, die schon das spätere Scheitern einer adlig-bürgerlichen „composite elite“ auf agrarisch-großgrundbesitzender Grundlage in Preußen-Deutschland dispositionierte, vgl: ders., „Edelleute …“, S. 257-286. 304 Vetter, Kurmärkischer Adel, S. 35ff. 305 Gerade der Vergleich mit den sozio-ökonomisch ähnlich strukturierten Nachbarstaaten Mecklenburg und Kursachsen macht diese Entwicklung augenfällig. Dort erreichte der bürgerliche Rittergutsbesitz schon Ende des 18. Jahrhunderts fast 40 % (Mecklenburg) bzw. 1/3 (Kursachsen) des Gesamtbestandes, vgl. Schiller, „Edelleute …“, S. 278, 282. 306 Schiller, „Edelleute …“, S. 270-272. ALR, 2. Teil, 9. Titel, § 37: „Nur der Adel ist zum Besitze adlicher Güter berechtigt“, zit. nach Hattenhauer. Als Reaktion auf diesen Adelsschutz etablierte sich auch die Praxis, dass Adlige auf ihren Namen für Bürgerliche Güter erwarben, vgl. Schiller, „Edelleute …“, S. 274.

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ben wurden.307 Im Resultat war der ritterschaftliche Adel durch die Initiative der monarchischen Zentrale zunehmend aus den Verflechtungen mit den nichtadligen Ständen „abgeschichtet“ worden, während zugleich der Lehnsnexus zur Krone gelöst worden war.308 Der gutsgesessene Adel blieb in seinen Interessen vor allem regional verpflichtet und gebunden, zugleich durfte er sich aber nun nach den Worten des ALR zur Vertretung der Nation, bzw. des Staates berufen fühlen. Das Verhältnis zwischen dem ostelbischem Adel und der den Gesamtstaat repräsentierenden Monarchie hatte damit in ständischer Hinsicht ein fragiles Gleichgewicht erreicht. Fazit Welche Schlüsse ließen sich aber für die informierten Zeitgenossen der Reformära aus diesen historischen Strukturvoraussetzungen ziehen? Welche denkbaren Wege wiesen sie für die nach 1800 drängende Aufgabe auf, über eine Re-Formierung der überkommenen Adelskorporation eine neue, dynamischere Elitekonstellation einzurichten, und das Elitenreservoir zu erweitern? Welche Anknüpfungspunkte boten diese ständehistorischen Voraussetzungen der östlichen Provinzen für eine gezielte Ausweitung gesellschaftlicher Partizipation? Deutete die dortige enge Bindung landständischer Rechte an den bevorrechteten Grundbesitz, unter dem historisch immer latenten Einschluss bürgerlicher Gutsbesitzer, nicht schon auf die Formierung einer „territorial class of „landowners“ hin, die als Ziel schon die (versuchte) Lehnsallodifikation Friedrich Wilhelms I. motivierte? Drängte nicht gerade diese ständehistorische Ausgangslage den Gedanken auf, dass die Teilhabe weiterer Gesellschaftskreise an reformierten und neugestärkten ständischen Institutionen durch eine Ausdehnung adliger Vorrechte („Adelung“) im Grunde kein Bruch mit, sondern eine „Rückkehr“ zu älteren Verhältnissen und Traditionen bedeutete? War die geringe bzw. nicht vorhandene binnenständische Differenzierung der dortigen Adelsformationen nicht eine ideale Grundlage, um in einem erneuten Anlauf eine wirkliche „ruling class“ zu formieren, die sich sozial relativ geschlossen von den unteren Ebenen politischer Partizipation, der Herrschaftsausübung in Gutsbezirken und Kreisen, über die Provinzialstände bis in die geplanten „reichsständischen“ Spitzen „einsetzen“ ließ, ohne dass starke binnenständische Schranken einer politischen Konsensbildung und geschlossenen Herrschaftsausübung entgegenstanden? Zeichneten sich in dieser Vorgeschichte nicht schon Wege zur Bildung einer „aristocratic representation“ ab? Bildeten die geringen Ehehindernisse des (männlichen) Adels zu den (weiblichen) Angehörigen des höheren Bürgertums nicht eine gute Voraussetzung, um bei konsequenter Fortführung dieses Herkommens die ständischen Schranken weiter aufzuweichen, ohne sie ganz aufgeben zu müssen? War vor allem aber die privilegierte

307 So die Einschätzung von Schiller, „Edelleute …“, S. 283. 308 Schiller, Rittergut, S. 40f.



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Ansprache des Adels hinsichtlich einer „Repräsentation“ auf zentralstaatlicher Ebene nicht erst relativ spät und nur unvollkommen erfolgt? War nicht der Adel selbst immer wieder durch die Monarchen entsprechend neuer Herausforderungen zu formen und zu ergänzen versucht worden? Boten also diese „flüssigeren“, „offeneren“, „formbareren“ preußisch-ostelbischen Ständestrukturen bis zur Zeit des Adelsschutzes durch Friedrich II., verglichen mit den stark hierarchisierten und hoch differenzierten Adelsverhältnissen im „Altreich“, und vor dem Hintergrund einer bis vor kurzem geringeren „Verstaatlichung“ des Adels, nicht geradezu ideale Vorsaussetzungen, um im Zuge eines Staatsausbaus die Bildung eines institutionenadäquaten politisierten Adels inklusive einer adlig-bürgerlichen Gentry gezielt voranzutreiben? Und drängten sich unter einer solchen Betrachtung die Parallelen zu den englischen ständischen Verhältnissen nicht ganz von selbst auf? Die Beschäftigung der Reformer mit den überkommenen Strukturen der ostelbischen Adelslandschaften zeitigte deshalb eine doppelgesichtige, wenn nicht gar widersprüchliche Schlussfolgerung: einerseits die Überzeugung von deren Reformbedarf, zugleich jedoch den Glauben an eine zukunftsfähige Formierbarkeit eben dieser Strukturen. Die Eigentümlichkeiten der ostelbischen Adelsstrukturen, ihre historisch relativ „weichen“, „fließenden“ Abgrenzungsmerkmale, die verhältnismäßige Schwäche des dortigen Adels bei der zentralstaatlichen Elitenauswahl und Definition der Elitenkriterien ließen allerdings eine genauere, allgemeinverbindliche Definition des „Ständischen“ notwendig erscheinen. Das mögliche Rollenvorbild der residenzumgebenden Kurmark als der „natürlichen“ ständepolitischen Leitlandschaft der Monarchie war allerdings durch die extreme Elitenfraktionierung und das mangelnde sozio-ökonomische Gewicht dieser Provinz stark geschwächt. Sie konnte kaum die Rolle einer preußischen „Île-de-France“ übernehmen. Diese Faktoren trugen dazu bei, dass eine nachständische „preußische Adligkeit“ nicht zuletzt im Rekurs auf das „englische Entwicklungsparadigma“ zu entwerfen versucht wurde. Der Seitenblick auf England sollte offensichtlich dabei helfen, einen ständerechtlich neu ausgerichteten, „politisch brauchbaren“, grundbesitzbasierten Staats-Adel zu bilden, um auf dieser sozial-kulturellen Grundlage die Integration des preußischen Staates voranzutreiben. Oder wie erklären sich sonst die zahlreichen Bezüge auf das englische Vorbild im preußischen Reformprozess?309 Aber was überzeugte die Reformer davon, ausgerechnet in „England“ Orientierung und Handlungsanweisungen für die Fortentwicklung der allgemeinen sozialpolitischen, insbesondere aber der Adels-

309 Neben Stein und dem schon erwähnten Vincke waren auch Baron Karl vom Stein zum Altenstein (1770-1840), Johann August Sack (1764-1831) und Barthold Georg Niebuhr (1776-1831) durch Erziehung und Ausbildung erheblich durch das englische Vorbild geprägt worden.

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verhältnisse in Preußen gewinnen zu können? Und für welche projektierten Entwicklungspfade wurde dieses fremde Gesellschaftsmodell als Referenz herangezogen?310

2.4.2. Die Neubestimmung von „Adligkeit“ anhand des englischen Entwicklungsparadigmas „England“ als international etablierte Referenzgröße staatspolitischen Wandels Die Orientierung an England als einem Entwicklungsparadigma ging schon auf eine lange, vor und außerhalb des preußischen Reformansatzes liegende Tradition zurück. Dies zeigte schon die Adelsdiskussion der Spätaufklärung. In ganz Europa war das Interesse einer politisch interessierten Öffentlichkeit an der englischen Gesellschaftsund Verfassungsentwicklung seit einhundert Jahren rege.311 Die Vision eines sozialen und politischen Wandels über den Weg friedlicher Reformen fand sich in der dortigen als modellhaft empfundenen historischen Entwicklung scheinbar bestätigt.312 Die nach der Vertreibung der Stuart-Dynastie in der „Glorious Revolution“ von 1688/89 begründete neue englische Verfassung wurde seit ca. 1700 auf dem Kontinent mit großer Aufmerksamkeit betrachtet.313 Den ausländischen Beobachtern erschien die englische Verfassungsentwicklung als eine kaum unterbrochene, konsequente Weiterentwicklung altständischer Repräsentation zu einem „modernen“ Parlamentarismus, wie sie Percy Ernst Schramm noch 1937 selbstgewiss feierte.314 Die englische Verfassung wurde im 18. Jahrhundert zum Stoff allgemeiner Grunderörterungen politischer Ordnungen, insbesondere Repräsentationssysteme,

310 In der Erforschung der Reformen stand – sofern nicht pauschal von Westeuropa gesprochen wurde – die Vorbildrolle des revolutionären Frankreich meist im Mittelpunkt, während die Forschung „England im Kontext der Reformpolitik vielleicht vernachlässigt“ hat, vgl. Paul Nolte, Vom Paradigma zur Peripherie der historischen Forschung? Geschichten der Verfassungspolitik in der Reformzeit, in: Thomas Stamm-Kuhlmann (Hrsg.), „Freier Gebrauch der Kräfte“, München 2001, S. 197-216, hier S. 209. 311 Zur französischen Rezeption des „Vorbilds England“ vgl. Fehrenbach, Adel, S. 181f. 312 Vgl. Hans-Christof Kraus, Englische Verfassung und politisches Denken im Ancien Regime, München 2006, S. 704. Maurer, Aufklärung. Allgemein zum Vorbild „England“ für die deutsche innenpolitische Diskussion im 19. Jahrhundert: Friedeburg, Modell England, S. 42-44. 313 Oft ist diese Entwicklung als „englischer Sonderweg“ bezeichnet worden: sei es als teleologisches Freiheitsgeschehen, als „verspätete Adelsdominanz“, oder Herrschaft einer Oligarchie. Nolte, Staatsbildung, S. 17-18, 27. Die bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende, weit über akademische Zirkel reichende europaweite Aufmerksamkeit für die englische Verfassungsentwicklung hat nun Kraus eindrücklich nachgezeichnet: vgl. Ders., Verfassung, S. 41ff. Zum „englischen Sonderweg“ siehe Ebd., S. 39, Anmk. 151. 314 Percy Ernst Schramm, Das englische Königtum im Lichte der Krönung (1937) zit. nach HansChristof Kraus, Englische Verfassung, S. 39, Anmk. 151.



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in Europa.315 Sie offerierte ein institutionelles Gefüge, das monarchische Gewalt und Parlament mit seinem Ober- und Unterhaus miteinander austarierte, abgesichert durch eine unabhängige Justiz. Vor allem faszinierte, wie dieses Modell in eigenartiger Weise zwischen den üblichen zeitgenössischen politischen Formen oszillierte: auf der einen Seite die absolute Monarchie nach französischen Muster (bzw. am Ende des Jahrhunderts die revolutionäre amerikanische und französische Republik), am anderen Ende des Spektrums der traditionelle Ständestaat – kurz: die Verwirklichung eines „dritten Weges“ politischer Entwicklungsmöglichkeit. Das englische politische System bot sich damit als Gegenstand und Herausforderung eines gegenwartsbezogenen politischen Diskurses an, indem es das Beispiel einer „nichtrevolutionären, aber entwicklungsfähigen, legal politisch zu reformierenden Verfassung“ bot (HansChristof Kraus). Das „Laboratorium der Moderne“ hatte seinen Ort im wahrsten Sinne des Wortes gefunden: die Insellage, und die daraus resultierende Überflüssigkeit eines großen stehenden Heeres zur Landesverteidigung ermöglichten den dortigen ständischen Elementen im monarchischen Staat alternative Entwicklungspotentiale gegenüber ihren kontinentaleuropäischen Pendants – letztere mussten der zentralstaatlichen Macht der Monarchen nachgeben, oder riskierten nur allzu leicht den staatlichen Untergang in Konkurrenz zu den machtstaatlich konzentrierten Monarchien – wie der Fall Polens eindrücklich belegte!316 England schien zudem die Lösung eines verfassungspolitischen Grundproblems gefunden zu haben: die gleichzeitige Sicherung von persönlicher Freiheit und fester staatlicher Ordnung auf dem Boden der überkommenen Mischverfassung, wie sie für die west- und zentraleuropäischen Staaten der Frühneuzeit typisch war.317 Gerade in Deutschland wurde die englische politische Ordnung deshalb schon früh als Gegenentwurf zum Absolutismus verstanden. Das „Modell England“ bot denjenigen, die sich für eine Modernisierung, für die Reformierbarkeit des ständischen Systems und der politischen Repräsentation interessierten, eine Fülle von Anregungen und zudem eine anschauliche Legitimationsbasis.318 Forderungen nach einer erweiterten Ständepartizipation orientierten sich daher selbst in Preußen vordringlich an „England“, wo Bezüge zu den polnischen Nachbarn nähergelegen hätten!319

315 Stollberg-Rilinger, Vormünder, S. 130-139. 316 Zur ständestaatlichen Ähnlichkeit gerade Englands und Polens, vor allem bzgl. der „Selbstregierung“ auf Lokal- und Regionalebene, die vor absolutistischen Entwicklungen „feite“ vgl. Schramm, Polen, S. 21. 317 Zur „Mischverfassung“, bzw. „monarchia mixta“ als gesamt-europäischem Verfassungstypus der frühen Neuzeit vgl. Willfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart 1980. 318 Kraus, Verfassung, S. 707. 319 Hans-Christoph Kraus, Die deutsche Rezeption und Darstellung der englischen Verfassung im 19. Jahrhundert, in: Rudolf Muhs/Johannes Paulmann/Willibald Steinmetz (Hrsg.), Aneignung und

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Das englische Beispiel belegte der zeitgenössischen Öffentlichkeit, dass eine zentralisierende, ständeüberwindende monarchische Bürokratie keine bedingende Voraussetzung zur Monopolisierung der staatlichen Macht und Grundlage moderner Repräsentationsformen sein musste – ein „nation building“ von unten, unter Vermeidung, bzw. durch Überwindung des absolutistischen Staates fand hier sein sprechendes Vorbild!320 Auch unter Effiziensgesichtspunkten musste diese „englische Form“ des „nation building“ keineswegs gegenüber dem französischen Zentralismus abfallen – das „Durchregieren“ der englischen zentralen Institutionen bis ins weite Land wurde dort durch die Interessenidentität einer „ruling class“ gewährleistet, die in beiden Häusern des englischen Parlaments genau so vertreten war wie in den regionalen und lokalen Machtagenturen321 – als eine parlamentarische oder „representative aristocracy“ (John Stuart Mills). Dieser Sachverhalt ist von den preußischen Reformern in ihren Überlegungen über eine neue Rolle des preußischen Adels genau beobachtet worden. Das schlug sich vor allem in einer näheren Beschäftigung mit dem englischen „self-government“ und der englischen Institution der „Friedensrich-

Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Bodenheim 1998, S. 89-126. 320 Dies gegen die Grundthese von Paul Nolte, der gerade in dieser Zentralisierung die notwendige Voraussetzung von moderner Repräsentation erkennen will, vgl. Ders., Staatsbildung. Zur „freiwilligen“ Einbindung lokaler Eliten in die staatliche Lokalverwaltung in England und zur langanhaltenden politischen wie historischen Analyse dieser Entwicklung in der deutschen Kommunalpolitik des 19. Jahrhunderts vgl. Beat Kümin, Parish und Local Government. Die englische Kirchgemeinde als politische Institution 1350-1650, in: Peter Blickle/Rosi Fuhrmann/Andreas Würgler (Hrsg.), Gemeinde und Staat im alten Europa, München 1998, S. 209-238, bes. S. 211f. 321 In diesem Punkt treffen sich die Erkenntnisse der aktuellen Forschungen zum frühmodernen Staat mit den Einschätzungen von Stein und zahlreicher seiner Zeitgenossen um 1800 – und in deutlicher Abkehr zu einer älteren Forschungstradition, die gerade in Deutschland lange Zeit das Hohelied des absolutistischen Reformstaates sang: vgl. Eckhart Hellmuth, Why does Corruption Matter? Reforms and Reform Movements in Britain and Germany in the Second Half of the Eighteenth Century, in: Timothy C. W. Blanning/Peter Wende (Ed.), Reform in Great Britain and Germany 1750-1850, Oxford 1999, S. 5-23, bes. S. 7-10. Demgegenüber zeigte sich das englische Staatswesen in seiner Verwaltungseffizienz, vor allem seinem Besteuerungssystem, den kontinentalen absolutistischen Staaten deutlich überlegen, eine Sicht, zu deren Durchbruch vor allem John Brewer beitrug: Ders., The Sinews of Power, London 1989. Aufgrund der wachsenden Komplexität der Gesellschaft im Laufe des 18. Jahrhunderts hätte die absolutistische Bürokratie, die nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Geschäftsgängen unterscheiden konnte, ihre Untertanen unablässig mit einer Flut von „Dekreten“ überschwemmt, und Angelegenheiten wie Universitätsreform und Hundefang als gleichrangige Relevanzen behandelte, vgl. Christoph Dipper, Government and administration – everyday politics in the Holy Roman Empire, in: John Brewer/Eckhart Hellmuth (Ed.), Rethinking Leviathan: the eighteenth-century state in Britain and Germany, Oxford 1999, S. 204-223, bes. S. 207, 221, 215. Dagegen bewährte sich in Großbritannien eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Selbstorganisation auch im Reformgeschehen, vgl. Paul Langford, Public Life and the Propertied Englishman 1689-1789, Oxford 1991, bes. Kap. 8.



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ter“ nieder.322 Unter den gegebenen Umständen – der zeitgeschichtlich nachvollziehbaren Diskreditierung des französischen Absolutismus, der historisch europaweit tief gegründeten Aufmerksamkeit für das englische Verfassungswesen  –  kann es nicht verwundern, dass vielen Beiträgen zur preußischen Reformdebatte implizit die Idee zugrunde lag, den „Entwicklungsschritt“ einer nachrevolutionär-bürokratischen Staatsgewalt „überspringen“ zu können, um, entwicklungspolitisch gewissermaßen „abgekürzt“, direkt auf eine neue Form gesellschaftlicher Beteiligung am Staat zuzusteuern.323 Gerade in diesem Punkt offenbart sich die Eigentümlichkeit des preußisch-deutschen Erfahrungshintergrundes im politischen Wandel: in unmittelbarer Nachbarschaft unterschiedlicher Entwicklungsmodelle bei gleichzeitig „verzögerter“ eigener Entwicklung, sieht man sich zu einem distanzierten „Vergleichen“ herausgefordert, das ein planendes Abwägen eigener Veränderungspotentiale erlaubt. Die Formulierung des eigenen Reformgeschehens unter Verweis auf ein verallgemeinerbares „englisches“ Entwicklungsparadigma konnte zudem dazu dienen, die zu erwartende Kritik zurückzuweisen, dass diese Reformen nicht aus eigenen Antrieben hervorgingen, sondern allein von außen (durch Krieg und Niederlage) aufgezwungen würden, während positive soziale und politische Forderungen von innen (durch bestimmende soziale Gruppen) fehlten: in der Tat ein Hauptmerkmal einer jeden „Revolution von oben“.324 Die Gegner der Reformen waren sich des englischen

322 „Die gesamte locale Verwaltung in den Counties, der wegen der Schwäche der Zentraladministration und des Fehlens einer starken Bürokratie in England entscheidende Bedeutung zukam, lag in den Händen ernannter, aber faktisch durch Kooptation berufener und in den Quarter Sessions kollektiv handelnder Friedensrichter“, vgl. Hans-Christoph Schröder, Der englische Adel, in: Armgard v. Reden-Dohna/Ralph Melville (Hrsg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters, S. 21-88, hier S. 23. John Stuart Mill beobachtete 1861: „The mode of formation of these bodies is most anomalous, they being neither elected, nor, in any proper sense of the term, nominated, but holding their important functions, like the feudal lords to whom they succeeded, virtually by right of their acres: the appointment vested in the Crown (or, speaking practical, in one of themselves, the Lord Lieutenant) being made use of only as a means of excluding any one who it is thought would do discredit to the body, or, now and then, one who is on the wrong side of politics. This institution is the most aristocratic in principle which now remains in England; far more so than the House of Lords, for it grants public money and disposes of important public interests, not in conjunction with a popular assembly, but alone.“ (zit. nach: Utilitarianism, Liberty and Representative Government, hrsg. v. A.D. Lindsay, London 1960, S. 349f, S. 246), zit. Ebd., S. 23 Anmk. 14. Zur entscheidenden sozialen Verbindung der Justices-of-the peace mit der Zentralregierung vgl. Timothy C.W. Blanning, The Pursuit of Glory: Europe 1648-1815, London 2007. 323 Zur Diskreditierung des französischen Entwicklungsmodells durch die Revolution vgl. Botzenhart, Anfänge, S. 370-372. 324 Laut Sigmund Neumann musste diese „Vorbildfunktion“ Englands auch den Umstand kompensieren, dass in Preußen-Deutschland das Bürgertum noch keine „interessemäßige reale Bindung“ an den Liberalismus besaß, und so Teile der Verwaltung unter Bezug auf „ausländische“ Vorbilder den Kampf gegen Krone und Aristokratie gewissermaßen in „Stellvertretung“ führen mussten, vgl. Ders., Stufen, S. 136f.

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Paradigmas für die Reformen nur zu bewusst; so beklagte unmittelbar nach Bekanntwerden des Oktoberedikts Hans David Ludwig Yorck v. Wartenberg (1759-1830), der spätere Feldherr der Freiheitskriege, dass Stein „zu unserem Unglück in England gewesen“ und von dort seine „Staatsweisheit“ geholt habe, und deshalb „die in Jahrhunderten begründeten Institutionen des auf Seemacht, Handel und Fabrikwesen beruhenden Großbritannien“ irrigerweise dem „armen, ackerbauenden Preußen“ aufpfropfen wolle.325 Um diesen Einwand der „Nichtübertragbarkeit“ zu relativieren, mussten die Reformer das „englische Modell“ als ein „allgemeines historisches Fortschrittsschema“ (Marc Oliver Maiwald) propagieren: „Denn dadurch wurden die externen Stimuli [der preußischen Entwicklung, G. H.] zu Anlässen von Reformen, die Ursachen dieser Entwicklung konnten in einem allgemeinen Fortschrittsstreben verortet werden, und der Hinweis von Reformgegnern auf fehlende innergesellschaftliche Stimuli wurde irrelevant“.326 Tatsächlich sollte dieses englandvergleichende „Fortschrittsschema“ zur Legitimation eigener politischer Entwicklung bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wirksam bleiben!327

Edmund Burkes „soziologische“ Begründung des englischen Entwicklungsparadigmas Die langzeitlich wirkungsvollste Formulierung dieses Entwicklungsparadigmas stammte aus Großbritannien selbst: von Edmund Burke, der bekanntlich gerade in Deutschland eine außerordentlich große Wirkung erzielte.328 Schon Möser, Rehberg und Brandes waren in ihren Ansichten nachhaltig durch die Schriften und die persönliche Begegnung mit Burke geprägt worden. Denn Burkes vernichtende Kritik am „Irrweg“ der französischen Revolution, die er wirkungsvoll in seinen „Reflections on the Revolution in France“ (1790) niedergelegt hatte, ging über eine einfache Kritik weit

325 Schnabel, Geschichte, Bd. I, S. 356. 326 Marc Oliver Maiwald „Allen Nationen ... Vorbild und Muster“? Die deutsche Wahr­nehmung der sozialen und wirtschaftlichen Zustände Großbritanniens 1760-1850. Dissertation, Ruhr-Universität Bochum 2005, vgl. http://deposit.ddb.de/cgibin/dokserv?idn=978813294&dok_var=d1&dok_ ext=pdf&filename=978813294.pdf, S. 128. 327 So konnte der Liberale Eduard Vehse noch 1851 aus tiefster Überzeugung seine Darstellung der höfischen Geschichte Preußens einleiten: „Es giebt Tausende und aber Tausende von Menschen, die den Satz mit voller Überzeugung festhalten, daß nur in der alten religiösen Form – Schooße der katholischen Kirche – und nur in der alten politischen Form – im Feudalstaate – Heil zu finden sei. Der stärkste Gegenbeweis, der gegen diese Conservativen zu führen ist, ist die Hinweisung auf England und Preußen. Wer bei diesen Staaten zweifelt, daß im Princip des Fortschritts Kraft und Größe zu gewinnen sei, muß mit jener schlimmsten Species von Skepsis behaftet sein, die sich gegen klare Thatsachen verschließt.“, vgl. Ders., Geschichte des preußischen Hofs und Adels und der preußischen Diplomatie, Hamburg 1851, 6 Bd., hier Bd. 1, S. XX. 328 Stollberg-Rilinger, Vormünder, S. 134.



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hinaus: darin entwickelte er eine Erklärung für die tieferen Gründe der französischen Revolution, die in ihrer geradezu „soziologischen“ Analyse der jüngeren Geschichte Frankreichs noch den heutigen Leser beeindrucken kann. Burke identifizierte jenseits aller ideologisch-spätaufklärerischen Argumente der zeitgenössischen Öffentlichkeit eine von der wirtschaftlichen und finanziellen Misere des ancien régime relativ unabhängige, langfristige Ursache des sozialen Konflikts in Frankreich: das eigentliche Movens der Revolution bildete nach seiner Darstellung die gescheiterte Integration und Assimilation des „monied interest“ einer reich gewordenen bürgerlichen Finanzoligarchie einerseits, sowie der dem Hof entfremdeten, intellektuellen „political Men of Letters“ in die Reihen der überkommenen Adelsgesellschaft. Der mögliche Weg friedlicher Reformen zur Überwindung der bestehenden Missstände in Frankreich sei durch diese antagonistische soziale Konstellation verlegt worden.329 Die tieferen Gründe für dieses Scheitern sah Burke in der mangelnden Möglichkeit des französischen Bürgertums, sich über den Erwerb großen Grundbesitzes und der Erlangung verantwortungsvoller öffentlicher Positionen in Staat und Gesellschaft in Lebensstil, gesellschaftlichem Umgang und familiären Verbindungen der überkommenen aristokratischen Gesellschaft anzunähern, um schließlich mit dieser zu verschmelzen. Der große unveräußerliche Grundbesitz von Krone und Kirche in Frankreich habe verhindert, dass die sich in Folge der expandierenden Staatsverschuldung herausbildende reiche Finanzoligarchie durch Grundbesitz „rank and estimation“ erwerben konnte. Die daraus resultierende Zurückweisung durch den alten Adel habe zu „two distinct species of property“ geführt, die sich unversöhnlich gegenüberstünden.330 England habe dagegen seit der „Glorious Revolution“ von 1688 eine gelungene Elitenfusion zwischen altem, landsässigem Adel und dem jungen, dynamischen Bürgertum erreicht, wobei die produktiven Kräfte des Bürgertums mit dem Adel amalgamiert und in diesen integriert worden seien, ohne dabei die informelle adlig-aristokratische „preeminence“ in Frage zu stellen. Zwar sei diesem „Kompromiss“ zwischen altem Adel und aufstrebendem Bürgertum ebenfalls eine Revolution vorausgegangen, doch hätte in diesem Konflikt keine der beiden Sozialgruppen der anderen mit „Vernichtung“ gedroht, indem der „Hass und der Neid“ der Unterschichten mobilisiert wurde. So konnten die „rechtmäßig zustehenden Partizipationsansprüche“ des Bürgertums

329 Edmund Burke, Reflections on the revolution in France and on the proceedings in certain societies in London relative to this event, in: Leslie G. Mitchell (Hrsg.), The writings and speeches of Edmund Burke, Bd. VIII: The French Revolution, Oxford 1989, S. 53-293. Zur politisch-historischen Einordnung Burkes vgl. Michael Wagner, England und die französische Gegenrevolution 1789-1802, München 1994, S. 35ff, hier bes. S. 46-51. Auch wenn Burke in seiner anti-revolutionären Polemik und seinem Vorwurf an das französische Bürgertum, aktiv die Revolution vorbereitet zu haben, womöglich übertreibt, so ist sein Erklärungsansatz sicherlich mehr als „eine soziologisch untermauerte Verschwörungstheorie“, wie Michael Wagner behauptet, vgl. Ebd., S. 47. 330 Burke sah als Ziel des Bündnisses zwischen der aufgeklärten Intelligenz und dem Wirtschaftsbürgertum in Frankreich die „Vernichtung des Adels“, vgl. Wagner, England, S. 48

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befriedigt werden, und gleichzeitig der englisch-britische Adel seine überlegene soziale Kultur, wie sie in der Verfeinerung der Sitten, des gesellschaftlichen Umgangs und der politischen Erfahrung zum Ausdruck kam, auf breitere Gesellschaftskreise ausdehnen. Tatsächlich lässt sich schon für das 17. Jahrhundert beobachten, dass in England der gesellschaftliche Status vor allem dem Einkommen folgte, auch wenn dieses Einkommen zuvor erst aufs Land „transferiert“, d.h. in Grundbesitz investiert werden musste. Dann aber wurde die „Ehre“ vordringlich nicht mehr an „Blut“ (Herkunft) und Geschlechtsalter (lineage) bemessen, sondern vor allem nach Pachteinkünften: „man ist so oder so viel tausend Pfund wert“.331 Mit dieser nüchtern-pragmatischen Geschichtsdeutung, die von tiefer Skepsis gegenüber abstrakt-spekulativen wie rationalistischen Denkansätzen der Aufklärung, der Hochschätzung gewachsener Institutionen und einer grundsätzlichen Kritik am gewaltsamen Bruch mit der Vergangenheit bestimmt war, wurde Burke nicht nur einer der frühesten und wirkungsvollsten Gewährsleute einer „whig interpretation of history“, sondern setzte ein lang nachwirkendes Erklärungsmuster sozialer Konflikte in Gang, welches konservative Denker, Politiker und Publizisten bis ins 20. Jahrhundert inspirieren sollte.332 Denn seine Skizzierung des englischen Elitenausgleichs in Gefolge der „glorious revolution“ barg den Entwurf einer „konservativen“ Handlungsstrategie: wer gesellschaftlichen Wandel ohne Revolution will, muss einen „kompromisshaften“ und entwicklungsfähig-dynamischen Elitenausgleich zwischen Adel und Bürgertum suchen.333 Das von Burke behauptete Modell einer „Elitenfusion“

331 Vgl. Edward P. Thompson, Die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert: Klassenkampf ohne Klasse?, in: Ders., Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1980, S. 247-289, hier: S. 253. Allgemein dazu Schröder, Adel, S. 31-32. 332 Wagner, England, S. 48. Die whiggistische Interpretation der (britischen) Geschichte führt den relativen Anpassungserfolg der englischen Adelsgesellschaft an modernere Sozial- und Wirtschaftsstrukturen gewissermaßen auf einen freiwilligen Machtverzicht aus höherer historischer und politischer Einsicht der herrschenden Eliten Großbritanniens zurück. In prägnanter Kürze fasste diese Lesart Andrew Sinclair, The Last of the Best: The Aristocracy of Europe in the Twentieth Century, London 1969, S. 168, zusammen: „No major European aristocracy, except perhaps the British, has voluntarily relinquished power without a social revolution, whether violent and bloody and brief, or economical and casual and slow.“ Diese Vorstellung des Verlaufs britischer Geschichte seit dem 18.Jahrhundert wurde von David Spring noch in den siebziger Jahren formuliert: David Spring (Hrsg.), European Landed Elites in the nineteenth Century, John Hopkins University Press 1977, S. 15ff. Nach David Cannadine bot diese Geschichtsinterpretation seit den 1940er bis in die siebziger Jahre ein „goldenes Zeitalter“ der professionellen britischen Geschichtsschreibung, welche die Geschichte Großbritanniens als das Ideal menschlicher Geschichte behandelt hätte, vgl. Ders. in: The State of British History, in: Times Literary Supplement, 10. October 1986, S. 1139ff. 333 Diesen Gedanken griffen noch Vilfredo Paretos elitentheoretische Reflektionen über eine notwendige „Elitenzirkulation“ auf, vgl. Reif, Adelserneuerung, S. 206. Näheres zu Pareto bei Gottfried Eisermann, Vilfredo Pareto: ein Klassiker der Soziologie, Stuttgart 1962; Günter Zauels, Paretos Theorie der sozialen Heterogenität und Zirkulation der Eliten, Stuttgart 1968.



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beinhaltete insbesondere für kontinentaleuropäische Rezipienten das verführerische Versprechen eines „steuerbaren Wandels“ – konnte man nicht dank einer „nachholenden“ Beobachterposition im Vergleich des englischen und französischen Entwicklungsganges lernen, und ähnliche Konfliktsituationen von vornherein entschärfen?

Das Vorbild der wirtschaftlichen Entwicklung Großbritanniens Jenseits dieses allgemein staats- und elitenpolitischen Interesses fand das Beispiel England um 1800 in Preußen aus einem weiteren Grund Aufmerksamkeit: wegen der enormen wirtschaftlichen Entwicklung nämlich, die das vordergründig „gewachsene“ ständische Gesellschaftssystem Englands nicht nur mit Prestige, sondern auch mit wirtschaftspolitischer Überzeugungskraft ausstattete.334 Gerade der Adel profitierte dort von der Industrialisierung.335 Parallel zur Rezeption der englischen politischen Geschichte fand in Europa und Deutschland die Aufnahme und Diskussion der liberalen Wirtschaftstheorien von Adam Smith statt. Um 1800 wurde Smith verstärkt in Deutschland wahrgenommen, sei es über das alte Zentrum der deutschen „Anglophilie“, der Universität Göttingen, oder jetzt auch über die Universität Königsberg, wo Christian Jakob Kraus (1753-1807) die Lehren Smith’ verbreitete.336 Kraus hatte kraft seiner Persönlichkeit und seiner zahlreichen persönlichen Verbindungen zu später einflussreichen Verwaltungsbeamten und politischen Vertretern „die Lehre des Adam Smith für den Preußischen Staat gleichsam lebendig gemacht, und kräftig mitgewirkt“, diesen „bei den Verwal-

334 Zum englischen Vorbild in den wirtschaftspolitischen Reformen in Preußen allgemein vgl. Maiwald, „Allen Nationen ...“, S. 120. Allg. zur Wahrnehmung der englischen Wirtschaftskraft seit dem 18. Jahrhundert auf dem Kontinent: Maurer, Aufklärung, S. 90-96. 335 Im Jahrhundert nach 1780 wuchs die Macht der aristokratischen Landbesitzer trotz des relativen Aufstiegs des Bürgertums! Vgl. David Cannadine, Lords and Landlords. The aristocracy and the towns 1774-1967, Leicester 1980, S. 394. Doch auch in Preußen konnte der Adel wirtschaftlich von der Industrialisierung profitieren. Zur „aristocratic resurgence“ im Zeitalter der Industrialisierung in England, vgl. Schröder, Adel, S. 26-28. Vor allem das Gewicht der Gentry wuchs (reform bill 1832!), wogegen im 18. Jahrhundert die „Adelsherrschaft“ fast ausschließlich durch die „Magnaten“ ausgeübt worden war. 336 Christian Jakob Kraus wurde als Sohn eines städtischen Chirurgen in Osterode bei Hildesheim geboren, und kam als Student 1770 an die Universität Königsberg, wo er als Student der Kameralistik und Philosophie die nähere Bekanntschaft Kants machte. Über jenen lernte Kraus eine Reihe einflussreicher Persönlichkeiten kennen, u.a. Hans Jakob v. Auerswald, dem nachmaligen Kurator der Universität. 1779 ging er als Begleiter eines adligen Studenten nach Berlin und Göttingen, bevor er 1780 an der Universität Halle die philosophische Doktorwürde erlangte, um im selben Jahr einen Ruf als Professor an der Universität Königsberg für Philosophie und Kameralwissenschaften annehmen zu können. Er wandte sich zunehmend von der theoretischen Philosophie der praktischen Staatswissenschaft zu, so zu Fragen der Finanzwissenschaft, Polizeiwissenschaft, Handel, Gewerbekunde und Landwirtschaft, zu denen er auch tagespolitische Abhandlungen verfasste, vgl. ADB, Bd. 17, S. 66-68.

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tungs-Behörden Eingang zu verschaffen“.337 Zu diesen Verbindungspersonen zählte auch Theodor v. Schön, dessen Ausbildungsweg noch Kant entworfen hatte. Unter dem Einfluss von Kraus wurden für Schön „Kant und Adam Smith [...] die Leitsterne seines Wirkens“. Er war außerdem durch seine Frau Lydia mit einer der bekanntesten liberal-orientierten ostpreußischen Familien, den v. Auerswald, verbunden. Lydias Vater Hans v. Auerswald (1757-1833) gehörte zu den ostpreußischen Administratoren, die durch die von Adam Smith beeinflußten Lehren Kants und Kraus’ geprägt waren. Nicht zufällig brachte gerade diese Provinz eine ganze Reihe liberaler Verwaltungsbeamter hervor und erlebte schon vor 1806 Initiativen zu allgemeinen Reformen.338 Schön hatte die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse Englands zudem auf einer längeren Reise durch England und Schottland 1778 persönlich kennengelernt. Von diesem Studienaufenthalt brachte er Schriften und Aufzeichnungen zur praktischen Anwendung nach Preußen zurück.339 Darin fanden auch die sozialen Verhältnisse seine Aufmerksamkeit, und insbesondere die soziale Stellung der englischen Gentry schienen ihm für Preußen vorbildlich und erstrebenswert.340 Die eigentümliche Verbindung von wirtschaftlicher und individueller Freiheit in den Lehren von Smith und Kraus erhielt durch die Einflüsse kantischer Philosophie in den Anschauungen Schöns und anderer ostpreußischer Administratoren nicht nur eine geschlossene philosophische Begründung, sondern ihren besonderen moralischen Impetus. Dies zeigten z.B. Schöns Ansichten zur Bauernbefreiung, die wirtschaftliche mit sozialer und politischer Veränderung in Beziehung setzten, Bürger statt königlicher oder gutsherrlicher Untertanen als handelnde Subjekte anstrebten.341

337 Johann Gottfried Hoffmann, Christian Jakob Kraus, in: Berliner Abendblätter 1810, 19.-21. Blatt, 19. Blatt, zit. nach Maiwald „Allen Nationen ...“, S. 119. 338 Maiwald „Allen Nationen ...“, S. 120. 339 In einem Konzept, das im GSTAPK Dep. v. Brünneck, Nr. 102 b erhalten ist, und wohl aus der Zeit von Schöns Zugehörigkeit zum Generaldirektorium 1800-1806 stammt, verwies er ausdrücklich auf dieses konkrete Plan-Material, das er schon für administrative Entscheidungen vor 1806 heranzog: „I have attempted several things to introduce here, that are use in England. And I find that climate, constitution and therefore a different interest of individuals are great obstacles to it, to say nothing of the prejudices that every introduction of new things as to combat. I hope however, that the great profit, necessarily arriving from the materials and plans I brought from England will convince the people of the perfection and ecxellency“, vgl. auch Schulze-Marmeling, Schön, S. 21. 340 Peter Schuppan, Ostpreußischer Junkerliberalismus und bürgerliche Opposition um 1840, in: Helmut Bleiber u.a. (Hrsg.), Bourgeosie und bürgerliche Umwälzung in Deutschland 1789-1871, Berlin (Ost) 1977, S. 65-100, hier S. 76. 341 Überhaupt sind die englischen Reisebeschreibungen während des ganzen 19. Jahrhunderts kaum zu zählen, in denen die Überlegenheit der englischen Infrastruktur mit ungläubigem Staunen geschildert wird – gleich, ob es sich dabei um Maschinen und Fabriken, Alltagsgegenstände, oder Luxus- und Konsumartikel handelte. Vgl. z.B. Tagebuch über die Reise nach England (15. Okt.-19. Dez. 1815) von F. A. L. v. d. Marwitz, in: Friedrich Meusel (Hrsg.), Friedrich August v. d. Marwitz. Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege, 3 Bände. 1. Band Lebensbeschreibung, 2. Band Teil 1 Tagebücher, politische Schriften und Briefe, 2. Band Teil 2 Politische Schriften und



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Ein zweiter Strang der in den Reformjahren wirkmächtigen Personen, die nicht zuletzt aus wirtschaftspolitischen Erwägungen ein „Modell England“ propagierten, bezog sein Wissen über England aus zweiter Hand. So z.B. der Agrarreformer Albrecht Daniel Thaer (1752-1828), der wie so viele „Anglophile“ im damals stark von englischen Ideen beeinflussten Göttingen studiert hatte.342 Thaers agrarwissenschaftliches Werk

Briefe, Berlin 1908-1913; hier: Zweiter Band, Erster Teil, Berlin 1913, S. 46-103, bes. zu Gasthauseinrichtungen (S. 48), allg. Wohlstand (S. 50f), Reinlichkeit der Straßen und Geschäfte Londons (S. 52f), Überlegenheit der Zugpferdrassen und Wagenausstattungen (S. 54-56), London sei entstanden aus „der freien Verfolgung der Lebenszwecke aller Einwohner“ (S. 53). Und noch 1844 berichtete Adolf Wilhelm Hans v. Königsmarck, der als Adjutant des Kronprinzen Wilhelm (I.) auf seiner Reise nach England begleitete, seiner Frau ausführlich über die materielle Überlegenheit in der Technik (Besichtigung des neuen stählernen Ozeandampfers „Grand Brittania“), der Park- und Schlossanlagen des hohen Adels und der englischen Alltagskultur gegenüber den heimischen Verhältnissen, gleich ob in Schlössern oder Bürgerhäusern: „Ein Luxusartikel den ich in all diesen Schlößern gefunden, sind die schönsten Gemälde und besonders viel Marmorstatuen, Büsten und MarmorKamine, Tische pp. Die Waschtische gemeinhin Marmor. Die Waschbecken und Kannen, eine kleinere Kanne mit Becken zum Mundausspülen natürlich Fußwannen pp, so daß ich allmählich 22 Stücke zum Waschtisch gehörig gezählt. 6 Handtücher und ein [?] für diese. Ein blank geputzter Kupferkessel steht in jeder Logierstube am Kamin [...?] Gardinenbetten und stets so groß, daß mehr wie 2 Menschen darin Raum hätten. An Rollen, Kopfkissen fehlt es nicht und die Decken sind so fest untergesteckt, daß ich nur eine Seite hervorgezogen und mich da eingewickelt. Ein anderer Luxus Artikel sind die Treppen in den Häusern. Sie [...?] gleichsam als auch zu den Salons gehörig. Ich bin in die kleinsten Bürgerwohnungen aus Neugierde getreten, die Treppe war mit einem Teppich als [...?] belegt und die polierten Messing oder Stahlgeländer waren ohne Flecke zum spiegeln sauber. In den Häusern der Großen sind sie mit[...?] wenn auch nicht von Marmor und Mahagoni doch wenn sie von Sandstein sind, mit einem weißen Anstrich versehen, ich glaube, den sie fast täglich erneuern.“ Vgl. BLHA Potsdam Rep. 37 Berlitt/ Kötzlin Nr. 1006 (Briefe des Adolf Wilhelm Hans von Königsmarck an seine Braut und Frau Josephine, 1824, 1838, 1842, 1844). 342 Albrecht Daniel Thaer wurde als einziger Sohn eines kurfürstlich hannoverschen Hof-Medicus in Celle geboren und studierte in Göttingen Medizin. Nach seinem Studium kam erstmals 1776 für mehrere Monate nach Berlin, wo er Aufnahme in die dortige Gesellschaft fand. Er assistierte anschließend seinem Vater in der Praxis, und wurde nach dessen Tod 1778 Stadtphysicus und kurfürstlicher Hofmedicus in Celle. Über sein privates Interesse am Gartenbau und aus Überdruss an seiner medizinischen Betätigung wandte er sich schließlich landwirtschaftlichen Problemen zu. 1784 wurde er Mitglied des engeren Ausschusses der königlichen Landwirtschaftsgesellschaft in Celle. Um sein Haus in der Umgebung von Celle errichtete er einen kleinen landwirtschaftlichen Musterbetrieb zur Erforschung neuer Anbau- und Veredelungsmethoden, beschäftigte sich als Schriftsteller theoretisch mit Landbau, und veröffentlichte dabei u.a. eine „Einleitung zur Kenntniß der englischen Landwirtschaft und ihrer neueren practischen und theoretischen Fortschritte in Rücksicht auf Vervollkommnung deutscher Landwirthschaft für denkende Landwirthe und Cameralisten“, Hannover 1798-1804. Ab 1802 nahm er öffentliche Vorlesungen zu landwirtschaftlichen Themen auf. Nachdem der preußische König Friedrich Wilhelm III. um diese Zeit auf ihn aufmerksam geworden war, forderte Hardenberg, der Thaer noch von Göttinger Studienzeiten kannte, ihn zur Übersiedelung nach Preußen auf, um dort sein Reformwerk voranzutreiben. Im März 1804 wurde Thaer königlich-preußischer Geheimrat und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Thaer übernahm in Möglin bei Wriezen im Oderbruch ein Erbpachtgut. 1808 wurde Thaer zum Staatsrat im Ministerium des Inneren ernannt, um bei

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stützte sich ausschließlich auf die britische Literatur und beschränkte sich dabei nicht auf die Problematik der agrartechnischen Innovationen, sondern diskutierte deren Verwurzelung in der wirtschaftlichen und sozialen Agrarverfassung.343 In seiner „Einleitung zur Kenntniß der englischen Landwirtschaft“ verwies Thaer darauf, dass die Entwicklung bezüglich des Getreidehandels und der großen „Einhegungen“ (enclosures), die eine hohe Konzentration des großen Grundbesitzes in den Händen einer kleinen (überwiegend adligen) Großgrundbesitzergruppe nach sich zogen, in Großbritannien schon hundert Jahre vor der deutschen Landwirtschaft eine ähnliche Phase durchlaufen hätte – deshalb, schloss Thaer, müsse auch in wirtschaftlichsozialer Hinsicht das deutsche Beispiel dem britischen Modell folgen: der Staat solle dafür sorgen, die Landwirtschaft der englischen anzugleichen.344 Und das hieß auch: der Gutsbesitz müsse sozial geöffnet werden, damit bürgerliches Kapital in die Güter fließen könne, große Pachtgrundstücke sollten in die Hände fähiger Agrarkapitalisten kommen, während der ineffiziente Fron- und Zwangsdienst entfällt!345 Thaer hatte die wirtschaftliche Überlegenheit großer Güter am englischen Beispiel beschrieben und zu begründen versucht, und Theodor v. Schön hatte aus seinen Beobachtungen in Großbritannien dieselben Schlüsse gezogen, weshalb er ja den Großgrundbesitz befürwortete, auch wenn diese Politik zugleich den Adel begünstigen musste, was Schöns übrigen sozialpolitischen Zielen entgegenstand. Ganz ähnlich betrachtete der schon erwähnte Friedrich v. Raumer die Zusammenhänge zwischen dem britischen Steuer- und Wirtschafssystem und der allgemeinen Gesellschaftsverfassung, die er programmatisch in seiner Schrift „Das britische Besteuerungssystem, insbesondere die Einkommenssteuer, dargestellt mit Hinsicht auf die in der preußischen Monarchie zu treffenden Einrichtungen“ schon ganz auf eine Übernahme durch das preußische Reformwerk untersucht hatte.346 Nicht zuletzt aufgrund dieser Schrift wurde Raumer von Hardenberg zu seinem Büroleiter berufen („der kleine Staatskanzler“). Damit fanden Überzeugungen ihren Eingang ins Herz des Reformgeschehens, die England als maßgebliches Vorbild für die preußischen Wirtschaftsreformen betrachteten. Raumer beließ es dabei nicht bei allgemeinen programmatischen Bezügen, wollte auch nicht einfach einzelne Elemente der englischen Wirtschaftsordnung (wie die damals heiß diskutierte Einkommenssteuer) überneh-

den Agrareformen mitzuwirken. 1810 wurde er Professor für Kameralwissenschaften an der Universität Berlin. Den Reformprozess begleitete er mit einer Reihe von Schriften, sein Gut Möglin wurde 1819 zur „Königlich akademischen Lehranstalt des Landbaues“ ernannt; vgl. ADB, Bd. 37, S. 636-641. 343 Vgl. Maiwald, „Allen Nationen ...“, S. 22. 344 Großgrundbesitz war für Thaer Voraussetzung für landwirtschaftlichen Fortschritt. Für ihn war darin Arthur Young das Vorbild, der englische Champion des enclosure-movements, vgl. Gray, Prussia, S. 39. 345 Maiwald „Allen Nationen ...“, S. 123. 346 Friedrich v. Raumer, Das britische Besteuerungssystem, insbesondere die Einkommenssteuer, dargestellt mit Hinsicht auf die in der preußischen Monarchie zu treffenden Einrichtungen, Berlin 1810.



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men, sondern trachtete danach, die gesamte preußische Arbeits- und Sozialverfassung durch eine Orientierung an der britischen Entwicklung umzustoßen.347 1822 unterzog Raumer anlässlich einer Festrede das Reformgeschehen einer bewertenden Rückschau, wobei er dem preußischen Adel noch einmal das englische Vorbild anempfahl: nicht mit Ressentiments solle er auf die Umwälzungen der vergangenen Jahre zurückzublicken, sondern erkennen, dass „der wahre Adel“ nicht in „beneideten Nebenvorrechten“ liege, wie dies England zeige!348

England als konkrete „Leitlandschaft“ administrativer Strukturreformen Neben diesem allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Interesse am Entwicklungsparadigma „England“ diente es auch dazu, konkrete Reformvorschläge für ständische und administrative Einrichtungen zu formulieren. Dieses funktionale Verständnis zeigte ja schon Steins „Nassauer Denkschrift“, insofern sie auf die geringeren Verwaltungskosten des englischen „self-governing“ verwies.349 Eine solche praktische Orientierung an England betrieb vor allem Ludwig Freiherr v. Vincke (1774-1844).350

347 „Die altpreußische Gewerbeverfassung und damit auch die Besteuerung basierte auf dem in der Praxis freilich nicht streng durchgehaltenen Prinzip der strikten Trennung zwischen Stadt und Land. Auf dem Land sollten der Bauer und der Adelige Landwirtschaft betreiben, dem Adel (mit Ausnahme Schlesiens) das Gewerbe verschlossen bleiben. Umgekehrt sollte die Stadt der Bereich des gewerbetreibenden Bürgers sein, dessen Kapitalanlage in der Landwirtschaft nicht gern gesehen wurde, weil aus politischen und militärischen Gründen der Adel im Besitz der Rittergüter bleiben sollte. [...]. Raumer plädierte für die Übernahme der britischen und damit die Abschaffung der altpreußischen Gewerbeverfassung, denn der Grundsatz des Rechts auf gleiche Tätigkeit und gleiche Besteuerung sei der Grund für wirtschaftlichen Erfolg und Freiheit Großbritanniens. Darum sollte in Preußen die wirtschaftliche Trennung von Stadt und Land aufgehoben, der Gewerbebetrieb auf dem Lande freigegeben und dementsprechend die unterschiedliche Besteuerung von Stadt und Land beseitigt werden. Raumer wollte auch die Beschränkungen von Handel und Gewerbe und die Privilegien im Gewerbebetrieb und genauso das Privileg des adligen Grundbesitzes und dessen Steuerfreiheit abschaffen“, siehe: Maiwald, „Allen Nationen ...“, S. 120f. 348 Festrede gehalten von Friedrich v. Raumer, Rede, gehalten am 16. November 1822 zur Feier der fünf und zwanzigjährigen Regierung Sr. Majestät des Königs von Preußen, in: Historisches Taschenbuch, hrsg. v. Friedrich v. Raumer, Erster Jahrgang, 1830, S. 414ff, hier S. 425, zit. nach Harnisch, Adel und Großgrundbesitz, S. 3, Anmk.1. 349 Stein stützte sich dabei auf die ausführliche Schilderung der englischen Verhältnisse durch Francois d’Ivernois, die er seiner Denkschrift anhing. Francois d’Ivernois (1757-1842) war ein Schweizer Ökonom aus Genf, der, obwohl liberal, als Gegner der französischen Revolution 1792 nach England fliehen musste. Erst 1814 konnte nach Genf zurückkehren, und vertrat auf dem Wiener Kongress mit anderen Deputierten die Schweizer Interessen. D’Ivernois hatte in seiner Schrift „Des causes qui ont amené l’usurpation du général Bonaparte et qui préparent sa chute“ (1800) auch einem breiteren Publikum erstmals einen besseren Einblick in die englische Verfassungswirklichkeit gegeben. Vgl. Mayer, England als Vorbild, S. 36. Dazu auch Steinmetz, Steins Institutionenbegriff, S. 21. 350 Friedrich Ludwig Wilhelm Philipp Freiherr v. Vincke (1774-1844) wurde in Minden als Mitglied einer altadligen, in Westfalen begüterten Familie geboren. Sein Vater hatte schon als Diplomat Fried-

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Stein hatte Vincke schon in Westfalen kennengelernt und eng mit ihm zusammengearbeitet, bevor er ihn 1807 in seine Regierung holte. Vincke wurde allerdings mehr mit diplomatischen und ad hoc Arbeiten betraut, denn in die alltäglichen Reformaufgaben eingebunden. Weniger als formales Mitglied einer der Reformkommissionen, denn auf direkte Aufforderung durch Stein an den Reformauseinandersetzungen beteiligt, bezog er sich in seinen mindestens vier Memoranden zu Fragen der Lokalund Regionalregierungen direkt auf die englischen Verhältnisse. Vincke bewunderte offen die britischen politischen Institutionen, und hatte seiner Begeisterung 1808 in einer „Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens“ Ausdruck gegeben.351 Selbst von altem westfälischem Adel, hatte sich Vincke zeit seines Lebens in auffälliger Weise von seinem Stand distanziert, nicht nur in seinen Ansichten, sondern auch seiner Lebenswelt und Lebensweise. Zeitweise verleugnete er seinen adligen Namen regelrecht.352 Seit seiner Jugend beschäftigte er sich intensiv mit der zeitgenössischen Adelskritik, und hatte seine Hochschätzung des englischen Gesellschafsmodells mit seiner Lektüre von Ernst Brandes Schrift „Über einige bisherige Folgen der französi-

rich II. v. Preußen gedient. Vincke besuchte das Pädagogium in Halle, studierte von 1792 bis 1795 in Marburg, Erlangen und Göttingen Jura und Kameralistik. Auf Wunsch seines Schwagers, dem Minister v. d. Reck, wurde Vincke 1795 Referendar bei der kurmärkischen Kammer in Berlin. Vincke wandte sich durch diese Tätigkeit vom Merkantilsystem ab und begeisterte sich für Adam Smith. 1798 wurde er Landrat in Minden, wo er Freiherr vom Stein kennenlernte. 1800 machte Vincke eine fast siebenmonatige Englandreise, vorbereitet u.a. durch Studien von Thaer, wo er in London die Bekanntschaft auch von d’Ivernois machte, der ihn während des größten Teils seiner Englandreise begleitete, und näher in die englische Verfassungswirklichkeit einführte. Nach einer ausgedehnten Spanienreise im Staatsauftrag 1801/3, die ihn über Frankreich bis in die Schweiz führte, wurde er Kammerpräsident in Ostfriesland. 1804 wurde er in Nachfolge Steins Kammerpräsident in Münster. Nach der Niederlage Preußens auf Druck Frankreichs 1807 entlassen, ging er kurzzeitig erneut nach England, bevor er im Spätherbst desselben Jahres zur preußischen Reformregierung in Memel stieß. Für diese war er allerdings vor allem mit diplomatischen Missionen im Westen Deutschlands unterwegs. Nach Steins Entlassung war Vincke froh mit der Berufung als Präsident der kurmärkischen Kammer im Frühjahr 1809 selbst aus der engeren Reformadministration ausscheiden zu können. Vgl. ADB, Bd. 39, S. 736743; Schulze-Marmeling, Schön, S. 169. 351 L. von Vincke, Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens, hrsg. v. B. G. Niebuhr, Berlin 1815. Veröffentlicht wurde diese Schrift erst 1815. Doch schon im Frühsommer 1808 übergab Vincke sein Manuskript an Stein, der sie noch vor den Entwürfen zu seiner Städteordnung las, vgl. Arndt Schreiber, Wilhelm v. Humboldt und Karl Freiherr vom Stein. Über Einrichtung landständischer Verfassungen in den preußischen Staaten, Heidelberg 1949, S. 146. 352 Vincke erlebte seine Herkunft aus dem alten, stiftsfähigen Adel Westfalens, der seit Jahrhunderten durch eine scharfe „Ahnenprobe“ seine Exklusivität bewahrte, gleich zweimal als tragisches Geschick, als seine Eltern seine zwei großen Lieben als nicht standesgemäße Ehepartnerinnen ablehnten. In einen großen Gewissenskonflikt gestürzt, an dem sein Verhältnis zu seinen Eltern fast zerbrochen wäre, entschied sich Vincke schließlich für die Familiensolidarität, vgl. Horst Conrad, Vincke und der Adel, in: Hans-Joachim Behr/Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Ludwig Freiherr Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen, Münster 1994, S. 241-264, hier bes. S. 245, 247.



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schen Revolution mit Rücksicht auf Deutschland“ schon im Jahr 1792 entwickelt.353 1800 hatte er für einige Monate England bereist und kam dort in Kontakt mit Francois d`Ivernois, der ihm seinerseits nähere Auskunft über die englischen Verhältnisse gab.354 In seiner Schrift über die „Verwaltung Großbritanniens“ ging Vincke zwar kaum auf die englischen Adelsverhältnisse ein, doch erklärte er sich die Entwicklung der von ihm bewunderten englischen „Friedensgerichte“ mit der relativen ständischen Offenheit, die es zugelassen hätten, dass die ursprünglich dem Adel vorbehaltenen „Courts of the Manor“ (Vincke bezeichnete sie als „Patrimonialgerichte“) durch eine seit dem späten Mittelalter wachsende unabhängige Klasse von Grundeigentümern („freeholders“) und deren eigener Institution von „Friedensgerichten“ marginalisiert („antiquiert“) worden waren.355 Dadurch sei der Geburtsnachweis für die Besetzung der Friedensrichterstellen durch einen reinen Vermögensnachweis („oath of qualification“) ersetzt worden – ein Gedanke, der für seine späteren Überzeugungen über die Notwendigkeit einer Grundbesitzqualifikation des Adels entscheidend wurde.356 Dieser starke englische Einfluss auf Vincke schlug sich insbesondere in den Diskussionen zu den beabsichtigten Kreisreformen nieder; er zitierte englische Begriffe und Institutionen in seinen verschiedenen Memoranda zu diesem Thema.357 Vinckes Vorschläge für ein reformiertes Landratssystem basierten erheblich auf der englischen Einrichtung von „Friedensrichtern“ (justice of the peace), die Treffen der landrätlichen Kommissionen sollten alle drei Monate stattfinden – was sich deutlich an

353 Später berief sich Vincke immer wieder gerne auf Mösers Schrift, „Warum bildet sich der deutsche Adel nicht nach dem Englischen?“, vgl. Conrad, Vincke, S. 254 Anmk. 84. 354 Mayer, England als Vorbild, S. 40. Auch auf seinen späteren ausgedehnten Reisen durch die Schweiz und Belgien interessierte sich Vincke lebhaft für „adelsfreie, bürgerlich-bäuerliche Verfassungseinrichtungen“, vgl. Conrad, Vincke, S. 246. Vincke war zudem durch die Schrift „Staatsverfassung Großbritanniens“ von Theodor Schmalz (Halle 1806), beeinflusst. 355 Dass die Ersetzung der grundherrlichen Gerichtsbarkeit durch die sozial akzeptablere und neutraler scheinende Form der Rechtsprechung von justices-of-the-peace („rule of law“) sozialen Konflikten zwischen der aristokratischen Herrschaft und breiten Bevölkerung vorbaute, ist auch in der Forschungsliteratur anerkannt, vgl. Schröder, Adel, S. 42f. 356 Conrad, Vincke, S. 244. Vgl. dazu: Vincke, Darstellung, S. 15f. Die britische Institution der Friedensgerichte zeigten in ihrer Mischung von eigentlich richterlichen und allgemeinen Verwaltungsaufgaben noch die typische allgemein europäische Identifikation von Richten und Verwalten. Vinckes Beschreibung dieser Entwicklung deckt sich in weiten Zügen noch mit dem heutigen Forschungsstand, vgl. Kümin, Government, S. 210f. 357 In einem Brief vom 29. Juli 1808 an seine Schwester Luise verwies er noch einmal ausdrücklich auf das englische Vorbild, das ihm fehlende Informationen und Materialien über die preußischen Verhältnisse, bzw. die angestrebten Ziele der eigentlichen Reformadministratoren ersetzen mussten: „[…] – freilich fehlen mir häufig die Materialien, und ich bin mit Bedarf und Geschmack des Konsumenten nicht genau genug bekannt, doch vieles wird durch englisches Muster, welche ich auch hierin immer mehr als die vollkommensten bewundere, annehmlicher“; vgl. Schulze-Marmeling, Schön, S. 21.

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die englischen „three quarter sessions“ anlehnte.358 Vincke plante, unterhalb der Kreisebene kleinere Verwaltungseinheiten einzuführen („Unterkreise“), welche die eigentliche administrative Arbeit leisten sollten. Damit wich Vincke völlig von den hergebrachten preußischen Mustern ab: Aber Vinckes [...] Vorschläge paßten sich in keiner Weise den einheimischen Verhältnissen an. Sie liefen lediglich auf eine Übertragung englischer Verhältnisse hinaus, wie er sie in seiner Denkschrift ‚Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens‘ verherrlicht hat. Er will mehrere Landräte in jedem Kreis haben, so für den Oberbarnimschen Kreis mit seinen 27 Quadratmeilen 15 Landräte. Die Konsequenz ist, daß für Vincke die bestehenden Kreise keineswegs zu groß sind. Die Kreisgröße ist überhaupt gleichgültig, da bei ihm ja der Schwerpunkt in den vielen zwergenhaften Unterkreisen liegt.359

Die Idee war, dass die Landräte ähnlich der englischen Friedensrichter in konkurrierender Autorität zueinander stehen sollten. Dies sollte dem Ämtermissbrauch vorbauen, ähnlich wie im „kaufmännischen Verkehr“ die Konkurrenz die Folgen einer Monopolbildung verhindere.360 Die Kreisgröße von etwa 40.000 Einwohnern, die Konkurrenz der Gerichtsbarkeit, die Idee, dass jede Angelegenheit im Kreis bei jedem Landrat anhängig gemacht werden kann, die Bindung des Amtes an ein gewisses Vermögen und deshalb dessen Unentgeltlichkeit; überhaupt: die Kombination von Gericht, Polizei und Verwaltung in der Hand der Landräte – all diese Detailvorschläge waren dem englischen Vorbild nachgebildet, und zielten auf die engere Verbindung der regionalen gesellschaftlichen Spitzen mit den staatlichen Institutionen.361 Zentral für Vincke war der Gedanke einer weitgehenden Selbstständigkeit dieser englischen Exekutivorgane.362 Die Landräte hätten sich durch Landbesitz zu qualifizieren, und zwar ohne Rücksicht auf eine Zugehörigkeit zum Adel!363 Selbst die Schulzen, die den Landrat in seiner Arbeit unterstützen sollten, waren in ihren Aufgaben den englischen „constables“ nachempfunden, und auch diese sollten sich durch Besitz qualifizieren.364

358 Stein hatte sich 1817/18 neben England allerdings wiederholt auch auf vorrevolutionäre Vorbilder aus Frankreich für eine solche ständische Lokalverwaltung berufen: „assemblées provincials“, vgl. Brief Stein an v. Hövel 29. April 1818; Stein an Vincke 20. Juli 1818 in: Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 683, S. 772-773, hier S. 772; Nr. 712, S. 804-807, hier S. 806. 359 Berthold Schulze, Die Reform der Verwaltungsbezirke in Brandenburg und Pommern 18091818. Mit Unterstützung der Historischen Kommission für die Provinz Pommern, Berlin 1931, hier S. 17. 360 Vgl. Vincke, Darstellung, S. 34 Anmerkung. 361 Mayer, England als Vorbild, S. 41f. 362 Vincke, Darstellung, S. 9ff, S. 71ff. 363 Bei der Grundbesitzqualifikation war für Vincke nicht so sehr entscheidend, dass das Amt unentgeldlich für den Staat ausgeübt würde, als dass Vincke aufgrund seiner englischen Beobachtungen glaubte, dass dem Amtsinhaber allein durch das eigene Vermögen die notwendige Autorität zuwachse, Vincke, Darstellung, S. 11ff. 364 Gray, S. 83.



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Gedacht war also an einen konsequenten Verwaltungsaufbau „von unten“; die zahlenmäßige Erweiterung der unteren Verwaltungsebene der „FriedensrichterLandräte“ sollte wohl vor allem dazu dienen, die personale Verflechtung der lokalen und regionalen Eliten (und das bedeutete aufgrund der Unentgeldlichkeit: der großen Grundbesitzer) mit den staatlichen Institutionen auf eine verbreiterte soziale Grundlage zu stellen und so zu intensivieren. Ebenso sollten die „Constable-Schulzen“ zwar Aufgaben ähnlich der französischen Gendamerie erfüllen, aber eben „aus der Nation gewählt“ und unentgeltlich, entschädigt allein durch Sporteln, wie Stein die Vinckeschen Ideen zusammenfasste.365 Dies würde auch der „ursprünglich in beinahe ganz Deutschland stattgefundenen Verfassung“ entsprechen, wonach diese Dienste teilweise durch „Schützen“ oder „Ausschüsse und wie sie sonst immer genannt wurden, aus der Bürgerschaft“ verrichtet wurden, wie Stein behauptete.366 Nach dem englischen Vorbild sollte die angestrebte Verknüpfung von allgemein staatlichen und regional-provinzialen Interessen eben nicht über einen intensiveren staatlich-administrativen Verwaltungsausbau erfolgen, sondern über die Bildung einer preußischen „ruling-class“, welche die Einheit der sozialen und politischen Gesamtstaats- wie Provinzialinteressen in einer den englischen Friedensrichtern ähnlichen Institution garantieren würde!367 Ganz ähnlich zeigte sich übrigens auch Theodor v. Schön in

365 Vincke war schon auf seiner ersten Englandreise fasziniert von der „ganzen Art“, „wie die Menschen so ganz durch und aus sich regiert wurden, ohne daß der Staat sich im mindesten darum kümmern und etwas auszugeben“ brauche; vgl. Brief Vinckes an Stein 8. August 1800, nach SchulzeMarmeling, Schön, S. 168. 366 In einer Stellungnahme über die Einrichtung der Provinzial-Unterbehörden an den Staatsminister v. Schroetter vom 27. Juni 1808 machte sich Stein mit diesen Worten für die Vinckeschen Überlegungen hinsichtlich einer Reorganisation des preußischen Landrats nach dem Vorbild des englischen Friedensrichters stark, vgl. Pertz, Stein, Bd. 2, S. 674. Dazu auch Mayer, England als Vorbild, S. 42. 367 Vgl. zur Entwicklung der Institution des Friedensrichters und ihrer Verflechtung mit den adligen wie nichtadligen lokalen Eliten: Esther Moir, The Justice of the Peace (Penguin Book „British Institutions“), Harmondsworth 1969, S. 77-101. In vielen Zügen erinnert die Stellung eines englischen „Friedensrichters“, aber auch die der „Lord Lieutenants“, an die Position eines preußischen Landrats des 18. Jahrhunderts – aus der lokalen (adlig dominierten) Elite gewählt, waren sie doch von der politischen Zentrale abhängig; ursprünglich vom König, dann nach 1689 zunehmend vom Parlament bestätigt (Ebd., S. 79). Damit stellten diese Institutionen das Scharnier zwischen Zentralgewalt und lokalen Eliten her, für deren Qualifikation zur Bekleidung dieser Posten ihrerseits „ancestry“ (Familienalter) und „acres“ (Grundbesitz) entscheidend blieben (Ebd., S. 81f). Allerdings war die soziale Zusammensetzung der lokalen Eliten in England bekanntlich deutlich gemischter, klare Standes- oder „Klassen“-Abgrenzungen geringer ausgeprägt, trotz der sozial-kulturellen „preeminence“ (Edmund Burke) des Adels. Im Kommerz reich gewordene Kaufleute gingen auch nach Erwerb eines großen, zum „country squire“ qualifizierenden Grundbesitzes ihren kommerziellen Interessen nach, adlige Grundbesitzer waren in Aktiengeschäften wie in Investitionen im (ländlichen) Frühindustrialismus tätig (Ebd., S. 86-88). Trotzdem erhielt sich in England auf dem Land bis ins späte 19. Jahrhundert eine Verwaltung, in der „Persönlichkeit“ und persönlicher Kontakt entscheidender als die „Institutionalisierung“ blieb (vgl. Ebd., S. 119f). Erst mit dem „Poor Law“ von 1834 setzte die Einführung bezahlter

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

seinen Gegenvorschlägen zur Kreisreform von englischen Vorbildern inspiriert: wie Vincke schwebten ihm „Unterbezirke“ der Kreise vor – deren Vorsteher sollten wiederum „Friedensrichter“ heißen!368 Und noch 1819 gebrauchte selbst Niebuhr in seinem Verfassungsentwurf für Landstände Begriffe wie „Oberhaus“ und „Freeholders“!369 In Vinckes Überlegungen spielten Adelsrücksichten jedenfalls keine Rolle mehr: in seinem Ständegutachten vom 20. September 1808 ist vom Adel als einem privilegierten Stand keine Rede: dem Adel bliebe „nichts weiter als Titel und Wappen, leerer Tand, welcher nicht zur Grundlage des Repräsentationssystems dienen kann  [...]“; und in seinem Gutachten zur Reform des Staatschuldenwesens nahmen seine Forderungen nach einer Luxussteuer keinerlei Rücksicht auf adlige Interessen und Repräsentationsbedürfnisse: Pferde, Hunde, Kutschen, Gesindehaltung, selbst Gold- und Juwelenschmuck und mit Tressen besetzte Livreen der Diener sollten darin einbezogen werden!370 Auch wenn sich Vincke später in seiner Zeit als westfälischer Oberpräsident den Interessen und der Perspektive des alten Adels wieder deutlich näherte, so hielt er doch entschieden an der Idee einer Adelsreform fest371 – anlässlich der Gesetzesrevision in den zwanziger Jahren plädierte er sogar für die Bildung eines Neuadels nach napoleonischem Vorbild und machte konkrete Vorschläge dazu!372 Doch kam Vincke

Administratoren in die Lokalregierung zögerlich ein; diese fand erst mit der Einführung der „County Councils“ 1888 ihren vorläufigen Abschluss (Ebd., S. 131ff). 368 Gray, Prussia, S. 85. 369 Mayer, England als Vorbild, S. 43. Vgl. zu Niebuhrs Verfassungsvorschlag Pertz, Stein, Bd. 5., S. 337-444. 370 Conrad, Vincke, S. 252, u. Anmk. 76. Ähnlich adelsfeindlich zeigte sich Niebuhr, der ansonsten ein strikter Vertreter des englischen Entwicklungsparadigmas war: vgl. Mayer, England als Vorbild, S. 43 u. 49. 371  Für diese Annäherung war vor allem seine Befürchtung ausschlaggebend, dass eine zu große Mobilisierung des (Boden-)Eigentums den Staatsinteressen zuwiderlief. Conrad, Vincke, S. 252f. 372 Vgl. GSTAPK I. HA Rep. 84 II Tit. 4 X (Justizministerium betr. Revision der Gesetzgebung) Nr. 17 zu ALR 1826-1842, Bl. 30-35; Oberpräsident v. Vincke 1829, zum Pensum X: Darin beklagte Vincke entgegen seiner früheren Positionen die Situation des Adels, und hielt unter Bezug auf Johann Georg Schlosser (1739-1799) [Briefe über die Gesetzgebung überhaupt, und den Entwurf des Preußischen Gesetzbuches insbesondere, Frankfurt a. M. 1789, (Nachdruck: Glashütten im Taunus 1970)], fest: „So wie kein Unbefangener leugnen kann, daß in einer Monarchie ein unabhängiger begüterter Erbadel als Mittelstand zwischen Thron und dem Volk und Vertreter des letzten, wenn er mit demselben im Übrigen gleiche Lasten trägt, unentbehrlich so ist es ebenso unleugbar, daß unser Adel, entsprungen aus einem längst untergegangenen Kriegssystem, sich gegenwärtig ohne festen Grundsatz, ohne Haltung und Zweck befindet, daß derselbe durch Vermischung mit dem überhäuften Briefadel, durch Vererbung des bloßen Standes ohne Vermögen ganz verkommen, in Verwirrung gerathen ist.“ Vincke plädierte für die „gänzliche Vernichtung“ des Adels und seine Neubegründung unter radikal anderen Vorzeichen – nämlich nach dem Modell des napoleonischen Neudadels. Im folgenden führte Vincke die französischen Bestimmungen detailliert auf, insbesondere machte er sich für Dotationen im Nobilitierungsfalle stark: betrügen diese Dotationen in Frankreich z.B. 200.000 Franc zum Duc,



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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letztlich wieder auf sein englisches Ideal zurück.373 Seine Versuche, den westfälischen Adel zu einer „englischen Adelsreform“ zu bewegen, schlugen jedoch zu seiner ganzen Enttäuschung fehl. Noch während und nach der Gründung des „Vereins katholischer Edelleute“ zwischen 1858-1868 wurde in dieser Adelslandschaft das englische Adelsmodell kontrovers diskutiert – um schließlich für einen ganz anderen Weg endgültig verworfen zu werden.374

2.4.3

Landschaftstypische Suchmuster nachständischer Adligkeit? Beispiele aus Brandenburg, Ostpreußen und Westfalen

Seit 1807 wurden also im innerbehördlichen Austausch von Denkschriften und Stellungnahmen, mit starker Referenz an das englische Entwicklungsvorbild, die allgemein verfassungspolitischen, die wirtschaftlichen, aber auch die institutionellen Entwicklungspfade für Preußen diskutiert. Diese drei Pfade überschnitten sich immer wieder in der Frage einer neuen ständischen Ordnung, und vor allem der Rolle des Adels darin. Welche Resonanz fanden diese Bemühungen aber in den verschiedenen Adelslandschaften und bei den (letztlich betroffenen) adligen Individuen? Lassen sich landschaftsspezifisch unterschiedliche Schwerpunkte in den Antworten feststellen, die jene auf die Herausforderungen formulierten, um ein neues Verhältnis zwischen Adel und Staat zu entwickeln, und zugleich eventuell durch „Adelung“ weiterer Gesellschaftskreise die politische Partizipation auszudehnen?

30.000 zum Comte, 15.000 zum Baron, 3000 zum Chevalier de l’Empire, so sollten sich diese im bescheideneren preußischen Maßstab zwischen 1.200-1.500 Reichstaler bewegen. Die einzelnen Adelsstufen sollten in Stiftungen gebundene Einkünfte nachweisen müssen, die sich für Ritter zwischen 1500-1800, Freiherren zwischen 5.000-6.000, und Grafen zwischen 10.000-12.000 Reichstalern bewegten. Nachgeborene sollten (ganz nach Mösers Vorschlägen) in den Bürgerstand zurücktreten, der Stand der Mutter für die Adelsvererbung unerheblich sein. Zur Qualifikation zum „neuen Adel“ sollte der „alte“ (d.h. bestehende) Adel eine Ahnenprobe auf 8 Ahnen in der männlichen Linie ablegen müssen (also bis zum Ururgroßvater); allein wenn diese Stammreihe nur bis zum Urgroßvater reiche, sollte eine Ahnenprobe von 16 Ahnen verlangt werden können. Damit wäre insbesondere der jüngere Briefadel radikal aus diesem „neuen Adel“ ausgeschlossen worden! Die Erstgeborenen Dotations-Besitzer wären von allen Gewerben (außer denen auf den eigenen Gütern erfolgenden Fabrikation) und besoldeten Ämtern (außer Assessor- und Ratsstellen) auszuschließen. Ehrenrechte und gesonderter Gerichtsstand wären ohne alle Exemtionen aufzuheben. Der Bundestag sollte für den deutschen Raum die Einrichtung einer allgemein gleichen Adelsordnung vermitteln, wie dies im französischen, englischen und niederländischen Adel der Fall sei. 373 Conrad, Vincke, S. 243. 374 Conrad, Vincke, S. 255 u. Anmk. 87. Vgl. zu diesem „anderen Weg“ des westfälischen Adels Reif, Adelserneuerung, S. 214; und zur späteren „Pruzzifizierung“ des westfälisch-katholischen Adels über den 1869 gegründeten „Verein katholischer Edelleute in Deutschland“ bis zur Annäherung an die vom ostelbischen Kleinadel dominierte „Deutsche Adelsgenossenschaft“: Reif, Westfälischer Adel, S. 418431, und Malinowski, Vom König zum Führer, S. 385-394.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

Die hier vorgestellten Beispiele adliger Meinungsbildung und Initiativen reagierten vorwiegend auf die behördlichen Bemühungen; sie wurden teils unaufgefordert entwickelt, teils von der Administration im politischen Entscheidungsprozess direkt angefordert. Aufgrund der verfassungspolitischen Herausforderungen der Jahre zwischen 1810 und den 1820er Jahren, also der Zeit der intensivsten Verfassungsauseinandersetzungen bis zur Einführung der Provinzialständeordnung und vor der Zäsur der französischen Revolution von 1830, beschäftigten sich auch diese „privaten“ Stellungnahmen vorwiegend mit dem Verhältnis zwischen Adel und Staat. Die Auseinandersetzung mit den neuen funktionsständischen Herausforderungen und das dazugehörige „institution building“ waren vordringlich. Die Abwehr der moralischen Adelskritik wie die Frage nach dem Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Gruppen, vor allem dem Bürgertum, traten darin relativ zurück. Auch wenn eine eigentliche Repräsentativität dieser adelspolitischen Vorstellungen nicht in jedem Fall behauptet werden kann (die auffallend breite und intensive ständepolitische Bewegung vor allem des katholischen (Stifts-)Adels in Westfalen und der in der Forschung schon intensiv untersuchte adlige Kommunikationraum Ostpreußens relativieren diese Einschränkung), soll der vergleichende Blick auf die Entstehungskontexte dieser notwendig arbiträren Auswahl aus dem Adel Brandenburgs, Ostpreußens und Westfalens dabei helfen, mögliche adelslandschaftlich charakteristische Erwartungshaltungen und Entwicklungsmöglichkeiten hinsichtlich der Formierung einer neuen „Adligkeit“ zu zeichnen.375 Durch diese „Rückbindung“ an einen breiteren Entstehungsraum soll die Problematik einer neuen „Adligkeit“ von einer rein ideengeschichtlichen Metaebene gelöst und auf ihre weiteren Implikationen befragt werden. Denn nicht nur die oben geschilderten idealistischen Reformansätze der zentralen Administration, sondern auch die Reaktionen auf diese Politik seitens der immer noch herausragenden gesellschaftlichen Spitzen (also des Adels) halfen mit, die Grundlagen für Gesellschaft und Staat der Nach-Reform-Ära zu begründen.376

375 Zu Westfalen ist die ständepolititsche Bewegung schon ausführlich dokumentiert worden: Weitz, Der Niederrheinische und Westfälische, S. 62f. Diesen von Weitz betrachteten Zeithorizont erweiterte Carl Heiner Beusch in seiner Biographie über den führenden westfälischen Ständepolitiker und wichtigsten Kollaborateur Steins: Ders., Adlige Standespolitik im Vormärz: Johann Wilhelm Graf von Mirbach-Harff (1784-1849), Münster/Hamburg/London 2001. Heinz Reifs große Studie des westfälischen Adels gibt dieser adelsständischen Verfassungsbewegung eine tiefe und breite mentalitätsgeschichtliche Einbettung. Die Studien Wolfgang Neugebauers zum ostpreußischen Adel und dessen aus eigener sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Wurzel erwachsenden kommunikations- und partizipationserweiternden ständischen Potentiale bieten ebenfalls eine breite, und quellenmäßig abgesicherte Basis zur Einschätzung der aus diesem Raum kommenden adelsreformerischen Ansätze, vgl. insbesondere Ders., Wandel. Zu Brandenburg bietet nun die schon ausführlich zitierte, weit über die Persönlichkeit Marwitz’ hinausweisende biographische Studie Ewald Fries einen vergleichbaren Rahmen zur Einschätzung der dortigen Ständebewegungen. 376 Vgl. diese Einschätzung von Marion Gray am Beispiel des Verhältnisses zwischen Reformbürokratie und ostpreußischen Ständen 1808-1810: Ders., Der ostpreußische Landtag des Jahres 1808



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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Es fällt immerhin auf, dass zumindest für diese Periode adels- und ständepolitische Aktivitäten im Austausch mit der politischen Zentrale vor allem aus diesen drei Adelslandschaften hervorgingen, während der Adel der übrigen Provinzen defensiver sich vor allem auf die Verteidigung seiner provinzialrechtlichen bzw. wirtschaftlichen Interessen konzentrierte.377 Darin war z.B. der schlesische Adel sehr rührig, der insgesamt im Kreise der Reformer den Ruf „genoss“, besonders standesstolz und reaktionär zu sein. Doch blieben dessen Aktivitäten weit stärker auf den provinzialen Rahmen beschränkt.378 In bezeichnender Weise traten fast ausschließlich aus den genannten drei Provinzen stände- und adelsreformerisch sich profilierende Akteure wie F. A. L. v. d. Marwitz, Gustav und Adolf v. Rochow, Achim v. Arnim, Friedrich de la Motte Fouqué, Graf v. Dönhoff-Hohendorff, Johann Wilhelm v. Mirbach-Harff und Werner v. Haxthausen hervor, oder konnten einschlägige Fürsprecher wie den Freiherrn v. Stein für sich gewinnen. Insofern darf die Überlieferungsgeschichte dieser adelslandschaftlichen Beispiele als Widerhall der damaligen adelspolitischen Aktivitätsmuster und Intensitätsgrade gelesen werden. Auch wenn die hier aufgeführten Vorgänge und Namen zum größten Teil aus der Literatur bekannt sind, soll die hier vorgenommene vergleichende Gegenüberstellung helfen, das in der Forschung immer noch dominierende Motiv einer rein rückwärtsgewandten, defensiven Interessenverteidigung des Adels aufzuweichen und zu ergänzen. Die in diesen selektiven Stimmen zum Ausdruck kommenden Bewegungsmöglichkeiten und Veränderungs-

und das Reformministerium Stein. Eine Fallstudie politischer Modernisation, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschland, Bd. 26, 1977, S. 129-145, hier bes. S. 131. 377 Dies galt vorzüglich für Pommern, auch wenn die ritterschaftlichen Klagen über die wirtschaftlichen in allen Provinzen ganz ähnlich lauteten. Doch verbanden sich z.B. in Pommern weit weniger (konkrete) verfassungspolitische Forderungen mit diesen Klagen, vgl. z.B. die gleichlautenden Eingaben der Ritterschaften der pommerschen Stände des Greiffenbergischen und Flemmingschen Kreises, der Kreise Belgard und Naugard, die um eine Kommission unter dem Staatskanzler baten, um die wahren wirtschaftlichen Verhältnisse ermitteln zu lassen. Die Forderungen dieser Kreise waren untereinander abgestimmt, wie die großteils gleichartigen Formulierungen verraten, 14.-16. Juli 1814, in: GSTAPK Rep. 89 1. HA Nr. 13919 (Geheimes Zivilkabinett, Die Immediatkommission zu den ständischen Angelegenheiten, Bd. 1, 1810-1822), Bl. 14-24. 378 Der schlesische Adel versuchte zusammen mit den sympathisierenden Provinzialbehörden die Bekanntgabe, bzw. die Durchführung des Oktoberediktes und der folgenden agrarreformerischen Maßnahmen systematisch zu verschleppen. Daneben organisierte sich der schlesische Adel seit 1808 regional in sogenannten „Kreiskränzchen“ besonders früh, um seine Abwehrmaßnahmen zu koordinieren. Über die der Reformgesetzgebung „auf allen Gebieten feindliche Haltung des schlesischen Adels“ und weitere Beispiele aus der älteren Literatur siehe Ziekursch, Hundert Jahre, S. 291, bes. Anmk. 2. Vgl. zu den schlesischen ständischen Initiativen nach 1815 z.B. GSTAPK Rep. 77 Tit. 489, Nr. 1 (Die bisherige ständische Verfassung in den Provinzen des preußischen Staates und die Verhältnisse und Theilnahme der Stände in Absicht der öffentlichen Administration, ingl. wegen Anordnung einer ständischen Repräsentation, Vol. III 1815-1841), Bl. 73ff (rege Aktivitäten der oberschlesischen Stände zur Wiederherstellung einer ständischen Vertretung), Bl. 91 (Verweis auf zahlreiche ständische Versammlungen, die man aber auf den Protest des Staatskanzlers hin einzustellen bereit sei).

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

potentiale hinsichtlich einer zu entwickelnden nachständischen „Adligkeit“ sollen darauf befragt werden, mit welchen Präferenzen verschiedene Adelslandschaften den Adel erneut in einer staatlichen Ordnung zu positionieren, und zugleich adlige Standesmerkmale für eine Neulegitimation adliger Vorrechte auf potentiell „adelsfähige“ Gruppen auszuzudehnen suchten.

Brandenburg Die Krise des preußischen Staates nach 1806 hatte zu einer Belebung und Stärkung ständischer Organe geführt. Zur Begleichung der Kriegsschulden beschloss 1808 König Friedrich Wilhelm III. zahlreiche königliche Domänen zu verpfänden, wozu er die Zustimmung der Stände zur Änderung des königlichen Hausgesetzes einholen wollte, obwohl er rechtlich dazu nicht verpflichtet war. Die kurmärkischen Stände hatten sich in dieser Angelegenheit auch nicht für zuständig befunden, erklärten sich aber bereit, den königlichen Domänenbesitz gegen Pfandbriefe (wiederverkäuflich) zu erwerben, wodurch sie zu Garanten der königlichen Schuld gegenüber dem französischen Sieger wurden. Dieses Arrangement stärkte die landständischen Repräsentationsorgane, die zugleich hinsichtlich ihrer Kompetenz und Zusammensetzung eine Erweiterung erfuhren. Die königliche Aufforderung, die Deputierten sollten ein „freies“ Mandat wahrnehmen, und die leichte Ausdehnung der geographischen wie sozialen Basis der landständischen Versammlungen eröffneten eine latente Entwicklung zu Organen, die ihren altständischen Charakter zugunsten modernerer Repräsentationsfunktionen abstreiften. In jeder Provinz bildeten sich dazu spezifische Mischkonstruktionen.379 In Brandenburg traten erstmals Vertreter der Kur- und Neumark zusammen, die wiederum um einige Sonderdeputierte ergänzt wurden.380 Diese Entwicklung, sowie die im Dezember 1808 angekündigten, aber noch undefinierten „Provinzialversammlungen“, aus denen „landständische Repräsentanten“ in die jeweilige Provinzialregierung entnommen werden sollten, wurden zum Ausgangspunkt einer Protestbewegung der altständischen Deputierten, die ihre überkommenen Befugnisse bedroht sahen. Selbst der ursprüngliche Initiator dieser neuständischen Versuche, Freiherr vom Stein, musste die daraus hervorgehenden Sessionen dieses neuen kurmärkischen (und des pommerschen) „Landtags“ vom 1809/10 als Fehlschlag registrieren: „Unverstand, Verdrehung und übler Willen“ habe

379 In der Kurmark wurden die drei Magdeburger Kreise, die Stadt Burg und neumärkische Delegierte neu hinzugezogen, im Falle Ostpreußens auch Vertreter der Domänen und Kölmer, vgl. Otto Schönbeck, Der kurmärkische Landtag vom Frühjahr 1809, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte (FBPG), Bd. 20, 1907, S. 1-103, hier S. 14, 23; zu Ostpreußen Marion Gray, Der ostpreußische Landtag des Jahres 1808 und das Reformministerium Stein. Eine Fallstudie politischer Modernisation, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschland, Bd. 26, 1977, S. 129-145. 380 Vgl. zum ständischen Komitee der Kurmark und den kurmärkischen Landtag von 1809: Vetter, Kurmärkischer Adel, S. 36-43.



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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dort vorgeherrscht – die so modifizierten ständischen Institutionen taugten offenbar nicht als Repräsentationsorgane.381 Hardenberg wandte sich deshalb schnell von der ursprünglichen Idee ab, Ständerepräsentanten direkt an der Verwaltung zu beteiligen, und suchte nach Alternativen für diese erweiterten (alt-)ständischen Vertretungen. Am 27. Oktober 1810 berief er mit dem „Edikt über die Finanzen des Staates“ eine sogenannte „Generalkommission“ zur Regulierung der „Provinzial- und KommunalKriegsschulden“ ein; gleichzeitig kündigte er an, eine „zweckmäßig eingerichtete Repräsentation sowohl in den Provinzen als für das Ganze zu geben“. Das Vorbild für diese neue Repräsentationsform war die Notabeln-Versammlung in Frankreich.382 Und wie dort sollten die Mitglieder, „tüchtige Männer aus den verschiedenen Ständen und Behörden“ vom König bestimmt, und nicht etwa gewählt werden. Die Mitglieder dieser „Landesdeputiertenversammlung“ wurden zum 20. Januar 1811 nach Berlin berufen. Dieser Schritt löste endgültig in allen Landesteilen einen adlig geführten Protest aus, der jeweils provinzial organisiert war.383 Die Bewegung war ständeübergreifend; doch verbanden die östlichen Stadtbürger mit ihren Beschwerden keine politischen Forderungen  – der Adel trat bei dieser Gelegenheit noch einmal unbestritten als der „Sprecher“ der Gesellschaft auf!384 Friedrich August Ludwig v. d. Marwitz Im Widerstand gegen diese „Notabel-Versammlung“ profilierte sich bekanntlich vor allem eine Gruppe des märkischen Adels unter Führung des aus einer hofnahen Familie stammenden Offiziers und Gutsbesitzers im Lebusischen Kreis, Friedrich August Ludwig von der Marwitz, sowie des Grafen Karl Finck v. Finckenstein, eines ausgewiesenen Ständepolitikers seit der friderizianischen Zeit.385 Gegenüber der

381 Schönbeck, Landtag, S. 102f. 382  Erich Jordan, Friedrich Wilhelm IV. und der preußische Adel bei der Umwandlung der ersten Kammer in das Herrenhaus 1850 bis 1854, Berlin 1909, S. 21f. 383 Wilhelm Steffens, Hardenberg und die ständische Opposition 1810/11, Berlin 1907, S. 18f. 384 Koselleck, Landrecht, S. 189, 320. 385 Friedrich August Ludwig v. d. Marwitz (1777-1837) wurde in Berlin geboren und trat mit 14 Jahren in das Eliteregiment Gens’darmes ein. 1802 nahm er den Abschied, um mit seiner jungen Frau auf seinem Erbgut Friedersdorf zu leben. Nach deren frühem Tod war Marwitz als Offizier und Freikorpsführer in den Feldzügen 1806-1808 beteiligt. Nach seinem erneuten Abschied wandte er sich verstärkt der Ständepolitik zu, die er aber zugunsten weiterer militärischer Verwendung 1813-15 erneut unterbrach, um in den zwanziger Jahren als Landtagsmarschall der brandenburgischen Provinziallandtage erneut nach politischem Einfluss zu suchen. 1817 zum General befördert lehnte er den zivilen Staatsdienst wiederholt ab, wurde aber in den im selben Jahr gegründeten Staatsrat berufen, vgl. ADB, Bd. 20, Leipzig 1884, S. 530-531. Karl Graf Finck v. Finckenstein (1745-1818) war Gutsherr auf Madlitz, Wilmersdorf und Petersdorf. In der Zeit Friedrichs II. hatte er das Amt des königlichen Präsidenten der Neumärkischen Regierung bekleidet. Er hatte in der Affäre um den Müller-Arnoldschen Prozess, in den der König 1779 willkürlich eingegriffen hatte, die (unschuldigen) Räte verteidigt, und darüber sein Amt verloren. Nach seiner

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

sonstigen breiten Beschwerdefront der (adligen) Gutsbesitzer in allen Provinzen, die sich vor allem an den gutswirtschaftlichen Folgen entzündete und diese zum Zentrum ihrer Petitionen nahm, zeichnete sich der Kurmärker Protest durch eine gewisse Originalität aus, da hier zugleich und vorzüglich mit verfassungspolitischen Argumenten gekämpft wurde.386 Aufgrund des Engagements von Marwitz und wesentlich gestützt auf die von ihm aufgebauten verfassungshistorischen Argumentationsfiguren forderten die Kurmärker einen Landtag, und organisierten nach der Zurückweisung durch Hardenberg eine eigene Versammlung kreisständischer Deputierter als „Gegenlandtag“ am 18. Januar 1811 in Berlin. Hardenberg bestritt natürlich die Legitimität dieser Veranstaltung, worauf Marwitz im Juni 1811 mit einer von ihm initiierten Denkschrift der Ritterschaften der Kreise Lebus und Teltow-Beeskow der Regierung und ihrer Reformpolitik Rechtsbruch und die Auflösung des alten Staates vorwarf. Nur durch Gewalt, so seine Ankündigung, ließen sich die Stände beugen.387 Diese Vorgänge sind im Einzelnen in der Literatur schon unzählige Male geschildert worden, und sollen deshalb hier nur skizziert werden, um die unter adelsreformerischen Gesichtspunkten bemerkenswerte Persönlichkeit: Friedrich August Ludwig v. d. Marwitz (1777-1837), näher einzuführen.388 Denn im Zuge seiner außergewöhnlichen ständepolitischen Initiativen beschäftigte sich Marwitz fast zwangsläufig auch mit adelsreformerischen Überlegungen. Und im Vergleich dieser beiden von Marwitz reflektierten Problemfelder zeigen sich einige aufschlussreiche Diskrepanzen zwischen seinen ständepolitischen Hoffnungen, der adelspolitischen Ausgangslage und dem Entwicklungspotential dieser kurmärkisch-brandenburgischen Adelslandschaft. Entgegen einem in der Literatur immer noch gerne kolportierten Bild handelte es sich bei F. A. L. v. d. Marwitz alles andere als um einen „altständisch“-reaktionär oder

Rehabilitation 1787 nahm er kein Amt mehr an. Sein Gut Madlitz bildete er zu einem künstlerischen Zentrum der Musik und Poesie aus; so patronisierte die Familie Finckenstein den romantischen Dichter Ludwig Tieck; vgl. NDB, Bd. 5, Berlin 1961, S. 151. 386 Ursula Wiese, Zur Opposition des ostelbischen Grundadels gegen die agraren Reformmaßnahmen 1807-11, Berlin 1935, S. 45ff. Gerade in ihrer Reaktion auf das Oktoberedikt zeigten sich die kurmärkischen Stände im Vergleich zu anderen Provinzen sogar auffällig flexibel und bereit, wesentliche Reformschritte mitzugehen, da sie die wirtschaftlichen Vorteile klar erkannten. Zum Teil machten sie sogar weitergehende wirtschaftsliberalisierende Vorschläge. 387 Diese „Letzte Vorstellung der Stände von Lebus und Beeskow-Storkow an den König“ ist mitsamt der Hardenbergschen Randbemerkungen abgedruckt in: Friedrich Meusel (Hrsg.), Friedrich August von der Marwitz. Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege, Berlin 1913, S. 1-23. Vgl. dazu auch Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz 1975, S. 298f. 388 Die Marwitz-Biographie von Ewald Frie schildert die Vorgänge der ständischen Protestbewegung in Brandenburg am umfassendsten und genauesten im Detail; vor allem aber überwindet sie endlich die in der sonstigen Literatur bis heute gepflegten Klischees über die angeblich einseitig „rückwärts-gewandte“, „alt-ständische“ Zielsetzung der Marwitzschen Motive, S. 240-284.



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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einseitig „traditionalistisch“ orientierten Offizier, Gutsherrn und Adelspolitiker.389 Der gerne als das Urbild eines „knorrigen Junkers“ geschilderte Marwitz war vielmehr im höfischen Umfeld der Residenzstadt Berlin großgeworden, und entschied sich erst allmählich im Zuge der sich nach 1806 verändernden politischen und sozial verändernden Großwetterlage, teils aufgrund tragischer persönlicher Schicksalsschläge für das Leben eines Landadeligen auf seinem Gut Friedersdorf im Kreis Lebus nahe Frankfurt/O.390 Innovativ zeigte sich Marwitz nicht nur auf gutswirtschaftlichem, sondern auch militärischem Terrain, wo er jeweils bereitwillig neue Erkenntnisse und Methoden aufnahm. Marwitz hatte zwar jenseits des Hofes kein verfeinertes Bildungsprogramm durchlaufen, doch als talentierter Autodidakt hatte sich Marwitz entgegen seiner später gerne selbststilisierten „Bildungsfeindlichkeit“ eine beachtliche Bildung zugelegt: seine Herangehensweise an die vielfältigen Herausforderungen seiner Karrieren, aber nicht zuletzt seine politischen und gesellschaftlichen Reflektionen verraten geradezu intellektuelle Qualitäten  –  vor allem in der umfassenden schriftlichen Rechenschaftslegung seiner zahlreichen Denkschriften, den regelmäßigen Tagebuchaufzeichnungen und seiner ausführlichen Lebensbeschreibung.391 Der wesentlich von Marwitz initiierte Kampf der kurmärkischen Stände gegen die Politik Hardenbergs ab 1810 hat immer wieder dazu verleitet, seine ständepolitischen Positionen als rückwärtsgewandt und ständeegoistisch mißzuverstehen – tatsächlich wiesen diese im Gegenteil große Kontaktflächen zu den Steinschen Motiven auf. Wie dieser erkannte Marwitz die Notwendigkeit einer neuen Verbindung von Untertanen und Staat, sowie einer Erziehung zur „Staats-Bürgerlichkeit“ im Sinne teilhabender Verantwortlicher am öffentlich-politischen Geschehen, die bereit waren, den eigenen Vorteil zurücksetzen.392 Und ähnlich wie Stein und Vincke war es Marwitz darum zu tun, dem französischen Verwaltungsmodell ein vom englischen Beispiel inspiriertes Modell einer Staatsbildung „von unten“ entegegenzustellen. Für seine politischen Überzeugungen hatte sich Marwitz wiederholt bereit gezeigt, persönliche und vor allem finanzielle Interessen hintanzustellen – von einer starr auf eigene Privilegien und Vorteile schauenden, allein abwehrenden „egoistischen“ „Junker“-Politik kann für seine Person nicht gesprochen werden. Im Gegenteil war es Marwitz, der regelmäßig seine „Mitstände“ dafür schalt, dass sie sich nicht flexibel genug zeigten, die ständischen Verhältnisse unter den dramatisch gewandelten Verhältnissen im Bündnis mit der Krone und der zentralen Administration fortzuentwickeln, sondern einseitig

389 Die Instrumentalisierung der Persönlichkeit Marwitz’ durch die populäre wie wissenschaftliche Publizistik schildert Frie besonders S. 15-27 am Beispiel der Veröffentlichungsgeschichte seiner Schriften. 390 Als „Prototyp des märkischen Junkertums“ bezeichnet ihn u.a. fälschlich schon Neumann, Stufen, S. 49. 391 Marwitz selbst erworbene Bildung lag weit über dem Durchschnitt des Landadels, er sprach neben Deutsch auch Französisch, Latein und Griechisch, vgl. FRIE, Marwitz, S. 296. 392 Meusel, Marwitz, Bd. 2, 2, S. 57; Bd. 2, 1, S. 319; Bd. 1, S. 533.

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auf überkommene Rechte pochten, „monarchische Anmaßungen“ jeder Art zurückwiesen, demgegenüber aber bereit wären, sich ihre Rechtspositionen von der Regierung regelrecht „abkaufen“ zu lassen. Diese Differenz innerhalb der Adelsopposition gegen die Regierungsmaßnahmen Hardenbergs zeigte sich ironischerweise gerade in Vergleich zu seinem zeitweiligen ständischen Mitstreiter Graf Finckenstein, den er noch 1806 ausdrücklich als „größten Egoisten“ bezeichnet hatte.393 Die Aufwertung der Stände in Folge der Kriegsschuldenverwaltung wollte Marwitz in Abstimmung mit dem Monarchen und seiner Verwaltung dazu nutzen, diese zu einem zweiten aktiven Träger gesamtstaatlicher Verantwortung auszubilden. Sie sollten sich nicht mehr antagonistisch zu den staatlichen Interessen und Institutionen verstehen, mit denen es galt, in einem „doppelpoligen System“ Kompromisse auszuhandeln – so wie Finckenstein das ständische Aufgabenfeld immer noch auffasste! Marwitz sah die Stände als Mitverantwortliche für den Gesamtstaat. Dieser Vorschlag einer „Partnerschaft“ zwischen Ständen und Monarchen bedeutete nichts weniger als einen Bruch mit dem historischen (Stände-)Konservatismus, der in der Verteidigung einer autonomen Sphäre von mit einander verschränkten Haushaltsfunktionen, wirtschaftlicher Tätigkeit und sozialem Status die eigenbestimmte societas civilis von den Zumutungen des „Staates“ (repräsentiert durch den Fürsten) freizuhalten suchte.394 Diese recht „innovative“ Denkhaltung folgte einer charakteristischen „Extrapolation des Bestehenden“ (Frie), in der sich seine Beobachtungen und Erfahrungen der französischen Staats- und Militärmaschinerie mit dem Willen verband, ein von ihm als spezifisch preußisch gedachtes Erbe nicht einfach aufzugeben.395 Nach Marwitz Auffassungen sollten die Stände zukünftighin nicht einfach auf die politischen Initiativen des Monarchen und seiner Umgebung reagieren, sondern selbst politisch aktiv werden, auch in außenpolitischen Fragen, die doch bisher das alleinige Reservat des Monarchen darstellten.396 Bei einer solchen Gelegenheit trat

393 Frie, Marwitz, S. 246. 394 Zusammenfassend dazu Thomas Stamm-Kuhlmann, Restoration Prussia 1786-1848, in: Philip G. Dwyer (Ed.), Modern Prussian History 1830-1947, Harlow/London/New York et. al. 2001, S. 43-65, hier S. 47, unter offensichtlichem Bezug auf die Deutung des Konservatismus durch Kondylis, Konservativismus. 395 Diese spezifische Innovationsfähigkeit ist u.a. auf Marwitz ungewöhnlichen Lebensverlauf zwischen höfischem Umfeld der Residenz, seinen praktischen Erfahrungen als Offizier und Gutsherr zurückzuführen: über ein solches Erfahrungsspektrum verfügten wenige; dazu hatte ihm seine Generationenlagerung prägender politischer Eindrücke von nachrevolutionärem, „überständigem“ ancien régime, dramatischer Kriegsniederlage und Reformepoche mit einer Vielfalt von Erfahrungen ausgestattet, über die jüngere Jahrgänge nicht mehr verfügen konnten, ältere – wie z.B. Finckenstein – aber intellektuell nicht mehr folgen konnten, vgl. Frie, Marwitz, S. 255, S. 180. 396 Diesen Zug seines ständischen Denkens zeigte Marwitz erstmals im Sommer 1806, als er eine „Vorstellung der Kurmärkischen Stände an den König“ iniitierte, um den Monarchen zu einer schärferen anti-französischen Politik zu bewegen. Letztlich scheiterte dieser Versuch am ängstlichen Vorbehalt seiner Mitstände, bei welchen, nach Marwitz Worten, „[...] gar kein Begriff davon anzutreffen



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ihm 1806 ausgerechnet sein später Verbündeter Finckenstein entgegen, der kurz vor der Katastrophe noch einmal feststellte, dass die Außenpolitik keine Angelegenheit der Stände sei, diese überhaupt dem Staat bloß entgegenträten, selbst aber weder Kern noch initiatives Element des Staates seien.397 Marwitz wollte angesichts der Krise des brandenburgisch-preußischen Ständewesens die Erneuerung aus einer radikalen Revision der historischen Überlieferungsbestände leisten. Dabei diente ihm nicht die unmittelbare Vergangenheit als Richtschnur: denn die zeitgenössischen ständischen Verhältnisse schienen ihm durch den Absolutismus des 18. Jahrhunderts korrumpiert und verkümmert. Seither bestand seiner Ansicht nach die Politik der Stände nur noch im reagierenden Verhalten auf die monarchischen Vorgaben. Mit Blick auf ältere historische Epochen hoffte er Orientierung zu gewinnen: die Stände müssten aus der vorabsolutistischen Tradition erneuert werden, sollten sie zukunftsfähig werden! Die Parallele zu Steins politisch-historischem Ansatz ist nicht zu übersehen!398 Dieser Ansatz entsprach zugleich einem verbreiteten romantischen Denkmuster der Zeit, insofern Marwitz monarchischen Staat und die Herausforderungen erweiterter gesellschaftlicher Partizipation nicht als Gegensatz sehen wollte: „Eine Monarchie kann sehr wohl eine Republik sein oder genauer genommen sie muß es sein.“399 Zugleich verfolgte er einen stark funktionalistisch-materialistischen Ansatz, der in vielen Zügen eine frappierende Nähe ausgerechnet zu den Positionen aufweist, die der alte Adelskritiker Friedrich Buchholz nach 1815 entwickelte. Buchholz entwarf ein dreistufiges Ständemodell, um anstelle der alten „Nähr-, Wehr- und Lehrstände“

gewesen, daß so eine Maßregel notwendig und erlaubt sein könne“, vgl. Meusel, Marwitz, Bd. 2.1., S. 134. 397 Frie, Marwitz, S. 182. 398 Dies entsprach also ganz dem oben geschilderten Steinschen Ansatz: „Soll eine Verfassung gebildet werden, so muß sie geschichtlich sein. Wir müssen sie nicht erfinden, wir müssen sie erneuern.“ In seinem Brief an Schlosser vom 1. Mai 1817 überließ Stein allerdings den politischen Primat in der Ausgestaltung der Verfassung dem Monarchen – von einer Gleichgewichtigkeit zwischen Monarchen und Ständen wie es bei Marwitz anklingt, war bei Stein spätestens nach 1815 nicht mehr die Rede, vgl. Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 528, S. 616-618, hier S. 618. 399 Dieses Bild der Verschränkung von (wahrer) Monarchie mit (wahrer) Demokratie ist ein in Romantikerkreisen der Zeit häufig anzutreffender Topos. Dass Marwitz dieses Bild benutzte ist weniger darauf zurückzuführen, dass er in der Ausbildung und Formulierung seiner Gedanken von dem Romantiker Adam Müller (der diesen Gedanken in seinen „Elementen der Staatskunst“ verfasste) abhängig gewesen wäre, als dass diese Paraphrase seinen selbständig entwickelten Ansichten gut entsprach. Dieses Marwitz-Zitat kolportiert Adalbert Wahl, Beiträge zur deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, 3. Folge Bd. 104, 1909, S. 537-594, hier S. 554. Siehe dazu auch Kluckhohn, Persönlichkeit, bes. S. 99, bes. Anmk. 3. Kluckhohn möchte dieses MarwitzZitat nicht wie Wahl auf Einflüsse der französischen Literatur zurückführen, sondern verweist auf wahrscheinlichere Einflüsse durch seinen Bruder Alexander, der im Umfeld der Rahel Varnhagen in engem Kontakt zu Romantikerkreisen stand, und dieses Zitat wohl selbst den Schriften von Novalis entnahm.

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(also Bauern, Adel und Geistlichkeit) einen Stand der Grundbesitzer und der Geldbesitzer als Vertreter des „Sächlichen“, sowie einen erneuerten Lehrstand der Wissenschaften zu schaffen, der zwischen diesen Vertretergruppen des Materiellen „vermitteln“ sollte.400 Buchholz sprach Marwitz ohne Zweifel aus dem Herzen, wenn er einerseits die historische Abhängigkeit des Monarchen von den Ständen betonte, und andererseits das Eindringen des römischen Rechts, der französischen Sprache und Sitten, die Durchsetzung des stehenden Heers und der Souveränität nach dem Vorbild Frankreichs für die „Zertrümmerung“ der alten brandenburgischen Landesverfassung verantwortlich machte.401 Kein Wunder, dass Marwitz nach 1815 ausgerechnet diesen Adelshasser an Gustav v. Rochow als möglichen Publizisten in eigener Sache empfahl!402 In diesem Ansatz zeigte sich allerdings ein entscheidender Unterschied zu den doch ganz ähnlichen Ausgangsüberlegungen der adelsfreundlichen Reformergruppe um Stein. Dieser, wie auch Vincke oder Altenstein wollten ja keinesfalls die vorreformerischen Ständeinstitutionen Brandenburg-Preußens einfach weiterführen – als „Landfremde“ (als die sie Marwitz zielsicher charakterisierte) wiesen ihre Vorstellungen ja unwillkürlich auf „westliche“ Vorbilder, weswegen ihr programmatischer Anspruch als versuchte „Verwestlichung“ Preußens bezeichnet worden ist.403 Um entsprechende Missverständnisse zu vermeiden gebrauchten sie in ihren ständepolitischen Überlegungen neutralere Begriffe wie „Repräsentanten aller Klassen“, oder: „zweckmäßig und angemessen gebildete Stände“.404 Entgegen seiner Hoffnung, gerade durch den Rekurs auf den „historischen“ Ständestaat Brandenburgs neue politische Lösungen erarbeiten zu können, war sich Marwitz darüber im Klaren, dass der zeitgenössische brandenburgische Adel keinesfalls die dazu notwendige sozial-kulturelle Handlungsgruppe bieten konnte. Eine veränderte Rolle der Stände im Gesamtstaat konnte aber nur auf Initiative und mit Unterstützung des Adels erfolgreich sein, davon war Marwitz überzeugt, da der Adel „der einzig verfassungsmäßig anerkannte Stand im Staate“ sei:405 dessen Des-

400 Vgl. Journal für Deutschland historisch-politischen Inhalts, hrsg. v. Friedrich Buchholz, Erster Band, Berlin 1815, S. 79-128. 401 Vgl. „Der Begriff von den Ständen in der Mark Brandenburg“, in: Journal für Deutschland, historisch-politischen Inhalts, hrsg. v. Friedrich Buchholz, Achter Band, Berlin 1817, S. 377-400; hier bes. S. 381 (Ständerecht und Landesherr) u. S. 397 (Ursachen des Verfalls). 402 Marwitz empfahl 1821 Gustav v. Rochow, Buchholz als Redakteur für eine von ihm geplante Publikationspolitik im Kampf um die Provinzialständeordnung zu gewinnen, vgl. Frie, Marwitz, S. 288. 403 Vetter, Kurmärkischer Adel, S. 38. Vgl. zum Motiv der „Verwestlichung“ oben Kap. 2.3.1. 404 Vgl. Zeeden, Hardenberg, S. 19. Marwitz lehnte (im Gegensatz zu Stein) die Staatstheorien von Montesquieu scharf ab, die er gar als „ganz eigentlich das Werk des Satans“ bezeichnete! Vgl. Meusel, Marwitz, Bd. I, S. 36. Dazu auch Zeeden, Hardenberg, S. 108ff. Anmk. 10 (S. 110). 405 Paul Nolte hielt diesbezüglich fest, dass auf den polemischen Kommentar Hardenbergs auf die Vorstellung der Stände des Kreises Lebus, ob denn nur die Rittergutsbesitzer Staatsbürger seien, diese mit Fug und Recht mit „ja“ hätten antworten können, vgl. Ders., Staatsbildung, S. 41, Anmk. 81.



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interesse würde unweigerlich zur Folge haben müssen, dass „die Gesetzgebung [...] von der revolutionären Administration verschlungen würde“.406 Im Gegensatz zu seinem an der Vergangenheit orientierten Ständeentwurf kam deshalb Marwitz nicht umhin, sich über eine Adelsreform Gedanken zu machen. Parallel zur Ausformulierung seiner ständischen Positionen gegenüber Hardenberg 1810/11 spielte er folgerichtig mit den Möglichkeiten eines erneuerten Adels. Die in einer reformierten Ständeordnung benötigten „Aktivbürger“ durften sich eben nicht mehr darin genügen, gegenüber dem allgemeinen Interesse des Gesamtstaates die regionalen und sozialen Interessen der eigenen Gruppe zu vertreten. Sie mussten lernen, nicht etwa „interesselos“ zu denken und zu handeln, wie Frie meinte, sondern im Sinne eines „Allgemeininteresses“ ihre eigenen Anliegen einzufügen und zu mäßigen.407 Das Versagen des zeitgenössischen kurmärkischen Adels für solche Aufgaben konnte sich Marwitz entsprechend seiner an den historischen Ständen entwickelten Verfallstheorie nur durch einen Niedergang, eine innere Korruption des Adels erklären. In einer Reaktion auf ein ständepolitisches Papier von Adam Müller an den Lebusischen Geheimen Finanzrat und ständischen Landtagsabgeordneten v. Prittwitz auf Quilitz, bei welcher Gelegenheit Müller den Vertragscharakter der alten Ständeordnung hervorgehoben hatte, skizzierte Marwitz seine Ansichten über die Ursachen dieses Verfalls.408 Marwitz sah die Verantwortung dafür vor allem bei den Fürsten und dem „Zeitgeist“. Durch „Lockspeisen“ hätten die Fürsten den Adel vom Land abgezogen, und ihn verführt, um Glanz und Ehre willen seine Vermögen zu verschwenden. Dennoch hätte der noch herrschende Adelsstolz in Verbund mit einem „starken Regenten“ die eingetretene Korruption revidieren können. Allein der „Zeitgeist“ der „Epoche des Philanthropismus“ hätte durch die Propagierung eines Quietismus den Adel mitsamt Bürger und Bauern zu „unschädlichen, impassiblen Geschöpfen“ degradiert. Der politische Verfall folgte dann dem moralischen.409 In seiner Schrift „Über die Ursachen des Verfalls des preußischen Staates“ versuchte er diese Motive noch genauer zu fassen.410 Durch die lange Regierungszeit Friedrichs II. habe sich das Volk an die „Despotie“

406 Marwitz in einer Reaktion auf einen Aufsatz von Adam Müller an den Geh. Finanzrat v. Prittwitz auf Quilitz, 23. Oktober 1810, vgl. Meusel, Marwitz, 2,1 S. 163-166, hier S. 162. 407 Der missverständliche, aber mit dem hier Gesagten inhaltlich übereinstimmende Begriff vom Ideal „interesseloser Stände“, vgl. Frie, Marwitz, S. 262. 408 Ursprünglich unter dem Titel veröffentlicht: „Über die Mittel, den Ständen einen Einfluss auf die Gesetzgebung des Staates zu sichern“, 23. Oktober 1810, vgl. Meusel, Marwitz, 2,1 S. 163-166. Marwitz sandte diesen Aufsatz unter demselben Datum an Prittwitz. 409 Wie bewusst Marwitz mit dieser Beschreibung seine eigene Familiengeschichte reflektierte, muss offen bleiben. Auch Marwitz unmittelbare Vorfahren hatten das Familiengut Friedersdorf, von dem sie lebten, nur noch sporadisch von der Residenz aus aufgesucht. Erst Marwitz war, wie schon erwähnt, wieder dauerhaft auf dieses Gut zurückgekehrt. 410 Bei dieser Schrift handelt es sich um die Reaktion auf die vier Reden, die Hardenberg 1811 in der „Landesdeputiertenversammlung“ gehalten hatte, und die Marwitz nach seiner Spandauer Haftzeit im Sommer 1811 (vgl. unten) verfasste, vgl. Meusel, Marwitz, Bd. 2, 2 S. 58-100, hier bes. 73-82.

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gewöhnt und schließlich ähnlich wie in Frankreich sogar mit Enthusiasmus aufgenommen. Der in den schlesischen Kriegen erworbene „Militärglanz“ habe den schon früher angelegten „Zwiespalt“ zwischen landsässigem und Beamten- und Militäradel noch vertieft, vorher sei aller Adel „landständischer Adel“ gewesen. Marwitz war sich also der extremen „Elitenfraktionierung“ in Preußen durchaus bewusst. Dieser landlose „Schein- oder Nominaladel“ habe sich letztlich durch die Übernahme des „fremden“ römischen Rechts in Preußen mit seinem „gleichen Erbrecht für alle Kinder“ bilden können, wodurch die angeblich früher herrschende Primogenitur und strikte Grundbesitzbindung gelockert und „allen Grundbesitz“ beweglich gemacht worden sei. Die „Landstandschaft“ sei seither „käuflich“ geworden, der landlose „Scheinadel“ ging entweder in die Armee oder „faulenzte“ in den Städten und am Hofe.411 Dadurch sei die „Achtung im Volke“ vor dem Adel gesunken, und die logische Folge sei die „philanthropische“ Herabwürdigung desselben in Kunst und Schauspiel gewesen. In Steins Politik sah Marwitz keine Alternative zu dieser Entwicklung: aufgrund mangelnder Beurteilungskraft (nicht bösen Willens!) habe dieser dem Zeitgeist entsprochen und diese Tendenzen in seiner Politik seit 1807 noch vorangetrieben. Aus dieser imposanten Interpretation der Adelskrise schloss Marwitz, dass der Adel wieder konsequent an das Land rückgebunden werden musste, um ihn „politisieren“ zu können, um ihn wieder „Herr im Kleinen“ werden zu lassen. „Von seiner Erdscholle aus“ müsse der Adel gezwungen werden, an der „Gesetzgebung“ und „Bildung seiner Untertanen“ teilzunehmen.412 Obwohl in den vergangenen Jahren viele Adlige aus Not wieder auf die Güter ihrer Vorfahren zurückgekehrt seien,

411 Meusel, Marwitz, Bd. 2, 2, S. 88f. Eine vergleichbar scharfe Kritik am „Nominaladel“ hatte schon 1803 der Justizminister Eberhard Friedrich Christoph Ludwig Freiherr von (der) Reck(e) geäußert. Als Gegenmittel wollte dieser schon damals dem Adel die Rolle als Stütze der Monarchie zuweisen – was einer völlig veränderten Stellung des Adels in der ständischen Monarchie gleichkam, der unter Friedrich II. vorwiegend als Reservoir für das Offizierskorps betrachtet, unter Friedrich Wilhelm I. sogar noch als chronischer Gegner des monarchischen Willens eingeschätzt wurde, vgl. Martiny, Adelsfrage, S. 77, Anmk. 94. 412 Das Motiv des apolitischen, rein ständeegoistischen, allein auf eigenen wirtschaftlichen Vorteil bedachten Landadels wurde schon zeitgenössisch unter dem kritischen Begriff des „Junkers“ verhandelt. So bezeichnete u.a. Theodor v. Schön die „Gleichgültigkeit gegen das öffentliche Leben“ als das eigentliche Charakteristikum des „Junkertums“, vgl. Eduard Mayer, Erfahrungen, S. 445. Diese nicht zuletzt im Adel selbst (schon um 1800) entwickelte und wiederholte „Junkerkritik“ wurde vom Bürgertum „übernommen“ und erweiterte sich dabei im Verlaufe des 19. Jahrhunderts noch um eine Reihe karikierender lebenskultureller Zuschreibungen, wie sie Hartwin Spenkuch unter Stützung auf Quellen des Kaiserreiches zusammenfasste: „Der Zeitgenosse Eugen Richter formulierte (1892, G. H.) eine stark politisch-kämpferisch eingefärbte Definition, derzufolge Junker ein ziemlich verschuldeter ostelbischer Kleinadliger stockkonservativer Ausrichtung mit ungerechtfertigt hohen politisch-gesellschaftlichen Ansprüchen sei, der in Rittergut wie Kreis unbedingte Herrschaft über ‚seine Leute‘ ausüben wolle, seine schlecht ausgebildeten Söhne als Offiziere, bzw. Beamte versorgt haben möchte und im Lebenswandel (Spielsucht, Pseudo-Frömmigkeit, Mäßigkeit predigender Branntweinproduzent) einer Doppelmoral huldigte. Damit bezeichnete er bereits die wirtschaftlichen, politischen und



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hätte dies bisher nichts gebessert, denn aufgrund der zurückliegenden Korruption wären sie nur noch „Landwirte“, und hätten vom „wahren Adel nichts übrig, als den Namen“. Eine Adelsreform nach englischem Muster „täte Not“:413 nur der Besitzer des Gutes dürfe adlig sein, der Besitz selbst wäre unveräußerlich. So könnten allmählich aus Besitzern wieder Grundherren werden. Deren Weigerung, aktiv an der politischen Tätigkeit teilzunehmen, zöge aber den Guts- wie Adelsverlust nach sich, beides ginge an den nächsten Erben über. Marwitz erdachte also ein gewisses „Lernprogramm“ für den brandenburgisch-preußischen Adel, durch welches dieser in seine präsumptive politische Aufgabe hineinwachsen müsste. In der praktischen Konfrontation mit den allgemeinen politischen Herausforderungen einer Staats(mit)verwaltung sollte der Adel seinen Ständeegoismus überwinden, um die Grundlage einer vertrauensvollen Kooperation zwischen Ständen und Verwaltungsbeamtenschaft zu bilden.414 Doch Hardenbergs Repräsentationsinitiative ab 1810, die die bestehenden Ständeverhältnisse einfach überspielen und ersetzen, und nicht in Verhandlung mit allen Beteiligten fortentwickeln wollte, führte Marwitz endlich an die Seite des Grafen Finckenstein, der zuvor mit seiner altständischen Position der strikten Rechtswahrung die marwitzschen Ständeideen als „traditionsfern“ abgelehnt hatte. In Vorbereitung zu dem erwähnten „Gegenlandtag“ der kurmärkischen Deputierten im Januar 1811

sozialkulturell-mentalen Aspekte, wie sie auch in der neueren Literatur in Variationen immer wieder auftauchen“; siehe Spenkuch, Herrenhaus, S. 178. 413 Marwitz betonte in seinem Aufsatz ausdrücklich, dass er im Gegensatz zu Adam Müller die englischen Adelsverhältnisse als nützliches und lobenswertes Vorbild betrachte. Marwitz war intellektuell und weltanschaulich nicht auf die Ideenvorgaben eines Adam Müller angewiesen, und trotz der vorübergehenden Zusammenarbeit war Marwitz in seiner Ideenwelt den extrem idealisierten romantischen Adels- und Adligkeitsentwürfen von Müller denkbar weit entfernt, vgl. dazu auch Ewald Frie, Marwitz, S. 261, Anmk. 91. Gerade der Vorwurf Müllers an den zeitgenössischen Adel, dieser habe zugunsten eines „Bündels sächlicher Privilegien“ das „idealistische Wesen“ von „Tradition, Sitte, Gewohnheit, Gesetz und Religion“, die ganze „mittelalterliche Mitgift“, vernachlässigt, konnte auf niemanden mehr zutreffen als Marwitz selbst mit seinen ausgeprägt funktionsorientierten „Adligkeitsentwürfen“, vgl. Hartwig Brandt, Adel und Konstitutionalismus. Stationen eines Konflikts, in: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848, München 1994, S. 6981, hier S. 72. Die spätere Entfremdung zwischen beiden, und Marwitz’ offene Verachtung für Adam Müllers Ideenwelt verdeutlicht die Unterschiede zwischen dem durch Tradition und Lebensweise gebundenen „natürlichen“ Konservativen gegenüber dem „freischwebenden“ Intellektuellen. 414 An dieser Stelle wäre überhaupt einmal die grundsätzliche Frage aufzuwerfen, ob in der historischen Literatur nicht zu oft und zu leicht die Möglichkeit ausgeschlossen wird, das seine solche oder ähnliche Entwicklung für die innere Politik Preußens letztlich vorteilhafter gewesen wäre, insofern sie eine dauernde Konfrontation zwischen ständischer „Reaktion“ und „liberaler“ Beamtenschaft ausgeschlossen, den Adel umgekehrt zu größerer politischer Flexibilität gezwungen hätte: das Paradox, dass die wirksamsten Vorstöße zur Einführung einer Verfassung in der Reformzeit von den „alt-ständisch“ orientierten Kräften ausging, die sich dann durch die Politik der Zentralverwaltung übervorteilt fühlten und das Ressentiment gegenüber einer nur „halb-legalen“ neuen Verfassungsordnung hinterließen, hätte sich so vielleicht vermeiden lassen, vgl. Koselleck, Landrecht, S. 319-320.

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und auf diesem selbst, berief sich Marwitz in geradezu revolutionärer Pose auf ein Widerstandsrecht, solange die Regierung mit dem Finanzedikt den bisher gültigen Rechtsboden verlassen habe. Marwitz forderte bei dieser Gelegenheit, dass die ständischen Vertreter unter Bezug auf den Landtagsrezess von 1653 „alles dasjenige verwerfen und als nicht geschehen betrachten, was nicht auf dem Wege des Rechtes von uns verlangt worden ist“.415 Im Gegenzug bot Marwitz der Regierung an, dass zur Rettung des Staates die Stände „alle Lasten willig zu übernehmen“ würden. Marwitz rechnete fest mit dem Scheitern der hardenbergschen Notabeln-Versammlung, da diese nicht ausreichend legitimiert, und sozial und geographisch zu heterogen zusammengesetzt sei – die von ihm initiierte, parallel stattfindende kurmärkische Deputiertenversammlung hätte dann mit konkreten Hilfsangeboten in diese Legitimationsbresche springen, und die Regierung mit finanziellen Zugeständnissen aus der Zwangslage retten sollen! Der Preis dafür sollte eine mit der Regierung einvernehmlich erzielte ständische Erneuerung sein.416 Doch dieser Plan schlug bekanntlich fehl, vor allem, weil sich Marwitz’ kurmärkische Mitstände keineswegs auf eine harte rechtsverwahrende, bei gleichzeitiger finanziell weit entgegenkommender Position festlegen lassen wollten. Vielmehr betrachteten diese die überkommenen Rechtspositionen (tatsächlich ganz „traditionell!“) vordringlich als Faustpfand, um die zu erwartenden finanziellen Opfer an die Zentrale auf dem Verhandlungsweg abmildern zu können.417 Der Ausgang dieses Konflikts ist bekannt: um seine Mitstände auf dem von ihm vorgedachten neu-ständischen Weg mitzureißen, formulierte Marwitz (mit der Redaktion des romantisch-konservativen Publizisten Adam Müller) im März 1811 ein weiteres Protestschreiben mit einer grundsätzlichen Abrechnung der hardenbergschen Regierungspolitik. Aber diese „Letzte Vorstellung der Stände des Lebusischen und Beeskow-Storkowschen Kreises“ entwickelte keine Signalwirkung – nur in seinem Heimatkreis Lebus und dem benachbarten Beeskow-Storkow fand sich eine Zahl von Mitunterzeichnern; andere kurbrandenburgische Kreise (Prignitz, Oberbarnim und Ruppin) sandten zwar ebenfalls protestierende Schreiben an die Regierung, forderten aber weiterhin nur die Einberufung eines ordentlichen Landtages. Hardenberg reagierte prompt und empört: er setzte beim König durch, dass Marwitz und Finckenstein als Erstunterzeichner dieser Eingabe verhaftet und (für einige Wochen) auf der Festung Spandau festgesetzt wurden. Diese in der Literatur wiederholt als „Adelsfronde“ überzeichneten Vorgänge bedeuteten tatsächlich das endgültige Scheitern

415 So Marwitz in seinem Aufsatz über eine adelstheoretische Schrift von Adam Müller vom Oktober 1810, den er an seinen Lebuser Mitstand und Landrat v. Prittwitz sandte, vgl. Meusel (Hrsg.): Friedrich August von der Marwitz, S. 162-165, bes. S. 165. Ewald Frie bezeichnete diese von Marwitz vorgeschlagene Strategie als ein „hinter den Absolutismus zurückgehen, um mit Seitenblick auf England über ihn hinauszukommen“, vgl. Ders., Marwitz, S. 262. 416 Vgl. die Beschreibung dieser Vorgänge bei Frie, Marwitz, S. 271-272. 417 Vetter, Kurmärkischer Adel, S. 51.



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der Marwitzschen Vorstellungen.418 Der Adel solidarisierte sich nicht mit den Verhafteten.419 Diese Erfahrungen mögen dazu beigetragen haben, dass Marwitz nach seiner Haftzeit zögerlich seine ursprünglich allein „involutiv“ gedachte Adelserneuerung zugunsten stärker „evolutiver“ Konzepte revidierte. Im Januar 1812 dachte er erneut „Über eine Reform des Adels“ nach.420 Anders als 1811 beschäftigte er sich darin vordringlich mit den Kriterien, deren Erfüllung über Eintritts in den Adel oder Adelverlust entscheiden sollten. Er bekräftigte einmal mehr die zwingende Voraussetzung von (gebundenem) Grundbesitz für den Adel, doch konzentrierte sich seine Vorstellung einer verallgemeinerbaren „Adligkeit“ wesentlich auf das Militärische und die ländliche Herrschaftsausübung. Anlass seiner Schrift war der Ausruf des Jenenser Historikers und Publizisten Heinrich Luden, der seinen radikalen gesellschaftspolitischen Entwurf mit dem Ausruf krönte: „Was habt ihr gegen eine Kriegerkaste?“421 Marwitz wollte aber keine Kriegerkaste, weil diese bald das Volk versklaven würde. Marwitz setzte sein Konzept eines Verdienst-Krieger-Adels dagegen, wodurch der Adel zwar auch, aber nicht ausschließlich Kriegerstand, vielmehr zugleich Landstand würde, der sich als Anführer des Volkes selbst erneuern könne. Der neue Adel solle sich in Primogenitur mit dem Gut vererben, wie schon 1811 gefordert; doch der Adel sei geborener Soldat, und müsse „dienen sein Lebelang“, die ältesten Söhne ausgenommen, die dem Vater sukkzedierten. Untauglichkeit ziehe Adelsverlust nach sich, ebenso „Neigung zu friedlicher Beschäftigung“. Bürgerliche und Bauern

418 Dass die Marwitzschen Positionen eben nicht den sonstigen ständepolitischen Vorstellungen des Adels entsprachen, gleich wie sich diese selbst wieder politisch auffächerten, wurde endlich durch Frie ausführlich belegt, vgl. Ders., Marwitz, S. 276-283. Siehe vor allem S. 277, Anmk. 142 mit Beispielen aus der Forschungsliteratur, die Marwitz bis in die neuere Zeit als repräsentativen Vertreter des brandenburgischen Adels stilisierten, um dadurch den Widerstand der adligen Gutsbesitzer gegen Hardenberg in seiner Bedeutung aufzuwerten. 419 Hardenberg zog aus diesen Vorgängen seinerseits den Schluss, dass auch weiterhin ständische Repräsentationen von der Regierungsarbeit möglichst fern gehalten werden sollten. Denn auch die Notabeln-Versammlung hatte sich entgegen aller Vorsichtsmaßnahmen in erheblichem Umfang als Interessenvertreterin der Stände entwickelt. Deshalb löste Hardenberg sie im September 1811 auf, um keinen Kristallisationspunkt einer fortdauernden ständischen Kritik an seiner Politik zu erhalten. Aber auch die von ihm 1812 einberufene interimistische Nationalversammlung, die wiederum zur Hälfte aus Gutsbesitzern aller Provinzen zusammengesetzt war, drängte auf eine Konstituierung ihres Verhältnisses zu Regierung und Verwaltung, forderte mithin mehr Mitspracherechte an der Regierung. Nun aber war es vornehmlich eine bürgerliche Gruppe, die dieses Anliegen vorbrachte; vgl. Zeeden, Hardenberg, S. 129. 1812 hob Hardenberg zugleich die im ostpreußischen Regierungskollegium durch sieben von den Ständen gewählten Deputierten ausgeübten Repräsentation auf. Diese hatten nach seiner Ansicht die Verwaltung zu sehr gelähmt. Die Idee Steins der Verbindung von Verwaltung und Repräsentation war endgültig gescheitert, vgl. Nolte, Staatsbildung, S. 93ff. 420 „Über eine Reform des Adels“, 2. Januar 1812 in: Meusel, Marwitz, Bd. 2, 2, S. 156-159. 421 Vgl. Heinrich Luden, „Was habt ihr gegen eine Kriegerkaste?“, in: „Handbuch der Staatsweisheit oder der Politik“ Abtl. I, S. 128, 1811.

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seien bei ausgezeichneten Verdiensten im Krieg zu adeln. Damit ginge Dotation von Grundeigentum einher. Majoratsherren ohne Kriegserfahrung müssten dies bei nächster Gelegenheit (nach Kriegsausbruch) nachholen. Nobilitierungen für Künstler, Gelehrte usw. entfielen, Adel würde ausschließlich durch kriegerische Verdienste erworben. Armer Soldatenadel wäre auf seine Ehre als einzigem Besitztum verwiesen, die älteren Söhne des Soldaten-Adels treten als geborene Soldaten in die Armee mit allen adligen Rechten und Pflichten, die jüngeren in den Bürgerstand ohne Vorrechte ein (also hier ein Element von Möser, bzw. englischem Adel). Erzielt werde so eine „Wechselwirkung“ zwischen landständischem Adel, Militäradel und Bürgerstand. Zu diesem Krieger-Landadel-Modell passten seine zeitgleich verfassten Gedanken über die „Notwendigkeit eines Mittelstandes in der Monarchie“ – denn Marwitz Vorstellungen vom Mittelstand zeigten sich einseitig autoritär entwickelt: der Adel habe den Monarchenwillen von oben nach unten zu vermitteln und durchzusetzen, ganz nach dem Muster der militärischen Hierarchie („einer gebiete und viele gehorchen“). Die Aufgabe des „Mittelstandes“ bestünde ausschließlich darin, die „Masse“ zu teilen und Herrschaft überhaupt erst zu ermöglichen, so wie einzelne Offiziere die Mannschaften gliederten.422 Allein aus dieser Aufgabe leitete Marwitz die notwendigen „Vorrechte“ dieses Mittelstandes ab, um „eine geschlossene Klasse“ zu bilden und in den Augen des Volkes eine „höhere“ Stellung einnehmen zu können  –  ein solcher Schluß der Marwitzschen Ideenentwicklung muss erstaunen wie auch enttäuschen:423 wie hätte ein solches Adelskonzept, das dem Adel allein die Rolle eines monarchischen Funktionsträgers zuwies, einen Stand mental formen können, der doch der Monarchie als gleichberechtigter Partner gegenübertreten sollte?424

422 Parallel zu den Entwürfen über Verfall und Erneuerung des Adels im Dezember 1810 verfasst und an v. Prittwitz adressiert, vgl. Meusel, Marwitz, 2, 1 S. 194-200, 13. Dezember 1810. 423 Diese, gemessen an den adelshistorischen Prämissen von Marwitz, nicht zu erwartende Wendung trat noch deutlicher in einer Initiative hervor, die Marwitz auf dem Brandenburger Landtag von 1829 unterstützte, und welche die Einführung einer Adelsmatrikel forderte – und damit eine Oberaufsicht der staatlichen Organe über (funktionsständischen) Adel, vgl. unten Teil III. Kap. 4.3. 424 Vgl. zu dieser idealen Vorstellung eines aus eigenem Recht agierenden ständischen Adels die satirische marwitzsche Gleichsetzung der Macht des Staatskanzlers Hardenberg mit dem „Despotismus“ eines osmanischen „Großveziers“. Spätestens seit Montesquieu war der Bezug auf das türkisch-orientalische Gesellschafts- und Herrschaftssystem als Gegen- und Schreckbild der „legitimen“ Rechtsordnung der ständisch gebundenen Monarchie europäischer Prägung fester Bestandteil der politischen Polemik: Marwitz über die vier Reden Hardenbergs in der Convocierten-Versammlung, in: Meusel, Marwitz, 2, 2 S. 57-133, hier S. 92. Vgl. dazu auch die scharfe Ablehnung eines staats- und monarchenorientierten Adelsreformvorschlags durch Alexander v. Dohna-Schlobitten in den 1820er Jahren, der einen solchen Adelsentwurf als „Janitscharenwesen“ empört zurückwies, siehe Teil III. Kap. 4.2. Schon im 18. Jahrhundert wurden „Demokratie“ und „Despotismus“ wenn nicht als Synonyme, so doch in vielen Zügen als einander entsprechend aufgefasst. Besonders ausgeprägt war dieses Ideologem um 1800 im sogenannten „Emkendorfer Kreis“ des schleswig-holsteinischen Adels im Einflussfeld der Brüder Stolberg, wo der Hass auf den untergehenden Absolutismus dem auf die französische Revolution durchaus gleichkam, und ersterer gerne als „türkisch-despotische Denkweise“



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Diese entscheidende Wendung in Marwitz’ Neuadelskonzept verweist schon auf ein Problem, mit dem er (unbewusst?) zu kämpfen hatte – entgegen seiner stände- und adelshistorischen Annahmen bot die historische Stellung des ostelbisch-brandenburgischen Adels eben kein „role model“ für eine scharf umrissene politische Stellung auf gesamtstaatlicher Ebene. Es konnte deshalb für diesen Zweck kein „Zurück“ zu einer ursprünglichen Adelsexistenz geben, die zugleich in die Zukunft verwies. Ganz ähnlich wie Stein wurde Marwitz zum Opfer seiner historischen Grundannahmen.425 Den kurbrandenburgischen Adel als Handlungseinheit, den Marwitz zur Umsetzung seiner neu-ständischen Ideale benötigt hätte, gab es offensichtlich nicht: „familiengeschichtlich grundierte und habituell demonstrierte höchst individuelle Selbstdefinitionen“ erschwerten konsensfähige Problemanalysen und Handlungsoptionen. Im einfachen historischen Rückgriff war aus dem brandenburgisch-preußischen Adel keine echte „classe politique“ oder „ruling class“ zu formen!426 Und dies trotz der oben festgestellten grundsätzlichen sozio-strukturellen Binnenkohärenz der ostelbischen Adelslandschaften! Das ist als Hinweis zu verstehen, dass diese (mangelnde) Handlungsfähigkeit als „ruling class“ eben nicht auf ökonomisch-strukturelle Faktoren allein zurückgeführt werden darf (wie dies die „Junker-Forschung“ vornehmlich unternahm), sondern eine genauere kulturgeschichtliche Ergänzung benötigt, um den Mentalitätshaushalt, den Habitus, also in zeitgenössischer Diktion: die „Gesinnung“ besser verstehen zu können!427 Maurice Halbwachs hatte ja diese tendenziell

verspottet wurde, vgl. Otto Brandt, Geistesleben und Politik in Schleswig-Holstein um die Wende des 18. Jahrhunderts, Berlin/Leipzig 1927, 128ff, 137, 155. Diese Vergleichung konnte auch in einem positiv gemeinten Sinne seine Bestätigung finden, wenn z.B. Voltaire, sich auf türkische Quellen berufend, das osmanische Sultanat durchaus affirmativ als „Demokratie“ charakterisierte, vgl. Hüseyin Yildiz, Ein Staatsverständnisvergleich zwischen Deutschland, Großbritannien, dem Osmanischen Reich und der Türkei, Berlin 2007, S. 127. 425 Vgl. zu den Adelsstrukturen und historischen Eliteneigenschaften oben, Kap. 2.4.1. „Marwitz ist teils seinen eigenen historischen Konstrukten aufgesessen, teils hat er seine aus höchst spezifischen Sozialisationserfahrungen erwachsene Selbstdefinition unzulässigerweise auf seinen Stand ausgedehnt, vgl. Frie, Marwitz, S. 280. 426 Noch konnte und wollte der (kurmärkisch-brandenburgische) Adel nicht „auf die anarchiegebärende Selbstbeschreibung als Teil einer historischen Geschlechtsgemeinschaft langer Dauer verzichten, die soziale Positionierung in Abgrenzung von anderen Geschlechtern, und nicht in Zusammenarbeit mit ihnen zu erreichen suchte“, vgl. Frie, Marwitz, S. 340. Diese standestypische „Anarchie“ des Adelsselbstverständnisses ließ noch 1847 Fürst Karl v. Leiningen daran verzweifeln, eine Vereinigung auch nur aller „Mediatisierten“ erreichen zu können: „Ein solcher Gedanke muß bei der Individualität der standesherrlichen Kaste als ganz hoffnungslos verabschiedet werden“, vgl. Hofmann, Herrschaft, S. 480; dazu auch Gollwitzer, Standesherren, S. 347ff, der nach Langbehn dafür den „eigenständigen Stil im Sinne der ‚Übereinstimmung von äußerer und innerer Lebensform‘“ verantwortlich macht, Ebd., S. 338. 427 So das Fazit von Frie, Marwitz, S. 264ff, 283. Entgegen dem noch immer verbreiteten Bild in der Literatur war der (kurmärkische) Adel in seinen Reaktionen auf die Reformpolitik gespalten, vgl. Vetter, Kurmärkischer Adel, S. 62-70. Neben den unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen nicht nur

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„anarchistischen“ Selbstentwürfe des Adels als einen der bürgerlich-kapitalistischtechnischen Welt entgegengesetzten Wertmaßstab charakterisiert: nicht diejenigen Kennzeichen werden als besonders wertvoll erachtet, die „den Menschen in solche Kategorien einzuordnen und mit vielen anderen Menschen zu verschmelzen erlauben, sondern diejenigen, die ihn vor seiner Umgebung auszeichnen und ihm sogar unter Seinesgleichen einen Rang verleihen, den nur er allein einnehmen kann“.428 Aus diesem Zusammenhang wird einsichtig, warum Marwitz zwar theoretischabstrakt eine erweiterte Nobilitierung befürwortete, doch den daraus resultiernden Implikationen hinsichtlich einer „Adelung“ weiterer Bevölkerungskreise nicht weiter nachging:429 die von ihm entworfene „Adligkeit“ blieb allein auf funktionale Aufgaben der adligen Existenz im Staat orientiert, wogegen er zu keinem Zeitpunkt versuchte, wie es Stein später tat, den Vorbildcharakter des Adels gegenüber nichtadligen Gruppen auszuformulieren, die idealistisch-gesellschaftlichen Elemente einer „Adligkeit“ zu operationalisieren. Aufschlussreich ist der metaphorisierende Vergleich, mit dem Marwitz in seinem Tagebuch während einer Reise nach England die preußische gegenüber der englischen Gesellschaftspolitik im Herbst 1815 charakterisierte: die Engländer würden ihre Äcker sehr intensiv bewirtschaften, und erst dann nach neuem Land trachten, wenn dazu neue Investititionsmittel zur Verfügung stünden und das Bestehende voll augeschöpft sei; dagegen würde Bei uns [...] alles extensiv betrieben; es soll alles gleich gemacht werden, alles Früchte tragen; – deshalb greifen wir der Zeit vor, verzehren begierig, durch Schulden, den Ertrag künftiger Jahre im Voraus, und unsere Speculationen, die alles das und noch mehr wieder einbringen sollen, werden fast allemal zu Wasser. Wie denn alles bei uns in Revolution ist [...], so haben wir eine Art zu demokratisieren, die mit dem englischen Aristokratismus sehr kontrastiert. Wir entziehen dem alten edlen Acker die Kräfte, um sie an den schwachen, undankbaren Emporkömmling zu verwenden. Ebenso in unserem ganzen Regierungssystem und in unseren Gesetzen. Wo man irgend einen Vorzug wittert, sei er im Rechte oder im Gelde, so muß er genommen werden.430

Bevor also an eine Ausweitung der „Adligkeit“ gedacht werden sollte, ginge es nach Marwitz Ansicht vordringlich erste einmal um die Aufgabe, den „Acker des Adels“ durch den Staat „intensiv“ zu bearbeiten, diesen nutz- und brauchbar zu machen, damit er „voll ausgeschöpft“ werden könne, bevor daran zu denken wäre, andere gesellschaftliche Gruppen für Staatszwecke „urbar“ zu machen.

einzelner Adliger, sondern ganzer Familien, die Ewald Frie in diesem Zusammenhang betont, machte schon Fritz Martiny auf die unterschiedlichen Familienverfassungen bzgl. des Lehn- und Erbrechts als Quelle inneradliger Friktionen aufmerksam: Ders., Adelsfrage, S. 15-16, 25. 428 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis, Berlin/Neuwied 1966, S. 307. 429 Graf Finckenstein war sogar schon 1799 für die Nobilitierung bürgerlicher Gutsbesitzer eingetreten, vgl. Martiny, Adelsfrage, S. 79; S. 45. 430 Vgl. „Tagebuch über die Reise nach England“, 15. Okt.-19. Dez. 1815, in: Meusel, Marwitz, Zweiter Band, Erster Teil, Berlin 1913, S. 46-103, hier S. 73.



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Aus diesem Grund bemühte sich Marwitz erst gar nicht, die „soft-power“ adeliger Überlieferungskultur für sein Ständekonzept heranzuziehen (also die „idealistische“ Seite der „Adligkeit“, die nicht zuletzt Adam Müller evozierte).431 Er konzentrierte sich allein auf die „hard-power“ ländlicher Herrschaft und Militär: „Gehorsam durchsetzen“, „in Schranken halten“ sind deshalb immer wiederkehrende Ausdrücke. Dies verwundert umso mehr, als Marwitz in seinem persönlichen Bereich von der Bedeutsamkeit dieser „soft-power“ sehr wohl wusste und sie im privaten Umfeld kalkuliert einsetzte.432 Dieses Wissen prüfte er aber anders als Stein nicht einmal ansatzweise auf eine Anwendbarkeit zur Integration neuer Mitglieder in den bestehenden Adelsstand, um so im Sinne Burkes auch im symbolischen Handlungsraum eine adlige „preeminence“ als Vorbild- und Leitfunktion zu stiften.433 In diesem Sinne wären seine Adelsreformentwürfe tatsächlich als „involutiv“, allein auf den bestehenden

431 Adam Müller machte für die zeitgenössische Adelskritik die Abkehr des Adels von „seiner ursprünglichen Verfassung“ verantwortlich, die er aber nicht in Grundbesitz und Ämterfunktionen begründet sah, sondern in seinem Verständnis als „Nießbraucher der Familienrechte“. Erst seitdem die „Familienmacht“ durch viele Adligen als „augenblickliches, bürgerliches Eigenthum“ behandelt würde, hätten sich „Rechte“ in „Vorrechte“, in „gemeine Privilegien“ verwandelt und damit die Kritik des Bürgertums am adligen (Macht-)“Monopolisten“ provoziert. Einen Ausweg aus dieser Sackgasse böten sich dem Adel nur durch Rekurs auf „Sitte“ und „Gesetz“, die allein Ideen der „Ehre und Tadellosigkeit“, der „Seltenheit“ und der „Reinheit der Abkunft“ garantieren könnten – Primogenitur sei als „gesetzliches Mittel“ geeignet wie auch „Herolds- und Wappenkollegien“, wogegen die „Sitte“ den „reinen Familienzusammenhang“ als Ausfluss der grundlegenden „Idee des Adels“ ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu stellen habe. Müller lehnte aber strikte Ahnenproben für weibliche Ehepartner ab – soweit sollte die „Reinheit der Abkunft“ denn doch nicht gehen. Er befürwortete durchaus Fideikommisse, Majorate und Unveräußerlichkeitsbestimmungen als praktische gesetzliche Maßnahmen, doch seine Betonung lag auf der Bedeutung von „Gesetzen und Ehrenauszeichnungen“ zur sozialen und symbolischen Hervorhebung des Adels in der Gesellschaft, vgl. Adam Müller, Neunte Vorlesung. Vom Staatsrechte und vom Adel, in: Die Elemente der Staatskunst. Sechsunddreißig Vorlesungen. Ungekürzter Neudruck der Originalausgabe von 1808/09, Meersburg a. Bodensee/Leipzig 1936, S. 113f. 432 So pflegte Marwitz nach wiederholten schweren Schicksalsschlägen eine elaborierte Trauer- und Gedenkkultur, gestaltete vor allem sein ererbtes Familiengut Friedersdorf mit sozialräumlichen Inszenierungen, Denkmalsetzungen, Trauerritualen und baulichen Maßnahmen in einen Erinnerungsraum für sich und sein Geschlecht. Dieses rundete er ab durch familiäre Lesungen über die eigenen Familiengeschichte sowie einer ausgedehnten Brief- und Sprachkultur innerhalb seiner Familie, vor allem mit seinen Kindern, vgl. Frie, Marwitz, S. 65f. 433 Später erwiesen sich die unter Friedrich Wilhelm IV. einflussreichen Brüder v. Gerlach ebenfalls für diese Dimension einer „Adligkeit“ vollkommen unempfänglich, da sie den „Dienstgedanken“ ganz im Zentrum ihrer Vorstellungen von Adelsaufgaben sahen. Bei Leopold konnte dies bis zum Servilismus, bei Ludwig doch zu einem eigenständigeren „Ich bin auch ein König“ führen. Grundbesitz wurde für sie allein zum obrigkeitlichen „Amt“, ansonsten zeichnete sich der Adel allein durch die Erfahrung einer über viele Generationen erzielten Lebensform aus – eine Idee, die durchaus auch ins Bürgertum ausstrahle. Dennoch, oder gerade deswegen, versäumten sie es, „die jungen Kräfte des aufstrebenden Bürgertums für die Adelsgesellschaft heranzuziehen“, vgl. Neumann, Stufen, S. 54.

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Adelskreis gerichtet zu bezeichnen, nicht jedoch bzgl. der funktionsorientierten Rolle des Adels, die außenorientierte Leistungs- und Bewährungskriterien vorsah.434 Diese einseitig funktionsorientierte Herangehensweise an Fragen erweiterter Nobilitierung ließ tendenziell die überkommenen Adligkeitsaspekte des „Erbcharismas“ zurücktreten, während sich Ideen einer „Geburtsauslese“ mit dem (materiellen) Kriterium des Grundbesitzes durchaus vereinbaren ließen – darin lag die Parallele der Marwitzschen Vorstellungen zu denen von Friedrich Buchholz begründet, der ja eine faktische „Ungleichheit des Rechts“ auf materiell-objektivierbarer Grundlage anerkannte, und allein eine „Ungleichheit des Anspruchs“ (wie sie sich gerade in der Idee eines individuell manifestierenden „Erbcharismas“ niederschlug) zurückwies. Aber ein Gentleman-Ideal nach englischem Muster ließ sich so nicht nachholend entwickeln. Denn dieses Gentleman-Ideal hatte sich seit dem 16. Jahrhundert durch die Aufnahme neu-platonischer Ideen deutlich von ritterlichen „Kriegeridealen“ abgewandt und stattdessen verstärkt Bildung und „elegante“ Lebensführung in das Zentrum adliger Standesmaßstäbe geführt.435 Adelsstolzes Traditionsbewusstsein, adeliges Familienleben, das Marwitz bei seinen Kindern als erwünschtes Ideal der ganzen Persönlichkeitsentwicklung zu fördern suchte, all diese Faktoren blieben bei ihm allein der privaten Sphäre der „echten“, eigentlichen adligen Familie vorbehalten. Das Ideal eines „Universaldilettantismus“, das eine Berufs-(Aus-)Bildung zum Spezialisten verwarf, um generalisierende Führungs- und Repräsentationsaufgaben im Sinne einer „general service function“ zu übernehmen, spielte in seinen Überlegungen zur Neukonstitution und Legitimation des Adels keine Rolle.436 Bei Marwitz wie bei Buchholz traten insofern Elemente adliger Mentalitätsbezüge tendenziell auseinander, die zu späteren Zeiten noch schärfer als „idealistische“ und „realistische“ identifiziert und gegenübergestellt werden sollten.437 Diese Trennung innerhalb des adligen Mentalitätsbestandes wurde überhaupt zum Kennzeichen der

434 Insofern weicht die vorliegende Deutung von Heinz Reifs Einschätzung der Marwitzschen Ideen als „involutive“, allein auf Binnenreform abstellende Adelsreform ab, vgl. Ders., Adelserneuerung, S. 220f. 435 „[…] aesthetic appearance, not security, style, not military effectiveness, were the prime considerations“ dieses Wandels zum adligen Gentleman-Ideal in der frühen Neuzeit Englands, das noch später deutliche Züge einer bürgerlich-selbstkontrollierten Lebensführung aufnahm: „„[…] virtues of sobriety, frugality, piety and hard work which it had traditionally associated with the worthy commoner rather than the true aristocrat“, vgl. Michael L. Bush, The English Aristocracy. A comparative study, Manchester University Press 1984, S. 71ff, hier bes. S. 72. Und ein anonymer Autor hielt im „Cornhill Magazine“ von 1862 fest, dass der Begriff „Gentleman“, ursprünglich eine Bezeichnung für Angehörige bestimmter (adliger) Familien oder Inhaber bestimmter Positionen, zunehmend in einem moralischen und weniger sozialen Sinne gebraucht würde, vgl. „True Gentility“, zit. nach Guttsman, English Ruling Class, S. 61-63. 436 Zum Ideal der „general service function“ im englischen Adel vgl. Bush, Aristocracy, S. 75. 437 Nicht nur in der Historiographie spielt diese Gegenüberstellung von „Realismus“ und „Idealismus“ adliger Selbstbestimmung eine Rolle (vgl. z.B. Neumann, Stufen, S. 54); schon Radowitz the-



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neu-ständischen Reformbestrebungen Preußens nach 1806, ganz gleich wie sehr Stein dagegen ankämpfte. In den vierziger Jahren sollte diese Auseinandersetzung um die rein materielle oder die ideelle Legitimation ständisch-ungleicher Gesellschaftsordnung und ihrer adligen Führungsgruppe verschärft ausgefochten werden. In diesem nachholenden Anlauf wurde noch einmal versucht, die in der Reformzeit vorgenommene Trennung wieder zurückzunehmen, das Grundbesitzprinzip mit den ideellen Mentalitätsbeständen einer „Adligkeit“ über den Umweg von Bildungs- und Leistungsargumenten neu zu verbinden. Aber dies ist das Thema eines anderen Kapitels.438 Diverse Brandenburgische Adlige Wie aber verhielt sich der übrige Brandenburger Adel gegenüber den marwitzschen Positionen? Im Gegensatz zu dessen innovativ-dynamisierenden Vorstellungen über eine neue Rolle der (adligen) Stände zeigte sich die Mehrheit des kurmärkischen Adels jenseits enger ständischer Belange sehr zurückhaltend. Nach dem Scheitern von Marwitz belegte dies einmal mehr die Rundreise, welche der Kommissar der Verfassungskommission des Staatsrates, Anton v. Klewitz, im Jahr 1817 in der Provinz unternahm, um Informationen über das bisherige ständische Herkommen und die verfassungspolitischen Wünsche der Landeseinwohner einzuholen.439 Wie in allen östlichen Provinzen sprach sich die Mehrheit der adligen wie bürgerlichen Befragten für die Einrichtung einer dreigliedrigen Ständerepräsentanz aus. Die Teilnahme bürgerlicher Vertreter an der Repräsentanz, sei es als Rittergutsbesitzer oder als städtischer Abgeordneter, war überhaupt nicht kontrovers, die (neue) Einrichtung einer bäuerlichen Vertretung ebenfalls nicht strittig, auch wenn die Eignung der Bauern dafür von mehreren Stimmen bezweifelt wurde.440 Gegen diesen Konsens konnte einige Jahre später in den Beratungen der märkischen Notabeln selbst der Einfluss des „altständisch“ argumentierenden Gustav v. Rochow-Reckahn keinen Protest provozieren.441

matisierte diesen Gegensatz als zentrales Problemfeld einer Neubestimmung adliger Existenz und Aufgabe in der Gesellschaft, vgl. unten Teil II. Kap. 3.4. 438 Vgl. unten den Teil II. 439 Dabei war die Altmark noch inbegriffen, die aber in der späteren Provinzialordnung der neugebildeten Provinz Sachsen zugeschlagen wurde. Vgl. dazu die gesammelten Nachrichten, Denkschriften und die Briefe von Klewitz in: GSTAPK Rep. 77 Tit. 514, Nr. B 28 (Nachrichten und Ansichten über Stände-Verfassung in der Kur- Alt- und Neumark – gehörig zur Provinz Brandenburg, auch Sachsen 1809-1818). Die Akte teilt sich in einen Teil a (Nachrichten aus der Vergangenheit), Bl. 1-232, und einen Teil b (Ansichten für die Zukunft), Bl. 233 ff. 440 Weitz, Der Niederrheinische und Westfälische Adel, S. 95; Koselleck, Landrecht, S. 288ff. 441 Gustav v. Rochow argumentierte wiederholt gegen eine Gleichstellung von bürgerlichen und adligen Rittergutsbesitzern. U. a. in seiner Schrift „Gedanken über Wiedereinführung der landständischen Verfassung“, 30. November 1821, vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 158, Anmk. 7. Weiteres dazu unten.

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Im Gegensatz zum (katholisch-)rheinisch-westfälischen Adel, der im selben Zeitraum mit Vehemenz seine alten „reichsrechtlichen“ ständischen Privilegien wieder herzustellen suchte, blieb auch die königliche Prärogative in gesamtstaatlichen Angelegenheiten durch die adligen und nichtadligen „Notabeln“ unangetastet.442 Ganz nach überbrachtem Muster wurde nur auf Kreis- und Provinzialebene ein Mitspracherecht deutlich gefordert – ein Entscheidungsrecht dagegen schon nicht mehr einstimmig, auch wenn mehrere Stimmen in der Altmark, z.B. der Landrat und Domherr v. Bismarck in Stendal, sich dafür aussprachen, dass eine beratende Versammlung „mit Recht die Annahme von Gesetzen“ wünschen dürfe, der Landrat v. Kröcher auf Vinzelberg „in den Wünschen der Mehrheit [...] auch wohl das Recht zur Annahme und Verwerfung von Gesetzen“ erkannte, ein Herr v. Quitzow auf Bertkau wie der Obristlieutnant v. Rundstedt auf Schönfeld ebenfalls nur Beratung, aber mit „Hoffnung des Erfolgs“, ein Herr v. Jagow auf Stresow schon schwächer „Beratung, aber doch Stimme“ forderten. Noch vorsichtiger äußerte sich aus der Neumark der Landrat v. Normann zu Cottbus/Neumark, der nur die beratende Kompetenz neuer Provinzialstände wollte; eine Landes-Repräsentation sei ohnehin „nicht nützlich“ und „vielleicht gefährlich“, obwohl das Publikum „mehr wünsche“, namentlich auch „Vorlegung des Staatsbedarfs und der Verwendung“. Genau umgekehrt, doch ebenfalls äußerst vorsichtig (er verlangte von Klewitz die „Geheimhaltung“ seiner Ansichten) riet der Landrat v. Knobelsdorf auf Sellin hingegen nur zu einer „Landes-Repräsentation“, wogegen Provinzial-Stände „nicht ratsam“ wären. Knobelsdorf begründete seine ständepolische Zurückhaltung mit der Notwendigkeit, dass für eine LandesRepräsentation nämlich erst eine „Regeneration des Adels“ eintreten müsse, mit anderen Worten: eine Adelsreform. Ganz nach Möserschem Muster sollte nach seiner Vorstellung der große adlige Grundbesitz bis auf ein Minimum ungeteilt allein auf den ältesten Sohn vererbt werden, während die jüngeren Söhne zwar adlig bleiben, ihren Adel aber nicht weitervererben sollten. Dafür sollte die Landes-Repräsentation aus zwei Kammern bestehen, zu deren Erster Kammer der Adel „jener neuern Art“ die „Pairs“ erwählen, die „Gemeinen“ aber Repräsentanten zur Zweiten Kammer wählen sollten. Diese Zweite Kammer sollte dafür nicht nur Grundbesitz, sondern daneben Handel, Gewerbe, Wissenschaft und sogar die Kunst repräsentieren. Vor einer solchen Repräsentation, die aber nur beratenden Charakter haben solle (die Nation werde das Vertrauen haben, dass der Monarch „nicht ohne Not“ ein verworfenes Gesetz gegen den Mehrheitswillen durchsetzen werde), dürfe „keine Besorgnis“ bestehen. Denn die Verwaltung bliebe von dieser Repräsentation unabhängig. Die vielfältigsten und komplexesten Stellungnahmen brandenburgischer Adliger kamen aber aus der residenzumgebenden Kurmark. Hier waren die Forderungen nach

442 Koselleck, Landrecht, S. 294.



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einer neuen „Verfassung“ am deutlichsten.443 Hier traten auch gehäuft Ideen einer Zwei-Kammer-Vertretung auf, mit einer adlig besetzten „Ersten Kammer“, bzw. einem Oberhaus an der Spitze.444 Dies forderte der Generalintendant Graf (Peter Alexander) v. Itzenplitz auf Kunersdorf und Behnitz (der im übrigen ein konsequenter Verfechter einer „englischen“ Adelsreform war) der Präsident v. Goldbeck auf Blumberg, und sogar der vormalige Staatsminister und grundsätzliche Gegner der bisherigen Reformpolitik Otto v. Voß-Buch. Diese Befürworter einer Zwei-Kammer-Repräsentation wollten zur Sicherstellung von deren sozialer Grundlage den Fideikommiss- bzw. Majoratsbesitz gefördert und ihn neben den Mediatisierten, Standesherrn und eventuell Bischöfen darin repräsentiert sehen.445 Gustav und Adolf v. Rochow Auch in den folgenden Jahren blieb der brandenburgisch-kurmärkische Adel in seinen Ansichten über die genaue Verfassungsordnung äußerst zerklüftet, ganz entgegen der in der Literatur bis in die jüngere Zeit kolportierten Darstellung.446 Der Schwager

443 Vgl. z.B. die ausführlichen Klagen des Majors (Vater) und des Rittmeisters (Sohn) v. WinterfeldNieden (bei Prenzlau) über die allgemein wirtschaftlich und ordnungspolitisch negativen Folgen einer „fehlenden“ Verfassung, und das ausführliche Pro Memoria des Landrates v. Rochow auf Golzow (bei Brandenburg), dass die neue ständische Ordnung an der alten, „nie wirklich“ untergegangenen anknüpfen möge, GSTAPK Rep. 77 Tit. 489, Nr. 23 (Die Bereisung der Provinzen der Monarchie durch königliche Commissarien in ständischen Angelegenheiten im Jahre 1817 zur Ermittelung der früheren ständischen Verfassung derselben. 1818-1835), Bl. 269ff. 444 Zu den Stimmen, die in diesem Zeitraum in den östlichen Provinzen eine „Reichsstandschaft aus dem höheren Adel“, ein Oberhaus nach „Art des englischen“ forderte, gehörte als einziger Pommer der Rittergutsbesitzer Schierstädt auf Schöningen, vgl. GSTAPK Rep. 77 Tit. 489, Nr. 23, Bl. 33. 445 Vgl. zu diesen Positionen und speziell derjenigen von Voß-Buch, der keineswegs starr „altständisch“ rückwärtsgewandt war, sondern neben den Bauern auch Handel und Gewerbe, geistliche und Schulbehörden in einer neuen Repräsentation berücksichtigen wollte, und keineswegs nur beratende, sondern ausdrücklich entscheidende Stimme der Provinzialrepräsentation forderte: Ernst Müsebeck, Die märkische Ritterschaft und die preußische Verfassungsfrage von 1814 bis 1820, Nr. I und II, in: Deutsche Rundschau, Jahrgang 44 (1918), H. 5, S. 158-182, H. 6, S. 354-376, hier Nr. I, S. 170. 446 Diesbezüglich endlich Klarheit geschaffen zu haben ist ein weiteres Verdienst der MarwitzBiographie von Frie, Marwitz, S. 297ff. Obwohl schon die Darstellungen Müsebecks über die kurmärkische ständische Bewegung nach 1819 diese Fraktionierung deutlich belegen, behauptete noch Wolfgang Neugebauer, dass „seit 1820 die märkische Adelsfront gegen eine Verfassung geschlossen“ gewesen sei, vgl. Ders., Landstände im Heiligen Römischen Reich an der Schwelle zur Moderne. Zum Problem von Kontinuität und Diskontinuität um 1800, in: Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hrsg.), Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780-1815, Mainz 1998, S. 51-86, hier S. 75. Dagegen betonte Ernst Müsebeck, Märkische Ritterschaft, Nr. I, S. 173 zutreffend: „Von einer geschlossenen Opposition des [brandenburgischen, G. H.] Adels gegen das Verfassungswerk lässt sich keine Spur finden. Der Adel der Altmark, darunter Angehörige der ältesten Geschlechter v. d. Schulenburg und v. Bismarck, v. Quitzow und v. Jagow, v. Rundstedt und v. Kröcher, trat geschlossen für eine ständische Gesamtstaatsverfassung ein. Alle ohne Ausnahme stellten sich auf den Boden der durch die Reform geschaffenen Verhältnisse, dass dem frei gewordenen Bauernstande eine selbständige Vertretung gewährt werden

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von Marwitz, der schon erwähnte Gustav Adolf v. Rochow-Reckahn, musste zusammen mit seinem Vetter Adolf Friedrich August v. Rochow-Stülpe um 1820 dieselben Erfahrungen machen, wie Marwitz schon 1810/11447 – trotz der durch die Karlsbader Beschlüsse deutlich konservativer werdende politische Gesamtkonstellation ließ sich eine geschlossene kurmärkische Ständebewegung gegenüber der politischen Zentrale nicht erfolgreich in Stellung bringen. Den beiden Rochows gelang es aber, über die von ihnen im Spätherbst 1819 initiierte Eingabe der kurmärkischen Stände den Kronprinzen Friedrich Wilhelm auf sich aufmerksam zu machen. Die Eingabe wurde von der Regierung zurückgewiesen, doch durch die Empfehlung des hofnahen Reformgegners Otto v. Voß konnte Gustav v. Rochow-Reckahn als Protokollführer für die weiteren ständischen Konferenzen aller Provinzen positioniert und von da an auf eine sehr erfolgreiche politische Laufbahn bis zum Innenminister gesetzt werden. Adolf v. Rochow-Stülpe war damals schon Adjutant beim Bruder des Königs, Wilhelm, und wurde Hofmarschall bei diesem.448 Aufgrund dieser Positionen sollten Gustav wie Adolf v. Rochow noch bei der beginnenden Adelsreformdebatte in der frühen Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. eine bedeutsame Rolle spielen.449 Trotz dieses direkten Einflusses ausgesucht konservativ-ständischer Adelsvertreter der Kurmark in der Berliner Zentrale blieb die im Januar 1822 nach Berlin berufene Notabeln-Versammlung in ihren Ansichten uneins. Nicht einmal die „ständisch-konservative“ Faktion um Gustav v. Rochow, dem Geheimen Staatsrat Quast auf Garz und Otto v. Voß konnte einen Konsens erzielen. Dabei standen die beiden ersteren mit Marwitz in engem gedanklichen Austausch. Ein weiterer vertrauter Gesprächspartner von Marwitz, der schon 1817 durch Klewitz konsultierte Peter Alexander Graf v. Itzenplitz-Kunersdorf, der ebenfalls Mitglied dieser Notabelnversammlung geworden war, hielt wiederum treu an seinen alten Überzeugungen fest, und befürwortete wie Marwitz eine „englische“ Adelsreform.450

müsse, wenn sie auch einer stärkeren Berücksichtigung des Großgrundbesitzes im Anschlusse an die geschichtlichen Rechte festgehalten wissen wollten. Der Wille zur Verständigung fehlte fast nirgends. Selbst der Minister v. Voß hielt sich diese Möglichkeit offen. Nicht einmal die Anhörung der Überreste der früheren Stände wurde als conditio sine qua non gefordert.“ Nach Müsebeck bildete sich die geschlossene Reaktion des brandenburgischen Adels erst nach dem Sturz Humboldts als Minister für ständische Angelegenheiten 1819, vgl. Ebd., Nr. II, S. 369. 447 Gustav Adolf v. Rochow war seit 1818 mit einer Schwester von F. A. L. v. d. Marwitz, Caroline, verheiratet. Gustav v. Rochow brachte seinen Schwager Marwitz nach der Niederlage im Ständekampf 1811 wieder in die Ständepolitik zurück. 448 Adolf v. Rochow wurde nach dem politischen Rückzug von Marwitz 1831 Landtagsmarschall des Brandenburgischen Provinziallandtages, 1847 Marschall der zweiten Kurie des Vereinigten Landtages, vgl. Müsebeck, Märkische Ritterschaft, Nr. I, S. 163. 449 Vgl. zu diesen Vorgängen unten Teil II Kap. 3.1. und 3.3. 450 Peter Alexander (Graf) v. Itzenplitz (1768-1834) war der Schwiegersohn der legendären Frau v. Friedland, einer Verfechterin und brillanten Umsetzerin technischer und sozialer Agrarreformen. Sofort nach der Hochzeit 1792 unternahm Graf Itzenplitz mit seiner Frau eine ausgedehnte Reise nach



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Marwitz hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch schon jede Hoffnung aufgegeben, den historischen Adel erneuern zu können, empfahl dem gutsbesitzenden Adel vielmehr, alle Titel fahren zu lassen um alleine die Gesamtheit derjenigen Grundbesitzer, die in einem „rechtlich gesicherten“ Verhältnis zum Staate stünden, zur Begründung eines neuen „wahren Adels“ heranzuziehen und durch „gute organische Gesetze“ zu sichern. Entsprechend müssten die Provinzial- und Kreisordnungen etwas Neues schaffen, und könnten nicht mehr an der Zeit vor 1806 anknüpfen. Sein Schwager und Korrespondenzpartner Gustav v. Rochow verfolgte dagegen weiterhin die Vereinbarkeit eines ständischen Kontinuitätsgedankens mit der monarchischen Prärogative („monarchisches Prinzip“). Anders als Marwitz beabsichtigte Rochow die projektierte neue Partnerschaft mit den Ständen aus der monarchisch-zentralistischen Perspektive zu stiften.451 Deshalb war für ihn eine Adelsreform nicht von vordringlichem Inte-

Holland und England, die vor allem agrarwirtschaftlichen Zielen diente. Auf Wunsch des damaligen Ministers v. Struensee verfasste Itzenplitz darüber eine Reihe von Berichten zu landwirtschaftlichen und kommerziellen Themen. Auch mit seiner Schwiegermutter korrespondierte Itzenplitz ausgedehnt und verfasste ein Tagebuch über seine Reisen. Die geplante Weiterreise nach Frankreich wurde durch den Höhepunkt der revolutionären Ereignisse unmöglich. Itzenplitz profitierte von diesen Erfahrungen bei der Bewirtschaftung der eigenen Güter. Zwischen 1794 und 1804 Landrat, dann bis 1810 als Gutsherr lebend, führte er schon vor 1806 privat agrarwirtschaftliche Reformen und die Ablösung der bäuerlichen Servituten durch. Auf seine Initiative ließ sich der Agrarreformer Thaer 1804 in Möglin im Oderbruch nieder (vgl. oben). Von 1810 bis 1814 wurde Itzenplitz Staatsrat und Generalintendant der königlichen Domänen und Forsten. 1815 wurde er für seine organisatorischen Verdienste in den Befreiungskriegen gegraft. Die Briefe und privaten Nachrichten v. Itzenplitz über die Englandreise befinden sich im BLHA Potsdam Pr. Br. Rep. 37 Friedland Nr. 382 (Briefe 1792-1793), Nr. 383 (Tagebuch und Rückreise v. England im Herbst 1793). Vgl. auch Ewald Frie, Marwitz, S. 304, 131f; und Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. 4 Bände, Stuttgart/Berlin 1892-1905, Bd. 2, Das Oderland, S. 178ff. 451 Dies geht eindeutig aus einer Denkschrift hervor, die Gustav v. Rochow im Februar 1821 für die Immediatkommission zu den ständischen Angelegenheiten über die Einrichtung von Provinzialverfassungen aufsetzte. Die Souveränität des Königs wollte er allein aus dessen Gottesgnadentum begründet sehen, die Wünsche der Herrschaftsteilhabe wies er entschieden zurück, nur ein Beratungsrecht sollte den Ständen zustehen, da der Herrscher ja nicht „allwissend“, „allweise“, „allmächtig“(!) sei! Die Stände definierte Rochow (Bl. 128) als die „nach den Besonderheiten der Eigenthumsrechte gebildeten Classen seiner Unterthanen“, d.h. Rochow definierte den Begriff „Stand“ allein eigentumsrechtlich, wohl um jeden politischen Anspruch der Rittergutsbesitzer zurückweisen zu können! Der Adel unterschied sich demnach allein in seinen Eigentumsrechten von anderen Klassen! Deshalb müssten für die Neu- oder Wiedereinführung ständischer Verfassungen Modifikationen und Anpassungen an die veränderten Zeitbedingungen vorgenommen werden (Bl. 130). Die von Rochow vorgeschlagenen Modifikationen betrafen vor allem die Geistlichkeit. Das Dilemma in das er aufgrund seiner allein eigentumsrechtlichen Definition des „Ständischen“ geriet, indem auf dieser Grundlage adlige und bürgerliche Rittergutsbesitzer gleich standen, suchte er durch eine etwas sophistische neue, sozial-kulturelle Differenzierung dieser Eigentumsrechte zu lösen (Bl. 132): er wollte zwischen den „Realrechten“ (also Patrimonialgerichtsbarkeit und Polizei etc., die allen Rittergutsbesitzern zuständen) und der „eigenthümlichen Art dieses Besitzes“ unterscheiden, die sich durch die enge „Verbindung des Namens, des Geschlechts und dessen Fortdauer mit der Erblichkeit dieses Besitzes

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resse – die von Marwitz beklagte „bunteste Vermischung von adelichen und nichtadelichen Grundbesitzern, und von wirklichen und erschaffenen Edelleuten ohne Grundbesitz“ brauchte ihn nicht zu beunruhigen. Wichtiger war für ihn, aus Legitimitätsgesichtspunkten die soziale und rechtliche Kontinuitätsidee aufrecht zu erhalten. Über Itzenplitz’ „englische“ Adelsreform- und Oberhausideen zeigte sich Rochow nur entsetzt.452 Gustav v. Rochows eigene adelspolitischen Vorstellungen entsprachen zu diesem Zeitpunkt jenen seines Vetters Adolf v. Rochow-Stülpe. Während Gustav nach 1820 in der politischen Zentrale eine immer bedeutendere Rolle spielte, scheint sich sein weniger prominenter Vetter Adolf v. Rochow stärker theoretisierend mit der Adelsfrage befasst zu haben. Von ihm sind eine Reihe von schriftlichen Abhandlungen über die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Stärkung des Adels aus den Jahren 1823 bis 1825 bekannt, die er seinem Vetter übersandte.453 Selbst in der frisch erlassenen provinzialständischen Verfassung für die Provinz Brandenburg von 1823 sah Adolf augenblicklich große Gefahren für den Adel als eigentlichem Repräsentanten des Landes. Um diesen zu stärken, bzw. wieder herzustellen plädierte er im Kern dafür, die gesamte sozialständische Liberalisierung der Reformzeit rückgängig zu machen. Wie Gustav v. Rochow sah Adolf die Aufgabe des Adels in der Stützung des Thrones und der Landesverteidigung, sowie in der Stützung des Landeskredits durch seinen Gutsbesitz. Doch anders als Marwitz wies Rochow-Stülpe jede Idee zurück, den Adel ausschließlich auf großem Grundbesitz neu zu begründen. Die Erhaltung des Grundbesitzes sei für den Adel zwar wichtig, aber seine Aufgaben im Staat erschöpften sich nicht darin. Scharf kritisierte er daher das Gesetz über die landständische Verfassung vom 1. Juli 1823. Alle bürgerlichen Rittergutsbesitzer, selbst der „niedrigsten Abkunft“, würden in den ersten Stand aufgenommen; zudem seien die alten Vorrechte des märkischen und pommerschen Adels durch bedeutende Bevorrechtungen einzelner Vasallen aus eroberten und acquirierten Provinzen, als der sächsischen Grafen Solms zu Baruth, den lausitzischen Standesherrn v. Houwald, v. Brühl, pp und des schwedischpommerschen Fürsten Putbus, wozu auch die dem ausländischen Besitzer der neu gebildeten Herrschaft NeuHardenberg ertheilte Viril-Stimme kommt

und dann noch in des Edelmanns ganz besondere persönliche Beziehungen und Verpflichtungen“ ausdrücke. Offen blieb, wie das praktisch durchgeführt werden konnte. Vgl. „Pro Memoria“, datiert Reckahn, Februar 1821, in: GSTAPK Rep. 89, Nr. 13919 (Geheimes Zivilkabinett, Die Immediatkommission zu den ständischen Angelegenheiten, Bd. 1, 1810-1822), Bl. 126-134v. 452 Frie, Marwitz, S. 303f. 453 Siehe die Denkschriften Adolf v. Rochows über „Was kann geschehen um den Adel aufzuhelfen?“ (1. Oktober 1823) und „Die Ausbildung der Söhne der angesessenen Ritterschaft der Mark Brandenburg“ (nicht datiert, ca. 1825), in: GSTAPK Rep. 92 Nachlass Gustav v. Rochow, Nr. A III Nr. 10.



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erheblich gemindert. Adolf v. Rochow zeigte sich also nicht nur durch den sozialen Druck „von unten“ beunruhigt, sondern auch durch die binnenständische Differenzierung, die durch die Provinzialständeordnung in den alten Provinzen Preußens neu eingeführt worden war. Während andere märkische Adlige wie Marwitz und Itzenplitz offen mit einer „englischen Adelsreform“ sympathisierten, andere Mitstände zwar keine eigentliche Adelsreform, aber doch eine ständische Hervorhebung des großen und vinkulierten Grundbesitzes in einer „Ersten Kammer“ befürworteten, die latent selbst den (nobilitierten) bürgerlichen Grundbesitzern offen stehen konnte, wies Rochow eine solche ständische Gliederung zurück: Diesem Fehlgriff liegt die Idee zum Grunde den großen Grundbesitz begünstigen zu wollen; dem preußischen Staat kann aber am einzelnen großen bevorrechteten Grundbesitzer nichts gelegen sein, sondern nur an vielen wohlhabenden ritterlich-gesinnten Edelleuten. Diesen äußere Ehre und und Einfluß zu entziehen um sie jenen beizulegen ist aber so unpolitisch als ungerecht. Es weiset dies auf Errichtung von Majoraten hin, die der Ruin des niederen Adels, auf Pairschaften, die ohne geschichtliche Grundlage ein theoretischer Unsinn und auf zwei Kammern die für einen Brandenburger und Pommern ein Gegenstand des Lachens sein müssen.454

Die Standschaft solle allerdings allein auf lehnsrechtlich- und fideikommissarisch gebundenen Besitz beruhen, doch dieser solle nur vom Adel besessen werden dürfen. Güterhandel wie auch die Auflösung von Fideikommissstiftungen würden nur noch mit Zustimmung des Monarchen möglich sein. Während Marwitz nach 1815 den alten Adel in seiner Gesamtheit nicht mehr als regenerationsfähig betrachtete, wollte Adolf v. Rochow eine solche Wiederbelebung hingegen durch eine öffentliche königliche Erklärung eingeleitet sehen, indem „[...] der König laut und öffentlich erklären [muss] daß ein Adel fortbestehen soll und seine Bestimmung von neuem anerkennen“. Denn die noch verbleibenden „Schattenrechte“ (wie die Hoffähigkeit) teile der Adel mit dem bürgerlichen Beamten. Da schon die Bezeichnung „Adel“ aus allen Gesetzen und öffentlichen Bekanntmachungen verschwunden sei, würde der Adel entweder im Begriff der gebildeten Stände subsumiert, oder mit dem bürgerlichen Gutsbesitzer zusammen als „erster Stand“ bezeichnet. Dadurch müsse der Adel aber an seiner ihm sonst noch immer zugestandenen Rolle als „erstem Stand“ im Staat „irre gehen“. Deshalb sei der Adel neuerlich öffentlich und rechtlich abzugrenzen – das Betreiben bürgerlicher Gewerbe ist zu untersagen, im Gegenzug sind die Offiziersstellen in Friedenszeiten exklusiv dem Adel zuzusprechen. Adelstitel dürften nie wegen Reichtum oder bürgerlichen Verdiensten verliehen werden, sondern ausschließlich für militärische Leistungen.

454 Die Ablehnung eines Zwei-Kammer-Systems mit einem „Pair“-Adel an der Spitze teilte Adolf mit seinen Vettern Gustav und dessen Bruder Theodor, die sich ähnlich schon 1819 ausgesprochen hatten, vgl. Müsebeck, Märkische Ritterschaft, Nr. II, S. 366.

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Den eigentlichen innovativen Programmpunkt, den Adolf v. Rochow in seiner Denkschrift von 1823 vorbrachte, arbeitete er um 1825 noch weiter aus. Rochow beschäftigte sich intensiv mit den neuen Bildungsherausforderungen für den Adel. Eine neu zu gründende Adelsschule sollte „praktisch gebildete Leute und gute Offiziere erziehen; es darf ihr also kein Stubengelehrter, es muß ihr ein gedienter Offizier und guter Edelmann vorstehen“. In seinem um 1825 verfassten „Stiftungsentwurf zur Unterstützung des landtagsfähigen Adelsnachwuchses der Mark“ legte Rochow seine Begründungen und Zielvorstellungen detailliert dar. Die alte Ritterakademie Brandenburg, die Revolutions- und Reformjahre überstanden hatte, schien ihm dafür die natürliche Bildungsanstalt für den Nachwuchs des märkischen Rittergutsadels. Denn um seiner historischen Aufgabe in der Führung des Landes weiter gerecht zu werden, zugleich die Privilegienverluste durch einen zeitgemäßen Bildungskanon kompensieren und mit dem Bürgertum erfolgreich konkurrieren zu können, brauche der Landadel eine eigene Erziehungsanstalt, die zugleich die strukturellen Defizite des flachen Landes ausgleichen könne: der Zugang zu den städtischen (bürgerlichen) Bildungseinrichtungen sei räumlich schwierig, bzw. zu teuer. Um die notwendigen Mehrkosten für den Internatsaufenthalt tragen zu können, sollte eine eigene Stiftung die Lasten für den ärmeren Teil des Landadels übernehmen. Begründet werden sollte die Stiftung auf freiwillige Einzahlungen, im Form von Barschaften oder Grundstücken, bzw. hypothekarischen Schuldverschreibungen. Die Verwaltung sei durch den nach der Provinzialgesetzgebung definierten ersten Stand zu übernehmen. Charakteristisch war die Forderung Rochows, dass in dieser adelsspezifischen Bildungseinrichtung die Lehre der alten Sprachen (Griechisch, Latein) zugunsten der neuen Sprachen, aber auch der Naturwissenschaften und Mathematik zurücktreten sollte. Denn es fehle vor allem an Kenntnissen in praktischen Feldern, und diese Schule sollte den Adelsnachwuchs auch für die erfolgreiche Bewirtschaftung der Güter ertüchtigen, wie für den Armee-, Verwaltungs- und allgemeinen Staatsdienst.455 Durch die Einrichtung von Stipendien hoffte Rochow eine (begrenzte) soziale „Durchmischung“ der Anstalt zu erreichen, die anders als die historischen Fürstenschulen eben nicht zu einem Refugium der adligen Spitzenvertreter werden, und schon dadurch den geistigen Horizont der Kinder weiten sollte. Dieser extrem restaurative Ansatz der Vettern Adolf und Gustav v. Rochow belegt einmal mehr die starke weltanschauliche Zersplitterung der brandenburgischen Adelslandschaft aufgrund der vielfältigen Adelsgruppierungen, die in diesem resi-

455 Tatsächlich wandelte sich die Ritterakademie Brandenburg nach einem Reorganisationsplan zwischen 1827-1829 entlang der hier von Adolf v. Rochow skizzierten Linien bezüglich der Organisation und des Curriculums, näherte sich damit den bürgerlichen Bildungsvorstellungen, ohne die soziale Distanz zum Bürgertum aufzugeben, vgl. Frie, Marwitz, S. 68f, bes. Anmk. 88. Vgl. dazu auch die Überlieferung in Adolf v. Rochows eigenem Nachlass: GSTAPK I. HA Rep. 92 Nachlass Adolf v. Rochow-Stülpe, Nr. 31 (Ritterakademie Brandenburg 1840-44).



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denzumgebenden Raum aufeinandertrafen. Hofnahe Vertreter des monarchischen Prinzips wie die Rochows stießen auf Vertreter eines Landadels, der entgegen des von den Rochows propagierten monarchennahen Gesinnungsadelsideals entweder einen konsequent durch Grundbesitz neu definierten Adelsstand der Krone gegenüberstellen, bzw. in aristokratisierender Tendenz eine herausragende politische Stellung für einen Erste-Kammer-Adel auf zentralstaatlicher Ebene sichern wollten. Dem Grundbesitz wurde bei diesen Entwürfen jeweils eine zentrale Rolle zugesprochen: entweder über eine konsequente, besitzbasierte „Adelsreform“ (Marwitz, Itzenplitz, Knobelsdorf-Sellin), oder über die ständische Bevorrechtigung des gebundenen Besitzes (Goldbeck-Blumberg, Voß-Buch). Ganz entgegen der älteren Auffassung von einer weltanschaulich „geschlossenen Adelsfront“ in der Kurmark scheint gerade diese Provinz fast so viele variierende Ansätze einer neu zu fassenden „Adligkeit“ hervorgebracht zu haben, als sich (halb-öffentlich) positionierende Adelsvertreter ausfindig machen lassen. Weitere Beispiele dieser mangelnden adligen Konsensfähigkeit in der Mark bieten der Intellektuelle, Dichter und Gutsherr Achim v. Arnim, und der ebenfalls dichtende Spross eines seit ca. 100 Jahren eingesessenen RéfugiéAdels: Friedrich de la Motte Fouqué. Achim v. Arnim auf Wiepersdorf Eine eigentümlich oszillierende Stellung zwischen der materialistisch-funktionalistischen Position eines Marwitz, der entschlossenen Reformorientierung eines Itzenplitz, und den gesinnungsadlig-monarchenorientierten Adelsvorstellungen der hofnahen Rochows repräsentiert Ludwig Achim v. Arnim (1781-1831). Dieser wich allerdings scharf von den meisten seiner Standesgenossen darin ab, dass er vorübergehend Sympathien für die Forderungen der französischen Revolution entwickelte. Schon vor dem preußischen Zusammenbruch beschäftigte er sich mit den Möglichkeiten neuer Gesellschaftsmodelle. Seine anfänglich hochspekulativen, pessimistisch bis poetisch-idealistischen Ideen zu den Möglichkeiten einer neuen „Adligkeit“ in der Gesellschaft wichen nach 1815 deutlich nüchterneren, an die preußischen Voraussetzungen anknüpfenden Vorstellungen. Zugleich bietet Arnim als romantischer Poet und Schriftsteller der „Heidelberger Schule“ einen beredten Beleg dafür, dass die Romantik keineswegs mit Konservatismus oder gar reaktionärem Denken gleichzusetzen ist. Arnim bietet vielmehr ein Beispiel des romantischen Bemühens, einen „dritten Weg“ durch die Synthese von Monarchie und Demokratie zu erkunden, wie dies z.B. auch Ernst Moritz Arndt vorschwebte.456 Achim v. Arnim erfuhr in Kindheit und Jugend über seine Familienverbindungen und in der Erziehung durch seine bürgerliche, aber mit dem preußischen Königshof eng verbundene Großmutter mütterlicherseits vielfach widerstreitende Erfahrungen

456 Neumann, Stufen, S. 135 Anmk. 12-13. Zu Ernst Moritz Arndt siehe Kluckhohn, Persönlichkeit, S. 102, u. Anmk. 2.

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und Eindrücke bezüglich seiner ständischen Position.457 Seine ursprüngliche Situation relativer Isolierung zwischen bürgerlichem Lebensumfeld und den Potentialen seiner adligen Namensfamilie ließen ihn eine frühe innere Distanz zum Selbstverständnis des Adels entwickeln. Hochgebildet und mit starken mathematisch-naturwissenschaftlichen Neigungen ausgestattet entsprachen seine frühen Berufs- und Lebenspläne kaum dem damaligen adligen Komment.458 Hin- und hergerissen zwischen dichterischen Interessen und dem unbestimmten Gefühl, politisch aktiv werden zu sollen, experimentierte er im Vorfeld des Kriegsausbruchs 1806 mit publizistischen Versuchen, sowie einer Reihe von Denkschriften für die sich im Herbst 1806 in Königsberg konstituierende Reformadministration.459 Anders als die meisten seiner adligen Zeitgenossen war Arnim bereit, Teile der Revolutionsforderungen und -folgen zu akzeptieren, und in eigene Zukunfts- und Gesellschaftsentwürfen aufzunehmen.460 Doch war seine Herangehensweise poetologisch-literarisch geprägt, nicht durch staats- und handlungspraktische Gesichtspunkte.461 Seine adelsdistanzierte Gesellschaftsbetrachtung ließ ihn unmittelbar nach der

457 Sein Vater Joachim Erdmann v. Arnim hatte mit Amalie Caroline Labes die Tochter einer begüterten Kaufmannsfamilie geheiratet. Aufgrund des frühen Todes seiner Mutter wuchs Ludwig Achim v. Arnim bei seiner Großmutter mütterlicherseits, Caroline Labes, geb. Daum, auf, während sich sein Vater nicht um die Kinder kümmerte. Caroline Labes war in erster Ehe mit einem Kammerherrn Friedrichs II. verheiratet gewesen und besaß aus dieser Verbindung Gut Zernikow nahe Potsdam, sowie gute Verbindungen zum preußischen Königshof. Über ihren zweiten Ehemann, dem reichen Kaufmann Hans Labes, gelangte zudem die Herrschaft Bärwalde inklusive des Hauptgutes Wiepersdorf bei Jüterbog in ihre Hände, vgl. Ludwig Achim v. Arnim. Werke in einem Band, hrsg. und eingeleitet v. Karl-Heinz Hahn, Berlin/Weimar 1989, S. Vf. Siehe auch Jürgen Knaack, Achim v. Arnim – Nicht nur Poet. Die politischen Anschauungen Arnims in ihrer Entwicklung, Darmstadt 1976, S. 10. 458 Achim v. Arnim wurde nach den standesüblichen Hauslehrern am Joachimsthalschen Gymnasium ausgebildet, und studierte ab 1798 in Halle und anschließend in Göttingen Jurisprudenz und diverse naturwissenschaftliche Disziplinen. Spätere Bemühungen um eine Anstellung im Staatsdienst während der Reformjahre scheiterten. Noch während seiner Studienzeit brachten ihn sein Freundeskreis um Clemens Brentano und die Begeisterung für Goethe zu literarischen Bemühungen, als deren erste Frucht 1805 die mit Clemens Brentano verfasste Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ erschien. 459 In seinem Bemühen, öffentlich wirksam zu werden, scheiterte Arnim regelmäßig: 1809, als Wilhelm v. Humboldt davon Abstand nahm, ihn in den Staatsdienst zu nehmen, und noch einmal publizistisch zur Zeit der Befreiungskriege. 460 Knaack, Arnim, S. 11. 461 Ein Beispiel dafür ist die erste verfasste programmatische Denkschrift „Was soll geschehen im Glücke?“ (Dezember 1806), vgl. den Abdruck dieser Schrift in: Arnim, Werke, S. 381-385. Ohne konkrete institutionell oder gesetzgeberisch-rechtlich orientierte Vorschläge zu machen, entwickelte Arnim darin das Bild eines Geschichtskompromisses zwischen einem reformierten Preußen und einem französisch Inspirierten Reformprogram ohne Revolution, das den Geist „alter und neuer Zeit“ unter Einbezug der eigenen Geschichte versöhne. Das aus diesem Text gerne zitierte Bild eines neuen Adelsideals – „Das ganze Volk muß einem Zustande der Unterdrückung durch den Adel zum Adel erhoben werden“ – bezieht sich allerdings im Textzusammenhang auf (ein wieder zu errichtendes) Polen:



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Niederlage 1806 für eine Abschaffung der Geburtsstände plädieren, eine allgemeine „Adelung“ des ganzen Volkes durch den König anregen, auf deren Grundlage eine nichtsdestoweniger ständisch gegliederte Gesellschaftsordnung von Funktions- und Verdiensträngen (Berufsstände) aufbauen sollte, deren Spitzen sich wiederum allein durch die Ausrichtung am Volkswohl legitimierten.462 Ein adliger (wesentlich mit Blick auf das mittelalterliche Ritterideal formulierter) und bürgerlicher Tugend- und Wertekatalog sollten darin miteinander fusioniert werden.463 Dieser Ansatz suchte eine Synthese von Monarchie und Republik zu entwickeln, eine „Aristo-Demokratie“ im Herderschen Sinne.464 Diese typische Denkfigur einer „Dritte-Weg“-Konzeption wollte auf der individuellen Ebene die Ansprüche des Individuums mit der Gemeinschaft/Gesellschaft versöhnen, indem „solcher Gemeingeist, Gemeinsinn [...] den Monarchien zugleich das Beste republikanischen Geistes“ zukommen ließe. Darin wurde eine dem Freiheitsideal „des Westens“ gegenüberstehende alternative Freiheit gesucht, die sich nicht wie erstere (angeblich) vordringlich „materialistisch“ und losgelöst vom Verpflichtungsgedanken gegenüber der Gesell-

damit „jedes Dritteil [Teilungspolens] ein mächtigeres Reich bilde[n] als früher sie alle drei Teile zusammengenommen“ (!) Die etwas verkürzend-dekontextualisierte Zitierung, die eine Allgemeingültigkeit dieses Ausspruchs auch für Preußen suggeriert, findet sich schon bei Knaack, Arnim, S. 17, von dem sie offenbar weitere Autoren übernahmen: vgl. Helga Halbfass, Komische Geschichte(n). Der ironische Historismus in Achim v. Arnims Roman Die Kronenwächter, New York/San Franzisco/ Bern u.a. 1993, S. 219): „Das ganze Volk muß aus einem Zustande der Unterdrückung durch den Adel zum Adel erhoben werden“, Ebd., S. 384. 462 Diese Idee „alle Welt zu adeln“ entwickelte Arnim noch einmal, wenn auch innerlich distanzierter und skeptischer durch die Gestalt des „Grafen Karl“ in seiner Erzählung „Armut und Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores“ von 1810, siehe Strobel, „Ein hoher Adel von Ideen“, S. 318-337. 463 „Die Inkongruenz zwischen ritterlichen Werten wie zuht, maze, ere, muot, triuwe, die auf der Identität von Innerlichkeit und Öffentlichkeit basierten, und den Tugenden des Bürgertums, denen es gerade an dieser Identität fehlte, also Arbeitsamkeit, Pflichterfüllung, Redlichkeit, Enthaltsamkeit und Freundschaft, war den romantischen Bewunderern des Mittelalters keineswegs unbewusst. Ihnen kam es darauf an, die Rittertugenden als Werte „des Geistes und der Wahrheit“ (Im Glücke, S. 381) zu verinnerlichen und den bürgerlichen Tugenden vermehrte Öffentlichkeitsgeltung zu verschaffen, indem man z.B. Begriffe wie Freundschaft und triuwe gleichsetzte und dem eigenen Wert dadurch den fehlenden Adel aufpfropfte. Arnims zunehmend kritische Einstellung zu dieser SelbstLegitimierung steht neben seiner Ablehnung der modischen Wiederbelebungsversuche klassischer Stile und Ideale“, siehe Halbfass, Komische Geschichte(n), S. 219. Zum Gebrauch des Mittelalterideals um die Beziehungen zwischen Individuen und Staat jenseits des absolutistisch-dekretistischen Verwaltungsstaates denken zu können vgl. auch Kluckhohn, Persönlichkeit, S. 88. 464 Latent sahen die Romantiker einen „republikanischen Charakter“ schon in der Monarchie verwirklicht, durch die Verbindung von „Subordination und Koordination“, die Durchdringung monarchischer und demokratischer Prinzipien, vgl. Kluckhohn, Persönlichkeit, S. 93. Allerdings führte Arnim seine an Herder angelehnten Ideen einer „Aristo-Demokratie“ inhaltlich nicht aus, vgl. Knaack, Arnim, S. 17f.

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schaft definiere.465 Auf dieser Grundlage entwickelte Arnim einen Dienstgedanken, der aus „Ehre“ („neo-mittelalterlich“ gedacht aus der freiwilligen Bindung und Treue gegenüber Staat und Gesellschaft) hervorgehe, obwohl ja gerade der historische „adlige Eigensinn“ sich nur schwer in ein funktionalistisches Dienstverständnis einspannen ließ, wie die ständepolitischen Vorgänge in Brandenburg nach 1807 genugsam bewiesen hatten.466 In diesen Neuständeideen wird deutlich, wie Arnim durch die „Adelung“ breiter Volksschichten über „Berufsgrenzen“ hinweg den ursprünglichen Charakter des Adels als „Multifunktionselite“ nachbilden wollte.467 Nicht durch Spezialisierung, wie z.B. bei Marwitz auf Kriegsdienst, Verwaltung oder ländlicher Herrschaft, sondern durch den Anspruch auch weiterhin in allen herausragenden Gebieten menschlicher Tätigkeit beteiligt zu sein, wollte Arnim in erster Linie nicht die überkommene Sozialformation des Adels retten, sondern das Prinzip des Adels, nämlich seine „Multifunktionalität“. Tatsächlich schlug er dem Königsberger Reformerkreis bei einer Gelegenheit vor, den Deutschen Orden wiederzubeleben, aus dem ein neuer Adel hervorgehen sollte, der aber „nicht blos der Kriegsmacht, sondern auch dem Geist des Wissens und der Kunst, der Gewerbe und des Landbaues umfassen müsste.“ Dabei war Arnims Vorstellung über die Vererblichkeit von Adelseigenschaften (Erbcharisma und Geburtsauslese) durchaus von einem kernigen „Biologismus“ geprägt.468 Wie bei anderen Vorschlägen vergleichbarer Art reagierte Stein (vgl. unten zu Gneisenaus Idee eines Adelsbundes) kühl abweisend mit einem „Achselzucken, daß so etwas schwer möglich“ wäre. Trotzdem nahm Arnim zu seinen eigenen Gunsten gerne an, dass sein Vorschlag bei der Gründung des Tugendbundes eine Rolle gespielt haben mag.469 Bemerkenswert ist Arnims kritische Einstellung gegenüber der englischen Gesellschaftsentwicklung, die er schon vor 1806 in deutlichem Kontrast zu „liberalen“ wie „konservativen“ Zeitgenossen rundheraus ablehnte:470 das Primogenitur-

465 Zum Bemühen der Romantik, Individualismus („Eigentümlichkeit“) und Gemeinschaftlichkeit in ihrer wechselseitigen Bedingtheit zu denken und für die Staatsbildung fruchtbar zu machen, vgl. Kluckhohn, Persönlichkeit, S. 84-98, Zitat S. 94. 466 Kluckhohn, Persönlichkeit, S. 88. 467 Der Ritterstand sollte aus fünf Ständen, „Krieger, Richter, Verwalter, Lehrer und Erfinder bestehen, die Theorie und Praxis miteinander verbinden sollten, und in sich jeweils noch einmal „nach Stufen und Zeichen“ wie „Ritter“, „Großritter“, Oberritter“ gegliedert sein sollten. Die unteren Stufen sollten durch „Wahl“ durch die oberen Stufenmitglieder „erhoben“ werden, vgl. Knaack, Arnim, S. 17, Anmk. 77, u. S. 47. 468 Arnim. Werke, S. XVf. Zu Arnims Überzeugungen bzgl. v. Erbcharisma und Geburtsauslese vgl. Knaack, Arnim, S. 13: „Die Natur geht offenbar beym Menschen dieser Veredlung entgegen, die das Schönste zum Ziel hat, so wie die Thiere eigentlig nur das Stärkste achten z.B. beim Rindvieh bey Hünern.“ 469 So Arnim in einem erinnernden Brief an seinen Onkel 1825, vgl. Knaack, Achim, S. 16. 470 Die gilt aber nicht für die englische Verfassungsform, die er mit ihrem Zweikammersystem und beschränkten Souveränität des Königs für vorbildlich hält, vgl. Knaack, Arnim, S. 46. Arnim hatte während seiner Europareise 1803 auch England besucht.



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prinzip mit der Folge immer stärkerer Besitzkonzentration in den Händen Weniger, und die ersten Spuren der frühindustrialisierten Kapitalisierung aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Austauschbeziehungen, erregten seine Kritik.471 Insgesamt zeige er deutliche Unterschiede zu Steins Elitenreformansatz, der den „neuen Adel“ weder einseitig durch „Berufe“ und Funktionen, noch ausschließlich über Grundbesitz und Vermögen definieren wollte. Bei Arnim trat hingegen ein Leistungsprinzip hervor, während er ansonsten mit seinen Ansichten zwischen allen Stühlen saß: nicht mit Stein übereinstimmend, lehnte er die Reformen Hardenbergs als unhistorisch und autoritär dekretiert, und daher zum Scheitern verurteilt ab; zugleich konnte er sich auch nicht mit der historischen Rechtsschule seines Schwagers Savigny anfreunden, da er selbst doch mit einigen Neuerungen der französischen Revolution und der von Napoleon erlassenen Gesetzgebung sympathisierte. Mit der „Romantik“ des ultra-„konservativen“ Adam Müller hatten seine Vorstellungen schon gar nichts gemein.472 Diese eigensinnige konservativ-fortschrittliche Lagerung Arnims spiegelte sich auch in der von ihm initiierten „Christlich-Deutschen-Tischgesellschaft“, deren Charakter lange Zeit als reaktionär-restaurative „antihardenbergsche Junkerfronde“ völlig missdeutet wurde.473 Ganz ähnlich zu Marwitz und Stein zeigte sich Arnim ent-

471 Knaack, Achim v. Arnim, S. 14. 472 Nicht nur der „Adelsbegriff“, auch der „Nationenbegriff“ verflüchtigte sich bei Adam Müller ganz in eine unscharfe, ganz „ins Geistige“ gewendete Auffassung, vgl. Nienhaus, Tischgesellschaft, S. 101, unter Bezug auf: Adam Müller, Kritische, ästhetische und philosophische Schriften, 2 Bände, (hrsg. v. W. Schroeder/W. Siebert) Darmstadt, 1967, Bd. 2, S. 279-281). Zu den langwirkenden grundsätzlichen Fehleinschätzungen der politischen Ansichten Achim v. Arnim in der Forschungsliteratur vgl. Knaack, Arnim, S. 30. Anders als Adam Müller opponierte Arnim nicht grundsätzlich gegen die Reformen, sondern nur gegen die Art und Weise ihrer Durchsetzung, vgl. Ebd., S. 33. 473 Die christlich-deutsche Tischgesellschaft, die wesentlich auf Arnims Anregungen zurückging, war kein reaktionärer Debattierclub, sondern als Entwurf einer ideal gedachten neuen Gesellschaftsverfassung konzipiert. Die Mitglieder dieses Kreises kamen gerade in dessen Gründungsjahr 1811 vorwiegend aus dem Reformerumfeld. Konservative Positionen, wie sie von Adam Müller und Beckedorff vertreten wurden, waren in der Minderheit, vgl. Halbfass, Komische Geschichte(n), S. 221, Anmk. 7; sowie Knaack, Arnim, S. 35ff. Eine differenzierende Analyse der Tischgesellschaft und ihres notorischen „Antisemitismus“ legte endlich Nienhaus, Tischgesellschaft, S. 334-348 vor. Nach Nienhaus geht die bis heute andauernde Fehleinschätzung der „Tischgesellschaft“ auf die autoritäre Deutung Reinhold Steigs zurück, der um 1900 die „Tischgesellschaft“ zu einem ideologischen Vorläufer der Reichsgründung 1871 zu stilisieren suchte, und dessen Interpretation bis heute die Handbucheinträge dominiert. Insbesondere die retrospektiv widersprüchlich anmutende Kombination von vorherrschender Reformaufgeschlossenheit und derbem Antisemitismus zumindest in der Anfangszeit dieser Runde schien diese Einschätzung zu unterstützen. Nienhaus zufolge war die „Tischgesellschaft“ in der Anfangszeit bzgl. ihrer „nationalen“ Orientierung vordringlich preußisch-partikularistisch und nicht etwa gesamtdeutsch geprägt. Mit der Übernahme des Sprecheramtes der „Tischgesellschaft“ durch Fichte im Juli 1811 wurde allerdings der derb-scherzhafte Antisemitismus ausdrücklich und dauerhaft aufgegeben: „derartige Witzeleien [schickten] sich nicht für eine ‚ehrbare Gesellschaft‘ [...]; das bringe nur ‚schlimmen Ruhm‘ [...].“, Ebd., S. 348.

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täuscht über das politische Bewusstsein seiner „Mitstände“, war über deren Provinzialismus und Unwilligkeit, sich für Gesamtstaatsinteressen zu engagieren, entsetzt. In Briefen an seine spätere Frau Bettina Brentano beschrieb Arnim den kurmärkischen Landtag von 1809 und den Verlauf eines Kreistages im selben Jahr als Versammlungen, die nur Pläne „die beim Himmel alle ganz überflüssig sind“ verhandelten, bzw. „blutwenig zum Besten des Vaterlandes“ beitrügen, sondern hauptsächlich als große Familienzusammenkünfte funktionierten (auf dem Kreistag fand er „alles so verschwägert, vervettert und verbast, daß es wie in allen Familien herging, der langweiligste Schwätzer behielt recht“), die vor allem zum Anlass genommen würden, „ungeheuer“ zu „fressen“ und zu „saufen“. Seine Hoffnung auf ein erneuertes Landtagswesen angesichts der Katastrophe, „voll großer Seelen, Vaterlandsliebe und Aufopferung“, wurde bitter enttäuscht.474 Im Mai 1815 übersiedelte Arnim aus finanziellen Rücksichten auf sein Gut Wiepersdorf, er und seine Familie gehörten damit zu denjenigen Adligen, die nach Marwitz erst durch die Zeitereignisse wieder aufs Land gebracht wurden, um „Landwirte“, aber keine „Gutsherren“ zu werden.475 Arnim entwickelte sich allerdings im Laufe der Jahre zu einem überdurchschnittlichen Gutsherren, der Bärwalde-Wiepersdorf ab 1818 selbst bewirtschaftete.476 Arnim bewertete im Zuge dieser Erfahrungen die Leistungen und die gesellschaftliche Führungskraft des gutsbesitzenden Adels besser.477 Nun traten entgegen seiner früher favorisierten Berufsstände wieder die Geburtsstände in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zu einer neuen Gesellschaftsverfassung.478 Arnim verband nun konstitutionelle und altständische Elemente,

474 Knaack, Arnim, S. 28. 475 Vgl. Halbfass, Komische Geschichte(n), S. 221. 476 1810 hinterließ Arnims Großmutter testamentarisch ein Fideikommiss auf die Güter BärwaldeWiepersdorf an die (ungeborenen) Kinder Achim v. Arnims und seines Bruders. Im Falle dauernder Kinderlosigkeit drohte damit den Brüdern die Enterbung, das Vermögen ginge an den Staat. Nicht zuletzt aufgrund dieser Sachlage entschloss sich Achim v. Arnim zur Heirat (1811 mit der Schwester seines Jugendfreundes, Bettina Brentano). Arnim erfuhr damit am eigenen Leib die möglichen Folgen eines Fideikommisses, aus dem er nur begrenzte persönliche Einnahmen zu erwarten hatte. Diese Erfahrung floss wohl in die 1819 veröffentlichte Erzählung „Die Majoratsherren“ ein, die den Niedergang und Verfall eines Geschlechts aufgrund von Neid und Erbstreitigkeiten behandelt. Die Akten zu diesem Fideikommiss in: BLHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 37, Herrschaft Bärwalde-Wiepersdorf, u.a. Nr. 85 (Übersicht des Besitzes), Nr. 1532 (Stiftungsurkunde). 477 Arnim. Werke, S. XLIV. 478 Vgl. dazu seinen Adelsreformvorschlag von 1827 (Näheres dazu unten), den er (von seinen früheren Ansichten resignierend) mit den charakteristischen Worten einleitete: „Unfreiwillig bist du der Sohn deines Vaters geworden, und du achtest ihn. Durch Erbfolge ist dieser und kein anderer der Fürst deines Landes geworden, und du achtest ihn. Ohne sein Zuthun ist jener aus altem Stamm entsprossen, und du achtest ihn. So theilt sich der Tribut in Verdienst und Glück. Die Stände sind durch bedeutende Stufen von einander getrennt, und überspringt einer durch sein Verdienst die Kluft, die ihn vom höheren Stand entfernt hielt, so erlangt er nur höchstens, sobald das Verdienst nicht ein ganz außergewöhnliches war, dasjenige Ansehen dessen der andere schon ohne Mühe genoß; ja! das



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wollte zugleich den gebundenen Grundbesitz dynamisieren. Wie der Adel wieder „edel“ werden, nicht, wie die ganze Gesellschaft am Adel teilhaben könne, wurde für ihn jetzt zum beherrschenden Problem: im Falle von „unadliger Berufsausübung“ und „Armut“ solle der Adel niedergelegt werden. Zwar zeigte sich Arnim wie der überwiegende Teil des märkischen Adels nicht bemüßigt, und wohl auch nicht fähig, seine Ideen zu strukturieren und systematisieren, was ihre Politisierung und Umsetzung sehr erschwerte. Es lässt sich jedoch festhalten, dass er weiterhin auf eine politische Aktivierung der Gesellschaft zielte. Dies zog ihn fast automatisch zu der „altständisch“ orientierten Faktion des Adels, ohne dass er mit diesen in vielen Punkten übereinstimmte.479 Motiviert waren seine jüngeren ständepolitischen Ansichten durch die Wut über das (neue) als selbstherrlich empfundene Beamtentum, und die von oben dekretierten Reformen Hardenbergs, die eben deshalb zum Scheitern verurteilt seien, weil sie nicht auf den Konsens eines maßgeblichen Teils der Bevölkerung bauen könnten, und „Freiheit“ durch „unfreie Mittel“ zu erzwingen suchten.480 Arnim thematisierte seine widersprüchlichen Erfahrungen und Lösungsversuche literarisch in seinen Erzählungen „Die Kronenwächter“ (1817) und „Landhausleben“ (1823/26).481 Sein Anliegen, eine neue Verbindung von Staat und Gesellschaft zu erreichen, gipfelte schließlich sogar in einem eigenen konkreten Adelsreformvorschlag von 1827. Dieser Adelsreformvorschlag wurde allerdings in seiner Entste-

Recht darauf wird auch oft dem Besten bestritten, und Verleumdung tödten die Zufriedenheit, welche der Emporgestiegene in seiner neuen Lage erwartete. Geträumt hat man viel von Gleichheit unter den Menschen. Gesetze sind verfaßt, die Gleicheit ward anbefohlen, und wie bald war sie gebrochen, ja! wie bald waren diejenigen, welche sie am ersten, am lautesten begehrten, auch wiederum diejenigen, welche sie zuerst vernichteten.“ GSTAPK I.HA Rep.100 Nr. 3787 (Verhandlungen der Immediat-Kommission betr. den Adel), „Ideen und Vorschläge zu einer neuen Adelsverfassung“, Ebd., Bl. 232-242v, hier Bl. 233. 479 Dabei setzte er sich jedoch für eine verstärkte Teilnahme des dritten Standes bei den Kreisversammlungen ein. Die allgemeine Ständegliederung, die Arnim vorschwebte, ähnelte auffällig den Vorstellungen, die 1817 der Graf v. Döhnhoff-Hohendorff in Ostpreußen skizzierte (vgl. unten): der gutsbesitzende Adel in einer ersten Kammer, der übrige Adel zusammen mit den bürgerlichen Rittergutsbesitzern, den Städtern und Bauern in die Zweite Kammer! Vgl, Knaack, Arnim, S. 68ff. 480 Knaack, Arnim, S. 29, 33. Das „schroffe“ Vorgehen Hardenbergs hatte schließlich die gesamte märkische Ritterschaft über die internen Meinungs- und Positionsunterschiede in der Ständefrage hinweg geeinigt, und sogar zu einem Bündnis mit der von der Ritterschaft mehrheitlich abgelehnten absolutistisch gesinnten „Hofpartei“ unter Ancillon, Wittgenstein und dem Herzog v. Mecklenburg getrieben, vgl. Müsebeck, Märkische Ritterschaft, Nr. II, S. 375. 481 Arnims schrieb „Landhausleben“ 1823, veröffentlicht wurde die Erzählung erst 1826. In ihrem Aufbau – unterschiedliche politische und gesellschaftliche Auffassungen werden durch bestimmte Personen „repräsentiert“ – gab sie womöglich das Muster für die zwanzig Jahre später verfassten „Gespräche aus der Gegenwart“ von Joseph v. Radowitz. Die Personenzuschreibungen ähneln einander, allerdings ist der bei Arnim als „neutral“ gezeichnete „Rittmeister“ nicht als alter ego des Autors zu verstehen, wogegen dies bei Radowitz’ „Waldheim“ der Fall ist. Vgl. Halbfass, Komische Geschichte(n), S. 221; Knaack, Arnim, S. 77ff.

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hungszeit und zu Lebzeiten Arnims offenbar keinem weiteren Kreis bekannt, fand dagegen kurioserweise zwanzig Jahre später Eingang in die Adelsreformauseinandersetzungen unter Friedrich Wilhelm IV.!482 Diesem Manuskript zufolge sah Arnim ganz ähnlich zu Marwitz allein in der Stärkung des Grundbesitzes die Möglichkeit, den Adel wieder aufzurichten. Nicht erst die französische Revolution und ihre Folgen, schon zuvor hätten das im ersten Ursprunge wohltätige, aber durch Missbrauch verderbliche Hypotheken- und Ritterschaftliche Kreditsystem „in der leichtsinnigen zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts“, sowie durch Beibehaltung eines „falschen veralteten Lehnsystems“ schließlich die Vernichtung aller Prägorativen des Adels (Steuerfreiheit) und allgemeinen Ruin gebracht. Doch der Edelmann müsse reich und mächtig dastehen, kräftig nicht nur in der „Kraft des Geistes und des Armes“, sondern auch des Geldes! (letzteres von Arnim unterstrichen). Er müsse aber auch „stationär“ sein, sein Vermögen nicht im Koffer haben, sondern als unverschuldeter Grundbesitzer dastehen. Deshalb sei nach dem käuflichen Erwerb eines Gutsbesitzes dieser zum „Majorat für den Nachfolger“ zu stiften, denn „der Güterhändler gehört nicht mehr als solcher zum Adel“. Wer die Liebe zur Scholle nicht habe, dem gehe der erste Grad des Patriotismus ab. Entgegen dem in der Literatur zu findenden Behauptung, dass das Arnimsche Führungs- und „Adligkeitsideal“ vor allem auf „Geschlechtsalter“ und „romantischem“ Sentiment gegründet gewesen sei, konzentrierte sich sein ausführliches Memorandum in sehr nüchterner Form auf die Stärkung des adligen Grundbesitzes,

482 Jürgen Knaak wies aufgrund von Schriftvergleichen diesen Adelsreformvorschlag als „eindeutig“ Achim v. Arnim zu und datierte das von ihm im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar eingesehene Manuskript auf ca. „1827“. Eine Abschrift dieses Arnimschen Adelsreformvorschlags wurde am 10. Oktober 1842 – mehr als zehn Jahre nach Arnims Tod – an die „Immediat-Kommission“ zur Behandlung der Adelsfrage übersandt. Der Übersender unterzeichnete nur mit „Arnim“, was eine Zuschreibung sehr erschwert. Um den damaligen Minister v. Arnim-Boitzenburg handelte es sich nach Schriftvergleich offensichtlich nicht. Hatte Achim v. Arnims Witwe Bettina diesen alten Adelsreformvorschlag übersandt? Der von einem Archivar des GSTAPK mit Bleistift und Fragezeichen vorgeschlagene „ArnimBlumberg“ scheint jedenfalls sehr unwahrscheinlich. Der Übersender (oder die Übersenderin) datierten die Entstehungszeit dieses Manuskripts jedenfalls auf „1828“ – vielleicht weil die Person erst ein Jahr nach der Entstehung der Schrift in deren Besitz kam? Der Übersender schrieb im Anschreiben zweideutig davon, dass „Diese anliegende Schrift,[...], schon im Jahre 1828 verfaßt, aber als nicht zeitgemäß von mir zurückgehalten“ worden sei! Da aber „Euer Königliche Majestät [...] seit Allerhöchstero Thronbesteigung dem Gegenstande ein williges Ohr zu verleihen geruht [haben], und wiewohl meine Ansichten darüber von manchen der jetzt herrschenden abweichen mögen, da ich wohl Festsetzung von Majoraten, jedoch bey mehreren Kindern, von nicht zu überschreitender Höhe wünsche, so sehe ich es dennoch als eine Pflicht an, meine Gründe für die Meynung, welcher ich anhänge, Euer Königlichen Majestät in tiefster Unterthänigkeit vorzulegen,[...]“. Vgl. GSTAPK I.HA Rep. 100 Nr. 3787 (Verhandlungen der Immediat-Kommission betr. den Adel), B. 231-231v: Anschreiben, unterzeichnet „v. Arnim“, Berlin 10. Okt. 1842; „Ideen und Vorschläge zu einer neuen Adelsverfassung“, Ebd., Bl. 232-242v.



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denn dieser sei Voraussetzung „jeder Respectabilität“.483 Arnim schwebte dazu die Überwindung des überkommenen lehensmäßigen Erbrechts zugunsten fideikomissähnlicher Erbordnungen vor. Die Bindung des Grundbesitzes an die Familie sollte mit seiner wirtschaftlichen Dynamisierung einhergehen. Bemerkenswert an Arnims Vorschlägen war, dass er entlang dieser neuen, tendenziell primogenitalen Erblinie eine binnenständische Differenzierung des Adels einführen wollte: ein „neuer“, höherer Adel mit den Prädikaten „Fürst“, „Graf“ und „Freiherr“ vererbe sich allein mit den (in der Regel) ältesten Erbsöhnen. Alle übrigen Kinder gehörten zum „zweiten Adel“ (mit dem Prädikat „von“). Dieser „hohe Adel“ umfasse zum einen „sämmtliche jetzt lebenden vaterlosen Edelleute“ mit oder ohne Grundbesitz, die ihren Adel von über 200 Jahren her datieren könnten. Damit hoffte Arnim seine neue Adelsordnung auch für den alten Adel akzeptabel zu machen. In diesen „hohen Adel“ könnten außerdem solche Edelleute eintreten, die in der Lage wären ein Majorat nach definierter Größe zu stiften. Außerdem sollte der König berechtigt sein, einzelnen Personen auf Lebenszeit diesen „hohen Adel“ zu verleihen (Personaladel). Die Söhne dieses definierten hohen Adels würden aber selbst nur zu diesem zählen, wenn sie Grundbesitz mit mindestens 6000 rt Reineinkommen vorweisen könnten. „Nachgeborene Söhne“ könnten im Erbfall eines solchen Gutes selbst wieder zum „hohen Adel“ aufsteigen. Einer zu hohen Besitzakkumulation durch diese Erbsöhne wollte Arnim vorbauen, indem die „Majorate“ in ihrem Umfang begrenzt würden, denn nicht nur besitzloser Adel, auch zu großer Landbesitz sei der „Landeskultur“ hinderlich. Diese im Brandenburgischen Adel durchaus verbreitete Ansicht wich deutlich von der z.B. in Westfalen (oder auch Großbritannien!) vorherrschenden Auffassung ab (vgl. unten). Würde ein Besitz über 12.000 rt Einkommen erzielen, so müsse das übrige Grundeigentum zum Allod werden, wovon sämtliche Schulden zu tilgen, bzw. die nachgeborenen Kinder auszuzahlen wären. Fehle ein solches Allod, sollten die nachgeborenen Kinder die Gutseinnahmen von zwei Jahren erben, die als Grundschuld in das Hypothekenbuch eingetragen würden, und für die der Gutsbesitzer jährlich 4 % Zinsen auszahlen müsste. Überhaupt waren Arnims äußerst detaillierten Bestimmungen hinsichtlich der Erbordnung, des Schuldendienstes, und der wirtschaftlichen Dynamisierung des Grundbesitzes aufgrund der eigenen Erfahrungen als Fideikommisserbe vor allem vom Anliegen bestimmt, auch den jüngeren Geschwistern eines Erbherrn ein standesgemäßes Auskommen zu sichern. Die von ihm monierten negativen gesellschaftlichen Folgen eines strikten Primogenitursystems, wie er es in Großbritannien zu beobachten meinte und in seiner Erzählung „Die Majoratsherren“ (1820) karikierte, nämlich die Teilung des Standes in „Magnaten“ und relative Habenichtse, wollte er unbedingt vermeiden.

483 Diesbezüglich ist der von Heinz Reif gegebenen Einschätzung von Achim v. Arnim als eines Protagonisten „enger, hartnäckiger, stur gesinnungstreuer, dogmatisch-religiöser Adelsrestauration und konservativ-religiös moralisierter Politik“ kaum zuzustimmen, vgl. Ders., Adelserneuerung, S. 221.

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Auch ein Bildungsprogramm verordnete Arnim dem neuen „hohen Adel“. Die männlichen Mitglieder desselben dürften nicht vor dem 24. Lebensjahr „majorenn“ erklärt werden (und damit das Gut erben dürfen). Um „Menschkenntnis“ zu erwerben sollten sie vielmehr nach ihrem Pflichtdienstjahr im Militär weiter im Militär- oder Zivildienst verbleiben, oder „sich auf Reisen befunden“ haben, um nicht zu einem „tyrannischen Unwissling“ zu werden.484 Eine erleichterte „Vermischung“ von Adel und höherem Bürgertum wollte Arnim dadurch befördern, indem adligen Töchtern zugestanden würde, nach ihrer Verheiratung mit einem Bürgerlichen ihren adligen Titel dem erheirateten Namen voranzustellen, um so wenigstens für die eigene Person dem Geburtsstand weiter zuzugehören.485 Nach Arnims eigenen Worten sollte dieses Programm also dazu dienen, die „dem königlichen Haus zunächst stehende Klasse reich und gebildet zu wissen, so daß der Thron stets an ihr einen festen Anhalt in Zeiten und Noth habe“, zugleich aber, dass dieser Stand nicht „Vorurtheilen fröne, die nicht mehr im Zeitgeist sind“, sich nicht „von den Verpflichtungen der anderen Klassen ausgeschlossen glaube“, und „durch Reisen belehrt, nicht wähne, „alles sei nur gut was er von Jugend auf gesehn“. Seine wirtschaftliche Unabhängigkeit solle diesen Stand zwar nicht vom Staatsdienst, aber von karrieremäßigem Ehrgeiz fernhalten und erlauben, im Sinne eines Allgemeinwohls zu agieren. Friedrich de la Motte Fouqué Mit Baron Friedrich de la Motte Fouqué (1777-1843) tritt uns eine weitere Spielart der extrem vielfältigen Adelspositionen aus der Kurmark entgegen. Da Fouqué als romantischer Dichter eine Schlüsselfigur der romantisch inspirierten „Adelsrenaissance“ in der Zeit der Befreiungskriege wurde, läge es nahe, ihn auch hinsichtlich seiner „Adligkeitsentwürfe“ den Anschauungen und der poetisch-idealistischen Vorgehensweise eines Achim v. Arnim nahestehend zu vermuten. Doch ist dies in keiner Weise der Fall. Friedrich de la Motte Fouqué war noch weit ausgeprägter ein Außenseiter als Arnim.486 Denn Fouqué entstammte zum einen dem erst im 18. Jahrhundert nach Preußen eingewanderten Refugié-Adel französischer Provenienz.487 Über seinen

484 Arnim selbst hatte zwischen seinem 20. und 24. Lebensjahr mit seinem Bruder eine umfangreiche Bildungsreise durch Europa unternommen. 485 Nach dem Allgemeinen Landrecht verloren weibliche Adlige die „persönlichen Vorrechte des Adels“ wenn sie sich mit einem Nichtadligen verheirateten und ihren Geschlechtsnamen änderten, vgl. ALR, 2. Teil, 9. Titel, § 84, in: Allgemeines Landrecht, hrsg. v. Hans Hattenhauer, S. 537. 486 Entgegen der Annahme von Jacob Baxa war Fouqué wohl auch nicht als romantischer Dichter und Schriftsteller z.B. in der salonartigen „Christlich-deutschen Tischgesellschaft“ Achim v. Arnims integriert, vgl. Arno Schmidt, Fouqué und einige seiner Zeitgenossen. Biographischer Versuch, (Bargfelder Ausgabe), Bargfeld 1993, S. 226. 487 Friedrich Heinrich Karl Freiherr de la Motte Fouqué, in Brandenburg an der Havel geboren, entstammte einer altadligen französischen Hugenottenfamilie. Fouqué wurde u.a. von dem unkon-



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Großvater, einen persönlichen Freund Friedrichs II., gewann seine Familie andererseits nicht nur großes Erinnerungsprestige, sondern auch dauernde hofnahe Kontakte. Zum eigentlichen Brandenburger Landadel waren seine familiären Beziehungen dagegen noch weit schwächer als die des „bürgerlich erzogenen“ Arnim. Nur als in die Familie Rochow eingeheirateter, nicht aus eigenem Erbe bestehender Gutsherr auf Nennhausen bei Rathenow im Havelland gelangte Fouqué vorübergehend in die Lebenswelt des ländlichen das eigene Gut bewirtschaftenden Adels. Doch für das Thema „Adelsreform“ ist seine Person in mehrfacher Hinsicht von eminenter Bedeutung. Zum einen beschäftigte er sich zeit seines Lebens intensiv mit den Möglichkeiten einer adligen Existenz in der nachständischen Gesellschaft. Der Weg den er dazu einschlug war die Poesie und Schriftstellerei. Über dieses nur vordergründig „unpolitische“ Mittel übte er einen erheblichen Einfluss auf den preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm (IV.) aus.488 Gar keine Beachtung fand in der Forschungsliteratur hingegen sein praktischer Anlauf in den frühen vierziger Jahren, als er die Adelsreformpolitik Friedrich Wilhelms publizistisch und organisatorisch begleitete und zu fördern suchte. Die an dieser Stelle vorgenommene Betrachtung seiner adelspolitischen Reflektionen zwischen 1808 und 1820 soll daher die Herkunft seiner späteren Ansätze vorskizzieren. Fouqués frühe „Adligkeitsentwürfe“ erweitern das vielgestaltige Brandenburger Muster um einen Vertreter des vorwiegend in Berlin und der Kurmark ansässigen Elements eines erst kürzlich heimisch gewordenen, sich mehr „preußisch“ denn als „deutsch“ empfindenden Refugié-Adels. Wie F. A. L. v. d. Marwitz und Heinrich v. Kleist hatte Fouqué sein lebensprägendes Bildungserlebnis im „verspäteten“ preußischen ancien régime des Basler Friedens mit Frankreich zwischen 1795 und 1806 erfahren. Die französische Revolution war ihm noch fast Kindheitserfahrung gewesen. Und wie Marwitz und Kleist machte

ventionellen Pädagogen der Frühromantik August Ludwig Hülsen erzogen. Vorbestimmt durch seinen Großvater, Henry Auguste de la Motte Fouqué (1698-1774), General der preußischen Armee und Freund Friedrichs II., trat er schon in sehr frühem Alter in die Armee ein. Mit siebzehn war er bereits Fähnrich und nahm am Rheinfeldzug von 1794 teil. Er diente danach als Leutnant im Kürassierregiment des Herzogs von Weimar in Aschersleben. Seit 1798 war er mit Marianne von Schubaert verheiratet, von der er sich 1802 scheiden ließ. Im selben Jahr trat er aus der Armee aus. 1803 heiratete er die ebenfalls geschiedene Schriftstellerin Caroline v. Rochow (geb. Briest), die Mutter von Gustav v. Rochow. Mit ihr lebte er auf deren Erbgut Nennhausen bei Rathenow im Havelland. Zwischen den Jahren 1808 und 1820 hatte Fouqué seine bedeutendsten dichterischen Erfolge. Sein größter Erfolg war die 1811 veröffentlichte „Undine“. 1813 trat freiwillig wieder in die Armee ein und nahm als Leutnant und Rittmeister bei den freiwilligen Jägern an den Befreiungskriegen teil. 1815 wurde er als Major verabschiedet. Nach dem Tode Carolines 1831 zog sich Fouqué von Nennhausen nach Halle/Saale zurück, wo er durch Unterstützung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm eine Stelle an der Universität antrat. 1833 heiratete er erneut, doch unstandesgemäß. 1841 kehrte er auf Einladung des nunmehrigen Königs Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin zurück. Weiteres zu seinen Lebensumständen siehe unten Teil III. Kap. 4.1. 488 Vgl. dazu unten Kap. 2.5.2.

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auch Fouqué seine Militärerfahrung um 1800.489 So ist es nicht verwunderlich, dass für das Gesellschafts- und Adelsbild Fouqués wie bei Marwitz das Kriegserlebnis von 1806 und die Herausforderungen der Niederlage zum prägenden Erlebnis wurden. Schon drei Jahre vor Marwitz setzte sich Motte Fouqué in seinem 1808 veröffentlichten „Gespräch zweier Preußischer Edelleute über den Adel“ mit den Möglichkeiten einer erneuerten „Adligkeit“ nach dem Zusammenbruch von 1806 auseinander. Ähnlich wie Achim v. Arnim in dieser Zeit, und anders als Marwitz wenig später, entwickelte Fouqué keinen eigentlichen Adelsreformplan. Auch beschäftigte er sich weniger mit den genauen geschichtlich-staatspolitischen Ursachen des Adelsverfalls in Preußen. Im Gegensatz zu Marwitz wie auch zu Achim v. Arnim sollte sich Fouqué niemals mit den politisch-rechtlichen Problemen einer neuen „Adligkeit“ beschäftigen. Dazu fehlten ihm offenbar nicht nur die Erfahrungen als tatsächlicher „Landstand“, d.h. politisch bevorrechteter Gutsbesitzer; zudem wäre auch danach zu fragen, inwiefern sein familiärer Hintergrund als Abkömmling der „Refugiés“ darin eine Rolle spielte – denn Fouqués früheste familial vermittelten Erfahrungshorizonte hatten ihn mit dem Erlebnis eines grundstürzenden Standes- und Positionsverlustes, eines dramatischen sozialen Bruches längst vertraut gemacht. Familiales Bewusstsein eigener „Adligkeit“ konnte bei den preußischen Motte Fouqués kaum mehr auf generationentief verankerten Grundbesitz, die Erfahrungen selbstverständlicher Elitenpositionen in Land und Provinz bauen.490 „Adligkeit“ konnte in dieser Familie für mehrere Generationen nur über ein ausgeprägtes Standesbewusstsein über die Zeit gerettet, und durch persönlich bestandene Leistungsproben neu begründet werden.

489 Die damalige Militärorganisation ließ dem (adligen) Offizierskorps während der Garnisonszeiten noch genug Zeit für private Weiterbildungen. Gerade um 1800 machten davon zahlreiche jüngere Offiziere Gebrauch. Durch diese Gelegenheiten konnten sie sich intellektuell mit den Folgen der französischen Revolution beschäftigen, ein nach- bzw. neuständisches Weltbild zimmern. Andererseits brachte sie das leicht in innere Konflikte mit den noch erlebten Formen des spätfriderizianischen Absolutismus und den Erwartungen und Hoffnungen der neuen Bildungsbewegung; dies äußerte sich deshalb gerade in Preußen häufig in Sinn- und Lebenskrisen, nach: Frie, Marwitz, S. 168-171. 490 Allerdings war Fouqué nicht durch das Testament seiner früh verstorbenen Frau „enterbt“ worden, wie Arno Schmidt behauptete. Neuere Forschungen weisen darauf hin, dass er freiwillig nach dem Tod Carolines auf sein Wohnrecht auf Nennhausen verzichtete, siehe dazu: Petra Kabus, Caroline Fouqué – geschlechtsspezifisch motivierte Ausgrenzungsmechanismen der literarischen Kritik am Beispiel von Arno Schmidts Fouqué-Biographie, in: Friedrich und Caroline de la Motte Fouqué. Wissenschaftliches Colloquium zum 220. Geburtstag des Dichters am 15. Februar 1997 an der FH Brandenburg. Hrsg. von Helmut Schmidt und Tilmann Spreckelsen, Brandenburg/H. (Hochschulforum. Brandenburger Tagungsberichte) 1998, S. 72-84, bes. S. 84. Ebenfalls Dies., „Die Feder in einer deutschen Frauenhand“. Caroline de la Motte Fouqué als Teilnehmerin an Kunstbetrieb und Geschlechtscharakterdebatte in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie als Exempel für geschlechtsspezifisch motivierte Ausgrenzungsmechanismen der literarischen Kritik, in: Petra Kabus (Hrsg.), Ausgewählte Werke. Caroline de la Motte Fouqué, Bd. 1, Erzählungen und Lyrik. Mit einer Einführung zu Leben und Werk der Autorin, Hildesheim 2003, S. 1-32, bes. S. 27ff. Für diese Hinweise danke ich Barbara Gribnitz, Kleist-Museum Frankfurt/O.



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Erklärt sich schon hieraus die in Vergleich zu Arnim noch weit entschiedenere „idealistische“, allein auf historisch-poetische Assoziationen und Vergegenwärtigungen setzende Vorgehensweise Fouqués, die in diskursiver Weise das Problem der „Adligkeit“ einkreiste? In seinen „Gesprächen“ unterhalten sich zwei preußische Offiziere unterschiedlicher generationaler Erfahrungshorizonte: der Ältere hatte im siebenjährigen Krieg, der zweite im ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich gekämpft. Ausgangspunkt der Betrachtungen wurde der bürgerliche Vorwurf einer vom Adel verschuldeten Niederlage von 1806.491 Die Namen der beiden Edelleute waren Programm: der Ältere, „Reinwart“ genannt, ist der erfahren vernünftig, souverän-klarblickende Betrachter, noch in den Selbstverständlichkeiten des ancien régime verwurzelt, der aus festen Erinnerungsbeständen Hoffnung für die Zukunft schöpfen kann. Der Jüngere, „Pilgram“, ist der irritierte Sucher, der Fouqués eigene verunsicherte Generation repräsentiert. Seinem eigenen Erfahrungshintergrund und der historischen Situation entsprechend entwarf Fouqué im Wechselgespräch dieser Edelleute ein extrem kriegerisch ausgerichtetes Adelsideal, das „mittelalterlich“ überhöht zum Ritterideal verklärt wurde: allein im „Lenker der übrigen Streitkräfte, ihres Erhalters und Versorgers, des Wachenden für Andere, des immer rastlosen Vertheidigers der Gränzen“ läge die Zukunft des Adels. In auffallender Parallele zu den Marwitzschen Überlegungen von 1812 sollte allein der Kriegsdienst zur Übernahme „adliger Güter“ qualifizieren. Allerdings wollte Fouqué die Pflicht zur Landesverteidigung sehr wohl auf alle Bürger ausdehnen, die dann, bei kriegerischer Bewährung und wenn sie für sich und ihre Nachkommen „lebenswierigen Kriegsdienst“ gelobten, umstandslos nobilitiert werden sollten. Ähnlich wie bei Arnim wurde eine „Adelung“ der ganzen Gesellschaft projektiert – denn würde sich die Mehrzahl der Nation „ritterlich“ beweisen, so fielen „die abgesonderten Ritter weg“: „Möge der Adel auf diese glorwürdige Weise recht bald verschwinden, oder vielmehr allgemein werden!“492 Bei militärischem Versagen sei dieser Adel wieder abzuerkennen, jedoch mit der Möglichkeit, bei sich bewährenden Nachkommen wieder aufzuleben. Doch im Gegensatz zu dem historisch auf viele kleine Burgen zersplittert lebenden „Ritteradel“ sei nun, unter den völlig anders gearteten militärisch-politischen Voraussetzungen, eine „Sammlung“ des Adels notwendig. Dieser Idee der „Sammlung“ sollte Fouqué sein ganzes Leben verpflichtet bleiben. Eine weitere „Innovation“ der Fouquéschen Forderungen bestand in der gewünschten Verbindung von wissenschaftlicher Bildung und Waffendienst in diesem „Krieger-Adel“ – wie er es ja selbst mit zahlreichen seiner jüngeren Offizierskollegen erfahren hatte. Ähnlich wie bei Achim v. Arnim diente bei Fouqué der Rekurs auf ein mittelalterliches Ritteri-

491 Vgl. Friedrich de la Motte Fouqué, „Gespräch zweier Preußischer Edelleute über den Adel“, Berlin 1808, S. 10. Siehe dazu auch oben Kap. 2.1. 492 Motte Fouqué, Gespräch, S. 16, 19.

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deal zur historisch-assoziativen Legitimation dieser geforderten Verbindung von Bildungskultur (Minnesang!) und Waffendienst.493 Auch das erneuerte paternalistische Verhältnis von Gutsobrigkeit und Gutsuntertanen sollte nicht wie bei dem versierten Gutsherrn Marwitz über spezifische gutsherrlich-paternalistische Praktiken, sondern vor allem über gemeinsame Waffenübungen erreicht werden.494 Diesen noch recht unsicheren ersten Versuch einer Neuorientierung führte Fouqué 1819 unter völlig veränderten politischen Umständen und mit einem durch die Befreiungskriege angereicherten Erfahrungsschatz weiter. Seiner dichterischen Berufung gemäß thematisierte Fouqué die Möglichkeiten eines neuen adlig-bürgerlichen Verhältnisses in Versform: in den 1819 veröffentlichten „Jägerliedern“.495 Sein Hamburger Verleger Friedrich Perthes hatte dieses Ansinnen sofort verstanden und nutzte seine im November 1818 erschienene Verlagsanzeige zu einer inhaltlichen Kritik:496 Fouqué habe die Motivationen der in dem militärischen Jäger-Corps handelnden Personen nach „Ständen“ geteilt: „ihre Ehr-Prinzipien [als] adelich, das Rechtsgefühl [als] bürgerlich“ charakterisiert. Diese Trennung wies Perthes scharf zurück. Er kritisierte außerdem die historische Zeichnung der (vor-reformerischen) Bauern als „frei“, und die Allgemeingültigkeit eines „Rittersinns“ für den ganzen Adel. Perthes empfahl für ein neues adlig-bürgerliches Verhältnis vielmehr die britischen Gesellschaftsverhältnisse, wie sie „in Staatsdiensten, wie in der Marine, als Gegenstück aufgeführt“ seien.497 Mit seiner Replik unter dem Titel „Etwas über den deutschen Adel, über Ritter-Sinn und Militär-Ehre in Briefen“ eröffnete Fouqué 1819 einen Briefwechsel mit Perthes. Darin trafen seine Adligkeits-Konzepte eines „idealistisch“ gesinnten „Adels-Kriegers“ auf diejenigen des dem Adel durchaus wohl gesonnenen Bürgerlichen Perthes. Durch die jeweilige Bezugnahme auf die Adelsschriften Mösers, Hallers und Rehbergs, die zusammen mit diesem Briefwechsel in einem Band veröffentlicht wurden, eröffnete diese Publikation einem breiteren zeitgenössischen Publikum einen so pointierten wie umfassenden Zugang zur „Adligkeitsdebatte“ nach 1815.498

493 Ebd., S. 22. 494 Ebd., S. 28. 495 Friedrich de la Motte Fouqué, Jäger und Jägerlieder. Ein kriegerisches Idyll, Perthes und Besser, Hamburg 1819. 496 Siehe zu den geschichtspolitischen Anliegen von Perthes auch: Dirk Moldenhauer, Geschichte als Ware. Der Verleger Christoph Friedrich Perthes (1772-1843) als Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung, (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe Band 22), Köln/Weimar/Wien 2008, bes. S. 301-307. 497 Die Anzeige der bei Perthes und Besser erschienenen „Jägerlieder“ war mit dem 30. November 1818 gezeichnet. 498 Friedrich de la Motte Fouqué, Etwas über den deutschen Adel, über Ritter-Sinn und MilitärEhre in Briefen von Friedrich Baron de la Motte Fouqué und Friedrich Perthes in Hamburg. Nebst Beilagen aus Möser’s, F. L. v. Haller’s und Rehberg’s Schriften, Hamburg bei Perthes und Besser 1819.



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Fouqué wies entschieden alle Ideen zurück nach britischem Vorbild in die deutschen Adelsverhältnisse einzugreifen, überhaupt den Adel eindeutiger an eine materielle Grundlage zu binden:499 unter dem Begriff des „Rittersinns“ oder „Rittergeists“ findet sich bei ihm eine konsequent „gesinnungsadlige“ Orientierung, wie sie sonst in dieser Zeit noch selten ist – selbst die monarchisch-staatsfunktional orientierten Rochows wie der Adels-Poet v. Arnim leugneten ja keineswegs die Bedeutung des Grundbesitzes für den Adel, und wünschten konkrete Maßnahmen zu dessen Stärkung. Bei Fouqué ist nichts mehr davon vorhanden: das „ausschließlich materiell Aufgefasste“ führe wohl immer nur zum „politischen Tode“. Deshalb schloss er auch die Dérogeance jüngerer oder ärmerer Adelsangehöriger, wie sie unter dem gutsgesessenen brandenburgischen Landadel durchaus in den Blick genommen wurde, strikt aus. Fouqué machte keinen Hehl aus seiner Absicht, über seine dichterische Arbeit den „Rittersinn“ als Grundlage einer neuen Adligkeit zwar nicht definieren, aber wohl umschreiben zu wollen, da dies die einzige Form der Darstellungsmöglichkeit sei. Ganz im Gegensatz zu Arnim löste Fouqué „Adligkeit“ also vollständig von allen materiellen wie auch staatsrechtlich-politischen Erwägungen, ja selbst von allen faktisch-historischen Bezügen; er suchte sie allein in bildreichen Anspielungen zu effizieren. Perthes erkannte dies klar, und in seiner Antwort vom 1. März 1819 warf er Fouqué vor, dass in seinen Betrachtungen nie das Wort „Kaiser“ oder „Reich“ vorkäme – worin habe dies wohl seinen Grund? Perthes scheute sich nicht, seinen Finger in die Wunde zu legen – die französische Familienvergangenheit Fouqués lasse diesem keinen Zugang zu den tatsächlichen politischen Herausforderungen Deutschlands finden: Einen ungeheuren Riß hat unsere Historie erhalten, ja wir hören auf, moralisch, historisch, politisch, ein Vaterland zu haben, wenn die Idee des Kaisers, nun wir keinen haben, nicht übergeht in ihrer Majestät auf Bundestag und Bundesversammlung und auf das, in Zeiten der Noth, hervorgehende Bundesheer – die Kraft dieser Majestät“. [...]. „Dir, mein theurer Fouqué! halte ich das Vergessen des Kaisers zu gut. – Deine ehrwürdigen Ahnen gehörten zur Fränkischen Chevalerie, waren keine Ritter des deutschen Reiches.500

Der fouquésche „Ritter-Sinn“ könne einen erneuerten Adel nicht tragen – dazu fehlten „Gestaltung“, ein „Institut“, nämlich das eigentliche „Ritter-Wesen“ in Gestalt von Ritterburgen und Gütern, ja der Ritter selbst – denn nur eines sei geblieben: der

499 Motte Fouqué, Rittersinn, S. 29f: „Und auch darin soll man die Geschichte ehren, und nicht das Eine Institut nach der Form des Andern modeln und umbilden wollen, wie man es wirklich schon in Deutschland, wo man sich gern nach fremden, namentlich englischen Formen zu richten pflegt, hin und wieder vorgeschlagen hat“. Dabei gehe der „eigentliche Rittergeist“ zu Grunde: von außen her eine solche Abänderung treffen, „hieße das Innere der Familien zerreißen“. In einer „Nachschrift“ vom 5. Mai 1819 verwarf Fouqué noch einmal die Zumutung einer „englischen“ Adelsreform: aufgrund seiner Erbordnung fehle England der „echte Rittergeist“, habe eigentlich kein „Adels-Institut“. 500 Motte Fouqué, Rittersinn, S. 58.

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Sporn, den trügen aber seit 1813 „wir alle“. Fouqués Rittertum liefe deshalb auf eine Reduktion des Adligen auf den „Militär-Adel“ hinaus.501 Der Erb-Adel als „Produkt der Natur“ habe zwar weiter Bestand, aber Fouqués Rittertum sei überlebt, weil es nur eine zeitliche Form dieses Adels war. In diesem Punkt traf sich Perthes mit der Argumentation Steins, der ja ebenfalls den faktischen „Gestaltwandel“ des Adels über die Zeit anerkannte, um eben in neuer Form den Kern des Adligseins erhalten zu können.502 Fouqués Kritik an Adelsreformideen als etwas „Künstlichem“, „Gemachtem“ hielt Perthes entgegen, dass Mösers, Hallers und Rehbergs Schriften Beleg und Gewähr dafür seien, dass sich vergleichbare Ansichten wie im englischen Adelswesen auch in Deutschland „im ‚Herausbilden‘ sind“ – also ihre eigene „geschichtliche“ Bildung und damit Legitimität aufwiesen!503 Im weiteren Fortgang der Auseinandersetzung schlug Perthes einen klaren bürgerlich-adligen Interessenausgleich vor: wenn der Nichtadel die Erhaltung des Glanzes der alten Adelsfamilien durch Schutz des „Erbgutes“ befürworte, sei es nur recht und billig, dass die nachgeborenen Adelssöhne mit ihrem Anspruch auf herausgehobene Stellen in Militär und Zivilverwaltung sich nicht „unendlich“ vermehrten. Zu deren Versorgung schlug Perthes die Öffnung neuer Berufsfelder als „standesgemäß“ vor: Kommerz- und Großhandel böten in Deutschland nicht so viele Chancen wie in England, aber warum sollte die Position eines Fabrik-Verwalters als sozial geringer angesehen werden als die eines Zoll-Verwalters? Auch die Berufe des Advocaten, des Arztes, des Geistlichen und des Gerichtshalter seien als standesgemäß zu betrachten. Nicht nur das englische Beispiel, auch der dänische und österreichische Fall zeigten, inwiefern adlige Anrede und Titulatur zugunsten eines flüssigeren gesellschaftlichen Austauschs flexibler gehandhabt werden könnten. Auf informellem Wege würden in Österreich (ganz wie in England) durch die gesellschaftliche Ausdehnung adliger Ansprache alle höherstehenden Personen gesellschaftlich mit dem Adel assoziiert, wogegen in Dänemark der Brauch herrsche, dass Offiziere und höhere Beamte sich informell das adlige „von“ zulegten und hoffähig würden, ohne dass deren Söhne dem Adel folgten.504 Ein adliges Privileg auf Offiziersstellen, wie es Fouqué offensichtlich vorschwebe, könne den Adel als Stand nicht sichern; außerdem gefährde ein allein militärisch gedachter Ehrbegriff dessen Demokratisierbarkeit, oder in den

501 Ebd., S. 68f. 502 Vgl. unten Kap. 2.4.3. 503 Motte Fouqué, Rittersinn, S. 80. In einem Anhang mit dem Titel „Bemerkungen eines Dritten“ waren die Anmerkungen des Mitherausgebers und Verlegers Besser zu den Perthesschen Argumenten abgedruckt. In Ergänzung der Perthesschen Forderung nach einer beschränkten Vererblichkeit des Adels schlug Besser vor, den Adel auch auf die erste Generation der grundbesitzlosen Kinder übergehen zu lassen, und erst auf deren Erben den Adel nicht weiter übergehen zu lassen – ein Vorschlag, der später ganz genau so als Kompromissformel in die Adelsreformdebatte des preußischen Vormärz Eingang finden sollte, vgl. Ebd., S. 110. 504 Motte Fouqué, Rittersinn, S. 81-84.



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Worten Perthes’: die Ausdehnung des „Rittersinns“ auf den zivilen Bereich. Die reine „Militär-Ehre“ über die Grenzen des zugehörigen Standes hinweg in die Gesellschaft zu übertragen sei aber „eine der Gefahren unserer Zeit“; Perthes wollte sie keinesfalls mit dem „Rittersinn [...] vermischt und verwechselt sehen [...]“ – denn dann könne auch „das Abscheulichste und Gemeinste gut gemacht werden – mit einem Duell“.505 Gegen diese Vereinseitigung müsse der Sozialwert eines umfassenden adlig-bürgerlichen Ehrbegriffs, welcher „Ehre ohne Furcht“ und den „rechtlichen sittlichen Charakter des Bürgers“ beinhalte, durch den Erhalt eines „Landes-Adels“ gesichert werden. Ein „Rittersinn, ohne feste Standes-Gestalt“ sei aber vergleichbar mit einer „Religion ohne Kirche“, und „wenn man uns auch für diese ‚sichtbare Welt Körper ohne Seele nachweiset, denn doch keine Seelen ohne Körper‘.“506 Dieser Briefwechsel belegt also, in welchem Ausmaß ein Spitzenvertreter des bürgerlichen Establishments und bürgerlicher Bildungskultur bereit war, dem (materiell gesicherten) Adel und der „Adligkeit“ eine soziale „preeminence“ einzuräumen. Zugleich zeichnete in diesem Meinungsaustausch ein Vertreter des brandenburgischen Refugié-Adels schon die Entwicklung eines schon völlig semantisierten „Adligkeits“-Begriffs vor – oder in den Worten von Perthes: einer „Seele“ ohne „Körper“ – der für weitere Adelskreise erst Jahrzehnte später wirklich akzeptabel werden sollte, und mit dem Fouqué noch in den 1840er Jahren auf starken Widerstand traf.507 Zum jetzigen Zeitpunkt um 1820 war Fouqué gerade auch inmitten der Adelsstimmen aus Brandenburg noch völlig isoliert. Grundbesitz und (z.T. mit dem Grundbesitz verbundene) Staatsfunktionen waren die noch absolut dominierenden Vorstellungsbestände einer erneuerten „Adligkeit“, auch wenn über deren Gewichtung und genaue politische Ausgestaltung große Uneinigkeit herrschte.

505 Diesen militärischen Ehrbegriff definierte Perthes folgendermaßen: „daß kein Zweifel am persönlichen Muth geduldet, daß jeder Anstrich von Feigheit durch That und Blut abgewaschen werde“. Der im Mittelalter entwickelte, durch das Christentum begründete „Rittersinn“ bestehe dagegen aus „Redlichkeit, Rechtschaffenheit, bürgerliche Unbeflecktheit, treues Wort, Ehrerbietigkeit gegen das weibliche Geschlecht“. Im Folgenden belegte Perthes den sozialen und praktischen Konflikt dieser beiden Ehrprinzipien mit historischen Beispielen aus den napoleonischen Kriegen: insbesondere das französischen Offizierskorps habe aufgrund seiner revolutionär veränderten Zusammensetzung einem rein militärisch verengten Ehrbegriff angehangen, und deswegen in besonderem Maße zu Kriegsverbrechen geneigt. Dabei bezog sich Perthes auf das Beispiel des Marschalls Davoust, dessen brutales Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung in der Umgebung Hamburgs das Thema zahlreicher zeitgenössischer Berichte und Schilderungen war, vgl. Motte Fouqué, Rittersinn, S. 87ff. 506 Motte Fouqué, Rittersinn, S. 94f. 507 Vgl. unten Teil III. Kap. 4.1.5. zur „semantisierend-historisierenden“ Adelsdeutung Fouqués in der „Adelszeitung“.

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Ostpreußen Gegenüber der ausgeprägten brandenburgischen Adelsfraktionierung zeigte sich der ostpreußische Adel deutlich geschlossener. Die Ausdehnung der politischen Partizipation, bzw. die ständische „Adelung“ weiterer gesellschaftlicher Gruppen konnte dort auf einen breiten Konsens bauen, die Tendenz einer „Gentryfizierung“ und die Aufnahme bürgerlicher Gutsbesitzer in der ständischen Vertretung wurde allgemein anerkannt und begrüßt – die breitere ständische Partizipationstradition dieser ostmitteleuropäischen Landschaft, die Marktimpulse während der Agrarkonjunktur im 18. Jahrhundert hatten bei diesem politischen Wandel mitgewirkt und traten sogar in latenten Konflikt mit den zentralstaatlichen Stützungsversuchen exklusiverer Ständestrukturen. Da hier schon in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ständepolitische Entwicklungen teilweise vorweggenommen wurden, die in der Gesamtmonarchie erst mit der Provinzalständeverfassung der achtzehnhundertzwanziger Jahre allgemeinverbindlich zum Tragen kamen, war z.B. das Grundbesitzkriterium als Voraussetzung ritterschaftlich-adliger Existenz weithin Konsens, wie auch die negativen sozialen Folgen bei Verlust desselben akzeptiert wurden.508 Die moderne Kredit- und Geldwirtschaft mit ihren Konsequenzen war hier weitgehend anerkannt.509 So sprachen sich eine Reihe von Gutachten aus den Kreisen der adligen Gutsbesitzer, die dem ostpreußischen ständischen Repräsentanten v. Brandt nach Berlin zugeleitet wurden, schon 1814 kritisch gegenüber einer staatlichen Stützungspolitik gegenüber hoch verschuldeten Gutsbesitzern aus.510 Ein Landtagsbeschluss vom 6. und 8. Februar 1808 hatte noch vor dem zentralen Reformgeschehen auch den Besitzern bürgerlicher Güter die Kreistagsfähigkeit eingeräumt, und setzte zugleich ein materiell-größen-

508  Vgl. die Zusammenfassung bei Neugebauer, Wandel, S. 486-493. Zum hohen Anteil bürgerlicher Rittergutsbesitzer vgl. die Zahlen bei Ebd., S. 287; Koselleck, Landrecht, S. 370, 507f, bes. S. 512. 509 Das Comité der ostpreußischen und lithauischen Stände, das in den Reformjahren als Vertretungskörperschaft der Provinz gegenüber der Regierung agierte, und mit v. Brandt einen eigenen Vertreter in Berlin hatte, zeigte sich gegenüber dem verschuldeten Grundbesitz sehr kühl, und sprach sich regelmäßig für die Interessen der Gläubiger aus, die durch den am 1. Januar 1808 von der königlichen Regierung ausgesprochenen Indult verletzt würden, welcher den Kredit der Gutsbesitzer doch nur unterminiere. Eine im Januar 1814 verfasste anonyme Denkschrift aus dem Kreis des Comités empfahl die Befriedigung der Gläubiger durch überlassene Staatspapiere und Bons und plädierte überhaupt für eine Kredithebung mit den üblichen Mitteln des Geldmarktes, vgl. die Denkschrift „Wie ist die Erhaltung des Landwirths in Preußen mit der Gerechtsame seines Gläubigers zu vereinigen?“, in: APO Comité der ostpreußischen und lithauischen Stände Nr. 104, VI-1, Bl. 71-78v. 510 Vgl. das Antwortschreiben des Landrates v. Morstein aus Quitten v. 28. Februar 1814 auf die Aufforderung des ostpreußischen Ständischen Comités sich zur Kredit- und Verschuldungsproblematik zu äußern. Die drei beiliegenden Denkschriften standen im Grundtenor gegenüber einer pauschalen Stützung aller Grundbesitzer skeptisch bis ablehnend gegenüber, siehe APO Comité der ostpreußischen und lithauischen Stände Nr. 104, VI-1, Bl. 28-47v.



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abhängiges Kriterium für diese Privilegierung fest – mindestens sechs „cullmische Hufen“ Umfang müsse ein solches „kreistagsfähiges“ Gut haben.511 Eine Verschmelzung von Adel und bürgerlichen Rittergutsbesitzern, bzw. städtischem Handelsbürgertum hat es in Folge zwar auch in Ost- und Westpreußen nicht gegeben. Aber es bildete sich eine gemeinsame adlig-bürgerliche politische Orientierung am Liberalismus aus, die auch noch lange nach der Reformzeit wirksam blieb.512 Und das englische Vorbild war nicht nur innerhalb der provinzial-preußischen Verwaltungsbeamtenschaft populär. Die Bezugnahme auf England war ein schon lange etabliertes Muster politischer Orientierung, das auch nach 1815 gültig blieb.513 Ohne Zweifel waren schon die oben ausgeführten neuständischen Pläne des Innenministers Dohna-Schlobitten von 1810 vom englischen Beispiel beeinflusst, wie er auch im Zuge der Verhandlungen um eine Provinzialständeverfassung gegenüber dem Kronprinzen 1822 eine Neuordnung der Adelsverhältnisse nach britischem Muster empfahl, ohne zu diesem späteren Zeitpunkt noch einmal so konkret wie 1810 zu werden.514 Dabei war dieser Liberalismus Ost- und Westpreußens keineswegs philanthropisch geprägt, sondern war an den Vorteilen der eigenen Gruppe orientiert und gutswirtschaftlich konservativ ausgerichtet – diesbezüglich waren die Positionen der Ostpreußen denen der Brandenburger durchaus vergleichbar. Und ganz ähnlich zu dem kurbrandenburgischen Ständeprotest um Marwitz erhoben die Abgeordneten der ostpreußischen und litauischen Kreise im November 1811 die Forderung, schon bei

511 Vgl. dazu auch GSTAPK Rep. 77 Tit. 489, Nr. 23 (Die Bereisung der Provinzen der Monarchie durch königliche Commissarien in ständischen Angelegenheiten im Jahre 1817 zur Ermittelung der früheren ständischen Verfassung derselben. 1818-1835), Bl. 68v. 512 Vgl. Herbert Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus. Zur regionalen Sonderentwicklung der liberalen Partei in Ost- und Westpreußen während des Vormärz, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 14. Jahrgang, 1988, S. 304-328, hier S. 307. 513 So z.B. verglich Alexander v. Dohna-Schlobitten um 1820 die preußischen und englischen ökonomischen Voraussetzungen, insbesondere die Ackerbauerträge, mit England als Referenzgröße, um sich gegen die Zumutungen des zentralstaatlichen Abgabenwesens zu wehren: „Da ferner die Anhäufung des Geldes und der lebhafte und gewinnbringenste Umlauf des Geldes dort so ganz anders ist als hier, da durch das britische Zollwesen alle 5 Weltteile besteuert werden so können auch die dortigen Abgaben scheinbar u. nominell höher zu seyn, ohne daß solches der That und Wahrheit nach der Fall wäre.“ Siehe: APO Dohna XXV/5/M/VI Nr. 4 Neu: 384/789 (Vergleich der preußischen und englischen Ökonomie 1820), Bl. 1. Und 1829 wurde England in Bezug auf eine notwendige Pressefreiheit als Voraussetzung eines lebendigen Ständelebens zitiert, vgl. Neugebauer, Wandel, S. 394. Vgl. allgemein zu dieser Orientierung: Hans Rothfels, Theodor v. Schön, Friedrich Wilhelm IV. und die Revolution von 1848, in: Schriften der Königsberger Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse, 13. Jahr, Heft 2, Halle (Saale) 1937, S. 91-303, bes. 102f; zu den „englischen“ Anschauungen unter den Ostpreußen auch Paul Herre (Hrsg.), Von Preußens Befreiungs- und Verfassungskampf, Berlin 1914, S. 50; starke „Verbürgerlichung“ der Gutsbesitzerschicht in Ostpreußen vgl. Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus, S. 306. 514 Vgl. P. M. von Dohna-Schlobitten über die preußischen provinzialständischen Verhältnisse an den Kronprinzen 22. Juli 1822, in: GSTAPK XX. HA, Rep. 300, Nachlass Esau (unverzeichnet).

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der Reorganisation des Staates als „Repräsentation“ der „Stimmen der Erfahrung“ berücksichtigt zu werden.515 Wie in Brandenburg und in den anderen verbliebenen preußischen Provinzen löste vor allem das Gendamerieedikt von 1812, das die Polizeigewalt auf dem Lande in die ausschließliche Kontrolle des Staates zu bringen versuchte, eine allgemeine Abwehrreaktion gegenüber den sich abzeichnenden Eingriffen der zentralstaatlichen Verwaltung in die gutsherrliche und kommunale Sphäre aus.516 Aber anders als im Kurbrandenburgischen bestand im provinzial-preußischen Adel über das Ziel einer ständepolitischen Partizipation gegenüber der Zentrale ein breiter Konsens, und auch darüber, dass zu deren Durchsetzung die Gruppe der bürgerlichen Gutsbesitzer (und selbst der frei-bäuerlichen Kölmer) miteinbezogen werden musste. Der Protest gegen das Gendamerieedikt vereinte ausdrücklich adlige und kölmische Gutsbesitzer.517 Auf dieser Grundlage hatten die adligen Gutsbesitzer schon nach 1806 gelernt, sich durchaus als Repräsentanten des „Allgemeinen“, als Vertreter „der Nation“ zu verstehen – und deshalb zu Konzessionen gegenüber ihren Mitständen bereit zu sein.518 Also ein ständisches Selbstverständnis, das Marwitz in „seinem“ Ständekampf für den brandenburgischen Adel erst noch durchzusetzen hoffte! Als im August 1814 Innenminister Schuckmann die Legitimität des Ständischen Comités als Vertretungskörperschaft der ostpreußischen und litauischen Stände grundsätzlich in Frage stellte, entspann sich über diese Frage ein erbitterter Kampf zwischen der Zentralbehörde des Innenministeriums und dem Comité.519 Auf Schuckmanns Vorwurf der „Ursurpation“ von Kompetenzen durch das Comité skizzierte der Landhofmeister v. Auerswald die Entwicklung dieser Einrichtung; diese habe schon vor der Reformpolitik mit ihren tagespolitischen ad hoc Entscheidungen eingesetzt

515 Vgl. das Schreiben vom 30. November 1811 an den König, in: APO Comité der ostpreußischen und lithauischen Stände Nr. 99, VI-46, Bl. 2-6v. Etwas zeitversetzt erging dazu ein ausführliches Pro Memoria der ständischen Bevollmächtigten der ostpreußischen und litauischen Kreise an Minister Kircheisen und Hardenberg, datiert 17. Dezember 1811, in welchem die Ständevertreter ihrer allgemeinen Enttäuschung über die Politik der von Hardenberg berufenen Nationalrepräsentation Luft machten, siehe: APO Comité der ostpreußischen und lithauischen Stände Nr. 99, VI-46, Bl. 7-26v. 516 Vor allem seit dem Frühjahr 1814, nach dem Sieg über das napoleonische Frankreich, brach eine Protestwelle gegen das Gendamerieedikt los, wobei das Ständische Comité durch die Kreise zur Koordination des Protestes aufgerufen wurde, vgl. APO Comité der ostpreußischen und lithauischen Stände Nr. 104, VI-1, Bl. 56-57v; 69-70v; 86; 87-88v; 90-91v. Siehe dazu auch Neugebauer, Wandel, S. 352f. 517 Vgl. das Protestschreiben des Mohrungschen Kreises vom Frühjahr 1814, wie Ebd., Bl. 90-91v. 518 Der pauschale Vorwurf von Nolte, dass die ostelbischen Stände grundsätzlich nicht in der Lage gewesen seien, sich zu einem solchen „allgemeinen“ Repräsentationsverständnis weiterzuentwickeln muss gerade in Hinblick auf die ostpreußische Situation zurückgewiesen werden, vgl. Ders., Staatsbildung, S. 89. 519 Vgl. Schuckmanns Schreiben vom 16. August 1814 und ein darauf antwortendes Pro Memoria des Landhofmeister v. Auerswald, Königsberg 5. September 1814, in: APO Comité der ostpreußischen und lithauischen Stände Nr. 70, VI-141, Bl. 50-55.



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und sei seither durch die Zentralbehörden faktisch anerkannt worden. Im Ergebnis müsse diese Einrichtung nun aufgrund fehlender periodischer Landtage eine Ersatzfunktion erfüllen.520 Schließlich wandte sich Dohna im Namen des Comités gegen Schuckmanns Versuche, diese Einrichtung aufzulösen. Seine diesbezügliche Denkschrift vom 20. Dezember 1814 entwickelte sogar eine allgemeine Forderung nach einer landständischen Verfassung, die nicht bloßes Produkt des „Geschäftszimmers“ sein dürfe. Provinzialstände seien als Ergänzung einer allgemeinen ständischen Versammlung notwendig, um den preußischen Staat, der aus den verschiedenartigsten Landesteilen – mit teilweise „entgegengesetzten Interessen“ (!) – „zusammengesetzt“ sei, repräsentieren zu können. Die ständische Entwicklung in Ostpreußen sei dafür vorbildlich durch die Ausdehnung auf alle Gutsbesitzer inklusive der Kölmer! Ausführlich begründete Dohna seine Forderungen mit Verweisen auf England, hob gerade den repräsentativen Charakter des englischen Parlamentarismus hervor und betonte die Pressefreiheit als ein wesentliche Voraussetzung und Säule desselben!521 Im gleichen Tenor richteten im Februar 1815 eine Reihe ostpreußischer Gutsbesitzer ein Schreiben an den König, der zu diesem Zeitpunkt auf dem Kongress in Wien weilte, mit der Bitte, den vom Innenminister ergangenen Erlass zur Aufhebung des ständischen Comités zurückzunehmen. Diese Intervention hatte offenbar Erfolg: Schuckmann lenkte im März 1815 ein, und erklärte sich mit den von Auerswald gegebenen Belegen für die Legitimität des Ständischen Comités vorerst zufrieden, d.h. bis zur Rückkehr des Staatskanzlers aus Wien!522 Vor diesem Erfahrungshintergrund lehnten die Rittergutsbesitzer in Ost- und Westpreußen die von der Zentrale im Zuge der Provinzialständegesetzgebung in den zwanziger Jahren angebotene Restaurationspolitik ab.523 Auch später fand eine zentralstaatliche Politik, welche die Unterschiede zwischen adligen und nichtadligen Gutsbesitzern wieder stärker betonen, bzw. speziell den adligen Grundbesitz einer eigenen Erbregelung unterwerfen wollte, keine Mehrheit. Dies zeigte sich anlässlich der 1837 dem Adel der Provinz Preußen (also Ost- und Westpreußen) vorgeschlage-

520  Vgl. Schreiben Schuckmanns vom 12. Oktober 1814 und Auerswalds Antwort vom 29. Oktober 1814 in: APO Comité der ostpreußischen und lithauischen Stände Nr. 70, VI-141, Bl. 57-58; 59-62. 521 Vgl. die Denkschrift Dohnas, datiert Königsberg 20. Dezember 1814, in: APO Comité der ostpreußischen und lithauischen Stände Nr. 70, VI-141, Bl. 65-77. 522 In diesem Schreiben betonten die Petenten einmal mehr, dass „der gewünschte Endzweck einer wahren Nationalität“ nicht durch die Zerschlagung einer gewachsenen Verfassung erzielt werden könne. Eine lediglich zentrale und „von oben“ eingeführte „Repräsentation“ würde nur die unterschiedlichen Interessen der Landesteile gegeneinander ausspielen. Die interimistische Repräsentantenversammlung habe das Vertrauen jedenfalls verloren, da keine Publizität erlaubt sei, die Generalversammlung in die Provinzialrechte eingreifen dürfe, und damit das bei der Huldigung gegebene Versprechen auf Achtung derselben gebrochen worden sei. Vgl. das Schreiben, datiert Königsberg 28. Februar 1815, in: APO Comité der ostpreußischen und lithauischen Stände Nr. 70, VI-141, Bl. 79-85. Die Reaktion Schuckmanns vom 14. März 1815 Ebd., Bl. 86. 523 Vgl. Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus, S. 309.

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nen Erbfolgegesetzgebung. Dabei hatten die preußischen Provinzialstände auf ihrem ersten Landtag von 1824 selbst darum gebeten, eine Revision der Erbfolgegesetze für die Landgüter des ersten Standes erfolgen zu lassen, um den finanziell zerrütteten großen Grundbesitz zu stützen und den Besitzern zu erhalten. Ziel sollte es sein, Verschuldungsgrenzen zu setzen, die Dispositionsbefugnis des Erblassers einzuschränken und den Erbanteil der Witwen zu begrenzen.524 Zugleich sollte eine solche revisionierte Gesetzgebung dazu dienen, die provinzialen Rechtsgrundsätze „dem deutschen Recht zu nähern“. Der König überließ die Beratungen über diesen Gegenstand zunächst den Kreistagen als Bestandteil der Revision des Provinzialrechts. Doch bevor es zu einer Entscheidung kommen konnte, beantragte der vierte preußische Provinziallandtag, in scheinbarem Widerspruch zu dem früher geäußerten Wunsch nach einer Erbfolgeordnung, die Aufhebung des „ius terrestre nobilitatis Prussiae“.525 Diese Aufhebung hätte die erbrechtliche Gleichstellung der Töchter mit den Söhnen und die freie Dispositionsbefugnis des Besitzers zur Folge gehabt!526 Die Regierung ließ nun diese beiden widersprüchlichen Anträge gemeinsam in den Kreistagen beraten, wobei sich zeigte, dass fast alle Kreistage eine Erbfolge nach den Bestimmungen des ALR mit Hinzunahme einiger Modifikationen nach dem ostpreußischen Provinzialrecht präferierten, ausgerechnet aber die westpreußischen Kreistage sogar allein die Bestimmungen des ALR ohne Modifikationen anwenden wollten. Bei den Beratungen um die Revision des Provinzialrechts sprachen sich die Deputierten von Ostpreußen und Litauen für die Ersetzung des „nicht mehr zeitgemäßen“ adligen Erbrechts durch eine fidikommissähnliche Sukkzessionsordnung aus. Nach dem aber über die Details der „Successionsart“ keine Einigung erzielt werden konnte, und aus Westpreußen noch andere Vorschläge neuer Erbordnungen gemacht wurden, erließ der König am 7. September 1836 eine Kabinettsordre über die Ausarbeitung eines Erbfolgegesetzes, um die durch die territoriale Zersplitterung und durch wiederholte historische Rechtswechsel extrem heterogene Rechtssituation in der Provinz zu homo-

524 Da nach Provinzialrecht Gütergemeinschaft in der Ehe bestand, hatten die Witwen Anspruch auf die Hälfte des gesamten Nachlasses. 525 Das „ius terrestre nobilitatis Prussiae“ galt in Westpreußen, den ehemals polnischen Palatinaten Marienburg und Pomerellen. 526 In einer undatierten Denkschrift kritisierte Ludwig v. Gerlach diesen Beschluss des vierten preußischen Provinziallandtages dahingehend, dass dieser die ganze neu-ständische Politik der Regierung konterkariere und diskreditiere, die ansonsten Fideikommisse begünstige, Parzellierungen beschränken will, Teilen des rheinischen Adels seine Autonomie wiedergab, den westfälischen Bauernstand konservieren wolle, und ein Erbfolgegesetz für die Rittergüter in Preußen in Vorschlag brachte! Die grundlegende Absicht der Regierung, „den persönlichen Adel mit dem Grundbesitz in Verbindung bringen wollen“ (Hervorhebung G. H.) werde dadurch unterlaufen, vgl. „Über die Aufhebung der Jus terrestre nobilitatis Prussiae“, in: Nachlass Voß-Buch, Karl Graf v., I. HA Rep. 92 (M), Nr. 27 (Denkschriften von Carl v. Voß, Leopold und Ludwig von Gerlach 1826-45), Bl. 69-75v.



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genisieren.527 Dieses Ansinnen, das den Hauptteil des immobilen Vermögens in der Hand eines Erben geben wollte, und primogenitale Tendenzen zu befördern suchte, wurde aber von den Rittergutsbesitzern teils aus Konfusion über das politische Ziel abgewiesen, teils, weil sie der generellen gesellschaftspolitischen Tendenz seit dem späten 18. Jahrhundert widerstrebte.528 Auf dem 6. Preußischen Provinziallandtag wurde 1837 ein Komitee zur Bearbeitung dieses Gesetzesvorschlages gebildet. Das Gutachten dieses Komitees wie auch zwei eingegangene ausführliche Denkschriften zeigen deutlich die Vorbehalte, ja die teilweise stark emotionale Ablehnung dieses Gesetzesvorhabens.529 In allen drei Stellungnahmen überwog die Sorge vor einem zu starken Abschluss der Sozialstände voreinander und einer Schädigung des Gütermarktes. Während das Komitee noch grundsätzlich die Wünschbarkeit eines gestärkten Rittergutsbesitzerstandes in Hinblick auf eine „reichsständische“ Verfassung hervorhob, stellten die beiden eingereichten Denkschriften die zu erwartenden finanziellen Nachteile dieses Gesetzes für den Kredit der Güter und der wirtschaftlichen Dynamik ins Zentrum ihrer Kritik, begleitet von einer scharfen moralischen Ablehnung der intendierten Familienverfassung. Gerade der überregionale Gütermarkt käme zum Erliegen, und „ehrgeizige Ökonomen und Landwirte“ hätten keinen Zugang mehr zum Gütermarkt. Außerdem sei das Gesetz ungerecht gegenüber den Witwen und geringer erbenden Kindern.530 Der zweite Denkschriftenbeiträger, Ernst Sartorius v. Schwanenfeldt richtete zugleich eine scharfe Konsumkritik an den Adel: Sparsamkeit und Betriebsamkeit seien die besten Mittel zur wirtschaftlichen Konsolidierung, der Adel habe eine zu starke Neigung zum „Verzehr“ gehabt. Und das Staatswohl reg-

527 Die damalige Provinz Preußen umfasste auch ehemals polnische Gebiete, sowie Teile, die zuvor der Neumark zugehörig waren. Außerdem war das polnische Teilungsgebiet über die Zeit immer wieder verschieden definierten preußischen Landesteilen zugewiesen worden: Neuostpreußen und Südpreußen, Posen und Ostpreußen. 528 Vgl. den Gesetzentwurf zu einer Erbfolgeregelung für die Provinz Preußen in: APO Provinziallandtag Nr. 269, V-3, Bl. 5-9v. Dabei auch die „Motive zu dem Entwurfe eines Gesetzes über die Erbfolge in Rittergütern in der Provinz Preußen und dem Lauenburg-Bütowschen Kreise“, Ebd., Bl. 10-21. Dieses Erbfolgegesetz sollte nur da eintreten, wo nicht durch Lehnsordnungen oder Fideikommissstiftungen schon Erbbestimmungen bestanden (§ 22). Der Nachlasser sollte den Erben weiterhin frei bestimmen bzw. von den Erben selbst ausgemittelt werden können. Nur wenn dieses nicht erfolgen sollte, würden die gesetzlichen Vorgaben im Sinne einer Primogenitur im Mannesstamm greifen (§ 7). Mehrere Güter sollten unter mehrere Erben verteilt werden, um Besitzkonzentrationen zu vermeiden (§  8). Miterben konnten einen wegen Verschuldung notwendigen Verkauf nicht hindern, wenn sie zuvor von ihrem Vorkaufsrecht nicht Gebrauch gemacht hatten – damit war eine begrenzte Dynamisierung des Gütermarktes vorgesehen (§ 14). 529 Vgl. das Gutachten in: APO Provinziallandtag Nr. 269, V-3, Bl. 134-145v. 530 Die eine Denkschrift, datiert Königsberg vom 4. März 1837, stammt von dem Landtagsdeputierten Busse/Königsberg, die zweite, undatiert, von Ernst Sartorius v. Schwanenfeldt, Abgeordneten für Westpreußen, vgl. APO Provinziallandtag Nr. 269, V-3, Bl. 93-112v; 117-132v. Schwanenfeldt veröffentlichte die Grundgedanken seiner Denkschrift noch im selben Jahr in der Zeitschrift „Der Planet“, siehe unten Teil III. Kap. 4.1.5.

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uliere sich am besten über einen freien Markt von Gütern in den Händen wohlhabender Besitzer. Um einen für den Staat vorteilhaften kräftigen Ritterstand zu bilden, sei es ausreichend die Matrikel der Rittergüter aufzuheben, und die Standschaft an einen bestimmten Güterwert zu binden. Die durch die Gesetzgebung von 1807 angestoßene „segensreiche Verschmelzung“ der verschiedenen Stände würden durch das vorgeschlagene Gesetz aber konterkariert. Die gesellschaftspolitische Motivation hinter diesem Erbfolgegesetz wurde in dieser Provinz offenbar nicht mehr verstanden, bzw. rundheraus abgelehnt.531 Das Gutachten des Komitees wie die kritischen Denkschriften nahmen jedenfalls schon das Unverständnis und den Widerwillen vorweg, die in den provinzialständischen Verhandlungen über diesen Gesetzesvorschlag offen hervortreten sollten: dass dieses Gesetz offenbar den Schutz bestimmter gutsbesitzender Familien, und nicht die Sicherung des Gutsbesitzerstandes zum Ziel habe!532

531 Die „Verwirrung“ über genaues Ziel und Zweck des Erbfolgegesetzes schilderte am 2. Mai 1837 Theodor v. Schön dem Kronprinzen in einem Schreiben: „Dem Entwurf des Gesetzes war weder eine bestimmte Richtung mitgegeben, noch war sie aus dem Gesetze zu abstrahieren. Daher war die Verhandlung ein vages Besprechen. Einige fassten den staatswirtschaftlichen Gesichtspunkt, und das war der Gesetzentwurf allerdings schädlich. Andere den richtigen landespolizeilichen, und da konnte man nicht begreifen, weshalb das Gesetz sich nicht auf alles Grundeigentum beziehe und weshalb man nicht zunächst die Quelle aller Verschuldung, das Hypothekenwesen, sukzessive hemme und der Landschaften Macht ein Ziel setze. Wieder andere nahmen den politischen Gesichtspunkt auf, und da entstanden wieder die Fragen: Soll der Adel wie er ist dadurch eine Stütze erhalten, sollen die jüngeren Söhne als Edelleute ohne alle Mittel in der Welt herumirren? Oder soll eine Pairschaft gebildet werden? Im ersten Falle sah man teils, dass die beabsichtigte Stütze keine Stütze sein könne, teils dass hier mehr zu tun war als bloß auf diese Art zu stützen. Im zweiten Falle fehlten alle Vorbereitungen und Einleitungen zu einer Pairschaft. Dazu kam noch, dass ein Mitglied des Landtages (vermutl. Alfred v. Auerswald, oder Kurt v. Bardeleben, G. H.) den heutigen Stand des ersten Standes mitunter mit grellen Farben schilderte und nicht sagte, was nun werden sollte und wie der Adel als heutiges notwendiges Element des Staates, wurzelnd im öffentlichen Leben, mit der Garantie des Grundeigentums gehörig konstruiert und basiert werden könne und müsse, und dass dies einige sehr aufregte. Alles dieses war aber in den Köpfen höchst dunkel und verworren, und so entstand eine so totale Konfusion der Ansichten und Meinungen, dass ich es als ein großes Glück betrachte, dass es zu keinem Entschluß über das vorgelegte Erbfolgegesetz gekommen ist.“ Vgl. Rothfels, Schön, S. 210f. 532 Vgl. zu diesen Vorgängen die Sitzungsprotokolle des Provinziallandtages von 1837 in: APO Provinziallandtag APO Provinziallandtag Nr. 300,V/3-269. Der Ausschuss zur Beratung des Erbfolgegesetzes war einstimmig der Meinung, „daß es wünschenswert sei, daß nur ein Erbfolge-Gesetz in den Landestheilen die unseren Provinzial-Verband bilden, eingeführt und hierbei kein Unterschied gemacht werde, ob das Gut in den Händen der Personen Adl.Standes oder anderer sei.“ Deshalb schlug dieser Ausschuss vor, gleich in der Einleitung statt der Worte: „eine, die Erhaltung der Güter in den Familien sichernde Erbfolge pp“ zu ersetzen durch: „eine die Erhaltung kräftiger Grundbesitzer sichernde pp, indem nicht sowohl eine Erhaltung der Güter in gewissen Familien, als überhaupt ein kräftiger Grundbesitzerstand dem Staatswohl förderlich sei.“ Entsprechend sollte auch der § 3 des Gesetzes statt „Erhaltung der Güter in den Familien“ die „Erhaltung kräftiger Grundbesitzer“ postulieren, vgl. Ausschussverhandlungen v. 25. Febr. 1837, Bl. 28-31.



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Dieser Erfahrungshintergrund bis 1806/8, bzw. dieser nach 1815 die bürgerlichen wie kölmischen Grundbesitzer miteinschließende sozialpolitische Konsens mag dazu beigetragen haben, dass eigentliche Adelsreformvorschläge aus dem ostpreußischen Adel weniger prominent geäußert wurden, als dies z.B. in Brandenburg der Fall gewesen war – es bestand dazu einfach geringere Notwendigkeit: eine (begrenzte) ostpreußische Adelsreform hatte in gewissem Sinne und konsensual ja schon 1808 erzielt werden können!533 So betonte das schon erwähnte Mitglied der Klewitz-Altensteinschen Verfassungskommission Beyme, dass nur „vereinzelte Stimmen“ eine abgesonderte Beratung des „ersten Standes“ wünschten, und hob hierbei den diesbezüglichen Antrag des Grafen v. Dönhoff-Hohendorff hervor.534 Dieser Graf Dönhoff auf Hohendorff war Beyme durch den Oberpräsidenten v. Auerswald als Informant über die ständischen Verhältnisse empfohlen worden. Graf v. Dönhoff-Hohendorff wurde schon 1811 durch die Kreise als Deputierter des Landes gewählt, nachdem das ostpreußische Ständekomittee im Januar des Jahres beschlossen hatte, den vom Hof (Hardenberg) nach Berlin gerufenen Notabeln eigene Vertreter zur Seite zu stellen. Dönhoff-Hohendorff hatte aber abgelehnt, und statt seiner reiste der Landschaftsrat v. Bergfeld nach Berlin.535 Diese Episode zeigt aber, dass Dönhoff-Hohendorff als kompetenter Ständevertreter Ansehen genoss.536 Allerdings repräsentierte DönhoffHohendorff den konservativen, „alt-ständischen“ Flügel, der sich, anders als DohnaSchlobitten, bezüglich der ständischen Neuordnung auf die Provinz beschränken wollte, und eine zentrale Repräsentation fürchtete.537 Verglichen mit der Brandenburgischen Situation scheint der Stände- und Adelsreformvorschlag von Dönhoff-Hohendorff daher eher konservativ motiviert, nämlich zur Stabilisierung, nicht Dynamisie-

533 In den frühen 1820er Jahren wies Dohna-Schlobitten auch die Idee einer adligen „Sammlungspolitik“ in Form einer Adelskette mit der politischen Begründung zurück, dies schwäche die Position des Adels als Repräsentanten der Provinz gegenüber der Zentrale, vgl. Kap. 4.2.2. 534 So sprach sich der ostpreußische Gutsbesitzer Friedrich Heinrich Johann v. Fahrenheid um 1820 in seiner Reaktion auf das Werk „Regent und Volk“ ausdrücklich gegen eine adelsständische Binnendifferenzierung und einem darauf aufbauenden „Herrenhaus“ aus: in Preußen habe der Adel keineswegs die Stellung wie die Pairs in England! Vgl. GSTAPK Nachlass Lotte Esau, Karton Nr. 6, Mappe 2 (zitiert nach STA Königsberg Dep. v. Fahrenheid 1101 fol 95-103). 535 Vgl. Neugebauer, Wandel, S. 237. 536 In seinem Bericht vom 21. April 1818 berichtete Beyme von diesem hohen Ansehen Dönhoffs in der Provinz: „Nachdem ich […] den Ersteren [Dönhoff, G. H.], der Kränklichkeit wegen nicht zur Stadt kommen konnte, auf seinem Gute selbst besucht und bei dieser persönlichen Bekanntschaft alles das Gute bestätigt gefunden, welches von diesem durch allgemeine Achtung ausgezeichnete Mann, von allen Ständen gerühmt wird. Er hat seine Ansichten in den anliegenden Aufsatz wird wie scheint eben so gemüthlich als geistvoll entwickelt. […]“, vgl. GSTAPK Rep.77 Tit. 489, Nr. 23 (Die Bereisung der Provinzen der Monarchie durch königliche Commissarien in ständischen Angelegenheiten im Jahre 1817 zur Ermittelung der früheren ständischen Verfassung derselben. 1818-1835), Bl. 74v. 537 In einer Petition an Hardenberg vom 21. März 1815 hatte Dönhoff vom „wahrhaft heilsame(n) Provincialismus“ gesprochen, vgl. Neugebauer, Wandel, S. 272.

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rung, der sozialen Ständeordnung, die in Ostpreußen ja schon deutlich flüssiger als in anderen preußischen Provinzen war, und die Dönhoff wieder stärker akzentuieren wollte. Nach Dönhoffs Meinung war auch das Problem der Einrichtung neuer Provinzialstände keineswegs identisch mit der „Adelsfrage“. In seiner Denkschrift behandelte Dönhoff diese beiden Themen denn auch getrennt.538 Trotzdem wollte Dönhoff den Adel nicht seinem Schicksal überlassen. Rhetorisch stellte er sich in seinem Memorandum Eingangs die Frage, ob ein Erbadel „fernerhin haltbar in der Staatsgesellschaft sey, oder nicht“? Als Amerikaner würde er über diese Frage „eben so urtheilen, wie Franclin über den Cincinatus Orden“.539 Denn es sei nicht „abzusehen, was für einen Zweck die Erschaffung eines Erbadels in einem neuentstehenden Freystaate haben sollte, der ihn bisland nicht kannte, und seiner nicht bedarf“. Das Ausmaß der hier geäußerten Defensive ist bemerkenswert. Nur noch historisch, als gegebene Tatsache sei die Existenz eines „Erbadels“ zu begründen: entweder man wolle den Adel als diese historisch gewachsene Tatsache erhalten, dann müsse er sinnvoll unterstützt, in seiner Würde herausgehoben werden. Oder man erachte den Adel als überflüssig: dann solle, falls man darin lediglich ein Mittel der persönlichen Verdienstauszeichnung sehe, ein bloßer persönlicher Rangadel diesem Zwecke ausreichend sein – ein solcher wäre keine Zielscheibe von Spott und Kritik durch die Öffentlichkeit. Wie Adolf v. Rochow einige Jahre darauf forderte Dönhoff

538 Vgl. zu diesen Vorgängen den Bericht Beymes vom 21. April 1818 in: GSTAPK Rep.77 Tit. 489, Nr. 23 (Die Bereisung der Provinzen der Monarchie durch königliche Commissarien in ständischen Angelegenheiten im Jahre 1817 zur Ermittelung der früheren ständischen Verfassung derselben. 18181835), Bl. 55-74v: Darstellung der ostpreußischen ständischen Verfassung in ihrer Entwicklung durch Beyme; Empfehlung Auerswalds Bl. 74v; Adelsreformvorschlag Dönhoff-Hohendorffs Bl. 87-102; projektierte Provinzialstände von Dönhoff-Hohendorff Bl. 102-110v. 539 Im Originaltext ein Stern mit Anmerkung: Siehe den Teutschen Beobachter vom 9ten Sept. 1817 Nr. 339. Welcker kritisierte später in seinem „Staatslexikon“ ebenfalls eine auf rein geburtsrechtlich erworbene Begründungen bauende Adelsapologetik mit dem Verweis auf Franklin, der in der Zeit der Gründung der amerikanischen Union die damals diskutierte Einführung eines erblichen Verdienstadels verhinderte: „Der außerordentliche Mann [...], wusste, dass im leidenschaftlichen Parteistreit ein directer Gegenkampf die Gegner nur mehr erbittert und hartnäckiger macht, statt sie zu entwaffnen. Plötzlich aber, als sei es nur zufällig, ging von Hand zu Hand ein scheinbar blos vertrauliches Schreiben des alten Weisen an seine Tochter, in welchem er, bei aller Anerkennung jener Verdienste, höchst gemüthlich erörterte, ob es nicht vielleicht vernünftiger sei, bei Ausdehnung des Verdienstes und seines Lohnes über die einzelne Persönlichkeit hinaus, so wie bei den Chinesen, rückwärts zu gehen und die Eltern für die gute Erziehung zu lohnen [...]. Wolle man aber den Nachkommen Vorrechte blos wegen ihrer Abstammung von einem verdienten Vorfahren gebe, so berechnete er, wie viel verdientes Blut, nach Vermischung desselben mit fremden unverdienstlichem, im Laufe mehrerer Generationen in den Adern der Nachkommen [...] noch übrig bliebe. [...]. Bald circulierten Hunderte von Abschriften des geistvollen Briefes, zuletzt Abdrücke in ganz Nordamerika, und verloren war in der öffentlichen Meinung der Erbadel der Cincinnatus-Ritter.“, vgl. Carl Welcker, „Adelstheorie (praktische)“, in: „Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, hrsg. v. Carl v. Rotteck und Carl Welcker, 1. Band, 1845, S. 317f.



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eine erneuerte soziale Privilegierung des Adels, da sonst die Paradoxie herrsche: „Es soll einen Stand in der Staatsgesellschaft geben, den die Geburth begünstigt – diesen Stand soll die Geburth nicht begünstigen. Welch denkendes Wesen kann sich gutwillig einem solchen Widerspruch ergeben?“ Doch anders als z.B. Marwitz und überhaupt die meisten Brandenburger beschäftigte sich Dönhoff nicht allein mit der Frage einer funktionsständischen Neuausrichtung des Adels, sondern zugleich mit der Möglichkeit, „Adligkeit“ auf bürgerliche Gruppen zu übertragen. Das Medium hierfür sollte einerseits die „Bildung“ sein, andererseits aber auch die allgemein gewordene Militärdienstpflicht. Eine solche allgemeine Wehrpflicht lehnte Dönhoff für den Adel wie für das gebildete Bürgertum gleichermaßen zwar ab – wie sie ja auch schon für die ehemals bürgerlichen „Eximierten“ (von Dönhoff als „Rang-Adel“ bezeichnet) nicht bestanden habe – dieses Privileg der Befreiung von der Militärdienstpflicht solle auch in Zukunft für alle „gebildeten Classen der StaatsBürger gesichert werden“, denn Zwangsgesetze seien nur für ungebildete Classen nötig, wie die Befreiungskriege gezeigt hätten. Adel wie höheres Bürgertum sollten vielmehr freiwillig und gemeinsam militärisch dienen, und zwar in eigens dafür geschaffenen Einheiten. Die in den Befreiungskriegen neu aufgestellten Korps freiwilliger Jäger seien hierfür vorbildlich und sollten „in ihrer ganzen Reinheit erhalten und weiter ausgebildet“ werden. Diese „Chöre gebildeter junger Leute, die jedem Regimente beygesellet waren“ hätten wie nichts anderes auf den guten Geist der Armee gewirkt. In solche Einheiten als Gemeiner einzutreten sei auch für den Edelmann nicht schändlich. Dagegen sei es entwürdigend, etwa „mit dem Reitknecht seines Vaters in Reihe und Glied zu braten; oder solche Menschen seinen Cameraden zu nennen, die sich durch Rohheit und Mangel an Bildung auszeichnen“. Bei einer solchen Mischung gewänne leicht „das Unsittliche über das Sittliche die Oberhand“. Dagegen sollten auch in Friedenszeiten wenigstens in den größeren Städten „Chöre freywilliger Jäger“ aufgestellt werden, in die als „Edel-Chöre“ nur dem Gebildeten Einlass zu gewähren sei. Durch die Reformgesetzgebung, die den Erwerb „adliger“ Güter nicht mehr dem Adel vorbehielt, sei der Adel als Geburtsstand allerdings vernichtet – und für die Gegenwart und ihren „Zeitgeist“ sei die Wiederherstellung dieses Privilegs undenkbar.540 Deshalb sah Dönhoff allein in einer „völligen Wiedergeburth“ als sozialer Formation nach englischem Muster eine Chance für den Adel – ähnlich wie Achim v. Arnim wollte auch Dönhoff nicht einen einzigen lebenden Adligen von diesem Stand

540 Nur in einem Punkt hielt Dönhoff die Reformgesetzgebung ohne großen öffentlichen Widerstand revidierbar: die Juden betreffend hätte sich die „öffentliche Meinung in Preußen hinreichend ausgesprochen“; und es sei „ohne Zweifel“ mit dieser übereinstimmend, daß „der Gütherbesitz nicht dem Schachergeist der Juden Preis gegeben werde.“ Der Güterbesitz würde die Juden ja dem „eigentlichen“ Volke „einverleiben“ – das sei aber unmöglich so lange sie Juden blieben: „Die Rechte der Menschheit müssen ihnen zu Theil werden wie jedem Sohne Adams, aber nicht die Rechte des deutschen Volkes.“

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ausschließen („auch der Säugling nicht“). Doch müsse sich dieser Adel einer strengen Probe seiner Berechtigung zum „ächten teutschen Adel“ unterziehen; in Zukunft solle die „grenzenlose Vermehrung“ durch die Einführung der Primogenitur verhindert werden: Eine Nachahmung der englischen Sitte scheint mir hier erlaubt, ungeachtet sie uns bisher fremd war; weil wir hier einen der wenigen Punkte sehn, wo eine aus den ZeitUmständen hervorgegangene Nothwendigkeit eine neue Schöpfung erheischt; in welchem man sich nach dem besten Muster umsieht.

Ganz ebenso wie Marwitz wollte er „nach Altteutschem Geiste“ den Adel fest an den Grundbesitz binden. Desweiteren schlug Dönhoff eine binnenadlige Differenzierung vor, welche im Grunde an die überkommene Form landständischer Privilegierung anknüpfte – adlige landständische Privilegierung würde erst aus dem Zusammentreffen von „dinglicher“ und „persönlicher“ Bevorrechtigung hervorgehen. Nach diesem Muster wollte Dönhoff den gutsgesessenen Adel und die bürgerlichen Rittergutsbesitzer wieder stärker scheiden, indem zwei Kategorien landständischer Repräsentation gebildet würden: die erste oder eigentliche „Ritterschaft“ bestünde aus adligen Besitzern „adliger“ (also historisch bevorrechteter) Güter; ein zweiter Stand, unter dem Namen des Landadels, fasste die nichtadligen Besitzer adliger Güter sowie solche Adlige zusammen, die wiederum auf „nichtadligen“ Gütern (z.B. ehemaligen Domänengütern) ansässig waren – denen also entweder die „persönliche“ oder die „dingliche“ Berechtigung zur historischen Landstandschaft fehlte. Zur Aufnahme in die „erste Ritterschaft“ qualifizierten also der Erbadel, der aber zugleich durch ausreichend großen Grundbesitz unterstützt werden müsste. Bei Nobilitierungen sollte deshalb möglichst ein „verfassungsmäßiger Grundsatz“ die Dotation, eine „königliche Mitgift“ an Gütern vorschreiben, ähnlich, wie dies faktisch ja schon in den Fällen der ausgezeichneten Blücher, Yorck, Bülow und Kleist geschehen sei. Die Einführung von Ehrengerichten, die ihren Sitz in der Hauptstadt einer jeden Provinz hätten, mit Verzweigungen in jedem Kreis, und über Aufnahme und Ausschließung der Mitglieder dieser Ritterschaft zu bestimmen hätten, sollten als soziales Privilegierungsmittel „die Ritterschaft als ein Chor wahrhaft edler Männer dar[...]stellen, und ihre halb verlorene Achtung ihrer Mitstände wieder erwerben“ helfen. Selbst dieser singuläre, zudem äußerst konservativ motivierte Adelsreformvorschlag aus Ostpreußen berücksichtigte also die schon erfolgte sozialständische Öffnung in dieser Provinz, wollte diese nur „hegend“ und kontrollierend weitergeführt wissen. Dieses Konzept repräsentiert überhaupt eines der wenigen Beispiele, in denen direkt und mit konkreten Vorschlägen die Ausdehnung adliger Wertmuster auf das gehobene Bürgertum propagiert, gezielt eine adlig-bürgerliche „composite-elite“ ins Auge gefasst wurde.



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Westfalen Ganz ähnlich wie im altpreußischen Adel Brandenburgs und Ostpreußens fand sich im äußersten Westen der Monarchie, in den auf dem Wiener Kongress neu hinzugewonnenen preußischen Provinzen des Rheinlandes und Westfalens, eine ständepolitisch äußerst aktive Adelsfaktion.541 Diese wollte die noch unentschiedene ständepolitische Situation zwischen 1815 und der Einführung der Provinzialständeverfassung ab 1823 zu einer politischen Neupositionierung des Adels nutzen. Eine regelrechte Petitionswelle zugunsten einer neu einzurichtenden Verfassung ging anlässlich der Besitzergreifungspatente Preußens an den Rheinlanden nicht nur aus dem Adel, sondern auch aus dem Bürgertum hervor, wobei das königliche Verfassungsversprechen vom 22. Mai desselben Jahres wie in den übrigen preußischen Provinzen eine entscheidende Rolle spielte. Die verfassungspolitischen Vorstellungen blieben aber ungenau und die intensivsten Auseinandersetzungen auf Westfalen beschränkt.542 Die Idee vom Adel als einem sozialen Vorbild für die weitere Gesellschaft (und nicht nur als funktions- und herrschaftsvermittelnde Formation) sollte gerade in Westfalen eine bedeutende Rolle spielen, doch ganz anders als in Ostpreußen wurde dies zugleich mit dem Konzept eines gestärkten, extrem standesexklusiven und selbstreferentiellen Adelsselbstverständnisses propagiert. Nicht durch soziale Vermischung, sondern durch eine durch Reichtum abgesicherte hohe Sozialkultur wollte hier die Mehrheit des Adels nicht nur administrativ-politisch, sondern auch symbolisch hervorgehoben die Sozialwerte der Gesellschaft „verkörpern“ und vorleben. Doch im Gegensatz zur Zersplitterung der brandenburgischen adelspolitischen Suchbewegungen fällt die Geschlossenheit vor allem des katholisch-westfälischen Pendants sofort ins Auge. Vor dem Hintergrund seiner vorrevolutionären Erfahrungen erstrebte insbesondere der rheinisch-westfälische Adel seine neue Rolle in einer neuständischen Verfassungsordnung durch eine akzentuierte Abgrenzung gegenüber dem Bürgertum und mit erheblichen Mitspracheansprüchen gegenüber dem Staat. Dieser Adelsfaktion blieb die preußische Monarchie aufgrund ihrer Rolle in den Säkularisationsereig-

541 Diese rheinisch-westfälische Ritterschaft ist entscheidend durch die Geschichte zwischen 1794 und 1815, also durch Revolution und französische Besatzung, geprägt und geformt worden. Während der rheinische Hochadel ausnahmslos emigrierte, hatten sich dort auf den älteren ständehistorischen Grundlagen (reichsunmittelbare und landsässige Ritterschaft) zwei deutlich voneinander abgehobene Adelslandschaften mit hoher Binnenhomogenität gebildet, vgl. Christoph Dipper, Der rheinische Adel zwischen Revolution und Restauration, in: Adel im Wandel. Vorträge und Diskussionen des elften Symposions des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde Horn, 2.-5. Juli 1990, hrsg. v. Helmuth Feigl/Willibald Rosner (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde, Band 15), Wien 1991, S. 91-116, hier S. 92. 542 Die Besitzergreifung von Münster-Westfalen und den Herzogtümern Cleve, Berg, Geldern, des Fürstentums Moers und der Grafschaften Essen und Werden datierte auf den 5. April 1815 (siehe Gesetzsammlung 1815, S. 21 u. 23). Vgl. zur Verfassungsbewegung Carl Heiner Beusch, Adlige Standespolitik im Vormärz: Johann Wilhelm Graf von Mirbach-Harff (1784-1849), Münster/Hamburg/London 2001, S. 53f; Weitz, Der Niederrheinische und Westfälische Adel, S. 62f.

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nissen von 1803 noch lange fremd. Der damalige Verlust zahlreicher Privilegien und seiner eindeutigen Stellung als politischer Führungsgruppe der Landschaft konnte und wollte dieser Adel nicht vergessen. Dazu kam der Konfessionsgegensatz bedeutender Adelsteile; außerdem wollte Preußen trotz seiner tendenziell adelsfreundlichen Politik nach 1815 von den Ergebnissen der Revolutions- und Reformjahre nicht abrücken, weder Steuer- und Stempelfreiheit, noch die Abschaffung der persönlichen Unfreiheit (der Bauern) und die Ablösung der grundherrlichen Gefälle rückgängig machen.543 In dieser Situation fand hier der Freiherr v. Stein einen jüngeren westfälischen Mitstreiter, hinter dem er selbst aus dem Hintergrund seine verfassungspolitischen Vorstellungen nach 1815 weiter verfolgen konnte. Bei diesem herausragenden Vertreter der westfälischen Adelsbewegung handelte es sich um den Freiherrn Johann Wilhelm v. Mirbach-Harff (1784-1849).544 Mirbach hatte Stein auf dem Wiener Kongress kennengelernt, und unter der Führung Steins schlossen sich im Frühjahr und Sommer 1817 weitere Adelsvertreter aus Jülich, Berg, Kleve und Mark zusammen, um in einer großen Denkschrift die Verfassungsvorstellungen an den König gelangen zu lassen.545 Auch hier wirkte Stein einmal mehr als Initiator und Koordinator für ansonsten zuvor nicht abgestimmte und unklare politische Initiativen des Adels. Seit November 1814 hatte sich Mirbach, zusätzlich angeregt durch die Gründung der „Adelskette“ auf dem Wiener Kongress, deren Zeuge (jedoch nicht Mitglied) er wurde, mit dem Plan eines „Adelsbundes“, einem „Bund der Edlen“ befasst, der die politische Führung in den deutschen Staaten übernehmen sollte.546 Parallel zu seinen einsetzenden allgemein ständepolitischen Aktivitäten im Januar 1816 fasste Mirbach zusammen mit Stein seine adelspolitischen Vorstellungen im Januar/Februar 1816 in der Denkschrift „Erste Idee zur Vereinigung des Adels“ zusammen. Dabei stand er auch unter dem Einfluss seiner westfälischen Mitstände Graf Friedrich Ludwig v. Solms-Laubach (der Vertraute Hardenbergs auf dem Wiener Kongress, und spätere Oberpräsident von Westfalen) und Werner v. Haxthausen, die ihrerseits Mitglieder der Wiener „Kette“ waren, bzw. darin eine zentrale Rolle spielten. Im Gegensatz zum Projekt der Wiener „Kette“ zielte Mirbach von Anfang an auf eine dezidiert handlungspolitische Rolle des Adels in der Standes- und Verfassungspolitik.547 Wenn er kritisierte, dass die „herrlichsten Entwürfe zur eigenen

543 Reif, Westfälischer Adel, S. 202f. 544 Als enge Mitarbeiter Steins und Mirbachs gehörten zu diesem Kreis noch Franz Anton Graf v. Spee (1781-1839) und Johann Franz Josef Graf v. Nesselrode-Reichenstein (1755-1824). 545 Beusch, Standespolitik, S. 77f. 546 Vgl. allgemein zu der auf dem Wiener Kongress gebildeten Adelsvereinigung „Die Kette“ unten Teil III. Kap. 4.2.1. Die Liste der westfälischen Mitglieder der Wiener „Kette“ findet sich abgedruckt in: Horst Conrad, Die Kette. Eine Standesvereinigung auf dem Wiener Kongress, Münster 1979, S. 64f. 547 Mirbach gehörte nach Christoph Dipper einer wesentlich ideologisch denkenden jüngeren Generation dieser Adelslandschaft an, die in Gegensatz z.B. zu dem älteren Edmund Graf Kesselstatt nicht



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moralischen Erhebung“, durch eine Rückbesinnung auf „ächtes Ritterthum“ nur dann nutzbar zu machen wären, wenn „die neue Verfassung uns wieder eine feste bestimmte, unserem Stand würdige Stelle im Staat angewießen“ habe, dann grenzte er sich deutlich von den vornehmlich sozial-kulturellen Vorstellungen eines Werner v. Haxthausen zu einer Adelserneuerung ab. Anders als für den Mitinitiator der Wiener „Adelskette“ Haxthausen stand für Mirbach nicht die kulturell-gesellige Funktion einer Adelsreorganisation im Zentrum des Interesses, sondern dessen politische Mitwirkung im Staat.548 Tatsächlich spielte allein im Einflussfeld der Brüder Haxthausen die Romantik bei den Versuchen adliger Neupositionierung in Westfalen eine gewisse Rolle, Mirbach wie die Mehrheit des westfälischen Adels entschied sich anders.549 Zugleich erfolgte die politische Rechtfertigung für die neu-alte Führungsposition als Herrschaftsstand in dieser Adelslandschaft weiterhin über eine alt-adlige Substratvorstellung von einer Auslese besonderer politisch-ethisch-religiöser Tugendeigenschaften im Adel, und nicht etwa über eine Funktionszuschreibung über Monarch oder gar Staat. Und während sich Werner v. Haxthausen auch Gedanken über die jenseits der Standesgrenzen zu erzielende Ausstrahlung und Integrationsleistung einer neuen „Adligkeit“ machte, behielt Mirbach in seinem politischen Ständeentwurf allein die Interessen des Adels im Blick. Für eine mögliche Einbindung der übrigen Stände in seine neuständischen Gesellschaftsentwürfe interessierte sich Mirbach kaum. Der von ihm geführte Adelskreis war also vordringlich restaurativ gestimmt, und argumentierte wesentlich aus einer „Mentalität der Anrechtswahrung“.550 In völlig anderer Weise als der brandenburgische Adel setzte Mirbach dazu auf das montesquieusche Konzept vom Adel „eines Mittlers zwischen Thron und Volk“. Zwar habe der Adel den König und Thron bis zum „letzten Blutstropfen“ zu verteidigen, doch solle er zugleich den Monarchen, wie auch seine eigene gesellschaftspolitische Position, nur als „Theil des Ganzen“ erkennen, dem er, der Adel, allein völlig verpflichtet sei. Wie ein „Freund zweier Familien“ solle der Adel zwischen Nation und König stehen.551 Dies klang erheblich distanzierter und anspruchsvoller gegenüber der monarchischen Position als selbst die Marwitzschen Ideen einer adelsständischen Mitverantwortung für den Gesamtstaat. Für diese herausragende Stellung sollte sich der Adel als erblicher Landstand vor dem Eintritt in die Korporation allerdings durch

mehr ausschließlich restaurativ-besitzstandswahrend dachte, vgl. Ders., Der rheinische Adel, S. 100. So führte Mirbach in seinen Ideenskizzen die zeitgenössische Einflusslosigkeit des Adels auf dessen moralisches Versagen zurück. Eine neue Standesethik, abgesichert durch einen Ehrenkodex, könne der Adel aber nur durch die Übernahme einer klar definierten rechtlichen und politischen Stellung, gegründet auf Grundbesitz und Geschlecht, im Staat wieder neu entwickeln, vgl. Weitz, Der Niederrheinische und Westfälische Adel, S. 69 und Beusch, Standespolitik, S. 64f. 548 Vgl. zu Werner v. Haxthausen und seinen genaueren Anliegen unten Kap. 4.2. 549 Reif, Westfälischer Adel, S. 449-450, bes. Anmk. 57; Dipper, Der rheinische Adel, S. 101. 550 Reif, Westfälischer Adel, S. 203. 551 Beusch, Standespolitik, S. 115f.

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Kriterien wie eine gezielte Erziehung und Ausbildung in landeskundlichen Kenntnissen, ja selbst durch eine Prüfung seiner Fähigkeiten qualifizieren müssen.552 Allerdings wollte Mirbach sein Anliegen keineswegs auf den rheinisch-westfälischen Adel beschränken. Schon 1816 erkannte er die Notwendigkeit einer Vereinigung adliger Interessen über die alten Landschaftsgrenzen hinaus, strebte er eine organisatorische Vereinigung des gesamten preußischen Adels an. Dass für ein solches Vorhaben die überkommenen unterschiedlichen Rechtsverhältnisse von alt- und neupreußischem Adel ein schier unüberwindliches Hindernis darstellen würden konnte er sich nicht verhehlen. Dafür war Mirbach bereit, den „neupreußischen“ Adel an die Rechtsverhältnisse des altpreußischen anzugleichen.553 Freiherr v. Stein und die ständisch-adlige Verfassungsbewegung In den Auseinandersetzungen mit Mirbach und seinem westfälischen Umfeld traten schließlich auch die adelspolitischen Vorstellungen des Freiherrn vom Stein deutlicher hervor, als dies in seiner Zeit als aktiver Reformpolitiker der Fall gewesen war. Doch auch für diese Phase bleiben die historiographischen Bewertungen seiner Ansichten widersprüchlich und oft nicht schlüssig: handelte es sich bei ihm nun um einen „Liberalen“ oder um einen „Konservativen“, oder doch um einen Liberalen der nach 1815 konservativ geworden war?554 Dieses Problem widerspiegelt die allgemeine Schwierigkeit, „liberale“ und „konservative“ Haltungen im 19. Jahrhundert scharf auseinander zu halten.555 Der Grund für diese Unsicherheit liegt in den unterschiedlichen Maßstäben der Autoren für „liberal“ und „konservativ“ begründet: Stein wollte die ständische Gliederung der Gesellschaft und den Adel grundsätzlich erhalten, was von einigen Autoren als konservative Position bewertet wird;

552 Diese Leistungsideale wurden dem rheinisch-westfälischen Adel vor allem durch „outsider“ wie dem einflussreichen katholischen Konvertiten Grafen Leopold v. Stolberg und der Fürstin Gallitzin vermittelt, die überregionale Erfahrungen und Kontakte ins Spiel brachten. Leopold v. Stolberg hatte in verschiedenen Schriften das Ideal des „katholischen Edelmannes“ entworfen: Standessolidarität für alle, kein Adelsverlust für Individuen, Aufnahme bürgerlicher Tugenden und Wissensstandards in den adligen Leistungskanon, Verzicht auf individuelle Erb-, Ehe- und Berufsansprüche, Engagement für Andere. Die westfälischen Stände empfahlen, ihre Eingabe zur Begutachtung an diesen „Experten“ in Fragen einer adligen Neupositionierung zu geben (vgl. Weitz), vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 210. 553 Beusch, Standespolitik, S. 66. 554 Vgl. die Zusammenfassung dieser widersprüchlichen Einschätzungen Steins selbst in der neueren Forschung: Hundt, Stein, S. 60-61. Die Forschung widerspricht sich entweder (Gerhard Ritter: Stein ist Liberaler; dagegen Werner Gembruch: ein altständischer Konservativer), Gerhard Ritter, Stein; Werner Gembruch, Freiherr vom Stein im Zeitalter der Restauration, Wiesbaden 1960. Oder man versucht sich in eine Entwicklungserklärung zu retten: z.B. Paul Nolte: Steins Ansichten im Übergang zum zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts werden „konservativer und moderner zugleich“, vgl. Ders., Stände, S. 142f. 555 Dazu allgemein Wahl, Beiträge. Wahl ordnete Stein als Konservativen ein, S. 553: doch die Kriterien dieser Zuordnung bleiben zweifelhaft – insbesondere Steins angebliche „Staatsorientierung“.



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aber zugleich wollte Stein den Ständen Mitsprache und sogar Entscheidungsgewalt in einer parlamentarisch-repräsentativen Form gegenüber dem „Staat“ einräumen (liberal-fortschrittlich).556 Stein wandte sich gegen den sich „ausdehnenden Staat“ und einen autokratischen „Sultanism“, doch lehnte er andererseits eine Adelsopposition ab, die sich als gleichrangig mit dem König verstand, wie dies teilweise Marwitz, aber weit ausgeprägter seine westfälischen Mitstände behaupten wollten.557 Ebenso saß Stein in der Frage der Nobilitierungen und der Ausdehnung der „Adelsfähigkeit“ zwischen allen Stühlen: gegenüber den Ständeplänen Niebuhrs und Rehdigers hatte er sich gegen eine zu großzügige Definition von „Adligkeit“ ausgesprochen.558 Doch die allein auf den bestehenden Adel abhebenden Pläne Mirbachs und seines Kreises westfälischer Adliger lehnte er ebenso ab. In der Auseinandersetzung mit seinem jungen, extrem konservativen ständischen Mitstreiter Mirbach traten die privilegienkritischen und dynamischen Aspekte der Steinschen Adelsideale besonders deutlich hervor –  eine von allgemeinen verfassungspolitischen Zielen losgelöste, blos privilegiensichernde Reorganisationspolitik lehnte er ab.559 Stein wollte die von Mirbach gewünschte politische Rolle des Adels mit Haxthausens Ansätzen einer sozial-kulturellen Aufgabenzuweisung verbinden: politische Arbeit, lokale Herrschaft und Reorganisation als soziale Erinnerungsgemeinschaft plus sozial-kulturelle Leistungen für Andere sollten die adligen Handlungsfelder der Zukunft werden! Für die gemeinsame publizistische Tätigkeit in der westfälischen ständischen Bewegung bedienten sich Stein und Mirbach des studierten Mediziners und Gymnasialdirektors in Koblenz, Dr. Christian F. Schlosser (1782-1829), der aus einer bekannten Frankfurter Familie stammte.560 Auf den 1812 zum Katholizismus konvertierten

556 Aus diesem Grund wäre gegenüber Paul Nolte einzuwenden, dass sich Stein eben deshalb nach 1815 den Positionen eines Marwitz anzunähern schien, weil bezüglich einer neuen Form der ständischen Repräsentation Marwitz eben nicht altständisch dachte, vgl. oben zu Marwitz. 557 Vgl. Hundt, Stein, S. 67f; „Sultanism“ in einem Brief Steins an Marschall, Anfang Juli 1814, in: Stein, Briefe, Fünfter Band, S. 49f. Über die Gleichrangigkeit des Adels mit dem Monarchen führte Stein eine Kontroverse mit Adam Müller (Brief 14. März 1817) in: Ebd., S. 598f. 558 Niebuhrs Vorschlag einer neuen „Adligkeit“ nahm in auffälliger Weise schon zentrale Lösungsvorschläge der Adelsreformdebatte des Vormärz vorweg: konsequente Nobilitierung von Besitzern bevorrechteter Rittergüter insofern diese einen definierten Offiziersrang (Stabsoffizier) oder Rang im Zivildienst erreicht hätten; siehe dazu auch Teil II. Kap. 3.3. u. Stein, Briefe, Sechster Band, Stuttgart 1965, S. 42-45 (Reaktion auf Denkschrift Niebuhr Februar/März 1819), S. 103-106 (Reaktion auf Denkschrift Rehdiger Juni 1819). 559 Zu Steins Positionen in den niederrheinisch-westfälischen Auseinandersetzungen um eine Provinzialständeordnung 1817/18 siehe Weitz, Der Niederrheinische und Westfälische Adel, S. 80-114. Außerdem Schreiber, Humboldt, S. 135ff. Zu den anders gearteten adelspolitischen Vorstellungen Steins zu Mirbach vgl. Carl Heiner Beusch, Standespolitik, S. 85f, S. 97f. 560 Zu Schlosser vgl. Beusch, Standespolitik, S. 89-91. Siehe ebenso Weitz, Der Niederrheinische und Westfälische Adel, S. 84ff u. 277, Anmk. 33. Anders als der extrem karriereorientierte, teils opportunistische Adam Müller, der im Umkreis des kurmärkischen Adels vergleichbar publizistisch tätig wurde, gesteht Weitz der schriftstellerischen Arbeit von Schlosser uneigennützige Motive zu, vgl. Ebd., S. 88.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

Schlosser wurde Stein über dessen publizistische Tätigkeit aufmerksam.561 Den letzten Anstoß zu seiner Berufung als Redakteur der westfälischen Adelsbewegung bildete Schlossers im Frühjahr 1817 veröffentlichte Schrift „Ständische Verfassung, ihr Begriff, ihre Bedingung“, worin er für eine Dreistände-Gliederung der Gesellschaft und das Grundeigentum als unterscheidendem Merkmal eintrat. Schlossers Ständestaatstheorie offenbart eine geistige Nähe zu den Ideen Adam Müllers; ausgerechnet diese beiden bürgerlichen (!) Autoren nahmen gegenüber ihren adligen Mitstreitern deutlich „starrere“ und „rückwärtsgewandte“ Positionen ein. Die von Stein z.B. gewünschte politische Emanzipation bürgerlicher Gruppen suchte Schlosser völlig auszuschließen.562 Auf der Basis der Steinschen Zuarbeiten verfasste Schlosser eine Denkschrift zur Rolle und erwünschten Verfassung des Adels, welche die „große Denkschrift“ des westfälischen Adels über die überkommenen ständischen Verhältnisse ergänzte, die am 26.2.1818 an den Staatskanzler in Engers überreicht und zugleich gedruckt wurde.563 Darin war es Stein gelungen, seine Adelsvorstellungen gegenüber Mirbach und seinen konservativen Anhängern (im Kreis des sog. „Düsseldorfer Komittees“) weitgehend durchzusetzen:564 der Adel sollte durch „ernste Zucht und Bildung,

561 1816 hatte dieser J. Fiévées „Über Staatsverfassung und Staatsverwaltung“ aus dem Französischen übersetzt. 562 Christian Friedrich Schlosser, Ständische Verfassung, ihr Begriff ihre Bedingungen, Frankfurt a. M. 1817. Nur in allgemeinen Worten umschrieb Schlosser darin die Rolle des Adels in einer solchen neuen Ständeordnung. Den Adel führte Schlosser in einer einleitenden historischen Darstellung aus Grund- und Dienstadel hervorgegangen zurück (S. 36-47). Wie dessen Verhältnis sich in Zukunft gestalten solle, ob vielleicht auch ein persönlicher Adel eingeführt werden solle, und inwiefern der „unbedeutende und besitzlose Adel mit dem dritten Stande könne verbunden werden“, dafür sei in dieser Schrift nicht der Platz. Überhaupt könne eine Adelsreform nur in „örtlicher und historischer“ Berücksichtigung diskutiert werden, und dürften selbst nicht da „erwogen werden, wo es bloß um Entwicklung allgemeiner Begriffe zu thun ist“, vgl. Ebd., S. 49-51. Mit anderen Worten: für Schlosser war die Entwicklung allgemeiner, überörtlich gedachter Leitgedanken und Kriterien für eine Adelsreform undenkbar, der Adel und das Adelswesen mithin untrennbar an die unzähligen lokalen Sonderentwicklungen und Traditionen der Adelslandschaften gebunden. Vgl. allgemein zu den Grundideen Schlossers: Beusch, Standespolitik, S. 88-91. 563 Diese eigentliche „Adelsdenkschrift“, entstanden im gleichen Zeitraum, wurde aber im Gegensatz zur allg. ständepolitischen „großen Denkschrift“ nicht dem Staatskanzler überreicht. Zu dieser „großen Denkschrift“ über die „Verfassungsverhältnisse der Lande Jülich, Kleve, Berg und Mark betreffend (Jan./Febr. 1818) siehe Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 761, S. 857-868. Die eigentliche Adelsdenkschrift Ebd., Nr. 762, S. 868-876. Für diese Denkschrift dürften Mösers Schriften direkt Pate gestanden haben, vgl. Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 762, S. 868-876, hier S. 875. Dazu auch Mayer, England als Vorbild, S. 40. 564 Beusch, Standespolitik, S. 97. Zum Kreis aus dem münsterschen Adel um Stein gehörten neben dem Grafen Merveldt der Regierungsrat v. Korff und Friedrich v. Ketteler, sowie Ignaz v. LandsbergVelen. Allein die Familie v. Landsberg-Velen und die mit ihr im Vormärz eng verwandte Familie v. Westerholt öffneten sich generell den Steinschen Ideen einer Adelsreform nach englischem, ja teils sogar napoleonischem Vorbild, vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 210, Anmk. 73 u. 74.



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wärmere Anteilnahme an allem Guten, Förderung des Nützlichen“ allgemeine Sozialwerte gegenüber den anderen Ständen vertreten und vorleben, und dadurch als Vorbild dienen. Denn als „Erhalter der Geschlechter der Nation“ sei er beauftragt, „Sitte und Alles dessen, was die Sitte läutert und stützt“ aufrechtzuerhalten. Als adelsadäquate Aufgaben und Funktionen in der Gesellschaft bezeichnete die Denkschrift „Priester- und Lehrstand, Wissenschaften und Künste, Kriegerstand und Pflege der Armen und Kranken“. Ausdrücklich wurde festgehalten, dass „Adel [...] ebensowenig ohne die angemessenen materiellen als ohne die angemessenen sittlichen Bedingungen zu denken“ sei, und daraus Pflichten für den Adel entstehen gegenüber der Familie wie gegenüber der „Sitte“. Denn ohne „sittliche Zwecke und sittliche Würde“ sei kein Adel denkbar, ja, die ganze Vorstellung von korporativer Gesellschaftsverfassung und Adel steht und fällt mit der Frage, ob „in den geselligen Einrichtungen sittliche Kräfte als reelle Interessen können angesehen werden oder ob nur materielle Kräfte für solche zählen können“.565 Stein sah in der „Stillung der sinnlichen Lebensbedürfnisse als notwendige Stütze“, um das „eigentliche Leben, das geistige, sittliche zu leben“.566 Um diese Rolle in der neuen Gesellschaft spielen zu können, müsse der Adel, der sich seit der Zeit Kaiser Maximilians I. nicht mehr an die seither gewandelten „Begriffe über Regierung, Gesetz, Sitte des Krieges“ angepasst hätte und darüber immer „trümmerhafter“ geworden sei, eine neue, „faktisch richtige Grenze zwischen Korporation und Kaste“ (hervorgehoben im Original) ziehen. Gegenüber den Marwitzschen Ausführungen fallen hier die deutlich differenzierteren (und historisch zutreffenderen) Darstellungen über die Entwicklung und Veränderung des Adelswesens seit Spätantike und Mittelalter auf.567 Auf diesen geschichtlichen Werdegang des Adels bauten Stein/Schlosser ihre weitere Argumentation, wenn sie festhielten, dass der Adel schon immer dem Wandel unterworfen war, so auch schon vor dem Lehnssystem bestand, und deshalb auch mit diesem nicht unterzugehen brauche. Nach dem gleichen Muster folgerten Stein/Schlosser aus der Annahme, dass im Mittelalter der Kaiser und seine

565 „Glaube man das Letzte, so verwerfe man den Adel und alles Korporative, ziehe das System der Meistbesteuerten hervor und schaffe dem beweglichen Vermögen Übergewicht über das liegende“ vgl. Schlosser Denkschrift, in: Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 762, S. 868-876, hier S. 874. 566 Dass Reichtum allein nicht den Adel begründe, aber zur Aufrechterhaltung „adliger Lebensführung“ und „Tugendübung“ von „instrumenteller Bedeutung“ sei, war schon in der adelsapologetischen Literatur der frühen Neuzeit gängige Münze, vgl. Bleeck/Garber, Nobilitas, S. 65, Anmk. 52. 567 Stein/Schlosser hatten vier Phasen der Adelsentwicklung identifiziert: (germanische) Vorzeit, über die keine genaue Kenntnis vorläge; das christliche Mittelalter, das den Adel ethisch verwandelte; das späte Mittelalter mit seiner wachsenden Standesabgeschlossenheit (Ahnenprobe, Stiftungen); und die Zeit nach Kaiser Maximilian I. (dem „letzten Ritter“), als der Adel immer stärker in Frage gestellt wurde, und sich auch aufgrund der stark verändernden staatsrechtlichen Verhältnisse nicht mehr wirklich in die neuen Begriffe von „Regierung, Gesetz, Sitte des Krieges“ einpassen konnte, siehe Schlosser Denkschrift, vgl. Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 762, S. 868-876, hier S. 870f.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

Verweser nur die „Adelsfähigkeit“, nicht den Adel verliehen hätten, letzterer vielmehr durch die Korporation der adligen Genossenschaft anerkannt werden musste, dass Ähnliches, ganz im Sinne Mösers, auch in Zukunft wieder möglich wäre, denn der „Adelsfähige“ müsse durch „langgeführte, ihr anpassende Lebensweise sich gewissermaßen auf sie [die Adelskorporation, G. H.] eingeübt haben“, bevor er in die Korporation aufgenommen würde. Nach einer historischen Würdigung der Funktion der Ahnenprobe wurde diese als Mittel aber zurückgewiesen, da dadurch ausgerechnet derjenige, mit dem eine hoffnungsvolle Familiengeschichte durch Taten und Leistungen beginne, von der Adelskorporation ausgeschlossen würde. Allerdings könne sie einen Weg darstellen, auf welchem als „adelsfähig“ erklärte Personen sich für die Aufnahme in die Korporation qualifizieren könnten, auch ohne den sonst notwendigen Grundbesitz, bzw. außerordentliche „kriegerische, friedliche, geistige, sittliche Verdienste“ aufzuweisen. Über die Erzielung eines „außerordentlichen Verdienstes“ hätte die adlige Genossenschaft zu entscheiden. Als Mitglieder dieser Genossenschaft qualifizierten sich in erster Linie die im Besitz erblicher Provinziallandstandschaft befindlichen Adligen. Handel und Gewerbe wären dem Adel nur in solchen Fällen nicht abträglich, wo diese Beschäftigungen „Kunst und Wissenschaft“ streiften, oder allein den Umsatz der Produkte umfasste, die man aus eigenem Boden gewönne. Stein sah also die gesellschaftlichen Aufgaben des Adels keineswegs auf staatliche Amtsfunktionen und Herrschaft, bzw. auf Repräsentanz der (staatlich delegierten) Herrschaft (vor allem) im ländlichen Kreis, beschränkt. Vielmehr sollten sich im Adel allgemeinverbindliche Sozialwerte der Gesellschaft nicht einfach widerspiegeln, sondern regelrecht manifestieren, „verkörperlichen“ (Albert Schäffle sprach in diesem Sinne 1856 von „Verleiblichung“), und damit im Alltag aller Menschen sichtbar und erlebbar werden.568 Zugleich wurde damit dem Adel die Aufgabe eines sich auf natürlichem Wege fortpflanzenden „Kollektivgedächtnisses“ (eben dieser Sozialwerte) zugewiesen, das dieser in der Generationenfolge seiner familial gepflegten Traditionen und Erinnerungen, seinen sozialen Beziehungen und seiner privaten wie öffentlichen Gedächtniskultur weitergeben sollte.569 Neben dem dafür notwendigen

568 Die Idee der „Verleiblichung“ sozialer Werte im Adelsstand findet sich ausdrücklich formuliert bei: Albert Schäffle, Der moderne Adelsbegriff, in: Deutsche Vierteljahresschrift, 3. Heft, 1856; wieder abgedruckt in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Erster Band, Tübingen 1885, S. 57-104, hier S. 73. In Steins Vorhaben lässt sich eine realitätsnähere Fassung des von Adam Müller in seinen „Elementen der Staatskunst“ formulierten Gedankens wiederfinden, dass „der Adel […] die erste und einzig nothwendige staatsrechtliche Institution im Staate [sei]“, da er „[…] den einzelnen Menschen und ihrer augenblicklichen Macht gegenüber, die Macht der Freiheit der unsichtbaren und abwesenden Glieder der bürgerlichen Gesellschaft [repräsentiere]“. Hartwig Brandt bezeichnete diese Idee einer Repräsentation der toten und noch ungeborenen Geschlechter als „[…] anverwandelten, ins Konservative gewendeten Rousseau […]“, vgl. Ders., Konstitutionalismus, S. 72. 569 Dass der Adel lange überhaupt der „Grundpfeiler“ des „Kollektivgedächtnisses“ war, stellte schon Maurice Halbwachs fest, vgl. Ders., Gedächtnis, S. 308-309: Innerhalb der allgemeinen Gesell-



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Reichtum, der für Stein als Vorraussetzung wirklicher adliger Existenz und persönlicher „Sittlichkeit“ selbstverständlich war, sollte diesem Adel ein ethisch-tätiger Müßiggang eigen sein, der sich in einer universaldiletantischen Lebensweise verwirklichte.570 Eine rein „tugendadlige“ Standeserneuerung, wie sie z.B. auch Gneisenau ganz ähnlich zu Mirbach 1818 in Form eines „Tugendbundes“ vorschlug, gegründet auf einen „mittelalterlich-ritterlichen“ Ehrenkodex, lehnte Stein als „Seifenblase“ ab.571 Die Stellung des Adels stand und fiel für Stein mit der Rolle, die „man den erblichen Provinzial-Landständen zu der Provinzial-Landesverwaltung einräumen wolle“, alles andere betrachtete Stein nur als Spielereien.572 Zur ständischen Qualifikation von Individuen wie Familien, und der daraus erfolgenden Konstituierung des (neuen) Adels sollten Verdienste um den Staat (die in Vergangenheit wie Gegenwart erbracht worden sein können), Familie und Vorfahren, wie auch die persönliche Würde gleichgewichtige Rollen spielen. Die sittliche Würdigkeit des Individuums sei zur „Adelsfähigkeit“ unabdingbar. Der Adel dürfe keinesfalls ausschließlich über die Größe des Grundbesitzes definiert werden; Stein kritisierte deshalb die spätere preußische Provinzialständeprivilegierung mit ihren reinen Besitzkriterien. Eine materiell orientierte Lebensführung als alleinige Grundlage einer herausgehobenen sozialen

schaft besteht „eine engere Gesellschaft, von der man sagen kann, dass sie sich zur Aufgabe stellt, die Tradition zu wahren und lebendig zu erhalten. Sie ist der Vergangenheit oder dem, was in der Gegenwart die Vergangenheit fortführt, zugewandt, und sie beteiligt sich an der aktuellen Aufgaben nur insoweit, als es von Wichtigkeit ist, diese selbst den Traditionen anzupassen und durch ihre Umwandlungen hindurch die Kontinuität des Soziallebens zu gewährleisten.“ 570 Dass bereits im gehobenen gesellschaftlichen Dasein Sozialwerte liegen können, betonte schon Gollwitzer, Die Standesherren, S. 339. In der romantischen Kunst ist dieser Anspruch und die Notwendigkeit des gehobenen Müßiggangs wiederholt thematisiert und eingefordert worden; neben Gollwitzers Verweis auf Friedrich Schlegels „Lucinde“ sei hier nur an Joseph v. Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ erinnert, der dieses „Programm“ schon im Titel trägt. 571 Die Formulierungen Gneisenaus klangen auch sehr naiv: „Eine Anzahl leitender, Achtung gebietender Männer treten zusammen und bilden, unter Einladung an ihre Standesgenossen zum Beitritt, einen Bund, der es seinen Gliedern zum unverbrüchlichen Gesetz macht, nie zu lügen, selbst nie eine unschädliche Unwahrheit zu sagen, keine unmoralische Handlung irgendeiner Art zu begehen, unter sich nur Handschlag und mündliches Wort gelten zu lassen, in keine Verbindung gegen die Regierung sich einzulassen, mit Ausnahme der Anklage gegen schlechte und unfähige Staatsbeamte, der Regierung zu allen löblichen Zwecken Kopf und Arm zu widmen, seinen Kindern eine soviel möglich gute Erziehung zu geben und die öffentlichen Anstalten zu solchem Zweck zu vervollkommenen, die Wissenschaften und ihre Bekenner zu ehren, die Gutsinsassen mild zu behandeln und mit Rat und Tat zu unterstützen, seine ärmeren Standesgenossen zu unterstützen etc.“ Weiter schlug Gneisenau die Bildung von adligen Provinzialbanken vor, in die vermögende Standesgenossen ihr Kapital investieren sollten, um nach Art eines Pfandbrief-Systems in Banknoten kleine Summen zur Verfügung zu stellen. Aus den Zinsen sollten bedürftige Standesgenossen unterstützt werden. In einer Randbemerkung bezeichnete Stein diese Ideen als „Seifenblase“, siehe Gneisenau an Stein, Berlin 12. Juni 1818, vgl. Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 705, S. 793. 572 Mit diesem Fazit schloss die von Stein inspirierte Denkschrift Schlossers von 1818, vgl. Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 762, S. 876.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

Stellung könnten weder Standestradition noch Familienehre begründen.573 Stein wünschte zur Sicherstellung dieser immateriellen Wertkriterien die Einrichtung von „Standesgerichten“, und bei anderer Gelegenheit befürwortete er „Wappengerichte“ nach englischem Vorbild, um die „Adelsfähigkeit“ einzelner Personen und Familien kontrollieren zu können.574 In Gegensatz aber zu Mirbach forderte Stein wiederholt und ausdrücklich die Aufnahme geeigneter Familien aus dem Bürgertum durch Nobilitierung und korporative Anerkennung in den Adel. In einem 1825 verfassten Promemoria für Gustav v. Rochow, der zwischenzeitlich Vortragender Rat in ständischen Angelegenheiten geworden war, machte Stein konkrete Vorschläge aus einem breiten gesellschaftlichen Spektrum, aus welcher „Klasse geeigneter Eigentümer“ der Stand (in Westfalen) verstärkt werden könne.575 Stein zeigte dabei auch eine große Flexibilität bzgl. des geforderten Grundbesitzes: nicht nur geschlossene Gutskomplexe (wie sie in den preußischen Ostprovinzen üblich waren), auch Streubesitz, wenn er nur die geforderte Einkommensgröße garantiere, sei zur Qualifikation geeignet. Neugeadelte sollten sofort mit allen Rechten und Pflichten dem Adel angehören; keinesfalls dürfe sich die Standesgenossenschaft vermittelst Ahnenproben von Nobilitierten und jungen Adelsgeschlechtern abgrenzen.576 Dieser Steinsche Standpunkt entsprach im Grunde

573 Materieller Reichtum und Sittlichkeit waren für Stein untrennbar aufeinander angewiesen – in der Schlosserschen Denkschrift erklärte er, „daß man Stillung der sinnlichen Lebensbedürfnisse als notwendige Stütze haben müsse, um das eigentliche Leben, das geistige, sittliche zu heben“, vgl. Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 762, S. 874. 574 Zur Bedeutung der Ehre für die Verteidigung der „ganzen Persönlichkeit“ auch für bürgerliche Gruppen angesichts der Aufspaltungsprozesse der nachständischen Gesellschaft und den wachsenden Ansprüchen des Staates vgl. Klaus Schreiner/Gerd Schwerthoff, Verletzte Ehre. Überlegungen zu einem Forschungskonzept, in: Dies. (Hrsg.), Verletzte Ehre. Ehrlichkeit in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Norm und Struktur 5), Köln/Weimar/Wien 1995, S. 1-28, bes. 23-24. 575 Stein nannte aus den ihm bekannten Regierungsbezirken Koblenz und Trier einen Herrn v. Noelle, eine Frau Geheime Rätin Freeg aus Leipzig und ihren Schwiegersohn, einen Forstmeister v. Stolzenberg, sowie den Kölner Bankier Johann Abraham Anton (seit 1808 v.) Schaaffhausen, vgl. Stein, Sechster Band, Nr. 901, S. 885-886, hier S. 886. „Ahnenprobe“ für bürgerliche Gutsbesitzer vgl. Brief v. Stein an Schlosser, 16. April 1817, Ebd., Fünfter Band, Nr. 521, S. 611-612, hier S. 612. Desgleichen in einem Brief an v. Mirbach vom 12. Mai 1817: „[...] z.B. man könnte die Herren von der Leyen in Krefeld dazu auffordern, die Grolmanns in Kleve und die Boelling, Seelhof, Mumme, Wichelhausen, v. Holtzbrinck in der Grafschaft Mark durch Herrn v. Hövel und Wylich“; vgl. Ebd., Nr. 534, S. 625-626, hier S. 626. 576 Der Reichsfreiherr wusste diese „liberale“ Ansicht in Betreff der allgemeinen Standesverhältnisse mit einem robusten Standesbewusstsein in seiner privaten Sphäre zu verbinden: als Joachim Eduard (seit 1831 Graf) v. Münch-Bellinghausen (1786-1866), immerhin Bundespräsidialgesandter, um die Hand seiner Tochter Therese anhielt, „wies ihn mit seiner Anmaßung“ der Reichsfreiherr „trocken ab“. Ein „Mann ohne Geburt, ohne Vermögen“ konnte sich auch in den Augen Steins nicht qualifizieren; so in einem Brief an seine Schwester Marianne vom 7. Januar 1825, vgl. Stein, Briefe, Sechster Band, Nr. 808, S. 796-797, hier S. 797. Stein schrieb den Namen bezeichnenderweise falsch als



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der schon im ALR zugrunde liegenden Adelsdefinition, widersprach aber verbreiteten zeitgenössischen Überzeugungen, nach denen ein Nobilitierter für seine Person keineswegs als „adlig“ betrachtet wurde, sondern allein solche Individuen, die ihren Adel „ererbt“ hätten!577 Denn nach Stein müsse sich der Adel mehr durch Leistung als Geschlechtsalter auszeichnen, wolle er die „gegenwärtige Krise“ (1817) überstehen. Adelsproben mögen historisch ihr Recht gehabt haben, doch nun würden sie ausgerechnet das Individuum ausschließen, das „durch verdientsvolle Taten seinem Geschlechte eine Geschichte beginnt“.578 Der Adel müsse „jedem durch Verdienste erreichbar sein“, müsse sich „an Regenten und Nation anschließen“, deshalb müsse der Regent auch durch die Entscheidungsgewalt über Nobilitierungen „Einfluss auf die adlige Genossenschaft“ erlangen.579 Diese letzte Forderung richtete sich nicht zuletzt gegen die Faktion der rheinisch-westfälischen Ritterschaft, die unter Federführung des Freiherrn Mirbach strikt auf der Weiter- bzw. Wiedereinführung der überkommenen Adelsprobe bestandt – eben vor allem, um eine monarchische Beeinflussung der adligen Korporation über „beliebige“ „Pairschübe“ auszuschließen!580 Mirbach lenkte in Folge des Austauschs mit Stein zwar ein, erkannte die Notwendigkeit neuer Nobilitierungen zur Stärkung des Adels an, insistierte dann aber doch wieder auf einer binnenständischen Differenzierung, bzw. Trennung der adligen Korporation in „alten“ und „neuen“ Adel.581

„Münich“! Zuvor schon (1824) hatte Stein die Lebensverhältnisse des „Emporkömmlings“ v. Münch als „Mangel von Geburt, Vermögen, fester Stellung, natürlichen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen“ charakterisiert, denen gegenüber stünden die „langen bestehenden, festen diesseitigen Familienverträge(n) und Einrichtungen, denen viele Generationen Opfer gebracht haben“, vgl. Ebd., Nr. 743, S. 734. 577 Diese Zeitansicht führte (vermutlich) August Wilhelm Rehberg als Beispiel dafür an, dass die obrigkeitlichen Formierungskompetenzen in gesellschaftlich-ständischen Verhältnissen begrenzt sind: „Aber, daß er selbst nicht adlich sei, ist ein Urtheil der öffentlichen Meinung, welche kein Regent bestimmen kann.“ Vgl. dazu den anonym erschienen Aufsatz „Auch etwas über den Adel“, in: Berlinische Monatsschrift Bd. 28 (1796), S. 372-394. 578 Denkschrift Schlosser 1818, vgl. Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 762, S. 868-876, hier S. 872. 579 „Sollte der Eintritt erst nach Generationen möglich sein, so schlössen wir im preußischen Staat den Grafen Gneisenau, den General Grolmann, die Familie des vortrefflichen Generals Scharnhorst, den Großkanzler v. Beyme und mehrere sehr achtbare und sehr begüterte Geschlechter aus. In England würde weder Lord Nelson noch der Herzog von Wellington noch der Graf von Chatham das Oberhaus durch den Glanz ihrer Taten verherrlicht, noch durch ihre großen Talente und Beredsamkeit erleuchtet und begeistert haben“. So in einem Brief an v. Mirbach, 19. Mai 1817, vgl. Stein, Briefe, Fünfter Band, Nr. 537, S. 628-630, hier S. 629f. 580 Weitz, Der Niederrheinische und Westfälische Adel, S. 102. 581 Auf persönliche Bitten Mirbachs verfasste Schlosser im September 1817 auf der Grundlage von Vorarbeiten von Mirbach noch einen eigenen Entwurf eines Adelsstatuts, das im Gegensatz zur gemeinsamen Denkschrift des westfälischen Adels in den wesentlichen Zügen Mirbachs Idealvorstellungen folgte, inklusive einer Ahnenprobe! Darin wurde schon die ganze Politik der späteren sogenannten „Rheinischen autonomen“ Ritterschaft vorgezeichnet. Als adlige Betätigungsfelder der

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

Neben Mirbach wollte aus dem rheinisch-westfälischen Adel auch Johann Franz Josef Graf v. Nesselrode-Reichenstein (1755-1824), eine weitere zentrale Persönlichkeit der Verfassungsbewegung, den Zugang zum Adelsstand möglichst erschweren.582 In einer eigenen Denkschrift vom 10. Mai 1817 drängte er auf eine Konzentration auf die adelsständischen Interessen, wollte neben einem erheblichen Vermögenskriterium von 50.000 Talern noch die Aufnahme von Neuzugängen von der Zustimmung der Ritterschaft abhängig machen, und war lediglich bereit, die ältere „harte“ Ahnenprobe von 16 Ahnen auf vier adlige Vorfahren allein väterlicherseits zu mildern. Ähnlich hart abwehrend reagierte Mirbach auf Steins Vorschlag, jeden neugeadelten Gutsbesitzer in die Korporation aufzunehmen.583 Stein wollte demgegenüber allenfalls einen Adelsnachweis von zwei Generationen, bzw. vier adligen Ahnen für die ständische Qualifikation gelten lassen.584 Entsprechend den Ideen Mösers sollte sich der Adel ausschließlich mit dem Grundeigentum, das nicht unter eine bestimmte Größe geteilt werden dürfe, auf nur einen Besitzer vererben (Primogenitur); die übrigen Kinder sollten als „adelsfähig“ gelten, ohne dass damit eine bevorzugte Stellung einherginge.585 Dem vererbenden Vater wäre freizustellen, welchem seiner Söhne der ungeteilte Grundbesitz zufiele. Stein begründete dies nicht zuletzt mit seiner eigenen Familienerfahrung, da er als jüngster Sohn den als Fideikommiß gebundenen Grundbesitz nach Entschluß seines Vaters geerbt hatte.586 Die Stiftung von Fideikommissen unterstützte er ausdrücklich, und wies freihändlerische Forderungen der Zeit in Bezug auf

Zukunft identifizierte Mirbach in dieser Denkschrift die erbliche Landstandschaft, den Militär- und den höheren Verwaltungsdienst; bemerkenswert ist die hervorgehobene Nennung von Wissenschaft und Lehre als Berufsfelder des Adels, denn nur so könne der Adel die öffentliche Meinung wieder für sich gewinnen. Als „Opfer“ des Adels an die Zeitläufte bot Mirbach den Verzicht auf die alleinige Landstandschaft, auf das ausschließliche Recht zu den höchsten Stellen in Staat, Militär und Kirche, auf das exklusive Recht der Patrimonial- und Forstgerichtsbarkeit an. Privilegierter Gerichtsstand und Patronatsrecht über die Kirchen sollten aber beibehalten bleiben, vgl. Beusch, Standespolitik, S. 133f. 582 Vgl. Beusch, Standespolitik, S. 62, Anmk. 230; und NDB (Familienartikel), Bd. 19, Berlin, 1999, S. 73-74. 583 Beusch, S. 111f. 584 Vgl. das entsprechende Schreiben Steins an Mirbach vom 19. Mai 1817. Steins offenere Forderungen vgl. z.B. in seiner Denkschrift über die Bildung von Provinzialständen in Westfalen vom 31. März 1817 und in einer Denkschrift vom 2. Mai 1817. Nicht zuletzt aufgrund des zu beobachtenden Aussterbens der Adelsgeschlechter hielt er dies für notwendig, vgl. Stein, Briefe, hier S. 607; sowie: Ebd., Nr. 530, S. 619-622, hier S. 621. Am 11. Juni 1817 konzedierte er gegenüber Mirbach immerhin, dass anstelle einer Adelsprobe die Einwilligung der adligen Genossenschaft zur Aufnahme in die Korporation gefordert werden könne, vgl. Ebd., Nr. 544, S. 634-635, hier S. 635. Vgl. auch Drechsel, Entwürfe, S. 11, 15. 585 Für Preußen sollte diese Größe der adligen Güter entsprechend dem überkommenen Grundsatz nicht unter sechs Hufen liegen, vgl. die vergleichbare Größenforderung von „sechs cöllmischen Hufen“ durch den ostpreußischen Landtag von 1808, oben Kap. 2.4.3. 586 So Stein in einem Brief an Itzenplitz vom 7. Mai 1825, vgl. Stein, Briefe, Sechster Band, Nr. 862, S. 848-850, hier S. 850.



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den Grundbesitz zurück.587 Wie Rehberg stand Stein der (adligen) Grundsteuerfreiheit, dem Patronatsrecht und der Patrimonialjurisdiktion ablehnend gegenüber, und war vorbehaltlos bereit, diese der Idee eines erneuerten Adels zu opfern.588 Immerhin war es schließlich Steins Initiativen in der Ständebewegung zu verdanken, dass sich auch im rheinisch-westfälischen Adel die Erkenntnis durchsetzte und in der Verfassungsdenkschrift niederschlug, dass das städtische Bürgertum nicht nur über die landtagsfähigen Städte, sondern durch persönliche Berechtigung, sowie die Landgemeinden als Vertreter des bäuerlichen Besitzes in den Provinzialständen vertreten sein müssten.589 Die Frage einer erneuerten politischen Adelskorporation wurde in der eigentlichen Verfassungsdenkschrift bewusst ausgelassen. Trotz starker Elemente adlig-standespolitischer Interessen, die in dieser Verfassungsdenkschrift auftraten (und die vor allem auf Mirbach und Nesselrode zurückgehen), erhob diese Denkschrift doch immerhin den Anspruch, für die ganze Provinz zu sprechen.590 Die kritische Distanz der preußischen Zentralgewalt gegenüber dem westfälischen Adel Zwar veränderte sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten das Verhältnis des westfälischen Adels zum preußischen Staat, durchlief das Konzept eines „Mittlers zwischen Thron und Volk“ insbesondere nach der Revolution von 1830 eine Wandlung hin zu Selbstauffassungen des Adels als den „Säulen des Staates“ und einer „Mauer vor dem Thron“. Auf diesem Weg waren aber viele Hindernisse zu überwinden, die vor allem in der katholischen Distanz zu dem protestantischen preußischen Herrscherhaus und den noch lebendigen alt-reichischen und österreichischen Sympathien bestanden.591 Doch gerade Mirbach sollte handlungspraktisch in der Realisierung neuer adelspolitischer Institutionen sehr erfolgreich wirken. Mirbach erhielt 1832 durch einen Beitrag in Pfeilschifters „Blätter für den deutschen Adelsstand“ einen neuen Anstoß, auf seine früheren Ideen über eine Stiftung des rheinischen

587 Botzenhart, Adelsideal, S. 220. Dem Grafen v. Itzenplitz legte er ausdrücklich ans Herz: „Einem großen Gutsbesitzer wie Ew. Hochgeboren würde die Konstituierung eines oder zweier Majorate ziemen“, vgl. Brief vom 11. März 1825 in: Stein, Briefe, Sechster Band, Nr. 838, S. 823-824, hier S. 824. 588 Vgl. seine Stellungnahme zu den Bedingungen des Verkaufs der königlichen Domänen in: Pertz, Stein, Bd. 2, S. 108. Zu Steins genaueren Vorstellungen bzgl. einer neuen Ständeordnung um 1819 vgl. Weitz, Der Niederrheinische und Westfälische Adel, S. 175f. 589 Beusch, Standespolitik, S. 162. Doch konnte auch der Einfluss Steins die „reaktionäre Wende“ des westfälischen Adels in den folgenden Jahren nicht verhindern. Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 210f, bes. Anmk. 72-74. 590 Beusch, Standespolitik, S. 168f. 591 Reif, Westfälischer Adel, S. 452f.

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Adels zurückzukommen, zu der er bereits 1824 erste Entwürfe entwickelt hatte.592 Zentral für eine „Wiederbelebung“ des Standes erschien ihm nun die Sicherung seiner ökonomischen Grundlagen, und das hieß konkret: die alte Dispositionsbefugnis in Familien- und Erbrechtsangelegenheiten wieder erlangen, um die drohende Zersplitterung des Grundbesitzes zu verhindern.593 Dank seines Engagements führten die rheinisch-westfälischen Reprivilegierungsbestrebungen zum Erfolg des „Autonomiestatuts“ der rheinisch-westfälischen „Adelsgenossenschaft“ von 1835. Dieses königlich genehmigte Statut räumte dem alten Adel besitzbindende und sozialexklusive Sonderrechte bei den Erbregelungen ein, und erleichterte ihm so die Sicherung seines materiellen Besitzstandes. Und schließlich gelang es Mirbach sogar, die schon im Rahmen der „Adelskette“ auf dem Wiener Kongress erhobene Forderung einer eigenen ritterschaftlichen Bildungsstätte für Adelssöhne umzusetzen, die sogenannte „Ritterakademie“ auf Schloss Bedburg.594

592 Der Artikel lautete: „Wird Deutschlands Adel sich erhalten?“, in: Blätter für den deutschen Adelsstand, Nr.9. Vgl. Beusch, Standespolitik, S. 445f. In seiner am 29. März 1832 übersandten Antwort an das Berliner Politische Wochenblatt lehnte Mirbach es ab, die Religion als legitimes Handlungsfeld für eine Neupositionierung des Adels, wie überhaupt als „Hebel irgendeines politischen Zwecks“ zu gebrauchen. Zu Pfeilschifters Vorläuferblatt der „Adelszeitung“ vgl. unten Teil III Kap. 4.1. 593 1832 war Mirbach selbst die königliche Erlaubnis zugekommen, eine eigene Familienfideikommissstiftung zu gründen. In seinem nach königlichen Einsprüchen dreimal überarbeiteten Stiftungsentwurf nahm er schließlich die im rheinsch-westfälischen Stiftsadel überkommene „harte“ Ahnenprobe wieder auf (vier vollbürtige adlige Ahnen auf väterlicher- wie mütterlicher Seite), und legte diese wie das Jahr 1794 als Normaljahr zur Bemessung der einst geforderten Stiftsfähigkeit fest – nur Personen aus Geschlechtern die damals stiftsfähig waren, persönlich die Ahnenprobe bestehen konnten und zudem noch mit einer Person verheiratet sein mussten, die ihrerseits diese Qualifikationen vorweisen konnte, durften als Erbe in diese Mirbachsche Familienstiftung einrücken. Vgl. Beusch, Standespolitik, S. 446f. 594 Seit 1812 wurde der Universitätsbesuch in Preußen ohne Abitur (bis dahin für den Adel üblich) erheblich erschwert, und 1834 gänzlich untersagt. Seit 1827 wurde die katholische Adelserziehung an Jesuiten-Seminaren in der Schweiz und den Niederlanden/Belgien durch preußische Kabinettsordre als „tadelhaft und gemeinschädlich“ staatlich sanktioniert. Der Versuch des Adels, eigene katholische Gymnasien unter Leitung von Geistlichen für Adelssöhne einzurichten scheiterte jedoch am Widerstand der staatlichen Schulbehörden. Zu den Zielen der rheinisch-ritterbürtigen Adelsgenossenschaft gehörte deshalb die Gründung einer eigenen Erziehungsanstalt. Dieses Projekt wurde durch ein positives Finanzgutachten von Radowitz unterstützt. Um finanziell tragbar zu sein, sollten auch höhere Bürgerliche ihre Söhne auf die Akademie senden dürfen, doch sollte allein der stiftende Adel Mitsprache und Entscheidungsrecht über Lehrinhalte und Lehrpersonal haben. De facto waren vor 1848 ausschließlich Zöglinge aus altem Adel an diesem Institut anwesend. Mirbach orientierte sich am Organisationsplan der Ritterakademie Brandenburg. Das Schulcurriculum legte in seinen Erziehungszielen neben der Weckung des Bewusstseins für „Besitz, Glanz und Erhalt der Familie“ insbesondere Wert auf die Vermittlung eines adligen Ehrbegriffs, der Eigenschaften wie „Leistungsbereitschaft, Königstreue, Standhaftigkeit, Entbehrungsbereitschaft, Achtung vor den anderen Ständen, Redlichkeit, Mäßigung, Demut und vor allem die Fähigkeit zum Selbstverzicht“, sowie auf die Pflege von „Höflichkeit, feiner Sitte und Wohl-erzogenheit im äußeren Benehmen‘“. Der Tod Königs



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Doch nicht nur die bestehende innere Distanz des westfälischen Adels gegenüber dem preußischen Gesamtstaat, vielmehr auch die grundsätzliche Reserve der administrativen und politischen Spitzen der Monarchie gegenüber den Charakteristika dieser Adelslandschaft konnten nie ganz überwunden werden. Die Vertreter der zentralstaatlichen Interessen verdachten ebenso wenig wie die bürgerliche Öffentlichkeit in den Rheinlanden selbst dieser Adelsformation die „reine Selbstbezüglichkeit, der mangelnde Bezug auf allgemeine und ‚Staatsgedanken‘“ (Sybel).595 Auch die provinziale preußische Beamtenschaft stand den westfälischen Standeskonzeptionen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Nicht eine grundsätzlich adelskritische Haltung war dafür verantwortlich, vielmehr divergierten hierbei die jeweiligen Vorstellungen über die Rolle und Aufgabe des Adels in Staat und Gesellschaft.596 Die befremdetabschätzigen Bemerkungen General v. Müfflings über den westfälischen Adel noch 1836 bieten ein Beispiel für diese tiefe Distanz. Als Militär argumentierte Müffling dabei konsequent aus der Perspektive einer zentralisierenden Staatsraison.597 In

Friedrich Wilhelm III. half die Angelegenheit zugunsten der rheinischen Ritterschaft zu beschleunigen. Am 15. Dezember 1840 genehmigte die Vollversammlung der Genossenschaft das überarbeitete Reglement der geplanten Ritterakademie, und am 22. Juni 1841 erfolgte die landesherrliche Bestätigung, sowie am 3. Juni 1842 die Bestätigung für die Stiftung von Präbenden für unverheiratete Töchter. Vgl. Beusch, Standespolitik, S. 551ff; 571; 575. Reif, Westfälischer Adel, S. 352, bes. Anmk. 161-163. 595 Beusch, Standespolitik, S. 581ff. Aus westfälisch-adliger Perspektive fasste Mirbach selbst diese innere Distanz, die in Folge des „Kölner Kirchenstreits“ verschärft wurde, 1840 in die Worte: „Betrachtet man an Ort und Stelle [d.h. in Berlin, G.  H.] manche Zustände, so begreift sich alles. Vor allem die Beamtenhierarchie oder Beamtenaristocratie, denn ein anderer [Adel, G. H.] fehlt. Es fehlt ein freier, unabhängiger Adel, der des alten Adels Sitte und Gesinnung in sich verwahrt hat und diese in die Stellen bringt. Der Adel ist an und für sich unbedeutend und schwach bemittelt, ohne inneren Zusammenhang. Wer von ihm nicht in Militärdienst tritt, sucht Bedeutung zu erlangen durch den Dienst bei Hofe und in den Stellen. Die ersten beiden bilden das Hofschranzentum. Wie sich dieses alles nun spreizt und vornehm dünkt. Ordenskreuze, Band, endlich die Exzellenz, dann ist die Höhe erstiegen. Dahin streckt und reckt sich alles, dafür steht jeder in Reihe und Glied, Augen hin, von wo die Glückseligkeiten fallen“. Vgl. Tagebuch Johann Wilhelm v. Mirbach-Harff, 29. März 1840, zit. nach Beusch, Standespolitik, S. 566f. 596 Immer wieder wurden die westfälischen Adelsverhältnisse als Negativbeispiel innerhalb der preußischen Administration zitiert, vgl. dazu z.B. auch die einschlägigen Passagen im Adelsgutachten Georg Wilhelm v. Raumers von 1841 in Teil II. Kap. 3.3.2. 597  Karl Freiherr v. Müffling (1775-1851), ein Spezialist der Geographie, Topographie und von Vermessungsarbeiten, wurde 1821 Chef des großen Generalstabes in Berlin, 1822 Mitglied und ab 1838 bis 1847 Präsident des Staatsrates sowie Gouverneur von Berlin. Ab 1829 kommandierte er das VII. Armeekorps in Münster und war zugleich zur politischen „Kontrolle“ des dortigen Oberpräsidenten v. Vincke eingesetzt. Bezeichnenderweise waren es gerade Militärs wie Müffling, aber auch Generallieutnant v. Borstell und Hermann v. Boyen, die sich aus einem ausgeprägten Gesamtstaatsinteresse schon frühzeitig für eine reichsständische Weiterentwicklung der ständischen Verfassung mit relativ liberal-progressiven Elementen einsetzten. Müffling legte 1825 unaufgefordert eine entsprechende Denkschrift vor, in der er aus der bestehenden Provinziallandtagsordnung eine Gesamtstaatsrepräsentation „organisch“ zu entwickeln suchte, und dabei Einkammer- und Zweikammermodelle gegen-

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einem vertraulichen Bericht über die adelsständischen Verhältnisse Westfalens an den westfalenstämmigen Kabinettsminister Karl Friedrich Heinrich v. Wylich und Lottum stellte Müffling erstaunt fest, dass trotz der bis dato gültigen napoleonischen Erbgesetzgebung in keinem einzigen Fall ein nachgeborener Sohn oder eine Tochter unter dem westfälischen Adel auf gleiche Erbteilung geklagt hätte.598 Die Ursache für dieses nach Müffling „merkwürdige“ Verhalten sei in den rigiden Erziehungsmethoden zu suchen, die den nach altem Herkommen für stiftsfähig-ebenbürtig geltenden Mädchen eine „übersteigerte Vorstellung von Mesalliancen, und die Vorstellung von der Sündhaftigkeit gemischter Ehen einimpfe“, um zu verhindern, dass „fremde Männer in die Familien sich drängten.“ Beim männlichen Teile stelle sich die Sache schwieriger dar, denn diese seien gerade aufgrund der ökonomisch dynamisierten und unsicher gewordenen Lebenssituation nicht mehr so einfach unter familialer und ständischer Kontrolle zu halten: die Sinekuren, d.h. die alten Domherrenstellen und Kirchenpfründe seien weggefallen, die „jungen Leute“ müssten sich um eigenen Broterwerb bemühen. Doch eine berufs- und einkommensorientierte Erziehung und Ausbildung musste die Söhnen zugleich von den Familien unabhängiger machen, und damit stieg die Gefahr, dass diese sich nicht länger der familialen Erbdisziplin, d.h. dem weitgehenden Verzicht auf das Erbe, unterwerfen wollten. Um dieser Gefahr zu steuern sei es die Strategie des westfälischen Adels geworden, die Kinder auf dem Lande durch katholische Geistliche (Haus-Kapläne) bis zum 18. oder 20. Lebensjahr erziehen zu lassen, so dass bei Verlassen des elterlichen Hauses die „Grundsätze und Gewohnheiten“ fest stünden. Daher resultierten deren „unüberwindliche Vorliebe für das Leben im elterlichen Hause“, nicht zuletzt, weil sie „außer dem Hause wegen ihrer Unwissenheit verhöhnt, zurückgesetzt, und angetrieben wurden, etwas zu lernen, wozu sie keine Lust mehr hatten“. Doch Müffling zeigte sich über diesen vordergründigen „Erfolg“ einer Disziplinierung der Kinder im adelsständischen Interesse zutiefst beunruhigt. Alles andere als ein empfehlenswertes Modell adliger Behauptung in einer sich verbürgerlichenden Welt produziere dieses Verhalten einen Adel, der für staatspolitische Aufgaben im preußischen Sinne gänzlich ungeeignet sei: „So steht es noch heute, mit wenigen Ausnahmen, so daß wir die größte Noth haben, die jungen Leute, die sich dem Militair-Stande widmen, durch das Offiziers-Examen zu bringen.“ Diese Kritik

einander abwog. Vgl. GSTAPK Rep. 89, 1. HA Nr. 13916 (Geheimes Zivilkabinett, Denkschrift Müfflings betr. ständischer Angelegenheiten, Kreis-und Provinzialstände usw. 1825). Siehe dazu auch Bärbel Holtz, Wider Ostrakismos und moderne Konstitutionstheorien. Die preußische Regierung im Vormärz zur Verfassungsfrage, in: Preußens Weg in die Moderne. Verfassung – Verwaltung – politische Kultur zwischen Reform und Reformblockade, hrsg. v. Bärbel Holtz/Hartwin Spenkuch, Berlin 2001, S. 101-139, hier S. 104f. 598 Vgl. den Bericht des Generals v. Müffling an Kabinettsminister Lottum, 26. Mai 1836, in: GSTAPK I. HA Rep. 89, Nr.34 (Geheime Handakte Lottums 1825-1840, Nr. 21. die Vererbung des in dem Besitze von Rittergütern der Provinz befindlichen Adels von Westphalen).



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nutzte Müffling sogleich dafür, sich für ein eigenes adliges Erbgesetz auszusprechen, denn „[...] wenn wir von Staats wegen eines Ritterstandes bedürfen, so muß der Staat auch dafür sorgen, daß der Ritterstand nicht durch die Gesetze der Vererbung für die ehrbarsten Familien verloren gehen muß, während für den Bauernstand eine eigene Erbfolge als Gesetz gegeben wird.“ Ein solches Erbgesetz sollte also nach Müffling den Adel nicht etwa in einem altständischen Sinne wieder abschließen, sondern ihn vielmehr zur staatspolitischen Nutzung heranziehen helfen, indem „[...] dieser innere schädliche Zustand in den Familien so bald als möglich gehoben wird und die Kinder frei und der Zeit gemäß erzogen werden können“.599 Deutlich tritt diese Intention in seinen Erläuterungen über den in der Hand eines Haupterben konzentrierten adligen Grundbesitzes in Westfalen hervor: Da nun sämmtliche Rittergüter in der Provinz in minimo 2/m und mit wenigen Ausnahmen im maximo 4/m rt. Rein-Ertrag geben, so läge es sehr im Staats-Interesse, wenn diese zusammengehäuften Rittergüter nach und nach wieder einzelne Besitzer erhielten und Familiensitze würden. Dadurch würde die Ritterschaft vermehrt, befestigt, die Gutsgebäude würden nicht verfallen, und die Administration, welche jetzt in den Händen der Rentmeister liegt, würde viel zweckmäßiger in die Hände der Gutsherrn kommen.

599 Von Müffling selbst sind mehrere undatierte Denkschriften über eine ständische Reorganisation des Staates, des Grundbesitzes und des Adels vorhanden. Darin entwarf Müffling ein extrem auf das Staatsinteresse ausgerichtetes, autoritäres Menschen- und Adelsbild – zwar soll der Adel die „eingebildeten Güther“, d.h. Ideale, in besonderem Maße im Staat repräsentieren, doch dazu muss der Adel erneut besonders fest an den Grundbesitz gebunden werden. Nur der Adel soll FideikommissGüter besitzen dürfen, andererseits dürfe er deren Einkommen nur „benutzen“, und daher auch nicht verkaufen. Diese Güter sollten nach Primogenitur vererbt werden. Bei fehlenden Erben fielen diese Güter an den Staat zurück. Die alten Adelstitel des Reiches sollten zwar weitergeführt werden dürfen, aber nur der als „preußischer Adel“ anerkannte Teil des Standes würde die Privilegien der preußischen Gesetzgebung genießen. Nur der Adel wäre hoffähig, könne allein die Hofstellen übernehmen, dürfe aber keine bürgerlichen Gewerbe bestreiten, auch nicht bürgerlich heiraten, bzw. die Kinder aus einer solchen Ehe könnten nicht in den Adel folgen. Die öffentlichen Bildungsanstalten wären für den Adel reserviert. Spezielle Adelsgerichte würden neben den ordentlichen Gerichtsverfahren noch auf eventuellen Ausschluss aus dem Adel entscheiden. Als Beruf bliebe dem Adel fast nur die Militärlaufbahn als standesgemäß offen. Vgl. Nachlass Karl Freiherr v. Müffling, Rep. 92 (M) Nr. A21, Bl. 7-10: „Gedachtes über den Adel. Bei einer Constitution zu benutzen“, (undatiert). In einer weiteren undatierten Denkschrift mit dem Titel „Über die Erziehung der Deutschen“ empfahl er als Vorbild für eine „staatsbürgerliche“ Erziehung die „türkische Einheit von Gesetz- und Religionsvorschriften im Koran“, deren Vorteile er auf seinen Reisen durch die Türkei persönlich kennengelernt habe – eine eigentümliche Wendung des schon erwähnten „Osmanen“-, bzw. „Türken“-Topos, der spätestens seit der Aufklärung als abschreckendes Modell einer Staats- und Gesellschaftsordnung gerade von Adelsseite immer wieder zitiert wurde. Die türkische Methode, den Schüler zuerst den Koran unhinterfragt auswendig, und dann erst das Erlernte durch Wiedergabe begründen lernen zu lassen schien Müffling auch für die „deutsche“ ständische Erziehung vorbildlich zu sein. Im weiteren Verlauf der Argumentation legte er jedoch wieder ein größeres Gewicht auf das reflektierte Wissen. Doch die enge Bindung von religiöser und staatlicher Erziehung, von Religions- und Staatsgesetz nach dem Vorbild des Islam blieb ihm ein wichtiges Anliegen, vgl. Ebd., Bl. 1-6.

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Nicht nur hinsichtlich der Bildung wünschte Müffling also den formierenden Eingriff des Staates, sondern selbst auf die Zahl und strukturelle Zusammensetzung der Adelsfamilien. Diesem Anliegen widerspreche aber das bisherige Selbstverständnis des westfälischen Adels mit den daraus resultierenden Besitz- und Erbstrategien: Dieser Ansicht würden aber die reichen Rittergutsbesitzer ganz entgegen seyn, da sie darauf ausgehen, immer noch mehr solche Güter zu erwerben, nicht um sie unter die nachgeborenen Söhne zu vertheilen, sondern um die Wohlhabenheit des ältesten zu vermehren. Aus diesem Grunde müßte daher (nach meiner Ansicht) die Beschränkung eintreten, daß es einen Rittergutsbesitzer nicht mehr vor Zersplitterung garantiert, als in seinem Standes-Verhältnisse liegt.

Der preußische Staat sollte also nicht „irgendeinen“ Adel schützen und stützen, sondern einen bestimmten, der preußischen Staatsräson entsprechenden – und das hieß nach Lage der Dinge: relativ zahlreich und besitzständisch möglichst homogen über die Monarchie verteilt: Hat ein Besitzer 10 - 12 Rittergüter und 4 nachgeborene Söhne, so müßte jeder davon mit einem Rittergute abgefunden werden. Der älteste mag die übrigen behalten, muß aber seinen nachgeborenen Söhnen wieder abgeben – so lange bis jede Familie nur ein Gut hat, was ihr dann durch die Gültigkeit der Testamente, ohne Pflichttheil erhalten wird.

Denn: Der Zweck, selbständige Rittergüter zu erhalten, war gewiß gut, und die starke Seite. Die daraus entstandene Folge, Personen und Güter so mit zu schützen, daß dadurch auf Kosten Anderer (der Nachgeborenen und der Töchter) und gegen die Interessen des Staates unermeßliche Vermögen aufgehäuft werden können, ist die schwache Seite.

In der Konfrontation mit den rheinisch-westfälischen Adelsverhältnissen äußerte sich am deutlichsten der Anspruch der preußischen Zentralgewalt, im eigenen Interesse formend auf die Adelsverhältnisse einzugreifen – eine Tatsache, die ob der dominierenden Wahrnehmung einer „Adelsschutzpolitik“ Preußens nach 1815 gerne übersehen wird.600 Wurde dieser Anspruch in der unmittelbaren Restaurationszeit nur verhalten formuliert, da der Wunsch der politischen Spitzen nach einer neu-ständischen Konsolidierung und einer adligen Binnenstabilisierung vorherrschte, so musste dieser Interessenkonflikt zwischen sozial-ständischer Beharrung des Adels und den formierenden Interessen des Staates sofort wieder hervortreten, sobald Fragen der verfassungsmäßigen Ordnung zu behandeln waren. Auf diskrete und latente Weise war dies schon während der Verhandlungen um eine neue Provinzialständeordnung in den frühen zwanziger Jahren deutlich geworden. Dieser Konflikt musste in jenem Moment an Schärfe gewinnen, in welchem die Problematik einer gesamtstaatlichen

600 Vgl. Reif, Adelspolitik in Preußen, S. 206-209.



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Verfassungsordnung ernsthaft verhandelt wurde, wie dies in den vierziger Jahren dann tatsächlich eintrat.601 Fazit In Bezug auf die oben gestellten Fragen: welches neue Verhältnis sollte der Adel der preußischen Monarchie gegenüber dem Staat einnehmen, ob und wie „Adligkeits“Merkmale auf nichtadlige Gruppen ausgedehnt werden konnten, um durch „Adelung“ weiterer Gesellschaftskreise die politische Partizipation auszudehnen, zeigten sich noch lange nach 1815 erhebliche Unterschiede nicht nur zwischen den Adelsformationen der verschiedenen Provinzen, sondern selbst innerhalb derselben. Dabei fällt auf, dass gerade aus der Kurmark eine ganze Reihe – allerdings erheblich von einander abweichender – Vorschläge zu einer Neuformierung des Adels hervorgingen. Unter diesen dominierten wiederum solche Konzepte, die dem Grundbesitzkriterium das entscheidende Gewicht beimaßen. Sozio-kulturellen Aspekten einer solchen erneuerten und erweiterten „Adligkeit“ wurden in dieser Provinz keine herausgehobene Bedeutung zugemessen – wie die verschiedentlich angedachte Erweiterung des Standes im sozialen Umgang (Soziabilität und Konnubium) und die symbolische Positionierung in der Gesamtgesellschaft (z.B. die oft zitierte „Standesehre“) vorbereitet, bzw. durchgeführt werden sollte, blieb unbehandelt. Zugleich leistete die Mehrheit des brandenburgischen Adels einen Verzicht auf die Option für ein entschiedeneres gesamtstaatliches Wirken im Rahmen einer neuen Repräsentationsordnung. Sie vertraute weiterhin auf die traditionellen Machtressourcen in Kreis und Provinz. Adlige „Visionäre“, so unterschiedlich diese wiederum in ihren jeweiligen Präferenzen und Strategien waren, wie Marwitz, Itzenplitz und Arnim waren damit in ihren weitergefassten Zielen gescheitert, den Adel als aktiv und gemeinschaftlich handelnde gesellschaftliche Gruppe neu im Staat aufzustellen. Damit blieb die Elitenproblematik für den Adel im Staat weiterhin offen. Eindeutig wurde eine solche Forderung nach politischer Partizipation auf den höchsten politischen Ebenen in Westfalen gestellt, dort allerdings eingebunden in ein äußerst standesdefensives und exklusives Gesamtkonzept. In diesem Rahmen spielten ideelle und sozio-kulturelle Faktoren als Machtressourcen des Adels zwar eine prominente Rolle, wie es in Brandenburg (mit der großen Ausnahme des Außenseiters Motte Fouqué) noch unbekannt war. Großer hervorragender Grundbesitz und darauf gegründeter Reichtum wurden in Westfalen sowieso als adelsgemäß vorausgesetzt. Zwischen diesen brandenburgischen und westfälischen Positionen lagen die Überzeugungen prominenter ostpreußischer Adels- und Gutsbesitzerkreise. Politische Partizipation auf allen Ebenen des Staates und die Bereitschaft zu einer Verflüssigung

601 Deshalb wird auf diesen Komplex in den Kapiteln 2.5.1. und Teil III 4.3.3. noch einmal zurückzukommen sein.

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der sozialständischen Grenzen durch eine relativ großzügig gedachte „Adelung“ weiterer Gesellschaftskreise wurden hier am ehesten vertreten. Doch eine monarchieüberspannende neue preußische „Adligkeit“ ließ sich bei diesen heterogenen Mustern „von unten“ kaum entwickeln. Gebunden an die jeweils eigenen Erinnerungsbestände gelang es nicht, über Familien- und Landschaftstraditionen hinweg eine gemeinschaftliche Position zu formulieren, sich als Handlungseinheit zu entwerfen – in Brandenburg gelang dies nicht einmal für die eigene Provinz. Zugleich wurde sichtbar, wie sehr die Befürworter „realistischer“ und „idealistischer“ Standeskonzepte aneinander vorbeiredeten. „Realisten“ wie Marwitz zeigten einen erstaunlich unterentwickelten Sinn für die Möglichkeit, nicht nur im überkommenen Kreis von Familie, des eigenen Gutes und in Beziehung auf die eigenen Gutsuntertanen, sondern gesamtgesellschaftlich mit Hilfe sozio-kultureller Strategien mögliche Konkurrenten und Gegner aus anderen sozialen Gruppierungen in die eigenen Standesinteressen einzubinden. Aber selbst die „Idealisten“ formulierten nur sehr reduzierte Leitbilder einer solchen „Adligkeit“: eine Zusammenschau und ein ethischsozialer Bezug auf Aufgaben wie Familienpietät, Traditionsbewusstsein, Dienst in und für die Öffentlichkeit, Kirche und religiöser Praxis, geschweige denn musischästhetischer Leistungen fand mit Ausnahme der durch Stein inspirierten Ausführungen des niederrheinisch-westfälischen Kreises nicht statt. Diese Aspekte einer „Adligkeit“ fanden in Westfalen zwar starke Beachtung, wurden dort aber ausschließlich in Bezug auf den Adel formuliert und nicht gesamtgesellschaftlich operationalisiert, trotz der Anregungen Steins. Ausgerechnet die westfälische Adelslandschaft, in der diese anspruchsvolleren Selbstentwürfe zirkulierten, zeigte die geringste Bereitschaft, neue Mitglieder in die Adelskorporation zuzulassen, rekkurierte am nachhaltigsten auf Instrumente des Standesabschlusses wie Ahnenproben, oder eines adligen Mitspracherechts bei Nobilitierungen. Damit war schon allein auf der konzeptionellen Ebene die Entwicklung eines verallgemeinerbaren Adelsideals blockiert. Die vereinzelt durchaus anerkannte Aufgabe, Nichtadlige auf „Adligkeitsideale“ zu verpflichten, bzw. diese darin einzubinden, war damit handlungspraktisch blockiert. Ein Pendant zum integrativen englischen Gentleman-Ideal war so nicht zu schaffen, welches im Gegensatz zum Bild des französischen Citoyens der Revolution „heldische und händlerische, sportliche, religiöse und ästhetische Idealvorstellungen“ mit den Leitbildern einer ethisch-ästhetisch-kultivierten persönlichen Lebensführung hätte vereinen können, um so das Lebensziel einer ungebrochenen, ganzheitlichen Persönlichkeit (als Erbe älterer Adligkeit) den „erfolgreichen Wettbewerbern der neuen, kapitalistischen Gesellschaft“ nicht nur zu eröffnen, als vielmehr: aufzuerlegen!602 Das Problem einer preußischen „Adligkeit“ blieb bestehen. Friedrich Wilhelm IV.

602 Diese differenzierte Beschreibung des Gentleman-Ideals gab Carl Brinckmann, Die Aristokratie im kapitalistischen Zeitalter (Grundriss der Sozialökonomik, IX. Abt.), Tübingen 1926, S. 22-34; zit. nach Schwentker, Aristokratie, S. 675.



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sollte zwanzig Jahre später erneut ansetzen, um dieses Problem durch einen zentralen Zugriff endlich zu lösen. Die Brüche und Verwirrungen der Adelsreformdebatten in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1806 gaben aber schon einen Vorgeschmack auf die Schwierigkeiten dieser vormärzlichen Versuche, endlich die Frage zu klären: „Was ist Adel in Preußen?“

2.5.

Zwischen Reformzeit und Vormärz: ständische Neuformierung und adlige Binnenstabilisierung

2.5.1. Der Provinzialständeverfassung als latente Adelsformierung Trotz der Hardenbergschen Repräsentationsexperimente 1811 (Notabelnversammlung) und 1812 bis 1815 (interimistische Nationalrepräsentation) blieben alle Bemühungen um die Einrichtung einer ständischen Verfassung in Preußen Makulatur. Auch nach dem endgültigen Sieg über Napoleon war ungeklärt, wie oder ob überhaupt Stände als Mitspracheorgane organisiert werden sollten. Dies hatte seinen Grund nicht zuletzt in der weiterhin offenen Frage, wie die verschiedenen sozialen Gruppen in dieser Repräsentation berücksichtigt werden sollten. Insbesondere galt dies für den Adel – für die Bauern und das Bürgertum hatten die Reformer mit dem Oktoberedikt 1807 und der Städteordnung von 1808 Grundlagengesetze geschaffen.603 Für den Adel war aufgrund der oben geschilderten Hindernisse eine solche Entscheidung unterblieben. Seine politische Rolle im sich formierenden bürgerlichen Verfassungsstaat war nach der wirtschaftlichen Öffnung und Dynamisierung der Stände durch das Oktoberedikt bei unterbliebener Sozialreform des Adels weiterhin strittig. Eine sozialständische Teilung der historischen Adelskorporation, um so die adligen Gutsbesitzer als Kern einer neuen Elite von Eigentümern nach dem Muster der bürger- und bäuerlichen Ständeformationen als Erwerbs- bzw. Funktionsstand neu zu definieren und einzugliedern, war unterblieben, und dies beließ den Adel in einer ambivalenten Lage. Umfang und genaue Bedeutung der sozialen Adelskorporation (jenseits der adligen Gutsbesitzer) für Staat und Gesellschaft blieben offen. Nicht zuletzt das tiefe Misstrauen Hardenbergs gegenüber der Rolle des Adel als sozialer Korporation belastete die drängende Ständefrage. Die Einführung einer politisch einflussreichen Repräsentation musste nach Lage der Dinge dem Adel neue Wirksamkeit zuspielen, die Hardenberg allein als rückwärtsgewandt und obstruktiv wahrnehmen wollte.604 Dies hatte Harden-

603 Conrad, Vincke, S. 252. Vgl. zur Kommunal- bzw. Agrarreform Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 172-183, bzw. S. 183-198. 604 Vgl. die zuspitzende Zusammenfassung der letztlich politisch einflusslosen und für die weitere ständische Entwicklung fruchtlosen Repräsentationsorgane, sowie die Gründe ihres Scheiterns: Zeeden, Hardenberg, S. 109-138.

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berg vor allem während der von ihm 1811 einberufenen Notabelnversammlung so erfahren, als der Adel die Beschwerden der überkommenen Stände formulierte. Dabei hatte sich Hardenberg in seinen Ansichten nicht durch die Tatsache irritieren lassen, dass während der interimistischen Nationalrepräsentation 1812 eine bürgerliche Gruppierung auf eine weitere Konstituierung dieser Versammlung und eine Klärung ihres Verhältnisses zur Verwaltung gedrängt hatte. Hardenbergs rücksichtsloses Vorgehen entfremdete und bestürzte durchaus reformwillige und kooperationsbereite Vertreter des Adels wie z.B. Achim v. Arnim.605 Das daraus erwachsende Misstrauen zwischen Administration und Repräsentanten verhinderte, dass es zu einer „lebendigen Wechselwirkung von Staat und ‚Nation‘ gekommen wäre“.606

Die Verfassungskommissionen des Staatsrats Im März 1817 wurden endlich die Reformen mit der Einrichtung eines Staatsrates auch hinsichtlich der Verwaltungsorganisation abgeschlossen. Als „höchste beratende Behörde“ sollte der Staatsrat die Gesetze wie die Verfassungs- und Verwaltungsnormen diskutieren, bevor sie dem König zur Genehmigung vorgelegt wurden. Seine Tätigkeit war schon auf die Zusammenarbeit mit einer künftigen ständischen Versammlung ausgerichtet. Und als eine der ersten Aufgaben wurde der frischgebildete Staatsrat mit der Ausarbeitung einer entsprechenden Repräsentationsordnung beauftragt. Für diese Aufgabe wurde am 30. März 1817 eine Kommission mit 20 Mitgliedern des Staatsrates unter der direkten Leitung des Staatskanzlers Hardenbergs gebildet. Nach den restriktiven Auflagen des Königs hatte diese Kommission zu beachten, dass die Einrichtung von Provinzialständen Priorität besäße, und die zu bildende Repräsentation letztlich nur beratende Kompetenz erhalten dürfe. Zur Einholung von Informationen über die bisherigen ständischen Verhältnisse in den Provinzen entsandte diese Kommission eine Reihe von Kommissaren aus ihrer Mitte, die Notabeln in den

605 Vgl. oben Kap. 2.4.3. 606 Zeeden, Hardenberg, S. 129, S. 143. Die Annahme, dass selbst in einer äußerst konservativ gefassten Provinzialständeverfassung ein Eintwicklungspotential vorhanden gewesen wäre, das sich in Richtung einer modernen Repräsentation hätte entwickeln können, ein grundsätzliches Vertrauen zwischen Administration und Gesellschaftsvertretern vorausgesetzt, lässt sich mit Blick auf Dänemark plausibilisieren: dort wurde ab 1831 eine streng nach preußischem Muster äußerst konservativ eingerichtete landständische Verfassung eingeführt. Aber in Dänemark entwickelte sich der moderne Parlamentarismus tatsächlich aus dieser Provinzialständeordnung. Für diese andere Entwicklung macht Friederike Hagemeyer das im Unterschied zu Preußen ausgesprochen gute Vertrauensverhältnis zwischen Verwaltung und Ständen verantwortlich, vgl. Dies., Preußische Provinzialstände als Vorbild für Dänemark. Vergleiche der ständischen Gesetzgebung Preußens von 1823/24 mit den Provinzialständegesetzen für das Königreich Dänemark von 1831/34, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Band 38 (Schwerpunktthema: Historische Landschaften des östlichen Mitteleuropa in der Forschung, Erster Teil), Berlin 1989, S. 199-250, bes. S. 237-242.



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Provinzen befragen und die Ergebnisse an die Kommission berichten sollten.607 Doch die Berichte der Kommissare ließen bis 1818 auf sich warten. Erst im Mai 1819 konnte Hardenberg dem König die Grundzüge einer Repräsentation zur Begutachtung vorlegen: in Übereinstimmung mit den Reformgrundsätzen seit 1806 sollten die freien Eigentümer die eigentliche Nation konstituieren, ohne dass diese Eigentümerschicht schon genauer definiert war. Die Ergebnisse der seit 1807 erfolgten Gesellschaftsreform wurden voll berücksichtigt, die Repräsentationsfähigkeit entsprechend erweitert und insbesondere den Bauern eingeräumt. Nach Hardenbergs Vorstellung sollte die Repräsentation von Kreis- über die Provinzial- bis zur Gesamtstaatsebene dreistufig sein. Bürgerliche und adlige Rittergutsbesitzer würden in einem Stand zusammengefasst, für deren Stimmrecht auf Kreisebene eine (noch nicht genau bestimmte) Besitzgröße bestimmend wäre, und nicht etwa die überkommene Rechtsqualität eines Ritterguts! Der allgemeine Landtag würde aus zwei Kammern bestehen, in deren erste neben den Prinzen des königlichen Hauses, den Standesherren und sonstigen vom König ernannten Deputierten auch eine Reihe von den Ständen gewählte und vom König bestätigte Gutsbesitzer säßen. Nach einer Begutachtung des Hardenbergschen Vorschlags durch verschiedene Minister und Mitglieder der Administration schlug deren Mehrheit vor, innerhalb der aus dem Staatsrat gebildeten Verfassungskommission einen Ausschuss mit nur fünf Mitgliedern zu bilden, um einen Vorentwurf der Repräsentation ausarbeiten zu lassen. Der König stimmte diesem Vorschlag zu. Es gelang Hardenberg, den Vorsitz dieses Ausschusses übertragen zu bekommen, obgleich dafür ursprünglich Wilhelm v. Humboldt designiert war. Hardenberg schlug nun seinerseits als Mitglieder die Staatsräte Ancillon, Daniels, Eichhorn, sowie die Minister des Inneren Humboldt und Schuckmann vor. Dieser Ausschuss tagte nur zweimal, doch erarbeiteten dessen Mitglieder eigene Gutachten, die auf der zweiten Sitzung ausgetauscht wurden. Die für eine dritte Sitzung vorgesehene Diskussion der verschiedenen Gutachten fand jedoch nicht mehr statt. In der uns hier vordringlich interessierenden Adelsfrage zeichnete sich innerhalb dieser Kommission sogleich ein bezeichnender Konflikt ab: besonders Humboldt bestand in Gegensatz zu Hardenberg darauf, den gutsbesitzenden Adel unbedingt als eigenen politischen Stand von den übrigen „Landbesitzern aller Art“ abzusondern608 – sonst würde der Adel „seines ganzen politischen Charakters entblößt“ und

607 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 95f. Vgl. zu diesem Vorgang und den dabei eingeholten Informationen oben Kap. 2.4.3. 608 Friedrich Wilhelm Christian Karl v. Humboldt (1767-1835), der ältere Bruder des Naturforschers Alexander, entstammte einer ursprünglich bürgerlichen Familie, die über mehrere Generationen herausragende Amtmänner in der Verwaltung Brandenburgs stellte und sich seit dem späten 17. Jahrhundert mit mehreren Adelsfamilien verschwägerte, bevor dem Großvater Wilhelms 1738 offiziell der Adel „bestätigt“ wurde. Von den Eltern systematisch auf eine wissenschaftliche und öffentliche Stellung im Staatsdienst vorbereitet, studierte Humboldt an der Viadrina in Frankfurt/O. und Göttingen

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zu einem „Spiel der Eitelkeit“ gemacht.609 Die bürgerlichen Rittergutsbesitzer sollten deshalb mit den Landgemeinden (Bauern) im dritten Stand repräsentiert werden.610 Den Adel allein als Grundbesitzer nach einem bestimmten Mindesteinkommen für die Landstandschaft zu berücksichtigen würde bedeuten, ihm seinen politischen Charakter zu rauben, so Humboldt. Dann könne er auch gleich ganz aufgegeben werden. Nur als Korporation mit politischen Privilegien, wie auch Stein insistierte – aber nur hinsichtlich der Landstandschaft, also ohne soziale Vorrechte, insbesondere das Steuerprivileg habe zu fallen – könne der Adel eine Zukunft haben (§§ 82-84, 95 des Humboldtschen Gutachtens). Weder unbegüterter Adel, noch der Bürgerliche in Besitz eines adligen Gutes könne die adlige Landstandschaft (mit dem Recht zu wählen und

Jura und Altertumswissenschaften. 1789 bereiste er für einige Wochen das revolutionäre Frankreich, machte ausgedehnte Reisen in Süddeutschland und der Schweiz. 1790 begann er seine Karriere im preußischen Staatsdienst am Berliner Kammergericht. Bald verließ er den Staatsdienst wieder, um als Privatier auf einem Landgut seines Schwiegervaters in Thüringen privat-wissenschaftlichen Studien nachzugehen. Ab 1797 ermöglichte ihm das mütterliche Erbe mehrjährige Aufenthalte in Paris und Spanien. 1802 wurde er preußischer Ministerresident in Rom. Erst die Ereignisse nach 1806 und der drohende persönliche Ruin durch die Folgen der preußischen Niederlage brachten ihn nach Preußen zurück. 1809 übernahm er nach Empfehlung durch Stein die Sektion Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium unter Minister Dohna, in deren Funktion er 1810 die Berliner Universität gründete. Ab 1810 übernahm Humboldt verschiedene Posten im diplomatischen Dienst, wo er im Abschluss des Pariser Friedens 1814 und auf dem Wiener Kongress wichtige Funktionen übernahm. Seit 1817 Mitglied des Staatsrates wurde er im Januar 1819 zum Minister des Inneren ernannt, in welcher Funktion er allerdings nur einen halben Geschäftskreis erhielt, jedoch zuständig für die ständischen und Kommunalangelegenheiten war. Wegen seines Protestes gegen die Politik der Karlsbader Beschlüsse wurde Humboldt auf Betreiben Hardenbergs schon im Dezember 1819 von allen seinen Ämtern enthoben, vgl. ADB, Bd. 13, S. 338-358. 609 Vgl. das Gutachten von Humboldt: „Über Einrichtung landständischer Verfassungen in den Preußischen Staaten“, undatiert (zwischen 18. und 28. Okt. 1819), abgedruckt und kommentiert bei Arndt Schreiber, Wilhelm v. Humboldt und Karl Freiherr vom Stein. Über Einrichtung landständischer Verfassungen, Heidelberg 1949, S. 5-69. Allein zum Adel umfasste dieses Gutachten die stattliche Zahl der § § 82-117!! Siehe zur engen Verbindung zwischen Stein und Humboldt: Siegfried Kaehler, Beiträge zur Würdigung von Wilhelm v. Humboldts Entwurf einer ständischen Verfassung für Preußen vom Jahre 1819, Freiburg i. Breisgau 1914, S. 391. Zur inhaltlichen Nähe zwischen Stein und Humboldt bei partiellen Differenzen siehe Weitz, Der Niederrheinische und Westfälische Adel, S. 173-177. Unterschiede gab es vor allem bzgl. der gedachten Kompetenzen: Humboldt gab sich „beamtennäher“ (Unabsetzbarkeit der Beamten durch ständische Vertretung), und wollte einer landständischen Einrichtung vor allem Kontroll- und Beratungsfunktionen zugestehen. Stein zeigte sich auch hierin wieder „liberaler“, wollte die Repräsentation ausdrücklich als politische Entscheidungsinstanz, da ein nur beratender ständischer Körper zur Disziplinlosigkeit neige und eine rein negative Arbeitsauffassung entwickele. 610 Dieselbe Ständegliederung findet sich in Steins Denkschrift „Über die Einrichtung von Provinzialständen und ihre Geschäftsordnung“ v. 27. März 1818, in: Stein, Fünfter Band, Nr. 666, S. 746-752, hier S. 747. Auch Rehdiger hatte ja eine vergleichbare Ständegliederung schon 1808 vorgeschlagen, vgl. oben Kap. 2.3.1.



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gewählt zu werden) ausüben. Diese wäre so „persönlich wie dinglich“ gebunden.611 Doch weder der Verkauf adliger Güter an Bürgerliche solle vom Staat unterbunden werden, noch dürften Ahnenproben außer bei strikt privaten Stiftungen Berücksichtigung finden (§§ 88, 92, 93). Der gutsbesitzende Adel sollte nach Humboldts Ansicht als „Erbstand“ in der von ihm gewünschten ersten Kammer der Zentralpräsentation fungieren. Um diese Rolle ausfüllen zu können, war es nach Humboldts Ansicht notwendig, dessen Grundbesitz „als Majorat zu vinkulieren“ (§§ 106-112). Als Besonderheit wollte Humboldt dieser ersten Kammer auch Abgeordnete zugestehen, die sich durch Erlegung eines – je nach Provinz – doppelten oder dreifachen Steuersatzes auszeichneten (aber selbstverständlich ebenfalls „angesessen“ sein mussten). Diese Positionen hatte Humboldt in enger Abstimmung mit Stein entwickelt und sie stehen ja auch in deutlicher Kontinuität zu dessen Ständevorstellungen von 1807 bis 1808.612 Die Mehrheit dieser „kleinen Verfassungskommission“ tendierte ebenfalls zu dieser von Humboldt vorgeschlagenen Dreiständegliederung aus adligen Gutsbesitzern, städtischem Bürgertum und einem dritten Stand, bestehend aus Bauern und allen nichtadligen Grundbesitzern.613 Allerdings wollte die selbe Mehrheit in Übereinstimmung mit Hardenberg kein adlig-erbständisches „Oberhaus“ als erste Kammer des Gesamtlandtages, sondern lediglich, dass einige Gutsbesitzer von Adel durch die Ritterschaften der Provinziallandtage hinzu gewählt werden sollten. Ausschlaggebend dafür waren die Zweifel, ob es genug geeignete Adelsfamilien in Preußen für eine rein erbständische Kammer aus Adligen gebe.614 Mag in der Retrospektive der Hardenbergsche Vorschlag einer „Mischung“ adliger und bürgerlicher Rittergutsbesitzer im ersten Stand als das zukunftsweisendere, „modernere“ Konzept erscheinen, so zeigt bei näherer Betrachtung der Humboldtsche Vorschlag den Vorteil einer größeren inneren Stringenz: in dessen Entwurf befanden sich die politische und die in Preußen ja immer noch bestehende, wenn auch gelockerte soziale ständische Gliederung in Übereinstimmung – der Hardenbergesche Vorschlag musste dagegen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die sozialständische Spannung zwischen Adel und Nichtadel in den politischen Stand der Rittergutsbesitzer hineintragen und auf Dauer stellen. Das Humboldtsche Modell hätte dagegen logisch zwingend erfordert, dass zur Stärkung des adligen ersten Standes eine zielgerichtete Nobilitierung bürgerlicher Rittergutsbesitzer seitens der Regierung durchgeführt werden musste! – die allmähliche Angleichung der sozialen Stände

611 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 109. 612 Dennoch gab es auch signifikante Differenzen zwischen den Konzeptionen Humboldts und Steins: vgl. Steins Anmerkungen zu Humboldts Gutachten v. 25. Febr. 1819: Stein, Briefe, Sechster Band, S. 25-38. Siehe auch Gembruch, Stein, S. 117-120 und Hundt, Stein, S. 70-72. 613 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 120. 614 Auch Vincke hielt schon 1808 die Einführung eines adligen Oberhauses nach englischem Muster für Preußen nicht für praktikabel, weil dazu der reiche Adel fehle, vgl. Mayer, England als Vorbild, S. 47.

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wäre dem Muster der politischen Ständeordnung gefolgt, und eine soziale Spaltung des ersten Standes der Rittergutsbesitzer wäre verhindert worden. Eine ständepolitisch logische, im Interesse der Regierung und des Monarchen stehende „allmähliche“ Adelsreform durch die soziale Erweiterung und Erneuerung des Adels hätte sich gewissermaßen „von selbst“ aufgrund der „Sachlage“ aufgedrängt. Stattdessen zeichnete Hardenbergs Vorschlag ein „ständisches Paradoxon“ vor: die ständisch privilegierten Rittergutsbesitzer gingen nun nicht mehr im sozial privilegierten Adelsstand auf. Umgekehrt erfolgte aus dem eventuellen Wunsch der Regierung nach einer Stärkung und Ausweitung des ersten Standes der Rittergutsbesitzer keineswegs der Zwang zu einer Nobilitierungspolitik – politische und soziale Privilegierung konnten unter dieser Voraussetzung zunehmend außeinanderdriften:615 der sich entwickelnden politischen Dynamik des ersten Standes der Rittergutsbesitzer musste keine sozial-ständische Dynamik entsprechen oder entgegenkommen! Die Nobilitierungspraxis der preußischen Monarchen bestätigte diese Spaltung, indem der Erwerb, selbst die Vererbung von Rittergütern die Nobiliterungschancen keineswegs erhöhten! Friedrich II. hatte, wie oben bemerkt, den Übergang von Rittergütern in bürgerliche Hände grundsätzlich bremsen, wenn nicht stoppen wollen; entsprechend honorierte er auch höchst ungern bürgerliche Rittergutsbesitzer mit dem Adelstitel. Nachdem sein Neffe und Nachfolger Friedrich Wilhelm II. diese Nobilitierungspolitik liberalisiert hatte, kehrte Friedrich Wilhelm III. zur restriktiven Politik seines Großonkels zurück. Dieser letzte Monarch ist für die vorliegende Bertrachtung von besonderem Interesse, da dessen Nobilitierungspraxis nach der Reformzeit und unter der neuen Provinzialständeordnung natürlich Präzedenzcharakter erhielt.616 Eine gezielte, systematisch-bevorzugende Nobilitierung bürgerlicher Rittergutsbesitzer hätte in den Jahrzehnten nach 1823 selbst aus den begrenzten Potentialen der konservativ verfassten Provinzialstände politische Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen, vor allem aber den Adel zu einer Politisierung anregen können. Doch eine „erratische“ Nobilitierungspraxis in Preußen, die mit der Ausnahme Friedrich Wilhelms IV. gerade die bürgerlichen Rittergutsbesitzer überging, ließ diese Potentiale verfallen.617 Das preu-

615 Entsprechend dazu entfernten sich die bis dahin synonymen Begriffe „Ritterschaft“ und „Adel“, vgl. Schiller, Nobilitierungen, S. 72. 616  Stattdessen wurden die bürgerlichen Rittergutsbesitzer nicht nur durch den Landadel, sondern auch durch die zuständigen Behörden und die Monarchen, mit Ausnahme Friedrich Wilhelms IV., eher als skeptisch beäugte „Eindringlinge“ betrachtet. Friedrich II. hatte in seiner langen 48jährigen Regierungszeit nur 17 Rittergutsbesitzer nobilitiert, davon allein 12 in dem neu eroberten Schlesien, Friedrich Wilhelm II. dagegen in nur 11 Jahren 33! Friedrich Wilhelm III. nobilitierte wieder nur durchschnittlich einen Rittergutsbesitzer pro Jahr, das waren insgesamt 40 Personen/Familien in seiner langen Regierungszeit, vgl. die Nobilitierungsrelationen nach Schiller, Nobilitierungen, S. 69ff; 73f. 617 Friedrich Wilhlem IV. signalisierte die beabsichtigte adelspolitische Wende mit einem früher ungekannten Schub von allein 29 nobilitierten Rittergutsbesitzern in seinem ersten Regierungsjahr.



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ßische Auszeichnungssystem blieb aufgrund informeller und der Öffentlichkeit nicht bekannter Kriterien höchst willkürlich und für die einzelnen für eine „Begnadigung“ (Standeserhöhung) in Frage kommenden Personen schier unkalkulierbar.618 Schon darin bestand ein erheblicher Unterschied zur englischen Praxis des monarchischstaatlichen Auszeichnungssystems.619 Womöglich hatte Hardenberg gehofft, durch eine sozialständische Spaltung des ersten Standes die weitere Entwicklung dieses Standes im Sinne einer tendenziellen „Verbürgerlichung“ gewissermaßen erzwingen, den Adel im ersten Stand politisch überspielen zu können. Doch wie sich nur zu bald zeigte, erfolgte aus der relativen Interessenkonvergenz in wirtschaftspolitischer Hinsicht keineswegs eine sozial-ständische Annäherung:620 wirtschaftliche Dynamisierung des Gutsbesitzes und soziale Verharrung der diesen Gutsbesitz repräsentierenden Gruppen konnten unverbunden nebeneinander bestehen.621 Tatsächlich erwies sich im Verlauf der Provinzialständeversammlungen, dass die bürgerlichen Rittergutsbesitzer nur geringen politischadministrativen Ehrgeiz entwickelten: an der ihnen übertragenen Ortspolizei und Patrimonialgerichtsbarkeit, an der Mitwirkung in der Kreisstandschaft zeigten sie relativ geringes Interesse und waren überdurchschnittlich bereit, auf diese Privile-

Auch wenn die Nobilitierung von Rittergutsbesitzern in den Folgejahren wieder deutlich zurückging, so indiziert ihr enormer Anteil von 41 % an allen Nobilitierungen während seiner Regierungszeit vielleicht noch überzeugender den beabsichtigten Politikwechsel. Dieser Anteil wurde erst unter (der allerdings extrem kurzen) Regierungszeit Friedrichs III. wieder erreicht und sogar übertroffen, vgl. Schiller, Nobilitierungen, S. 74. Ein noch späterer Versuch in Preußen, den Rittergutsbesitz doch noch als Nobilitierungsmittel aufzuwerten kann in der Initiative der preußischen Regierung von 1903 gesehen werden, durch eine neues Fideikommissgesetz diese Form der Bodenbindung für Bürgerliche interssanter zu machen. In diesem Zusammenhang wurde darüber nachgedacht, bürgerlichen Fideikommissbesitzern mit einem Mindesteinkommen von 10.000 Reichsmark automatisch die Nobilitierung anzubieten, vgl. Schwentker, Aristokratie, S. 678. 618 Die nach Fritz Martiny „vernünftige Nobilitierungspolitik“ Friedrich Wilhelms IV. konnte sich daher kaum auf historische Vorläufer berufen. Gerade die angeblich zu hohen Nobilitierungsraten seien schon Ende des 18. Jahrhunderts in der Kritik gestanden, vgl. Ders., Adelsfrage, S. 77. 619 Vgl. SCHILLER, Nobilitierungen, S. 83, nach Hartmut BERGHOFF, Aristokratisierung des Bürgertums? Zur Sozialgeschichte der Nobilitierung von Unternehmern in Preußen und Großbritannien 1870-1918, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 81 (1994), S. 178-204, hier bes. S. 188 u. 192. 620 Zudem war es dem alten Landadel und Teilen der Bürokratie gelungen, die Gruppe der meist bürgerlichen Besitzer der aus den ehemaligen Domänen gebildeten neuen Rittergüter, die nach 1807 entstanden waren, durch die Kategorie der „Kreisstandschaft“ aus den Provinziallandtagen herauszuhalten, und damit zu Rittergutsbesitzern zweiter Klasse zu machen, vgl. René Schiller, Vom Domänenvorwerk zum Rittergut. Die Domänenveräußerungen in der Kurmark in der erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 47 (1996), S. 86-104, hier S. 9496. 621 Eine Annäherung in den (wirtschafts-)politischen Ansichten, aber keine Verbindung über Verkehrskreise und Konnubium oder gar „Verschmelzung“ stellt noch Hartwin Spenkuch für das späte 19. Jahrhundert fest, vgl. Ders., Herrenhaus, S. 179.

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gien zugunsten der staatlichen Behörden zu verzichten – jenseits ihrer Qualitäten als „gute Wirtschafter“ wurden sie damit der dem Rittergutsbesitzerstand auferlegten öffentlich-administrativen Aufgabenzuweisung kaum gerecht.622 Dieser doch zur „Herrschaftsformation“ und Stütze des Staates designierte Stand drohte „ständefunktionell“ innerlich „zersetzt“ zu werden. Deshalb ließ schon 1829 (!) der König durch das Staatsministerium prüfen, inwiefern dieses Verhalten die ständische Ordnung in Frage stelle.623 Mit der einzig abweichenden Stimme des Innenministers Schuckmann (!) kam das Staatsministerium zu dem Schluss, dass die Patriomialgerichtsbarkeit für die Erbringung der Rittergutsqualität unverzichtbar sei, um die erhöhte politische Bedeutung der Besitzer zu sichern, und als Ehrenrecht die Besitzer mit einer höheren sozialen Position und „Wirksamkeit“ auszustatten.624 „Bodenfläche“ allein

622 Der pommersche Rittergutsbesitzer und führende Konservative Adolph v. Thadden-Trieglaff formulierte diese Kritik an seinen bürgerlichen „Mitständen“ 1844 folgendermaßen: „Wer übrigens sein Rittergut ganz allein als Erwerbsquelle betrachtet, wer z.B. seinen Jährlingsstall täglich, seine Dorfschule niemals, den Viehmarkt immer, den Kreistag nimmer besucht; ... der thut sehr wohl, sein Gut an einen wirklichen Rittergutsbesitzer zu verkaufen, und dafür in ... Nordamerika eine Plantage zu erwerben [...]“; Adolph v. Thadden-Trieglaff, Der Schacher mit Rittergütern (Ein Streifzug), in: Archiv für vaterländische Interessen oder Preußische Provinzialblätter. NF (1844), S. 365-377, hier S. 367. Zum „politischen Versagen“ der bürgerlichen Rittergutsbesitzer, vgl. Koselleck, Landrecht S. 513517. Schon ein Gesetz vom 8. Mai 1837 (vgl. Gesetzsammlung Nr. 99, Gesetz betr. persönlicher Fähigkeit zur Ausübung der Standschaft) legte fest, dass mit dem Verlust der „Unbescholtenheit“ – sei es durch Spruch der Kreisstände, oder durch Rechtserkenntnis der Gerichte, oder Verlust des Staatsbürgerrechts – auch die „Ehrenrechte“ (Patrimonialgerichtsbarkeit, Patronat) verlustig gehen würden. In den 1840er Jahren wurde dann den Kreisständen sogar ein Einspruchsrecht über die Aufnahme eines Ritters in den eigenen Stand zugestanden, was sich auch in den zeitgleichen Adelsreformdiskussionen widerspiegelte, in welchen den Provinzialständen ein äquivalentes Einspruchsrecht bzgl. Nobilitierungskandidaten zuerkannt wurde, vgl. Schiller, „Edelleute…“, S. 284, und unten Teil II. Kap. 3.4.3. 623 Vgl. die Antwort des Staatsministeriums auf die Anfrage des Königs vom 16. Juni 1830 in: GSTAPK Rep. 89, Nr. 14080 (Landtagsfähige Rittergüter allgemein, Rittergutsqualität 1827-1883), Bl. 23-25v. 624 Schuckmann berief sich in seinem abweichenden Votum vom 5. Juli 1829 auf die Entscheidungen der Mehrzahl der Landesjustizkollegien, ebd. Bl. 26-29. Schon zuvor hatte sich Schuckmann gegenüber dem Qualifikationskriterium der Patrimonialgerichtsbarkeit für die politische Standschaft distanziert-skeptisch geäußert, was dem in der Literatur regelmäßig kolportierten Bild eines konservativ-„pro-ständischen“ Ministers völlig entgegen steht. Allein da Friedrich Wilhelm III. in mehreren „Allerhöchsten Verordnungen“ (vom 17. August 1825, 17. Mai 1827 und den 2. Juni 1827) ausdrücklich die Rittergutsqualität nur solchen Gütern verleihen wollten, die über die Patrimonialgerichtsbarkeit verfügten, sprach sich Schuckmann für eine vorausgehende Verleihung dieses „Ehrenrechts“ an Gutsbesitzer aus, die die Verleihung der Rittergutsqualität nachsuchten. Denn Schuckmann wollte die Aufnahme neuer qualifizierter Güter in die Rittergutsmatrikel unbedingt befördern: „Gleichwohl halte ich für sehr zweckmäßig die Ritterschaft, welche jetzt allein die Aristokratie des Staats bildet [! Hervorhebung G. H.], und in welcher sich nur zu viele Besitzer kleiner eine unabhängige und anständige Existenz gewährender Güter befinden, durch den Hinzutritt anderer Besitzer größerer, durch ihren Umfang sich dazu eignenden Landgüter zu verstärken und selbst durch dergleichen Verleihungen zur Konsolidierung größerer Besitzungen anzureizen.“ Trotzdem wird selbst in diesem Zusam-



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genüge nicht, um ein Gut politisch zu bevorrechten. Aus Sicht der zentralstaatlichen Administration stellte sich insbesondere seit den 1840er Jahren verstärkt die Frage, ob und wie innerhalb der Ritterschaft neue Kriterien einer persönlichen Würdigkeit zur Ausübung der Standschaftsrechte einzuführen wären, wenn der Staat nicht gleich sämtliche Hoheitsrechte an sich ziehen solle: die diskutierten Vorschläge liefen darauf hinaus, einen neu zu definierenden eigentlichen „Ritterstand“ als Hoheitsträger gewissermaßen zu „verbeamten“!625 Insofern ließe sich die Frage stellen, ob Humboldts Modell für die weitere ständepolitische Entwicklung Preußens nicht eine günstigere Ausgangsposition geschaffen hätte! Wogegen sich die spannungsreiche Konstellation der unterschiedlichen sozial-ständischen Positionierung adliger und nichtadliger Rittergutsbesitzer – mit Ausnahme der Stände in der Provinz Preußen – als politischer Blockadefaktor für die Entwicklungsfähigkeit der preußischen Ständeverfassung bis in den Vormärz entpuppte! Musste Hardenbergs Versuch nach 1815, eine Verfassung gegen die überkommene „Aktivbürgerschaft“ des Adels zu begründen, nach der damaligen Lage der sozialen Machtressourcen nicht von vornherein scheitern? Denn damit löste er seinen Verfassungsentwurf ausgerechnet von der Sozialgruppe, die eine Repräsentation gegenüber der Verwaltung am nachhaltigsten forderte und in Folge mit Bedeutung und Macht hätte ausfüllen können.626 Das Misstrauen und die innere Entfremdung

menhang Schuckmanns eigentliches Anliegen, die Patrimonialgerichtsbarkeit durch die staatlichen Gerichtsbehörden einziehen zu lassen, deutlich. Allein, da die meisten (kleinen) Gutsbesitzer nicht „[...] leicht auf den Gedanken kommen [würden], deshalb einen besonderen Justiziar anzunehmen und die dazu sonst erforderlichen Einrichtungen zu treffen“, vielmehr „[...] wohl meistens die Verwaltung der eigentlichen gerichtlichen Geschäfte der nächsten unmittelbaren Gerichtbehörde [...]“ übergeben würden, sei eine solche Verleihung der Patrimonialgerichtsbarkeit unbedenklich, um so weniger, als sich diese Jurisdiktion nur auf die auf dem Gut lebenden „Tagelöhner“ und „Dienstboten“ erstrecke, „welche ihr freyer Wille allein an das Gut bindet“, wogegen die „bürgerliche Freiheit“ sonstiger eventuell auf dem Gut lebender Personen nicht berührt werde. Dem Gutsbesitzer blieben auch im Falle einer Delegation der Patrimonialjurisdiktion die polizeilichen Befugnisse, die für die Sicherung der gutsobrigkeitlichen Gewalt über das Gesinde wichtiger sei. Vgl. ein Schreiben von Schuckmann an den König vom 9. April 1828, siehe Ebd., Bl. 4. Dies also in weiteres Beispiel, welcher Differenzierung es bei der Zuschreibung „konservativer“ Positionen in dieser Zeit bedarf, und dass „konservative“ Haltungen keineswegs pauschal als „pro-adlige“, bzw. „pro-Gutsbesitzer“-Interessen gedeutet werden dürfen. Vgl. dagegen die vereinfachende Zuordnung Schuckmanns als eines Gewährsmannes „ständischer Restauration“ z.B. bei Herbert Obenaus, Die Immediatkommission für die ständischen Angelegenheiten als Instrument der preußischen Reaktion im Vormärz, in: Festschrift für Hermann Heimpel, hrsg. von den Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Göttingen 1971, S. 411-446, hier S. 418. 625 Koselleck, Landrecht, S. 513-517. 626 Es fällt bei der Durchsicht der bürgerlichen adelskritischen und gesellschaftsreformerischen Literatur mindesten bis 1815 auf, dass darin vor allem Gleichheitsforderungen bzgl. der staatlichen und höfischen Karrierewege, der Gerechtigkeitspflege, Besteuerung und Konskription erhoben werden; Forderungen nach politisch-parlamentarischer Partizipation aber fehlen weitgehend. So blieb

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des Adels gegenüber den neuen politischen Einrichtungen blieben aufgrund dieses Entstehungsprozesses von Dauer, trotz der späteren adels- und grundbesitzerfreundlichen Politik der Zentralbehörden.627 Der Grundkonflikt zwischen Adel und „Beamtenregiment“ entzündete sich eben nicht allein an materiell-ordnungspolitischen Fragen, wie der Ablösung der bäuerlichen Dienste und deren Entschädigung.628

Kronprinz Friedrich Wilhelm greift in die Ständediskussion ein Parallel zur „kleinen Verfassungskommission“ wurde im Februar 1820 eine weitere Kommission unter der Leitung des Staatssekretärs des Staatsrates und Präsidenten der Preußischen Bank Friese gebildet, die die neue Kommunal- und Kreisordnung ausarbeiten sollte.629 Die unter Friese ausgearbeiteten Vorschläge suchten einen alternativen Weg aus dem preußischen Verfassungsdilemma, indem sie sich an einem berufständischen Modell orientierten, wie es ja schon Hippel 1808 nach italienischem Muster angeregt hatte, und welche auch an die ständischen Prinzipien des ALR anknüpfen konnten.630 Doch dieser Versuch Frieses wurde durch die Intervention des als Reaktionär bekannten (und deswegen 1806 aus dem Staatsdienst entlassenen) Otto Karl Friedrich v. Voß-Buch im November durchkreuzt – Voß-Buch gutachtete über den Frieseschen Kommunalordnungsentwurf, und behauptete, dass dieser ein „künstliches Gewebe demokratischer Grundsätze“ sei.631 Der König, alarmiert über diese angebliche Wendung der Verfassungsdiskussion, ordnete deshalb im Dezember 1820 an, dass eine eigens bestellte Kommission unter dem Vorsitz des Kronprinzen den Frieseschen Kommunalverfassungsentwurf überprüfen solle.

es noch lange dem Adel überlassen, solche Ansprüche auf eine politische Teilhabeberechtigung zu erheben, vgl. oben Kap. 2.4.3. Siehe dazu Bleeck/Garber, Adel und Revolution, S. 98. 627 So stieg der Adel nach 1825 „nicht ohne englisches Vorbild“ nach 1825 schneller in der preußischen Verwaltung auf, vgl. Koselleck, Landrecht, S. 435. Zur Entfremdung des Adels vgl. Knaack, Arnim, S. 29. 628 Diese Ursache eines adligen anti-bürokratischen Ressentiments übersieht z.B. Herrmann Beck, wenn er betont, dass sich der Adel mit dem „konservativen“ Charakter des vormärzlichen Beamtentums hätte arrangieren können, vgl. Ders., Die Rolle des Sozialkonservatismus in der preußisch-deutschen Geschichte als Forschungsproblem, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Band 43 (Schwerpunktthema Adel und Ständewesen in Brandenburg und Preußen), 1995, S. 59-91, hier S. 82f. Es waren eben nicht einfach materielle Interessenkonflikte, weswegen z.B. Radowitz mit kaum verhohlenem Hass gegen das Beamtentum polemisierte, vgl. unten Teil II. Kap. 3.4.5. 629 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 128-136. 630 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 157. Vgl. zu Hippel oben Kap. 2.1.3. 631 Otto Karl Friedrich v. Voß-Buch war der Bruder der ersten Nebenfrau Friedrich Wilhelms II. Schon 1789 war er Staatsminister im Generaldirektorium gewesen, ab 1793 Departementsminister in Südpreußen. 1809 wurde er als Gegner der Reformen entlassen. Mit dem Machtverlust Hardenbergs begann sein zweiter politischer Aufstieg.



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Damit trat der damalige Kronprinz, der spätere Friedrich Wilhelm IV., erstmals offiziell in die Auseinandersetzungen um die Verfassungsordnung der Monarchie ein. „Seiner“ Kommission gehörten eimal mehr Ancillon und Schuckmann an, dazu stießen der Geheime Kabinettsrat Albrecht, der Oberpräsident Bülow, sowie Minister Wittgenstein. Da die Mehrheit dieser Kommission schon vor Zusammentreten in ihrer Verwerfung der Frieseschen Entwürfe einig war, konnte das endgültige Scheitern dieses Verfassungsvorschlags durch das ablehnende Gutachten im März 1821 nicht überraschen.632 Dieser Erfolg verschaffte dem Kronprinzen die Gelegenheit, den König zu überzeugen, dass auch für die Ausarbeitung der Provinzialverfassung eine von den Ministerialbeamten unabhängige Kommission zu bilden sei. Im Kampf um die Zusammensetzung der Kommission schlug sich der nun offen ausgebrochene Konflikt um die Stoßrichtung der weiteren Verfassungspläne nieder – während Hardenberg und seine Ministerialverwaltung in ihren Vorstellungen tendenziell auf eine Staatsbürgergesellschaft gleicher Rechte und Pflichten zielten, wollte der konservativ-reaktionäre Kreis des Hofadels im Bündnis mit dem Kronprinzen unbedingt eine sogenannte „landständische“ Verfassung durchsetzen. Tatsächlich wurde Hardenberg in der folgenden Entwicklung mit seinen Vorschlägen zur Bildung einer neuen Kommission übergangen, und damit faktisch aus dem weiteren Verlauf der Verfassungsdebatte ausgeschlossen. Nach dem Muster der ersten Kronprinzenkommission wurde durch eine Kabinettsordre vom 30. Oktober 1821 eine neue Gutachterversammlung zusammengerufen. Die Kommission setzte sich größtenteils aus Mitgliedern der vorangegangenen Kronprinzenkommission zusammen, nämlich Albrecht, Ancillon, Schuckmann und Wittgenstein; Bülow dagegen schied wegen Krankheit aus. Eher noch konservativer als die Vorgängerkommission wurde deren Mitgliederkreis durch den Neuberufenen Otto v. Voß-Buch. Die ebenfalls neu hinzugezogenen Verwaltungsbeamten Moritz Haubold von Schönberg, Chefpräsident der Regierung in Magdeburg, sowie Vincke, in seiner nunmehrigen Funktion als westfälischer Oberpräsident, die beide die sofortige Einführung einer zentralen Repräsentation von Reichsständen befürworteten, konnten dagegen als „Linke“ gelten.633 Zur Beratung wurden Notabeln aus den Provinzen hinzugezogen; dies geschah aber erst, als wesentliche Grundsätze durch die Kommission schon ausgearbeitet und durch den König gebilligt worden waren. Insbesondere in den „alten“ (Kern-)Provinzen war die Auswahl dieser Notabeln einseitig zugunsten großer Grundbesitzer, bzw. des Adels ausgefallen. Bauern wurden gar nicht befragt.634

632 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 141. 633 Voß-Buch wie auch Vincke wurden auf ausdrücklichen Wunsch des Kronprinzen zu der Kommission berufen, vgl. Mayer, England als Vorbild, S. 51, 53. Schon hier zeigte sich die während seiner späteren Regentschaft durchgängige Tendenz, Männer von sehr unterschiedlichen, teilweise entgegengesetzen Ansichten zur Beratschlagung zu berufen. 634 Die Kommission änderte auf die Einwände dieser Notabeln nur verschiedene Details, wie z.B. das Mindestalter für Wählbarkeit, vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 152f.

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Die Kommission arbeitete seit dem 4. Dezember 1821 und legte ihren abschließenden Bericht am 17. April 1823 vor.635 Darauf vollzog der König das Allgemeine Gesetz wegen Anordnung der Provinzialstände am 5. Juni 1823. Die speziellen Gesetze für das „Königreich Preußen“ (also Ost und Westpreußen), für die Mark Brandenburg und das Markgraftum Niederlausitz, für das Herzogtum Pommern und das Fürstentum Rügen folgten am 1. Juli 1823. Für das Herzogtum Schlesien, die Grafschaft Glatz und das preußische Markgraftum Oberlausitz, für das Großherzogtum Posen, die Provinzen Sachsen und Westfalen sowie die Rheinprovinzen wurden die entsprechenden Gesetze am 27. März 1824 erlassen.636 Das Gesellschaftsprogramm der Kronprinzenkommission Dieser Verfassungsgesetzgebung lag ein gesellschaftspolitisches Programm zugrunde, welches die Kommission in einem Berichtsentwurf an den König schon im Januar 1822 formuliert, aber letztlich nicht überreicht hatte.637 Mit Blick auf dieses Programm lässt sich die von der Kommission durch die Provinzialständegesetzgebung erhoffte gesellschaftspolitische Entwicklungsrichtung besser begreifen, als durch die letztlich erlassene Ständegesetzgebung allein. Die Kommission forderte eine Abkehr von der auf eine gleiche Staatsbürgergesellschaft zielenden Reformpolitik der vorangegangenen Jahre – eine behutsam anzusteuernde neue ständische Trennung der Staatsbürger war das erklärte Ziel. Dabei berief sich der Kronprinz, wesentlich vermittelt durch seinen alten Hauslehrer und Erzieher Ancillon, auf die zeitgenössische Lehre von Gentz, dass sich sogenannte „landständische“, d.h. korporativ gegliederte, von Repräsentativverfassungen grundlegend unterschieden, und beide Ansätze nicht kombinierbar seien.638 Dagegen hatte ja Humboldt in seinen Verfassungsplänen zwar ebenfalls eine

635 Die Protokolle und Berichte der Kommission sind erhalten in GSTAPK Rep. 77 Tit. 523 Nr. C 36. Sie wurden von Obenaus erschöpfend ausgewertet, vgl. Ders., Anfänge des Parlamentarismus, insbesondere S. 151-209. 636 Vgl. Allgemeine Gesetzsammlung für die Preußischen Staaten (GS), 1823, S. 129f (allg. Ständegesetz), und Sondergesetze für die Provinzen: Ebd., 1823, S. 130ff; 1824, S. 62ff, 108ff, 141ff. 637 Die Endfassung des Berichts vom 13. Januar 1822 verzichtete auf die gesellschaftspolitischen Ausführungen; vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 175. 638 Zur Rolle der Gentzschen Schriften für die zeitgenössische Kritik und Ablehnung von Repräsentativverfassungen, vgl.: Klaus Bosselmann, Der Widerstand gegen die Repräsentativverfassung. Die Bemühungen um die Errichtung des Repräsentativsystems bis zu ihrer Absage durch den k. k. Hofrath Friedrich von Gentz 1819, Berlin 1979. Im Falle von Jean Pierre Frédéric Ancillon (1767-1837) ist nicht ganz klar, ob er wirklich Initiator, oder nur opportunistischer Legitimator der kronprinzlichen „landständischen“ Ideen war. Ursprünglich suchte sich Ancillon als Verfechter eines konstitutionellen Systems zu profilieren (Über Souveränität und Staatsverfassung, Berlin 1815), entwickelte auch keine ständischen Ideen, die über die üblichen Leitgedanken der Zeit hinausgegangen wären (Über Staatswissenschaft, Berlin 1819), um dann in der Verfassungskommission ganz auf die Linie des Kronprinzen einzuschwenken! Ohne eine eigene systematische Staatsphilosophie zu entwickeln, verband Ancillon aufklärerische Grundgedanken über die Perfektionierung und Rationalität des Men-



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aus Korporationen gebildete Repräsentation angestrebt, diese aber nicht wie Gentz als eine Vertretung von Partikularinteressen betrachtet, sondern als Vertretung eines Gesamtwillens verstanden.639 In jedem Falle entschied sich aber die Ständekommission anders. Ganz dem Gentzschen Modell verpflichtet, sollte der Obrigkeitsstaat als „pouvoir neutre“ den „egoistischen“ Ständeinteressen gegenüber gestellt werden.640 Durch diese Entscheidung der Ständekommission war die „Tendenz zur Einheit der

schen mit organologischen Gesellschaftsvorstellungen, die in ihrer Wertschätzung der Geschichte der Romantik nahestanden. Kroll bezeichnet ihn entsprechend als „Eklektiker“, der rationalistischaufklärerisches mit romantischem Ideengut verband. Schon Paul Haake bezeichnete ihn (1920) gar als „Mitläufer“, vgl. Kroll, Staatsdenken, S. 41. Die widersprüchliche Bezeichnung Ancillons durch Erich Jordan als „ständisch-autokratisch“ bezeichnet diese unklare Position, vgl. Ders., Friedrich Wilhelm IV, S. 41ff. Ancillon war Urenkel eines hugenottischen Refugiés in Berlin, studierte in Genf Theologie und wurde 1790 Prediger an der Friedrichwerderschen Kirche in Berlin. Im Jahre 1792 erhielt er eine Professur für Geschichte an der preußischen Kriegsakademie. 1803 wurde Ancillon als Hofhistoriograph zudem Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin, 1809 Staatsrat im Kulturdepartement. Im Juni 1810 löste Ancillon Friedrich Delbrück als Erzieher des Kronprinzen ab. Nach der Volljährigkeit des Prinzen 1814 trat Ancillon in das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten ein. Als Angehöriger der Hofpartei spielte er eine wichtige Rolle als Gegenspieler Hardenbergs und enger Verbündeter der Restaurationspolitik Metternichs. Vgl. ADB, Bd. 1 Leipzig 1875, S. 420-424. 639 Die in der älteren Historiographie vorherrschende apodiktische Entgegensetzung von „vormodern“ landständischen und „modern“ repräsentativen Verfassungs- und Repräsentationsvorstellungen geht auf die von Gentz zur Zeit des Wiener Kongresses vor allem tagesaktuell-machtpolitisch geleitete Darstellung zurück. Dabei wurde die landständische Repräsentation als „partikularistisch“ charakterisiert, in welcher die einzelnen Stände sich allein der „privaten“ Interessenvertretung verpflichtet fühlten; wogegen die „Repräsentativverfassung“ sich als Vertretung eines abstrakten, politisch-öffentlich formulierten „Gesamtwillens“ verstünde. In der neueren Ständeforschung wird dies inzwischen als „Scheingegensatz“ zurückgewiesen, vgl. Stollberg-Rilinger, Vormünder, S. 303. Humboldts Kritik an den zeitgenössischen Repräsentativverfassungen hatte sich allein auf den Vorwurf gegründet, diese organisierten die Einrichtung einer Repräsentation von oben herab – seine sonstige Auffassung ständischer Repräsentation wich von der Theorie von Gentz völlig ab, vgl. Kaehler, Beiträge, S. 52ff. Neugebauer zeigte die Bezüge und Übergänge der älteren und neueren Repräsentationsauffassungen in der ostpreußischen Ständelandschaft an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf. Aus altständischen Wurzeln entwickelte sich dort ein ständisches Bewußtsein als Repräsentant des ganzen „Landes“ mit deutlich modernen Repräsentationsvorstellungen, vgl. Ders., Wandel. Vor diesem Forschungshintergrund erscheinen Humboldts Leitvorstellungen einer unvoreingenommenen Neubetrachtung wert, und gerade in einem internationalen Vergleich als durchaus nicht illusionär. 640 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 198. Zum grundsätzlichen Mißtrauen der Ständekommission wie auch der Verwaltung gegenüber dem politischen Mitspracherecht der Stände siehe Ebd., S. 191ff, spez. S. 192 und oben Kap. 2.5.1.; die brandenburgischen wie die schlesischen Stände forderten für alle Gesetzesvorhaben Mitspracherechte, unabhängig ihrer sonstigen konservativen Gesinnung. „Verwaltung und Stände waren demnach zwei Welten, die eigenen Gesetzen gehorchten: Die Stände und ihre Organisation waren das Bleibende, die Verwaltung aber unterlag dem Wechsel. [...]. Es sei daher ohne Bedeutung, wenn die ältere Einteilung der ständischen Verfassung mit den neuen Regierungs- und Oberpräsidialbezirken nicht übereinstimme.“, Ebd., S. 194.

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Nation“ und zu einer Neuschöpfung der Nation „von unten“ endgültig aufgegeben worden. Peinlich wurde im weiteren Vorgehen darauf geachtet, dass das Ständegesetz nicht schon durch seine Form einem Verfassungspapier ähnelte.641 Dem entsprechend spielte auch das englische Entwicklungsparadigma keine Rolle mehr. Zwar wurde in der Kommission das englische Beispiel mehrfach zitiert, aber es diente nur noch zur Rechtfertigung der generell verzögernden Linie der Kommission; allein Vincke nahm noch konkreteren Bezug auf die englische Form der Grundbesitzbindung als Grundlage des Wohlstandes sowie auf die englische Kommunalordnung als Voraussetzung einer starken Regierung.642 Für Ancillon hingegen legitimierte der Verweis auf England lediglich die angeblich historisch vorgehende Verfassungsarbeit der Kommission, als konkretes Regierungsmodell spielte es für ihn keine Rolle. Übertragbar seien die „politischen Gesetze“ Englands ebenso wenig, wie eine „hundertjährige Eiche in ein fremdes Land“ verpflanzt werden könne.643 Ein „englisches“ Paradigma lässt sich in der Arbeit der Kommission höchstens noch in dem Postulat entdecken, dass für die einzelnen Provinzen jeweils eigene ständische Regelungen gesucht wurden, um einen „historisch“ gewachsenen Charakter der Ständeordnung zu behaupten.644 Nur in der Annahme, dass Grundbesitzer „die Nation bilden“, das große Landeigentum politische Vorzugsrechte haben müsse, „weil es mehr Verpflichtungen auferlege als das kleine und der Boden immer die feste Grundlage des Staates ausmache“, führte die Kommission noch Elemente der älteren Reformpolitik fort.645 Diese Vorstellung bildete die letzte Brücke zwischen liberalen Reformern und restaurativ

641 Aus diesem Grund wurde der Vorschlag des Kommissionsmitglieds Schönberg zurückgewiesen, die für alle Provinzen gemeinsam zugrundeliegenden Bestimmungen in einem Gesetz zusammen zu veröffentlichen, da dies als die am 22. Mai 1815 angekündigte Verfassungsurkunde angesehen werden könne. Trotzdem entschloss sich die Kommission schließlich für ein allerdings sehr kurz gehaltenes Gesetz, vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 154, insbesondere Anmk. 17. 642 Nach 1815 sprach sich Vincke entgegen seiner früheren Überzeugungen verstärkt für eine herausgehobene Rolle des Adels in der Gesellschaft aus, betonte die Notwendigkeit eines grundbesitenden Adels mit seiner Ehrauffassung und materiellen „Stetigkeit“ für eine Ständeverfassung, und befürwortete zu dessen Absicherung die Bildung von Fideikommissen, vgl. Conrad, Vincke, S. 253. Siehe auch dazu oben Kap. 2.4.2. 643 Dies entgegen Jordan, Friedrich Wilhelm IV., S. 41f, der England als das „Ideal“ Ancillons bezeichnet. Das Credo der „Unverpflanzbarkeit“ führte Jean Pierre Frédéric Ancillon in seinem Werk „Über Souveränität und Staatsverfassung“ aus (Berlin 1815), vgl. Mayer, England als Vorbild, S. 54. 644 In Bezug auf den Kronprinzen kann allerdings Annelise Mayer nicht zugestimmt werden, dass das Vorbild England für die eigene konservative Ausrichtung schließlich sogar „unbrauchbar gefunden“ worden sei: Friedrich Wilhelm hielt am Vorbildcharakter Englands über alle politischen Brüche fest, insbesondere nach der englischen Reformbill von 1832, die viele andere „Konservative“ an England irre werden ließ! Vgl. Mayer, England als Vorbild, S. 56. Gerade Ende der 1830er Jahre erlebte die „Anglomanie“ allgemein unter dem Adel Mitteleuropas bis nach Ungarn hinein einen neuerlichen Aufschwung, vgl. Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 5, S. 10. 645 So die Argumente Ancillons, vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 182.



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orientierten Akteuren.646 Neu war allerdings, dass alle Arten von Grundbesitz nun einen Anteil an der Repräsentation gewähren sollten: nicht mehr nur der (vormals adlig) gedachten „Ritterschaft“ und den Städten, sondern jetzt auch den Bauern, deren Korporation später als „Landgemeinden“ bezeichnet wurde.647 Die Provinzalständegesetze schrieben der Sitzverteilung in den Landtagen dazu einen Schlüssel vor, der die Hälfte der Sitze der Ritterschaft, ein Drittel dem städtischen Grundbesitz und ein Sechstel dem bäuerlichen Grundbesitz zuwies.648 Der Ritterschaft wurde also eine eindeutige Führungsposition eingeräumt, doch wäre es irreführend, diese Ständepolitik der Kronprinzenkommission mit einer status-quo-Adelspolitik gleichzusetzen. Angestrebt wurde vielmehr eine neue Ständeordnung, der klare Konturen vorgezeichnet wurden. Auch der Adel wurde den neuen allgemeinen Grundsätzen und Richtungsentscheidungen unterworfen. Unter diesen Umständen käme es einer Verkürzung gleich, die durch die Kommission entworfene Provinzialständeordnung einfach als „Wiederherstellung eines Fundamentalkompromisses“ zwischen Monarchie und Adel zu deuten.649

Die „Neu-Stände“ werden relativ willkürlich entworfen – kein wirklicher Rückgriff in die Geschichte Tatsächlich blieb die Orientierung der Verfassungskommission an den geschichtlichen Verhältnissen rein äußerlich und oberflächlich. Zwar war in der Kabinettsordre die Kommission ausdrücklich angewiesen worden, sich in ihren Entwürfen und Vorschlägen für die Territorien, in welchen Provinzialstände stattgefunden hatten und formell nie aufgehoben wurden, möglichst eng an den historischen Formen zu orientieren. Und für die Provinzen, in denen solche Ständeversammlungen nie stattgefunden hatten oder durch die rheinbündische Politik der vergangenen Jahre aufgehoben worden waren, sollte die Kommission „die Lokalverhältnisse berücksichtigen und die monarchische Verfassung stets im Auge behalten“.650 Doch die durch die Provinzial-

646 Friese, als ein herausragender Vertreter der seit dem Tode Hardenbergs am 26. November 1822 „kopflos“ gewordenen Faktion der Ministerialverwaltung, die eine andere Art der gesellschaftlichen Repräsentation angestrebt hatten, hatte noch ein unbeachtet bleibendes Gegengutachten entworfen: „Über die Gesetzentwürfe wegen der Provinzialstände im allgemeinen und wegen der in den Marken und der Niederlausitz in Sonderheit“, vermutlich 22. November 1822, vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 157. 647 Zur auffälligen Parallele der neuen preußischen Ständeordnung zur polnischen Maiverfassung unter Beibehaltung des alten Musters grundbesitzbasierter politischer Privilegierung bei gleichzeitiger Ausdehnung auf nichtadlige Besitzer vgl. Müller, Adel, S. 503. „Unter Beibehaltung einer vordergründig traditionellen Adelszentrierung zielte das Reformwerk (Maiverfassung Polen 1791) damit auf einen radikalen Austausch der Trägerschichten von Staatsbürgerschaft“, ebd. S. 503. 648 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 171. 649 So die vereinfachende Interpretation von Nolte, Staatsbildung, S. 105. 650 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 152.

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gesetzgebung geschaffenen „Neu-Stände“ wichen zum Teil erheblich von den traditionalen Formationen ab.651 Pseudo-historisch war schon das zugrunde gelegte Dreikurienprinzip, das zur Einrichtung einer Repräsentation von Grundbesitzern nicht zwingend erforderlich gewesen wäre – in Nachahmung des historischen Dreikurienlandtages aus Geistlichkeit, Adel und Städten sollten jedoch auch die neuen Stände diesem Dreierschema folgen, auch wenn anstelle der Geistlichkeit die Bauern (Landgemeinden) in die Repräsentation einrückten. Wie willkürlich und utilitaristisch die angeblich „historische“ Vorgehensweise der Kommission tatsächlich war, zeigte sich u.a. darin, dass einesteils behauptet wurde, Ziel der Arbeit sei allein die Wiederherstellung der alten Landstände, um dann an anderer Stelle ganz von den Interessen der Verwaltung her zu argumentieren, indem den neuen Ständen im Unterschied zu den tatsächlichen historischen Verhältnissen ein Ausschussverbot auferlegt wurde. Ähnliches wiederholte sich in der beabsichtigten gouvernementalen Rollenzuschreibung der intendierten Landtagsmarschälle, die nicht etwa als Sprecher der Stände, sondern als deren Kontrollorgane fungieren sollten.652 Allerdings unterblieb im Gegensatz zu den altherkömmlichen Ständen eine nach Kurien geteilte Sitzung und Stimmabgabe; stattdessen fanden einheitliche Versammlungen statt, die nach Mehrheit entschieden, und deren Vertreter über ein freies, kein altständisch-imperatives Mandat mehr verfügten.653 Gleiches galt für die Behandlung des Grundbesitzkriteriums. Zwar sollte beim Großgrundbesitz keinesfalls die Besitzgröße ausschlaggebend sein sondern neben einem Mindestreinertrag sein historischer Rechtscharakter.654 Doch in den Reformjahren waren es die Behörden gewesen, die bestimmten, welche Rechte bei Gelegenheit des Verkaufs der Domänengüter wie eine Ware mit angeboten wurden. Damit war auch das Prinzip des historischen Rechtsstatus längst durchlöchert und musste zudem mit der verstärkten Bodenmobilität seit 1807 kollidieren. Ausgerechnet der Kronprinz vertrat in dieser Frage die Auffassung, dass diejenigen verkauften Domänengüter, deren Käufer auch die Gerichtsbarkeit erworben hätten, Standschaftsrechte erhalten sollten. Der König erließ dann für die mittleren Provinzen eine Kabinettsorder, dass für alle Domänenverkäufe nach 1804 (als artifiziell gesetztem Stich- und Normaljahr), bei denen die ständischen Befugnisse ausdrücklich miterworben worden waren, es dabei bleiben solle. Allein, diese Rechte sollten dem jeweiligen Käufer nur die Kreisstandschaft einräumen, dieser aber nicht für den Landtag wählbar sein. In

651 Ebd., S. 165ff. 652 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 199; vgl. auch S. 200f. 653 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 170. 654 Das Größenkriterium konnte sich entweder auf einen Mindestjahresertrag (Schlesien 1.000 Taler, im Rheinland 75 Taler) oder eine Mindestgröße (in der Lausitz bei 500 Morgen) beziehen, vgl. Obe­ naus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 171.



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den anderen Provinzen solle analog verfahren werden. Bei diesem Vorgehen wurde gar nicht mehr versucht, sich auf die ältere Ständesubstanz vorstaatlicher Qualität zu berufen.655 Letztlich bedeutete das Verfahren zur Feststellung des zur Standschaft berechtigten Zirkels eine Mischung aus älterer Landesobservanz (Hinzuziehung der Landschaften, Gutachten der Stände, Prüfung einzelner Verschreibungen für Güter bis zurück ins 17. Jahrhundert) und bürokratischem Dezisionismus seitens der Minister (vornehmlich des Inneren).656 Die Widersprüchlichkeit dieser Politik wurde in den folgenden Jahrzehnten deutlich, als die Zentralbehörden den (neben uneingeschränktem Besitz, Ertragshöhe, und befürwortendem Gutachten der Kreisstände) als Hauptkriterium der Rittergutsqualität geforderten Jurisdiktionsbesitz (Patrimonialgerichtsbarkeit) weiter einzuschränken suchten. Diese Politik einer Beschneidung der gutsherrlichen Rechte ging ausgerechnet auf den in der Literatur immer wieder pauschal als „adelsfreundlich“ titulierten Innenminister Schuckmann zurück.657 Die widerstrebenden Absichten illustrieren das Spannungsfeld in welchem die neoständische Politik bis 1848 agierte: während man noch über die Neudefinition (und Vergabe!) von Rittergutsqualität und Standschaft stritt, wurden gleichzeitig schon wesentliche Elemente dieser ständischen Qualitäten eingeschränkt und inhaltlich entleert, „entsubstantialisiert“. Sozialständische Spaltung des ersten politischen Standes der Rittergutsbesitzer Zu dieser Widersprüchlichkeit der neo-ständischen Politik der kronprinzlichen Verfassungskommission gehört auch, dass die schon von Hardenberg vorgeschlagene Mischung von adligen und bürgerlichen Rittergutsbesitzern in einem Stand von der Kommission widerspruchslos übernommen wurde – der Protest des Freiherrn von Stein, der vom Kronprinzen selbst zu einer Begutachtung aufgefordert worden war, verhallte wirkungslos: dadurch sei das historische Prinzip verlassen, die dem Adel spezifischen Standesqualifikationen von „sittlicher Würde“, „Ehre“ und „Geschlechtsalter“ aufgegeben und durch rohe materialistische Kriterien ersetzt worden.658 Die

655 Neugebauer, Standschaft, S. 70. 656 Ebd., S. 75-76. 657 Vgl. oben 2.5.1. Zu dieser behördlichen Politik vgl. Neugebauer, Standschaft, S. 78-79. Schuckmann hatte allerdings in seiner Voß zustimmenden Kritik des Frieseschen Kommunalordnungsentwurfs den vorgesehenen Verlust von Patrimonialgerichtsbarkeit und Patronatsrechten für den Adel noch als „einfach empörend“ bezeichnet, vgl. Mayer, England als Vorbild, S. 51. 658 Die von Ancillon verfasste Denkschrift über die Grundsätze der Kommission wurde Stein zur Begutachtung zugesandt: vgl. dessen „Bemerkungen über Grundsätze des Entwurfs zu einer provinzialständischen Verfassung“, in: Stein, Briefe, Bd. 6, S. 556-570. Stein plädierte darin für die ständische Berücksichtigung auch der nicht angesessenen großen Vermögen (Bankiers, Fabrikanten), für zwei Kammern (mit Adelskammer), mehr noch für drei Kammern (nach altständischem Muster). Noch einmal hob darin Stein gegenüber Ancillon die Bedeutung des Adels für Gesellschaft hervor, vgl. Hundt, Stein, S. 72f.

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Kommission sah jedoch keine Möglichkeit dem von Humboldt gewünschten Modell eines besonderen politischen Adelsstandes zu folgen – der bürgerliche Rittergutsbesitz könne auf keinen anderen Platz im Ständeschema verwiesen werden.659 Zwar bezeichnete die Kommission Steins Vorschläge zur Bildung adliger „Genossenschaften“ als sehr achtbar, wies aber im Grund alle seine zentralen Anliegen zurück, vor allem die Bildung eigener Adelskammern. Als einziges Kriterium, das zur Sicherung eines immateriellen Wertekanons der neuen Ritterschaft im Sinne Steins („persönliche Würdigkeit“, „Familienehre“) dienen konnte, verblieb die verbindliche Norm, dass Grundbesitz entweder vererbt oder in der Regel zehn Jahre ununterbrochen besessen sein musste, bevor er zum passiven Wahlrecht qualifizierte, wodurch ein kurzfristiger Gutserwerb zum Erhalt politischer Rechte ebenso ausgeschlossen blieb, wie der (vorübergehende) Erhalt politischer Rechte aus wirtschaftlicher Spekulationsorientierung. Der schon im Oktoberedikt bestimmte Verlust des Adelsvorrechts auf die wirtschafts- wie ständerechtlich privilegierten (Ritter-)Güter war damit endgültig sanktioniert. So war es schließlich nur konsequent, dass die ursprünglich allein auf den Adel abzielende Förderung der Stiftung von Majoraten und Fideikommissen durch die Kommission nun auch bürgerlichen Rittergutsbesitzern zuerkannt wurde.660 Offensichtich ließen sich die neuen „Ritterschutzbestimmungen“ eigentlich nur mehr für den gesamten Stand der Rittergutsbesitzer formulieren. Bezeichnenderweise richtete sich der partiell aufkommende Protest der adligen Rittergutsbesitzer allein gegen die potentielle Drohung, dass durch einen beschleunigten Wandel der Eigentumsund Vermögensverhältnisse auch die „ständischen Gerechtsame“ (z.B. Patrimonialgerichtsbarkeit und Patronatsrecht) und das „ständische Präsentationsrecht“ auf den Landtagen an „Personen niedrigsten Standes“ und „verdienstlose Glückspilze“ kommen könnten. Nur in den westlichen Provinzen wurden deutliche Vorbehalte gegen die Aufnahme bürgerlicher Rittergutsbesitzer laut, in den östlichen (Kern-) Provinzen hingegen akzeptierte man grundsätzlich, wenn auch nach den Provinzen unterschiedlich nuanciert, die Öffnung des Standes gegenüber Nichtadligen.661

659 Vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 159, und Protokoll der Kommission betr. der Einrichtung von Provinzialständen, 27. Nov.1822, die Steins Bemerkungen beriet, und zu dem Schluss kam, dass keine andere Einrichtung bezüglich des Ritterstandes möglich sei, GSTAPK Rep. 77, Tit. 523, Nr. C35, Bl. 44. Ähnlich antwortete Humboldt an Stein, 4. April 1823, vgl. Stein, Briefe, Sechster Band, S. 209f. 660 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 174ff. Die Begünstigung der Errichtung von Fideikommissen und Majoraten in der Ritterschaft sowie die zugleich intendierte politische Privilegierung des so gebundenen Großgrundbesitzes war eine klare Forderung der Kommission, vgl. Ebd., S. 177ff, blieb aber in der konservativen Administration der Restaurationsepoche umstritten bis 1839; vgl. unten Teil III. Kap. 4.3.2. 661 Vgl. oben Kap. 2.4.3.



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Adel nur innerhalb des ersten Standes stabilisiert: Adelsschutz nur noch als Restgröße Anstelle der ausgebliebenen konsequenten Adelsreform verfolgte die Kronprinzenkommission nun zwei Strategien, um den unerwünschten Folgen des „ständischen Paradoxons“ zu begegnen. Zum einen wollte sie den Adel innerhalb des ersten Standes politisch kräftigen. Dies musste allerdings die potentiellen sozialständischen Friktionen innerhalb des ersten Standes erhöhen. Dazu sollte der Adelsanteil innerhalb der Ritterschaften möglichst groß ausfallen. Dass die Kommission den historischen Rechtstitel als erstes Kriterium der Standschaft zu Grunde gelegt hatte, war an sich schon günstig für dieses Ziel. Daneben wurde das nachgeordnete Kriterium der Grundbesitzmindestgröße für jede Provinz so definiert, dass der adlige Rittergutsbesitz in möglichst breitem Umfang diese Hürde der Standschaftsberechtigung nehmen konnte. So fiel z.B. das materielle Kriterium der Besitzgröße, bzw. des Mindestreinertrages sehr mäßig aus.662 Zum anderen suchte die Kommission eine ständepolitische Privilegierung des Adels zu erreichen, indem sie, vergleichbaren Vorschlägen des Freiherrn v. Stein folgend, durch besondere Viril- und (kollekive) Kuriatstimmen die Adelskorporation teils innerhalb des ersten Standes der Ritterschaft, teils in einem eigenen ersten Stand der „Fürsten und (Standes-)Herren“, in welchem auch einzelne Domstifte vertreten sein sollten, hervorhob. Doch die Kommission setzte dieses Konzept nur sehr zurückhaltend um: in der Provinz Brandenburg erhielt neben dem Domkapitel von Brandenburg der Graf von Solms-Baruth (Kurmark) eine Viril-, sowie der alten Herrenstand der Niederlausitz eine Kuriatstimme im Kreis der Ritterschaft.663 Die Ständeordnungen der Provinzen Schlesien, Sachsen, Westfalen und der Rheinprovinz reflektierten die historisch überkommene binnenständische Differenzierung dieser Adelslandschaften, indem für sie jeweils ein eigener (erster) Stand der Fürsten, Prälaten, Grafen und Herren eingerichtet wurde, also eine viergliedrige Ständestufung entstand – ein Signal, das in eine deutlich andere Richtung wies, als die gerade von Ancillon propa-

662 Für das arme Ostpreußen wurde ein Mindestreinertrag von 500 Talern verlangt, in Posen wurde eine Besitzgröße von 1.000 Morgen Land gefordert, von denen aber nur 500 urbar sein mussten. Im wohlhabenderen Schlesien, Sachsen und den beiden Westprovinzen wurde ein Reinertrag von sogar 1.000 Talern gefordert. Diese Untergrenzen entsprachen dem Gehalt eines Regierungsrates, waren also recht tief angelegt, vgl. Koselleck, Landrecht, S. 520. Für den alten aber meist kleinteiligen Streubesitz des rheinischen Landadels wurde sogar nur ein Mindestgrundsteuerertrag von 75 Talern angesetzt, siehe: Verordnung für die Rheinprovinz, Art. VI, 13. Juli 1827, vgl. Rauer, Gesetzgebung, 1. Teil, S. 256. Siehe dazu auch: Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 160; S. 166f. 663 Da das Domkapitel von Brandenburg eine Pfründe des Adels war, erhielt der Ritterstand in Brandenburg dadurch drei weitere Stimmen. Der Herrenstand der Niederlausitz wurde durch einen aus seiner Mitte gewählten Abgeordneten vertreten. Vgl. Verordnung für Brandenburg, vgl. Rauer, Gesetzgebung, 1. Teil, Text der ständischen Gesetze, S. 36.

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gierte Tendenz zur Bildung einer homogenen „Aristokratie des Besitzes“!664 Dieser Dualismus zwischen einem materiell-liberalen und einem „altständisch“ orientierten „Adelsformierungsansatz“ war also schon in der Provinzialständeordnung angelegt, und keine Entwicklung bis in den Vormärz.665 Latentes Element einer künftigen Adelsreform: der korporative Fideikommissbesitz Völlig neue Wege schlug die Kommission ein, als sie in ihrem Bericht die besondere ständische Berücksichtigung einer (neuen) Schicht von Fideikommissbesitzern vorschlug, und damit faktisch eine Entwicklungsmöglichkeit in Richtung eines „Neuen Adels“ skizzierte. Diese Gruppe adliger Fideikomissbesitzer sollte unter der Bezeichnung „Standesherren“ als Korporation mit provinzialständischen Vorrechten hervorgehoben werden. Ein solcher Weg wies in seinen Wirkungsmöglichkeiten weit über die Überzeugung hinaus, dass „die Erhaltung des Adels […] innig mit der Erhaltung der Monarchie zusammen [hängt]; aber ein verarmter Adel dient ihr nicht zur Stütze, sondern ist ihr eine Last.“666 Denn diese Gruppe „neuer Standesherren“ hätte ein neues Element sozialpolitischer Dynamik dargestellt: sozial genauso offen wie die Ritterschaft konzipiert, wenn auch nur über Nobilitierung erweiterbar. Eine solche Gruppierung von altadligen und nobilitierten Fideikommissbesitzern wäre gewissermaßen in die Lücke getreten, die der Verlust der politischen „korporativen Eigenexistenz“ (Herbert Obenaus) des (kleinen) Adels hinterließ; sie hätte (einem Teil) des Standes der Rittergutsbesitzer die fehlende Übereinstimmung von sozialem und politischem Stand wiedergegeben. Die Kommission wollte diese Gruppe von Fideikommissbesitzern teils in die Ritterschaft, teils (so vorhanden) in den ersten Stand der Fürsten, Prälaten, Grafen und Herren eingliedern: in den östlichen Provinzen sollte diejenige Zahl an Stimmen der Ritterschaft, die die Zahl der bürgerlichen Stimmen im zweiten Stand überstieg, dieser Gruppe Fideikommissbesitzer zugeteilt werden; in den westlichen Provinzen, wo die Stimmenverteilung zwischen Ritterschaft und städtischem Bürgertum gleich war, sollte die Gruppe der Fideikommissbesitzer als „Standesherren“ dem ersten (Fürsten-)Stand zugesellt werden. Ein solches Arrangement hätte zugleich die Möglichkeit geboten, bei Einführung von „Reichsständen“ dieser Gruppe neuer „Standesherren“ in einer ersten Kammer eine eigene politische Rolle zuzuweisen.667

664 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 161. 665 Von einem generellen Wandern des Adelsreformgedankens von „links“ (in der Reformepoche) nach „rechts“ (nach 1830), wie es Mayer interpretiert, kann deshalb nicht gesprochen werden – vielmehr handelt es sich um einen Dualismus, der in den Reformjahren ebenso zu finden ist wie im Vormärz. Vgl. Dies., England als Vorbild, S. 58. 666 Kommissionsbericht an Friedrich Wilhelm III., Bericht vom 12. Juni 1823, zitiert nach Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 175. 667 Ebd., S. 179.



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Doch wurde dieser Vorschlag der Kommission in der erfolgten Ständegesetzgebung nur als Absichtserklärung, bzw. ansatzweise umgesetzt. Jeweils in ihrem §  7 (nur Schlesien § 8) formulierten die ab 1823 eingeführten provinzialständischen Verordnungen neben der Zusage, dass „ohne Rücksicht auf adelige Geburt des Besitzers“ der Besitz eines Rittergutes in der Provinz zur Wählbarkeit in den Stand der Rittergutsbesitzer berechtige, den ebenfalls jeweils gleichlautenden königlichen „Vorbehalt“, „den Besitz bedeutender Familien-Fideikommissgüter auf angemessene Weise hierbei zu bevorrechten“.668 Nur vereinzelt wurde dieser Gesetzesvorbehalt dann auch umgesetzt: allein für die Provinz Schlesien hatte das Provinzialständegesetz vom 27. März 1824 innerhalb des ersten Standes neben den Fürsten (mit Virilstimmen) tatsächlich eine Gruppe von „Standesherren“ definiert; doch handelte es sich bei diesen nicht um große Fideikommissbesitzer, sondern gemeint waren allein die althistorischen „freien“ Standesherrschaften dieser Landschaft. Diese ursprünglich aus 9, später aus 7 Standesherrschaften bestehende Gruppe hatte 3 (kollektive) Kuriatstimmen zuerteilt bekommen. Innerhalb des zweiten Standes (der Rittergutsbesitzer) in Schlesien wurde allerdings wenige Jahre nach Veröffentlichung der schlesischen Provinzialständegesetze eine eigene Gruppe von Fideikommissbesitzern bestimmt, die über eine Kollektivstimme verfügten.669 Bei diesen 11 Berechtigten handelte es sich wiederum ausnahmslos um Mitglieder des alten Adels.670 Auch in Brandenburg wurde eine solche Kollektivstimme für „adlige Majorate und Familien-Fideikommisse“ nur an (zwei) Adlige übertragen, nämlich dem Grafen v. Hardenberg-Reventlow auf Neuhardenberg und dem Grafen v. Arnim auf Boitzenburg.671 Und erst mit einer Kabinettsordre vom 22. Juni 1839 wurde diese Möglichkeit einer Bevorrechtigung

668 Vgl. den in allen Provinzialständegesetzesn gleichlautenden Passus z.B. in den „Verordnungen für Preußen“, Gesetz vom 1. Juli 1823 § 7 Nr. 1, vgl. Rauer, Gesetzgebung, 1. Teil, S. 5. Gleiches wurde für den Stand der „Fürsten und Herren“ von Westfalen und der Rheinprovinz nach dem Gesetz vom 27. März 1824, § 7 formuliert: „Besondere Bestimmungen über die Wählbarkeit im Stande der Fürsten und Herren, Erste Abteilung“, Erster Titel, 5. Abschnitt, § 135 in: Rauer, Gesetzgebung, 2. Teil, Systematische Darstellung der ständischen Gesetzgebung, S. 101. 669 Vgl. die Verordnung vom 2. Juni 1827 Artikel II, siehe I. Abteilung, I. Titel, III. Abschnitt, § § 62-64, in: Rauer, Gesetzgebung, 2. Teil, Systematische Darstellung der ständischen Gesetzgebung, S. 48f. 670 Den Herzog v. Württemberg für das Majorat Karlsruhe, den Fürsten v. Hohenlohe für die Herrschaften Koschentin, Boronow, Harbultowitz, Landsberg; den Grafen zu Stolberg-Wernigerode für die Majoratsherrschaft Ober-, Mittel- und Nieder-Peterswaldau; den Fürsten Lichnowski für die Majorats-Besitzungen von Kuchelna, Grabowka und Kriziczanowitz; den Grafen v. Sandrezki für die Majorats-Herrschaft Langenbielau; den Grafen v. Oppersdorf für Ober-Glogau; den Grafen v. Althan wgen des Mittelwaldeschen Majorats; den Grafen v. Herberstein für das Grafenortsche Majorat; den Grafen York v. Wartenberg für die Majorats-Herrschaft Klein-Oels; den Grafen v. Dyhrn für die Familien-Fideikommissbesitzungen Reeseweitz, Mühlwitz und Golbitz; und den Grafen v. Burghaus für das Majorat Laasan. 671 Vgl. I. Abteilung, I. Titel, III. Abschnitt, § 41, in: Rauer, Gesetzgebung, 2. Teil, Systematische Darstellung der ständischen Gesetzgebung, S. 35.

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des Fideikommissbesitzes auch in der Provinz Sachsen verwirklicht. Dort erhielt der Freiherr v. d. Asseburg für das Falkenstein-Meisdorfsche Familien-Fideikommiss eine vergleichbare „Kollektiv“-Stimme für die projektierte Gruppe der „Besitzer größerer Familien-Fideikommisse“ – denn er trug diese Stimme als vorerst einziger Besitzer eines solchermaßen qualifizierten Gutskomplexes!672 Für die Provinz Preußen dauerte es sogar noch bis 1843, bis den Fideikommissbesitzern der Familie Dohna ihren anlässlich der Huldigung von 1840 zur Grafschaft Dohna erhobenen Geschlechtsfideikommissbesitzungen eine gemeinschaftliche Stimme im ersten Stand zuerteilt wurde. Eine zusätzliche Kollektivstimme wurde außerdem für eine projektierte Gruppe von weiteren Fideikommissbesitzern eingerichtet – die Graf Keyserling (ähnlich wie der v. Asseburg in der Provinz Sachsen) als dato einziges Mitglied dieser Gruppe trug.673 Für die übrigen Provinzen wurden bis 1848 keine Anstalten gemacht, die vorbehaltene Bevorrechtigung für Fideikommissbesitzer umzusetzen. Dass nichtsdestoweniger der Bildung einer solchermaßen ständisch hervorgehobenen „Schicht“ von Fideikommissbesitzern für die Zukunft eine gewisse Bedeutung zugerechnet wurde, mag daraus hervorgehen, dass der Antrag des westfälischen Provinziallandtags von 1826, für verdiente Männer mit Grundbesitz Virilstimmen auf Lebenszeit zu vergeben, abgeschmettert wurde – mit dem Argument, dass der Einrichtung von Kollektivstimmen Priorität zu geben sei.674 Letztlich wurde aber dieser mögliche Weg, über die gezielte ständische Bevorrechtigung von fideikommissarisch gebundenem Grundbesitz adlige und neue bürgerliche Besitzer einander anzunähern und den ersten Stand wieder zu vereinheitlichen, bis 1840 nicht beschritten: weder wurden konsequent in allen Landtagen solche Formationen eingeführt, noch gelangten überhaupt bis 1848 bürgerliche Personen in diesen Kreis. Der Adel als Teil der designierten „ruling class“ der Rittergutsbesitzer wird enger in die Pflicht genommen Bei der Stimmenverteilung in den Provinziallandtagen spielte die Privilegierung des Adels eine spürbare Rolle. Für die Konstituierung des Adels als Korporation war es aber für die Zukunft entscheidender, dass durch die provinzialständischen Bestimmungen neue Erwartungen an den Adel herangetragen wurden, wie z.B. die Stiftung von Fideikommissen zur Teilnahmefähigkeit an „kollektiven Stimmen“. Und selbst die rücksichtsvollsten Kriterien zur Rittergutsqualifikation konnten (und sollten) nicht verhindern, dass z.B. in der Provinz Westfalen von 664 alten Rittergütern sich

672 Vgl. I. Abteilung, I. Titel, III. Abschnitt, § § 80-82, in: Rauer, Gesetzgebung, 2. Teil, Systematische Darstellung der ständischen Gesetzgebung, S. 59. 673 Beide Begnadigungen wurden in der selben Kabinettsordre v. 24. Febr. 1843 ausgesprochen, vgl. I. Abteilung, I. Titel, III. Abschnitt, § § 26-30, in: Rauer, Gesetzgebung, 2. Teil, Systematische Darstellung der ständischen Gesetzgebung, S. 27f. 674 Vgl. I. Abteilung, I. Titel, III. Abschnitt, § 91 Zus. 106, in: Rauer, Gesetzgebung, 2. Teil, Systematische Darstellung der ständischen Gesetzgebung, S. 65.



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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nur noch 424 für die neue Ständeordnung qualifizieren konnten.675 Auch anderweitig griffen diese Bestimmungen tief in die überkommene Lebenswelt des Adels, seine Familienbeziehungen und sein soziales Verständnis ein: so z.B. die Bedingung, dass für den sofortigen Erhalt der Standschaft dessen erbliche Erwerbung über Grundbesitz ausschließlich in „auf- und absteigender Linie“ erfolgen dürfe: damit konnten in Fällen, in denen Schwiegervater und Schwiegersohn als Erblasser und Erben auftraten, die Besitzzeiten nicht addiert werden.676 Die historisch überkommenen flexibleren und variantenreicheren Erbstrategien des Adels, z.B. über Einheiratung, wurden so durch den Gesetzgeber sanktioniert – es zählte nicht einfach mehr der Besitz eines Gutes durch eine (adlige) Familie mit all ihren „Ästen“ und „Zweigen“, sondern es wurde eine kernfamiliale Vererbung mit tendenziell patrilinearer Orientierung favorisiert. Diese und ähnliche Bestimmungen und Mechanismen relativierten die Bedeutung des „Adelsschutzes“ durch die Verfassungskommission erheblich.677 Es ist anzunehmen, dass der von der Kommission vorgeschlagene, doch nur sehr stückhaft umgesetzte Vorschlag des „korporativen Fideikommissbesitzes“ als Ansatz einer „Adelsreform“ unter ausdrücklicher Billigung des Kronprinzen zustande gekommen war. Die Rolle des Kronprinzen in der Verfassungskommission ist jedoch bis heute umstritten. Während Kroll ein schon voll ausgebildetes „romantisches“, d.h. idealisiert „altständisches“ Staatsdenken bei ihm voraussetzt, sahen Blasius und Bußmann den prinzlichen Kommissionsvorsitzenden lediglich als „uninteressierten“ (!) Teilnehmer!678 Letzteres kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden.679 Doch die unübersehbar „gouvernementale“ Tendenz der Provinzialständeordnung, welche die Ständebildung vornehmlich auf die Interessen der zentralstaatlichen Verwaltung zuschnitt, dürfte wesentlich auf das Konto der ministerialen Kommissionsmitglieder gegangen sein – der Kronprinz wäre nach seinen persönlichen Äußerungen

675 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 167. 676 Z.B. im Gesetz über die Provinzialstände, Brandenburg, § 5. 677 So waren Rittergutsbesitzer, die zugleich als Geistliche, Militär- oder Zivilbeamte fungierten, auf eine Beurlaubung seitens ihrer Vorgesetzten angewiesen, wenn sie als Abgeordnete gewählt werden sollten. Zwar gab es für sie keine Anwesenheitspflicht auf ihrem Grundbesitz, um für andere (öffentlich-staatliche) Aufgaben zur Verfügung zu stehen, andererseits bedeutete diese Dispensationspflicht einen weiteren Kontrollvorbehalt seitens der Verwaltung – diese konnte damit in einem gewissen Umfang auf die personelle Zusammensetzung der Landtage Einfluss nehmen, vgl. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 170-171. 678 Vgl. Kroll, Staatsdenken, S. 45-46. Dirk Blasius, Friedrich Wilhelm IV. 1795-1861. Psychopathologie und Geschichte, Göttingen 1992, S. 58f; Walter Bussmann, Zwischen Preußen und Deutschland: Friedrich Wilhelm IV., eine Biographie, Berlin 1990, S. 71. Siehe dazu auch Beusch, Standespolitik, S. 289, Anmk.1203. 679 Zur grundsätzlich sehr aktiven und informierten politischen Rolle Friedrich Wilhelms als Kronprinz vgl. jetzt die überfällig revisionierende Studie von Christina Rathgeber, Kronprinz Friedrich Wilhelm (IV.) als politische Figur, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge, 16. Band, Heft 2, 2006, S. 197-232.

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zur größeren Konzessionen an die Eigenständigkeit der Stände bereit gewesen – und repräsentierte darin einen eindeutigeren „Konservatismus“ als die „gouvernementale“ Mehrheit der Kommission.680 Seine direkte Beteiligung an der Ausarbeitung der Provinzialständeordnung, und die daraus zweifellos resultierende intime und detaillierte Kenntnis der dabei zu Grunde gelegten Gesichtspunkte, Kriterien und Entwicklungserwartungen lassen besonders verständlich werden, dass Friedrich Wilhelm nach seiner Thronbesteigung 1840 genau an diesem Teil der preußischen Verfassungspolitik wieder anzuknüpfen suchte. Gerade ihm, dem nach zeitgenössischen Maßstäben historisch fundiert gebildeten, persönlich interessierten und intimen Kenner der preußischen Geschichte konnte nicht verborgen geblieben sein, dass die Provinzialständegesetzgebung für ihre konsistente Vollendung immer noch einer Adelsreform harrte. Diese auf eine Weise zu Ende zu führen, die den im Bericht der Kronprinzenkommission schon skizzierten Leitlinien folgte, sollte eines der großen Vorhaben seiner Regierungszeit werden.

2.5.2.

Friedrich Wilhelm IV: die personale Klammer zwischen Reformepoche und vormärzlicher Adelspolitik

Friedrich Wilhelm IV. bildete also mit seiner Person und seinen Erfahrungen den inhaltlichen Brückenschlag von den Verfassungsauseinandersetzungen der frühen zwanziger Jahre zu denen seiner eigenen Regierungszeit im Vormärz.681 Auch wenn hier nicht der Ort sein kann, in aller wünschbaren Detailgenauigkeit auf diese vielgestaltige Herrscherpersönlichkeit und ihre politischen Leitmaximen einzugehen, so soll doch unter Zusammenfassung einiger zentraler Thesen der jüngeren Biographien Friedrich Wilhelms verdeutlich werden, warum das Thema der Adelsreform gerade für diesen Monarchen in den Jahren nach 1840 einen so zentralen Stellenwert in der preußischen Politik einnahm, und weshalb dieses Thema sogar als Schlüssel zu dessen vielfältigen, nur vordergründig unsteten politischen Initiativen zu sehen ist. Die Verfassungsfrage konnte in den zwanziger Jahren u.a. deshalb nicht befriedigend abgeschlossen werden, weil keine wirkliche Einigung über die Position und Rolle des Adels zu erzielen war. In den vierziger Jahren, als die Verfassungsfrage erneut mit Macht ins Zentrum der preußischen Innenpolitik rückte, stellte sich deshalb zugleich die Adelsfrage neu – solange jedenfalls, wie diese Sozialformation überhaupt noch nach dem Willen von Monarchen und Staatsführung eine besondere politische Rolle in Staat und Gesellschaft spielen sollte.

680 Mayer, England als Vorbild, S. 54. 681 Schon Jordan interpretierte Friedrich Wilhelms Politik als Verwirklichung der „Anschauungen, wie sie zwischen 1815 und 1820 lebten“, vgl. Ders. Friedrich Wilhelm IV., S. 56.



2. Das Problem der „Adligkeit“ im Preußen der Reformepoche  

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Die romantisch-politische Welt Friedrich Wilhelms IV. – ein historiographisches Missverständnis? Friedrich Wilhelms IV. war zweifelsohne einer der bemerkenswertesten Monarchen der Hohenzollerndynastie. Seinen Zeitgenossen galt er als persönlich hoch talentiert und gebildet, doch dominierte schon zu seinen Lebzeiten wie in der Nachwelt von ihm das Bild eines wankelmütiger Phantasten, dessen romantische Gestimmtheit und anachronistische Weltsicht eine zielbewusste und pragmatische preußische Politik mit Sinn für die zeitgenössischen Notwendigkeiten verhindert habe: gutmütig, aber unausgeglichen, liebenswert, aber entschlussarm, ideenreich, aber verantwortungsscheu – kein Realpolitiker, vielmehr ein Zauderer, der die Zeichen seiner Zeit nicht richtig zu deuten verstand.682 Die Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts warf Friedrich Wilhelm aus der Perspektive des Machtstaatsideals vor, er habe die Chancen einer „bismarckischen“ Reichsgründung vor Bismarck aufgrund seiner politischen „Phantastereien“ nicht zu nutzen verstanden.683 Friedrich Wilhelms unsteter, sprunghafter Arbeitsstil, von vielen seiner Zeitgenossen und Mitarbeiter moniert, legte den Schluss nahe, dass seine politischen Intentionen entsprechend unzusammenhängend, opportunistisch und kontradiktorisch zu bewerten seien.684 Vor allem die Formel von Friedrich Wilhelms angeblicher „romantischer Weltfremdheit“ wurde zu einem Gemeinplatz in den Deutungen der Forschung bis

682 „Man vermißte „politische Entschiedenheit“, eine „deutliche Sprache“, und „klare Linie“, „Praxisbezug“, „Lebensnähe“ und diplomatisches Geschick – kurz: ein an den Gesetzen von außenpolitischer Taktik und innenpolitischen Kalkül orientiertes Handeln, das den Nutzen des preußischen Staates zu mehren, seine Stellung in Deutschland stabilisieren, seine Kraft zum Wohle des Volkes sinnvoll zu steigern vermocht hätte“, zit. nach: Frank-Lothar Kroll: Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik, Berlin 1990 (Einzelveröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 72), S. 1f. Kalm, Heroldsamt, S. 38: „Die Impulsivität und Widersprüchlichkeit seiner Gedankengänge, das oftmals Irrationale und Gefühlsbetonte, das Mißverständnisse hervorrufende scheinbar Liberale seines neoständischen Konservativismus, sein mitunter schwankender Charakter, wenn es um die Entscheidung in Einzelfällen ging, all dies dürfte verantwortlich für das Scheitern des Königs gewesen sein.“ 683 So insbesondere die Historiker der Reichsgründungszeit, Heinrich v. Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I., Bd. 1-7, München/Leipzig 1889-1894, bes. Bd. 1 (1889); Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 3 (1885). Aber auch die jüngere Historikergeneration des Kaiserreiches: Herman v. Petersdorff, König Friedrich Wilhelm IV., Stuttgart 1900; Erich Marcks, Der Aufstieg des Reiches. Deutsche Geschichte von 1807-1871/78, bes. Bd. 1 (Die Vorstufen); Erich Brandenburg, Die Reichsgründung, Bd. 1, (Nachdruck d. 2. Auflage v. 1924, Leipzig), Hildesheim 2005. 684 Vgl. zu diesem Arbeitsstil und dessen Bewertung durch Mitarbeiter und Zeitzeugen: David E. Barclay, Frederick William IV and the Prussian Monarchy 1840-1861, Oxford 1995, S. 55ff: „To many observers it seemed that he was frigthfully inefficient and too easily distracted, which in turn undermined his attempt to develop an effective system of personal rule“. Weitere Beispiele: S. 57: der König sieht seine Minister lediglich als „Instrumente“ seines Willens. Zur kontrafaktischen Sicht der Politik Friedrich Wilhelms: vgl. z.B. Kalm, Heroldsamt, S. 38.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

heute.685 Damit kontrastiert die enorme Hartnäckigkeit, mit der Friedrich Wilhelm an seinen Plänen und Überzeugungen über alle Brüche und Rückschläge festhielt, wie dies schon Treitschke aufgefallen war.686 Nur zögernd setzte sich in der neueren Forschung die Einsicht durch, dass unter der Oberfläche dieses phantasiereichen, künstlerisch begabten, scheinbar labilen Charakters ein fester Wille die preußische Regierungspolitik auf ein den Zeitgenossen kaum zu vermittelndes, aber nichtsdestoweniger klar zu identifizierendes Ziel zu steuern versuchte – wie eine Kompassnadel, die leicht irritierbar nach verschiedenen Seiten ausschlägt, um sich doch verlässlich wieder in die Nordung einzupendeln. So wird gemeinhin unterschätzt, dass Friedrich Wilhelm IV. oft bewusst zögerlich vorging, um „Versuchsballons“ steigen zu lassen, dann die öffentliche und halböffentliche Reaktion abwartete, um darauf sein weiteres Handeln abzustimmen. Sein Vorgehen in der von ihm angestoßenen Adelsdebatte der vierziger Jahre bietet hierfür ein eindrucksvolles Beispiel. Mehr als seinen königlichen Vorgängern war ihm bewusst, dass die Öffentlichkeit eine neue Macht darstellte, die nicht länger ignoriert werden konnte. Um sich diesbezüglich abzusichern, holte er Ansichten und Stellungnahmen von Vertrauten ein, oder beauftragte ihm kompetent erscheinende Personen mit der Erstellung vertraulicher Gutachten. Zugleich ermöglichte ihm dieses Vorgehen, potentielle Gegner gegeneinander auszuspielen. Friedrich Wilhelms „monarchisches Projekt“ Robert M. Berdahl wies in seinen Studien den Stände- und Adelsideen Friedrich Wilhelms für die Entwicklung einer neo-paternalistischen „Prussian Ideology“ nicht nur eine ideologisch, sondern auch praktisch-politisch bedeutende Rolle zu. Und FrankLothar Kroll zeigte in seiner wenig später veröffentlichten politischen Biographie Friedrich Wilhelms die engen und konsistenten Bezüge zwischen dessen romantischen weltanschaulichen Grundüberzeugungen und seinem allgemeinen politischen Wirken auf – das Gegenteil der so oft konstatierten Widersprüchlichkeit zwischen Reden und Handeln, die diesem Monarchen gemeinhin nachgesagt wird.687 Doch es war David E. Barclay, der diese Einheit der monarchischen Überzeugungen und Handlungen im Begriff des „monarchischen Projektes“ zusammenfasste und darin die Verfolgung eines staatspolitischen und staatskulturellen Programms erkennen wollte. In diesem „monarchischen Projekt“ flossen praktisch-politische wie sym-

685 Kroll, Staatsdenken, S. 3. 686 Vgl. Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 5, S. 13. 687 „Friedrich Wilhelms „Verfassungsexperimente“ sind nicht „als unreflektierte Äußerung eines zwischen immer neuen Projekten konzeptionslos hin- und herschwankenden Phantasten zu werten [...], sondern, ganz im Gegenteil, als konsequente Umsetzung eines ideologisch festgefügten „Programms“, das Friedrich Wilhelms IV. bereits in der Kronprinzenzeit schlüssig formuliert und dann nicht nur zwischen 1840 und 1848, sondern auch wieder nach 1850 bis zum Ende seiner Regierung mit erstaunlicher Folgerichtigkeit durchzusetzen versucht hat“, Kroll, Staatsdenken, S. 67.



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bolische Maßnahmen in einer sinnerfüllten Handlungseinheit zusammen.688 Diese Identifikation eines „monarchischen Projekts“ geht über die Befunde Krolls insofern erheblich hinaus, insofern es nicht einfach als idealistisch-träumerischer, „romantischer“ Entwurf einer organologisch gedachten Gesellschaft verstanden werden kann, sondern als kreativer und handlungspraktischer Akt, um auf den spezifischen Grundlagen der preußischen Staatsgeschichte einen engeren preußischen und einen weiteren deutschen, nationalen Identitäts- und Handlungsrahmen zu entwerfen.689 Um so mehr erstaunt, dass auch Barclay, der sich wie Kroll ausführlich mit Friedrich Wilhelms Stände- und Repräsentationspolitik beschäftigte, der darin zentralen Adelsproblematik keine besondere Beachtung schenkte. Doch diese ist ein wichtiges Scharnier, das die vordergründig allein auf der „Symbolebene“ angelegten Aktivitäten und die praktischen Maßnahmen der intendierten Verfassungs- und Ständepolitik flexibel miteinander in Verbindung hielt. Warum aber war Friedrich Wilhelm davon überzeugt, dass ein besonderes Regierungsprogramm der Gesellschaftsformierung für Preußen notwendig sei? Die Antwort dafür findet sich in den prägenden Jugenderlebnissen während der preußischen Katastrophe 1806 und der anschließenden Reformepoche. Die währenddessen gemachten Erfahrungen und die daraus gezogenen Schlüsse bildeten den Dreh- und Angelpunkt für Friedrich Wilhelms „monarchisches Projekt“ im allgemeinen, und seine Adelspolitik im besonderen.

Friedrich Wilhelms Sicht auf die preußische Staatsgenese Friedrich Wilhelms Blick auf die Herkunft und Geschichte seiner Monarchie war von tiefer Skepsis erfüllt. Seine Jugend und sein frühes Erwachsenwerden durchlebte er in der schon oben skizzierten größten Staatskrise, die das brandenburgisch-preußische Königtum seit dem siebenjährigen Krieg erlitten hatte. Während Friedrichs Preußen zwischen 1756 und 1763 zwar mit großem Glück, aber doch bewunderungswürdiger Durchhaltekraft einer mehrfach überlegenen Feindkoalition sieben Jahre lang zäh die Stirn bot, kollabierte die preußische Armee und der preußische Staat aber 1806/07 unerwartet plötzlich und vollständig – wie war aber ein solcher Zusammenbruch zu erklären? Friedrich Wilhelm kam wie viele seiner Zeitgenossen zu dem Schluss, dass dies mit den Voraussetzungen der preußischen Staatsentwicklung in Zusammenhang stehen müsse. Er war sich mit vielen seiner Erlebensgeneration darin einig, dass Preußen entscheidende sozialkulturelle Integrationskräfte fehlten, von denen

688 Insbesondere Barclay macht in der Nachfolge von Erich Marcks darauf aufmerksam, über die tatsächlichen oder scheinbaren Widersprüche in der Persönlichkeit Friedrich Wilhelms IV. die in langer Perspektive angelegte „innere Konsistenz“ seiner politischen Ambitionen nicht zu unterschätzen, Barclay, Frederick William IV., S. 74. David E. Barclay, Ein deutscher „Tory democrat“? Joseph Maria von Radowitz (1797-1853), in: Hans-Christof Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker in Deutschland, Berlin 1995, S. 37-65. 689 Vgl. zum organologischen Staats- und Verfassungsideal Kroll, Staatsdenken, S. 67-78.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

andere große europäische Monarchien in Zeiten der Krise profitieren konnten.690 So war Preußen nicht nur ein Parvenü am europäischen Mächtehimmel sondern auch hinsichtlich seiner historisch-legitimistischen Grundlagen schwächer begründet als andere Staaten. Gegenüber Metternich bemerkte Friedrich Wilhelm 1842 einmal, dass es unmöglich sei, die politische Einheit mit dem Namen „Preußen“ auf einen bestimmten politischen Begriff zu bringen – dieses „Ding“ hätte keinerlei historische Basis, sei nichts als eine Agglomeration unterschiedlicher Territorien, die zwar jeweils für sich über eine solche historische Grundlage verfügten, diese aber zwischenzeitlich ebenfalls verloren hätten.691 Die schwache historisch-kulturelle Fundierung der preußischen Monarchie Doch das Problem erschöpfte sich nicht in der Frage der geographisch-historischen Inkonsistenz; auch die Herrschaftsinstitution, die als zentrale Klammer diese unterschiedlichen Territorien zusammenhalten sollte, das Königtum selbst, war durch erhebliche „Defizite“ gekennzeichnet. In Vergleich zu den in der Regel schon im Mittelalter begründeten Königsherrschaften Europas fehlte es der 1701 gestifteten preußischen Krone schon am „Alter“, um dem Kriterium der „Anciennität“ gerecht werden zu können, welches nach dem Verständnis des „alten“ Europa zur Begründung von legitimer Herrschaft und Macht eine wesentliche Rolle spielte.692 Zudem fehlten dieser jungen Geschichte der preußischen Herrschaftstradition und -legitimation alle sakralen Elemente. So besaß Preußen weder religiöse Krönungszeremonien, noch Mythen und Praktiken (wie z.B. das „Köngsheil“), die in der alteuropäischen Welt die Legitimität, ja „Heiligkeit“ eines Königtums auswiesen.693 Diese rein säkulare Prägung des

690 Friedrich Wilhelm wurde umsichtig und umfassend gebildet und ausgebildet, und so verfügte er über ausgezeichnete Kenntnisse der Geschichte seiner monarchischen „Staaten“. Seit 1810 war Ancillon sein Lehrer, und hatte wesentliche Grundlagen zu seinen späteren historischen Auffassungen gelegt. Friedrich Wilhelm beurteilte diese historischen Bedingungen, jenseits einer simplen Betrachtung reiner ökonomischer und machttechnischer Gesichtspunkte, offensichtlich als belastend, und suchte sehr bewusst und sensibel seine Gesellschaftspolitik darauf (in konservativ-romantischem) Sinne abzustimmen. 691 Vgl. Barclay, Frederick William IV, S. 49; zit. nach: Alfred Stern, König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und Fürst Metternich im Jahre 1842, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, 30 (1909), S. 127f, S. 134. 692 „In kaum einer europäischen Großmacht war um die Wende zum 19. Jahrhundert das Verhältnis zur eigenen Geschichte so zwiespältig wie in Preußen. Einerseits gab es eine ununterbrochene Königsreihe, deren Lichtgestalt Friedrich II. – eben erst gestorben – immer wieder beschworen wurde. Andererseits war auch den Preußen bewußt, dass ihr Staat der Emporkömmling unter den Großmächten war, zusammengehalten durch Armee, Verwaltung und Krone, aufruhend auf regionalen Eigenheiten, die sich als gemeinsame noch nicht zu fühlen gelernt hatten“, vgl. Frie, Marwitz, S. 238. 693 Zu „Traditionslosigkeit“ vgl. Barclay, Frederick William IV, S. 49f; keine „sakralen Bezüge“: Ebd., S. 51-52. Zum „Königsheil“, das sich in der französischen und englischen Tradition in der Form des heilenden Handauflegens des neu gekrönten Herrschers bei Skrofulose-Erkrankten ausdrückte, siehe Marc Bloch, Die wundertätigen Könige (mit einem Vorwort v. Jacques LeGoff), München 1998.



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im Zeitalter der Frühaufklärung begründeten preußischen Königtums fand in ihren Niederschlag auch im „Allgemeinen Landrecht“ von 1794, welches den König nur noch als „Oberhaupt“ eines ihm gegenüberstehenden Staates auffasste, nicht mehr als „übermenschlichen pro deus“, in dem sich der Staat selbst inkarnierte.694 Entsprechend empfand noch der Vorgänger Friedrichs II., der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I., als pietistischer Herrscher kaum katholischer Sympathien verdächtig, bezeichnenderweise sein eigenes legitimistisches „Ungenügen“ gegenüber der „sacra majestas“ des Kaisers – was ihn neben anderem bewog, eine offene Konfrontation mit dem Kaiserhaus zu vermeiden.695 Seit dem Tod des ersten „Königs in Preußen“, Friedrichs I. im Jahre 1713, hatte es seitens der brandenburgisch-preußischen Monarchen keinen Versuch mehr gegeben, „nachholend“ sich solcher metaphysischer, spiritueller und kultureller Elemente „klassischer“ europäischer Herrschaftsmanifestationen zu versichern – wie es Friedrich I. mit der Gründung der Akademien der Wissenschaften und der Künste, seinen Ordensstiftungen und dem von ihm so geliebten barocken öffentlichen Schaugepränge anstrebte. Unter seinen Nachfolgern bot die preußische Krone vergleichsweise dürftige symbolische Identifikationsmöglichkeiten. Dies wollte Friedrich Wilhelm IV. grundsätzlich ändern.696 Aber auf welchen historisch-spirituellen und institutionellen Elementen ließe sich nach 1800 eine tragfähige Grundlage für ein strapazierfähiges monarchisches Geschichtsbewusstsein entwickeln, um eine wirkliche „preußische Nation“ zu schaffen?697 Eine publizistische Auseinandersetzung, die 1823 zwischen dem Juristen, Kameralisten und ersten Rektor der 1810 gegründeten Berliner Universität, Theodor Anton Heinrich Schmalz, und dem Militärreformer und zweimaligen Kriegsminister Leopold

694 Hubrich, Entstehung, S. 89; allerdings schränkte diese „aufgeklärte“ Staatsauffassung die Autorität der Hohenzollernkönige nicht im Geringsten ein – im Gegenteil! Vielmehr wurden sie in ihrer „landesväterlichen“ Stellung in Ermangelung sakraler Machtquellen erst recht auf die rein diesseitigen Machtmittel verwiesen. Eine Rücknahme, oder Zurückhaltung der königlichen Regierungsgewalt zugunsten mediärer exekutiver Institutionen erwies sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts unter diesen Bedingungen sogar als besonders schwierig! 695 Erst der „aufgeklärte“ Friedrich II. konnte in solch metaphysisch begründetem Verpflichtungsdenken des monarchischen Herrschertums nur noch „Aberglauben“ entdecken. Allerdings hielt sogar dieser „aufgeklärte“ Monarch eine Auseinandersetzung auf der sakralen Symbolebene mit dem österreichischen Kaiserhaus für notwendig, um den Machtanspruch seiner Krone nach außen abzusichern: so befahl er, in den brandenburgisch-preußischen Reichslanden die Fürbitte für den Kaiser im Kirchengebet abzuschaffen, einer Anordnung, der allerdings, um Eklat in der Bevölkerung zu vermeiden, nur „nebenbei“ Folge geleistet werden sollte, vgl. Hubrich, Entstehung, S. 57f. 696 Frank-Lothar Kroll, Herrschaftslegitimierung durch Traditionsschöpfung. Der Beitrag der Hohenzollern zur Mittelalter-Rezeption im 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 274 (2002), S. 61-85. 697 Frie resümierte den preußischen Mangel eigengewachsener Tradition dahingehend, dass Preußen um 1800 gerade deshalb zur „Modernität verurteilt“ war – und doch andererseits die (idealisiert gedachte) geschichtliche Überlieferung die einzige Grundlage bot, auf der das durch die Krise nach 1806 gestörte Verhältnis zwischen Ständen und der Staatsebene neu austariert werden konnte, vgl. Frie, Marwitz, S. 239.

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 Teil I: Staatsform und Adelsreform

Hermann Ludwig v. Boyen ausgetragen wurde, gab den zeitgenössisch häufigsten Lösungsvorstellungen dieses Dilemmas Ausdruck.698 Schmalz, ein strikt spätabsolutistisch-gourvernemental eingestellter Konservativer, sah Preußen durch eine historische und noch bestehende geographisch-staatsrechtliche Teilung gekennzeichnet: Alle preußischen Staaten waren vormals nicht souverän. Jeder von ihnen erkannte eine Obergewalt außerhalb seiner Grenzen an. Sogar die Souveränität des Königreichs Preußen [damit war allein das vormalige Herzogtum Preußen und spätere Ostpreußen gemeint, G. H.] erkämpfte erst der Große Kurfürst im Wehlauer Frieden. Früher standen die preußischen Staaten entweder unter der Oberhoheit des Römischen Kaisers und des Römischen Reiches oder unter der des polnischen Königs und der polnischen Republik.699

Entsprechend, so Schmalz, würde die gegenwärtige preußische Monarchie ein Amalgam aus den alten Landeshoheiten und „der Majestät des deutschen und polnischen Reiches“ darstellen, die in der Person König Friedrich Wilhelms III. vereinigt seien. Mit anderen Worten: allein die Person des Königs und die Institution des Königtums können auch weiterhin Staats- und Gesellschaftseinheit repräsentieren und garantieren.700 Demgegenüber setzte Boyen auf die kollektiv geteilte Kriegserfahrung gegen Napoleon als dem eigentlichen „Gründungserlebnis“ der preußischen „Nation“.701 Dieses Erlebnis habe die ständischen wie provinziellen Schranken durchbrochen und eine erweiterte, einheitlichere Nation geschaffen.702 Die historische Oberhoheit von Kaiser und Reich habe über die „zu Deutschland gerechneten preußischen Provinzen“ (also die Provinzen, die in Anknüpfung an die Grenzziehung des Alten Reiches innerhalb des Deutschen Bundes lagen) schon längst ihre Wirksamkeit verloren, denn diese ältere Reichsautorität hätte „schon seit Jahrhunderten“ nicht mehr geleistet, was notwendiges Kennzeichen der Souveränität sei: genügen-

698 Hartmann, Kontroverse, S. 209. 699 Vgl. die Ausführungen in der Streitschrift von Schmalz: Ansicht der ständischen Verfassung der Preußischen Monarchie, Berlin 1823, zitiert nach: Hartmann, Kontroverse, S. 219. Hartmann bezeichnet Schmalz in einem Zug mit Haller und Gentz als „altständisch“. Doch war Schmalz entschieden gouvernemtal-monarchisch gesinnt, und lehnte jede Form der Repräsentation, auch in der Form der alten Stände ab. Allein in der Selbstsicht als Interessenwalter in eigener Sache, der nicht behauptet als Repräsentant der „Allgemeinheit“ aufzutreten, könnte Schmalz als „altständisch“ bezeichnet werden, vgl. Herbert Obenaus, Verwaltung und Repräsentation in den Reformen Steins, in: Jahrbücher für die Geschichte Mitte- und Ostdeutschlands, Bd. 18, 1969, S. 141. 700 Der konservative Jurist und Justizminister v. Kamptz strich noch Jahrzehnte später den „Staatscharakter“ der verschiedenen preußischen Territorien heraus, vgl. Carl Albert Christoph Heinrich v. Kamptz, Abhandlungen aus dem deutschen und preußischen Staatsrecht, Berlin 1846, S. 276. 701 „Boyen sieht gerade in den Erfahrungen aus den Befreiungskriegen eine wichtige Vorbedingung für die Erweckung eines patriotischen Bewußtseins und die Verschmelzung der einzelnen Landschaften zu einem preußischen Gesamtstaat.“, vgl. Hartmann, Kontroverse, S. 227. 702 Dazu auch Hubrich, S. 98.



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der Schutz für alle Unterthanen.703 Doch Friedrich Wilhelms „monarchisches Projekt“ widersprach diesen beiden Positionen, die ja im Kern reine Machtstaatsideen darstellten: sei es in der Form des absolutistischen Königsstaats, wie Schmalz ihn verstand, sei es in Form der auf militärischen Erfolgen gegründeten „Volksnation“ à la Boyen. Hier suchte Friedrich Wilhelm einen „dritten Weg“, der den Interessen der zentralisierenden Monarchie, wie der vorgegebenen provinzialen Heterogenität gerecht würde.704

Das „monarchische Projekt“ Friedrich Wilhelm beabsichtigte also unter den Bedingungen einer sich modernisierenden Gesellschaft eine originäre Identität für seinen Staat zu stiften. Dies verlangte nach anderen, neuen Formen monarchischer Propaganda und ideologischer Herrschaftsprogramme.705 Der König war sich darüber bewusst, dass die reale Geschichte Preußens weder für seine ständischen Ideen noch für seine mythische Vorstellung monarchischer Autorität überzeugende Modelle liefern konnte.706 1834 äußerte Hermann v. Pückler-Muskau, dass es „lächerlich“ sei, „auf das historische im preußischen Staat etwas zu gründen, da im Grund seine ganze Historie von Friedrich dem Großen ausgehe, und es sich seine eigentliche Historie erst in der Zukunft suchen müsse“.707 Und noch 1850 erinnerte Graf Brandenburg seinen Neffen Friedrich Wilhelm daran, dass Preußen nichts als ein zentralisierter Militär- und Verwaltungsstaat sei, nicht mehr und nicht weniger.708 Bedeutete also Friedrich Wilhelms Vorhaben eine Abkehr von den Hauptströmen der preußischen Staats- und Gesellschaftsentwicklung? Bezeichnenderweise fand Friedrich Wilhelm für sein „monarchisches Projekt“ keinerlei Unterstützung im alt-preußisch konservativen Umfeld seiner sogenannten „Kamarilla“, sondern allein durch den exotischen Außenseiter

703 Vgl. Hartmann, Kontroverse, S. 227. 704 In diesem Sinne bezeichnet Kroll Friedrich Wilhelm IV. als „bekennenden“ Anhänger eines preußisch-deutschen „Sonderweges“. Kroll kennzeichnet diesen „dritten Weg“ unter Bezug auf Novalis’ philosphisch-politische Schriften als Alternative zwischen „Liberalismus“, wie er sich gerade in amerikanischer und französischer Revolution mit ihren geschriebenen Verfassungen ausdrückte, und „Absolutismus“, dessen „schlechtes Beispiel“ nicht zuletzt in der eigenen preußischen Geschichte seit Friedrich-Wilhelm I. und Friedrich II. den Zeitgenossen um 1800 noch gewärtig gewesen sei, vgl. Kroll: Staatsdenken, S. 19, 75. 705 Barclay, Frederick William IV, S. 55, S. 74; Ernst Lewalter, Friedrich Wilhelm IV. Das Schicksal eines Geistes, Berlin 1938, spez. S. 359. 706 Barclay, Frederick William IV, S. 51. 707 Pückler-Muskau, Kapitel I. Politische Ansichten eines Dilettanten. Einleitung, in: Ders.: Tutti Frutti, Fünfter Band, Stuttgart 1834, S. 122f, Anmk. 708 David E. Barclay, Revolution and Counter-revolution in Prussia, 1840-50, in: Philip G. Dwyer (Ed.), Modern Prussian History 1830-1947, Harlow/London/New York et. al. 2001, S. 66-85, hier S. 71.

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und Nichtpreußen Carl Maria v. Radowitz.709 Nur dieser konnte wohl innerlich die ganze Komplexität, aber auch die Nuancen der monarchischen Idee nachvollziehen, also die „preußische Monarchie gleichzeitig auf historischer und neuer Grundlage zu befestigen.“710 Wie aber wäre auf insuffizienter realgeschichtlicher Grundlage eine Kontinuität suggerierende Verfassungsordnung zu entwerfen, die zugleich zeitgenössischen Anforderungen genügte? Doch wohl nur als Desiderat historischer ständischer und monarchischer Einrichtungen, sei es preußischer, oder selbst außerpreußischer Vorbilder. Hierin liegt der Schlüssel für das „romantische“ Strategem dem Friedrich Wilhelm folgte, und das ihm den Beinamen des „Romantikers auf dem Thron“ einbringen sollte. Die „romantische Strategie“ zur Entwicklung einer historischen Grundlage Preußens Ein Hauptgrund für die in der Historiographie lange bestehenden Vorbehalte Friedrich Wilhelms „romantische“ Herangehensweise an die staatspolitischen Probleme Preußens auf ihren rationalen Gehalt zu prüfen, sie vielmehr als wirklichkeitsfliehendes „Phantasma“ abzutun, dürfte in der verbreiteten Auffassung von „Romantik“ zu suchen sein. „Romantik“ wird konventionell mit Eigenschaften wie „traumhaftschwebender“ Subjektivität, extremer Individualität, „Gefühlskult“, „schwärmerischer Vorliebe für das Bizarre, das dunkle, mystisch Versponnene“ verbunden, als Repräsentation wirklichkeitsverklärender „Emotionalität“ und „Sentimentalität“, die auf einer Abwendung von den tatsächlichen Problemlagen und Herausforderungen der „realen“ Welt gründen.711 Damit wird aber „Romantik“, und selbst die „politische Romantik“, allein bestimmten Denkinhalten, bzw. Erscheinungsformen in lebenskulturellen und künstlerischen Bereichen zugeordnet. Ausweis für den „Romantiker auf dem Thron“ Friedrich Wilhelm geben nach diesem Ansatz vor allem sein persönlicher Stil, wie z.B. seine zahlreichen überschwenglichen Äußerungen in Reden und Briefen, seine Neigung zum starken Gefühlsausdruck, seine Lektüre von „Ritterromanen und Kreuzzugserzählungen“, überhaupt die Freude am Mittelalter, den Burgen und Ruinen.712 Diesem Romantikbegriff bleibt bedauerlicherweise auch die Arbeit von Kroll verpflichtet.713

709 Radowitz’ Verständnis für Friedrich Wilhelms Denkweise sollte ihn gerade für die Umsetzung der monarchischen Deutschlandpolitik empfehlen, vgl. Kroll: Staatsdenken, S. 108-142. Zum selben Thema: Barclay, Frederick William IV, S. 188ff. 710 Barclay, Radowitz, S. 45. 711 Kroll, Staatsdenken, S. 15. Kroll sieht die von Carl Schmidt vorgeschlagene allgemeingültige Typologie „romantischer“ Charaktereigenschaften bei Friedrich Wilhelm fast alle für gegeben: „Realitätsflucht“, „Entscheidungsschwäche“, „Formlosigkeit“, „Ästhetizismus“, „Gefühlskult“, vgl. Ebd., S. 4, Anmk. 7. 712 Kroll, Staatsdenken, S. 4. 713 So bezieht sich Kroll zum Nachweis des romantischen Charakters von Friedrich Wilhelm wesentlich auf dessen eigene Benutzung der Begriffes „romantisch“ und „Romantik“ in verschiedensten



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So kann Kroll zwar die intellektuelle Originalität und Stringenz der politischen wie gesellschaftlichen Ideen Friedrich Wilhelms anerkennen, doch führt er diese Haltung vornehmlich auf einen persönlichen Eskapismus zurück, eine Flucht aus einer profanen Welt, die dem Selbstbild und Wertgefühl dieses Monarchen fremd blieb. Insofern geht Kroll letztlich mit den überkommenen Wertungen konform, die von Friedrich Wilhelms politischen Ambitionen als phantastisch-romantischen Projekten ohne jeder Realisierungschance, als kontrafaktischen Geschichtsentwürfen sprechen, wie es schon Treitschke tat. Damit entgeht aber die Möglichkeit, den romantischen Charakter Friedrich Wilhelms nicht nur auf bestimmte Objektbezüge, also die künstlerischen wie institutionellen Repräsentationen romantischer Sehnsüchte zurückzuführen, sondern die „romantische Qualität“ von Friedrich Wilhelms Denken und Handeln in einem bestimmten „Denkstil“ zu suchen, wie ihn Carl Schmitt für die Romantik identifizierte.714 Auch wenn das schmittsche Verdikt über die „politische“ Romantik als „Occasionalimus“ heute ungenügend erscheint, so kann doch Carl Schmitts Kritik am damaligen (und oft auch noch heutigen) Verständnis der Romantik und des Romantischen zum Anlass genommen werden, bzgl. der romantischen Haltung einer Person oder eines ganzen Zeitalters eine Prozessbetrachtung, statt einer Resultatbetrachtung im Sinne Schmitts anzustellen.715 Carl Schmitt identifizierte eine von sachlogischen Zusammenhängen weitgehend entfesselte Analogiebildung als das eigentliche Charakteristikum des romantischen Denkens. Schon Novalis nutzte diesen „Zauberstab der Analogie“.716 Ein solch analogisierender Denkstil kann besonders gut dazu eingesetzt werden, um aus einem Fundus von Überlieferungen aller Art unter Zuhilfenahme utilitaristischer Kriterien und Gesichtspunkte Nützliches auszusuchen, Anderes zu verwerfen, überlieferte politische wie ästhetische Inhalte in assoziativer Weise einander zuzuordnen, und neue Zusammenhänge zwischen diesen herzustellen.717 Ein

Kontexten, bzw. den gleichlautenden Zuschreibungen durch seinen engeren Umkreis und Zeitgenossen, der von Friedrich Wilhelm konsumierten romantischen Literatur der Zeit usw., vgl. Kroll, Staatsdenken, bes. S. 30-40. Ein ähnliches Begriffsverständnis von „Romantik“ zur Zeichnung des Charakters von Friedrich Wilhelm zeigt auch Kalm, Heroldsamt, S. 34ff. 714 Kroll verzichtet ganz bewusst auf die Erörterung eines solchen „Denkstils“ der Persönlichkeit Friedrich Wilhelms in Abgrenzung zu Carl Schmitt, Politische Romantik (1919) Dritte Auflage Berlin 1968, bes. S. 3-27; vgl. Kroll, S. 4, Anmk. 7. 715 „Occasionalismus“ siehe Schmitt, Politische Romantik, S. 24f, 115-152. Zu Prozess- versus Resultatbetrachtung Ebd., S. 211ff. Eine treffende Kritik an Schmitts Attacken auf die Romantik lieferte schon der Zeitgenosse Kluckhohn, Persönlichkeit, bes. S. 96, bes. Anmk. 3. 716 Strobel, „Ein hoher Adel von Ideen“, hier S. 322f. 717 Carl Schmitt sprach in diesem Zusammenhang von der „vitalen Inkongruenz“ der Romantiker, z.B. bei Adam Müller, dem er (zu Recht!) den lebensweltlich eingebetteten Konservativen gegenüber stellte, z.B. Chateaubriand; aber auch Marwitz wäre ausdrücklich zu nennen, der nicht nur hinsichtlich des englischen Vorbildes bezeichnend von Müller abwich, sondern sich später auch allgemein enttäuscht von Müller abwandte. Vgl. Ders., Politische Romantik, S. 27.

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solch assoziatives Umgehen mit vergangenen Lebensstilen, Kulturformen und Institutionen erschöpft sich also keineswegs in einer wahllosen, undifferenzierten Begeisterung. Vielmehr „organisiert“ dieser Denkstil das scheinbar „nostalgisch“ Bewahrte nach eigenen, zeitgenössischen Bedürfnissen und Zielorientierungen um: kurz, es handelt sich um modernes Tun mit alten Formen. In Friedrich Wilhelms Vorgaben und Beiträgen zu der von ihm angestoßenen Adelsdebatte finden sich immer wieder Belege für diese „analogisierende Vorgehensweise“: zeitlich wie räumlich suchte er nach „Anschlussmöglichkeiten“ einer „modernen“ preußischen Adelspolitik. Neben dem Vorbild England finden sich französische Anleihen in seinen Entwürfen zu einer neuen Ständeordnung, ebenso wie ausgesuchte Muster des Alten Reiches. Aus einer solchen Betrachtung erübrigen sich überkommene Interpretationen des „Romantischen“, die „weltanschauliche“ und „religiöse“ Überzeugungen gegen ein „eigentliches politisches“ Handeln ausspielen wollen.718 Denn Weltbild, Gefühlslage und Handeln sind dann als jeweils gleichberechtigte Felder des romantischen Ausdrucks anzusprechen, welche einen gemeinsamen Ansatz des Auswahlverfahrens und der Präferenzenbildung von politischen wie ästhetischen Gehalten teilten.719 Es ist also ungenügend, Friedrich Wilhelms „romantische“ Initiativen individualpsychologisch aus dessen „nostalgischem“ Weltbild abzuleiten, als Versuch, „die Wiederherstellung

718 So hebt Friedrich Meinecke besonders auf die Widersprüchlichkeit des Monarchen ab, vgl.: Ders., Weltbürgertum und Nationalstaat (hrsg. von Hans Herzfeld), Stuttgart 1962. 719 Romantik in diesem Sinne verhält sich deshalb zur Moderne durchaus ambivalent. Denn eigentlich handelt es sich um ein „modernes“ Verfahren mit Überlieferungen und tradierten Verhaltensweisen umzugehen, vgl. Henri Brunschwig, Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert: die Krise des preußischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts und die Entstehung der romantischen Mentalität, Frankfurt a. M. 1976. Die Beispiele der polnischen und der ungarischen Romantik belegen, dass diese auch als „modernisierend“-egalisierende Partizipationsstimulans wirken, also gewissermaßen „links gelesen“ werden konnte. In der Romantik schlug sich diese Ambivalenz in der Hoffnung auf Überwindung von Gegensätzen nieder, so z.B. in Adam Müllers dialektischer „Lehre vom Gegensatz“, die nicht nur die Äquivalenz scheinbar gegengerichteter Phänomene zu belegen suchte, sondern vor allem auch die Notwendigkeit ihres gegensätzlichen Ausdrucks. Vor Müller hat schon der Romantiker Novalis (d.i. Georg Friedrich Philipp v. Hardenberg) die „Gegensätze“ von „Konservatismus“ und „Liberalismus“, die er in ihren lebensweltlichen Implikationen klar erkannte, in einem synthetischen Gesellschaftsentwurf zu versöhnen gesucht. Ähnlich ambivalent strebte eine „Synthese von Monarchie und Demokratie“ E. M. Arndt an, vgl. Paul Kluckhohn, Persönlichkeit und Gesellschaft. Studien zur Staatsauffassung der deutschen Romantik, Halle a.d.S. 1925, S. 102 Anmk. Wie Sigmund Neumann betonte auch Henri Brunschwig, dass die scheinbare Äquivalenz von Romantik und früher konservativer Ideologie ein spezifisch preußisch-deutsches Phänomen war, das der besonderen politischen deutschen Lage um 1800 geschuldet war. Deshalb wäre auch im deutschen Raum die Gleichsetzung von Romantik und politischer Reaktion ein verkürzender Fehlschluss, so Neumann, Stufen, S. 133-134, u.135 Anmk. 12-13. Auch Carl Schmitt wies diese Gleichsetzung im Vergleich der deutschen Situation mit dem europäischen Westen zurück, vgl. Ders., Politische Romantik, S. 11ff.



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der idealisierten mittelalterlichen Welt ein weiteres Stück voranzutreiben“.720 Ein erweitertes Verständnis von „Romantik“ erfordert, die persönliche Haltung des Monarchen auf die praktischen Problemlagen und Herausforderungen seines zeitgenössischen Staates zu beziehen. Ein solcher Bezug lässt dessen „romantische“ Sehnsucht nach „Versöhnung“ durch „Verschmelzung“ von Gegensätzen als das Bedürfnis verstehen, die komplizierten und durch politische und bürokratische Akte mittelfristig kaum aufzulösenden staatsstrukturellen Differenzen seiner Monarchie auf anderem Wege zu überwinden, die „innere Einheit“ des Staates durch eine „innerliche Einheit“ der Staatssubjekte vorwegzunehmen.721 Tatsächlich sollte die nüchterne Einschätzung, die Friedrich Wilhelm den historischen Voraussetzungen und Entwicklungsbedingungen seines Staatswesens entgegenbrachte, Warnung genug sein, dessen romantische Sicht auf Staat und Gesellschaft mit illusionärem Träumen gleichzusetzen – Friedrich Wilhelm war sich den historisch gegebenen Möglichkeiten und begrenzten Machtpotentialen seiner eigentümlichen Monarchie in einer Deutlichkeit bewusst, wie nur wenige seiner Zeitgenossen – und er war fest davon überzeugt, dass es einer darauf sorgsam abgestimmten Politik bedurfte, sollte das preußische Staatsschiff nicht langfristig Bruch erleiden. Handlungsfelder des monarchischen Projekts Das „monarchische Projekt“ zielte zum einen auf einen weitgefassten symbolischen Bereich, zum zweiten darauf, einen loyalen Kader von Unterstützern nicht nur am Hof und in der Verwaltung, sondern auch in der Tiefe der Gesellschaft heranzuziehen, und zum dritten und nicht zum letzten auf die Ausbildung einer ständischen Gesamtstaatsverfassung. Zum symbolischen Bereich zählten die schon von den Zeitgenossen als unpolitisch missverstandenen Initiativen des Monarchen in der Architektur und der Gartenkunst, dessen baukünstlerische Großschöpfungen damals wie

720 Einer solchen individualpsychologischen Sicht ist vor allem die Biographie von Dirk Blasius verpflichtet, in der vor allem auch der Beziehung zwischen Friedrich Wilhelm IV. und seinem Vater, sowie zwischen den verschiedenen Familienmitgliedern in der Verarbeitung der historischen Erfahrungen nachgegangen wird. Ders., Friedrich Wilhelm IV. „Wer Individualität und Kollektivität zu Gegensätzen macht, bloß um den Rechtsanspruch des schöpferischen Individuums und das Mysterium des Einzelwerks wahren zu können, begibt sich der Möglichkeit, im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdecken; Kollektives in Form von Kultur [...] im Sinne des „Habitus“[...], vgl. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M., 1983, S. 132. 721 So korrespondiert z.B. Friedrich Wilhelms Propagierung eines vorgeblich mittelalterlichen, ritterlichen Dienstideals der „Selbstlosigkeit“ mit den Herausforderungen einer nachabsolutistischen, expandierenden Verwaltung, vgl. Barclay, Frederick William IV., S. 73. – als Versuch, einer modernen und immer komplexer werdenden Verwaltung mit ihren widersprüchlichen Interessenvertretern und zunehmend unkontrollierbar werdenden Einzelentscheidungen eine Loyalität und Disziplin abzutrotzen, die durch noch so große Arbeits- und Kontrollleistungen des Monarchen nicht allein mehr zu gewährleisten und doch für eine konsistente Regierungsarbeit die Voraussetzung war.

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heute vorschnell als privatisierender Eskapismus abgetan wurden.722 Die von Friedrich Wilhelm favorisierten Palast-, Kirchen- und Kunstbauten scheinen diesen Eindruck zu bestätigen. Aber dahinter stand ein eminent politisches Programm.723 Die Absicherung bzw. Rückgewinnung monarchischer Autorität und eine erneuerte Positionierung des Königtums als Zentrum und Arbiter der politischen Entscheidungsprozesse sollte nach außen propagiert und durch die ästhetische Qualität wie religiöse Einbettung legitimiert werden. Die Betonung seines persönlich erfahrenen „Gottesgnadentums“ ist nicht in einer eitel „stolze[n] Überhebung über Menschen und Dinge zu suchen“.724 Die gesuchte Steigerung monarchischer Ausstrahlung sollte durch eine Förderung der historischen Forschung über die Herrscherdynastie erreicht werden.725 Überbaut wurden diese idealsymbolischen Betätigungen durch die metaphysische Dimension, wie sie in seiner Kirchenpolitik zum Ausdruck kam – als Schlussstein des „christlichen Staates“, einer umfassenden sozialen, spirituellen und politischen Erneuerung der Hohenzollernmonarchie.726 Die Gründungen, bzw. die Reorganisation mehrerer Orden wie des Johanniter- und Schwanenordens, die Einrichtung der Friedensklasse des „Pour le Mérite“ gehören ebenfalls diesem symbolischen Bereich des „monarchischen Projekts“ an, verweisen aber zudem auf das praktische Ziel, einen „loyalen Kader von Unterstützern“ der Monarchie heranzuziehen.727 Ein modernisiertes Dienstideal sollte in einem

722 Barclay betont zu Recht den inneren Zusammenhang von Friedrich Wilhelms Staats- und Gesellschaftsauffassung und seinen Architekturprojekten, in welchen seine weltanschaulichen Vorstellungen ihren vielleicht umfassendsten und zumindest ästethisch überzeugendsten Niederschlag fanden, Ders., Frederick William IV., S. 67. 723 Barclay sieht darin deutliche Parallelen zu Kaiser Wilhelm II. Auch für Wilhelm II. identifiziert die Forschung inzwischen ein „monarchisches Projekt“. So drängt sich förmlich die Frage auf nach den denkbaren verdeckten Beziehungen und unausgesprochenen Korrespondenzen in den „monarchischen Projekten“ dieser im übrigen so denkbar unterschiedlichen monarchischen Charaktere. Diese Beziehungen würden in den ähnlich gelagerten Herausforderungen einer zu erneuernden monarchischen Legitimation zu suchen sein. 724 Petersdorff, Friedrich Wilhelm IV., S. 1. Vgl. Diskussion der Berliner Nationalversammlung 1848 über „Von Gottes Gnaden“ und das dabei verwandte Argument, auch in England seien die Monarchen „von Gottes Gnaden“, ohne konsitutionelle Freiheit einzuschränken, zitiert nach: Hubrich, Entstehung, S. 113. 725 Kroll, Herrschaftslegitimierung; siehe zu Stillfried von Alcantara und der Neuordnung des Hofes: Barclay, Frederick William IV., S. 61. Zu Stillfried v. Alcantara als Verfasser einer Schrift über Reorganisation des Adels, Görlitz 1840/1842 vgl. Kalm, Heroldsamt, S. 41, und unten Teil III. Kap. 4.2.3. 726 Barclay, Frederick William IV., S. 75ff. „Evangelische Katholizität“ als Vorstellung einer vom Staat unabhängigen (also keine evangelische Union mit Summepiskopat), mit Bischöfen in apostolischer Sukzession besetzten Kirche, vgl. dazu Walter Bussmann, Friedrich Wilhelm IV. König von Preußen. Ein Romantiker auf dem Thron? (Schriftenreihe der Hessischen Genossenschaft des Johanniterordens, Nr.17), Butzbach-Nieder Wesel (Johanniterordenshaus) 1987, S. 7. 727 Barclay, Friedrich Wilhelm IV., S. 73-74. Zum Johanniterorden: Kalm, Heroldsamt, S. 37.



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zunehmend unübersichtlichen Verwaltungsapparat die königliche Autorität stützen helfen.728 Dem nämlichen Ziel diente eine größere Differenzierung und Erweiterung der Hofstellen. Es galt die Ausstrahlungskraft, die öffentliche Wahrnehmung des Hofes und dessen Glanz im internationalen Vergleich zu steigern. Die seit der Reformepoche veränderten ständischen und gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse hatten die Hofrangordnung von 1713 obsolet werden lassen, und der schon 1809 ausgearbeitete Entwurf eines neuen Rangreglements war nie erlassen worden. Die Folge war eine wachsende Unsicherheit über Verhaltensmaßstäbe und Rangbeziehungen.729 Das Auftreten hoher bürgerlicher Beamter, die Präsenz von an das Hofleben nicht eingeübter (Klein-)Adliger und Militärs trugen zur Verwirrung bei: Leutnants und Mitglieder des angesessenen Landadels waren gar nicht berücksichtigt.730 Aber Friedrich Wilhelms monarchisches Projekt nahm neben der symbolisch unterfütterten Neulegitimation der Krone, der funktionell-administrativen Stiftung neuer Loyalitätsbeziehungen die politisch-institutionelle Vollendung der ständischen Gesamtstaatsverfassung zu seinem ehrgeizigsten Ziel. Tatsächlich ist dies der in der Forschung am besten untersuchte Bereich der vielfältigen Initiativen Friedrich Wilhelms.731 Entgegen dem verhassten „französischen“ Konstitutionalismus wünschte der König die Errichtung einer politischen Partizipationsebene aus der Machtvollkommenheit der monarchischen Autorität zu schöpfen. Dies sollte den Provinzialständen eine Vertretung ihrer Interessen an zentraler Stelle erlauben, ohne dadurch die königliche Prärogative einzuschränken.732 Ausdrücklich sollte das eine Alternative zum neoabsolutistischen Etatismus wie zum demokratisierenden Konstitutionalismus bilden.733 Dazu sollten die Provinzialstände zeitweise Vertreter aus den

728 „In undertaking these actions, Frederick William hoped to rekindle what he feared had become a diminished sense of knightly brotherhood and devotion to service among the state’s most distinguished servants“. Allerdings war dieser Initiative kein großer Erfolg beschieden, Barclay, Frederick William IV., S. 71-74. 729 Erst seit der Reformzeit waren alle Offiziere und der Rittergutsadel prinzipiell hoffähig geworden: vgl. Kai- Holländer, Sand, hier S. 37. 730 Caroline v. Rochow stellte für die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts fest, dass „unter unseren neu-vornehmen Leuten, Ministern, Generalen usw. sehr wenige waren, die früher jemals am Hofe gelebt hatten und die früheren Usancen in diesem Felde kannten.“ Caroline v. Rochow, Vom Leben am preußischen Hofe 1815-1852. Aufzeichnungen von Caroline v. Rochow geb. v.d. Marwitz und Marie de la Motte Foqué, bearbeitet von Luise von Marwitz, Berlin 1908, S. 45, 134. 731 Kroll, Staatsdenken, S. 94-101. Barclay, Frederick William IV., S. 120ff. Weiterführende Literatur Ebd., Anmk. 87. 732 Der König wünschte sie sich als „aktive“ Antwort einer konservativen Macht auf der Herausforderung der Repräsentationsideen, wie sie in der französischen Revolution zum Ausdruck kamen, Barclay, Frederick William IV., S. 126. 733 Barclay, Frederick William IV., S. 52ff; S. 74. Gerade darin nahm dieses Verfassungsideal Merkmale vorweg, wie sie Ralf Dahrendorf für „Dritte Wege“-Konzepte des 20. Jahrhunderts resümierte: „In der Regel war der Dritte Weg ein antidemokratischer Weg mit korporatistischen oder syndikalistischen Zügen.“ Siehe: Ders., Weg, S. 22. Trotzdem möchte Manfred Botzenhart in solchen Überzeu-

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in ihnen repräsentierten Ständen entsenden, die sich aber nicht als Reichsstände, geschweige denn konstitutionelle Versammlung verstehen sollten. Im Grunde wollte Friedrich Wilhelm die neue Verfassungsordnung Preußens nur als eine Zusammenfassung und präzisere Ausformulierung der wesentlichen schon bestehenden Verfahrens- und Entscheidungsweisen.734 Die Ziele seines gesamten „monarchischen Projektes“ spiegelten sich in diesem Ständeprojekt.735 Die so konstituierten Stände sollten neben dem König Ausdruck der Einheit des Staates werden, mehr Partner denn Untergebene der Krone sein, womit sich Friedrich Wilhelm scharf gegen die in seinem Ministerium vertretenen spätabsolutistischen Tendenzen verwahrte. Die beigeordneten Stände sollten die mystische Transzendierung des Königsamtes befördern, wie andererseits als loyale Unterstützer desselben auftreten – als logische Folge dieser Ansprüche wäre allerdings eine solche Ständeordnung nur um den Preis ihrer verklärenden Entpolitisierung zu haben gewesen.736 Im vorliegenden Zusammenhang ist aber nicht die ständische Politik Friedrich Wilhelms bis zur Einberufung eines Vereinigten Landtags nachzuzeichnen. Stattdessen soll der Blick dafür geschärft werden, inwiefern dieses verfassungspolitische Vorhaben im Rahmen des „monarchischen Projekts“ eine Adelsreform gewissermaßen schon voraussetzte und diese Adelsreform zugleich ein entscheidendes gesellschaftspolitisches Bindeglied zwischen der Verfassungspolitik und den übrigen monarchischen Handlungsfeldern darstellte.737

Die Adelspolitik Friedrich Wilhelms IV. als Schlüsselelement seines „monarchischen Projekts“ Zentraler Bestandteil dieser ständischen Ideen Friedrich Wilhelms war die neue Adelspolitik, bzw. die geplante Adelsreform. Diese sollte seiner eigentlichen Verfassungspolitik einerseits zeitlich voraus gehen, und diese andererseits sozialpolitisch absichern. Die Adelspolitik erweist sich damit als ein zentrales Vorhaben des „monar-

gungen keine direkten Vorläufer der um 1900 ausformulierten (und damals positiv besetzten) „Sonderwegsideologie“ erkennen: vgl. Ders., Anfänge. 734 „[...] le Roi [..] veut que la Monarchie prussienne sit une constitution: il veut que cette constitution ne soit que le développement des lois qui régissent le Royaume, et qu’elle ne soit que le complément du système des huit corps d’ états provinciaux qui existent déjà.“, Metternich in einem Brief an den österreichischen Gesandten in Paris, Graf Apponyi, zit. nach Bahne, Verfassungspläne, S. 97. 735 Barclay, Frederick William IV., S. 122; Das Ergebnis dieser Bemühungen sollte der vereinigte Landtag von 1847 sein, welcher aufgrund langwieriger Kompromisse und Debatten zwischen dem König, dem Kronprinzen und dem Staatsministerium zustande gekommen war, und trotz seiner überstürzten Neueinberufung im Revolutionsjahr 1848 nicht zum Ausgangspunkt der parlamentarischen Entwicklung in Preußen werden sollte. 736 Kroll, Staatsdenken, S. 82. 737 Barclay, Frederick William IV., S. 121.



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chischen Projekts“, denn die Sozialformation des Adels wurde von den symbolischen wie den institutionell-politischen Vorhaben des Königs unmittelbar berührt.738 Als vornehmster gesellschaftlicher Repräsentant und ständiger Begleiter des Königs war der Adel der natürliche Träger und Bewahrer des symbolischen Kapitals der Monarchie und des Staates, wie es schon das ALR ausgesprochen hatte. Aus seinen Reihen sollten sich auch weiterhin die loyalsten Unterstützter von Monarch und Regierung rekrutieren. Zugleich war für den Adel in der neuen Verfassungslösung eine prominente Position vorgesehen, die in manchem sogar stände-politisches Neuland für Preußen bedeutet hätte.739 Das Besondere an diesem sozialen Stand sollte künftighin sein, dass er als rechtliches „Institut“ wie als lebensweltlicher Faktor die beabsichtigte neue Verfassungswirklichkeit in seinen Individuen wie als neudefinierte Korporation nicht einfach repräsentieren, sondern im wahrsten Sinne des Wortes „verkörpern“ sollte!740 Damit wurde dem inzwischen staatspolitisch „ortlos“ gewordenen Sozialstand Adel eine faszinierende neue Perspektive als „Multifunktionselite“ mit einem neuen „Beruf“ in einem erneuerten Staat eröffnet! Eingebettet in ein ganzes Maßnahmenbündel eines ingenieusen „invention of tradition“, eben des „monarchischen Projekts“, sollte die Adelsreform die neue Verfassungsgestaltung als logische Konsequenz der preußischen Geschichte historisch rückbinden und gesellschaftlich legitimieren helfen. Dem jungen, nicht in einem „idealen deutschen Mittelalter“ wurzelnden preußischen Staat und Königtum sollte nicht nur eine erneuerte sozialpolitische Grundlage, sondern eine ganze „Geschichte“ geschenkt werden, die sich in einprägsamen bildlichen und symbolischen Inszenierungen, neuen institutionellen Formen, ja selbst in Personen und Persönlichkeiten vergegenwärtigen ließ. Denn wie sein Vater war Friedrich Wilhelm IV. fest davon überzeugt, dass der Adel zur politischen Stabilisierung des sozial-kulturell äußerst heterogen zusammengesetzten Preußen nach wie vor unersetzlich war. Doch anders als Friedrich Wilhelm III., der eine begrenzte Reprivilegierung des Adels nach der Reformzeit unterstützt

738 Vgl. Barclay, Frederick William IV., S. 71 ff, spez. 72. 739 Zu diesem adelspolitischen Komplex zählen die Institutionalisierungsversuche des Herrenhauses und des Heroldsamtes, vgl. unten Teil III. Kap. 4.3.3. Die (Re-) Etablierung des Heroldsamtes war als ein entscheidendes Instrument zur Steuerung der langfristigen Adelspolitik gedacht. Denn: „Anders als das Oberheraldsamt [der historischen Vorläuferinstitution unter Friedrich I., G. H.], dessen Zielrichtung die Einordnung des Adels in den absolutistischen Staat war, sollte das Heroldsamt der Wiederbelebung und Kräftigung des Adels dienen. [...]. Die Wiedereinrichtung einer Adelsbehörde ist ferner im Zusammenhang mit der 1843/44 und 1853 erfolgten Neuorganisation der Hofchargen zu sehen, die die Effizienz des gesamten Hofapparates erhöhen sollte“, Kalm, Heroldsamt, S. 46. 740 Vgl. Kalm, Heroldsamt, S. 38: „Deren [d.i. der Adelspolitik, G. H.] Ziel mußte es sein, einen Adel zu schaffen, der der ständischen Aufgabenzuweisung gerecht würde. Berücksichtigt man, daß dem Klerus, aber auch den Städten in Preußen, keine besondere Bedeutung würde zuwachsen können, daß Bürger und Bauern aber hinter dem Adel stehen sollten, mußte letzterem eine herausragende Rolle bei der Reorganisation des Staates zufallen. Diese Funktion konnte indes allein ein starker Adel ausfüllen.“

288 

 Teil I: Staatsform und Adelsreform

hatte, beabsichtigte Friedrich Wilhelm IV., die von ihm konstatierten schwachen emotionalen Bindungen zwischen Gesellschaft und Staat in Preußen grundlegender zu stärken. Um aber einer solchen zentralen Rolle gerecht werden zu können, darin stimmte Friedrich Wilhelm IV. im Grunde der Adelskritik seiner Zeit zu, musste der ostelbisch-preußische Adel in seinen sozial- und ständischen Grundlagen neu begründet, vereinheitlicht, institutionell und materiell gesichert werden.741 Deshalb sollte nun endlich der in und nach der Reformepoche unterbliebene Eingriff in die binnenadligen Standesstrukturen erfolgen. Adelspolitik wird erneut zum Bestandteil einer Verfassungspolitik Deshalb fand während der Regentschaft Friedrich Wilhelms IV. gegenüber den sporadischen und unsystematischen Adelsreformauseinandersetzungen der Reformepoche eine zentral geführte Debatte zu diesem Thema statt. Nun sollte systematisch geklärt werden, was „Adel“ in Preußen eigentlich voraussetze und beinhalte, und welche Aspekte davon für die Zukunft als leitbildhaft herangezogen werden konnten. Einmal mehr ging es bei dieser Feststellung einer preußischen „Adligkeit“ darum, das Verhältnis zwischen Adel und Nichtadel, wie auch des Adels zur Krone zu klären. Inzwischen hatten sich aber die Schwerpunkte verlagert: das Verhältnis zu Staat und Krone spielte eine deutlich geringere Rolle, da die Provinzialständeordnung und der bis dahin schon erfolgte Abbau von formalen Standesvorrechten neue Realitäten geschaffen hatte. Jetzt rückte das Verhältnis zum Bürgertum in den Mittelpunkt, also der Komplex, der in den Reform- und Restaurationsjahren von geringerer Relevanz gewesen war. Schon daran wird deutlich, wie sehr sich die politischen Konstellationen seit 1820 verändert hatten. Aber selbst im Vormärz wurde „Adelspolitik“ einmal mehr als „Verfassungspolitik“ verhandelt. In diesem Sinne müssen die ausführlichen Gutachten und Voten der Mitglieder des Staatsministeriums, der von Friedrich Wilhelm eingesetzen „Adelskommission“ und seiner externen Berater gelesen werden. Denn neben den jeweiligen standespolitischen Positionen gegenüber dem Adel ging es darum, welche Hauptlinien und Konturen einer schon latent existierenden, ungeschriebenen Verfassung in Preußen aus der interpretierenden Lektüre der preußischen Geschichte herauszulesen wären. Diesem Aspekt gilt es besondere Aufmerksamkeit zu schenken, wenn sich die Darstellung nun dieser vormärzlichen, von Friedrich Wilhelm IV. initierten Adelsreformdiskussion genauer zuwendet.

741 Diesen inneren Zusammenhang zwischen den ständischen Idealen Friedrich Wilhelms und seiner Adelsreformpolitik stellte erstmals Kalm zurecht heraus, vgl. Ders., Heroldsamt, S. 38.

Teil II. Was ist Adel in Preußen?

3.

Die Adelsreformdebatte der 1840er Jahre – ein diskursives „social engineering“? Nous ne voulons pas la contrerévolution, mais le contraire de la révolution Motto des Berliner Politischen Wochenblatts, nach Joseph Marie LeMaistre Se vogliamo che tutto rimanga com’è, bisogna che tutto cambi. Tancredi in Il Gattopardo

3.1.

Eine neue Adelspolitik in Preußen

3.1.1.

Friedrich Wilhelms IV. „englische“ Adelsreform

Mit der Thronbesteigung König Friedrich Wilhelms IV. (1840–1861) schien sich ein grundlegender Wandel der preußischen Adelspolitik anzukündigen.1 Gleich während der Huldigungsfeierlichkeiten in Königsberg am 10. September 1840 hatte der neue König mehrere Standeserhöhungen mit konditionalem Charakter ausgesprochen und damit seine Vorstellungen einer zukünftigen staatlichen Adelspolitik eröffnet.2 In Zukunft, so machten diese Akte deutlich, sollten neu verliehene Prädikate und Titel nur noch auf solche Nachkommen der Ausgezeichneten übergehen, welche sich in alleinigem Besitz des väterlichen Grundeigentums befanden, der wiederum in seinem Umfang mindestens der bei der Nobilitierung vorhandenen Größe entsprechen sollte.

1 Friedrich Wilhelm IV. folgte am 7. Juni 1840 mit dem Tod seines Vaters Friedrich Wilhelm III. auf den preußischen Thron. 2 Noch am selben Tag wurden diese neuen Prinzipien und Konditionen für die Vererbung von Adelstiteln in einer Kabinettsordre genauer gefasst. Diese Kabinettsordre ist aber nie in der Gesetzsammlung veröffentlicht worden. Stattdessen wurden die königlichen Bestimmungen in einer Notiz der Preußischen Staatszeitung, 1840, Nr. 257 veröffentlicht. Gleiches gilt für die ausführlicheren Bestimmungen anlässlich der Huldigung für die Provinzen des Deutschen Bundes am 15. Oktober 1840 in Berlin. Diese wurden ebenfalls in der Preußischen Staatszeitung, 1840, Nr. 287 publiziert. Sie wurden noch um die Bestimmungen ergänzt: „2. Die verteilte Grafenwürde soll dagegen nur auf denjenigen unter den Descendenten übergehen, welcher in den alleinigen Besitz des väterlichen Grundeigenthums gelangt, ferner nur alsdann, wenn das ererbte Grundeigenthum das gegenwärtige, oder mindestens dem letzteren an Umfang und Rechten gleich, und in Meinen Landen belegen ist, und sie gelten endlich nur für die Dauer solchen Grundbesitzes, in der Person, dessen letzten Besitzers sie erlöschen. 3. Die vorstehenden Bestimmungen wegen der Vererbung der erteilten Standeserhöhungen sollen auf diejenigen gleichfalls Anwendung finden, welche bei der Huldigung in Königsberg am 10. v. M. verliehen worden sind.“, Diese Bestimmungen sind nur vom Monarchen, nicht vom Ministerium gezeichnet worden, vgl. Eduard Hubrich, Die Entziehung verliehener Ehrentitel in Preußen, in: Archiv für öffentliches Recht, 22. Band, Tübingen 1907, S. 327-368, hier S. 348f.

292 

 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Bei Verlust des Grundbesitzes sollte auch der Adel der Familie wieder verlorengehen.3 Das Vorbild für diese adelspolitischen Neuerungen bildeten ganz offensichtlich die Adelsverhältnisse in Großbritannien mit ihrem ausgeprägten Primogenitursystem.4 Der hochsymbolische Zeitpunkt der Huldigung unterstrich, welchen Stellenwert der Monarch dieser standespolitischen Neuorientierung beimaß, und wie sehr ihm daran gelegen war, diese Gnadenakte als programmatisch verstanden wissen zu lassen.5 Dies musste der preußischen Öffentlichkeit umso mehr auffallen, als sie den Thronwechsel mit hochgespannten Erwartungen begleitet hatte. Entscheidungen und Zeichen ganz anderer Art wurden von dem neuen Monarchen erhofft: nämlich die einer generellen Liberalisierung der preußischen Politik und vor allem die Verwirklichung der schon von seinem Vater, König Friedrich Wilhelm III., seit 1815 wiederholt in Aussicht gestellte, aber nie umgesetzte politische Repräsentation auf gesamtstaatlicher Ebene – einer „reichsständischen Verfassung“.6 In der langen Restaurationsphase nach den napoleonischen Kriegen, einer Zeit notwendiger Konsolidierung des territorial durch den Wiener Kongress stark veränderten preußischen Staates und eines sozioökonomischen Transformationsprozesses, der durch eine schwere agrarwirtschaftliche Krise verschärft wurde, war die Diskussion über dieses Verfassungsversprechen zunächst stark zurückgetreten. Umso heftiger entwickelte sie sich in den späten dreißiger Jahren zum Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelms III. Nach

3 Der Innenminister Gustav v. Rochow fasste diese Bestimmungen in einem Votum vom 10. Dezember 1840 folgendermaßen zusammen: „1. Der Adel wird bei der Verleihung nur dem Begnadigten, nicht aber seiner Descendenz [den Nachkommen, G. H.] verliehen; 2. Er wird nur solchen verliehen, welche rittermäßigen Grundbesitz haben; 3. Der Adel kann unter Umständen beschränkt auf die Descendenz des ersten Grades übergehen, aber erst mit dem Tode des Begnadigten; 4. Er geht nämlich nur auf einen der männlichen Descendenten und zwar auf denjenigen über, welcher den ganzen zur Zeit der Verleihung vorhandenen Grundbesitz des Vaters oder einen diesem Grundbesitz an Umfang und Rechten gleichen und in den königlichen Landen gelegenen von dem Vater ererbt; 5. Dieselben Grundsätze gelten bei der Vererbung in den ferneren Graden der Descendenz; 6. Der Verlust des Grundbesitzes zieht den des Adels in der Person des letzten Besitzers nach sich“, vgl. GSTAPK Rep. 77, Tit. 1108, Nr. 31, Bd. 1 (Die staatsrechtlichen Verhältnisse des Adels 1809-1850), unpaginiert. 4 Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 5, S. 249-252; Berdahl, Prussian Nobility, S. 326-333. 5 In seinem ersten Regierungsjahr nobilitierte Friedrich Wilhelm 29 Rittergutsbesitzer, und sprengte damit die bis dahin gültige Nobilitierungspraxis seiner Vorgänger. Insgesamt nobilitierte er während seiner Regierungsjahre 62 Rittergutsbesitzer. Das entsprach einem Anteil von 41 % an allen Nobilitierungen, ein Wert, der um das Doppelte bis Vierfache über den sonst zwischen 1800 (und davor) bis 1918 üblichen Werten lag, und erst von seinem kurzzeitigen Nachfolger Friedrich III. knapp überboten wurde. Für Brandenburg war es seit 1798 sogar das erste Mal gewesen, dass ein bürgerlicher Rittergutsbesitzer nobilitiert wurde, vgl. Schiller, Nobilitierungen, S. 74f, u. S. 84. 6 Zum einen hatte der damalige Staatskanzler, Fürst von Hardenberg, am 22.5.1815 eine Verordnung „Über die zu bildende Repräsentation des Volks“, in der unter § 1 die Bildung einer Repräsentation des Volkes angekündigt wurde, die unter § 3 insofern spezifiziert wurde, als sie sich aus gewählten Vertretern der Provinziallandtage zusammensetzen sollte. Wiederholt wurde dieses Versprechen in allerdings ungenauerer Formulierung 1820 und 1823. Vgl. zu diesen Vorgängen oben Kap. 2.5.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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seinem Tod richteten sich alle Hoffnungen auf den Thronfolger. Tatsächlich schien Friedrich Wilhelm IV. ernsthaft entschlossen, eine „Fortbildung“ der bestehenden provinzialständischen Verfassung vorzunehmen, um diese mit dem Schlussstein gesamtstaatlicher „Generalstände“ zu krönen. Diese sollten allerdings keinesfalls dem von ihm gehassten „konstitutionellen System“ gleichen.7 So kommentierte Varnhagen von Ense die anlässlich der Huldigung in Berlin am 15. Oktober 1840 durchgeführten Nobilitierungen neuen Stils: Sonderbar ist, dass der König auch hier alle von ihm erhöhten Adelstitel an Grundbesitz geknüpft hat, wie schon in Königsberg. Es scheint, er will den Adel ganz auf den Fuß des englischen stellen. Ohne Parlament, wozu? Wird die neue Schöpfung gelingen? Es ist sehr zu bezweifeln. Einstweilen aber hilft der König den alten Adel zerstören, das ist gewiß!8

Tatsächlich hätte die konsequente Durchsetzung dieser neuen Nobilitierungspraxis einen völligen Bruch mit den bisherigen preußischen Standes- und Adelsverhältnissen bedeutet, die, wie im gesamten kontinentalen Europa, Titel und Standesrechte auf alle legitim geborenen Kinder des Adels übergehen ließ. Entsprechend irritierte die neue Adelspolitik nicht nur die zeitgenössische preußische Öffentlichkeit, sondern auch das in der Forschung bis heute fest gefügte Bild einer konsequent adelsrestaurativ orientierten Politik in Preußen zwischen 1815 und 1848. Geschlossen und einmütig, so suggerierte diese, hätten Monarchen und rittergutsbesitzender wie in Verwaltung und Regierung tätiger Adel bis in den Vormärz an einer konsequenten Linie altständischer Restauration gearbeitet. In dieses vorherrschende Interpretationsschema sind aber die innovativen adelspolitischen Ansätze der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. nur schwer einzuordnen.9 Wohl nicht zuletzt deswegen wurden sie in der Forschung lange Zeit kaum beachtet, bzw. nur als vorübergehende, letztlich gescheiterte Abweichung von der generellen preußischen Entwicklung eingeschätzt, die, weil „kontrafaktisch“, nicht nur zwingend erfolglos, sondern auch folgenlos bleiben musste.10 Sind Friedrich Wilhelms romantische Weltanschauung und seine darauf gegründete neo-ständische Verfassungspolitik inzwischen sehr erschöpfend gewürdigt worden, so findet sich selbst in den jüngeren Biographien Friedrich Wilhelms noch kaum ein

7 Bahne, Verfassungspläne, S. 5. 8 Karl August Varnhagen von Ense, Tagebücher, Aus dem Nachlaß herausgegeben, Bern 1972, Bd. 1, Eintrag unter Donnerstag, den 15. Oktober 1840, S. 229. Zur Charakterisierung der „frohen Tage der Erwartung“, die dem Thronwechsel folgten, und ihrer Enttäuschung vgl. Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 5, S. 3-16; S. 29-31. Die preußische Öffentlichkeit erhoffte sich von dem neuen Monarchen die seit 1815 wiederholt in Aussicht gestellte Vertretungskörperschaft für den ganzen preußischen Staatsverband, wobei je nach persönlicher Vorliebe darunter die (ältere) Idee verstanden wurde, diese auf den bestehenden Provinziallandtagen aufzubauen, oder die „radikalere“ Idee einer auf Volkswahl und Gleichheitsgrundsatz beruhenden Repräsentation. 9 Reif, Adelspolitik in Preußen, S. 200-202, 205. 10 Vgl. dazu oben Teil I. Kap. 1.2.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Wort zu seiner Adelspolitik.11 Doch Friedrich Wilhelms eigentümliche Auffassungen über den einzuschlagenden Weg zu einer „reichsständischen Verfassung“ ist von diesem Komplex gar nicht zu trennen – diese beiden königlichen Pläne bedingten sich gegenseitig, wie Harald v. Kalm treffend feststellte: die beabsichtigte Adelspolitik sollte den Adel in einer Weise formieren, damit er den Ansprüchen und Aufgaben der vom König geplanten neuen ständischen Ordnung gerecht werden konnte.12 Die adelspolitische Initiative Friedrich Wilhelms war der Anlass zu einer ausgedehnten und intensiven Beschäftigung der zentralen Behörden über den „Charakter“ und die Entwicklungspotentiale des Adelswesen in Preußen überhaupt, d.h. über dessen soziale, historische und rechtliche Ausgangsbedingungen, sowie den daraus zu schließenden Zukunftsoptionen; kurz: über die Art der „Adligkeit“ der für Preußen maßgeblichen Adelsformationen. Damit wurde nun an zentralem Ort eine Debatte wieder aufgegriffen, die schon während der Reformepoche intensiv, doch äußerst dezentral und unstrukturiert geführt worden war.13 Diese Auseinandersetzungen verliefen parallel zu den sich zwischen 1840 und 1847 erstreckenden Verfassungsdiskussionen, welche mit dem „Vereinigten Landtag“ ein vorläufiges Ergebnis finden sollten, bevor die Revolution von 1848 diese Lösung wie auch die ursprünglich beabsichtigte neue Adelspolitik obsolet werden ließ. In diesem Zeitraum kamen die Pläne um einen „Neuen Adel“ regelmäßig ins Stocken, abhängig vom zähen Ringen inner-

11 Selbst David E. Barclay, welcher erstmals den nicht nur symbolischen, sondern auch funktionalen Zusammenhang zwischen Friedrich Wilhelms ständischer Politik und seinen zahlreichen kulturellen und sozialen Initiativen synthetisierend als „monarchisches Projekt“ umriss, blendet den zentralen Aspekt seiner „Adelspolitik“ fast völlig aus. Barclay paraphrasiert die Diskussionen der 1840er Jahre nur kurz, und begnügt sich für seine Schlussfolgerungen allein mit der Tatsache ihres vordergründigen Scheiterns, vgl. Barclay, Frederick William IV., S. 72. Erstaunlicherweise findet sich selbst in der Arbeit von Frank-Lothar Kroll keinerlei Verweis auf diese Adelspolitik, vgl. Kroll, Friedrich Wilhelm IV. Ebenso wenig findet sich in den Biographien von Blasius, Friedrich Wilhelm IV. und Bussmann, Zwischen Preußen und Deutschland. Allein Kalm, Heroldsamt, bietet S. 38-46 eine analysierende Zusammenfassung dieser Politik, die letztlich auch die Gründung des Heroldsamtes motivierte. Auf dieses erstaunliche Defizit machte wiederholt Heinz Reif aufmerksam: Ders., Friedrich Wilhelm IV. und der Adel. Zum Versuch einer Adelsreform nach englischem Vorbild in Preußen 1840-1847 [Dokumentation], in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 43, 1995, S. 10971111; und: Ders., Adelspolitik in Preußen, S. 213, Anmk. 26. 12 „Berücksichtig man, dass dem Klerus, aber auch den Städten in Preußen, keine besondere Bedeutung [für den Aufbau dieser neuen Ständeordnung, G. H.] würde zuwachsen können, dass Bürger und Bauern aber hinter dem Adel stehen sollten, musste letzterem eine herausragende Rolle bei der Reorganisation des Staates zufallen. Diese Funktion konnte indes allein ein starker Adel ausfüllen“, vgl. Kalm, Heroldsamt, S. 38. 13 Vgl. Teil I. Kap. 2.4. Daß im Vormärz wieder Ideen der Generation der Befreiungskriege wirksam geworden waren, wußte schon Neumann. Dieses Wiederaufgreifen schrieb er nicht nur Friedrich Wilhelm IV. zu, sondern den „in einem viel tieferen Sinne zur politischen Wirksamkeit gekommenen Schichten der Aristokratie“, und „dies trotz der großen Änderungen der Staatsgesellschaft in Preußen der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts“, vgl. Ders., Stufen, S. 54.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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halb der Regierung um die Verfassungslösung. Doch wurden sie vom König unermüdlich immer wieder angetrieben. Sie bieten daher das inhaltlich dichteste, wie durch seine prominenten Akteure repräsentativste Beispiel einer Auseinandersetzung über „Adligkeit“ im gesamten preußischen 19. Jahrhundert. Zugleich kann aus ihnen der Versuch gelesen werden, die in Folge der Reformen Anfang des 19. Jahrhunderts festzustellende Auseinanderdrift von „ideellen“ und „materiellen“ Grundlagen einer „Adligkeit“ wieder anzunähern, bzw. zu verbinden.14 Berdahl hatte als erster die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung diesen so lange missachteten Vorgängen in elitentheoretischer Hinsicht zukam: inwiefern, und in welchem Umfang deuteten sie auf die Bereitschaft zumindest von Teilen der preußischen Eliten, eine ständische Verflüssigung und Neudefinitionen des Adels zu akzeptieren, um auf dieser neo-ständischen Grundlage ein Bündnis aus altem und neuem Adel sowie dem aufstrebenden Bürgertum zu ermöglichen?15 In einem ersten skizzierenden Vergleich dieser adelspolitischen Intention zu anderen adelsreformerischen Forderungen vor und nach 1840 zeigte Heinz Reif eine Reihe von Analogien und Parallelen auf, die einen relativ breiten, vom Bürgertum bis in adelige Kreise reichenden zeitgenössischen Konsenses bezüglich der Ursachen und Themen der zeitgenössischen Adelskritik suggerieren.16 Doch welche realen Handlungschancen mit dem Ziel einer zukunftsträchtigen Verbindung des alten Adels mit dem wohlhabenden Bürgertum bot ein solcher Problemkonsens?17 In Anknüpfung an die oben in Teil I. Kapitel 2.4. aufgeworfenen Fragen bzgl. einem Auseinandertreten von „Adligkeit“ und Eliteanforderungen in Folge des Reformgeschehens nach 1806 sollen die im Vormärz verfolgten Strategien und Lösungsversuchen zur konsensualen Ausbildung einer neuen „Adligkeit“ darauf befragt werden, welche Entwicklungsrichtungen zur Gewinnung eines adlig-bürgerlichen Ausgleichs sich in ihnen abzeichneten.

14 Kalm verwies auch schon auf die auffälligen Parallelen dieser Auseinandersetzungen zu Positionen der preußischen Reformzeit, insbesondere zum englischen Vorbild und den Vorschlägen des Freiherrn von und zum Stein, vgl. Kalm, Heroldsamt, S. 40. Vgl. auch Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 5, S. 256-58 und Paul Hassel, Joseph Maria v. Radowitz, 3 Bände, Berlin 1905-1913, hier Bd. 1, S. 439-41. 15 Berdahl zählte diese Diskussionen zu den interessantesten des Vormärz, Ders., Prussian Nobility, S. 326. Berdahl nutzte vor allem die Akte GSTAPK Rep. 89 (Zivilkabinett), Nr. 930. Außerdem bezog er sich auf die Informationen aus: Paul Hassel, Joseph Maria v. Radowitz, Bd. 1, S. 439-441. 16 Die vorliegende Darstellung baut auf dieser ersten Analyse von Heinz Reif auf, ergänzt und differenziert sie aber stärker nach den unterschiedlichen Positionen der Minister und den sich daraus erschließenden Grundintentionen dieser Akteure: vgl. Reif, Adelspolitik in Preußen, hier besonders S. 210-212. 17 Als motivleitende Themen fallen dabei immer wieder die zeitgenössischen Klagen über den gegenüber dem neuen Wirtschafts- und Industriebürgertum ökonomisch relativ zurückfallenden Adel, das Bedauern und die Beschwerden über den „kastenmäßigen“ Abschluss des Adels gegenüber bürgerlichem Reichtum bei gleichzeitigem starren Festhalten an den verbliebenen sozialen Privilegien gerade seitens des verarmenden Kleinadels ins Auge.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Das vorliegende Kapitel wird deshalb sein Augenmerk weniger auf die Faktionsbildung potentieller Unterstützer und Gegner der Friedrich-Wilhelmschen Adelspolitik richten. Sondern es soll sich wieder der Ausgangsfrage Berdahls angenähert werden: nämlich, ob und wie diese von der monarchischen Spitze ausgehende Adelsdebatte des Vormärz überkommene adlig-ständische Identitätsmerkmale und Werthaltungen „in Bewegung brachte“, sie „zur Verhandlung stellte“, um sie in neuer Weise zu organisieren oder zu stabilisieren. Unter einem solchen Gesichtspunkt ist letztlich nicht das schließlich erreichte oder verfehlte Ergebnis maßgeblich; auch nicht, welche Gegner oder Unterstützer diese Politik in der preußischen Regierung und Verwaltung, oder der weiteren Öffentlichkeit hatte. Vielmehr richtet sich das Untersuchungsinteresse vornehmlich darauf, wie es bei diesen Auseinandersetzungen zu einer Reflektion, einer Rekombination, also einer „Re-Formierung“, bis hin zu einer Verflüssigung oder gar „Entsubstantialisierung“ von Adelseigenschaften, bzw. den Auffassungen über eine preußische „Adligkeit“ kam. Der Beginn der vormärzlichen Adelsdebatte – die gutachterliche Beauftragung des Staatsministeriums Die von Friedrich Wilhelm ausgelöste Diskussion über den geplanten „Neuen Adel“ in Preußen setzte gleich im Herbst 1840 ein, als der König dem Staatsministerium auftrug, seine neuen Nobilitierungsgrundsätze zu begutachten.18 Tatsächlich hatte der König schon im Juli 1840 das Staatsministerium mündlich über seine diesbezüglichen Absichten informiert.19

18 Dazu erging eine eigene Kabinettsordre am 13. Oktober 1840. Vgl. Berdahl, Prussian Nobility, S. 326. 19 Diesen Hergang rekapitulierte der Innenminister v. Rochow in seinem Votum zur neuen Nobilitierungspolitik vom 10. Dezember 1840, auf welches unten noch ausführlich eingegangen wird: „Seine Majestät beziehen sich im Eingang der Ordre [vom 13. Oktober 1840, G. H.] auf die durch Allerhöchstdieselben vor längerer Zeit Einem hohen Staatsministerium in dieser Angelegenheit gewordenen Mittheilungen, und können hierbei, da schriftliche Befehle nicht eingegangen sind, nur diejenigen Erörterungen vor Augen haben, welche Allerhöchstdieselben bei einer der beiden Anfangs July d. J. in der Huldigungsangelegenheit abgehaltenen Sitzungen Einem hohen Staatsministerium zu machen geruthen“, vgl. GSTAPK Rep. 77, Tit. 1108, Nr. 31, Bd. 1 (Die staatsrechtlichen Verhältnisse des Adels 1809-1850), unpaginiert. Allerdings gibt es in den Regesten der Protokolle der Staatsministeriumssitzungen über diesen Zeitraum keinen Verweis auf eine solche (mündliche) Eröffnung: Laut einem Schreiben v. Rochow an Thile (3.7.1840) sollten am 7. und am 10. Juli Sitzungen des Staatsministeriums zur Vorbereitung der Huldigungen stattfinden. In den gedruckten Regesten der Staatsministeriumsprotokolle ist aber nur die Sitzung vom 7.7. erfasst, ohne Hinweis auf eine solche mündliche Eröffnung, vgl. Bärbel Holz, Einleitung, in: Die Protokolle des preussischen Staatsministeriums, 1817-1934/38, Acta Borussica, Neue Folge, 1. Reihe, Bd. 3 (9. Juni 1840-14. März 1848), bearb. v. Bärbel Holz, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Preußische Akademie der Wissenschaften), u. d. L. v. Jürgen Kocka und Wolfgang Neugebauer, Hildesheim/Zürich/New York 2000, S. 3, Anm. 9. Von nun an zit. als: Holz, Staatsministeriumsprotokolle.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Zum einen kann vermutet werden, dass es das Ziel Friedrich Wilhelms war, über diese Debatte die Grundlage eines breiteren Konsenses in seinem Ministerium und der Verwaltung zu schaffen. Friedrich Wilhelm IV. war nicht nur in der Adelsfrage bestrebt, in der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung das Staatsministerium einzubeziehen. Dieses bestand aus der Gesamtheit der Ressortminister, sowie einigen Personen, die vom König „mit Sitz und Stimme“ extra zu diesem Gremium berufen werden konnten.20 Dabei entwickelte der König ein völlig neues Verhältnis zum Staatsministerium, mit dessen Arbeitsweise er sehr vertraut war, da er schon als Kronprinz über zwanzig Jahre regelmäßig an dessen Sitzungen teilgenommen hatte. Sein Vater regierte dagegen noch ausschließlich aus dem Kabinett heraus, dem „Büro“ des Königs.21 Unter Friedrich Wilhelm III. hatten nur einzelne, ausdrücklich mit den Kabinettsvorträgen beauftragte Minister regelmäßigen Kontakt zum König. Auch Friedrich Wilhelm IV. reichte noch über sogenannte „Kabinetts-Ordres“ teils sehr allgemeine, teils sehr detaillierte Anweisungen an das Staatsministerium weiter. Insofern blieb das Kabinett bis in die Jahre vor der Revolution ein wichtiger Ort der Entscheidungen. Dennoch zeichnete sich ein Wandel im Verhältnis dieser Institutionen wie in ihrem politischen Gewicht ab.22 Dies steht dem immer noch gängigen

20 Neben dem Kronprinzen Wilhelm als Vorsitzendem zählten zu diesen Staatsministern ohne Ressort im Vormärz Karl Friedrich Heinrich Graf v. Lottum (1817-26.10.1840), Philipp v. Ladenburg (18371.12.1842) der als Staatsminister neben Wittgenstein die 2. Abteilung des Hausministeriums leitete (Domänen und Forsten), Karl Ferdinand Friedrich v. Nagler (16.1.1836-13.6.1846), der als „Oberpostdirektor“ quasi die Rolle eines „Postministers“ einnahm, Christian v. Rother (26.1.1835-19.3.1848) und Heinrich Theodor v. Schön (10.9.1840-3.6.1842). Anton Graf zu Stolberg-Wernigerode (30.12.184020.3.1848) erhielt als Vertreter für Sayn-Wittgenstein, bzw. des Hausministeriums, im Dezember 1840 Sitz und Stimme im Staatsministerium ohne aber zum Staatsminister ernannt zu werden. Eine solche Ernennung erfolgte erst im Juni 1842 als Nachfolger Ladenbergs in der 2. Abteilung des Hausministeriums und unter Beibehaltung seiner bisherigen amtlichen Stellung. Ludwig Gustav v. Thile (9.3.184119.3.1848, zugleich Kabinettsminister), Gustav Rochus v. Rochow (13.6.1842-11.9.1847), Heinrich Gottlob v. Mühler (30.9.1844-18.3.1848), Eduard Heinrich v. Flottwell (15.7.1846-18.3.1848) und Hermann v. Boyen (7.10.1847-15.2.1848) waren ebenfalls zeitweise Mitglieder des Staatsministeriums, ohne ein Ressort zu leiten, vgl. Holz, Staatsministeriumsprotokolle, S. 524. 21 Allerdings griff Friedrich Wilhelm IV. auch in die überkommene Struktur des Kabinetts ein und teilte es in das Geheime Zivilkabinett und das Militärkabinett und berief erstmals formell einen zuständigen Kabinettsminister: Ludwig Gustav v. Thile, der damit ab 1841 die Funktion des im selben Jahr verstorbenen Karl Friedrich Heinrich Graf v. Lottum übernahm, vgl. Holz, Staatsministeriumsprotokolle, S. 18. 22 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.5.1. und 2. „In Auswertung der neugefundenen Protokolle ist, […], hier zu konstatieren, dass Friedrich Wilhelm IV. als Monarch von Anbeginn einen neuen Umgangs- und auch Regierungsstil gegenüber dem Staatsministerium praktizierte: Noch im ersten Monat seiner Regentschaft führte er es mit der ständischen Immediat-Kommission unter seinem Vorsitz zusammen. Späterhin ließ er in diesem Gremium unter seiner zeitweiligen Gegenwart gemeinschaftlich die weitere Vorgehensweise in der Verfassungsfrage erwägen und sich sichtlich von den Meinungen (zumindest) einzelner Minister beeinflussen. […]. Aber nicht nur beim neuralgischen Politikfeld der Verfassungsfrage pflegte Friedrich Wilhelm IV. die gemeinschaftliche Verständigung. Auch bei 15 anderen

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Bild des Staatsministeriums als eines relativ schwachen Entscheidungszentrums entgegen.23 Friedrich Wilhelm IV. war an der Kenntnisnahme des ministeriellen Willens interessiert und strebte generell eine integrative Beratungsform mit seinen Verwaltungs- und Regierungsspitzen an. Aus diesem Grund wurde Friedrich Wilhelm auch schon als „sein eigener Premierminister“ (Barclay) und als Preußens „erster moderner König“ bezeichnet.24 Diese Vorgehensweise betraf auch seine intendierte Adelspolitik. Als Motiv spielte wohl auch eine Rolle, dass er über ausgesuchte adlige Spitzenvertreter „seinen Adel“ in diesen Prozess der Konsensfindung einzubinden suchte – der Eindruck einer „absolutistischen“, oktroyierten Maßnahme sollte von vornherein ausgeschlossen werden. Denn dies widersprach seinem Regierungsideal einer weder absolutistischen, noch liberal-konstitutionellen Regierung.25 Aber auch historische Gründe befürworteten einen solchen Einbezug von „Repräsentanten des Adels“: bis zur Reformepoche war der Adel als Partner der Monarchie in der Aus- und Umgestaltung des brandenburgisch-preußischen Gesamtstaates behandelt worden. Der Einbezug der adligen Mitglieder, bzw. einer ausschließlich aus Adligen bestehenden Kommission zu dieser Angelegenheit diente so der „Ersatzrepräsentanz“ des preußischen Adels zu einem Zeitpunkt, als ein zentralstaatliches „Repräsentationsorgan“ (noch) nicht bestand. Trotz seines völlig neuen Regierungsstils war Friedrich Wilhelm offensichtlich davon überzeugt, mögliche Skepsis und Widerstand aus dem Staatsministerium kraft seiner königlichen Autorität und der persönlichen Überzeugungsfähigkeit überwinden zu können. Verlaufsbedingungen der Adelsdebatte im Staatsministerium Doch dieses integrative Verfahren in der Entscheidungsfindung verzögerte die adelspolitischen Vorhaben Friedrich Wilhelms erheblich. Der Verlauf der Verhandlungen im Staatsministerium wurde durch weitere Eigentümlichkeiten der preußischen Staatsregierung gebremst. Regierung und Verwaltung waren noch nicht klar getrennt; die Regierung, deren Mitglieder wiederum ausschließlich aus der höheren Beamten-

Beratungen suchte er (zeitweilig) die Minister-Runde zum Zwecke der direkten Verständigung über Gesetzentwürfe auf, wobei sich die Themenpalette von der Ehescheidung und der Kirchenpolitik, über die Angleichung der rheinischen Justizverfassung an die preußische Strafrechtspflege, die Planung zentraler Eisenbahnlinien bis hin zur Revision der Strafprozess-Ordnung erstreckte“, vgl. Holz, Einleitung, S. 21. 23 „Dieses Bild ist gewöhnlich aus den Jahren unter dem Staatskanzler Hardenberg schematisch auf die Jahrzehnte bis 1848 übertragen worden. Es ist gleichermaßen einer vornehmlich juristischen Deduktion unter staatsrechtlichem Aspekt sowie einer Vernachlässigung durch die historische Zunft gegenüber der praktisch ausgeübten Funktion und Wirkung des Staatsministeriums im Vormärz geschuldet und scheint im Kontext der jetzt erschlossenen Quellen in mehrfacher Hinsicht als nicht mehr stimmig“, vgl. Holz, Staatsministeriumsprotokolle, S. 21-22. 24 Holz, Staatsministeriumsprotokolle, ebd. 25 Vgl. oben Teil.I. Kap. 2.5.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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schaft kamen, griff regelmäßig in die Verwaltung ein.26 Außerdem war das Arbeitsverfahren innerhalb des Staatsministeriums selbst extrem schwerfällig.27 Erschwerend kam hinzu, dass die Ministerposten noch fast ausschließlich mit Personen aus der Regierungszeit Friedrich Wilhelms III. besetzt waren. Erst allmählich wurden in den Jahren nach dem Thronwechsel die Ministerämter neu besetzt.28 Trotzdem entstand auch dann kein in seinem Willen einheitliches Ministerium; ein Zustand, der von Friedrich Wilhelm trotz gegenteiligem Bekundens auch gewollt war, denn so blieb dem Monarchen die Möglichkeit, widerstrebende Stimmen gegeneinander auszuspielen – die Minister sollten „Werkzeuge“ bleiben, deren Divergenzen durch den königlichen Willen ausgeglichen werden konnten.29 Eine zentrale Figur des Regierungsapparates war der Minister des königlichen Hauses, Wilhelm Fürst zu Sayn-Wittgenstein, um den sich eine konservative „Partei“ gruppierte, bestehend aus dem Innenminister Gustav v. Rochow, Philipp von Ladenberg, dem Chef der 2. Abteilung des Ministeriums des königlichen Hauses („Domänen und Forsten“) und „Geheimer Staatsminister“ (ohne Ressort), dem Minister für Gesetzesrevision Albert v. Kamptz und dem Finanzminister Albrecht Graf v. Alvensleben (von 1842-1844 Kabinettsminister).30 Recht einsam standen dagegen der relativ libe-

26 Bahne, Verfassungspläne, S. 57. 27 Vgl. Holz, Staatsministeriumsprotokolle, bes. S. 2. 28 General Ludwig Gustav v. Thile kam als Nachfolger des 1841 gestorbenen Grafen v. Lottum in die Funktion eines solchen „Kabinettsministers“ (1840-1848). Neben General v. Thile waren auch noch Finanzminister Albrecht Graf v. Alvensleben (1842-1844) und Ernst v. Bodelschwingh (1844-1848) mit Kabinettsvorträgen betraut. Zum Ministerium gehörten sonst zum Zeitpunkt des Thronwechsels: Innenminister Gustav v. Rochow, der Minister für Gesetzesrevision Karl Albert von Kamptz, der Minister des königlichen Hauses Wilhelm Fürst zu Sayn-Wittgenstein (1819-1851), und seit März 1841 der Kriegsminister Hermann v. Boyen (1841-1847) in Nachfolge von Gustav v. Rochow. Da SaynWittgenstein in seiner Sonderrolle als Hausminister fast nie an den Sitzungen des Staatsministeriums teilnahm, übernahm als dessen Vertretung im Dezember 1840 Anton Graf v. Stolberg-Wernigerode Sitz und Stimme im Staatsministerium. Zum Ministerwechsel und der Zusammensetzung des Staatsministeriums vgl. Holz, Staatsministeriumsprotokolle, S. 15. 29 Zwar habe Friedrich Wilhelm von einem „nach englischem Muster“ kompakten Ministerium geschwärmt, doch z.B. 1845 geäußert: „In der Administration brauchen die Minister nicht einig sein, das weiß ich, dass sie da nicht einig sind.“, Bahne, Verfassungspläne, S. 59 u. Anm. 152. 30 Fürst Wilhelm zu Sayn-Wittgenstein (1770-1851) stammte aus einem rheinischen Geschlecht und begann seine politische Karriere in Preußen als er ab 1794 in verschiedenen höfisch-diplomatischen Missionen dem Königshaus nahekam. Seit 1797 Oberhofmeister der preußischen Königin bekleidete er zunächst allein Positionen der Hofgesellschaft, nahm 1804 den Fürstentitel an (den der preußische König sofort anerkannte) und übernahm seit der Einführung des höchsten Hof-Amtes eines „OberKammerherrn“ im Jahr 1810 diesen Posten. Erst 1814 wurde er Minister der Polizei, und betätigte sich in diesem Amt als skrupelloser Verfolger der liberal-patriotischen Bestrebungen. Sei 1819 hatte er das Ministerium des Königlichen Hauses inne. Er galt als „Freund und Vertrauter“ Friedrich Wilhelms III. und war als „Beförderer konservativer Gesinnungen und Institutionen“ ein ausgesprochener Reaktionär, der als „alleiniges Organ [...], durch das, sowohl auswärtige, wie innere Personal-, Hof- und Familienangelegenheiten ihm [d. König, G. H.] vorgebracht wurden. Durch diese Vertrauensstellung

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rale Kriegsminister Herrmann v. Boyen und der ebenso als „liberal“ eingeschätzte Außenminister Heinrich Freiherr v. Bülow. Zwar schieden Rochow, Kamptz wie auch Mortimer Graf v. Maltzan (der Vorgänger Bülows im Außenministerium) im Frühjahr und Sommer 1842 aus. Und Alvensleben nahm 1844 aus eigenem Wunsch den Abschied. Aber auch nach Ausscheiden dieser „Absolutisten“ bildete sich unter den Nachfolgern Ludwig Gustav v. Thile (Kabinetts- und Staatsminister ohne Ressort), Friedrich Karl v. Savigny (als Nachfolger von Kamptz), Friedrich Eichhorn (Kultusminister), welche beiden letzteren vom Thronfolger Prinz Wilhelm als parteilich „Unentschiedene“ charakterisiert wurden, kein politisch geschlossenes Staatsministerium.31 Aus diesem uneinheitlichen Staatsministerium kamen schon im Sommer 1840 Stimmen gegen jede „reichsständischen“ Verfassungsvorhaben. Insbesondere der Innenminister Gustav v. Rochow zeigte sich von Anfang an als Gegner der königlichen Verfassungspläne, obwohl er persönlich keine Alternativen dagegenstellte.32 Unterstützt wurde er dabei u.a. vom Hausminister v. Wittgenstein und von Kamptz. Beide versuchten vor allem den Widerstand des designierten Thronfolgers und jüngeren Bruder des Königs, dem „Prinzen von Preußen“ Wilhelm, gegen die königlichen Verfassungspläne anzustacheln.33 Besonders Wittgenstein, unter Friedrich Wilhelm III. der „Premier hinter der Gardine“, war seit jeher ein Gegner der ständischen Ideale Friedrich Wilhelms IV. gewesen.34 Dazu kam der Einfluss der mit Preußen in der „heiligen Allianz“ verbündeten Großmächte Russland und Österreich. Diese hatte allerdings Friedrich Wilhelm selbst zu dieser Einmischung ermuntert, indem er bei diesen wiederholt über persönliche Schreiben wie durch seine Gesandten v. Bülow und später v. Canitz für seine politischen Vorhaben für Verständnis und (moralische) Unterstützung zu werben suchte.35 Die innere Uneinigkeit des Staatsministeriums sollte nicht nur die Auseinandersetzungen um eine „reichsständische“ Verfassung, sondern auch die Struktur der Adelsreformdebatte prägen. Das Resultat war ein immer wieder verzögerter und sprunghafter Verlauf. Allerdings sollte dies schließlich relative, wenn auch verspätete persönliche Erfolge Friedrich Wilhelms in den ständischen wie den Adelsreformplänen bis 1847 mit sich bringen. Denn so wenig dieses heterogene Ministerium letztlich gegenüber den königlichen Verfassungsplänen eine geschlossene Front bildete (und somit mittelbar den „Vereinigen Landtag“ von 1847 nicht verhindern konnte), so wenig konnte es die königlichen Adelsreformpläne end-

konnte er maßgeblich zum Scheitern der reichständischen Verfassungspläne in den späten Jahren Hardenbergs beitragen, vgl: Caroline v. Rochow, Vom Leben, S. 45, S. 125. Caroline v. Rochow war von 1814 bis 1818 Hofdame bei der Prinzessin Wilhelm, d.h. Marianne v. Hessen-Homburg, der engen Freundin Friedrich de la Motte Fouqués. Und ADB, Bd. 43, Leipzig 1898, S. 626-629. 31 Bahne, Verfassungspläne, S. 57f. 32 Ebd., S. 23. 33 Ebd., S. 44. 34 Ebd., S. 16. 35 Ebd., S. 18.



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gültig zu Fall bringen, sondern nur solange „ausbremsen“, bis unverhofft die Revolution von 1848 diese politischen Ansätze in ganz anderem Sinne beendete. Der Beginn der Adelsdebatte im Staatsministerium Nach der königlichen Aufforderung zur Begutachtung kam das Staatsministerium in einer Besprechung der Adelspläne am 6. Oktober 1840 allein zu dem Schluss, dass insbesondere der neue Voraussetzungscharakter von Grundbesitz für künftige Standeserhöhungen den höheren Beamten „schmerzlich“ sein müssten, da deren Aussichten auf Begnadigungen dieser Art in Zukunft doch versperrt sein würden. Außerdem müsse selbst den bei den Huldigungen geadelten Personen die gefassten Konditionen „unangenehm“ sein, da diese sie in ihrem Verfügungsrecht über ihren Grundbesitz eingeschränkten und die „Begnadigten“ die Erhebung in den Adelsstand doch gerade wegen der sozialen Aussichten ihrer Kinder begrüßten – eine Beschränkung der Vererbung müsste solche generationenübergreifenden Hoffnungen enttäuschen.36 Trotz dieser insgesamt negativen Beurteilung fällt auf, dass das Staatsministerium keine Totalopposition gegen die königlichen Direktiven wagte. Vielmehr suchte es mit einem Kompromiss die Bestimmungen des Königs lediglich zu mildern. Die Minister schlugen ihrerseits vor, höheren Beamten ohne ritterlichen (also mit provinzialständischen Rechten ausgestatteten) Grundbesitz, im Falle sie (oder ihre Nachkommen) würden einen solchen nachträglich erwerben, den Adelsrang ebenfalls auf die gesamte Nachkommenschaft, bzw. auf den Familienzweig in Besitz des Rittergutes vererben zu lassen. Und im Falle der Nobilitierung von „angesessenen“ (also in Besitz bevorrechtigten Grundbesitzes befindlichen) Personen sollte der Adelstitel zumindest in der ersten Generation auf alle Nachkommen übergehen; erst in den folgenden Generationen solle die weitere Vererbung des Adelstitels vom Besitz ritterlichen Grundbesitzes abhängen.37 Diesen Gegenvorschlägen zufolge wäre auch zukünf-

36 Innenminister v. Rochow informierte in einem Schreiben vom 11. Oktober 1840 über die neuen Bestimmungen bezüglich künftig vorzunehmender Standeserhöhungen den Minister des königlichen Hauses, Fürsten Wittgenstein; dabei setzte Rochow Wittgenstein über die Verhandlungen des Staatsministeriums vom 6. Oktober in Kenntnis, sowie, dass der König auf Rochows Bericht der staatsministeriellen Reaktion am 7. Oktober seine ursprünglichen adelspolitischen Bestimmungen vorläufig modifiziert habe. Rochow kündigte im gleichen Schreiben weitere „allerhöchste Bestimmungen“ für den 15. Oktober an. In diesem Schreiben Rochows finden sich auch die Abschriften der Verhandlung des Staatsministeriums vom 6. Oktober und der königlichen Entscheidungen vom 7. Oktober 1840, vgl. GSTAPK Rep. 77, Tit. 1108, Nr. 31, Bd. 1, unpaginiert. Die Regesten der Protokolle des Staatsministeriums geben allerdings über diesen Verhandlungsgegenstand für die Sitzung des 6. Oktober 1840 keinerlei Hinweis, vgl. Holz, Staatsministeriumsprotokolle, N. F. 1. Reihe Bd. 3, S. 45-46. Laut Regesten war bei dieser Sitzung am 6. Oktober auch der Thronfolger des Königs, Prinz Wilhelm von Preußen, anwesend. 37 De facto hätte dies die Einführung eines „Personaladels“ bedeutet, der aber später von der Ministerrunde als „unhistorisch“ abgelehnt werden sollte. Die Kurzfassung der staatsministeriellen Positionen paraphrasierte Rochow in seinem Schreiben an Wittgenstein folgendermaßen:

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

tig niemand von der Nobilitierung a priori ausgeschlossen gewesen. Zugleich wäre jedoch eine zwingende Aufforderung an die Begnadigten ergangen, großen Grundbesitz als entscheidendes adliges „Standesmerkmal“ und Vererbungsvoraussetzung des eigenen Adels zu erwerben, bzw. zu erhalten. Tatsächlich modifizierte der König seine Bestimmungen im Sinne der ihm durch Innenminister Gustav v. Rochow am 7. Oktober 1840 berichteten Vorschläge des Staatsministeriums: die Nobilitierung eines Begnadigten sollte zugleich die erste Generation der Nachkommen umfassen.38 Dennoch hielt der Monarch entschlossen an seiner Grundlinie fest, den Adel bei dauerndem Fehlen von großem Grundbesitz nicht weitervererben lassen zu wollen. Für den Grafenrang wurden die primogenitalen Prinzipien von Königsberg und der Kabinettsorder vom 10. September 1840 allerdings ausdrücklich beibehalten. Ferner gestattete der König bei dieser Gelegenheit, dass die Nobilitierten entweder den Namen ihres Rittergutes annehmen dürften, oder ihren eigenen Namen auf das Rittergut übertragen könnten. Offensichtliches Ziel dieser bemerkenswerten Bestimmung war es, durch die Namenseinheit die Bindung des Familienstandes an den Besitz auch symbolisch zu betonen: Das Gut würde so nicht mehr als lediglich zufällig erworbene, letztlich beliebige Immobilie erscheinen, dessen Wert für die Familie sich vornehmlich aus seinem Kapitalwert bemaß. Diese letzten beiden Bestimmungen, bezüglich der Grafenwürde wie der Namenswahl, sollten allerdings nach dem Wunsch des Königs nicht veröffentlicht werden.39 Zugleich kündigte der Monarch noch für den 15. Oktober, also dem Tag der Huldigung in Berlin, weitere allerhöchste Bestimmungen in dieser Angelegenheit an. Aber schon zuvor erging am 13. Oktober eine förmliche Allgemeine Kabinettsorder an das Staatsministerium: die Minister sollten ihre Gründe für die Änderungsvorschläge der königlichen Nobilitierungsbestimmungen genauer darlegen. Mit dieser Aufforderung

„1. daß den höheren Beamten die neuen Bestimmungen zu Standeserhöhungen schmerzlich seien, würden ihre Aussicht auf Standeserhöhung in Zukunft doch ausgeschlossen sein 2.daß diese neuen Adels-Verleihungen den neu begnadigten Personen nicht angenehm seien, weil a. sie in der Disposition ihres Grundbesitzes geniere b. weil viele derselben gerade ihrer Kinder wegen die Erhebung in den Adelsstand be­grüßen Vorgeschlagen wird dagegen von seiten des Staatsministeriums: I. den Adel auch unangesessenen höheren Staatsdienern zu verleihen mit der Maßregel, dass sich dieser nur auf die Descendenz vererbe wenn der Staatsdiener selbst oder dessen Nachkommen Grundeigentum erwerben. II. sonst allen Nachkommen den Adel zu vererben, aber erblich nur für diejenigen der Söhne, die in den väterlichen ritterlichen Grundbesitz sukzedieren, oder solchen erwerben“, vgl. Rochows Schreiben an Wittgenstein vom 11. Oktober 1840 in: GSTAPK Rep. 77 Tit. 1108 Nr. 31 Bd. 1 , unpaginiert. 38 Vgl. Ebd. 39 Königliche Kabinettsordres wurden in der Regel in der „Gesetzsammlung für die preußischen Staaten“ veröffentlicht. Doch bei Publikation fürchtete der König wohl die ablehnende Reaktion der Öffentlichkeit.



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war die bis an die Revolution 1848 heranreichende Adelsdebatte innerhalb der preußischen Verwaltungsspitze offiziell eröffnet. Der Monarch hatte damit eine Auseinandersetzung angestoßen, die sehr schnell ihren sozialen, politischen und rechtlichen Grundsatzcharakter offenbarte. In Übereinstimmung mit seinem neuen Regierungsstil und seiner auch sonstigen Nutzung des Staatsministeriums kann aus diesem Vorgang geschlossen werden, dass seine Aufforderung an das Staatsministerium nicht so sehr von machtpolitischen, als von inhaltlich-praktischen Motiven geleitet war: die Mitglieder der höheren Staatsverwaltung, des Staatsministeriums und Kabinetts, sowie der später von ihm selbst definierte Beraterkreis, sollten in einer Art sozialhistorisch unterfüttertem politischen Gutachten klären helfen, woher „Adel“ in Preußen, als Rechtsinstitut wie als Sozialformation, historisch eigentlich herrühre, welche Eigenschaften und Funktionen den „wahren“ Charakter seiner Existenz bestimmten und welche Zukunftsoptionen sein spezifisches historisches Erbe für die weitere Neu- und Ausgestaltung der sozialpolitischen Verhältnisse in Preußen tragen könne. Die Auseinandersetzungen des Staatsministeriums verwiesen in ihrer Verknüpfung unterschiedlicher Themen und Motive weit über diesen inhaltlich wie zeitlich begrenzten Kreis hinaus und ließen eine Reihe älterer und heterogener Diskussionen über den Adel inhaltlich zusammenlaufen. Die Parallelen zur allgemeinen zeitgenössischen Adelsdebatte waren nicht zuletzt den spezifischen Problemlagen und Herausforderungen von Staat und Gesellschaft im Preußen des Vormärz geschuldet. Zum anderen eröffneten sie Perspektiven auf die langfristigen Ursachen dieser Konflikte in Folge der spezifischen preußischen Staatsgenese. Die ersten adelspolitischen Reaktionen der Minister auf die „neuen Bestimmungen“ In erster Linie betraf die Verantwortung für die Neuregelungen den Minister des Inneren, Gustav v. Rochow, und den Minister des königlichen Hauses, Wilhelm Georg Ludwig Fürst von Wittgenstein. Denn ihre Ressorts waren für die sich anschließenden politischen- und Sachfragen in Standesangelegenheiten zuständig. So hatten sie die bei den Huldigungen ausgesprochenen Nobilitierungen zu begutachten, vorzubereiten und schließlich zu diplomieren.40 Da Wittgenstein als Minister des königlichen Hauses eine Sonderstellung im Kreis der Minister einnahm, und nicht im Staatsministerium vertreten war, informierte ihn Innenminister v. Rochow in mehreren Schreiben zwischen Oktober und November 1840 über die staatsministeriellen Verhandlungen, die königlichen Modifikationen und die ergangenen Kabinettsorders in dieser Angelegenheit.41 Die ersten Aktivitäten dieser Minister waren deshalb von den praktischen

40 Vgl. zu den Kompetenzen in Standessachen vor der Begründung des Heroldsamtes 1855: Kalm, Heroldsamt, S. 18-26, bes. S. 25. 41 Das Hausministerium nahm innerhalb der Regierung eine Sonderstellung ein, so dass Wittgenstein zwar formell Mitglied des Staatsministeriums war, aber zwischen 1840-48 nur zweimal an Staatsministerialsitzungen teilnahm, vgl. Holz, Staatsministeriumsprotokolle, S. 15.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Fragen des Umgangs mit den neuen Nobilitierungskonditionen bestimmt, in welcher Weise die königlichen Bestimmungen in konkreten Fällen interpretiert und in den Adelsdiplomen ausgeführt werden müssten. Abwartende Unsicherheit und Orientierungssuche kennzeichneten deren erste Schritte. So fragte Wittgenstein am 16. Oktober beim Innenminister an, nach welchem Muster denn nun mit den Standeserhöhungen zu verfahren sei. In seiner Antwort vier Wochen später verwies Rochow auf die modifizierenden Bestimmungen vom 15. Oktober. Da aber schon in der Kabinettsorder vom 13. Oktober das Staatsministerium zu einer genauen Stellungnahme aufgefordert worden war (von der er Wittgenstein bei dieser Gelegenheit informierte), schloss Rochow, dass die Ausfertigung der Diplome vom Ausgang dieser staatsministeriellen Beratungen offensichtlich nicht tangiert würden.42 Tatsächlich wurden aber die Minister schon wenige Wochen nach den Adelsverleihungen von einigen der Begnadigten bestürmt, für ihren Fall die an ihren neuen Titeln und Prädikaten hängenden Konditionen entweder ganz ignorieren, oder wenigstens modifizieren zu dürfen. So erbat Graf Sauerma auf Zülzendorf in Schlesien schon am 24. Oktober 1840 seine Standeserhöhung auf beide Söhne übergehen lassen zu dürfen mit der Begründung, dass diese jeweils mit einem Majorat (Zülzendorf und Ruppersdorf) ausgestattet, und damit für beider Wohlstand gesorgt sei.43 Und am 29. Oktober leitete Wittgenstein das Schreiben v. Eickstaedt-Peterswald aus Pommern an Rochow weiter, der Aufklärung darüber erbat, inwiefern die zweite Bestimmung der allerhöchsten Ordre vom 15. Oktober nicht durch die erste teilweise aufgehoben würde, da doch der Titel in der ersten Deszendenz auf alle Kinder übergehe. Seine „VaterPflicht“ ließe es jedenfalls nicht zu, seine Güter, ausschließlich Lehen, nur einem Sohn zu übergeben. Und durch die Lehnsordnung sei er in der Disposition sowieso beschränkt. Den neuen Bestimmungen zu folgen würde aber bedeuten, dass der neue Titel mit ihm aussterben müsse. Entgegen seiner späteren kritisch-ablehnenden Haltung gegenüber den „neuen Bestimmungen“, die er in einem Votum vom 10. Dezember darlegte, plädierte v. Rochow in allen diesen praktischen Fällen, und zwar vor der Abfassung seines Votums wie auch später, für eine konsequente Durchsetzung der beschränkten Erblichkeit der neuen Adelstitel. Im Fall des Eickstaedt-Peterswald aus Pommern wies er in einem Schreiben an Wittgenstein vom 12. November darauf hin, dass Eickstaedts Interpretation der Allerhöchsten Ordre vom 15.Oktober 1840 weder der Fassung der Ordre, noch der ihm bekannten Willensmeinung des Königs entspräche.44 Noch am selben Tag wandte

42 Vgl. Schreiben von Rochow an Wittgenstein, 17. Oktober 1840, in: GSTAPK Rep. 77, Tit. 1108, Nr. 31 Bd. 1 (unpaginiert). 43 Dieses und die folgenden Beispiele alle Ebd. 44 Denn die fragliche Bestimmung „sub 2“ sei ganz unabhängig von der ersteren zu verstehen: die Vererbung der Grafenwürde sei klar von den generellen Bestimmungen zum Adel abgesetzt.



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sich Rochow in einem Schreiben an den Oberpräsidenten von Schlesien um genauere Informationen über die Besitzverhältnisse der Sauerma einzuholen.45 Ein weiterer Fall dieser Art betraf den Grafen Blumenthal auf Varzin, der in einer Immediateingabe den König ebenfalls darum gebeten hatte, die Grafenwürde auf seine beiden Söhne vererben zu dürfen. In einem diesbezüglichen Schreiben an Wittgenstein vom 16. Dezember drängte Rochow darauf, keine Ausnahmen zu genehmigen, schon gar nicht zu einem solchen frühen Zeitpunkt nach Erlass der neuen Vererbungsbestimmungen – „ähnliche Wünsche würden wohl bei der Mehrzahl der Begnadigten zu finden sein“. Der König dagegen offenbarte einen typischen Zug seiner Persönlichkeit, als er sich gegenüber diesen dringlichen Bitten wesentlich zugänglicher zeigte, und eine Prüfung der tatsächlichen Besitzverhältnisse der Einzelfälle anregte. So wollte er dem Grafen Skorzewski in Gnesen gestatten, die verliehene Grafenwürde auf seinen Sohn zu vererben, auch wenn dieser nicht den „väterlichen Anteil an Gut Komorze“ erbe – allerdings unter der Bedingung, dass diesem die „Herrschaft Czerniejewo“ und „Rittergut Golimowo“ zufalle. Diese Begünstigung solle aber in Zukunft nicht dem jedesmaligen Anwärter auf den Grafentitel eingeräumt werden!46 So drohte der König durch persönliche Zugeständnisse seine eigenen Grundabsichten sofort wieder zu konterkarieren. Auch bezüglich der bei Standeserhöhungen üblicherweise anfallenden Gebühren bewies Friedrich Wilhelm ein großzügiges Entgegenkommen: auf die verwirrte Anfrage der Minister, welches Verfahren denn nun bei Standeserhöhungen anzuwenden sei, wurde ihnen beschieden, es „bei Standeserhöhungen bei dem 1803 und 1806 eingetretenen Verfahren“ bewenden zu lassen; aber in einzelnen Fällen, wo die Zahlung der Gebühren „schwer fallen“ sollte, eine Stundung, eine Ermäßigung oder gar gänzliche Erlassung zu bewilligen.47 Dieselbe Kulanz signalisierte Friedrich Wilhelm für diejenigen, welche „die Standeserhöhungen in Königsberg nicht erbeten hatten“ – sie sollten nur den „unerlässlichen Teil“ der Gebühren zu zahlen haben.48 Rochow drängte demgegenüber wiederholt auf die formale Beachtung der gerade erst erlassenen Grundsätze: Es scheint mir in der Sache nicht darauf anzukommen ob der getheilte Grundbesitz für jeden der Söhne eine ausreichende Dotierung seyn würde, um die Vererbung der Grafenwürde auf beide zu rechtfertigen, sondern nur darauf, ob es als geeignet betrachtet werden könne, gegen die über die Vererbung der Grafenwürde allgemeine aufgestellten Bestimmungen schon gegenwär-

45 Schreiben Rochows vom 12. November 1840 an Friedrich Theodor (seit 1828 v.) Merckel (17751846), Oberpräsident und Zivilgouverneur von Schlesien (1816-1820 u. 1825-1845). 46 Vgl. das Schreiben von Friedrich Wilhelm IV. an Rochow, Charlottenburg 8. Dez. 1840, in: GSTAPK Rep. 77 Tit. 1108 Nr. 31 Bd. 1. 47 So die Antwort Friedrich Wilhelms an Rochow und Wittgenstein vom 9. November 1840 auf deren Bericht vom 27. des vorangegangenen Monats, in: Ebd. 48 Friedrich Wilhelm an Wittgenstein und Rochow am 31. Dezember 1840, in: Ebd.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

tig wenige Monate nach ihrem Erlaß eine Ausnahme zu bewilligen. Ich kann nur dem, Ew. K.M. bereits über einen ähnlichen Antrag des Grafen von Skorzewski vorgetragenen allerunterthänigsten Ansicht seyn, daß nach Bewilligung einer solchen Ausnahme das Prinzip kaum würde zu halten sein.49

Auch im Falle Sauerma riet Rochow im Februar 1841 aus diesen grundsätzlichen Erwägungen und aufgrund der von Oberpräsident v. Merckel eingeholten Gutachten über die Besitzverhältnisse von dem Ersuchen ab. Zugleich verwies Rochow allerdings auf einen möglichen Kompromisses: da der eine Sohn schon Besitzer eines Gutes sei, und also den gegenwärtigen Besitz des Vaters nicht erben würde, ginge auf ihn […] also die Grafenwürde grundsätzlich nicht über. Der Bittsteller beabsichtigt, nach dem Inhalt der Immediateingabe, das von ihm besessene zweite Fideicommiß auf seinen zweiten Sohn zu vererben und auf diesen würde deshalb auch, unter der Voraussetzung daß er den ganzen gegenwärtigen väterlichen Grundbesitz erhält, die Grafenwürde übergehen.50

Der ältere Sohn würde bei einem solchen Verfahren benachteiligt, so Rochow. Aus diesem Grund schlage er eine Standeserhöhung für diesen nicht erbenden älteren Sohn vor, während der jüngere nach dem Tod seines Vaters und mit dem Erbe dessen Gutes auch dessen Titel erben sollte!51 Diese Kompromisskonstruktion hatte Rochow schon in seinem ausführlichen Votum vom Dezember 1840 ausgeführt, und darauf soll gleich näher eingegangen werden. Rochows persönliche Haltung gegenüber den neuen adelspolitischen Bestimmungen erwies sich also als höchst ambivalent – die eigentliche standespolitische Zielsetzung lehnte er ab, verteidigte er sie doch selbst in solchen Fällen, in denen der Monarch seinen eigenen Prinzipien untreu werden wollte. Warum aber nutzte Rochow diese Gelegenheit nicht aus, die neuen Adelsgesetze schon bei erster Gelegenheit auszuhebeln? Warum unterbreitete er zugleich konstruktive Vorschläge, wie den seiner Meinung nach zu erwartenden Widerständen seitens der nach den neuen Vererbungsregeln begnadigten Personen durch Modifikationen zu begegnen sei? Die Antwort erschließt sich aus seinem Votum, aus welchem hervorgeht, dass ihm nichts ferner lag, als jeglicher Adelsformierung und Strukturierung grundsätzlich entgegenzustehen.

49 So argumentierte Rochow am 15. Jan. 1841 in der Sache des Grafen Blumenthal gegenüber dem König. Am 4. Febr. 1841 wurde die Bitte Blumenthals unter Bezug auf Rochows Empfehlung abschlägig beschieden, in: Ebd. 50 Vgl. den Bericht Rochows an den König Berlin vom 17. Februar 1841, in: Ebd. 51 In seiner Antwort an Rochow vom 4. April 1841 bemerkte der König, dass er sich außerstande sehe, schon jetzt auf Rochows Modifikationsvorschlag oder überhaupt einzugehen, bliebe aber dem Wunsche des Bittstellers eingedenk, und ermächtige Rochow entsprechend zu antworten. Die Antwort Rochows an Sauerma erfolgte endlich am 9. Mai 1841, in: Ebd.



3.1.2.

3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Widerstand und Alternative: Rochows Gegenvorschläge zu einer Neuformierung des preußischen Adels

Während Rochow gegenüber dem König die möglichst kompromisslose Durchsetzung der neuen Adelspolitik anmahnte, nutzte er doch die verwaltungsinternen Auseinandersetzungen bezüglich der auszustellenden Adelsdiplome, um deren Umsetzung zu verzögern: er sei ursprünglich der Ansicht gewesen war, dass die vom König mit Allerhöchster Ordre vom 13. Oktober 1840 geforderte Stellungnahme des Staatsministeriums keine Auswirkungen auf die zwischenzeitlich vorgeschlagenen und auch teilweise bewilligten Modifikationen haben würden. Jetzt aber, bei Ausarbeitung seines Votums, seien ihm Zweifel gekommen und er glaube, dass bestimmte klärende Zusätze in die Bestimmungen vom 15. Oktober aufgenommen werden müssten.52 Und am 10. Dezember begründete Rochow die vorzeitige Übersendung seines Votums an Wittgenstein damit, „daß es die Bestimmungen über die Vererbung des untitulierten Adels schon gegenwärtig einiger näherer Festsetzungen unumgänglich bedürfen werden“.53 Tatsächlich setzte daraufhin Wittgenstein die Ausfertigung der Adelsdiplome aus, um die Ergebnisse der Beratungen des Staatministeriums abzuwarten.54

52 Vgl. sein Schreiben vom 9. Dezember 1840 an Direktor Gustav Adolf v. Tzschoppe (1794-1842), in: GSTAPK Rep. 77 Tit. 1108 Nr. 31 Bd. 1 (unpaginiert). In diesem bezog er sich auf sein Schreiben an Wittgenstein vom 17. November. Er, Rochow, werde eine Abschrift seines Votums an Wittgenstein senden, um diesen entscheiden zu lassen, ob er die Ausfertigung der Diplome noch einmal aussetzen wolle. Weiter machte Rochow Vorschläge wie die Diplome formuliert werden könnten, um Missverständnisse auszuschließen falls die Voti des Staatsministeriums nicht berücksichtigt werden sollten. Tzschoppe war bürgerlicher Herkunft (1836 geadelt), ab 1817 als subalterner Mitarbeiter des Staatskanzlers Hardenberg beschäftigt, ab 1822 aber einer der entschiedensten „Demagogenverfolger“ und als solcher in der Öffentlichkeit verhasst. Nach Hardenbergs Tod wurde er Wittgensteins „unübertreffliches Werkzeug“ und machte eine schnelle Karriere; so wurde er 1833 Direktor des Geheimen Staats- und Kabinettsarchivs und der gesamten Archivverwaltung. 1837 wurde er Wirkl. Geh. Oberregierungsrat und Direktor der 1. Abteilung des Ministeriums des königlichen Hauses: vgl. Allgemeine Deutsche Bibliothek (ADB), Bd. 39, S. 66-68. 53 „Ew. Durchlaucht beehre ich mich eine Abschrift dieses meines Voti – welches in der Circulation erst später an Hochdieselben gelangen wird – schon gegenwärtig mit dem ganz ergebensten Anheimstellen zu übersenden, ob Hochdieselben in den von mir zur Sprache gebrachten Umständen eine Veranlassung finden, die Ausfertigung der Adelsbriefe vorläufig noch auszusetzen“, vgl. Anschreiben Rochows an Wittgenstein, 10. Dezember 1840, in: GSTAPK Rep. 77 Tit. 1108 Nr. 31 Bd. 1. 54 Schreiben von Wittgenstein an Rochow, Berlin 21. Dezember 1840, in welchem er auf Rochows Schreiben vom 10. Dezember 1840 darin übereinstimmt, dass die Adelsdiplome bis zu den Ergebnissen der Beratungen ausgesetzt werden sollen, Ebd. Er bat weiter um Rochows Meinung über ein von ihm, Wittgenstein, verfasstes Adelsdiplom (dem Schreiben beiliegend). Rochow antwortet darauf erst am 31. März 1841 mit dem Hinweis, dass er selbst erst das Ergebnis der Beratungen des Staatsministeriums abwarten wolle. Dagegen drängte der König das Staatsministerium in einem weiteren Schreiben vom 3. Dezember 1840 zu einer schnelleren Erledigung des am 13. Oktober erbetenen Berichtes „über die Grundsätze bei Adelsverleihungen“.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Für Rochows Anregung, die Ausstellung der Diplome zu verzögern dürfte weniger die Ausarbeitung seines Votums ausschlaggebend gewesen sein, als seine Erfahrung mit den Reaktionen Friedrich Wilhelms auf die Bittgesuche der Begnadigten – der König hatte sich ja darin sehr offen für eine sehr flexible und an Einzelfälle angepasste Auslegung der neuen Bestimmungen gezeigt. Also bestanden offenbar noch starke Einflussmöglichkeiten auf deren fernere Ausarbeitung und Handhabung. Auch die vom König am 13. Oktober 1840 geforderte detaillierte Stellungnahme des Staatsministeriums könnte die Hoffnung genährt haben, über weitere „Modifikationen“ einen grundsätzlichen Einfluss auf die neuen adelspolitischen Leitlinien nehmen zu können.55 In diesem Zusammenhang ist es schwer abzuschätzen, welche Rolle bei Rochows Gesinnungswandel die außerministerielle Intervention durch Leopold v. Gerlach und Karl v. Voß-Buch auf die Adelsangelegenheit zwischen Jahreswende und Frühjahr 1841 spielten mochte. Um diese Zeit trug nämlich Karl v. Voß-Buch (1786-1864), Sohn des alten Reformgegners Otto v. Voß-Buch, dem König persönlich ein von Leopold v. Gerlach verfasstes Memorandum über wünschbare Leitlinien einer neuen Adelspolitik vor.56 In einem Brief vom 13. Februar 1841 berichtete Voß an Gerlach von dem relativen Erfolg seines Vortrags:57 Die Sache sprach ihn [den König, G.  H.] an, was mich um so mehr freut, weil ich daraus die Hoffnung schöpfe, daß er die Idee die Vererbung des Adels an Primogenitur oder Gutsbesitz knüpfen zu wollen, daran geben wird. Er trug mir auf mit Rochow darüber zu sprechen. Dies ist auch, wenn gleich nur vorläufig geschehen. Rochow ist mit etwas an diese Materie anschlagendes beschäftigt, und es schien ihm nicht unangenehm, dafür einige Ideen zu erhalten.58

55 Dies ließe sich eventuell aus der Behandlung der Adelsdiplome schließen, deren Ausstellung nach Rochows Aussage ursprünglich als unproblematisch betrachtet wurde, dann aber immer wieder verzögerte wurde. Schließlich erhielten die bei der Huldigung Begnadigten ihre Diplome erst in den achtzehnhundertfünfziger Jahren! Vgl. unten Kap. 4.3.3. 56 Karl v. Voß war seit 1828 Ziviladjutant beim Kronprinzen gewesen und zählte zum Kreis der Gerlach-Brüder und Mitbegründer des „Berliner Politischen Wochenblatts“. Er war in der Öffentlichkeit als „reaktionär“ verschrien. Seit Mitte der dreißiger Jahre zählte er zum Staatsrat und war Hauptritterschaftsdirektor der Kurmark. 1841 wurde er Mitglied der Immediatkommission für ständische Angelegenheiten. Der ältere Bruder von Karl v. Voß-Buch war bei der Huldigung 1840 nach den neuen Modalitäten für seine Person gegraft worden. Karl erbte erst nach dessen Tod 1847 die väterlichen Güter und den an Buch „hängenden“ neuen Grafentitel. Vgl. zu Voß Herbert Obenaus, Die Immediatkommission für die ständischen Angelegenheiten als Instrument der preußischen Reaktion im Vormärz, in: Festschrift für Hermann Heimpel, hrsg. von den Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Göttingen 1971, S. 411-446, bes. S. 424. 57 Diese Denkschrift Leopold v. Gerlachs „betr. Adelsverleihungen“ ist undatiert, doch dürfte sie um die Jahreswende 1840/41 entstanden sein. Sie befindet sich im GSTAPK I. HA Rep. 92, Nachlass VoßBuch, Karl Graf v., Nr. 27 (Denkschriften von Carl v. Voß, Leopold und Ludwig von Gerlach, 1826-45), Bl. 50-52. 58 Vgl. Brief v. Voß-Buch an Leopold v. Gerlach, Berlin 13. Februar 1841, in: GSTAPK I. HA Rep. 92, Nachlass Voß-Buch, Karl Graf v., Nr. 27, Nr. 16, Bl. 5.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Die Hoffnung von Voß-Buch, den König damit von seinem Kurs abgebracht zu haben sollte sich bekanntlich schnell als Illusion erweisen. Ebenso übrigens sein erhoffter Einfluss auf Rochow, mit dem er allerdings wahrscheinlich frühestens im Januar 1841 das erwähnte Gespräch geführt haben konnte. Insofern ist Rochows eigenes Votum vom vorangegangenen Dezember schwerlich unter dem Einfluss von Gerlachs Memorandum und von Voß’ mündlicher Instruktion entstanden. Allerdings sollten sich auch inhaltlich deutliche Abweichungen zwischen Rochows Positionen und Gerlachs Präferenzen in der Adelsfrage zeigen. Gerlach befürwortete zwar eine gezielte Nobilitierung der bürgerlichen Rittergutsbesitzer. Zukünftig sollten überhaupt Standschaftsrechte nicht mehr automatisch (nach zehnjährigem Besitz oder Erbe) eines Rittergutes auf den Besitzer übergehen, sondern dieser müsse zuerst von der Kreisritterschaft „rezipiert“ und vom König „bestätigt“ werden, analog der „Offiziersaufnahme und der Ehrengerichte in der Armee“. Die Kreisritterschaft könne auch zur Nobilitierung vorschlagen.59 Doch der zu Adelnde müsse dann erst eine „Familienverfassung“ über ein erbliches „Familienhaus“ mit festem Grundbesitz stiften. „Ausgezeichnete Diener und Notabilitäten“ sollten allerdings auch in Zukunft ohne beschränkende Bedingungen nobilitiert werden, da „Adelstitel bis auf den heutigen Tag auch Amtstitel“ gewesen seien, „Ämter“ ebenso wie Güter ursprünglich „Lehen“ gewesen seien. Der zahlreiche kleine Adel, wenn er nur „purifiziert“ würde, ist für Dienst und Armee nur von Vorteil, da er diesen Institutionen „Standesehre“ zuführe. Der titulierte Adel könne dagegen sehr wohl nach einer „Majoratssukkzession“ vererbt werden, doch sollten die Ausgezeichneten dann nicht nur „Nutznießer“ sondern auch als „Hauptund Obrigkeit“ für ihr Geschlecht verpflichtet, andererseits auf den Landtagen mit Viril- und Kollektivstimmen ausgezeichnet werden. Im Gegensatz zu Gerlach unterstützte Gustav v. Rochow jedoch im Folgenden die Idee einer erneuerten und engeren Verbindung von Adel und Grundbesitz wie auch die Ausbildung einer klareren Adelsordnung nachhaltig. Im letzten Punkt, der grundsätzlichen Wünschbarkeit einer Reorganisation des Adels, stand er wie schon um 1820 den Positionen seines Vettern und alten Kampfgenossen Adolf v. Rochow nahe, der immer noch Hofmarschall beim Prinzen Wilhelm, Onkel des neuen Königs, war. Auch Letzterer hatte um die Jahreswende von 1840/41 eine so bemerkenswert ausführliche wie detailreiche Denkschrift zur Adelsfrage verfasst. Darin mahnte Adolf v. Rochow dringend eine konsistentere Adelspolitik Preußens an, die durch neue Institutionen und klare Kriterien der staatlichen wie standesinternen Adelsprüfung und -kontrolle abgerundet werden sollte. Seine darin abschließende Empfehlung, zur Klärung der in Preußen so vielschichtigen und widersprüchlichen Adelsproblematik

59 „Auf diese Weise würde die Adelung Unwürdiger vermieden, was bei den Vorschlägen der Behörden, welche wohl ihre Untergebenen, aber nicht die Kreisstände kennen, leicht geschehe, und im Königsberger Kreis leider vorgekommen ist.“

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

eine Kommission zur gründlichen Erarbeitung dauernder Richtlinien einzusetzen, dürfte wohl der letzte Anstoß zur später tatsächlich erfolgten Einrichtung einer solchen gewesen sein.60 Gustav v. Rochows eigene, gemäßigt-kritische Position gegenüber der neuen Adelspolitik ließ einen solchen ordnenden adelspolitischen Ansatz grundsätzlich zu, und war mit seinem konservativen Weltbild durchaus vereinbar. Dieses suchte ja an die ständischen Verhältnisse vor 1806 legitimistisch anzuknüpfen, wenngleich monarchisch-etatistisch orientiert. Im Grunde handelte es sich bei dieser späteren monarchisch-bürokratischen Einstellung Rochows nur um die konsequente Fortentwicklung einer Haltung, die er schon gegen Ende der Reformjahre gezeigt hatte – die Perspektive eines „geläuterten Absolutismus“, dem keinesfalls ständische Elemente als konkurrierende, oder gar ersetzende Kräfte entgegengestellt werden, sondern nur assistierend-ergänzend beigefügt werden sollten.61

Das Votum von Gustav v. Rochow Nach einer Rekapitulation der bisherigen Vorgänge, der Ablehnung der königlichen Bestimmungen in der ersten Besprechung des Staatsministeriums und dem erzielten Kompromiss bezüglich der neuen Nobilitierungsrichtlinien, hielt Rochow in seinem Votum fest:62 Dies ist der geschichtliche Hergang der Sache. Es ergiebt sich aus demselben, daß der Antrag, zu welchem ein Hohes Staatsministerium sich über dem 6. Oktober bestimmte, am 7. und in seiner Anordnung am 15. Oktober desselben Monats die Allerhöchste Genehmigung erhalten hat.

Damit, so Rochow, sei der königlichen Aufforderung an das Staatsministerium, die Motive seiner Änderungswünsche darzulegen eigentlich schon genüge getan, jedoch habe die „nähere Erwägung des Gegenstandes […] mich indes überzeugt, daß es nothwendig seyn wird, Seine Majestät gleichzeitig um den Erlaß einiger ergänzender

60 Vgl. dazu Genaueres unten Kap. 3.3. Adolf v. Rochow machte seine Denkschrift sogar der breiten Öffentlichkeit durch ihre anonyme Publikation in der „Adelszeitung“ zugänglich! Vgl. unten Teil III. Kap. 4.1.1. 61 Vgl. zu Rochows Positionen um 1820 oben Kap. 2.4.3. Siehe auch Frie, Marwitz, S. 301-304. Die ältere Forschungsliteratur dramatisierte Gustav v. Rochows ideologischen Werdegang, wenn sie ihn vom „oppositionellen Landjunker“ und Anhänger Hallers plötzlich zum schroffen Vertreter der königlichen wie polizeilichen Allgewalt gewandelt sah, vgl. Rothfels, Schön, S. 103. Rochow war nie an einer grundsätzlichen „anti-etatistischen“ Ständeopposition à la Marwitz interessiert gewesen, der Primat des Monarchen war ihm immer fraglos. Noch Siegfried Bahne überzeichnet insofern die Entwicklung Gustav v. Rochows, wenn er ihn „vom Anwalt der alten Stände zum prominenten Vertreter der neuen Bürokratie“ mutieren lässt, vgl. Ders., Verfassungspläne, S. 27. 62 Vgl. den überarbeiteten Entwurf in: GSTAPK Rep. 77 Tit. 1108 Nr. 31 Bd. 1. Die Reinschrift von Rochows Votum befindet sich in: GSTAPK Rep. 100 Nr. 3783, Bl. 1-23. Die nachfolgenden Zitate ebenda.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Bestimmungen zu bitten“. Seine „Bedenken“ würden klarer hervortreten, wenn er vorausschicke, „von welchen Gesichtspunkten aus einen günstigen Erfolg der Maßregel erwartende Ansicht den zugrunde liegenden Gedanken auffassen kann“. Rochows Argumente für eine neue Nobilitierungspolitik Rochow führte zunächst systematisch die Argumente auf, die für die vom König beabsichtigte neue Nobilitierungspolitik sprechen könnten: erstens könnte es als wichtig angeführt werden, dass der Adel auf „seine mehr oder minder verwaiste historisch politische Bedeutung zurückzuführen“ sei. Denn dieses Verhältnis habe dem Adel eine reale Bedeutung gegeben, die auf alle Mitglieder seines Standes ausgestrahlt hätte, in höherem Maße natürlich auf diejenigen Familien, die sich einen „beträchtlichen Grundbesitz erhalten hätten“, aber selbst auf diejenigen, in welchen „er geringer geworden sey, und selbst auf diejenigen, in welchen er sich ganz verloren hatte, oder, beim Briefadel, niemals vorhanden gewesen sey“. Auch diese letzteren Familien hätten doch „dem Stande angehört“, welcher zum Erwerb und zur Vertretung des größeren und bevorrechteten Grundbesitzes „ausschließlich befugt“ gewesen sei – damit hätten auch nichtbegüterte Familien dieses Recht zum Erwerb „in ihrem Adel getragen“. Aber genau diese Ausschließlichkeit sei gesetzlich aufgehoben, und „es könne, da dies weder thunlich noch heilsam wäre, nicht davon die Rede seyn, sie wieder herbeiführen zu wollen“. Damit aber sei die Beziehung des Adels zum Grundbesitz verloren gegangen, und wo sie faktisch noch vorhanden sei, da hätte sie nur noch den Charakter des Zufälligen, nicht der Notwendigkeit angenommen. Mit dieser Argumentation datierte Rochow den Beginn der von vielen Zeitgenossen konstatierten „Adelskrise“ auf die Reformzeit und ihre gesetzlichen Neuerungen: nicht das Fehlen, bzw. der Verlust von Grundbesitz in vielen adligen Familien an sich (wie es auch schon im ancien régime aufgetreten war), sondern die gesetzliche Aufhebung eines rechtlich verbindlichen Nexus zwischen Adel und (bevorrechtetem) Grundbesitz bilde den Kern dieser Krise. Würde dieser Nexus noch bestehen, so würde auch das Ansehen der nichtgutsbesitzenden Adelsfamilien weiter davon profitieren können. So aber blieben dem Adel „nur die äußeren, in den geselligen Beziehungen hervortretenden Vorzüge. So reizten sie zur Frage, worin für diese der Grund liege und erweckten Neid und Missstimmung, während sie neidlose Anerkennung fänden, wenn sie als die Folge einer anderweit materiell gehobenen Stellung erschienen“. Die Art und Weise wie der Adel erzeugt wird, sei deshalb ein Mittel die Achtung des Adels in der Gesellschaft zu heben oder zu mindern: Seinen „wohltätigen Einfluß aber könne der Adel in der Monarchie, in der er ein wesentliches die Freiheit schützendes Element seyn solle, nur dann üben, wenn er mit den übrigen Ständen in Eintracht lebe, und bei ihnen in neidloser Ansehung und Geltung stehe.“ Der durch die neuen adelsgesetzgeberischen Bestimmungen neu hinzutretende Adel würde „die Beziehung zwischen dem Adel und dem Grundeigenthum“ wiederherstellen, auch wenn der Grundbesitz zwar nicht für die Verleihung des Adelsprädikats, aber für die Vererbung desselben zur Voraussetzung würde (Hervorhebung G. H.).

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Das ausschließliche Recht zum Erwerb des größeren und bevorrechteten Grundeigentums „könne und solle dem Adel nicht wiedergegeben werden“, aber der Adel solle „nicht ohne Verbindung mit dem größeren bevorrechteten Grundeigenthum gedacht werden“ können. Vom neuen Adel solle jeder wissen, dass er bevorrechtetes Grundeigentum besitze; was beim alten Adel und allen anderen Grundbesitzern nur zufällig sei, solle bei jenem notwendig werden (Hervorhebung G. H.). Ohne jemandes Rechte zu kränken, könne so dem neuen Adel eine „reale Basis“ geschaffen werden, die ihm Geltung einbrächte und zugleich vor Verarmung schütze. Die vom König erlassenen Modifikationen zugunsten höherer Beamter würden diese Grundgedanken nicht beeinträchtigen, da im Falle, die Nachkommen blieben „unangesessen“, sich der Adel über die Generation der Kinder hinaus nicht weiter vererbe, und bei dieser Deszendenz „ersten Grades“ das „frische Andenken eines verdienten Vaters die Grundlage [des Landbesitzes, G. H.] ersetzt“. Die Versöhnung von Adel und höherem Bürgertum Den zweiten Gesichtspunkt, den Rochow als Argument für die neue Nobilitierungspraxis anführte, betraf das Verhältnis des Adels zum höheren Bürgertum. Dieses Verhältnis sei belastet: „Eine Gesinnung, welche die Freiheit in der Gleichheit nicht aller Rechte sondern nur in der Gleichheit des Rechtsschutzes und der Rechtssicherheit, in der Ehre und in den gewohnten Rechten aller Stände sucht […]“, darüber dürfe man sich nicht täuschen, „sei noch nicht die herrschende“: Noch besteht in Deutschland, und, wie man sich nicht verhehlen dürfe, mindestens nicht geringer als in anderen Ländern, ein Missverhältnis oder mindestens ein Misston in dem Verhältnis des Adels zu dem höheren Bürgerstande, wie er in Frankreich zu den schlimmsten Folgen geführt habe, und wie er in England, wegen der gänzlich verschiedenen Stellung des Adels, nie hervorgetreten ist.

Die Gründe hierfür seien in den Umständen zu suchen, dass der Adel „an den Rechten, mit denen er dieses Jahrhundert angetreten und dadurch auch an seiner inneren Bedeutung wesentlich verloren [habe], seine äußeren Vorzüge und damit seine gesellige Stellung sey [dagegen] geblieben, der höhere Bürgerstand hat sich an Intelligenz, allgemeinem Wohlstand und an Gesittung und Gesinnung gehoben“. Die Ursachen für diese Entwicklung des Bürgertums sah Rochow in dessen „veränderter Stellung zum Kriegsdienste, und der moralischen Wirkung dieser veränderten Stellung“. Diese Veränderungen im Verhältnis des Adels- und des Bürgerstandes ließen nun jene (sozialen) „Vorzüge“ des Adels um so „greller hervortreten“, und „wo anscheinend nur eine Abstufung sey, werde eine Scheidewand erblickt und als willkürlich, unnatürlich und veraltet angefeindet“. Diese Verhältnisse ließen es als dringend notwendig erscheinen, dass „jede Maßregel, welche darauf berechnet sey, den Adel zu stützen, zugleich in Bezug auf jene Gegensätze eine vermittelndes und versöhnendes Prinzip in sich tragen müsse“.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Dies sollten die neuen Bestimmungen über die Vererbung des Adels leisten, so Rochow weiter, weil dadurch der Übergang aus dem höheren Bürgerstande in den des Adels „auf freiem Wege als aus den Umständen hervorgehend“ erschiene. Denn nach deren Maßgaben würde es „keiner Prüfung, keiner hinzutretenden Allerhöchsten Verleihung“ benötigen, vielmehr würde der bis dahin Bürgerliche, „so wie die Bedingung des vererbten Grundbesitzes bei ihm eintrete, von selbst adlich“. Außerdem verbänden sich in diesem neuen Adel, ähnlich wie bei den englischen Adelsverhältnissen, bürgerliche und adlige Zweige derselben Familie, „der engsten Verbindung die gedacht werden könne“. Die bürgerlichen Mitglieder einer Familie, in welcher der Adel erblich sei, würden dadurch ebenfalls dem Adel überhaupt näher gerückt, wie sie andererseits zwischen dem „neuen Adel“ und anderen rein bürgerlichen Familien stünden – aus ständischen „Scheidewänden“ würden so lediglich „Abstufungen“. Dieser Weg einer Vermittlung sei nicht „der des flachen modernen Liberalismus, der sich nur auf das Einreißen und Nivellieren verstehe“, vielmehr stütze er den Adel indem er versöhnt und zugleich dem Adel die Beziehung zum Grundbesitz in veränderter und die Rechte Aller achtenden Weise wiedergeben. Rochows Argumente gegen die neue Adelspolitik Nach dieser ausführlichen Darstellung der Hauptgesichtspunkte für die neue königliche Adelspolitik setzte Rochow mit seiner grundlegenden Kritik an dieser Argumentation ein. Erstens teile er die Auffassung der vorgedachten Ansichten nicht, dass diese Maßregeln tatsächlich die erwünschten Folgen nach sich zögen. Er gründe seine Erwartung, dass dies nicht eintreten werde darauf, dass der beabsichtigte „Neue Adel“ weder den „herrschenden Zeitansichten“ („worauf weniger ankäme“), noch den „althistorischen, germanischen Ansichten, Sitten und Gewohnheiten“ entspräche. Vielmehr sei der Adel in Deutschland seit jeher ein „Geschlechts-Adel“ gewesen, und deshalb sei zu besorgen, dass „der dem neuen Adel zugrunde liegende Gedanke […] für seine Wurzel keinen Boden finde“: er würde so „dem Volk fremd bleiben“ und seine ihm zugedachte Aufgabe der „Vermittelung der Gegensätze“ nicht gerecht werden können. Der alte Adel hingegen werde „dem neuen seine Geltung nicht gönn(en)“, und sich selbst dann, wenn dessen „junges Alter vergessen ist“, scharf von ihm absondern – desgleichen werde der „höhere Bürgerstand“ diesen neuen Adel nicht „für voll“ ansehen. So müsse der neue Adel in einer Zwitterstellung verbleiben, die ihm jede „Kraft und Bedeutung“ verwehre. Selbst der Liberalismus, diese „herrschende Ansicht“ der Zeit, stünde dieser neuen Adelspolitik entgegen, weil er „grundsätzlich jede Bevorzugung ablehne“: auch eine „allgemeine, dem Parteiwesen fremde Richtung, scheue sich vor der Bevorzugung in einer und derselben Familie, vor der Bevorzugung des einen Sohnes vor dem anderen“; umso mehr, als dem eine materielle Ungleichbehandlung entsprechen müsse, sonst würde der Adel in einer Familie ja bald enden. Eine solche Ungleichbehandlung läge aber nicht nur außerhalb der „Begriffe der Zeit“: die Väter würden „sich schwerer dazu entschließen, und die Kinder sie tiefer empfinden“. Die „Unbe-

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

fangenheit“ innerhalb der Familien würde so zerstört, Zwietracht und das Erschleichen der väterlichen Gunst unter den Kindern würde drohen – die frühere Scheidewand zwischen den Ständen würde einfach in die Familien hinein gesetzt werden. An dieser Stelle seines ablehnendem Votums verschärfte Rochow seine Argumentation gegenüber einem ersten Entwurf auf bemerkenswerte Weise: konzedierte Rochow in der ursprünglichen Fassung seines Votums, dass die von ihm befürchteten Folgen nicht notwendig eintreten müssen, „wie mit seinen ähnlichen Verhältnissen das Beispiel von England zeigt“, und es daher möglich scheine, dass „sich dies wesentlichste Element für diese Angelegenheit, die Meinung des Volkes, wenigstens nach und nach damit befreundet, und die Besorgnis sich als unbegründet erweist“, so behauptete Rochow in der Endfassung die völlige Unvergleichbarkeit der preußisch-deutschen mit den englischen Adelsverhältnissen:63 Das Beispiel von England kann diese Besorgnisse nicht entgegengesetzt werden, weil dort ein ähnliches Verhältnis nur bei dem hohen Adel, der nobility, stattfindet, nicht aber bei der gentry, und die nachgeborenen Söhne einer zur nobility gehörenden Familie, wenn auch nicht Erben der Pairie und der Titel, doch alle zum Adel gehören.

England könne darüber hinaus nicht als Beispiel dienen, weil nach der dortigen Anschauungsweise zwischen dem Adel und dem höheren Bürgertum keine Unterschiede in den „geselligen Beziehungen“ stattfänden, sondern nach „Sitte, Bildung und Betragen ohne Unterschied des Standes“ nur die „scharf hervortretende Grenzlinie zwischen dem Gentleman und dem der es nicht ist“ zur Anwendung käme. Damit führte Rochow als sozialkulturelles Hindernis einer neuen Adelspolitik an, was dem König doch als ersehntes Ziel seiner Pläne vorschweben mochte: die Schaffung eines dem „Gentleman“ ähnlichen Sozialtypus in Preußen, der gleichermaßen auf adligen wie bürgerlichen Elementen beruhte: aber, so Rochow, die dortigen „Verhältnisse, deren Hauptgrundlage Sitte und Meinung“ seien, und zu „einer gesunden Aristokratie fördernden Umstände geworden sind“ seien eben „nicht gemacht“ – dies ließe sich nicht künstlich übertragen.

Rochows Alternativvorschlag einer neuen Adelspolitik Doch erschöpfte sich Rochows Votum nicht in der strikten Ablehnung der königlichen Pläne. Vielmehr legte er einen ausführlichen Gegenentwurf zu einer Adelstützungspolitik vor, eben weil er sich überzeugt gab, dass „Seine Majestät eine Behandlung der Sache, für welche Allerhöchstdieselben sich wiederholt und so bestimmt erklärt haben, wesentlich nicht ändern werde“. Mit der Äußerung seiner

63 Vgl. den Entwurf des Votums in: GSTAPK Rep. 77 Tit.1108 Nr. 31 Bd. 1 mit der Endfassung der Reinschrift in Rep. 100 Nr. 3783, Bl. 1-23; vgl. dazu auch Reif, Adelspolitik in Preußen, S. 218f.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Bedenken verfolge er keinesfalls die Absicht, den Monarchen von seinem Vorhaben abzubringen. Entscheidend sei letztendlich „die Ansicht des Volkes in seinen verschiedenen Gliederungen“ und, das musste Rochow einräumen, „so viel ist richtig, dass dieselbe [Institution des neuen Adels, G. H.] in den Blättern bisher eine eigentliche Anfeindung nicht erfahren hat, und daß im Gegenteil Stimmen für dieselbe laut geworden sind.“ Vielmehr beabsichtige er, „die Nothwendigkeit darzutun, in der Sache mit der äußersten Vorsicht zu Werke und Schritt vor Schritt mit der Erfahrung zu gehen“. Deshalb sollten vorerst legislative Maßnahmen, „welche einmal getroffen, schwer zu modifizieren und schwer wieder auszusetzen“ sind, besser unterbleiben. Genauere Bestimmungen zu den bisher getroffenen „Allerhöchsten Entschließungen“ seien allerdings vonnöten, schloss Rochow. Diese würden aber für den Anfang keiner gesetzlichen Form bedürfen. Vielmehr sei es ausreichend, sie in den einzelnen „Adelsbriefen“, d.h. den schriftlichen Bestätigungen der Nobilitierungen, aufzunehmen und, mit weiteren Direktiven, dem für Standessachen zuständigen Hausministerium zur Richtschnur zu geben. Offensichtlich wollte Rochow eine frühzeitige „Kodifizierung“ der neuen Richtlinien in Patenten oder gar Gesetzen vermeiden – um sie womöglich eines Tages ohne großes Aufsehen und stärkere Reibungsverluste durch die Öffentlichkeit im legislativen Geschäftsgang stillschweigend wieder rückgängig machen zu können. Grundsätzlich befürwortete Rochow eine Neu-Formierung des Adels, woraus seine widersprüchliche Behandlung der neuen Standeserhöhungen erklärlich wird. Mit dem König teilte er die Überzeugung, „dass die Art wie der Adel erzeugt wird“, zu einer Stärkung oder einer Schwächung des Standes beitragen kann: Stärkung aber kann ihm durch Creirung neuen Adels nur werden, wenn dabei festgehalten wird, was für den älteren Adel geschichtlich die wesentliche Grundlage bildet – diese erkenne ich einmal allerdings in einem näheren Verhältnis des Adels zum Grundeigenthum, so wie dies eben, auch nach meiner Überzeugung, richtig hervorgehoben worden ist.

Dazu war seiner Ansicht eine Schärfung des Adelsprofils vonnöten, sowie wirksame Vorkehrungen gegen die weitere „Entsubstanzialisierung“ des Adels, indem die besondere Aufmerksamkeit auf Fragen des Grundbesitzes und der materiellen Ausstattung zu richten seien. Neben einer solchen Stärkung des Verhältnisses zwischen Adel und Grundbesitz unterstrich er die seiner Ansicht nach zweite „wesentliche Grundlage namentlich des preußischen Adels“: nämlich den Kriegsdienst, der den Adel trotz einer tendenziellen Verringerung des Wohlstandes vor „seinem Verfall geschützt“ hätte. Als eine weitere Garantie gegen den Verlust seiner „Standesgesinnung“ habe sich außerdem bewährt, dass der Adel nicht in den „eigentlichen Gewerben“ sein Auskommen gesucht habe – und auch darauf ließe sich Einfluss gewinnen. Die Aufnahme von nicht standesgemäßen „Lebensbeschäftigungen“, wie dem der Handwerke des „niederen Bürgerstandes“, oder gar die Existenz in einer „in keinem Stande geachteten Lebensweise“ müsse sogar den sofortigen Verlust des Adels nach

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

sich ziehen. Diese letzteren Kriterien sollten nicht nur auf die zukünftig Nobilitierten, sondern ausdrücklich auch auf den alten Adel angewandt werden. Unabdingbar für die Entwicklung einer Standesgesinnung, ohne die „der Stand nur äußere Existenz, aber kein Leben hat“, sei auch ein geschlossenes Konnubium – der Adel dürfe seine Ehen allein in „seinem Stande“ schließen, denn „er müsse sich in den engsten Familienbeziehungen als Stand erkennen“. Ein Abschließen des Adels gegenüber dem höheren Bürgertum sei keine zwingende Folge einer solchen Orientierung. Hierbei berief er sich gerade auf das englische Beispiel, denn dieses Verhalten könne auch bei den alten Familien der dortigen Gentry beobachtet werden und sei sowieso kaum von außen zu steuern. Auf diesen Prämissen aufbauend schlug der Minister nun vor, die Vererbung des Adels in einer Familie vom Vorhandensein oder dem Erwerb von Grundbesitz abhängig zu machen. Dieses Grundeigentum müsse allerdings „Stammgutsqualität“ haben. Solange sich dieses Stammgut in Familienbesitz befände, sollten alle Familienmitglieder dem Adel angehören: dies entspräche der in Deutschland nicht zu verdrängenden Idee eines Geschlechtsadels, und ließe außerdem jedem Mitglied der Familie die Möglichkeit zufallen, eines Tages den Besitz zu erben. Allerdings solle mit dem Verlust des Gutes auch die weitere Vererbung des Adels aufhören, oder sogar der sofortige Verlust des Adels für die Familie eintreten. Damit hatte Innenminister Rochow einen radikalen Entwurf eines Adelskonzepts geliefert, welcher das Besitzkriterium, wenn auch nicht auf die Individuen, so doch auf Familien konsequent anwandte. Den Entwurf einer ersten „Instruktion“ für das Hausministerium lieferte der Innenminister in seinem Votum gleich mit. Diese enthielt im Kern die Grundsätze, welche in den vergangenen Monaten in den Auseinandersetzungen zwischen Staatsministerium und Monarchen herausgebildet, und in den Kabinettsordern vom 10. September und 15. Oktober 1840 formuliert worden waren.64 Bemerkenswert an diesem Instruktionsentwurf sind die Versuche des Ministers, durch Zusätze und sogenannte „Alternativbestimmungen“ die Konsequenz der königlichen Zielvorgaben aufzuweichen, bzw. in eine eigene Richtung zu steuern. Unter Punkt 4 des Instruk-

64 Dabei wurden in den ersten drei Punkten der Instruktion lediglich genauer bestimmende Zusätze aufgenommen, wann z.B. der Adel vererblich werden sollte, wenn erst die Enkelgeneration eines Nobilitierten einen qualifizierenden Grundbesitz erwerbe. Dabei sollte nach Rochows Vorschlag ausschlaggebend sein, dass entweder der Erwerb eines solchen Grundbesitzes noch bei Lebzeiten des Sohnes des ursprünglich Nobilitierten (also durch den Großvater) erfolgen müsse, oder zumindest aus dessen Nachlass: damit sollte ausgeschlossen werden, dass noch der Enkelgeneration ein auf Lebzeit bestehendes Recht „nachträglicher“ Nobilitierung eingeräumt würde. In seiner „Motivation“ dieses Punktes begründete dies Rochow damit, dass es „nicht in der Absicht liegen (kann), daß der später, vielleicht erst nach vielen Jahren, etwa erfolgende Erwerb eines Rittergutes den Adel wieder solle aufleben lassen. Dadurch würde eine Ungewißheit und ein Wechsel in den Standesrechten einer Person herbeigeführt, wie er für diese selbst unerwünscht und für den Adel überhaupt von den nachtheiligsten Wirkungen seyn müßte“.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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tionsentwurfs schlug er anstelle der geforderten Mindestgröße eines zur politischen „Standschaft“ und Adelsvererbung berechtigenden Rittergutes vor, dass eine Mindesthöhe von Gutseinnahmen gefordert werden solle, ausreichend „einen standesgemäßen Lebensunterhalt“ zu garantieren.65 Die eigentliche Pointe dieses Vorschlags lag darin, dass zur Festlegung dieser erforderlichen Einkommenshöhe die Begutachtung und Entscheidung durch die Mehrheit der (adligen) Standesgenossen auf dem Kreistag erfolgen sollte. Damit wurde entgegen der königlichen Absichten, möglichst objektive, allein aus dem Substrat des Grundbesitzes hervorgehende Nobilitierungswie Vererbungskriterien abzuleiten, dem bestehenden Adel auf indirektem Wege ein (begrenztes) Mitspracherecht bei zukünftigen Nobilitierungen eingeräumt; außerdem wurde das ausschlaggebende Grundbesitzkriterium selbst relativiert – je nach der Interessenlage, bestimmte Personen in den Kreis der Standesgenossen aufzunehmen, hätte der Adel der Kreistage die Möglichkeit erhalten, die Definition eines „standesgemäßen Lebensunterhalts“ von Fall zu Fall härter oder nachlässiger auszulegen. In seinen beigefügten „Motivationen“ suchte Rochow diese „flexiblere“ Handhabung des Grundbesitzkriteriums mit dem Argument zu unterfüttern, zu starre Vorgaben für die Besitzgröße mit der damit verbundenen erbrechtlichen Bevorzugung eines Sohnes würden der Akzeptanz des neuen Adelsinstituts am stärksten entgegenstehen. Die Erblasser würden alles versuchen, um diese Bestimmungen durch die Überlassung möglichst gleichwertiger Güter an mehrere Söhne, oder der großzügigen Auszahlung der übrigen Kinder, so weit als möglich zu umgehen: „Diesem Bestreben wird, wenn der Sache Freunde erworben werden sollen, wenigstens in der ersten Zeit kein zu großes Hinderniß entgegengesetzt werden dürfen“. Auch und gerade wenn „in solchem Falle der Erbtheil der anderen Geschwister mehrentheils nur durch Eintragung auf das Gut wird gewährt werden können“.66 Erst wenn die „ganze Sache lebendige Wurzel [schlage] und […] sie Geltung in der Meinung [gewinnt], dann wird, wenn das Bedürfniß sich zeigt, ein größerer Grundbesitz verlangt werden können“. Zu dieser relativierenden Zielrichtung passte auch die unter Punkt 5 vorgesehene Erfordernis einer primogenitalen Vererbung innerhalb des „neuen Adels“: so sollte der den Adel bedingende Grundbesitz zwar grundsätzlich auf den ältesten Sohn übergehen; allein, wenn der oder die älteren Brüder schon, entweder durch ausreichend großen Grundbesitz oder persönliche Verleihung, selbst schon dem Adel angehör-

65 In seiner der „Instruktion“ folgenden „Motivation“ der einzelnen Punkte bemerkte der Minister zu diesem Passus, dass er über die Bestimmungen der Kabinettsordren hinausgehend die Vererbung des ungeteilten Besitzes vorschreibt, da sonst die Vorschrift einer Mindestgröße des Besitzes durch die Einrichtung von „Ganerbenschaften“, d.h. einer Vererbung des Besitzes auf mehrere Personen, umgangen werden könnte. Außerdem dürften nicht Rittergüter zu geringen Umfanges zu „Trägern des Adels in den Familien“ werden, wie es beispielsweise in Sachsen zu beobachten sei. Eine solche Entwicklung würde die Bestimmungen des „neuen Adels“ schließlich in Misskredit bringen. 66 „Eintragung auf das Gut“ bedeutete eine hypothekarische Belastung zur Auszahlung der Erbteile an die nicht gutserbenden Kinder.

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ten, könne auch der nachgeborene Sohn den adelnden Grundbesitz übernehmen. Als „in Vorschlag gebrachter Zusatz“ wollte Rochow nicht einfach die Primogenitur für die Vererbung von Gutsbesitz und Adel vorgeschrieben sehen: Eine solch gesetzlich bestimmte Erbfolge von Gutsbesitz und Adelstitel könne zwar „Mißhelligkeiten in den Familien“ vorbeugen, indem der „Mißmuth Unbegünstigter […] sich dann gegen das Gesetz [richtete], nicht aber gegen Familienglieder“. So „riet“ Rochow von starren primogenitalen Vorgaben nach englischen Vorbild ab, um in „gleicher oder ähnlicher Weise auch bei uns dem Vater die Disposition [der Erbverteilung, G. H.] gänzlich zu entziehen“. Dies sei wieder ein zu starker Eingriff in die Familien- und Standesrechte. Außerdem seien in „England […] von Alters her die besonderen Standesvorzüge der Erstgeburt gefolgt, und es mag auch hierin ein Grund liegen um welches willen die Sache sich unangefeindet erhalten hat“. Der gleiche Zweck könne erreicht werden, wenn für den „neuen Adel“ die freie Entscheidung über die Verteilung des Erbes zwar erhalten bliebe, jedoch die Vererbung des Adels an den Besitz des Gutes gebunden würde. Die nachgeborene Söhnen würden dann die primogenitale Bevorzugung des Ältesten als Voraussetzung zur Erhaltung des Adels in der Familie „ganz motiviert finden“, andererseits wäre den Vätern die Möglichkeit eingeräumt, den Ältesten vom Erbe auszuschließen oder, wenn dieser durch eigenes Verdienst „aus königlicher Gnade“ der Adel verliehen werden könne, den jüngeren Söhnen das „adelnde Gut“ zu überlassen. Damit hatte Rochow in seinem Votum schon den Kompromissvorschlag ausformuliert, den er zwei Monate später dem König in der Angelegenheit des Grafen Sauerma auf Zülzendorf vorlegen sollte.67 Insgesamt zeigte also das Votum das Bestreben, die strikteren Vorgaben der königlichen Direktiven „aufzuweichen“, und durch flexiblere Vorgaben zu ersetzen, bzw. zu ergänzen, um unter günstigen Umständen auch dem „neuen Adel“ eine dem bestehenden Adel analoge Standespraxis einzuräumen. Ausdrücklich hielt Rochow aber unter Punkt 7 fest, dass der Adel, wenn er in der Nachkommenschaft eines neu Geadelten wieder erloschen sei, auch im Falle des Neuerwerbs eines Gutes nicht mehr aufleben solle. Allein auf die Brüder eines Geadelten solle im Falle der Vererbung des Gutes auch der Titel übergehen dürfen.68 Einer unkontrollierbaren Ausweitung von „Adelsfähigen“, die noch nach Generationen auf „Anerkennung ihres Adels“ drängen könnten, sollte so wirksam vorgebaut werden. Rochow insistierte fürderhin auf einer Verschuldungsgrenze der „adelsvererbenden“

67 Vgl. oben. 68 In seiner „Motivation“ wollte Rochow für diese Vererbung „in der Seitenlinie“ (also von Bruder zu Bruder) keine primogenitalen Vorgaben machen, sondern dem Erblasser die freie Entscheidung überlassen, da „er nicht, wie der Vater, einen Einfluß auf die von ihnen [den Brüdern, G. H.] eingeschlagene Lebensrichtung gehabt hat“. In die weiteren verwandtschaftlichen Grade der Seitenlinie sollte sich der Adel zusammen mit dem Rittergut nicht vererben können, weil „es nur zufällig seyn würde, wenn Erziehung und Verhältnisse einen solchen Übergange angemessen wären“.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Güter.69 Bei Verletzung dieses Kriteriums sollte für die erbenden Nachkommen des zweiten und der folgenden Generationen der Adel verloren gehen, ganz analog zu einem Totalverlust des Gutes. Auch eine wirksame Adelskontrolle sah Rochow im „Instruktionsentwurf“ seines Votums vor. Da Preußen über kein Heroldsamt verfüge, sollte diese Aufgabe durch das Staatsministerium übernommen werden.70 Dieses solle zukünftig über alle Adelsverleihungen nach den neuen Grundsätzen informiert werden, sowie über die Nobilitierten, welche (wozu sie der König ja ausdrücklich aufforderte) den Namen ihres Gutes annehmen würden. Die Übertragung der Familiennamen auf die Güter behandelte der Instruktionsentwurf dagegen nur als zweitrangiges Problem: in solchen Fällen solle eine Anzeige beim Landrat des Kreises genügen. Die Motive für diese Differenzierung leuchten ein, da das Recht zur Übernahme eines Gutsnamens den neugeadelten Familien unter Umständen die Möglichkeit eröffnete, den Namen bestehender, oder ausgestorbener altadliger Familien zu „usurpieren“. Bei drohendem Adelsverlust sollte das Staatsministerium in seiner Eigenschaft als „Heroldsamt“ ebenfalls aktiviert werden. Dieses sollte die „Verhältnisse Seiner Majestät anzeigen“ und sich gutachtlich „zur Allerhöchsten Beschlussnahme“ äußern, ob die Erhaltung des Adels in einer betreffenden Familie „geeignet sey“. Auch in diesem Punkt intendierte der Minister also die strikte Linie der neuen Adelspolitik aufzuweichen, indem er Spielräume für Ausnahmegenehmigungen und gutachterliche Interpretationen in der „Instruktion“ einzufügen suchte: Adelsverlust sollte nicht „automatisch“ erfolgen, sondern dem Monarchenwillen nach wie vor zur freien Disposition stehen.71 Zusammenfassung Rochows Verhalten und seine Rolle in der Reaktion des Staatsministeriums kann nicht als völlig obstruktiv oder strikt ablehnend gegenüber der neuen Adelspolitik Friedrich Wilhelms bezeichnet werden. Grundsätzlich zeigte er sich an einer konsistenten Neuordnung der Adelsverhältnisse interessiert – und im Gegensatz zu Gerlach oder selbst seinem Vetter Adolf v. Rochow (von dem gleich noch zu sprechen sein

69 Punkt 8 des Votums sah vor, dass die Verschuldung des Gutes nicht über die Hälfte der ritterschaftlichen oder gerichtlichen Taxe überschreiten dürfe. In der „Motivation“ vermerkte Rochow, dass eine strengere Anforderung an die Schuldenfreiheit nicht ratsam sei, denn schon die Erbauseinandersetzungen mit den Geschwistern würden oft „Eintragungen“ (in das Hypothekenbuch) notwendig machen. 70 Vgl. zur Problematik einer Adelskontrolle durch eine Matrikel bzw. ein „Heroldsamt“ unten Teil III. Kap. 4.3.1. Tatsächlich verfolgte Friedrich Wilhelm IV. langfristig aus vergleichbaren Motiven auch die Idee der Einrichtung eines Heroldsamtes. Realisiert wurde es aber erst 1855, parallel zur Einrichtung des Herrenhauses. 71 Das Staatsministerium sollte deswegen laut der „Motivationen“ flexibel auch da entscheiden können, „wo in einzelnen Ausnahmefällen die Disposition sich in ihren Wirkungen als ungenügend oder hart zeigen möchte“.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

wird) zeigte Gustav v. Rochow auch ein originäres Interesse, den Adel wieder stärker an den Grundbesitz zu binden, bzw. verbindliche (und tendenziell) einschränkende Vererbungsrichtlinien einzuführen. Die Wertschätzung eines Leistungs- und Dienstadels – die bei seinem Vetter deutlich ausgeprägter war – stand dem nicht entgegen. Rochow wollte bei der Entwicklung neuer „Adligkeits“-Kriterien für Preußen offensichtlich keine „harte“ Entscheidung für ausschließliche „materielle“ oder „ideelle“ Gesichtspunkte: Dienst und Gut schienen ihm fast gleichbedeutend für eine überzeugende adlige Existenz (mit leichtem Übergewicht des Gutsbesitzes). Sein Vetter und alter ständischer Kampfgefährte aus Hardenbergs Zeiten, Adolf v. Rochow-Stülpe, hatte da schon andere Prioritäten entwickelt. Zugleich forderte der jedoch noch deutlicher eine konsequente und konsistente staatliche Adelspolitik – und regte an, eine solche durch eine hochkarätig besetzte Kommission weltanschaulich begründen und inhaltlich ausarbeiten zu lassen.

3.2.

Identifikation und Auswahl historischer Gehalte von „Adligkeit“: Das Staatsministerium

Nach Gustav v. Rochows grundlegender Stellungnahme ließ auch die Reaktion der übrigen Minister schnell deutlich werden, dass es in dem sich abzeichnenden Konflikt um die neuen Adelsbestimmungen nicht allein um das Problem enttäuschter Hoffnungen auf die generative Weitergabe sozialer Distinktionsgewinne von Seiten Nobilitierter ging, oder um die zukünftigen sozialen Aussichten des Beamtenadels. Die Voten erweiterten die Problematik zu einem Komplex von Erwartungen bezüglich des Zusammenwirkens von sozialen und staatlich-verfassungsmäßigen Entwicklungsverläufen und deren Implikationen für die gesamte gesellschaftliche und staatliche Verfassung Preußens.72 Zugleich offenbarten die Gegenvorstellungen des

72 Nach Rochows Votum gingen zwischen dem 29. Dezember 1840 und dem 15. Februar 1841 die Voten der anderen Minister ein. Das Votum des Justizministers Karl Christoph v. Kamptz befindet sich in GSTAPK I. HA Rep. 84 II 2 A Nr. 7 (Acta Generalia des Justizministeriums zur Revision der Gesetzgebung, betr. die Rechtsverhältnisse des Adels 1836-1848) Bl. 45-54 (Konzept) bzw. 55-83v (Reinschrift des Konzepts mit Verbesserungen durch Kamptz), und datiert vom 29. Dezember 1840; die Reinschrift des Votums des Justizministers Heinrich Gottlob Mühler vom 22. Januar 1841 befindet sich in: GSTAPK Rep. 100 Nr. 3783 (Ministerium des königlichen Hauses. Verhandlungen des Staatsministeriums über den Adel 1840-1846), Bl. 24-46; die Reinschrift des Votums des Ministers v. Wittgenstein vom 12. Februar in: Ebd., Bl. 47-49; die Reinschrift des Votums des Ministers v. Stolberg vom 15. Februar 1841 in: Ebd., Bl. 50-51. Das Votum des Finanzministers Graf Albrecht v. Alvensleben, datiert vom 4. Februar 1841, war nicht auffindbar. Dieses Votum lässt sich aber aufgrund einer „Zusammenstellung“ inhaltlich erschließen, die Rochow verfasst und thematisch gegliedert hatte: vgl. „Zusammenstellung (nach den schriftlichen Votis) für den Vortrag in der Adelsangelegenheit am 16. März“, in: GSTAPK Rep. 77 Tit. 1108, Nr. 31, Bd. 1 (Die staatsrechtlichen Verhältnisse des Adels 1809-1850), unpaginiert. Die



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Staatsministeriums die ganze Vielgestaltigkeit, ja Zerrissenheit der Ministerrunde in diesen Fragen. Deshalb wäre ein Resümee ungenügend, welches die adelspolitischen Vorhaben Friedrich Wilhelms IV. an einer geschlossenen Opposition des Staatsministeriums gescheitert sieht. Gerade die internen Konfliktlinien und die unternommenen Verständigungs- und Vermittlungsversuche innerhalb der Ministerrunde geben vielmehr Aufschluss über die einzelnen Abweichungen, aber auch Konsensmöglichkeiten bezüglich einer zeitgenössischen preußischen „Adligkeit“ innerhalb der Administration.73 Schon über die Frage, ob überhaupt eine Neu-Formierung des Adels notwendig sei, um die bis dahin eingetretene „Entsubstanzialisierung“ adliger Existenz in Preußen aufzufangen, bzw. rückgängig zu machen, gingen die Meinungen auseinander. Zwar hielt es Rochow für unnötig, zur Stärkung des bestehenden und zur Erteilung des neuen Adels „neue Prinzipien“ einzuführen – und dennoch hatte er eigene Vorschläge unterbreitet.74 Die übrigen Minister teilten mit ihm vordergründig die Ablehnung der neuen Adelsbestimmungen. Der Finanzminister Alvensleben begnügte sich in seinem Votum sogar damit, sich allgemein den Ausführungen der Justizminister anzuschließen, indem er es als „bedenklich“ bezeichnete, eine Abänderung der Vererbungsgrundsätze des Adels auch nur für den zukünftigen Adel vorzunehmen. Nähere Gründe dafür gab er aber nicht an.75 Ebenso drängte Stolberg „principaliter“ auf die Beibehaltung der bisherigen Regelungen bezüglich der Adelserblichkeit. Wittgenstein und Kamptz gingen zwar ebenfalls nicht näher auf die „Bedürfnisfrage“ ein, stellten aber „Modifikationen“ (Wittgenstein) bei der Vererbung des neuen Adels anheim, bzw. legten einen Alternativvorschlag vor (Kamptz). Und Mühler skizzierte in seinem Votum sogar ausführlich die Entwicklung des preußischen Adels der jünge-

Reinschrift des von Rochow erstellten Sitzungsprotokolls vom 16. März befindet sich: GSTAPK Rep. 100 Nr. 3783 (Ministerium des königlichen Hauses. Verhandlungen des Staatsministeriums über den Adel 1840-1846), Bl. 51-58. Die Ergebnisse der Beratung vom 16. März schlugen sich in einem vom 31.3.1841 datierten Bericht nieder, dessen Konzept Ebd., Bl. 59-86 vorliegt; die Reinschrift befindet sich in: GSTAPK Rep.100, Nr. 3786 (Kabinettsverhandlungen über den Adel 1841-1846), Bl. 1-15. Das Protokoll dieser Sitzung und der sich daran anschließende Bericht wurden von Heinz Reif aus den Beständen des Innenministeriums GSTAPK Rep. 77 Tit. 1108, Nr. 31, Bd. 1, (unpaginiert) editiert: Ders., Friedrich Wilhelm IV., S. 1099-1101. 73 Schon Heinz Reif stellte den rein additiven Charakter des Gutachtens des Staatsministeriums fest, d.h. eine Zusammenstellung der unterschiedlichen Meinungen nach kleinstem gemeinsamen Nenner, vgl. Ders., Adelspolitik in Preußen , S. 217. 74 Vgl. Rochows „Zusammenstellung (nach den schriftlichen Votis) für den Vortrag in der Adelsangelegenheit am 16. März“, in: GSTAPK Rep. 77 Tit. 1108, Nr. 31, Bd. 1 unpaginiert. Laut Rochows Aussage in dieser „Zusammenstellung“ waren die „Bedenken“ gegen die königlichen Pläne wesentlich durch sein eigenes Votum und die Stellungnahmen der Justizminister entwickelt worden, woran sich die anderen Vota dann anschlossen. 75 So die knappe Auskunft Rochows in einer (durchgestrichenen) Passage seiner „Zusammenstellung“.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

ren Geschichte und für die erwartete Zukunft als Teil einer neuen Elitenformation in der sich wandelnden Gesellschaft. Seine Vision einer sich abzeichnenden Symbiose zwischen Adel und Bürgertum in Preußen lehnte daher jede Berücksichtigung eines Grundbesitzkriteriums ab, da dies eine solche Symbiose behindern würde.

3.2.1. Die Einzelpositionen der Ministerrunde Es lässt sich allerdings feststellen, dass anders als in der Reformepoche sich die Auseinandersetzungen der Minister nun auf das Problem der Auswahl und der Hierarchisierung historischer Adelsmerkmale konzentrierten, die Rolle des Adels im Staat hingegen kaum thematisiert wurde. Drei Themenkomplexe lassen sich dabei näher identifizieren:76 I.) Die Frage nach den strukturellen Identitätsmerkmalen des ostelbisch-preußischen Adels Rochow hatte, auch wenn er seinen Argumentationsschwerpunkt auf den Grundbesitz legte, in seinem Votum eine Reihe weiterer Identitätsmerkmale aufgezählt, die er für den preußischen Adel konstitutiv hielt: die Adelsfamilie als „Geschlecht“, den „Stand“ (konstituiert durch vornehmlich inneradliges Konnubium), den „(Kriegs-) Dienst“ als eine „angemessene Lebensbeschäftigung“ und die Zurückweisung der Betätigung des Adels in „niederen Gewerben“. Die Voten der übrigen Minister griffen diese Merkmale auf, differenzierten diese aber in teils völlig abweichende Richtungen aus. Anders als in den Adelsreformdiskussionen der Reformzeit, als es vordringlich um die „Zweckmäßigkeit“ und „Nützlichkeit“ des „Adelsinstituts“ für den Staatszweck ging, wurde in der aktuellen Diskussion um das adlige Selbstverständnis gestritten, welche Merkmale als „Denkform wie Zuschreibung“ (Oexle) die Mentalität des europäischen Adels wie des preußischen Adels ausmachten.77 Denn jetzt stand das Verhältnis des Adels zur übrigen Gesellschaft im Zentrum der Auseinandersetzung: welche Bedeutung kam diesen Adelsmerkmalen für die weitere Gesellschaft zu, inwiefern waren diese sogar verallgemeinerbar?

76 Die ersten beiden Themenkomplexe orientieren sich an den grundlegenden Überlegungen von Otto Gerhard Oexle („Aspekte“) und Gerhard Dilcher („Der alteuropäische Adel“) über Wesen und Kern adliger Mentalität und des Adels als eines soziologischen Typus, wie sie oben Kap. 1.2. ausgeführt wurden. 77 Heinz Reif bezeichnet diese Identitätsmerkmale als „Kernelemente“, vgl. Reif, Adelspolitik in Preußen, S. 217



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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II.) Die Frage nach den historischen Grundlagen und der Legitimation der Adelsprivilegien Der zweite Problemkomplex handelte von den historischen Grundlagen der überkommenen Adelsprivilegien, und damit der Frage nach deren Legitimation: Waren sie dem Adel historisch als Stand autogen zu eigen, oder erst über Dienst und Grundbesitz übereignet worden?78 Denn die Teilhabe an der fürstlich-königlichen Macht und dem vormodernen Staatsausbau schlug sich für den Adel nicht nur in der Übernahme von Ämterdiensten nieder, sondern auch in der Zuerkenntnis von Rechts- und Verwaltungsaufgaben über das vom Adel besessene Land.79 Inwiefern bestanden also, in den Worten Rochows, „zufällige“ oder „notwendige“ Bindungen insbesondere zwischen bevorrechtetem Land und der sozialen Privilegierung des Adels? Waren diese Privilegien ursprünglich an den Boden, d.h. an den Besitz von bestimmten Gütern und Grundstücken gebunden, oder ließ der dauernde Besitz bestimmter Güter durch adlige Familien diesem Grundbesitz diese Eigenschaften zuwachsen? In seiner „Zusammenfassung“ der Ministervoten hatte Rochow ausdrücklich den Besitz bevorrechteten Landes in der Hand eines Teils des Adels als Voraussetzung dieser, den ganzen Stand umfassenden, politischen und sozialen Privilegierung bezeichnet. III.) Das Problem der Leitbilder gesellschaftlicher Entwicklung – gab es einen „preußischer Weg“? Zum Dritten kulminierten diese unterschiedlichen Auffassungen über die Herkunft der adligen Privilegien wie der historischen Mentalitätsmerkmale in unterschiedlichen Leitbildern bezüglich des Verhältnisses des Adels zur übrigen Gesellschaft, insbesondere zum Bürgertum. Ließen sich aus der zurückliegenden Entwicklung Schlüsse ziehen, welche Formen dieses Verhältnis in Zukunft annehmen könnte? Und welche Konsequenzen wären daraus als Maßstab für das staatliche Verwaltungshandeln zu ziehen? An welchen gesellschaftsformenden Aufgaben und Zielen sollten die konkreten adelspolitischen Entscheidungen des Monarchen und der staatlichen Verwaltung gegenüber den überkommenen (Standes-)Strukturen auszurichten sein?80 Diese Problemstellung verband sich wieder mit Motiven der älteren Adelslegitimation – sollte der Adel seine Zukunft über eine klarere ständische Abgrenzung vom Bürgertum gewinnen, oder eine Annäherung auf neu zu bestimmenden Leistungsgrundlagen und durch eine gezielte „Adelung“ nichtadliger Gruppen anstreben? Verlief der vielversprechendere Weg über eine neuerlich erfolgreiche Anpassung an die Maßstäbe

78 Vgl. zu diesem Problem der „dinglichen“ bzw. „persönlichen“ Begründung der Adelsprivilegien oben Teil I. Kap. 2.3.1. 79 Oexle, Aspekte, S. 41-48; Dilcher, Der alteuropäische Adel, S. 70-73. 80 Vgl. Kap. 4.3. zu den Konflikten dieses auf den Adel gerichteten Verwaltungshandelns.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

einer verwandelten Umwelt, oder über eine bewusste Abgrenzung von dieser unter eigenen Leistungsvorgaben?81

Die strukturellen Identitätsmerkmale des ostelbisch-preußischen Adels Die von den Ministern aufgeführten Identitätsmerkmale des preußischen Adels wurden von diesen in einen jeweils persönlichen Argumentationszusammenhäng gestellt und mit spezifischen Zielorientierungen verbunden. Die darin zum Ausdruck kommende Auswahl und Ideologisierung von Adligkeitsmerkmalen und teleologischen Ableitungen soll im Folgenden vor einem breiteren Horizont historisch überkommener Adelslegitimation und Adelskritik beleuchtet werden. I.) Adel als Geschlecht Nicht kontrovers war unter den Ministern die Ablehnung der königlichen Pläne unter dem Gesichtspunkt der Geschichte der adligen Familienvorstellungen, mit seinem spezifischen Selbstverständnis als überzeitlichem Geschlechterverband. Zwei Aspekte des adligen Familienverständnisses fanden dabei Berücksichtigung: zum einen die Idee der Adelsfamilie als Geschlecht, welches sich als über die Kernfamilie hinaus erweiterte Familie und der Vorstellung einer übergenerationalen Geschlechterkette verstand. Justizminister Mühler betonte diesen Aspekt noch nachdrücklicher als Rochow dies schon in seinem vorangegangenen Votum unternommen hatte, insofern die „[…] beschränkte Vererblichkeit mit dem Institute des deutschen und preußischen Adels, ja man kann, England ausgenommen, sagen, mit dem Institute des europäischen christlichen Adel unvereinbarlich ist.“82 Die Vorstellung von der Adelsfamilie als eines „Geschlechts“ bedeutete zunächst, dass der einzelne Adlige seine Stellung aus der Geschichte seiner Familie ableitete. Umgekehrt bedeutete dies, dass nach diesem spezifischen Familienverständnis die individuellen Leistungen der einzelnen Mitglieder hinter denen der Familie zurücktraten; oder besser: der ganzen adligen Familie als kollektiver Leistungsausweis wieder zufloss. Denn anders als im bürgerlichen Familienverständnis zählte für die

81 Oexle, Aspekte, S. 19. Oexle bezieht sich dabei auf dabei auf Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1978, S. 252; sowie Durkheim, Les formes, S. 603f. Dass solche „Leitbilder“ als Ideale ein „natürliches Produkt des gesellschaftlichen Lebens“ sind, und diese „ideale“, „gedachte“ Gesellschaft nicht außerhalb der „wirklichen“ Gesellschaft steht, sondern ein Teil von ihr ist, ja dass eine Gesellschaft „vor allem“ durch die Idee konstituiert wird, die sie von sich macht – diese soziologischen Erkenntnisse hebt Otto Gerhard Oexle hervor, wenn er solche Leitbilder für den Adel als einer Elitenformation zu identifizieren versucht. Die hier behandelten Ideen und Vorstellungen von Wandel und Kontinuität des Adels im 19. Jahrhundert sollen deshalb in diesem Sinne ebenso als wirkmächtige „Ideale“ und „Leitbilder“ interpretiert werden. 82 Votum des Justizministers Mühler, 22. Januar 1841, in: GSTAPK, I. HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 24-46, hier Bl. 28.



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adlige Selbst- wie Fremdbewertung nicht der Leistungsdurchschnitt aller adligen Geschlechter über die Jahrhunderte, sondern wurde an herausragenden „Spitzenahnen“ gemessen.83 Grundlage dafür bot die archaische Vorstellung einer Geblütslegitimation der als „kognatisch“ verstandenen Sippe, deren Mitglieder zu gleichen Teilen an einem gemeinsamen Erbcharisma Anteil nehmen.84 Diesem Geschlechtercharakter entsprechend, so argumentierte Mühler plausibel in seinem Votum, entspräche die dem kontinentaleuropäischen Adel eigentümliche unbedingte Erblichkeit des Adelsprädikats: So weit die Geschichte läuft, finden wir den Geschlechts-Adel mit unbedingter Übertragbarkeit auf die Nachkommenschaft. Der Uradel der alten deutschen Geschlechter (nobilitas avita) wie der ihm in späterer Zeit nachgebildete Brief-Adel (nobilitas codicillaris) wurde von Geschlecht zu Geschlecht, ohne Rücksicht auf die jeweilige Vermögensverhältnisse der Familien, bis auf den spätesten Enkel vererbt.

Darin bestehe „ein so wesentliches Kriterium des Adels und seiner geschichtlichen Entwicklung“, selbst noch „nach der herrschenden Zeitansicht“, dass die „Zahl der Vererbungsfälle in den Geschlechtern sogar den größeren oder geringeren Werth des Adels bestimmt“ – wie es das historische Beispiel der „Adelsprobe“ bei adligen Stiftern belege. Wie schon Rochow ausgeführt habe, würde deshalb „der mit einer beschränkten Vererblichkeit kreierte neue preußische Adel niemals, weder bei den Standesgenossen des schon vorhandenen Adels, noch bei dem bürgerlichen Theile der Bevölkerung zu dem vollen Genusse des adlichen Ansehens gelangen“ – […] „letzterer wird seine Familie geringschätzen, weil sie den Adel nur vorübergehend und für einzelne – im Grundbesitze bleibende – Glieder derselben, auf die Dauer dieses Besitzthums, gleichsam geborgt hat […]“. Auch der alte Adel würde den „neuen Adel“ nicht an der Person haftend wahrnehmen, sondern am „rittermäßigen Grundbesitz, dem der Glanz seiner ursprünglichen Bestimmung zurückgegeben ist“. Als „Zwittergeschlecht“ würde der „neue Adel“ „niemals zu rechter Geltung gelangen“ und deshalb seine Aufgabe einer Versöhnung der sozialen Konflikte nicht gerecht werden können – eher würde er „dazu dienen das Ansehen des preußischen Adels herabzusetzen“. Die von Rochow konzedierte positive Aufnahme der neuen Adelsbestimmungen in der Öffentlichkeit zog Mühler in Zweifel, und erinnerte bei der Gelegenheit an die ernüchternden Reaktionen der Begnadigten von Königsberg und Berlin selbst, welche, „in Erinnerung der hergebrachten Vererblichkeit des Geschlechtsadels, ihre Standes-Erhöhung selbst nicht für voll ansehen“, und noch „schmerzlich empfinden“

83 Eine Illustration dieser als innergenerationale Geschlechterkette und weitläufige Verwandtschaftsbeziehungen Familienvorstellung des Adels noch für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert gibt Malinowski, Vom König zum Führer, S. 50-55. Zu den von Adel selektiv hervorgehobenen Leis­ tungen einzelner Familienangehörigen Ebd., bes. S. 55-59. 84 Dilcher, Der alteuropäische Adel, S. 65

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

werden, „die erworbenen Standesvorzüge nur unter beschränkenden Bedingungen in ihrer Nachkommenschaft fortdauern zu sehen“.85 Auch den möglichen Verweis auf das historische Beispiel des „Personaladels“, „welcher in früherer und neuerer Zeit mit Würden, Ämtern und Orden in verschiedenen Ländern Deutschlands verbunden war“, wollte Mühler nicht gelten lassen – obwohl selbst das preußische Landrecht, wie er zugab, diese Möglichkeit einräumte.86 Doch Mühler wollte in dieser historischen Einrichtung nur eine „Gleichstellung im Range und in gewissen einzelnen Rechten“, keine eigentliche Nobilitierung erkennen: „ein Bestandteil des Geschlechtsadels hat diese Art von Personal-Adel […] niemals gebildet. Dasselbe gelte für den persönlichen Adel wie er z.B. in Bayern und Württemberg mit der Verleihung bestimmter „landesherrlicher Orden“ verbunden ist. Dieser Personaladel würde neben dem „verknüpften adlichen Attribute“ nur solche Rechte verleihen, die „vermöge des Ordens“ oder durch amtliche Stellungen sowieso befugt sein würden – in „anderen Verhältnissen, in welche es auf den Nachweis des Geschlechtsadels ankommt, verliert er seinen Werth.“87 Aber nicht nur die Adelsfamilie als Geschlecht, auch die adlige Kernfamilie gerate durch die vom König beabsichtigten Regelungen in Gefahr.88 Mühler führte in seinem Votum aus, dass auch ein „sittliches Moment […] von der weiteren Verfolgung des betretenen Weges abmahnt“. Dabei bezog sich Mühler ausdrücklich auf ein von ihm am 13. desselben Monats verfassten Votums über „die Ehen der Adelichen mit Personen geringen Standes“. Darin habe er hervorgehoben, wie sehr es „dem innersten Wesen der Ehe und es christlich germanischen Familienlebens widerstrebe, wenn die ehelichen Kinder einen anderen als dem Stande des Vaters angehören sollen“. Wie schon Rochow den drohenden Verlust der „Unbefangenheit unter den Geschwistern“ und ein „Buhlen um die Gunst des Vaters“ beschworen hatte, wollte nun auch Mühler „Friede und Eintracht der Familien“ durch die neuen Bestimmungen bedroht, den „Keim des Neides, der Missgunst und Zwietracht in sie verpflanzt […]“ sehen. Die Väter des „zweiten Grades“, d.h. der zweiten Generation, würden so vor die Alternative gestellt, entweder einen Sohn bezüglich des Erbes zu bevorzugen, oder aber den Verlust des Adels in der Familie zu riskieren. Der Besitz würde dadurch

85 Vgl. Votum des Justizministers Mühler, 22. Januar 1841, in: GSTAPK, I.HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 24-46, hier Bl. 29. 86 Ebd., Bl. 31f. Mühler berief sich auf Carl Friedrich Eichhorn, Einleitung in das deutsche Privatrecht: mit Einschluss des Lehnrechts, Göttingen 1825, § 58 und das ALR Theil II Tit. 9 § 32. 87 Im „Kaiserreiche Österreich“ hingegen, so Mühler, habe man „auch diese Art von unvererblichen Personal-Adel bedenklich gefunden; denn es wird jeder Ritter des Maria-Theresien-Ordens, der nicht schon den Ritterstand oder eine höhere Adelsstufe besitzt, nicht nur von Amts wegen als erbländischer Ritter in die Standesbücher eingetragen, sondern es wie ihm oder seinen Nachkommen auch auf Verlangen ein förmliches Ritterschafts-Diplom, gegen bloße Expeditions-Taxe ausgefertigt.“ 88 Vgl. Votum des Justizministers Mühler, 22. Januar 1841, in: GSTAPK, I.HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 2446, hier Bl. 30.



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auch nicht gesichert, denn der moralische Druck auf den Vater seine Kinder gleich zu behandeln würde diesen eher zum Verkauf seines Grundbesitzes und damit auch zum Aussterben seines adligen Namens bringen, als gegen seine „heiligen Pflichten“ zu handeln. England könne als Beispiel kein Gegenargument sein, „wie schon der Herr Minister von Rochow richtig bemerkt hat“, denn die „Zustände Englands sind den deutschen und preußischen Volksansichten und Sitten eben so fremd, wie es die modifizierten Adelsverleihungen sind“. Was in England auf „althergebrachtem Recht“ beruhe, solle durch die „modifizierten Adelsverleihungen“ in Preußen erst auf eine Weise geschaffen werden, „die in den bisherigen Volksansichten und Einrichtungen keinen Boden findet“. Mühlers wie auch Rochows Ausführungen zu diesem Punkt können den neutralen Betrachter allerdings kaum überzeugen. Nicht nur in den westeuropäischen Adelslandschaften, auch in den ostelbisch-preußischen Adelsregionen wurden seit jeher über die Erbgänge höchst ungleiche Lebenschancen und Besitzrechte verteilt, die in der Regel das Gut einem Haupterben zukommen ließ. Die generalisierenden Behauptungen über den ganzen „christlich-germanischen“, bzw. „kontinentaleuropäischen“ Adel bezüglich des Familienverständnisses und der Familienorganisation weisen insofern eine deutliche ideologisierende Selektion auf. Insbesondere Mühlers Ausführungen nahmen darüber hinaus deutlich ein bürgerlich-kernfamiliales Familienverständnis schon selbstverständlich zum Maßstab, das sich eigentlich erst seit dem späten 18. Jahrhundert auch im Adel verstärkt durchzusetzen begann. II.) Adel als Stand – Eheschließungen (Konnubium) Eng mit dem Kriterium des Adels als Geschlecht war das Problem der Eheverbindungen (Konnubium) zwischen Adel und Nichtadligen verbunden. Wie schon in Mühlers Reaktion auf die beabsichtigte rechtliche Binnendifferenzierung für das Erbrecht der adligen Titel anklang, sollten in dieser Frage erste markante Differenzen in den Meinungen der Minister zu Tage treten. Diese Frage berührte das Selbstverständnis des Adels als Stand und damit auch seines Verhältnisses zu den anderen Ständen. Bildete jede adlige Familie ein umfangreiches Netzwerk weitläufiger Verwandtschaftsbeziehungen und übergenerationaler Leistungsakkumulation, welches sich im Begriff der Geschlechterfamilie zusammenfassen lässt, so entwickelten diese verschiedenen adligen Familiennetzwerke erst über die Kommensalität, also das Teilen des sozialen Lebens und des Konsums, sowie des Konnubiums, also der wechselseitigen Heirat, einen eigentlichen „adligen Stand“.89 Zum „Stand“ und dem „Ständischen“ einer sozialen Gruppe zählte eine gemeinsame Lebensweise, die geteilten Erziehungsziele, aber auch eine transzendentale Begründung und Legitimation. Doch die Verheiratung zwischen Familien drückte die für die ständische Formierung des Adels so zentrale „Privilegierung der (gegenseitigen)

89 Vgl. oben Kap. 1.2.3.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

sozialen Schätzung“ am konsequentesten aus.90 Das adelslegitimatorische Element des binnenständischen Konnubiums bestand in der dadurch garantierten Sicherung einer „Geburtsauslese“ der Nachkommen, d.h. der eindeutigen Zuteilung von Lebenschancen an die Nachkommen durch die Verbindung privilegierter Eltern. Rochow hatte deshalb in seinem Votum die vornehmlichen Eheschließungen innerhalb des Standes als konstitutives Merkmal auch des preußischen Adels bezeichnet – denn selbst wenn das binnenständische Konnubium nicht in allen Fällen eingehalten würde, so entfaltete es doch als Regelfall seine standesbildende Wirkung. Und der Adel müsse sich auch in den Familienbeziehungen als Stand erkennen; ohne dies wäre der Stand nur äußere Existenz, ohne inneres Leben. Ein feindliches Abschließen gegenüber dem Bürgertum sei darin allerdings keineswegs zwangsläufig zu erkennen, beteuerte Rochow. Und im übrigen sei dieses Heiratsverhalten auch bei den alten Gentry-Familien in England zu beobachten. Während Rochow dieses Heiratsverhalten aber nur beschrieb und anmerkte, dass darauf kaum Einfluss genommen werden könne, wollte Kamptz diese Exklusivität im Konnubium sogar rechtlich stärker durchsetzen: bei „ungleichen Ehen“ zwischen einem adligen Mann und einer bürgerlichen Frau sollte der Adelsname weder auf die bürgerliche Ehefrau, noch auf die gemeinsamen Kinder übergehen! Tatsächlich plante Friedrich Wilhelm IV. ein solches neues Eherecht, das die Ehe zwischen Adligen und Angehörigen des „niederen Bürgerstandes“ zwar zulassen, aber die aus solchen Ehen hervorgehenden Kinder nicht den Adel erben lassen sollte. Kamptz unterstützte dieses Vorhaben lebhaft mit dem Argument, es sei bei ungleichen Ehen ungewiss, ob Kinder in den „Gesinnungen“ dem Vater oder der Mutter folgen würden.91 Rochow sympathisierte zwar mit dieser Argumentation, war allerdings persönlich deutlich skeptischer gegenüber den königlichen Eherechtsplänen.92 Mühler lehnte all dies entrüstet ab, wieder unter Hinweis auf das „innerste Wesen der christlichen Ehe“, und verwies auf sein besonderes Votum vom 13. desselben Monats

90 Diese kurze Zusammenfassung von „Stand“ nach Oexle, Aspekte, S. 35, der wiederum an Max Weber anknüpft: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S. 179 u. 543. 91 Zur Argumentation von Kamptz vgl. auch das Votum des Justizministers Mühler, 22. Januar 1841, in: GSTAPK, I.HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 24-46, hier Bl. 39. Die „Zusammenstellung“ von Rochow nahm diesen Punkt des Kamptzschen Votums nicht auf. Zu Friedrich Wilhelms Eherechtsplänen und den Kamptzschen Positionen dazu vgl. Koselleck, Landrecht, S. 111. 92 Vgl. das Votum, das Rochow am 17. April 1841 zum Thema der „Eheverbindungen zwischen Personen ungleichen Standes“ abgegeben hatte. Darin schloss sich Rochow den Ansichten Wittgensteins und Stolbergs an, dass eine Abänderung der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen nicht so dringend sei, „um über den gewiß sehr allgemein ungünstigen Eindruck“, den ein solches Gesetz brächte, hinwegzusehen. Dabei verwies er auf die von diesem Vorhaben abweichenden Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Frankfurt, Insterburg, Münster, Hamm, Breslau und Naumburg. Bisher habe der König ja noch das Recht zur Erteilung von Dispensationen von Heiraten Adliger mit dem niederen Bauern- und Bürgerstand – dieses Mittel „zur Verhinderung des Ansehensverlustes“ des Adels würde allemal weniger Aufsehen erregen, vgl. GSTAPK Rep. 77, Tit. 1108, Nr. 31 Bd. 1 (unpaginiert).



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bezüglich der standesungleichen Ehen.93 Er verwarf die rechtliche Standesungleichheit nicht nur im Binnenverhältnis der adligen Kernfamilie sondern auch in Eheverbindungen zwischen den Ständen. Tatsächlich wäre der Vorschlag von Kamptz bezüglich der Nichtübertragung adliger Namen auf bürgerliche Ehefrauen und den aus dieser Verbindung hervorgehenden Kindern ein absolutes Novum im Adelsrecht des ostelbischen Preußens gewesen. Umso mehr erstaunt bei Mühlers Protest der fehlende Bezug auf dieses alte Adelsrecht: dass die relative ständische Offenheit gegenüber Heiraten mit Frauen des gehobenen Bürgertums sogar ein bestimmendes Merkmal dieser Adelslandschaften gegenüber anderen deutschen und europäischen Adelsformationen war. III.) Angemessene Lebensbeschäftigung – Kriegs- und Zivildienst Noch schärfer stellten sich die Unterschiede in der Frage nach der „angemessenen Lebensbeschäftigung“ des Adels dar. Auf diesen Punkt kamen mehrere Votanten zu sprechen. Namentlich der Dienst, genauer der Kriegsdienst, hatte nach der Behauptung Rochows dazu beigetragen, dass der Adel trotz teilweiser Verringerung des Wohlstandes vor seinem Verfall bewahrt worden war. Diese Dienstorientierung war unter den Votanten auch nicht kontrovers. Dabei spielte die Frage keine Rolle, ob der Adel seine Herrschaftspositionen ursprünglich „aus eigenem Recht“ (autogen) inne hatte, also vor jeder verliehenen Privilegierung durch Fürsten oder Könige.94 Doch zeigen sich deutliche Unterschiede in der Gewichtung zwischen Kriegs- und Zivildienst – hatte Rochow vor allem auf den Kriegsdienst abgehoben, so entwickelten Mühler wie Kamptz die entscheidenden Leistungskriterien für den Adel vor allem mit Blick auf den Zivildienst. Dabei griff Mühler das von Kamptz betonte Argument auf, dass mit den neuen Bestimmungen weitgehend die Möglichkeit entfallen würde, „verdiente[...] Männern bleibend auszuzeichnen und sammt ihrer Nachkommenschaft dem Landesherrn und seinem Reiche zu Dank und Ergebenheit noch mehr anzufeuern.“ Das Instrument der „Nobilitierung wurde also von Mühler wie von Kamptz als ein wichtiges Werkzeug der Loyalitätsstiftung von Elitengruppen und ihrer Nachkommenschaft betrachtet, ihrer Bindung an den Landesherrn, den Staatsdienst und die Interessen der Regierung. Gerade für diesen Teil des Adels wären aber die „Leistungen ihres Ahnherren“ ein „Sporn geworden zur Entwicklung dessen, worauf Preußens Größe und Kraft beruht: der intellektuellen und moralischen Kraft seines Volks, der geerbten und

93 Vgl. Votum des Justizministers Mühler, 22. Januar 1841, in: GSTAPK, I.HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 24-46, hier Bl. 39. 94 Nach dem heutigen Forschungsstand besaß der Adel seine Besitz-, Rechts- und Herrschaftspositionen in der Tat autogen, war der Adel der Stand, der die sog. „Alt-Freiheit“ bewahrte, im Gegensatz zu den aufsteigenden Gruppierungen des Hochmittelalters, die „Neufreiheit“ erwarben, vgl. Dilcher, Der alteuropäische Adel, S. 59.

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gepflegten Ergebenheit und Treue gegen sein Herrscherhaus und der aufopfernden Hingebung in den Zeiten der Gefahr und des Mißgeschicks!“95 Diese letztere Passage spielte unüberhörbar auf die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts lebhaft diskutierte Problematik einer mangelnden Identifikation der preußischen Bevölkerung(en) mit Monarchie und Staat an – für das heterogene wie junge Preußen hatte sich diese Problematik gerade in der Niederlage gegen Napoleon erwiesen und bildete nicht zuletzt die Motivationsgrundlage für Friedrich Wilhelms intendierte Adelspolitik. Ein großer Teil des Adels in Preußen, so Mühler, verdanke seinen Ursprung dem Verdienst in Militär und Civildienst. Viele dieser Familien hätten niemals Grundeigentum besessen, und aus Gründen der Richtung ihrer Erziehung, Lebensbeschäftigung und der Lage ihres Vermögens seien sie abgehalten worden rittermäßigen Grundbesitz zu erwerben und sich dem Landadel anzuschließen. Deshalb, so Mühler, könne man diesem „achtbaren“ Teil des Adelstandes nicht den Vorwurf einer unehrenhaften und unstandesgemäßen Haltung machen, oder ihn in seiner „Gesinnung und sein(em) Verhalten zur Regierung und der übrigen Bevölkerung“ gegenüber dem niederen, doch mit Grundbesitz ansässigen Adel, nachsetzen. Schließlich es sei nicht die Schuld des Adels, dass er zu Beginn des Jahrhunderts „an den Vorzügen seines Standes“ verloren habe. Der Grund dafür läge nicht in der Art seiner Fortpflanzung und Vererbung, sondern in den Zeitereignissen, der Richtung der Weltansicht und der Notwendigkeit, außer den Vorzügen des Standes noch etwas zu besitzen was diese Vorzüge unterstützt, ihnen Leben und Bedeutung gibt. Bei diesem „Etwas“ welches den Standesprivilegien „Leben und Bedeutung“ geben sollte dachte Mühler offensichtlich nicht an materielle Qualitäten. Vielmehr, so Mühler, könne er nicht zugeben, dass ein Edelmann ohne Grundbesitz weniger förderlich sein soll, als ein Edelmann mit Grundbesitz. Im Gegenteil: historisch hätte doch gerade diese letztere „Klasse des Adels“ dem Landesherrn zu schaffen gemacht.96 Während im Dienstadel das in der Staatsverwaltung stets beachtete Prinzip, dass Fähigkeit und Verdienst die Anerkennung des Werts liefert, mit größtem Erfolg zu tragen gekommen sei.97 Damit bot Mühler als einziger der Votanten des Staatsministeriums eine teleologische Entwicklungsgeschichte eines maßgeblichen Teils des brandenburgisch-preußischen Adels, die er zugleich als Legitimationsbasis für dieses Adelssegment heranzog.

95 Vgl. Votum des Justizministers Mühler, 22. Januar 1841, in: GSTAPK, I.HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 24-46, hier Bl. 33-34; hieraus auch die folgenden Zitate. 96 Zu dieser Ambivalenz des Adels vgl. Dilcher, Der alteuropäische Adel, S. 70, Oexle, Aspekte, S. 44, 45. 97 Zum anarchischen Erbe des Adels in seinen Rangverhältnissen vgl. Dilcher, Der alteuropäische Adel, S. 72.



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IV.) Verhältnis des Adels zum Gewerbe Doch mit diesen Positionen hörten die Gemeinsamkeiten der Votanten auch schon auf, die Differenzen waren bei weitem in der Überzahl und gewichtiger. Innenminister Rochow nämlich erkannte im Fernhalten von den eigentlichen handwerklichen Gewerben wiederum ein der adligen Mentalität zuzuordnender Identitätskern des preußisch-deutschen Adels. Denn es erhalte ihm die Standesgesinnung, ein Verhalten welches, wie Rochow betonte, durch die Politik sogar zu beeinflussen wäre. Ausdrücklich verlangt er das Eintreten des Adelsverlusts bei Ergreifen niedriger Handwerkergewerbe und nichtgeachteter Berufe. Während die übrigen Votanten auf diesen Punkt nicht eingingen, wies Mühler eine solche Beschränkung in der Wahl der „Lebensbeschäftigung“ für den Adel scharf zurück – dies sei weder „rathsam, noch bei der Lage, in welcher sich ein großer Theil desselben einmal befindet, seinen Interessen entsprechend zu sein.“ Nach Meinung Mühlers würde der Adel in der öffentlichen Meinung nicht verlieren, „wenn einzelne Mitglieder einen gewerblichen Nahrungszweig ergreifen“. Ein „vorurtheilfreies Urtheil“ würde darum den „verarmten Edelmann“ im „Betriebe eines geringen Geschäfts“ nicht geringer achten, „wofern er nur den Adel der Gesinnung erhalten hat“.98 V.) Bedeutung des Grundbesitzes für den Adel Doch die schärfste und ausführlichste Auseinandersetzung der Stellungnahmen betraf die Frage nach der Rolle des Grundbesitzes als Kriterium für die Erblichkeit des Adels. Der große, rechtlich privilegierte Grundbesitz war ja gerade in den ostelbischen Provinzen Preußens von besonderer Bedeutung nicht nur für die ständische sondern auch soziale Privilegierung des Adels gewesen. Es war Rochow, der diesen Komplex weit über das in den königlichen Vorgaben angesprochene Maß hinaus thematisierte, indem er seiner Kritik an dem Vorhaben des Königs einen eigenen Vorschlag zur Stützung des Adels folgen ließ. Denn auch er sprach sich dafür aus, die Beziehung zwischen Grundbesitz und Adel zu stärken, aber nicht durch ein „Gentry“-Modell. Vielmehr sollte vom Grundbesitz die Vererbung des Adels in einer Familie abhängig gemacht werden, d.h. von der Existenz, dem Erwerb und der Erhaltung von rittermäßigem Gutsbesitz. Dieser Grundbesitz sollte Stammguteigenschaften haben und würde den Adelsnamen für die ganze Familie sichern, also einen Geschlechteradel stiften. Dies, so Rochow, entspräche dem überkommenen Adelsmodell in Deutschland (!), und würde auch berücksichtigen, dass jedes Familienmitglied potentiell in den Grundbesitz gelangen könne. Bei Verlust des Gutes sollte die Vererbung des Adels aufhören, oder sogar ein sofortiger Verlust des Adelsnamens für die ganze Familie eintreten. Diese Bestimmungen seien selbst auf den alten Adel auszudehnen. Damit hatte Rochow einen radikalen Gegenentwurf eines Adelskon-

98 Vgl. Votum des Justizministers Mühler, 22. Januar 1841, in: GSTAPK, I.HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 24-46, hier Bl. 36.

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zepts vorgelegt, welcher das Besitzkriterium, wenn auch nicht auf die adligen Individuen, so doch auf deren Familienverband, konsequent anwandte. Über einen wesentlichen Aspekt des bevorrechteten Grundbesitzes schwieg sich Rochow allerdings aus: die dadurch eingeräumte, rechtlich privilegierte und direkte Herrschaft über „Land und Leute“. Denn diese war nicht nur von Bedeutung für die Bewirtschaftung des Großgrundbesitzes, sondern auch für die überkommene Teilhabe des Adels an der Herrschaft, der Entfaltung von vormoderner „Staatlichkeit“ unter Teilnahme an der monarchisch-fürstlichen Regierung.99 Auch Kamptz betonte, dass Grundbesitz weder bei Ur- noch Briefadel jemals Bedingung der Vererblichkeit gewesen sei.100 Das historische Auftreten höherer Titel bei Majoratsbesitzern stünde diesem Prinzip nicht entgegen, da ja dies den Adel der übrigen Familienmitglieder nicht in Frage stelle. Erst Napoleon habe bei den Barons und Comtes de l’Empire die Vererbung von der Errichtung eines Majorats abhängig gemacht. Die Bedingung von großem Grundbesitz als Voraussetzung der Erblichkeit des Adels, falls dies als Ersatz fideikommissarischer Bindungen gedacht sei, sichere den Grundbesitz keineswegs. Denn es würden sich nicht ausreichende Motive daraus entwickeln, sich diesen Erbbedingungen zu unterwerfen, umso mehr, als diese auch „wandelbar und unsicher“ seien. Dieser neue preußische Adel würde grundsätzlich in „geringerer Geltung als der Fremde seyn“.101 Trotzdem wollte Kamptz, ähnlich wie Rochow, eine Adelsstützungspolitik, die auf die Annäherung von Adel und Grundbesitz setzte. Während Rochow sein Adels-

99 Oexle, Aspekte, S. 41-48. „Herrschaft über Land und Leute“, vgl. zu „Teilhabe an der monarchischfürstlichen Regierung“ Dilcher, Der alteuropäische Adel, S. 70-73. Vgl. dazu oben Kap. 2.4.1. 100 Karl Christoph Albert Heinrich v. Kamptz (1769-1849), in Schwerin als ältestes Kind des Wirklichen Geheimen Rats, Ministers, Kammerpräsidenten und Oberkammerherrn Christoph Albrecht v. Kamptz geboren, stammte aus einer der ältesten Adelsfamilien Mecklenburgs, die ihre Ursprünge bis auf wendische Wurzeln zurückführte. Er studierte Jura und Staatswissenschaften in Bützow in Mecklenburg-Schwerin und Göttingen. Seine Karriere begann noch während seines Studiums in der Justizkanzlei in Neustrelitz. Von der mecklenburgischen und schwedisch-pommerschen Ritterschaft zum Assessor gewählt, wurde er 1804 unter Ernennung zum Kammerherrn von der preußischen Regierung auf das erledigte kurbrandenburgische Assessorat am kaiserlichen Reichskammergericht in Wetzlar berufen. 1811 begann seine Karriere am preußischen Kammergericht; 1812 wurde er vortragender Rat im preußischen Innenministerium, schließlich leitender Direktor des Polizeiministeriums (1817) und Erster Direktor im Justizministeriums (1825). 1832 wurde er zum Wirklichen Geheimen Staats- und Justizminister ernannt. In Arbeitsteilung mit Justizminister Mühler blieb er vornehmlich für die Gesetzesrevision verantwortlich. Nach dem Wartburgfest 1817 wandelte sich der bis dahin hochgeachtete Jurist und Richter zu einem berüchtigten Demagogen-Verfolger – zusammen mit dem „starr-aristokratischen“ Halbbruder der Königin Luise, Herzog Karl Friedrich August v. MecklenburgStrelitz wurde Kamptz und der General Freiherr v. Müffling Teil der „ersten Kamarilla“ unter Friedrich Wilhelm III.: Als „bürokratischer Fanatiker der Angst“ zählte er als ehemaliger Direktor von Wittgensteins Polizeiministerium auch in den 1840er Jahren zur „Partei“ des Hausministers, vgl. Bahne, Verfassungspläne, S. 57. 101 Vgl. die „Zusammenstellung“ von Rochow.



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konzept ausdrücklich auf den alten Adel angewandt sehen wollte, hatte Kamptz mehr den neuen Adel im Blick. „So weit dies möglich“ sei, solle dieser neue Adel in einen „näheren und bleibenden Zusammenhang“ mit dem Grundbesitz gebracht werden. Um dieses Ziel zu erreichen, schlug Kamptz vor, die „Errichtung von Familien-Fideicommissen in der Art zu begünstigen, daß diejenigen Besitzer ritterschaftlicher Güter, welche sonstiger Qualifikation, aus einem bedeutenden Complex derselben ein beständiges Familien-Fideicommiß stiften, Gebühren- und Abgabenfreiheit sowohl für den Adel als für die Stiftung“ zugestanden bekämen. Wie für Rochow sollte dieser neue Adel ein Geschlechteradel sein. Kamptz wählte die „modernere“ Form der Grundbesitzbindung, während Rochow mit seinem Stammgutmodell stärker am überkommenen Muster der durch Lehnsbeziehungen konstituierten Familienverbände orientiert blieb. Mühler hingegen lehnte Rochows Gegenvorschlag einer auf Grundbesitz basierten Neu-Formierung des Adels strikt ab. Auch gegen den Alternativvorschlag von Kamptz sprach sich Mühler in seinem Votum deutlich aus: Ich kann es nicht billigen, daß der Adel gleichsam in seinem Preise so herabgesetzt werden soll, daß man denjenigen vermögenden Leuten, welche einen bedeutenden Grundbesitz zu einem Fideicommisse verwenden wollen, den Adel und die Majoratsstiftung gewissermaßen gratis anbindet, um sie für diesen Stand bleibend zu gewinnen.

Ebenso wenig erklärte sich Mühler mit Kamptz Zielsetzung einverstanden, zu „Majoratsstiftungen gleichsam zu provozieren [...]“; denn „mehr oder weniger verfällt ein solches Grundeigenthum der todten Hand, und zu welchen Nachtheilen ein generalisiertes Prinzip dieser Art, in Bezug auf die Entwickelung des National-Reichthums, führen kann, darüber hat die Erfahrung wohl hinreichend Aufklärung gegeben.“ In einzelnen Fällen ließe sich eine solche Bedingung zur Verleihung des Adels wohl rechtfertigen, doch solle dieser Weg, der „schon sichtbar von dem Ministerium des Königlichen Hauses eingeschlagen“ und auf eine Weise verfolgt werde, dass „dadurch weder Aufsehen erregt, noch das entgegengesetzte Interesse des freien Verkehrs mit dem Grundbesitze wesentlich verletzt“ wurde, nicht zu einem Grundsatz der Adelspolitik gemacht werden. Auf keinen Fall solle die Stiftung von Majoraten zu einer „so verdienstvollen Handlung“ erklärt werden, daß sie schon durch Gesetz, „sei es öffentlich oder unter der Hand“, im Voraus „mit dem Adel belohnt“ würde. Vielmehr solle man der „freien Gestaltung der Dinge“ ihren Lauf lassen und dadurch „die Nachtheile vermindern, welche in der Vervielfältigung von Majoratsstiftungen für die übrige Bevölkerung vorzüglich dann zu finden sind, wenn dadurch der Landbesitz aus anderen Händen gezogen wird, um größere Gutskomplexe erst zu bilden und dem Verkehr für immer zu entziehen.“102 In diesem Punkt zeigte sich Mühler, wie schon in

102 Vgl. Votum des Justizministers Mühler, 22. Januar 1841, in: GSTAPK, I.HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 24-46, hier Bl. 39.

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der Frage der Gewerbefreiheit, als ein Verfechter der Ziele der Reformzeit, die in der Öffnung des Gütermarktes ein wesentliches Instrument zur Belebung der Wirtschaft gesehen hatte. Überhaupt nahm Mühler gegenüber dem (adligen) Großgrundbesitz und dem Institut der Rittergüter eine distanzierend-kritische Haltung ein.103 So verfolgte er als Justizminister das Ziel, die gutsherrliche Patrimonialgerichtsbarkeit aufzuheben, oder wenigstens einzuschränken – der Adel sollte zunehmend dem Staat unterworfen werden, und nicht durch neo-ständische Einrichtungen eigene Rechtsreservate aufrechterhalten können. Dies machte ihn beim angesessenen Adel äußerst unbeliebt, ja er galt als ausgesprochener „Adelsfeind“!104

103 Heinrich Gottlob v. Mühler (1780-1857), war der Sohn eines Kammerrats der fürstlich-pleßschen Rentei in Louisenhof (Schlesien). Nach der Gymnasialzeit in Breslau und dem juristischen Studium in Halle trat er 1801 als Auscultator in Brieg in den preußischen Staatsdienst ein. 1815 erfolgte seine Versetzung an das Kammergericht in Berlin. Er machte schnelle Karriere mit Stationen in Halberstadt (Vizepräsident des Oberlandesgerichts 1822) und Breslau (1824), nachdem er schon zuvor an den Arbeiten der Gesetzeskommission (ab 1817) beteiligt war. In Breslau lernte er auch den Kronprinzen, nachmaligen Friedrich Wilhelm IV. kennen. Ab 1827 wirkte er an der Revision des ALR mit. Nach dem Tod des Justizministers Graf Danckelmann (1830) erfolgte 1832 eine Teilung des Justizministeriums – neben dem bisherigen provisorischen Minister Geheimen Rat v. Kamptz wurde nun auch Mühler Justizminister. Kamptz behielt die Gesetzesrevision unter sich sowie die Justizangelegenheiten der westlichen Provinzen, Mühler die Angelegenheiten der übrigen Provinzen. Ab 1838 wurde die Justizverwaltung der Provinzen in der Hand Mühlers wieder zusammengeführt, während Kamptz weiterhin für die Gesetzesrevision zuständig blieb. Mühler machte sich infolge für eine Reihe von Modernisierungen des preußischen Rechtssystems (Beschleunigung des Prozessverfahrens u.a.) und die wissenschaftliche Bearbeitung des preußischen Rechts verdient. Mühler wurde 1851 unter Bestellung zum Kronsyndikus auf Lebenszeit ins Herrenhaus berufen. Im selben Jahr, anlässlich seines 50. Amtsjubiläums, wurde ihm, unter ausdrücklicher Verleihung des Erbadels, der Schwarze Adlerorden verliehen. 104 So berichtete die „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 2, vom 6. Januar 1841, S. 6 in ihren „Correspondenz-Nachrichten“ aus Schlesien, dass schon seit längerem das Bestreben des Justizministers Mühler, die Patrimonialgerichtsbarkeit aufzuheben oder zumindest einzuschränken auf großen Unmut gestoßen sei. Mit „Genugtuung“ und „großer Freude“ sei deshalb der Befehl Friedrich Wilhelms IV. aufgenommen worden, die Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit sofort einzustellen und dieselbe in ihrer früheren Organisation beizubehalten. Allgemein sei man in Schlesien der Ansicht, dass Mühler eine bedeutende Antipathie gegenüber dem Adel hege, und daher auf eine baldige Versetzung Mühlers hoffe. In einer weiteren Nummer der „Zeitung für den deutschen Adel“ (Nr. 20, 10. März 1841, S. 78) stimmte Julius August Marschall, königlich preußischer Kammerherr aus Thüringen, dieser Einschätzung des schlesischen Adels in einer kurzen Notiz zu: „Noch ein Wort über Patrimonialgerichte“ – in Thüringen fände die Meinung des schlesischen Adels bezüglich des Justizministers Mühler „den vollsten Anklang“. Die Angriffe des Justizministers erschienen (aus Sicht des Thüringer Adels) zumindest indirekt als „Schmälerung und Beeinträchtigung“ der adligen Position. Vor diesem Hintergrund erscheint die Einschätzung Theodor v. Rochows verständlich, dass Mühler und Savigny in der Verfassungsfrage nicht „konservativ-widerständig“ genug seien; andererseits aber auch als verkürzt: „Mühler sagt zu Allem Ja und H. v. Savigny erkennt nicht die politische Bedeutung dieser Fragen. Er hat ein Paar Scheuklappen und sieht weder rechts noch links.“ Vgl. Gustav v. Rochow an Canitz v. 3.1.1844, in: GSTAPK, Rep. 92 Nachlass Canitz, Nr. 18. Diese verbreitete zeitgenössische Ein-



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Wittgenstein teilte diese Positionen Mühlers hinsichtlich des Grundbesitzkriteriums in noch schärferen Worten. In seinem Votum plädierte für eine extreme Bevorzugung des Dienstadels gegenüber dem Grundadel.105 Während sich Wittgenstein zunächst in allgemeinen Worten den Ausführungen Mühlers anschloss, drang er schließlich sogar darauf, in dem für den König bestimmten Bericht eigene Bestimmungen bezüglich der zukünftigen Vererblichkeit des Adels anzutragen. Der Adel, den der König „würdigen und verdienten Staatsbeamten aus höchsteigener Bewegung“ verleihen wolle, solle sich nämlich „allsdann auf dessen sämmtliche Nachkommen“ vererben. Demgegenüber sollte für einen Rittergutsbesitzer, der aus eigenem Bestreben um den Adel nachsuchte und dem „Seine Majestät sich in Rücksicht der Würdigkeit und des rechtlichen Rufs desselben bewogen finden, sein Gesuch zu bewilligen, der Adel in seiner Familie nur dem jedesmaligen Besitzer des Gutes“ zustehen. Bei Verlust des Gutes solle auch der Adel wieder erlöschen. Außerdem müsste der Gutsbesitzer nachweisen können, dass die nichterbenden, „von dem Adelsstande auszuschließenden Kinder in dem ihnen nach den Landesgesetzen gebührenden Erbtheile nicht verkürzt werden könnten.“ Um aber die in den Vota der anderen Minister schon angesprochene „Störung der Eintracht in den Familien“ zu vermeiden, wie auch „Adelsanmaßungen“ auszuschließen, die unter solchen Bestimmungen „öfter als bisher vorkommen dürften“, sollte der zukünftige Besitzer des Erbgutes seinen Familiennamen ablegen und den Namen des Gutes annehmen müssen. Gleiche Bedingungen wollte Wittgenstein auch für „reiche Kapitalisten, welche den Adel aufsuchen“ gestellt wissen: ihnen „würde im Falle der Allerhöchsten Gewährung des Gesuchs die Verpflichtung aufzuerlegen sein, ein Rittergut von mindestens 50.000 rth Werth anzukaufen und solches mit keinen Hypotheken zu belästigen.“ Für die Vererblichkeit des Adels würden dann dieselben Bedingungen gelten wie bei in den Adelsstand erhobenen Gutsbesitzern: Durch solche Bestimmungen dürfte der allzugroßen Vermehrung der Adelsgesuche vorgebeugt werden. Der Grafen- und FreiherrnStand würde eben sowie der Adelstand sich nur mit dem jedesmaligen Besitzer des Grundeigenthums vererben, und mit dem Verluste desselben, jedoch unbeschadet der Beibehaltung des Adelsstandes, erlöschen.

schätzung der Person Mühlers würde auch erklärlich machen, warum der russische Gesandte Peter Baron v. Meyendorff (1796-1863) den Justizminister zusammen mit Savigny zu den „Liberalen“ des Ministeriums rechnen konnte, was Bahne als „unerfindlich“ bezeichnet: vgl. Bahne, Verfassungspläne, S. 29 a, Anmk. 151, S. 58. 105 Vgl. das Votum von Wittgenstein vom 12. Februar 1841, in: Rep. 100 Nr. 3783, Bl. 47-49. Bei dieser Gelegenheit rechtfertigte Wittgenstein auch gleich die bisher nicht erfolgte Ausstellung der neuesten Adelsdiplome: „Das Ministerium des Königl.Hauses muß sehr wünschen, daß ihm sowohl in Betreff der künftigen Standeserhebungen, als derjenigen, welche Sr.Majestät bei der Huldigung in Königsberg und Berlin zu bewilligen geruhet haben, über die in die Diplome aufzunehmenden Bestimmungen eine genaue Instruction ertheilt werde.“

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Diese Vorschläge liefen in ihrer Konsequenz auf eine völlige Diskriminierung des in Zukunft nobilitierten Grundadels gegenüber dem Dienstadel hinaus. Anton Graf zu Stolberg-Wernigerode, Stellvertreter von Sayn-Wittgenstein im Hausministerium, schloss sich diesem Wittgensteinschen Votum an, obwohl er „principaliter […] es hinsichtlich der Nobilitierungen bei der bisherigen Vererbung auf alle Kinder […] belassen“ wollte.106 Des weiteren riet er davon ab, eine wie auch immer formulierte zukünftige „Instruktion“ über Standeserhöhungen zu publizieren; es genüge allein in den auszustellenden Adelsdiplomen festzuhalten, „ob dieselbe [Standeserhöhung, G. H.] auf alle Descenden des Begnadigten übergehe, oder ob sie nur für den jedesmaligen Fideicommißbesitzer und den Namensträger des Ritterguts gültig sei“.107

Transzendentale und historische Grundlagen der Adelsprivilegien Auffällig ist aber bei allen Votanten das völlige Fehlen bestimmter, von der Forschung als konstitutiv für adlig-ständisches Denken identifizierte Legitimationsmuster: so spielte bei den von den Votanten evozierten strukturellen Identitätsmerkmalen die religiös-kirchliche Aufgabenübernahme überhaupt keine Rolle – weder im Sinne einer in göttlichem Auftrag übernommenen Wertegarantie für die Gesellschaft, noch als besondere Rolle des Adels in den christlichen Kirchen, aus welcher eine transzendentale Legitimation abgeleitet werden könnte.108 Und dies, obwohl der König nicht nur der zeitgenössischen Bewegung des Neo-Pietismus nahe stand, sondern auch kirchenpolitisch äußerst aktiv wirkte. Ebenso fehlen Verweise auf transzendental begründete und legitimierte Vorstellungen kosmologischer Ordnungsmuster überzeitlicher Geltung: die Vorstellungen

106 Anton Graf zu Stolberg-Wernigerode (1785-1854) wurde als 4. Sohn des regierenden Grafen Christian Friedrich zu Stolberg-Wernigerode und der Gräfin Auguste Eleonore zu Stolberg-Stolberg geboren und trat 1802 in den preußischen Militärdienst ein. Er nahm am Krieg von 1806 gegen Napoleon und an den Befreiungskriegen 1813-15 teil, wurde Adjutant beim Prinzen Wilhelm, dem Bruder des Königs. Während der Aushandlung eines neuen Vergleichs zwischen dem preußischen Staat und dem Hause Stolberg-Wernigerode 1822 lernte er den Kronprinzen kennen, mit dem er sich befreundete. Im preußischen Staatsdienst wurde Graf Anton 1828 Landrat in Landshut in Schlesien und 1834 Regierungspräsident in Düsseldorf. 1837 erfolgte seine Ernennung zum Oberpräsidenten der preußischen Provinz Sachsen und Regierungspräsidenten von Magdeburg. Am 30. Dezember 1840 wurde er unter Ernennung zum wirklichen Geheimen Rat als Vertrauter Friedrich Wilhelms IV. nach Berlin berufen. Als Vertreter von Sayn-Wittgenstein im Hausministerium erhielt er Sitz und Stimme im Staatsministerium, wurde aber erst 1842 zum Staatsminister ernannt. Als Gegner der Revolution 1848 musste er von seinen Ämtern zurücktreten. Er wurde, nachdem er 1849 stellvertretend für sieben Monate das Landeshuter Landratsamt versah, Generaladjutant des Königs (1850) und 1851 königlich-preußischer Oberstkämmerer und Minister des königlichen Hauses, vgl. Acta Borussica, Neue Folge, 1. Reihe, Bd. 3, S. 524. 107 Vgl. die Reinschrift des Votums von Stolberg vom 15. Februar 1841 in: Rep. 100 Nr. 3783, Bl. 50-51. 108 Vgl. dazu die Bedeutung der Reformation, Dilcher, Der alteuropäische Adel, S. 80



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von einer „Harmonie in der Ungleichheit als ein von Gott gesetzter Zustand der Welt“, eigentlich ein Grundmotiv aller Reflexionen über die gesellschaftliche Ordnung in Ständegesellschaften, spielt keinerlei Rolle. Auch ein Verweis auf eine durch geschichtliche Überlieferung gewachsene Adelslegitimität fehlt, mit Ausnahme vielleicht von Rochows knapper Bemerkung, dass das „Zeitdenken“ die „Gleichheit“ nicht mehr in der „Gleichheit des Rechtsschutzes der unterschiedlichen Rechte der Stände“ sehen will. Dieser fehlenden transzendentalen und historischen Adelslegitimation entsprach auch, dass keinerlei Vorstellungen über eine bestimmte Adelserziehung oder eine daraus hervorgehende Adelsethik geäußert wurden. Solche Vorstellungen waren aber für die historische Konstituierung und Legitimierung des Adels als „Stand“ wesentlich gewesen. Auf diesen drei Motiven hatte die adlige „Überzeugung vom Besitz hervorragender Eigenschaften“ beruht, die „ständig manifestiert“, aber „zuallererst einmal geweckt und hervorgeholt werden müssen“, um historisch-generativ weitergegeben werden zu können. Damit war seitens der Votanten jeder Versuch einer Rückbindung der Adelslegitimation an die seit dem frühen Mittelalter entwickelten „Tugendideale“ und die darauf aufbauende höfische Kultur unterblieben. Eine nachaufklärerische, strikt staatsfunktionell geprägte Sicht auf den Adel hatte sich durchgesetzt.109

Leitbilder der gesellschaftlichen Entwicklung Offensichtlich handelte es sich bei der Ablehnung der königlichen Pläne seitens des Staatsministeriums um einen Minimalkonsens. Das Ministerium bildete keine geschlossene Front, die durch Rochows „Votum“ und „Instruktion“ schon widerspruchslos vorformuliert worden wäre. Die für die Minister jeweils ausschlaggebenden Motive und Absichten wiesen vielmehr in teils entgegengesetzte Richtungen und offenbarten unterschiedliche Interessensschwerpunkte. Diese kamen in eigenen Gegenvorschlägen zum Ausdruck. Die Positionen der Minister unterschieden sich weniger in den aufgeführten Identitätsmerkmalen, welche als konstitutiv für den Adel erachtet wurden – darin konnte eine gewisse Übereinstimmung erzielt werden. Doch wichen sie in der Art ab, wie sie diese Merkmale in voneinander abweichenden „Erzählungen“ ins Spiel brachten und gewichteten. Die Minister waren jeder für sich danach bestrebt, Kontinuität und Wandel bezüglich der Adelsmerkmale in einen für den preußischen Fall sinnvollen Entwicklungs- und Funktionszusammenhang zu bringen. Besonders deutlich wurde dies vor allem daran, wie das seit dem 18. Jahrhundert veränderte Verhältnis von Adel und Staat zum Bestandteil einer Krisenanalyse und als Ausgangsperspektive einer zukünftigen Elitenformierung gewählt wurde. Drei grundsätzliche Positionen zeichneten sich innerhalb des Staatsministeriums ab und lassen sich im Wesentlichen nach den Stellungnahmen der Minister

109 Oexle, Aspekte, S. 35-41. Zur „Mentalität“ des Adels: Ebd., S. 21-26.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Rochow, Kamptz und Mühler skizzieren. Ihnen lagen unterschiedliche Auffassungen über die Ursachen der zeitgenössischen „Adelskrise“ zugrunde, und sie skizzierten entsprechend andere Lösungswege. Rochows Vorstellungen zu einer Adelsformierung lassen sich im Kern als „involutiv“ bezeichnen, indem der Adel vor allem nach eigenen und überkommenem Mustern stabilisiert werden sollte. Denn für Rochow bestand die neuere Adelsgeschichte vorwiegend aus „Verfall“: entsprechend musste der Adel gestützt, sollten die ständischen Unschärfen, die insbesondere durch die Reformgesetzgebung eingetreten waren, wieder rückgängig gemacht werden. „Altständisch“ waren sie allein in dem Sinne, dass die Erhaltung des Adels vor allem über eine schärfere „ständische“ Abgrenzung vom Bürgertum gesucht wurde, ohne dass dies eine politische Profilierung der Stände gegenüber der Krone eingeschlossen hätte. Dazu passte seine generelle Sympathie für entsprechende segregierende Bestimmungen des Eherechts, auch wenn dieser Punkt in seinem Votum und in seinem Instruktionsentwurf keine Rolle gespielt hatte. Auf dieser Grundlage war Rochow bereit, sich ein Stück weit auf Friedrich Wilhelms Neuadelsideen einzulassen. Kamptz deutete hingegen die neuere Adelsgeschichte in Preußen nicht als eine „Verfalls-, sondern vielmehr als „Transformationsgeschichte“; ausdrücklich wünschte er eine „evolutive“ Weiterentwicklung des Adelsinstituts durch die Aufnahme „verdienter“ neuer Mitglieder. Zwar ging Kamptz mit Rochow in dem Ziel eines neo-ständisch gefestigten und grundbesitzbasierten Adels konform, doch richtete er im Gegensatz zu Rochow sein Augenmerk mehr auf den „neuen“, zukünftig zu schaffenden, vor allem aber den Beamtenadel. Passend bevorzugte er für eine Grundbesitzsicherung die „modernere“ Form des Fideikommisses. Doch großer und ausgezeichneter Grundbesitz sollte nur gleichgewichtig zum Dienst für Staat und Krone eine Quelle möglicher Nobilitierung darstellen. Und im Gegensatz zu Rochow wollte Kamptz durch ein „reformiertes“ Eherecht die Grenzen zwischen Alt- und Neuadel schärfer ziehen. Diese Unterschiede traten noch deutlicher in den anschließenden Auseinandersetzungen um Rochows Instruktionsentwurf hervor. Mühler entwickelte gegenüber diesen beiden Votanten das radikalste weil dynamischste Entwicklungskonzept als Bestandteil eines über den Adel hinausweisenden Elitenmodells: Er zeigte überhaupt kein Interesse mehr an der Stützung des gutsbesitzenden Adels durch die Belebung alter, oder die Einführung neuer Formen der Grundbesitzbindung. Vielmehr entwickelte er die Vision einer „evolutiven“ Annäherung von Adel und höherem Bürgertum allein auf der Basis von „Dienst“ und „Verdienst“. Die wirtschaftliche Modernisierung und Dynamisierung in der Landwirtschaft und den Besitzverhältnissen wurde von ihm ausdrücklich begrüßt. Konsequent lehnte er die neuen „Bestimmungen“ mit der Begründung ab, „dass weder ein Bedürfnis vorhanden sey, noch dass es im Interesse des preuß. Adelsstandes liege, hinsichtlich der Vererblichkeit des künftigen neuen Adelsstandes eine von den bestehenden Gesetzen (ALR Th.II, Tit. 9, § 3 und § 11) abweichende Modification einzuführen, dass viel-



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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mehr das Ansehen des schon vorhandenen niederen Adels durch eine derartige Maaßregel eher gefährdet als gefördert werden möchte“.110

Mühler bezog sich in seiner Ablehnung also auf einen vollkommen anderen historischen und moralischen Begründungszusammenhang als Kamptz, und formulierte überhaupt ein radikal anderes Elitenkonzept. Nicht das Bürgertum habe sich dem Adel genähert, vielmehr habe dieser sich erfolgreich an ursprünglich bürgerliche Tugend- und Leistungsvorstellungen angepasst: In Preußen hat das Prinzip der intellektuellen und moralischen Entwicklung aller rein menschlichen und geistigen Kräfte des Volks sich eine primäre Geltung verschafft, es ist von allen Seiten, in allen Ständen gehegt und gepflegt, ihm verdanken alle Stände unendliche Wohlthaten, und das Ansehen dessen sich der Name unseres Vaterlandes in nähern und ferneren Auslande zu erfreuen hat, ist gewiß nicht als eine zufällige Erscheinung, sondern eine Frucht dieses zu Blut und Mark des ganzen Volkes gewordenen Systems anzusehen. Der Preußische Adel hat dieses Gemeingut mit demselben Eifer, der der höhere Bürgerstand in sich aufgenommen, in dem Bewußtsein, daß nicht der Glanz der Abkunft den Weg zu Ehrenstellen, zur Wohlfahrt und Auszeichnung eröffnet, daß vielmehr Geisteshaltung, Fleiß, Beharrlichkeit, Muth und alle die Tugenden, welche den Adel des Menschengeschlechtes bilden, zu den Vorzügen des Standes, [...], hinzutreten müssen, um diesen in dem rechten Lichte erscheinen zu lassen, hat einen Wetteifer in seinen Bestrebungen hervorgerufen, der ihn zu großer Ehre und dem Gedeihen der Wohlfahrt des Ganzen sehr zum Nutzen gereicht.111

Mühler entwarf also das Bild einer erfolgreichen Transformation des preußischen Adels, ja einer Elitensymbiose von Adel und höherem Bürgertum; eine „aktivische“ Deutung vor allem gegenüber den stark passiv gedachten Adelsstützungsvorschlägen Rochows: zwar habe der Adel an „Vorzügen seines Standes“ seit Beginn des Jahrhunderts verloren, doch machte Mühler dafür die „Gewalt der Zeitereignisse“, die „Richtung der Weltansicht“ verantwortlich, nicht eine mangelnde „Leistungsbereitschaft“ des Adels, oder gar die Art seiner Vererblichkeit. Diese allgemeine „Richtung der Verhältnisse“ fordere allerdings die „Nothwendigkeit außer den Standesvorzügen noch etwas zu besitzen, das sie unterstütze, ihnen Leben und Bedeutung gebe“. Für Mühler bestand dieses „Mehr“ an Standesauszeichnungen aber in moralisch-intellektuellen Leistungen, nicht in sozial-kulturell begründeten Lebensformen. Hatte Rochow durchaus Bedarf an „versöhnenden Maßnahmen“ zwischen Adel und Bürgertum gesehen, wollte Mühler von einer solchen Friktion nichts wissen – das „Bedürfnis“ zu einer neuen Adelspolitik läge weder in den Zuständen „unseres Vaterlandes“ noch in den „verschiedenen Klassen seiner Bevölkerung“:112

110 Vgl. die „Zusammenstellung“ von Rochow. 111 Vgl. Votum des Justizministers Mühler, 22. Januar 1841, in: GSTAPK, I.HA, Rep. 100, Nr.  3783, Bl. 24-46, hier Bl. 35. 112 Ebd., Bl. 34.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Wenn man hierbei die inneren Zustände unseres Landes und das Verhältnis der verschiedenen Stände für sich und zu einander, wie sie in der Gegenwart und in der nächsten Vergangenheit vorliegen, betrachtet, so dürfte die verneinende Beantwortung dieser Frage nach meinem Dafürhalten nicht bedenklich erscheinen.

Deshalb konnte Mühler „aus dem Gesichtspunkte des politischen Prinzips, welches unseren inneren Einrichtungen und namentlich der Volks-Erziehung zum Grunde liegt, nicht zugeben, daß ein Edelmann ohne Grundeigenthum den Staatszwecken weniger förderlich sei, als ein Edelmann mit Grundbesitz.“ Gerade der Grundadel habe doch in der „älteren Geschichte“ dem Landesherrn „schon viel zu schaffen gemacht und zu strengen Maßregeln genöthigt [...]“. Die neuere Geschichte habe dagegen doch gezeigt, dass das „in Bezug auf den Militärstand in dem Reglement vom 6. August 1808 (Mathis Bd. 6, S. 415) besonders ausgesprochene und in allen übrigen Zweigen der Staatsverwaltung stets befolgte Prinzip – daß Fähigkeit und eigenes Verdienst den Maßstab zur Anerkennung des Staats liefert – mit den besten Erfolgen gekrönt ward!“ Mit keinem Wort erwähnte Mühler die von Rochow angesprochenen Spannungen zwischen Adel und höherem Bürgerstand, nichts über das Verhältnis der Stände untereinander und der daraus entstammenden Adelskritik, vielmehr zeichnete Mühler das Bild eines ständeübergreifenden Konsenses betreffend den Leistungs- und Dienstethos in Adel wie höherem Bürgertum. So bleibt festzustellen, dass Mühler aus einer völlig entgegengesetzten Zielrichtung wie Rochow zu einer Ablehnung der königlichen Pläne kam – für Rochow waren diese offensichtlich zu „progressiv“, für Mühler zu sehr hemmend für eine „natürliche“ und den Erfolg des preußischen Staates notwendige Entwicklung des sich „organisch“ entwickelnden adlig-bürgerlichen Verhältnisses.

3.2.2.

Bleibende Dissonanzen: Die Auseinandersetzungen des Staatsministeriums um Rochows „Instruktionsentwurf“

Auch über das weitere Vorgehen gegenüber dem König zeigten sich deutliche Meinungsverschiedenheiten. Sollte man, falls der König bei seiner „Grundansicht“ bliebe, „in eine Erörterung darüber eingehen, welche Entwicklung das Project zu seiner practischen Ausführung bedürfe?“ Die Votanten blieben unbestimmt: Kamptz war bisher nur von einer Grundsatzentscheidung pro oder contra ausgegangen, und Alvensleben wollte eine Erörterung der von Rochow in seiner „Instruktion“ vorgeschlagenen Alternative erst vornehmen, wenn die Durchführung neuer Adelsgesetze endgültig entschieden sei. Wittgenstein und der ihm im Votum beitretende Stolberg sprachen sich dagegen ausdrücklich für eigene Vorschläge aus, da der Bericht „nicht in der in Frage stehenden Beschränkung“ erstattet werden könne.113

113 Vgl. „Zusammenstellung“ von Rochow.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Nun nahm wieder Mühler die deutlichste Gegenposition zu Rochow ein: sollte, wie Rochow in seinem Votum die anderen Mitglieder des Staatsministeriums hatte wissen lassen, der König tatsächlich bei den vorgenommenen „Modifikationen“ bleiben, gleich wie sich die Meinungsbildung im Staatsministerium entwickele, so sollten „die zur Sprache gebrachten Bedenken unverhohlen in aller Ehrerbietung vorgetragen und die Vorschläge nur als eventuelle Anträge der Allerhöchsten Entscheidung“ unterworfen werden, „um den Vorwurf abzuwenden, als ob eine Maaßregel, ungeachtet sie die Billigung Eines Hohen Staats-Ministerium nicht gefunden, dennoch Seine Majestät zur Allerhöchsten Sanktion unbedingt empfohlen worden sei“.114 Die Votanten konnten sich nun allein darauf einigen, dass für den Moment jede legislative Bestimmung zu vermeiden sei, so dass sich nicht bewährende Maßnahmen leicht durch weitere Gesetzesänderungen revidieren ließen. Darin folgten alle Voten dem gleichlautenden Vorschlag Rochows: es reiche vorerst völlig aus, die beschlossenen Dispositionen in die Adelsdiplome aufzunehmen und das Hausministerium mit entsprechenden Instruktionen auszustatten. Allerdings waren die Justizminister, insbesondere Mühler, sichtlich bemüht, jede Assoziation von Adel und Großgrundbesitz möglichst auszuschließen. Mühler wandte sich explizit gegen Rochows Vorschlag, bei der Begutachtung der „Adelsfähigkeit“ von Rittergutsbesitzern die adligen Mitglieder der Kreistage zu Rate zu ziehen. So setzten die Justizminister auf Initiative Mühlers durch, dass im §4 des Instruktionsentwurfs die Formulierung „[…] der in solcher Weise die Vererbung des Adels bedingende Grundbesitz [...]“ statt: „der den Adel verleihende Grundbesitz“ eingeführt wurde. Offenbar sollte jeder Eindruck vermieden werden, dass der Adel allein durch eine Grundbesitzqualifikation dem Besitzenden zukäme – Grundbesitz könne immer nur Voraussetzung sein, doch der aktive Wille und die freie Entscheidung zur Nobilitierung sollte beim Monarchen verbleiben.115 Zum selben Paragraphen forderte Kamptz noch eine Klärung des Begriffes „Standesgenossen“, welche ja über den notwendigen (standesgemäßen) Umfang eines Grundbesitzes zu urteilen hätten. Kamptz plädierte für eine Klärung im Sinne gemeinter adliger Standesgenossen, da dieser Passus ja über die Fortdauer des fraglichen Adels in der nächsten Generation entscheiden sollte – sein Interesse an einer Stärkung des alten Adels markierte in diesem Punkt erneut seine Differenz zu Mühler. Denn der wollte jedes Kriterium „standesgemäßer“ Einkommensverhältnisse gestrichen sehen, wie auch die von Rochow vorgesehene Entscheidungsbefugnis der Kreistagsmitglieder darüber: „Eine solche Erörterung und Entscheidung gehört nicht zu der Funktion der Kreistage, der in adelsarmen Gegenden dazu mitunter auch wohl keine hinreichende Zahl von Standesgenossen haben mag.“ Außerdem hielt es

114 Vgl. Votum des Justizministers Mühler, 22. Januar 1841, in: GSTAPK, I.HA, Rep. 100, Nr.  3783, Bl. 24-46, hier Bl. 40. 115 Ebd., Bl. 41 sowie die „Zusammenstellung“ Rochows.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Mühler für falsch, allein das einen standesgemäßen Unterhalt garantierende Einkommen des Grundbesitzes als Kriterium zu behandeln, „[...] da der Besitzer noch andere Vermögen besitzen kann, um das Fehlende zu ergänzen.“ Überhaupt, so Mühler: „Ist das Rittergut hinreichend gewesen, den Vater zu erhalten, hat es überhaupt nur das Recht der Standschaft, so muß dies auch ohne weitere Untersuchung, um so mehr zur Konversation des Adels hinreichen, als der Begriff eines standesgemäßen Unterhalts nach Ort, Zeit und Lebensumständen etwas sehr Schwankendes enthält [...]“, wie dies auch durch die sparsame oder verschwenderische Wirtschaftsweise des Besitzers und das Steigen und Fallen der Preise der landwirtschaftlichen Produkte bedingt sei. Mühler wies im Folgenden Rochows modifizierend-primogenitale Sukzessionsordnung zurück, denn diese kollidiere mit dem im Erbrecht vorgesehenen Pflichtteilberechtigungen aller Kinder. Nur durch ein besonderes Gesetz oder eine förmliche Fideikommissstiftung könne dies umgangen werden. Handele es sich aber bei dem betreffenden Grundbesitz um ein Lehen, so griffen im Falle eines „Alten Lehens“ die Provinzialrechte, die eine Bevorzugung nur eines Erben im Sinne der modifizierten Adelsgesetze nicht zuließen – denn Majorats-, Minorats- und PrimogeniturSukzessionsordnungen bedürften immer besonderer Stiftungen. Im Falle von Neulehen würden bezüglich der Vererbung die Bestimmungen eines Allodgutes gelten.116 Rochow verwahrte sich gegen den Einwand Mühlers bezüglich des § 5 seines „Instruktionsentwurfs“, dass dieser den Erblasser in seinen Dispositionen zu sehr beschränke: denn diese Beschränkung betreffe nicht den eigentlichen Erbfall, sondern nur die Bedingungen der Vererbung des Adels mit der Sukzession in das Gut. Ein Eingriff in das Erbfolgerecht finde durch den gedachten Paragraphen nicht statt, denn es könne ja gegen diesen gehandelt werden – die einzige Folge wäre, dass der Adel nicht mit vererbt würde. Diese Bestimmung könne in die Adelsdiplome aufgenommen werden, ohne dass es dazu einer gesetzlichen „Sanction und Publication“ bedürfe.117 Ein weiterer Konflikt zwischen Rochow und Mühler tat sich bezüglich des vorgesehenen § 7 auf, der vorsah, dass einmal erloschener Adel durch den nachträglichen Erwerb eines Rittergutes nicht aufleben solle. Allerdings wollte Rochow diesbezüglich eine Ausnahme zulassen, indem im Erbfall eines qualifizierenden Gutes von Bruder zu Bruder ebenso der Adel auf den Bruder übergehen solle. Für Mühler stellte sich dies als „Anomalie“ in Vergleich zum „normalen“ Erbvorgang von Vater auf den Sohn dar – würde dies zugelassen, bestünde auch kein Grund, warum diese Regelung nicht auch auf Brudersöhne und Enkel ausgedehnt werden sollte.118 Sodann monierten die

116 Vgl. Votum des Justizministers Mühler, 22. Januar 1841, in: GSTAPK, I.HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 24-46, hier Bl. 43-44. Mühler berief sich dabei auf die §§ 380, 387, 385 Tit. 18, Teil I in Verbindung mit §§ 50, 62ff des Allgemeinen Landrechts. 117 Vgl. „Zusammenstellung“ Rochows. 118 Vgl. Votum des Justizministers Mühler, 22. Januar 1841, in: GSTAPK, I.HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 24-46, hier Bl. 44.



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Justizminister Rochows im §8 geforderte Verschuldungsbeschränkung auf die Hälfte der ritterschaftlichen oder gerichtlichen Taxe für qualifizierenden Grundbesitz. Dies sei nur von geringem Nutzen und würde im Gegenteil den Realkredit des „Neuen Adels“ zu Grunde richten: wie tief schon der bestehende Gutsadel, z.B. in Schlesien, die „Kreditlosigkeit seines Grundbesitzes empfunden“ habe, läge noch „in frischem Andenken“ und wäre „aus der Hülfe leistenden Verordnung vom 8. Juni 1835“ zu ersehen.119 Rochow hielt dem entgegen, dass der Realkredit auf das Gut durch diese Bestimmung keineswegs beeinträchtigt würde, da bei Überschuldung allein der auf den Realkredit einflusslose Adelsverlust eintreten würde. Umgekehrt werde vielmehr bei Verzicht auf jegliches Sanktionsmittel gegen die übermäßige Überschuldung des Gutes, mit welchem die Vererbung des Adels verbunden sein solle, die „ganze Anordnung welche den Adel an den Besitz des Rittergutes bindet illusorisch“.120 Zuletzt sprachen sich die Justizminister noch unisono gegen die unter § 11 im „Instruktionsentwurf“ ausgesprochene Möglichkeit aus, dass der Neue Adel anstelle seines „Geschlechtsnamens“ den Namen des besessenen Gutes annehme. Dies könne zu „Verdunkelungen“ führen, womit Mühler auf eine mögliche Verwechslungsgefahr mit historischen Adelsnamen anspielte, die oftmals ja von denselben Orts- und Flurnamen abgeleitet wären. Das ALR (Th.II, Tit. 9, § 45) gestatte den Gutsbesitzern ohnehin schon, sich nach ihrem Gut zu nennen und in Urkunden und öffentlichen Gelegenheiten sich des Gutsnamens als eines besonderen Titels zu bedienen. Kamptz monierte auch die umgekehrte Möglichkeit der Namensübertragung der neuadligen Besitzer auf das Gut. Dem hielt Rochow nur entgegen, dass diese Bestimmungen auf die Willensäußerungen des Monarchen zurückgingen, und stellte zur Diskussion, ob in dem abzufassenden Berichte diese Namensbestimmungen als bedenklich bezeichnet und geraten werden, davon Abstand zu nehmen. In seiner „Zusammenstellung“, die als Tischvorlage für die abschließende staatsministerielle Beratung diente, konnte Rochow zu diesem Meinungsaustausch abschließend nur festhalten, dass lediglich die Vererbungsbestimmungen für den Freiherrn- und Grafenstand vorsichtige Zustimmung seitens der Minister gefunden hätten.121

119 Vgl. Gesetzsammlung, 1835, S. 104 120 Vgl. „Zusammenstellung“ Rochows. 121 Im August 1841 erklärte der König in einem Schreiben an das Ministerium des königlichen Hauses, dass zukünftig und bei den Erhebungen anlässlich der Huldigung die Vererbung in den Grafen und Freiherrnstand nach Vorbild der Standeserhöhung des Geheimen Legationsrats v. Arnim verlaufen solle – dieser Heinrich Friedrich v. Arnim aus dem Haus Heinrichsdorff und Werbelow war 1841 nach dem Recht der Erstgeburt gegraft worden. Als Ausnahme von dieser Regelung wollte Friedrich Wilhelm allein den Fall des Ober-Landesgerichtsrats v. Amstetter behandelt wissen, da bei ihm ein schon früher bestandener Freiherrnstand anerkannt worden sei: „Was die Anfrage wegen der standesmäßigen Ehe betrifft, so will Ich, abweichend von den landrechtlichen Vorschriften, anordnen, daß bei den von Mir in den Grafen-und FreiherrnStand erhobenen Personen eine solche nur dann anzunehmen ist, wenn sie sich mit Adlichen vermählen und daß nur unter dieser Bedingung die Ver-

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

3.3. Die Neudeutung historischer Gehalte von „Adligkeit“: Die Adelskommission als Gremium „sozialer Ingenieure“ Die abschließende Debatte und der Bericht des Staatsministeriums Nachdem das Staatsministerium in seinem Votenaustausch seine kontroversen Positionen festgestellt hatte, konnte Prinz Wilhelm von Preußen seinem Bruder am 12. März 1841 endlich mitteilen dass die Angelegenheit zur mündlichen Beratung gediehen sei. Diese fand dann am 16. desselben Monats statt.122 Bei dieser Beratung des Staatsministeriums waren neben dem Prinzen von Preußen, dem Innenminister v. Rochow, dem Wirklichen Geheimen Rat und Mitglied des Staatsministeriums Graf zu StolbergWernigerode, dem frisch berufenen Kriegsminister General der Infanterie Hermann v. Boyen (seit dem 1.3.1841), dem Staatsminister ohne Ressort Christian v. Rother, dem Finanzminister Albrecht Graf v. Alvensleben, dem Kultusminister Friedrich Eichhorn, dem Außenminister Heinrich Freiherr v. Werther noch der Kabinettsminister und General Ludwig Gustav v. Thile anwesend. Dazu trat, in Vertretung des Hausministers Wittgenstein, der Leiter der 2. Abteilung des Hausministeriums und Staatsminister Philipp v. Ladenberg.123 Auffällig ist das Fehlen der beiden Justizminister und eifrigen Votanten in der Adelsangelegenheit, Mühler und Kamptz.124 Nachdem die vor der Sitzung angefertigten Voten mit ihren „Bedenken“ ausführlich dargestellt worden waren, trug Prinz Wilhelm die Motive seines Bruders für die neuen Adelsbestimmungen noch einmal mit dem Hinweis vor, es „[...] fehle selbst nicht an Beispielen, dass Mitglieder adlicher Familien in der Armee als Gemeine die volle Dienstzeit hindurch zu dienen hätten, weil Mangel an Mitteln und Erziehung

erbung des Grafen-oder Freiherrn-Standes auf ihre Nachkommen eintreten soll.“ gez. FW., Sanssouci, 28. August, vgl. GSTAPK Rep. 89 Band1 (2.2.1) Nr. 919 (Allgemeine Bestimmungen in Adelssachen und Inhaltsverzeichnis der Akten über allgemeine Bestimmungen 1824-1874, bzw. 1798-1915), Bl. 53. Zur genaueren Auseinandersetzung über die Adelspolitik und die Reaktion der Betroffenen betr. der Bestimmung der Notwendigkeit adliger Ehepartner zu Vererbung der höheren Titel, siehe Ebd., Bl. 94-95. 122 Ebenfalls am 12. März 1841 bat das Staatsministerium den König um Entschuldigung für die Verzögerungen der Beratungen und kündigte baldige Erledigung an, vgl. GSTAPK Rep. 89 Band 1, Nr. 919 (Allgemeine Bestimmungen in Adelssachen 1824-1874, bzw.1798-1915), Bl. 49. 123 Wie schon oben bemerkt, nahm Wittgenstein wegen seiner Sonderstellung als Minis­ter des königlichen Hauses (Hausministerium) fast nie an den Sitzungen des Staatsminis­teriums teil. 124 Die Ergebnisse der Beratung vom 16. März schlugen sich in einem vom 31.3.1841 datierten Bericht nieder. Vgl. Reinschrift des Protokolls vom 16. März in Rep. 100 Nr. 3783 (Ministerium des königlichen Hauses. Verhandlungen des Staatsministeriums über den Adel 1840-1846), Bl. 51-58. Dazu hatte Rochow eine „Zusammenstellung“ verfasst, welche die einzelnen Stellungnahmen der Voten der Minister aufnahm und thematisch gliederte. Ein Konzept dieses Berichts befindet sich in GSTAPK Rep. 100 Nr. 3783 Bl. 59-86. Die Reinschrift des Berichts in GSTAPK Rep. 100, Nr. 3786 (Kabinettsverhandlungen über den Adel 1841-1846), Bl. 1-15. Das Protokoll dieser Sitzung und der sich daran anschließende Bericht wurden von Heinz Reif aus den Beständen des Innenministeriums (GSTAPK Rep. 77 tit. 1108, Nr. 31, Bd. 1) editiert: Ders., Friedrich Wilhelm IV., S. 1099-1101.



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ihnen die Qualifikation zum einjährigen Dienste unmöglich gemacht habe“. Trotzdem einigte sich die Versammlung darauf, „dass zur Aufstellung neuer Principien in der gedachten Beziehung ein Bedürfnis nicht vorliege; dass aber die Art und Weise, wie die Standes-Erhöhungen – die höchste Gnadenbezeigung, welche dem Unterthan werden könne – ertheilt würden, dem Ansehen des Adels förderlich oder auch nachtheilig sein könnten […]“. Deshalb empfahl die Versammlung lediglich, bei zukünftigen Nobilitierungen die „dabei ausgezeichneten Verdienste und eine mit ihnen zusammentreffende günstige äußere Lage […] vorzugsweise zu berücksichtigen [...]“.125 Auch ohne die Aufstellung „bindender Normen über zu beobachtende Principien“ solle „dieser Gesichtspunct in den einzelnen Fällen künftiger Adelsverleihung festgehalten“ werden. Die bei den Huldigungen ausgesprochenen beschränkten Standeserhöhungen bräuchten nicht formell widerrufen werden; es genüge, „sie, wie Zeit und Veranlassung es mit sich bringe, ausgleichend nach und nach außer Wirkung zu setzen“. Abschließend drängte das Staatsministerium darauf, unabhängig ob und wie der König die „Bedenken“ des Staatsministeriums schließlich berücksichtigen werde, „Seine Majestät zu bitten, wenn Allerhöchstdieselben bei den gefassten Entschließungen verbleiben möchten, legislative Maßregeln zu vermeiden“.126 Von den unerachtet der jeweiligen adelspolitischen Stoßrichtung doch recht differenzierten Stellungnahmen der Ministervoten war in dieser Sitzung nichts mehr zu verspüren. Das Protokoll der Sitzung und der anschließende Bericht des Staatsministeriums vom 31. März 1841 geben nichts von den vorausgegangenen Kontroversen wieder, wie sie sich im Austausch der Voten niedergeschlagen hatten. Insbesondere der Bericht beschränkte sich auf ein rein abwehrendes Fazit des Staatsministeriums. Er überspielte die deutliche Kluft der Votanten, suggerierte sogar einen Konsens des Ministeriums, der in seiner Zielrichtung scheinbar einmütig auf ein „Dienstadelskonzept“ setzte, wie es vor allem Mühlers Votum vorgezeichnet hatte.127 So wurden in dem Bericht die „angenommenen Übel“, die durch die neuen Adelsgesetze behoben werden sollten, nämlich die „Verarmung eines Theils des Adels“, der „Mangel einer politischen Stellung“ und ein „nicht ausreichend vermitteltes Verhältnis zu dem höheren Bürgerstande“ relativiert oder völlig geleugnet.128 Zwar könne das Problem der Verarmung von Teilen des Adels nicht negiert werden, aber es „trete nur in vereinzelten Erscheinungen greller hervor“. Ebenso hätten die Klagen

125 Protokoll des königlichen Staatsministeriums, 16.3.1841, zit. nach: Reif, Friedrich Wilhelm IV., S. 1100. 126 Ebd., S. 1101. 127 Unterzeichnet war der Bericht durch alle Mitglieder des Staatsministeriums sowie dem Prinzen v. Preußen als Vorsitzendem des Staatsministeriums. Die einzige Ausnahme bildete Heinrich Theodor v. Schön, der als Staatsminister ohne Ressort mit Sitz und Stimme ins Staatsministerium berufen war, doch aufgrund seiner Tätigkeit als Oberpräsident der Provinz Preußen nur selten in Berlin weilte. 128 Bericht des Staatsministeriums an den König, Berlin 31.3.1841, zit. nach: Reif, Friedrich Wilhelm IV., S. 1106.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

über „unfriedfertige“ Beziehungen „des Adels zum höheren Bürgerstande“, „sei es im Ganzen oder im Einzelnen“, „ihren Grund in der Regel in politischen Zeit-Ansichten“ – diese hätten aber „bereits in den letzten Jahren eine Läuterung sichtbar erfahren, und je mehr von der Zukunft Besonnenheit und gründlichere Einsicht in die öffentlichen Verhältnisse, insbesondere im Vaterlande, zu hoffen ist, desto zuversichtlicher steht zu erwarten, dass […] es ohne äußere Mittel, durch welche ihm schwer beizukommen ist, verschwinden werde“. Die schärfste Abweichung von den Voten trat aber wieder bezüglich des Grundbesitzkriteriums auf: während der Beratung vom 16. März wurden die Anregungen Rochows und Kamptz’ zu einer Stärkung des Grundbesitzbindung im Adel völlig ignoriert. Und hatte selbst Stolberg in allgemeinen Worten eine solche Stärkung befürwortet und Wittgenstein zumindest für die Fälle nobilitierter Grundbesitzer nicht widersprochen, so erklärte der Bericht nun eine solche Verbindung als völlig irrelevant, ja sogar schädlich für die politische Stellung des Adels! Die Förderung einer „nähere[n] Beziehung des Adels zu dem rittermäßigen Grund-Eigenthum würde dem ersteren immer kein unmittelbares sondern nur ein mittelbares politisches Element geben können“, da in Preußen, insbesondere seit der Reformzeit, „die politische Verfassung des Landes […] auf die dem Grundbesitz beigelegte Bedeutung basiert“ – diese Argumentation bildeten den denkbar stärksten Kontrast zu den Überzeugungen Rochows, der ja in seinem Votum genau umgekehrt argumentiert hatte: im ancien régime hätte der Grundbesitz in der Hand eines Teils des Adels ausgereicht, um dem gesamten Adelsstand politische Bedeutung zu geben! Der Bericht hingegen behauptete nun, dass der „wichtigste Träger für die politische Bedeutung des Adels […] aber der Adel der Gesinnung und der Grundsätze und die Höhe der intellectuelle[n] Ausbildung“ bliebe. Selbst ohne in „Gesetz und in der Verfassung gegründete Formen“ sei deshalb dem Adel „ein Einfluss geworden“, der auch „durch eine nähere Beziehung zum Grund-Eigenthum anscheinend nicht gesteigert werden würde“! Umgekehrt, so der Bericht, würde eine engere Beziehung zum Grundbesitz den Adel verleiten können, sich aus den „landesherrlichen Diensten“ zurückzuziehen – und damit ginge ihm „für seinen Einfluss und seine Geltung in politischer Beziehung die nächste Richtung verloren“. Der Bericht hatte also nicht nur die vom König vorgegebene Ausgangsargumentation in ihr Gegenteil verkehrt, sondern selbst die von den Ministerkollegen Rochow und Kamptz, sowie in geringerem Maße von Stolberg geforderte Unterstützung adliger Grundbesitzbindung ad absurdum geführt. Die Argumente der Justizminister (und Wittgensteins) mit ihrer Präferenz für den Beamten- und Dienstadel, und vor allem Mühlers teleologische Legitimation der jüngeren preußischen Adels- und Elitenentwicklung als potentieller Fusion von Adel und Bürgertums durch Bildung und Dienst hatten sich voll durchgesetzt. Auf die „altadligen“ Wünsche von Rochow und Kamptz nach einer Stützungspolitik des angesessenen Adels war keine Rücksicht genommen worden.



3.3.1.

3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Die Bildung der Adelskommission

Wie aber ist dieses Ergebnis im Bericht des Staatsministeriums zu werten? Waren die vorausgegangenen Schauerwetter der Argumente im Austausch der Voten nur Theaterdonner gewesen um die königlichen Vorstellungen zu perforieren und schließlich zu unterlaufen? Oder widerspiegelten sich in ihnen tatsächliche Positionsunterschiede und Interessenkonflikte innerhalb der Regierungsspitzen des preußischen Staates? Für die zweite Annahme spricht, dass sich diese unterschiedlichen Auffassungen und Erwartungshaltungen bezüglich des preußischen Adels im weiteren Verlauf der vormärzlichen Adelsdebatte auch zwischen ganz anderen Personen-Konstellationen hartnäckig erhielten – und diese Uneinigkeit der „Opponenten“ erlaubte es dem König schließlich sogar, die Adelsdebatte bis 1847/48 voranzutreiben und fast zu einem Abschluss zu bringen. Denn mit der negativen Stellungnahme des Staatsministeriums gab sich der Monarch noch lange nicht geschlagen. Friedrich Wilhelm griff nun eine Anregung auf, die der Vetter des Innenministers, den ihm seit der Zeit der Ständeopposition von 1820 bekannten Adolf v. Rochow, schon um die Jahreswende 1840/41 vorgebracht hatte: die Bildung einer hochkarätig besetzten Kommission, um Grundsätze und Leitlinien zur Überwindung der bisherigen inkonsistenten und inkonsequenten Adelspolitik in Preußen zu entwickeln. Dieser Vorschlag Adolf v. Rochows ist ihm vermutlich über den Innenminister zugetragen worden.129 Im Gegensatz zu seinem Vetter Gustav v. Rochow betonte Adolf in dieser Denkschrift, in der er sich auch auf die ältere und jüngere adelspolitische Literatur stützte, die Bedeutung der adligen Gesinnung.130 Grundbesitz sei zur Ausbildung dieser

129 Adolf v. Rochows Denkschrift findet sich im Nachlass seines Vetters Gustav. Die Gründe der damaligen Adelskrise sah Adolf in „Zufälligkeiten“, denn: [...] „vorübergehende Rücksichten der Eitelkeit, Convenienz und dergl. mehr haben einen zahlreichen Briefadel ohne illustre Abstammung, ohne die Einwirkung historischer Tradition, ohne Besitz und Vermögen geschaffen, der sich selbst und der Gesellschaft zur Last ist [...].“ Die Erstellung von Nobilitierungsgrundsätzen sei daher sehr wünschenswert, aber das Grundbesitzkriterium würde allein nicht genügen, da „das geistige Element im Adel […] nie unberührt bleiben [darf]“. Deshalb würde „Das Prinzip, welches bei den letzten Standeserhöhungen in Königsberg und Berlin hervorgetreten, […] noch der Ausbildung bedürfen.“ Vgl. die „Denkschrift über einige nothwendige Maaßregeln in Bezug auf den Adel“. Adolf v. Rochow hatte diese undatierte Schrift vermutlich kurz nach der Huldigung von Berlin verfasst. Vgl. GSTAPK Rep. 92 Nachlass Gustav v. Rochow, Nr. A III Nr. 10. (betr. Denkschriften Adolfs v. Rochow über die Ausbildung der Söhne der angesessenen Ritterschaft der Mark Brandenburg und über die Stellung des Adels 1821,1823), Bl. 33-61, hier Bl. 47f. 130 So zitierte er u.a. die 1835 von F. W. D. v. Geisler verfasste Schrift „Über den Adel als einen zur Vermittelung zwischen Monarchie und Demokratie nothwendigen Volksbestandtheil, und über die Landtags-Ritterschaft der Provinzial-Stände in der Preußischen Monarchie und der Rheinprovinz insbesondere“, Minden 1835. Außerdem die anonym erschienene Schrift „Über den deutschen Adel“, Quedlinburg 1836. Letztere Druckschrift fasste ihrerseits die gesamte adelsreformerische Literatur seit

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Gesinnung zwar förderlich und historisch sogar deren Voraussetzung gewesen; doch wo sie sich einmal gebildet habe, da könne sie schließlich auch ohne Grundbesitz weiter aufrecht erhalten werden. Trotzdem seien die zwei „Hauptansatzpunkte“ einer Adelspolitik auch weiterhin Gesinnung und Grundbesitz. Der Adel müsse sich jedoch über seine Gesinnung für den bevorrechteten Grundbesitz qualifizieren – und dazu müsse die rechtliche und symbolische Privilegierung über Hofämter, Ehrenvorzüge, der besondere Gerichtsstand, ein besonderes Erbrecht, vor allem aber das ausdrückliche Verbot zu Handwerken beitragen. Ohne diese sozialständischen Restbestände adliger Privilegierung, bzw. Hervorhebung müsse schließlich auch das Bewusstsein einer besonderen Abstammung verschwinden. Aufgrund dieser Auffassung des Verhältnisses zwischen adliger Gesinnung und beruflich-wirtschaftlicher Basis widmete Adolf v. Rochow einen großen Teil seiner Denkschrift der Frage der Adelsaberkennung, die sich einerseits an den österreichischen Bestimmungen des Adelsverlustes für Beamte orientieren solle. Andererseits müsse vom Adel zukünftig verlangt werden, dass er seine Gewerbe bei der Ortspolizei eigens anmelde und beaufsichtigen lasse. Überhaupt solle eine Adelsbehörde, ähnlich der Medizinal- und Handelskammern, bzw. der Bergwerksgerichte und Ordenskommissionen zur Oberaufsicht des Adels eingerichtet werden. Das Heroldsamt in England könne dazu beispielgebend sein, um so mehr als ähnliche Einrichtungen auch in anderen deutschen Bundesstaaten wie Hannover vorbereitet würden. Bayern verfüge längst über eine Adelsmatrikel, und in Holland würden die ProvinzialRitterschaften durch einen „hooger Raat van Adel“ kontrolliert.131 Eine solchermaßen konsistent formulierte und behördlich kontrollierte Nobilitierungs- und Adelspolitik könne dem Problem des bisher pauschal anerkannten „ausländischen Adels“ (vor allem des zahlreichen russischen Dienstadels) steuern, und zugleich die innerdeutschen Adelsverhältnisse (durch begleitende Initiativen des Bundestages) angleichen helfen. Zur Vorbereitung einer solchen neuen Adelspolitik empfahl Adolf v. Rochow abschließend die Einrichtung einer Kommission adliger „kenntnisreicher“ Männer, um diese Fragen grundlegend zu begutachten. Wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Stellungnahme beauftragte der König am 21. Juli 1841 seinen alten Freund und Vertrauten, den Staatsminister Anton Graf zu Stolberg in seiner Funktion als Oberrevisionsrat mit dem Vorsitz einer solchen Kommission.132 Das Aufgabenfeld dieser Kommission wurde durch Friedrich Wilhelm denkbar weit definiert:

Justus Möser zusammen, und begründete aus dieser Zusammenschau, dass der geistige Boden für eine Adelsreform in Deutschland offenbar bereitet sei. 131 Bei der Behandlung der Adelsangelegenheiten seien die Zustände der deutschen und „germanischen“ Nachbarländer besonders beachtenswert, worüber Adolf v. Rochow nach eigener Aussage eine „umfassende sehr interessante Collection gesammelt hat“. 132 Vgl. das Schreiben des Kabinettsministers Thiles im Auftrag des Königs an Stolberg, Berlin 21. Juli 1841, mit beiliegendem Bericht des Staatsministeriums vom 31. März 1841, in: GSTAPK, I. HA, Rep.



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Die Aufgabe der Commission soll zunächst die Beleuchtung des Verhältnisses seyn, in welchem das von Mir beabsichtigte Vererbungs-Princip bei neuen adlichen Geschlechtern und die unmittelbare an den Grundbesitz geknüpfte Bedingung ihres Fortbestehens als solche sowohl zu dem historischen Karakter des deutschen Adels überhaupt, als zu dem Bedürfniß der Gegenwart u. zu den Anforderungen seht, die an den Adel heutiger Zeit nach seiner politischen Stellung und seinem wahren Beruf in der Monarchie gerichtet werden müssen. [...]. Sollte die Commission sich veranlaßt finden, auf Modificationen der, bei den Standeserhöhungen im vorigen Jahre beobachteten Grundsätze aufmerksam zu machen, von welchen sie eine leichtere und sichere Erreichung des von Mir beabsichtigten Zweckes erwarten zu dürfen glaubt, dem inländischen Adels-Institut diejenige intensive Kräftigung zu gewähren, die ihn zu seiner politischen Berufung in der Monarchie immer geeigneter machen kann, so erwarte Ich ihre Ansichten darüber, eben so wie Ich Mir vorbehalte, selbiger im Laufe ihrer Arbeiten noch verschiedene Gesichtspunkte anzudeuten, die sie in dem Kreis ihrer Erwägungen zu ziehen haben wird.

Hier wurde also ein umfassendes historisches Gutachten angefordert, das zugleich dazu dienen konnte, die beabsichtigte neuständische königliche Politik in die Geschichte rückzubinden und dadurch (nach der historisch-romantischen Vorstellung des Königs) zu legitimieren. Die Kommission wurde zu völliger Verschwiegenheit über ihre Arbeit verpflichtet, um „falsche Gerüchte“ und „voreilige Beurteilungen“ auszuschließen.

Die Mitglieder der Adelskommission Ganz nach den Empfehlungen Adolf v. Rochows wählte Friedrich Wilhelm eine Reihe adliger Kommissionsmitglieder, die sich schon durch adels- und ständehistorische Interessen und Beschäftigungen ausgezeichnet hatten.133 Der designierte Kommissionsvorsitzende Stolberg selbst hatte schon in seiner Jugendzeit mit Friedrich Wilhelm adelsreformerische Ideen ausgetauscht.134 Stolberg, als Staatsminister ohne Porte-

100, Nr. 3786, Bl. 16-17. Das Konzept des Schreibens befindet sich in: GSTAPK, I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 1. Stolberg hatte Sitz und Stimme im Staatsministerium, aber nicht als Staatsminister, sondern fungierte dort nur als Stellvertreter des Hausministers Wittgenstein. 133 Vgl. Korrespondenz über Ernennung der Kommission unter Stolberg zu Beratung der Grundsätze über Adelsverleihungen GSTAPK Rep. 89, Nr. 919, Bl. 50-52. 134 „Im Jahre 1820 entwarf er [Stolberg, G. H.] vermutlich auf eine Frage des Kronprinzen ein Bild von dem Wesen und den Pflichten des Adels, bei dem noch jugendlicher Idealismus den Pinsel führte: Der Adel hat in erster Linie Pflichten, erst aus diesen heraus erwachsen ihm dann Vorrechte. Er muß den Schutz des Vaterlandes und insbesondere des Königshauses übernehmen, streng die Ritterlichkeit üben und allen Bedrängten Hilfe leisten. An Stelle der vielen besoldeten Diener soll er das Bindeglied zwischen König und Volk sein. Der Adel in seiner jetzigen Gestalt könne aber diese Aufgaben nicht mehr erfüllen. Die Schuld liegt im religiösen Verfall, in der wirtschaftlichen Verarmung und in der Einverleibung ungeeigneter Elemente. Ein Wort des Königs jedoch wird genügen, damit sich Ausschüsse bilden, die die Wiederbelebung und Wiedergeburt des Adels übernehmen.“ [...] „Gebrechen und Verbrechen müssen bestraft, adliges Wesen gehoben werden. Er lebe seit 10 Jahren in diesen Ideen.“ Vgl. Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode, Anton Graf zu Stolberg-Wernigerode. Ein Freund und Ratgeber König Friedrich Wilhelms IV., München/Berlin 1926, S. 18, 32. Stolberg war,

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

feuille, bildete zudem ein Scharnier zwischen den politischen und administrativen Spitzen und denjenigen Kommissionsmitgliedern, die verschiedene Faktionen der den König schon seit der Kronprinzenzeit umgebenden Entourage repräsentierten.135 Zusammen mit Stolberg kann das Kommissionsmitglied Ludwig Gustav v. Thile der Gruppierung der „ministeriellen Pietisten“ zugezählt werden.136 Mit dem König teilte diese Gruppierung die tiefe Überzeugung einer göttlichen Legitimation des absoluten, unumschränkt herrschenden Königtums. Ohne in den „christlich-germanischen“ Staatstheorien eines Karl Ludwig v. Haller oder Friedrich Julius Stahl näher bewandert zu sein, unterstützte Stolberg vor diesem Motivationshintergrund Friedrich Wilhelms ständische Ideen rückhaltlos.137 Für den Vorsitz der Adelskommission qualifizierte ihn zudem, dass er nicht wie die meisten Mitglieder der königlichen Entourage den Monarchen mit eigenen Ideen bedrängte. Stolberg, wie die ganze Gruppe „ministerialer Pietisten“, zeigte sich vielmehr bestrebt, der Zielsetzung des Königs loyal zu folgen.138 Das stark pietistisch geprägte Kommissionsmitglied Karl Wilhelm v. Deleuze de Lancizolle könnte ebenfalls zu dieser Gruppe gezählt werden.139 In der Adelskom-

nach dem er in den 1820er Jahren als Landrat des Kreises Landeshut in Schlesien gewirkt hatte, in ständischen Angelegenheiten 1833 als königlicher Commissarius zum Rheinischen Provinziallandtag gesandt worden. 135 Die eigentliche „Kamarilla“ Friedrich Wilhelms IV. bildete die Gruppe um Leopold v. Gerlach (1790-1861), dessen Bruder Ernst Ludwig (1795-1877) und Karl v. Voß-Buch, zu denen noch die hoffernen Journalisten Ernst Wilhelm Hengstenberg, der Historiker Heinrich Leo und der Theologe Carl Friedrich Göschel zu zählen sind. Sie teilten wie Stolberg, Thile und Lancizolle mit dem König die staatshistorischen Ideen eines ständisch aufgebauten „christlich-germanischen“ Staates, waren aber anders als Stolberg und Thile ideologisch gefestigter und politisch entschlossen, eigene Pläne zu verfolgen. Voller Abneigung sahen sie in den „höfischen Bürokraten“ Gustav v. Rochow bis Wittgenstein ihre eigentlichen Gegner. 136 Ludwig Gustav v. Thile (1781-1852) durchlief eine militärische Karriere, bevor er 1812 in Nachfolge Boyens als vortragender Adjutant beim König bestellt wurde. Zuständig zugleich für alle persönlichen Angelegenheiten im militärischen Departement bildete er ein Scharnier zwischen den Militärreformern um Scharnhorst, dem König und der Armee. 1816 wurde eine Duellforderung für ihn Anlass, seinen schon ausgeprägten religiösen Neigungen weiter zu folgen und sich dem Studium der Bibel intensiv zu widmen („Bibel-Thile“). Streng pietistisch und konservativ lehnte er doch die stark materialistisch argumentierende machtkonservative Lehre Hallers ab, und wandte sich – wohl auch durch die prägenden Erfahrungen unter Scharnhorst – gegen eine zu scharfe Scheidung der Stände, auch wenn der Adel aus geburtslegitimen Gründen Stütze des Thrones zu sein habe. Nicht zuletzt aufgrund seiner religiösen Neigungen berief ihn Friedrich Wilhelm IV. schon 1840 neben Lottum zum Kabinettsminister. 137 Vgl. Näheres zu Friedrich Julius Stahl unten Teil III. Kap. 4.3.3. 138 Barclay zählt zu dieser Gruppe von „ministerial pietists“ neben Stolberg und Thile noch den Kabinettsrat und späteren (1844-1848) Justizminister Karl Albrecht Alexander Uhden (1798-1878) und Ludwig Friedrich Hassenpflug (1794-1862). Mit dieser Gruppe eng liiert war ein weiterer Neo-Pietist, Baron Ernst Senfft v. Pilsach (1795-1882), vgl.: Ders., Frederick William IV, S. 68-69. 139 Karl Wilhelm v. Deleuze de Lancizolle (1796-1871), Nachfahre der französischen Hugenottenkolonie in Berlin, hatte nach der Teilnahme an den Befreiungskriegen 1814-1818 in Berlin und Göttingen



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mission vertrat Lancizolle zugleich die außeradministrative „Professorenfaktion“, zur der Karl Friedrich v. Savigny (Universität Berlin)140, der Begründer der historischen Rechtsschule, und Professor Moritz August v. Bethmann-Hollweg (Universität Bonn) zu zählen sind.141 Alle drei Professoren zeichneten sich als Repräsentanten der historischen Rechtsschule aus.

Jura studiert und promoviert. Nach der Habilitation 1819 wurde er 1820 außerordentlicher, 1823 ordentlicher Professor an der Berliner Universität. Er war Schüler Savignys und Anhänger der historischen Rechtsschule. Ab 1825 hielt er für mehrere Jahre dem damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm und seinem Bruder Wilhelm Vorlesungen über deutsche Rechtsgeschichte. 1832 wurde er zum Mitglied des Ober-Zensur-Kollegiums, 1843 des an dessen Stelle tretenden Ober-Zensur-Gerichts berufen. Dabei behielt er seine Lehrtätigkeit und publizierte über Rechtsgeschichte. Am bekanntesten wurde sein Werk „Über Königthum und Landstände in Preußen“ von 1846, das er im Vorfeld des Vereinigten Landtags von 1847 verfasste; vgl. ADB, Bd. 17, S. 583-584. 140 Friedrich Karl v. Savigny (1779-1861) stammte aus einer alten lothringischen Familie, die ihren Namen von der Burg Savigny, in der Nähe von Charmes im Moseltal, ableitete. Nach dem er im Alter von 13 Jahren verwaiste zog ihn ein Vormund auf. 1795 begann er in Marburg sein Jurastudium. Nach Studien in Jena, Leipzig, Göttingen und Halle kehrte er 1800 nach Marburg zurück, wo er im selben Jahr promoviert wurde. Dort lehrte er als Privatdozent Strafrecht und Pandekten. 1803 veröffentlichte er seine berühmte Untersuchung „Das Recht des Besitzes“. 1804 heiratete er Kunigunde Brentano, die Schwester von Bettina v. Arnim und Clemens Brentanto. 1808 erhielt er eine ordentliche Professur für römisches Zivilrecht in Landshut. 1810 gelangte er auf Betreiben von Wilhelm v. Humboldt auf den Lehrstuhl für römisches Recht an der neu gegründeten Universität Berlin. Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit war er Privatlehrer des preußischen Kronprinzen in den Fächern römisches Recht, preußisches Recht und Strafrecht tätig. 1814 erschien als Erwiderung auf Thibauts Thesen Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland seine Streitschrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“. 1815 gründete er mit Karl Friedrich Eichhorn u.a. die „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ als Organ der „Historischen Rechtsschule. 1817 wurde er als Staatsrat Mitglied des preußischen Justizministeriums, 1819 Mitglied des Obertribunals für die Rheinprovinzen und 1820 Mitglied der Kommission für die Revision des ALR. Seine akademische Tätigkeit endete 1842 mit der Ernennung zum Großkanzler durch Friedrich Wilhelm IV. Mit diesem Titel war er preußischer „Minister für Revision der Gesetzgebung“. Bei Ausbruch der Revolution 1848 trat er zurück. Savigny hatte sich auch mit der „Rechtsgeschichte des Adels im neueren Europa“ beschäftigt: einen Vortrag mit diesem Titel hielt er am 21. Januar 1836 in der Berliner Akademie der Wissenschaften. Vgl. ADB Bd. 30, Leipzig, 1890, S. 425-452. 141 Moritz August (seit 1840 v.) Bethmann-Hollweg (1795-1877), Jurist und preußischer Staatsmann, wurde als Sohn des Johann Jakob Hollweg (1748-1808) geboren, der mit seiner Hochzeit der Erbin des Frankfurter (a.M.) Bankhauses Bethmann den Doppelnamen Bethmann-Hollweg annahm. Moritz August studierte in Göttingen und Berlin Jura, vornehmlich bei Savigny, dessen Schüler er wurde. Er wurde zusammen mit Lancizolle, einem weiteren Schüler Savignys, 1818 promoviert. Er habilitierte 1819 in Berlin für römisches Recht, wurde Ordinarius in Berlin und ließ sich 1829 nach Bonn versetzen. Dort lernte er Niebuhr persönlich näher kennen. 1842 wurde er Kurator der Universität Bonn (bis 1848). Nach religiösen Eindrücken in Italien 1812/13 erlebte er seine „Erweckung“ in der Neujahrsnacht 1816/17 im Kreis von Ernst v. Senfft-Pilsach und Adolf v. Thadden-Trieglaff und Carl v. Lancizolle. Über diese Kontakte kam Moritz August Bethmann in den Kreis des Kronprinzen. 1832 kaufte und restaurierte er die Burg Rheineck unweit der kronprinzlichen Burg Stolzenfels. Bethmann wurde als Mitglied der Ritterschaft der Provinz Sachsen 1840 anlässlich der Berliner Huldigung nach

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Die weiteren Mitglieder der Kommission, der Oberregierungsrat Adolf Friedrich Carl Streckfuß, und der Regierungsrat Georg Wilhelm v. Raumer waren einerseits hohe Verwaltungsbeamte im Innen- bzw. im Hausministerium. Andererseits empfahlen sie sich durch persönliche Qualifikationen für eine Begutachtung des historischen Adelswesens: der geradezu kosmopolitisch gebildete und erfahrene Streckfuß dilettierte als romantischer Schriftsteller.142 Raumer wiederum zeichnete sich als ein intimer Kenner der brandenburgischen Geschichte und des altbrandenburgischen Lehnswesens aus.143 Für solche „hybriden“ Eigenschaften seiner Berater hatte Fried-

den neuen Bestimmungen geadelt. 1845 wurde er in den Staatsrat berufen, nahm 1846 an der Generalsynode teil. Von seinem Freund und politischen Weggefährten Ernst Ludwig v. Gerlach trennte er sich in den 1840er Jahren. Doch näherte er sich 1848 wieder den Konservativen an, wurde Mitbegründer des Vereins für König und Vaterland, und nahm als Rittergutsbesitzer in der Provinz Sachsen am „Junkerparlament“ teil. Von 1849-1855 Mitglied der ersten und zweiten Kammer, protestierte gegen neu aufkommende Reaktion durch Gründung des „Preußischen Wochenblatts“ 1851. In Allianz mit dem Prinzen Wilhelm und der Prinzessin Augusta setzte er sich für ein starkes aber konstitutionelles Königtum ein. Zu dieser anti-Kreuzzeitungsgruppe gehörten noch Graf Albert Pourtalès, sein Schwiegersohn, Graf Robert v. d. Goltz, G. v. Usedom, Christian Karl v. Bunsen und J. v. Gruner. In der orientalischen Krise war er pro-westlich orientiert (Pourtalès 1853 unter Gegenwirkung Bismarcks für pro russische Politik entlassen). 1848 war Bethmann Präsident des evangelischen Kirchentages, später Präsident der von J.H. Wichern gegründeten Inneren Mission. 1858 wurde er als Kultusminister durch den Prinzregenten Wilhelm berufen. Doch scheiterte er in der „Neuen Ära“ und lebte seit 1862 zurückgezogen auf Burg Rheineck. Vgl. ADB Bd. 12, Leipzig 1880, S. 762-773. 142 Adolf Friedrich Carl Streckfuß (1779-1844) war nicht nur als Jurist im preußischen Staatsdienst tätig sondern auch Schriftsteller und Übersetzer. Streckfuß wurde in Gera geboren und studierte ab 1797 in Leipzig Jura. Drei Jahre später beendete er sein Studium und ging als Hauslehrer nach Triest. Neben seinen Aufgaben als Pädagoge erlernte Streckfuß so gut Italienisch, dass er auch als Dolmetscher bald gefragt war. 1804 wechselte Streckfuß, mit Förderung seines Arbeitgebers, in gleicher Tätigkeit nach Wien und blieb dort bis 1806. Im Herbst 1806 wurde Streckfuß sächsischer Verwaltungsbeamter. 1811 trat er in den Dienst des russischen Gesandten in Berlin, und 1815 fand Streckfuß in der Finanzabteilung des preußischen Gouvernements in Sachsen eine Anstellung. Er verblieb im preußischen Staatsdienst zunächst als Finanzrat in der neuen preußischen Regierung in Merseburg. 1819 nach Berlin berufen, wurde er 1820 Geheimer Regierungs- und Vortragender Rat und 1823 Oberregierungsrat im Ministerium des Inneren. 1840 berief man ihn in den Staatsrat. Bereits drei Jahre später gab Streckfuß aus gesundheitlichen Gründen alle seine Ämter auf und zog sich in den Ruhestand zurück. Er starb am 26. Juli 1844 in Berlin. Das schriftstellerische Werk von Streckfuß umfasst Lyrik und Prosa, aber am bedeutendsten sind seine Übersetzungen aus dem Italienischen. Einige seiner Werke veröffentlichte er unter dem Pseudonym Leberecht Fromm. Von der zeitgenössischen Literaturkritik wurde er u.a. als „halbromantischer Vielschreiber“ eingeschätzt, vgl. Wolfgang Menzel, Geschichte der deutschen Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit, Bd. III, Stuttgart 1875, S. 385. Sein Sohn Adolf Streckfuß wurde ebenfalls Schriftsteller und ein überzeugter Demokrat. Vgl. ADB, Bd. 31, Leipzig 1893, S. 560-562. 143 Georg Wilhelm v. Raumer (1800-1856) war ein Sohn des 1833 verstorbenen Karl Georg v. Raumer, eines vortragenden Rats beim Staatskanzler Hardenberg (nicht identisch mit dem „kleinen Staatskanzler“ Friedrich v. R.!). Raumer studierte Jura in Göttingen, Berlin und Heidelberg und trat 1823 als Auscultator beim Berliner Kammergericht ein. Er wurde ein Kenner des dort aufbewahrten kurmärki-



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rich Wilhelm bekanntlich ein besonderes Faible. Adolf v. Rochow-Stülpe wurde ebenfalls in die von ihm angeregte Kommission berufen. Als langjähriger Hofmarschall des Prinzen Wilhelm (des Onkels des Königs) war er mit der höfischen Welt vertraut; außerdem hatte er sich ja schon in verschiedenen Denkschriften zur Adelsfrage qualifiziert. Zweifellos war er wie der Innenminister dem König seit der Kronprinzenzeit als altständisch orientierter Akteur der nachreformerischen Epoche im Gedächtnis geblieben.144 Diese heterogene Auswahl der Kommissionsmitglieder lässt darauf schließen, dass es dem König tatsächlich um ein sachlich fundiertes und facettenreiches Gutachten zu tun war. Eine Stimmen- und Begründungsvielfalt war offenbar erwünscht. Unter diesen Voraussetzungen führten die Beratungen der Kommission über die neuen Adelsbestimmungen keineswegs zügig zu einem Konsens über deren Ziele und Wirkungen; vielmehr akzentuierten sie die Differenzen und Bruchlinien, die sich innerhalb des Staatsministeriums gezeigt hatten nur noch einmal dramatischer.145

Die Zielvorgaben des Königs Am 2. August 1841 eröffnete der König den Kommissionsmitgliedern Bethmann-Hollweg, Stolberg und Savigny in Schloss Sanssouci in Potsdam, bis zu welchen Grenzen der Monarch bereit war, den Gegenvorschläge seines Staatsministeriums entgegenzukommen, ohne jedoch von den Grundlinien seiner Politik abzuweichen.146 Auf der

schen Lehnsarchivs und beschäftigte sich eingehend mit der brandenburgischen Geschichte. Nachdem er 1829 ins Finanzministerium wechselte, wurde er 1833 zum Regierungsrat und Vortragenden Rat im Hausministerium ernannt, dessen Archivverwaltung er übernahm (damit „erbte“ er gewissermaßen die wichtige Stellung, die sein 1833 verstorbener Vater als Direktor des Hausministeriums innegehabt hatte). 1837 Geheimer Regierungsrat geworden, wurde er 1839 durch die Universität Berlin zum Doktor der Rechte promoviert. 1843 wurde er Direktor der Staatsarchive mit direktem Vortrag beim König. Die Familie von Raumer war ein altes dienstadliges Geschlecht, stammte ursprünglich aus Oberbayern und war infolge der Gegenreformation Anfang des 17. Jahrhunderts nach Anhalt gekommen. Für drei Generationen hielten ihre Mitglieder höchste Staatsämter nachdem 1693 durch Kaiser Joseph I. deren Adel „erneuert“ worden war. Vgl. ADB Bd. 27, Leipzig 1888, S. 414. 144 Vgl. oben Kap. 2.4.3. Auf dem Vereinigten Landtag von 1847 fungierte er als Präsident der Kurie der drei Stände. 145 In Vorbereitung auf die Kommissionsverhandlungen ließ sich Stolberg noch im August 1841 von Beyme die Staats-Kanzler-Akten betreffend der Umarbeitung des Allgemeinen Landrechts, insbesondere der Vorschriften des Adels, übersenden. Dieser Vorgang verweist noch einmal auf die historische Verbindung der Adelsdebatte zur preußischen Reformzeit, vgl. Schreiben von v. Beyme an StolbergWernigerode, Berlin 14. August 1841 als Antwort auf Schreiben vom 13. August, mit der Übersendung der Staats-Kanzler-Akten betreffend der Umarbeitung des Allgemeinen Landrechts, GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787, Bl. 13. 146 So Bethmann in seiner Protokollschrift vom 3. August 1841, vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 87-90. In einem Schreiben noch aus Sanssouci vom selben Tage richtete Stolberg das Ersuchen an die „Herren des Hausministeriums“, ihren Vortrag am folgenden Tag schon um 8 Uhr zu halten, da

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

vorbereitenden Sitzung der Adelskommission am 3. August referierte Bethmann-Hollweg diese Vorgaben des Königs.147 Der König habe seine Absichten mit der historischen Annahme begründet, dass der niedere Adel bzw. die Ritterschaft ursprünglich aus dem „Stande der Freien“ hervorgegangen sei, indem „nur ein Teil derselben“ in erstere aufgingen – deshalb hätte zwischen dem alten Adel und den übrigen „Freien“ kein so „absoluter Unterschied“ bestanden wie in deren gemeinsamen Verhältnis zum hohen Adel.148 Aus diesem Grund sei der Wunsch, dem Ritterstand „neue Kräfte aus dem höheren Bürgertum“ zuzuführen und neben ihm eine „Gentry im englischen Sinne“ (wörtlich!) zu bilden „analog“ zu begreifen, und als eine Rückkehr zu diesen ursprünglichen Standesverhältnissen. Weiter legte der König fest, dass in die Verhältnisse des bestehenden niederen Adels nicht eingegriffen werden sollte. Umgekehrt würden die schon erlassenen Bestimmungen bezüglich der Grafen und anderer titulierter Familien nicht mehr in Frage gestellt, da hier zwischen dem König und dem Staatsministerium Konsens herrsche. Für die eigentlichen Verhandlungen sollten aber die auf den Erbhuldigungen ausgesprochenen Standeserhöhungen nur insofern die zukünftige Adelspolitik „präjudizieren“, als diese eine allgemeine Richtung vorgaben. Der König unterstrich, dass zukünftig der Eintritt in den Adel und seine weitere Vererbung vom Besitz eines Ritterguts abhängig bleiben würde. Einzige Ausnahmen seien „großer Verdienst um das Vaterland“, oder „europäischer Ruf“ (aufgeführt wurden dafür die Beispiele Scharnhorsts und Gneisenaus). Umgekehrt sollte bei einer mangelnden persönlichen Würde auch ein großer Grundbesitz nicht automatisch zur Nobilitierung qualifizieren. Diese persönliche Würdigkeit eines Nobilitierungskandidaten könne entweder durch Erreichen eines bestimmten Ranges im Staatsdienst erwiesen sein: im Zivildienst etwa ab der Rangstufe eines Ministerialrats 2. Klasse, beim Militär hingegen der Rang eines Oberst. Wenn solche Personen ein Rittergut erwürben, könnten sie „ohne weiteres den Ritterschlag begehren“. Die Ähnlichkeit dieser Vorstellungen über die zur „Adligkeit“ qualifizierenden Eigenschaften mit den Vorschlägen Niebuhrs von 1819 sind auffällig.149 Bezüglich der zu erreichenden Rangstufen ließ sich der König nach eigener

um 9 Uhr die erste Besprechung der Adelskommission stattfinden sollte, vgl. GSTAPK I.HA, Rep.100, Nr.3787, Bl. 7. 147 In einem Schreiben an Raumer vom 4. August bat Bethmann darum, dass dieser die von ihm auf der vorbereitenden Sitzung am 3. August referierten Eröffnungen den anderen Kommissionsmitgliedern nebst einigen Zusätzen übersenden solle, vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 8. 148 Diese Auffassung entsprach einem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit verbreiteten Wissensstand, und wurde in den Schriften zu Adelsfrage regelmäßig zitiert, neben dem einflussreichen Rehberg u.a. in: Anonymus, Der Adel. Dieser „Dialog“ dreier Personen fasste die populärsten adelskritischen und adelsapologetischen Positionen aus sächsischer Perspektive zusammen. Im Zentrum der Argumentationen dieser Schrift standen noch immer die Privilegienreste des Adels und ihrer Legitimation. Eine Aufgabenformulierung für den Adel in der neuen Staatsgesellschaft unterblieb. 149 Vgl. oben Kap. 2.3.5.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Aussage vom altfranzösischen Adelsrecht inspirieren, nach welchem ein Oberst bei Erwerb eines Ritterguts in den ordre équestri eingetreten sei. Die persönliche „Würdigkeit“ zur Nobilitierung könne aber auch durch das Urteil der Standesgenossen, d.h. der Ritterschaft des Kreises, oder „in zweiter Instanz“ der Ritterschaft der Provinz nachgewiesen werden, welche um die Zulassung des „Kandidaten“ bei Hofe nachsuchen könnten. Die Erteilung des Adels solle dann durch Ritterschlag erfolgen, oder, wenn diese Form nicht mehr als zeitgemäß erscheine, auch ohne eine solche Zeremonie. In diesen Passagen trat die charakteristisch „romantische“ Vorgehensweise Friedrich Wilhelms hervor, der seine neue Adelspolitik einerseits „historisch legitimieren“ wollte, andererseits ohne weiteres bereit war, dazu auf Muster zurückzugreifen, die keineswegs originär „brandenburgisch-preußisch“ zu sein hatten, ja sogar außerdeutscher Herkunft sein durften. Zudem zeigte Gustav v. Rochows Intervention und Instruktionsvorschlag Wirkung: die Idee, dass die zukünftigen Standesgenossen des zu Nobilitierenden in Kreis und Provinz dessen Würdigkeit begutachten sollten, hatte der König offenbar zu seiner eigenen gemacht. Auch drängte der König nun nicht mehr auf die Stiftung von Majoraten, weil dazu nur „colossale Vermögen“ geeignet wären. Stattdessen sollte die Erbfolge, entweder durch Lehnrecht oder auf neue Weise, den Besitz für die Familie in einer Hand sichern, ohne Veräußerungen in dringenden Fällen auszuschließen. Die nicht besitzenden Familienmitglieder würden dann wie in England eine Gentry bilden. Langfristiges Ziel dieser Politik bliebe es jedoch, dass mit der Zeit die Besitzer landtagsfähiger Rittergüter möglichst ausschließlich aus solchen der neuen Ritterschaft in obigem Sinne bestehen sollten – denn in Verbindung zu dieser Landtagsfähigkeit würde die politische Stellung des neuen wie alten Adels neu legitimiert. Friedrich Wilhelm hielt außerdem an der Idee fest, dass der „Begnadigte“ den Namen des Gutes annehmen, oder diesen neben seinem Namen führen solle. Denn das Wörtchen „von“ drücke die Beziehung zu einem bestimmten Grundbesitz aus. Wo dies problematisch erschiene (da z.B. der Gutsname dem Familiennamen eines alten, noch bestehenden Geschlechts entspräche) könne mit königlicher Genehmigung dem Gut ein neuer Name verliehen werden. Noch bevor die Kommissionsmitglieder zwischen dem 21. September und dem 20. Oktober 1841 ihre Voten abgeben konnten, brachte der König am 2. September 1841 dem Kommissionsvorsitzenden ein ausführliches Manuskript zur Kenntnis, das ihm während seines Sommeraufenthaltes auf seinem Gut Erdmannsdorf in Schlesien überreicht worden war. Dieses anonyme Dokument mit dem Titel: „Über den Adel. Über die Maaßregeln zur Erhaltung eines erblichen Adelsstandes unter der Erbmonarchie. Mit besonderer Beziehung auf Preußen“ sollte Stolberg ausdrücklich der Adels-Kommission bekannt machen.150 Da Stolberg zu diesem Zeitpunkt

150 GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787, Bl. 16; vgl. Rep. 89 Nr. 919, Bl. 56: Brief v. Thile an Stolberg, Liegnitz 2. September. Beiliegend das eingesandte Manuskript: „Über den Adel. Über die Maaßregeln

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

aber nicht in Berlin weilte, nahm Raumer diese Denkschrift in Empfang. Erst am 15. Oktober 1841 holte er die Zustimmung des Kommissionsvorsitzenden zur Zirkulation des Manuskripts unter den Kommissionsmitgliedern ein. Stolberg stimmte dem zu, obwohl er „keinen besonderen Nutzen“ aus ihrer Kenntnisnahme erwartete.151 In die Begutachtung konnte der Inhalt dieses Manuskripts daher nicht mehr einfließen, weil zu diesem Zeitpunkt schon sämtliche Kommissionsvoten formuliert und eingereicht waren. Dieses Manuskript bezeugt allerdings die Wahrnehmung der ansonsten geheim geführten Adelsdiskussionen durch eine breitere Adelsöffentlichkeit.152 In Teil III. Kap. 4.2.3. wird den Inhalt dieser Denkschrift zurückzukommen sein.

3.3.2. Die Begutachtung durch die Adelskommission Die königliche Zielvorgabe sowie die personale Zusammensetzung der Adelskommission schlugen wie zu erwarten auf den Charakter der Begutachtung durch. Anders als im Staatsministerium ergingen sich die Gutachten der „Adelskommission“ nicht nur über die historischen Gehalte einer „preußischen Adligkeit“. Die historisch hoch gebildeten Votanten entwarfen zum Teil ausführliche teleologische Herleitungen des preußischen Adelswesen, seiner Entstehung und seiner Formung und Verwandlung im Zuge der preußischen Staatsentwicklung. Dabei wurden die schon vom Staatsministerium genannten Identitätsgehalte adliger Existenz unterschiedlich gewichtet und ideologisch pointiert. Einmal mehr sahen sich die Mitglieder der Adelskommission mit dem Problem konfrontiert, „idealistische“ und „materialistische“ Adligkeitskriterien gegeneinander abzuwägen und neu zu tarieren. Entwarfen die Voten und mehr noch der Bericht des Staatsministeriums eine Momentaufnahme des bestehenden adlig-bürgerlichen Verhältnisses, so „dynamisierten“ einzelne Stellungnahmen innerhalb der „Adelskommission“ dieses Verhältnis hinsichtlich seiner historischen Entstehung, um daraus Schlussfolgerungen hinsichtlich zukünftiger gesellschaft-

zur Erhaltung eines erblichen Adelsstandes unter der Erbmonarchie. Mit besonderer Beziehung auf Preußen“, Ebd., Bl. 17-62v. 151 Stolberg antwortete am 19.10. Raumer, dass er und Bethmann das Manuskript schon gelesen hätten. Am 21. Oktober sandte Raumer dann das Manuskript auftragsgemäß an Savigny weiter, mit der Bitte, diese nach Kenntnisnahme an Lancizolle weiterzuleiten. Aus den Randbemerkungen geht hervor, dass Savigny das Manuskript am 24. Oktober an Lancizolle weitergab und dieser wiederum am 26. Oktober dasselbe an Raumer remittierte, vgl. GSTAPK, I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 14-15. 152 Der Ort der Übergabe, wie auch der Inhalt dieses anonymen Manuskripts verweisen auf den schlesischen Adel. Dieses Dokument sprach sich für die Bildung einer Adelsvereinigung aus, und ist ein Indiz für die besondere Aktivität gerade des schlesischen Adels bezüglich adliger Vereinsprojekte. Auf den Inhalt dieser Denkschrift wird unten in Kap. 4.2. genauer eingegangen.



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licher Entwicklungschancen zu ziehen.153 Dieses Vorgehen ist als Reaktion darauf zu verstehen, dass nun, in Übereinstimmung mit dem abschließenden Bericht des Staatsministeriums vom 31. März, die Kommission die Adelsdebatte auf die Frage zu lenken versuchte, nach welchen „objektiven“ Kriterien zukünftig in Preußen systematischer nobilitiert werden sollte. Damit trat in Gegensatz zu der älteren Adelsreformdebatte, die sich bis in die zwanziger und selbst dreißiger Jahre noch auf das neu zu findende Verhältnis von Adel und Staat konzentrierte, nach 1840 die Problematik einer „Adelung“ ins Zentrum der Auseinandersetzung. Nach Einführung der Provinzialständeverfassung war ja eine zielgerichtete Nobilitierungspolitik unterblieben, die deren (begrenzten) Potentiale zur weiteren Ausbildung und sozialständischen Dynamisierung ausgeschöpft hätte. Bis nach 1840 erfolgte überhaupt keine Klärung, nach welchen Kriterien sich bürgerliche Rittergutsbesitzer für eine Nobilitierung qualifizieren konnten – im Gegensatz zu seinem Sohn hatte Friedrich Wilhelm III. diese Problematik als mögliche Aufgabe der Monarchie gar nicht thematisiert. Wie wäre also eine latente „Adligkeit“ nichtadliger Gruppen festzustellen? Und wie ließen sich diese Adligkeitskriterien aus der preußischen Geschichte deduzieren? Die schon im Staatsministerium auftretenden Konfliktlinien über dieses Problem, die in dessen Bericht ja mehr kaschiert als dokumentiert wurden, sollten in den Stellungnahmen der Adelskommission noch deutlicher hervortreten.

Die Einzelgutachten der Kommissionsmitglieder Adolf v. Rochow: Stärkung des alten Gutsadels durch „Adelung“ bürgerlicher Rittergutsbesitzer Adolf v. Rochow hielt sich in seinem Votum in keiner Weise mehr mit Fragen des historischen Ursprungs und der Entwicklung des Adels auf. Es fällt allerdings auf, dass sich in seinem Gutachten die Gewichtungen gegenüber seiner ersten allgemeinen Denkschrift über eine notwendige preußische Adelspolitik erheblich „verdrehten“. Der Hofmarschall stimmte nun in auffälliger Weise mit seinem Vetter Gustav v. Rochow in der Notwendigkeit eines Grundbesitzes zum Erhalt „adliger Gesinnung“ überein. Die zentrale Bestimmung des Adels „im monarchischen Staate“ sei es, „Träger des conservativen Prinzips zu seyn“, um „auf eine wohltätige Weise das

153 GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787 Bl. 64-73v: Votum Rochow, Fischbeck 21. Sept. 1841, Bl. 74-97v: Votum Streckfuß Berlin 30. Sept. 1841, Bl. 98-147v: Votum Raumer Berlin 18. Okt. 1841, Bl. 149-157: Votum Bethmann-Hollweg Berlin 12. Okt. 1841, Bl. 158-161v: Votum Savigny Berlin 14. Okt. 1841, Bl. 162-175: Votum Lancizolle Berlin 20. Okt. 1841. Stolberg übersandte am 13. Oktober 1841 die Voten der Kommissionsmitglieder Adolf v. Rochows, von Streckfuß und Bethmann-Hollweg an Raumer, mit dem Bemerken, dass von den übrigen Voten noch nichts zugekommen sei. Stolberg drängte bei dieser Gelegenheit auf eine Beschleunigung der ganzen Sache, da Bethmann nicht lange in Berlin bleiben könne.

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Gegengewicht“ zu den „vorwärtsstrebenden Elementen“ zu bilden.154 Denn seine Eigenschaften bestünden in einer besonderen Anhänglichkeit an „die bestehenden Staatseinrichtungen“ im Allgemeinen wie dem Regentenhause in besonderem. Darüber hinaus verfüge der Adel über eine „besonders ausgebildete Standes-Ehre, von welcher mehr als gewöhnliche Opfer für Fürst und Vaterland gefordert werden können“. Adolf v. Rochow gab zwar zu, dass solche Einstellungen auch außerhalb des Adels zu finden seien, und „jeder gute Bürger, der diese Eigenschaften besitzt (und deren giebt es viele) ist in seinem Inneren ein Edelmann“; so sollten aber doch „diejenigen politischen Hebel, welche vorzüglich geeignet sind, sie hervorzurufen“, nicht dem „Zufall“ überlassen werden, sondern aktiv gefördert werden: ein solches Mittel sei aber das „auf richtigen Prinzipien begründete Adelsinstitut“. Wie schon in seiner vorigen Denkschrift bezeichnete er den „in der Familie forterbenden Grundbesitz verbunden mit gewissen in derselben erblichen Ehren-Vorzügen“ als die „unerlässlichen Bedingungen“ der geforderten „conservativen Gesinnung“. In Übereinstimmung mit Gustav v. Rochow und in deutlicher Relativierung seiner früheren Äußerungen sah er nun hauptsächlich aber im Grundbesitz die Voraussetzung der „Anhänglichkeit an diejenigen Staatseinrichtungen, welche dem Eigenthum solange Schutz gewährt haben“, und dieses Bewusstsein würde über den „Kern“ der eigentlichen Besitzer auf „die übrigen Glieder der Familie, ja auf den ganzen Stand“ ausstrahlen. Zwar betonte Adolf bei dieser Gelegenheit noch einmal, dass zu dieser materiellen Grundlage noch „äußere Vorzüge“ hinzutreten müssten, um „alles Unanständige, Gemeine, Niedrige, Ehrlose“ von dieser Gruppe fernzuhalten und eine besondere „Gesinnung“ zu erzeugen. Diese Vorzüge seien im preußischen Staat der „mit einem Adelsprädikat oder einem Titel versehene adliche Name“, der noch bestehende privilegierte Gerichtsstand und das Privileg des exklusiven Hofzugangs. Doch die seit der Reformzeit allein überbliebenen Ehrenvorzüge seien nicht ausreichend gewesen, um den Adel noch als Stand zu konstituieren: die Behauptung im Bericht des Staatsministeriums vom März, dass es kein Bedürfnis gebe, die Trennung von Standschaftsrechten und Adelsrechten rückgängig zu machen, sei deshalb zu kritisieren – denn durch diese Trennung sei ein „Geist der Opposition im Inneren eines Standes“ (dem der Rittergutsbesitzer) aufgetreten, d.h. ein Gegensatz zwischen Trägern persönlicher Ehrenvorzüge und Personen ohne solche Auszeichnungen, der doch dazu berufen sei, gleiche politische Interessen zu vertreten. Adlige und Bürgerliche seien hinsichtlich der „materiellen“, nicht aber bezüglich der „persönlichen Adelsrechte“, also der sozialen Privilegierung, gleichgestellt. Zwar stimme „der in dem erwähnten Bericht aufgestellte Satz: dass der wichtigste Träger für die politische Bedeutung des Adels der Adel der Gesinnung sei, hierbei erlaube ich mir aber zu wiederholen, dass es im

154 Votum Adolf v. Rochow, Fischbeck 21. Sept. 1841, in: GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787 Bl. 64-73v, hier Bl. 64.



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hohen Interesse des Staates liege, die materiellen Mittel durch welche eine solche Gesinnung vorzugsweise erzeugt und genährt wird in Anwendung zu bringen“. Aus diesen Gründen erklärte sich Hofmarschall Rochow mit den neuen Adelsbestimmungen einverstanden, „der Adel hat zu allen Zeiten einer Auffrischung bedurft“, und dies gelte „jetzt mehr als jemals, wo neben ihm durch die geistige Beweglichkeit der lebenden Generation und durch die industrielle Vermehrung der materiellen Interessen so bedeutende Capacitäten entstehen“. „Bürgerliche Namen“ müssten deshalb dem alten Adel beigestellt, und der verlorene größere Grundbesitz dem Stand wieder zurückgeführt werden. In auffälliger Verkehrung der Argumentation in seiner früheren Denkschrift und mit erheblichen Annäherungen an die Positionen Gustavs, schien es Adolf v. Rochow jetzt vordringlich, durch „Standeserhöhungen soweit es die persönliche Qualifikation zulässt“, den gutsbesitzenden „Kern dieses Standes“ neu zu festigen. Die Erfahrung habe darüber hinaus gezeigt, dass adlige Familien ohne Grundbesitz schneller ausstürben, weil die Möglichkeit, Frauen standesgemäß zu versorgen, in diesen sehr begrenzt sei. Als praktische Maßnahme schlug der Hofmarschall vor, Nobilitierungen mit Ausnahme von persönlich ganz hervorragendem Verdienst nur noch unter der Bedingung zu erteilen, dass ein Rittergut besessen würde, das in einem Umfang und Wert die Standschaftsrechte tragen könne.155 Darauf sollte eine Stiftung gegründet werden müssen (steuerlich privilegiert) um vor Verschuldung zu schützen, und um eine Sukzessionsordnung in einer Hand festzulegen. Nur eine solche Stiftung auf bevorrechteten Grundbesitz könne den unbeschränkt vererbenden Adel erhalten. Bis zur Errichtung einer solchen Stiftung solle der Adel dagegen in der vom König vorgeschlagenen beschränkt-primogenitalen Weise erblich sein, bis es der Familie gelänge, eine auf den Grundbesitz bezogene Familienstiftung zu gründen. Erst dann würde dieser beschränkte Adel sich zum Geschlechteradel ausweiten dürfen, um mit den alt-überkommenen Familien des Geschlechts-Adels gleichzuziehen. Die neuen Nobilitierungsmaßregeln seien akzeptabel, vorausgesetzt, es bestünde nicht die Absicht, „neben dem vorhandenen erblichen Geschlechtsadel nur diesen neuen Adel mit theilweiser Erblichkeit einzuführen“. Rochow schlug also eine Art „Übergangsklasse“ zwischen Bürgertum und historischem Geschlechtsadel vor: eine neue Form einer „Gentry“, die sich aber nicht, wie die englische, aus den nachgeborenen, nichterbenden Söhnen des titulierten Adels, sondern aus den nobilitierten, rittergutsbesitzenden, aber eben noch nicht durch Grund- und Familienstiftungen gesicherten Familien rekrutieren sollte.156 Die Akzeptanz dieses neuen beschränkten Adels durch den alten Adel würde entscheidend erleichtert, wenn ersterem die Möglichkeit offen

155 Hinsichtlich der persönlichen Würdigkeit des Nobilitierungskandidaten schloss sich Rochow des Ausführungen Bethmanns an. 156 Adolf v. Rochow erklärte eine „Übergangsklasse“ zwischen Bürgertum und Adel unbedingt für notwendig, und schloss sich in diesem Punkt ausdrücklich den Stellungnahmen Bethmanns an.

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stünde, durch fideikommissarische Stiftungen den Anschluss an den Geschlechtsadel schließlich aus eigenem Antrieb und eigener Leistung zu erreichen. Die in Mühlers Votum polemisch als „tote Hand“ geschmähten Familienstiftungen bezeichnete Rochow als im Gegenteil „feste und sichere Hand“; denn der „freie Verkehr“ auf dem Gütermarkt sei für diese in der Regel schädlich, da sie sonst nur wirtschaftlich ausgesogen würden, bevor man sie weiterverkaufe. Die Interessen der Gutsinsassen, des Kirchen- und Schulwesens müssten darunter leiden.157 Mit dieser Fokussierung auf das Grundbesitzkriterium zeigte sich Adolf v. Rochow von einer verblüffend pragmatischen und utilitaristischen Haltung gegenüber dem Adelsinstitut, wie dies nach seiner Denkschrift über eine preußischen Adelspolitik kaum zu erwarten war. Über eine ideale Bedeutung des Grundbesitzes jenseits der materiellen Absicherung der privilegierten Lebensführung äußerte er sich jedenfalls nicht. Wegen einer eventuell „mangelnden“ historischen Begründung eines solchen „neuen Adels“ äußerte Adolf v. Rochow ebenfalls keine Skrupel, da, wie er feststellte, man mit dem Entzug des Grundbesitzprivilegs in der Reformepoche von der historischen Herkunft des Adels sowieso schon abgewichen sei. Adolph Friedrich Carl Streckfuß: den alten Adel durch neue Adelstitulatur „überbauen“ Oberregierungsrat Streckfuß kam zwar bezüglich des Grundbesitzes als entscheidendem Standeskriterium zu ähnlichen Schlüssen wie der Hofmarschall. Wie schon Adolf v. Rochow interessierte sich auch Streckfuß in keiner Weise für Fragen der Herkunft und Entwicklung des Adelsinstituts. Weder dessen überkommene Familienvorstellungen noch dessen Verhältnis zum Königtum oder die gesellschaftlich-politische Funktion des Adels nahmen in seinem Votum größeren Raum ein. Auch die Probleme der Lebensbeschäftigung des Adels, seines erwünschten Verhältnisses zu den bürgerlichen Gewerben, oder die Rolle des Grundbesitzes als Voraussetzung konkreter Herrschaftsausübung thematisierte Streckfuß nicht. Und wie der Hofmarschall sah er in den bürgerlichen Rittergutsbesitzern das natürliche Reservoir zukünftiger Nobilitierungen.158 Seine Reflektionen über die Möglichkeiten und Bedingungen für den zeitgenössischen Adel bauten auf einem völlig anderen Axiom auf, nämlich die faktische Situation des Adels in der Gegenwart: die Frage „Ist jetzt ein Adelsstand in Preußen noch vorhanden?“ wollte er nicht anders als verneinend beantworten. Es bestünden nur noch „höchst achtbare, ja ehrwürdige Trümmer dieses Standes“, welche immerhin noch „vortreffliche Elemente zur Reconstituierung desselben darbieten“ würden;

157 Mit diesem Punkt kam Adolf v. Rochow auf Argumente zurück, die er schon 1823 in seinen Denkschriften über den Adel ausführlicher anführte. In der vorliegenden Denkschrift bildeten diese aber nur Nebengesichtspunkte. 158 Votum Streckfuß Berlin 30. Sept. 1841, in: GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787 Bl. 74-97v.



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aber einen Adels„stand“ selbst, gebildet von „sämmtlichen durch das Adelsprädikat ausgezeichnete Personen, finden wir nicht“. Vielmehr würden die zum Adel gezählten Personen nur noch dann zu einem besonderen „Stand“ gezählt werden können, wenn sie durch „innere und äußere Eigenthümlichkeiten etwas Gemeinsames besitzen, was sie unter sich mehr oder weniger gleich macht, und sie von den Mitgliedern der anderen Stände unterscheidet“. Stände dieser Art aber gebe es nur noch als Berufsstände der „Gelehrten, der Geistlichen, der Schullehrer, der Kaufleute, Handwerker, Bauern pp“. Den Übergang von der alten Ständegesellschaft hin zur berufständisch gegliederten Gesellschaft sei schon abgeschlossen: „Aber was haben jetzt die adlichen Personen, als solche, noch an Gemeinsamkeit?“ Was seien denn noch die „wesentlichen Kennzeichen“ gegenüber den Mitgliedern anderer Stände? Alles was dem Adel früher eigentümlich gewesen war, sei „im Sturme der Zeit“ untergegangen. Dieses Vergangene ist aber „im rasend schneller Fortbildung begriffenen Zustand der Zeit“ nicht mehr wieder herzustellen. An eine Neukonstituierung des Adelsstandes durch eine soziale Erweiterung auf die bürgerlichen Rittergutsbesitzer, in enger Anlehnung an die vergangenen, bzw. in Auflösung begriffenen Muster des gutsgesessenen Adels, wie es Gustav und Adolf v. Rochow noch vorschweben mochte, glaubte er nicht mehr. Streckfuß relativierte die noch verbliebenen sozialen, teilweise nur noch informellen Privilegien wie den „Hofzugang“, den eximierten Gerichtsstand oder gar die Namensauszeichnung durch Prädikate: nur zu den höheren Hofstellen habe der Adel noch exklusiven Zugang, selbst den eximierten Gerichtsstand müsse er mit den Staatsbeamten teilen. Bliebe also nur das „leere Prädikat“ des Wörtchens „von“. Die soziale Achtung durch die anderen Stände, ein „deference“-Verhalten der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem Adel, könne so nicht mehr erwartet werden: „Die Zahl derjenigen, welche in der Gesellschaft einer Person, blos um deswegen, weil sie adlich ist, irgendeinen Vorzug einräumen, ist gegenwärtig fast so gering, als die Zahl derjenigen, welche an Gespenster glauben […]“ – „Daß unter solchem Verhältnis auch die Gesinnung, welche den Adel auszeichnen und ihn als besonderen Stand von anderen unterscheiden soll, sich nicht erhalten kann, ergibt sich von selbst.“ Was jedoch wie Abgesang auf den Adel klingt, stellte sich aber im weiteren Verlauf des Votums als eine verblüffende Wendung zu einem radikalen Neuadelskonzept dar: Streckfuß plädierte nämlich keineswegs dafür, diese Entwicklung einfach hinzunehmen. Bald würden die letzten Spuren des Adelsstandes immer mehr verschwinden, mahnte er, „wenn nicht bald dazu gethan wird, dasjenige, was die Zeit zerstört hat, nicht in der alten Form, sondern nach den Bedürfnissen der Zeit wieder aufzubauen“. Und das sei dringend notwendig: denn der Staat „bedarf eines Standes, dessen Mitglieder als feste Höhen aus der Ebene der Gesellschaft hervorragen, auf welche die Blicke der Anderen achtungsvoll gerichtet sind […]“. Die „Geschichte von Jahrtausenden“ habe erwiesen, dass kein Land, keine Regierungsform sich lange ohne den Adel erhalten habe. Der Adel sei im Staats- und Gesellschaftsleben notwendig zur „Beruhigung der Volksleidenschaften“, um durch „anerkanntes und moralisches Überge-

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wicht“ diese auszugleichen. Allerdings müsse der Adel umgekehrt auch unabhängig von der „Gunst der Regierung“ sein, festbegründet im Wohlstand, um die Gesellschaft „gegen die Regierung zu vertheidigen“, gesetzt des Falles, „Recht, Freiheit und Ordnung“ seien in Gefahr. Um diesen Aufgaben gerecht zu werden, müssten allerdings die „Vorzüge des Standes in sich selbst gesichert und deshalb erblich sein“. Je älter der Adel, behauptete Streckfuß, umso mehr würde er die Voraussetzungen solcher Unabhängigkeit in sich tragen – durch die wiederholten Erbgänge würde „die wahre Adelsehre sich immer mehr befestigt haben“. Ausschlaggebend dafür seien allerdings die materiellen Grundlagen, der Besitz. Der Adel könne zwar mit einem Vorschuss an zugeschriebener „Ehrenhaftigkeit“ gegenüber dem Bürgerlichen rechnen, aber nur vorausgesetzt, er verfüge über großen Grundbesitz, denn dieser stelle die Grundlage zur Ausbildung dieser Adelseigenschaften dar; fehlt dieser, dann falle jeder Unterschied zwischen Adligem und Bürgerlichem. Deshalb könne „Adel in diesem Sinne […] nur noch gesucht werden in denjenigen nicht eben zu häufigen Familien, welche sich im ungestörten Besitz eines bedeutenden Grundbesitzes erhalten haben“. Doch selbst diese wenigen verbleibenden Familien bildeten keinen Stand mehr. Dazu gäbe es zu wenige von ihnen, auch marginalisierte Mitglieder der Familien würden durch diese selbst wie durch die Öffentlichkeit zu deren Stande gezählt, aber vor allem stünden sie in keinerlei Kontakt untereinander. Die Einrichtung einer neuen Korporation für den Grundadel täte not, dann würde sich der „wahre Unterschied“ zwischen diesem und den Bürgerlichen wieder herstellen. Das frühere exklusive Recht zum Besitz ständisch privilegierter Güter sei als mögliche Klammer des Adels jedoch „verloren“, und eine Wiederherstellung dieser Verbindung sei auch nicht wünschbar. Eine solche neue Adelskorporation würde jedoch nur erfolgreich sein können, wenn „das ganze Verhältnis zwischen Regenten und Volk“ durch eine umfassende Konstitution geordnet wäre. Damit war Streckfuß der einzige Votant, der die enge Beziehung zwischen der Adelsfrage und der Verfassungsproblematik offen thematisierte. In voller Übereinstimmung mit den Überzeugungen Friedrich Wilhelms IV. konstatierte Streckfuß, dass mit Ausnahme einiger „gewöhnliche[r] Politiker des Tages“ eine solche Verfassung niemand als ein „sofort fertiges Produkt der Abstraktion“ erhoffe – der Vergleich der Erfolge der „in dem Volke aus sich selbst“ herausgewachsenen englischen Verfassung mit den französischen und spanischen Erfahrungen der Verfassungsentwicklung belegten dies zu Genüge. Doch Preußen verfüge schon über die Elemente einer eigenen, latenten Verfassung, zu der „von dem hochseeligen König, so wie von des jetzt regierenden Königs Majestät […] in den letzten fünf und zwanzig Jahren so wichtige Schritte zu Entwicklung des konstitutionellen Prinzips im Volk selbst geschehen, dass man […] eben kein tiefer Politiker, noch weniger ein Prophet zu sein braucht, um mit Bestimmtheit vorauszusagen, dass vor Ablauf eines Menschenalters auch Preußen seine bestimmte und vollständige, wenn nicht geschriebene, doch thatsächlich bestehende Verfassung haben wird […]“. Der Adel werde aber in dieser zukünftigen Verfassungsgestaltung ein „unentbehrliches Element“ darstellen: „Wie aber die Elemente dazu in den Gemeinden, Kreisen und



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Provinzen schon mehrfach hergestellt worden sind, so dürfte es rathsam sein, auch hinsichtlich des Adelsstandes, […], wie auch die künftige Verfassung des Preußischen Staates, sich gestalten möge, […], dasjenige allmählig vorzubereiten, was zu Reconstituierung und zum korporativen Verbunde desselben erforderlich sein wird“. Im Verfolgen dieses Ziels sei allerdings höchste Vorsicht geboten, denn jeder Eindruck einer beabsichtigten Reprivilegierung des Adels würde nicht nur in Preußen, sondern in Deutschland wie im ganzen Europa eine allgemeine Aufregung verursachen. Umgekehrt würde es bedenklich sein, dem Adel, selbst dem Besitzlosen, etwas von seinen Rechten zu nehmen; umso mehr, da dies denjenigen, „welche an einer allgemeinen Nivellement arbeiten“, nur ermutigen würde. Die Stiftung von Fideikommissen ließe sich umso weniger erzwingen, als es in Preußen dafür an großen Vermögen fehle und der mäßige Wohlstand eher allgemein verbreitet sei. Stiftungen dieser Art wären deshalb zu wenige, um einen „nach allen Richtungen gleichmäßig verteilten Grundadel“ zu schaffen, wie umgekehrt eine ausgeprägte Besitzbindung an wenige Familien „die Zahl der Proletarier vermehren“ und fundamentale wirtschaftliche Interessen verletzen würden. Ein „Grundadel“, der zu einer Korporationsbildung herangezogen werden könne, sei deshalb unmöglich sofort und gesetzlich zu definieren. Es müssten erst die Grundlagen einer solchen Institution vorbereitet werden, und zwar auf eine solche Weise, dass im Falle eines Misslingens „keine neue Spaltung in der Gesellschaft, und keine sonstige Gefahr für den Staat zu besorgen wäre“. Diese Probleme ließen sich am leichtesten durch die Feststellung von Grundsätzen der Verleihung des neuen Adels vermeiden. Noch besser, wenn diese neuen Grundsätze von solcher Art wären, dass auch der bestehende Adel sie auf sich angewandt sehen möchte. Für Streckfuß bedeutete dies, dass grundsätzlich auch in Zukunft von der Existenz eines Geschlechtsadels auszugehen wäre – zu fest sei die Idee der Erblichkeit des Adels verankert, als „dass man bei mangelndem Grundbesitz von selbst erlöschenden Adel denken könne“. Streckfuß’ Vorschlag ging nun dahin, nicht in die Namen- und Erbrechte des bestehenden Adels einzugreifen, sondern ein den adligen Grundbesitzer auszeichnendes Prädikat einzuführen, welches bei Verlust des Gutes wieder verloren ginge. Der ererbte Adelstitel bliebe davon unberührt. Nach mehreren Generationen erfolgreicher Vererbung des Gutes könne dann noch ein ehrender Namenszusatz beigefügt werden, um diesen Ausweis adliger „Anciennität“ die Attraktivität der neuen Einrichtung zu erhöhen. Streckfuß schlug als Prädikatsbezeichnungen (nach österreichischem Vorbild) den Titel „Edler von N.N.“ vor, gefolgt vom Namen des Gutes. Als Auszeichnung des älteren Adels sollte der Titel „ReichsEdler von N.N.“ eingeführt werden. Diese Bezeichnungen seien nicht neu, betonte Streckfuß, „sondern schon lange in deutschen Ländern, vor allem Österreich gewöhnlich, und auch in Preußen nicht unbekannt“.159 Durch diese Maßnahmen könne der

159 Vgl. zum Neu-Adel in Österreich und zum Personaladel in Bayern: Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 6.

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neue Grundadel vor dem herkömmlichen ausgezeichnet werden. Letzterem würde es überlassen bleiben, „sich selbst seine Stellung in der Gesellschaft auszumitteln“, so Streckfuß kühl, „und sich, so gut er kann, mit ihr abzufinden, ohne ihm von Seiten der Regierung etwas zu geben oder zu nehmen.“ Das Angebot an den bestehenden Adel bestünde nun darin, dass dieser, vorausgesetzt er befände sich in dritter Generation im Besitz eines bestimmten Gutes auf dieses Zusatz-Prädikate sofort Anspruch erheben konnte. Durch diese Auszeichnung des älteren Adels könne sich dieser mit den neuen Einrichtungen versöhnen. Streckfuß plädierte also dafür, den überkommenen Adel durch eine neue Titulatur in gewissem Sinne zu „überbauen“ und dadurch in ein neues korporatives Verhältnis zu setzen. Die älteren adligen Titel und Prädikate blieben unangetastet, um sie allein schrittweise und schleichend durch die neu einzuführende Titulatur zu relativieren und tendenziell zu „entwerten“. Hatte der Hofmarschall v. Rochow eine Art nobilitierter, beschränkt vererblicher „Gentry“ als „Unterbau“ des bestehenden Adels vorgeschlagen, um den älteren begüterten Geschlechteradel nach und nach aus diesem „Reservoir“ gezielt ergänzen zu können, wollte Streckfuß’ Vorschlag „von oben“ eingreifen, und den existierenden Adel an einer neuen Maßstäblichkeit ausrichten. Anders ausgedrückt: bildete in Rochows Konzept der überkommene Geschlechteradel, vorausgesetzt er verfügte über ausreichend Grundbesitz, auch weiterhin den Maßstab für die „volle“ Adligkeit, bedeutete Streckfuß’ Vorschlag in letzter Konsequenz auch für diejenigen Mitglieder des historischen Adels, die unter den neuen Prädikaten an prominentester Stelle zu stehen kämen, eine dramatische begrifflich-ideelle Relativierung in der überlieferten Hierarchie. Als zusätzlichen Anreiz für den alten Adel sich der neuen Adelseinrichtung anzuschließen empfahl Streckfuß daher, „darauf hinzudeuten, dass dem Grundadel künftig auch eine politische Stellung im Staate angewiesen werden dürfte“. Im Gegensatz zu den anderen Votanten befürwortete Streckfuß zugleich die Einführung bzw. Nutzung der Verleihung eines persönlichen Adels, um so verdiente Beamte auszuzeichnen zu können. Doch erwarte er, dass „nach dem jetzigen Zustande der öffentlichen Meinung“ dieser Wunsch von Jahr zu Jahr seltener laut würde. Diesen Vorschlägen legte Streckfuß einen ausführlichen Instruktionsvorschlag bei, der zur Grundlage einer Allerhöchsten Kabinetts-Ordre dienen konnte (denn eine gesetzliche Regelung sollte auch seiner Meinung nach vermieden werden). Darin führte Streckfuß als Kriterien einer prospektiven „Adligkeit“ nicht nur den ausgezeichneten Militär- und Zivildienst, sowie „ausgezeichnete Bewirthschaftung ihrer Güter“ auf, sondern auch den Besuch „höhere(r) Schulen“ und „wissenschaftliche Ausbildung“. Zugleich wollte Streckfuß möglicher Güterspekulation einen Riegel dergestalt vorschieben, dass im Falle von Veräußerung von adligem Besitz und folgendem Neuankauf in gleichem oder größerem Umfang das Adelsprädikat neu verliehen werden müsse – dies sollte in den Fällen unproblematisch erfolgen, in denen der Kaufwert des neuen Besitzes zu zwei Dritteln aus eigenen Mitteln des Käufers bestritten würden. Der Verkauf eines Gutes um des spekulativen Gewinns willen sollte so



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unattraktiv gemacht werden. Weiter schlug Streckfuß eine eigene Matrikel für den neuen Grundadel vor, um diesen besser kontrollieren zu können. Die von Streckfuß gewünschte zukünftige politische Bestimmung dieses Grundadels wurde im letzten Punkt des Instruktionsentwurfs ausdrücklich wenn auch vage in Aussicht gestellt, da diese sich „bei weiterer Entwicklung der Verhältnisse ergeben“ müsse. Öffentlicher Widerspruch und eine allgemeine Diskussion über diese und ähnliche Vorschläge wären unvermeidlich sobald sie publik würden, schloss Streckfuß seine Ausführungen. Aber man habe nur die Wahl, sich auf einen solchen Schritt einzulassen, darauf hoffend, dass diese öffentliche Debatte sich wieder von selbst beruhige, da „niemand anders als in seinen Vorurteilen verletzt“ würde; oder aber man müsse die Sache „auf sich beruhen lassen“, und zuzusehen, wie „die Zeit das dem Staat nothwendige Adelsinstitut weiter zerstört“. Immerhin könne man gegenüber der Öffentlichkeit Rechenschaft über die Gründe der Maßregeln ablegen, und darauf hinweisen, dass es sich weder um eine „demokratische“, noch um eine „aristokratische“ Zielsetzung handele. Streckfuß versagte sich nicht, diesen Verweis mit einem Seitenhieb auf die mangelnde preußische „Öffentlichkeitsarbeit“ und Pressepolitik zu verbinden: Solange die Censur nicht gestattet, die Farbe und den Charakter der Preußischen Staatszeitung abzuspiegeln, und dadurch im Ausland die Meinung erweckt, daß es der Regierung überhaupt an Bestimmtheit der Farbe und des Charakters fehle, wird man freilich die Redactionen der ausländischen Blätter ersuchen müssen, der Vertheidigung der Regierungs-Maßregeln ihre Spalten zu leihen, damit sie in Preußen gelesen werden können.160

Georg Wilhelm v. Raumer: der Dienstadel als spezifisch preußische adlig-bürgerliche Elitenamalgamation Das umfang- und detailreichste Votum entwarf Georg Wilhelm v. Raumer. Dieser spannte einen erheblich weiteren historischen und sozialen Horizont als die übrigen Kommissionsmitglieder auf. In scharfem Kontrast zu den obigen Votanten entwarf v. Raumer ein Gesinnungs- und Dienstadelsmodell, das in seinen Konsequenzen selbst Mühlers Gutachten im Staatsministerium in den Schatten stellte.161 Raumer reflek-

160 Mit den „ausländischen Blättern“ waren vor allem Leipziger Publikationen gemeint. Selbst die preußischen Regierungsstellen beeinflussten gezielt Leipziger Blätter, um die preußische Politik nach innen wie nach außen zu verteidigen, vgl. Lothar Dittmer, Beamtenkonservatismus und Modernisierung. Untersuchungen zur Vorgeschichte der konservativen Partei in Preußen 1810-1848/49, Stuttgart 1992. Es muss offen bleiben, ob Streckfuß mit dieser Passage womöglich auf die ebenfalls in Leipzig erscheinende „Zeitung für den deutschen Adel“ anspielte, die von Friedrich de la Motte Fouqué geleitet, tatsächlich zu dieser Zeit kaum kaschiert die neue preußische Adelspolitik Friedrich Wilhelms IV. journalistisch unterstützte, vgl. dazu unten Teil III. Kap. 4.1. 161 Vgl. dagegen die Kurfassung von Raumers Ausführungen GSTAPK Rep. 89 Nr. 930 (Adel und seine Neubelebung, Erhebung in den Adelsstand und Verlust des Adels 1841-1847) Bl. 2v, die nichts von dieser Schärfe vermuten läßt: „H. v. Raumer theilt zwar die Ansicht, daß ein nicht auf die ganze

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tierte ausführlich die historische Entwicklung des Adels in Deutschland und Preußen.162 Dabei identifizierte er einen „historischen Weg“ der preußischen Adels- und Elitenentwicklung, den er durch entsprechende Maßnahmen in die Zukunft hinein verlängern wollte. Diese Maßnahmen sollten gewissermaßen nur die unterschwelligen Kräfte dieser historischen Entwicklung nutzen, aber ein direktes „utilitaristisches“ Eingreifen in diese historische Standesentwicklung ausschließen. Raumer entwickelte seine Gedanken dabei aus einer fundamentalen Kritik an der Grundannahme, „[...] daß die Erhaltung des Adels in seiner wahren Bedeutung allein davon abhängig sei, daß er die Selbständigkeit der sozialen Stellung bewahre, welche ein vom eigentlichen Broderwerbe unabhängigen Landbesitz zu allen Zeiten dargeboten hat.“ Diese Prämisse suchte Raumer durch eine ausführliche historische Abhandlung zu widerlegen. Dazu griff er die in den königlichen „Eröffnungen“ verwendete geschichtliche Begründung der neuen Adelspolitik auf: dass nämlich der niedere Adel ursprünglich aus einem Stand der Freien hervorgegangen sei, „als Deutschland mit Völkern in Kampf gerieth, deren Hauptstärke in Reiterei bestand, und die Nothwendigkeit sich ergab, durch eine mit dieser Kriegsart vertrauten Ritterschaft Widerstand zu leisten“. Die militärische Herkunft und die sich daraus ergebende „Standesgenossenschaft und Standesgesinnung“ habe diese Ritterschaft schließlich von den übrigen „Freien“ abgegrenzt. Doch weder habe der deutsche Adel je allein „die Nation“ ausgemacht, wie dies bei den slawischen Völkern der Fall sei, noch seien „militärische Gesinnung“ und „Ehrbegriffe“ exklusiv dem Adels zu eigen gewesen. Vielmehr hätte sich in diesem „nur conzentriert“, was „Gemeingut der deutschen Nation von jeher war und ist, was mit ihren ursprünglichen Freiheitsbegriffen innigst zusammenhängt […]“. Raumer formulierte hier schon einen Gedanken, der erst in der späteren adelsapologetischen Literatur nach 1848 voll ausgebildet werden sollte: der Adel sei ideeller Mikrokosmos der Gesellschaft, der eben deshalb zur Vertretung (bzw. Führung!) dieser Gesellschaft besonders berufen sei – „Vertretung“, „Repräsentation“ der Gesellschaft aber eben nicht durch die (privilegierte) Besetzung dazu vor-

Deszendenz vererblicher Adel bey uns eine Anomalie gegenüber dem historischen deutschen Adel seyn würde, doch glaubt er, da das Prinzip einmal veröffentlicht sey, brauche man es nicht ganz fallen zu lassen; selten zur Anwendung gebracht, würde es selbst vortheilhaft würden können, wenn man es als Gegensatz zu dem anderen Prinzip festhalte, daß überall die ganze Deszendenz mitgeadelt werde, wo gleichzeitig durch eine FideiCommisStiftung die Dauer des Familienstammes gesichert wäre.“ 162 „Soviel ist gewiss, soll überall etwas Nachhaltiges geschehen, um das Verhältnis des Adels in Deutschland angemessener, als bisher, zu stellen, so muß eine solche Masregel (sic!) im Prinzip des bestehenden Adels wurzeln, und um dieses zu erkennen, muß man auf die Entstehung des Adels, und wie sich die Lage desselben im Laufe der Jahrhunderte, besonders auch im preußischen Staate gestaltet hat, einen Rückblick werfen.“, vgl. Votum Raumer, Berlin 18. Okt. 1841, GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787, Bl. 98-147v, hier Bl. 98.



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gesehener besonderer institutioneller Einrichtungen wie Landtage, Parlamente oder Herrenhäuser, sondern durch die bloße Existenz als sozialer Formation.163 Denn „Ausschließung [sei] kein wahres Element des deutschen Adels“ gewesen. Erst mit dem Briefadel sei eine „Absperrung“ zwischen den Ständen eingetreten. Doch die sich seit dem Mittelalter ausbildende „strengere Standessonderung“ sei nicht „zum Heil“ des Adels eingetreten. Aufgrund dieser Ursprünge sei für den (niederen) Adel eine mehr „militärische als politische Bedeutung“ charakteristisch geworden, und „daß er dies in Deutschland mehr als in anderen Ländern, z.B. England geblieben ist, das ist ein Umstand, der noch jetzt nicht genug in die Waagschale gelegt werden kann.“ Selbst nach vier Jahrhunderten sei deshalb gerade im niederen Adel ein spezifisch militärisches, aber längst obsolet gewordenes Ehrgefühl erhalten geblieben: [...] „ein neuer Beweis, wie stark ideale Richtungen im Deutschen Gemüthe wurzeln“. Die Ursachen einer langfristig sich entwickelnden deutschen Adelskrise führte Raumer nicht auf die Herausforderungen durch das moderne Beamtentum oder des Briefadels zurück, sondern auf standesexterne Faktoren, wie die „immer größer werdende Zerspaltung Deutschlands“, hervorgerufen durch Reformation und Stärkung der Landeshoheit. Infolgedessen hätten gerade in den geistlichen Staaten das Pfründenwesen und die Ahnenproben einen verderblichen Standesabschluss gefördert, und versäumt, dem Adel als Landstand, oder in Militär- oder Zivilstellen neue Aufgaben zuzuweisen. Allein die „Familiengesinnung“, die „Hochschätzung des Ehrgefühls“, die sich aufgrund des fehlenden „äußeren Schauplatzes“ sich in die einzelnen Familien „zurückgezogen“ habe, rettete nach Raumers Darstellung den deutschen Adel vor der Bedeutungslosigkeit. Die Familien hätten sich trotz der ungünstigen politischen und sozialen Bedingungen „aufrechterhalten“, weil sich jedes adlige Individuum „als ein Glied der ganzen Verkettung der Generationen“ verpflichtet gefühlt hätte, mit der Folge, dass „der Einzelne weniger für sich und sein isoliertes Wohlbefinden existiere, sondern dass er […] doch für die Familie da sei, worin immer ein Gegengewicht gegen crassen Egoismus und nackte Selbstliebe“ läge. Andererseits habe dieser Familiensinn, durch keine Ausrichtung auf allgemeine politische Interessen diszipliniert, häufig zu „Summenstolz“ und „Ahnenzählerei“, einer Abschottung gegenüber anderen Stände geführt, zu „Junkerthum und die Standeseitelkeit“. Gegenüber dieser allgemeinen „deutschen“ Entwicklung setzte Raumer das idealisierte Bild der Inkorporation des Adels in den preußischen Staat mit seinen Herrschafts- und Verwaltungsorganen seit der Zeit des Großen Kurfürsten: dies hätte dem Adel die Möglichkeit geboten, sich „auf das Höhere zu richten“. Militärische Disziplin und die Subordination im zivilen Verwaltungsgang, „Ambition“ und „Gehorsam“ hätten als spezifische Gaben der brandenburgisch-preußischen Staatsentwicklung auf den Adel als Stand gewirkt – anstelle des Landes hätte nun der Dienst den Adel an

163 Bezeichnend für diese Argumentation ist die von Raumer subkutan vorgenommene Gleichsetzung von Staatsregierung mit der Staatsbeamtenschaft.

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den Landesherrn gebunden, während zugleich Ehrgeiz und Gehorsam als Bestandteile der älteren Adelsehre auf den neuen Beamtenstand übergegangen seien und als neues Ferment eine spezifische „preußische Dienstehre“ hervorbrachte. Diese neue Staatsministerialität des Adels zu begründen habe das Lehnswesen allerdings teilweise „gesprengt“ werden müssen. Auf den Adel als Stand hätte sich dies nicht deshalb so nachteilig ausgewirkt, weil dadurch der Adel tendenziell aus dem Grundbesitz gedrängt wurde (was nicht erwiesen sei), sondern weil dies die Beziehungen in der erweiterten Adelsfamilie lockerte. Denn die Aufhebung der Lehne habe die „Familiengesinnung“ verändert, und tendenziell auf die adlige „Kernfamilie“ reduzieren lassen: „[...] die Rücksicht auf Lehnsvettern tritt zurück, niemand mag gern seine Töchter durch auftretende Agnaten verdrängen sehen“. Allerdings sei der brandenburgische und pommersche Adel nie reich gewesen, noch sein Lehnbesitz „so absolut, wie man es jetzt verlangt, gegen Veräußerung geschützt, und er ist doch nicht zu Grunde gegangen“.164 Damit sprach Raumer einen zentralen Punkt der ganzen neuen Adelspolitik an: was aus der Sicht Friedrich Wilhelms und anderer als „Rückkehr“ und „Wiederherstellung“ älterer (und „wahrerer“) ständischer Verhältnisse gedacht war, lief doch in seiner Konsequenz auf eine Neudefinition des ostelbisch-preußischen Adels hinaus: denn der ununterbrochene Besitz bestimmter Güter in einer Generationenfolge war eben nicht typisch für das Erbverhalten der ostelbischen Adelsformationen gewesen – und die schließlich erfolgende strikte Einführung dieses Qualifikationskriteriums bei der Schaffung des preußischen Herrenhauses nach der Revolution 1848 sollte daher einem scharf formierenden Einschnitt in die preußischen Adelsverhältnisse gleichkommen.165 Für diesen Verlust an Familiendisziplin, so Raumer weiter, sei der Adel entschädigt worden, indem er fast exklusiv die „Ehrenstellen“ der Verwaltung bekleiden durfte. Doch in der weiteren Entwicklung und in Konkurrenz zum Leistungsprinzip seien die Dienststellen zunehmend als mögliche Pfründe des Adels betrachtet worden, bzw. umgekehrt, Adelstitel als Mittel zum Fortkommen in der Beamtenlaufbahn gesucht worden – eine Idee, so Raumer, die „jetzt fast herrschend geworden ist.“ Dies seien die tieferen Ursachen für den Verlust des Ansehens, den der preußische Adel seit dem 7jährigen Krieg hätte erleiden müssen. Insbesondere die Monopolisierung der „militärischen Ehre“, welche in Deutschland von jeher allen Ständen nicht fremd gewesen sei, habe einen bösen Konflikt mit dem Beamtentum hervorgerufen – das ALR würde als künstliches „Gerüst“ zum Schutze dieser Vorrechte betrachtet. Mit dieser Interpretation der älteren preußischen Elitenentwicklung verteidigte Raumer die Ergebnisse der preußischen Reformepoche als notwendige Korrektur wie logische Fortsetzung einer tiefer angelegten Entwicklungskontinuität des Adels zu einem verallgemeinerungsfähigen Staatsstand: die

164 Vgl. zur tatsächlichen Güterfluktuation in der frühen Neuzeit Frie, Marwitz, S. 106, Anmk. 7-10. 165 Vgl. dazu unten Teil III. Kap. 4.3.3.



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Reformen hätten die „Vorzüge des Adels“ auf breitere Kreise ausgedehnt, vornehmlich auf den Beamtenstand. Und die Beseitigung der „Unthätigkeits-Anstalten“ wie Domstifter und Comtureien habe unter den nachreformerischen Bedingungen der „idealen Ungleichheit“ den Adel motiviert, sich in seiner Leistungsbereitschaft mittels „individueller Tüchtigkeit zu bewahrheiten.“ Trotz dieser positiven Bestandsaufnahme konstatierte Raumer zugleich eine schizophrene Konsequenz der preußischen Elitenentwicklung seit dem 18. Jahrhundert und insbesondere seit der Reformepoche: es stünden sich zwei gesellschaftliche Hierarchien gegenüber: eben der Adel und der neue Beamtenstand, vielfach miteinander verschränkt, und sich im täglichen Umgang doch widersprechend. Für den Adel bedeutete dies, dass er „mit einem Fuß [...] noch im Mittelalter [steht], in dem Selbstbewußtsein einer angeborenen Bevorzugung, in der Privatfreiheit, welche dem grundbesitzenden Adel geblieben ist; [...]. Gleichwohl befinden sich diese [die Adligen, G.  H.] dem Staate gegenüber in einer Art von Ohnmacht; der Staat gehöre der neupreußischen Ministerialität, dem Beamtenthum, an [...]“. Doch zugleich würden sich durch „alle Cathegorien“ des Dienstes Mitglieder des Adels als (sozial) privilegiertem Stand „ziehen“, während eben diese sozialen Vorzüge in der Beamtenhierarchie nicht anerkannt würden. So käme es zu absurden sozialen Begegnungen, wie die des bürgerlichen Ministers, dem ein adliger „Calculator“ untergeben sei, dessen Töchter wiederum sich dem Minister „in einem unnennbaren Etwas“ überlegen fühlten – darin bestünde der Kern der adlig-bürgerlichen Konflikte der Gegenwart. Diese ungeklärte soziale Situation führe dazu, dass der Adel verstärkt auf distinguierende Standeszeichen im Äußeren Wert lege - die Benutzung des Adelsprädikats und der Titel und Anreden – „Standeseitelkeiten“ wie es Raumer formulierte, welche auf „erschreckliche Weise“ um sich gegriffen hätten. So hätten „Kernfamilien“ des „alterbländischen“ Adels begonnen, das Freiherrenprädikat zu beanspruchen, und Standesanmaßungen unter zweifelhaften Vorwänden hätten enorm zugenommen. Der Kampf gegen die „Titeleitelkeit“ sei daher wünschenswert.166 Die Idee, den Adel als Stand auf Grundbesitz neu zu konstituieren, lehnte Raumer unter diesen Voraussetzungen strikt ab. Zwar konzedierte er, dass der Grundbesitz und „die dabei erforderliche Handhabung des Regiments über viele mitarbeitende Personen“ für die Ausbildung des adligen Habitus eine gewisse Rolle spiele (insbesondere da es sich bei den adligen Gutsbesitzern zum größten Teil um „Selbstbewirtschafter“ handele, die anders als in Österreich ihre Arbeit nicht an angestellte

166 Raumer schlug dazu halbernst vor, Adelstitel ganz frei zu geben, dann würde sich ganz von alleine der „wirkliche Wert“ des Namens zeigen, durch die Anerkenntnis oder Ablehnung in der Öffentlichkeit. Raumer zitierte dazu das Beispiel des zeitgenössischen Frankreich: „Im jetzigen Frankreich kann sich jeder Graf und Herzog nennen. Die Folge ist, daß der Adel nur da gilt, wo man ihn als solchen kennt [...].“

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Wirtschaftsbeamte delegierten). Ebenso gelte dies für die Ausbildung einer „gewissen großartigen, unbeschränkteren Anschauung der Weltverhältnisse“; aber für den preußischen Staat seien diese Verhältnisse doch nur „vermöge des Dienstes“, wie auch durch die Ausübung der Patrimonialjurisdiktion und Ortspolizei nutzbar geworden. Von Bedeutung sei der Grundbesitz für den Adelsstand nur als Einkommensquelle, da er eine gewisse Unabhängigkeit garantiere und das Ansehen in der Bevölkerung mehre. Aber jede Politik der Reprivilegierung des Adels sei kontraproduktiv, denn „[...] man kann nicht stark genug die große Wahrheit geltend machen, dass dem Staate nicht an den Familien, sondern am Stande gelegen ist [...]“. Der Staat müsse seine Politik bezüglich des Adels deshalb nur in Rücksicht auf dessen Rolle als „Staatsstand“ ausrichten, und nicht auf den Erhalt einzelner adliger Familien. Verantwortlich für diese Fehleinschätzung machte Raumer die „politische Nichtigkeit“ des „deutschen Adels“, „[...] als ob es allein auf Conservation der Familien bei Glanz und Reichthum ankomme, während der Staat es nicht mit Individuen und Familien, [...] sondern mit dem Stande zu thun hat“.167 Die hier zu Tage tretenden Unklarheiten der begrifflichen wie rechtlichen Abgrenzungen zwischen Adel (als sozialem Stand!) und (politischem) Gutsbesitzerstand lassen sich immer wieder in den zeitgenössischen Reflektionen über die Bedeutung und Rolle des Adels beobachten – eine notwendige Folge des durch die Reformgesetzgebung verursachten „ständischen Paradoxons“. Einerseits wollte Raumer den Adel als „Staatsstand“ ansprechen, und das konnte nur bedeuten: ihn aus dem Kreis der sonstigen Staatsbürger „hervorheben“, also privilegieren. Andererseits sollte jede Privilegierung des immer noch politisch wie wirtschaftlich und kulturell bedeutendsten Adelssegments – der adligen Grundbesitzer – gegenüber anderen Grundbesitzern unterbleiben! Raumer suchte sein Anliegen eines „adligen Staatsstands“ durch einen Vergleich mit dem in seinen Augen negativen Beispiels der west- und süddeutschen Reichsritterschaft und speziell des rheinisch-westfälischen Stiftsadels zu illustrieren: „Durch die neueren Zeitereignisse hat Preußen in Westphalen und am Rhein einen Adel erworben, dem [...] der Character des preußischen Adels, die Bewahrheitung seiner Standesehre vorzüglich im Dienste zu suchen, nicht ausgeprägt ist [...].“ Diese Adelsformationen zeichneten sich durch „Engherzigkeit, Beschränktheit, Abgeschlossenheit, Schlaffheit“ aus, da sie sich noch immer nach „den Fleischtöpfen Egyptens“ [d.h. den Pfründen der nach 1803 aufgelösten geistlichen Herrschaften, G. H.] zurücksehnten [...]“. Deswegen würde dieser Adel „gegenüber seinen ärmeren Genossen zwischen Weichsel und Elbe“ in all dem „sehr zurückstehen“, „was das wahre Wesen des Adels ausmachen soll“. Die jenem Adel eingeräumte „Autonomie“ und ähnliche Maßnah-

167 Man vergleiche die ganz ähnliche lautende, doch in eine völlig andere stände-politische Richtung zielende Argumentation der ostpreußischen Ritterschaft von 1837, die allein einer staatliche Stützung des Grundbesitzerstandes und nicht einzelner (adliger) Familien das Wort redete, vgl. oben Teil I. Kap. 2.4.3.



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men seien „unnütz und selbst gemeinschädlich, sobald diese Erhaltung Selbstzweck und nicht blos Mittel sein soll, demnächst eine politische Stellung zu erlangen [...]“.168 Jede Form einer selbst gewählten sozialen Isolation könne dem Adel nur schaden, und dazu gehörten in Raumers Sicht auch „die [...] in Vorschlag gekommenen Assoziationen des Adels“. Seit den dreißiger Jahren und verstärkt im Vormärz wurden Forderungen nach Bildung von „Adelsvereinen“ laut. Raumer hielt dies nicht für „ausführbar“, da die „vielen Cristallisationen, welche Bildung, Reichthum, Grundbesitz, Dienst, Hof, politische und religiöse Überzeugung, selbst höhere und niedere Titel, im Adelsinstitut hervorgebracht haben“ einer solchen vereinsmäßigen Assoziation entgegenstünden; insbesondere „in einer Zeit, deren vorherrschender Charakter nach allen Seiten hin Individualisierung ist, und wo Associationen nur zu materiellen Tendenzen zu Stande kommen [...]“. Selbst zur moralischen Selbstkontrolle und Sanktionierung des Standes seien solche Zusammenschlüsse des Adels nicht geeignet da „nemlich der Adel selbst jetzt nach zu vielen Seiten hin auseinanderfährt, als daß eine ihn blos als erblichen Stand umfassende Assoziation in jener Beziehung recht wirksam werden könnte“. Diese Einschätzung Raumers sollte sich als prophetisch erweisen, wie das Projekt der „Zeitung für den deutschen Adel“ und die daraus hervorgehende Initiative zu einem vereinsmäßigen Zusammenschluss des Adels schon in kurzer Zeit beweisen sollten.169 Als Alternative für eine solche adlige Standeskontrolle konnte sich Raumer allein „[...] das überhaupt noch einer so großen Entwicklung fähige Institut der Kreisstände [...]“ vorstellen, „[...] wohin die provinzialständische Gesetzgebung auch führt, um, und zwar nicht bloß für den Adel, sondern für die Rittergutsbesitzer im Allgemeinen, eine Art von Überwachung einzuführen [...]“. Auf diese Weise ließen sich nach Raumers Einschätzung auch die „Ehrenrechte“ (Patronat, Justiz und Polizei), die „jetzt auf eine ziemlich todte Weise ganz allein an den Erwerb eines Gründstückes geknüpft sind [...]“ in ihrer sozialen Bedeutung ausgestalten. Dazu könnten Matrikeln zur Kontrolle des „losen Adels“ nach dem Muster der Rheinprovinz und anderer deutsche Länder eingeführt werden, eine „wohltätige Anstalt“ für den Adel. Solche Matrikeln, „[...] von denen wie schon 1806 jetzt wieder soviel die Rede ist [...], dürften aber kein „Prunkinstitut“ darstellen, wie überhaupt

168 Selbst das Beispiel des österreichischen Adels wollte Raumer nicht gelten lassen: […] „trotz seines dort bisher noch unbeneideten und gefährdeten Reichthums“ könne er dessen Stellung „nur eine verkrüppelte nennen“. Verantwortlich dafür sei der „vergiftende Einfluß des spanischen und jesuitischen Wesens“ und die Unterdrückung und Enteignung des evangelischen Adels zugunsten von „Abenteurern“ und „Günstlingen“. Dagegen bezeugen zahlreiche Äußerungen und Kommentare, z.B. in der „Adelszeitung“, dass in der weiteren deutschen Öffentlichkeit gerade dem österreichischen Adel noch ein enormes Prestige und die Legitimität seiner sozialen Präeminenz zugeschrieben wurde. Friedrich de la Motte Fouqué und Fürst Pückler z.B. nannten den österreichischen Adel in einem Atemzug mit dem englischen als vorbildlich für eine aristokratische, auf Vermögen wie Lebensstil sicher gegründeten Adelsformation, vgl. unten Teil III. Kap. 4.1.5. und Kap. 4.3.3. 169 Vgl. dazu unten zur „Adelszeitung“ Kap. 4.1. und zu „Adelsvereinen“ Kap. 4.2.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

auf eine eigene Behörde verzichtet werden könne, wenn die Oberpräsidenten in Verbindung zur zentralen Archivverwaltung mit dieser Aufgabe betreut würden.170 Das Vorbild der englischen Adelsverhältnisse zur Konstituierung eines neuen preußischen Adels sei vor diesem historischen Hintergrund unangebracht. Aufgrund der normannischen Eroberung hätte der englische Adel seit jeher einen rein feudalen Charakter gehabt, begründet auf „Dotationen“, wie „dergleichen sich auch aus den Napoleonischen Generalen und deren Dotationen entwickelt haben möchte“, wenn Gott es nicht abgewandt hätte“. Darin läge auch der mehr politische Charakter des englischen Adels begründet, der im Kern eine „politische Institution“ sei, wogegen der deutsche Adel auf ursprünglich staatsferner „Standesgesinnung“ beruhe.171 Darüber hinaus hätte es die stabile politische Situation in England seit der Elisabethanischen Zeit zugelassen, dass sich im englischen Adel ein „Handelsgeist“ ausbreiten konnte, der die titulierte „Nobility“ sogar noch mehr auszeichne als die Gentry. Standesabgeschlossenheit sei so verhindert worden, was „sowohl den Advokaten in die Pairie ruft, als auch die Heirat eines Herzogs mit der Tochter eines Kaufmanns ohne Anstoß vor sich gehen lässt“, erklärte Raumer. Dieser Handelsgeist, als auch der dortige Aristokratismus, der sich auf Besitz begründet, seien Deutschland fremd geblieben, dagegen hätte „der Deutsche“ seit jeher eine mehr „innerliche, ideale Richtung“ verfolgt. Eine Übertragung englischer Modelle auf die deutsche Situation sei daher kaum möglich. Für die Fortdauer des Adels sei vielmehr die Teilnahme an der Staatsregierung entscheidend, auch wenn „die Fähigkeit hierzu, die beste Nahrung zu diesem höheren Leben aus einem unabhängigen Vermögen, insbesondere aus dem Grundeigenthum, und dem damit gewissermaßen von der Natur selbst verknüpften Beruf (sic!) an sich ziehen mag“. So besitze Englands Landadel zwar keine „eigenthümlichen Hoheitsrechte seiner Landgüter, wohl aber eine sehr ausgedehnte Teilnahme an der Staatsregierung“. Auch für die Zukunft Preußens sah Raumer eine Verlagerung weg von der preußischen „Beamtenhierarchie“, die ihren „Culminationspunkt“ erreicht habe: „[…] der „politische Schwerpunkt des Staats [mag] sich nach anderen Seiten hinneigen, und, wie angedeutet wird, das Regieren von der Beamtenschaft auf andere Kreise mit übergehen, die es nicht als speziell erlerntes zünftiges Gewerbe treiben [...]“. Doch die „Kunst“, das „große geistige Capital“ welches die „Staatsregierung“ in der Gegenwart erfordere, lasse es nicht zu, die Politik als „Nebengeschäft“ Grundeigentümern zu überlassen, „deren Beruf in der Landwirthschaft liegt, bei der sie selbst thätig sein müssen, wie dies bei dem Adel der alten Provinzen der Fall ist [...]“ – dies erfordere den „ganzen Menschen, [...] mag es nun ein besoldetes Mitglied der heutigen Beamtenhierarchie oder ein Mann sein, dessen Existenz auf einer anderen, ihm eigenthümlich zuständigen Grundlage beruht“. Wenn aber „in der Teilnahme

170 Vgl. zur Problematik der Adelskontrolle durch eine „Adelsmatrikel“ in Preußen unten Kap. 4.3.1. 171 Vgl. Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 9-10.



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an der Landesregierung eine Hauptbedingung eines Adelsstandes gefunden wird“, dann müsse die Form dieses Adelsstandes, so Raumer, eben weil „dermalen noch die Landesregierung im Beamtenthume ruht“, „hauptsächlich und ganz vorzüglich in seiner Stellung zum Beamtenthum aufgefaßt und behandelt werden [...]“. Denn, so fragte Raumer polemisch: „Wäre eine neue politische Aristokratie das, was Dienstund Beamtenadel bisher dem Monarchen waren?“ Kurz: für Raumer nahm seit dem 18. Jahrhundert die „neugebildete Ministerialität des Beamtenthums“ für Preußen die Stelle ein, die in England der politischen Aristokratie zukam.172 Raumer entwarf also keine „Dekadenz“-Geschichte, um die Unterschiede zwischen den englischen und preußischen Adelsstrukturen und ihres Verhältnisses zum Staat (und zur Politik) zu erläutern. Vielmehr zeichnete er seit jeher gegebene unterschiedliche historische Dispositionen. Aufgrund dieser Vorgeschichte lehnte es Raumer ab, in die preußischen Adelsverhältnisse einzugreifen. Dies sei grundsätzlich problematisch, da das Adelswesen „außerhalb der Staatsgewalt“ entstanden war. Und durch den Eingriff in das Vererbungsprinzip des Adels überhaupt sowie nach „Utilitaritätsprinzipien“, „wiewohl in bester Absicht“, würde „der Glaube an das Hergebrachte, Positive des Instituts erschüttert, und dem Stande selbst das Gefühl des angeerbt Mysteriösen, das ihm anvertrauten, von höherer Gewalt unantastbaren Heiligthums erstickt“. Die „legislative Einwirkung“, die „heutigen Tages beliebte politische Macherei“ drohe dieses „historische Institut“ endgültig „nach ihren Ideen zu modeln“, und dabei jedweder „Willkür“ auf Dauer Tür und Tor zu öffnen. Denn auch wenn diese für den Moment nur den „Neuen Adel“ beträfen, würden diese ideell doch auch dem „[...] bestehenden alterblichen Adel an die Wurzel greifen [...]“. Entgegen der im Staatsministerium genutzten Argumentation, der designierte „Neue Adel“ sei numerisch viel zu schwach, als dass er auf den „alten Adel“ als Vorbild einwirken könne, erfasste Raumer augenblicklich, dass dessen neue Vererbungsrichtlinien als Leitbilder weit über dessen Standesgrenzen wirken mussten. Stattdessen wollte Raumer das Ziel einer genaueren Standesdefinition auf „indirektem Wege“ verfolgen – durch „eine konsequente Behandlung gegebener Fälle“ nach den neuen Richtlinien, die sich „frei von allen Privatrücksichten, dem Supplizieren usw. erhält, und rein das politische Interesse im Auge behält [...]“. Denn: Der schwierigste, aber auch der wichtigste Theil der Regierungskunst besteht wohl nicht im Aufstellen neuer Ideen und richtiger Prinzipien, sondern in dem täglichen Festhalten an dem, was als Prinzip vor Augen gestellt ist [...].

172 „Hierzu kommt, daß die neugebildete Ministerialität des Beamtenthums, welche in Preußen, wie man auch sonst darüber denken mag, vom allergrößten Gewicht im ganzen Staatsleben ist, in England fehlt, und dort eben durch jene politische Aristokratie ersetzt wird.“

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

In seinen konkreten Lösungsvorschlägen ließ sich Raumer wesentlich durch die oben geschilderten konfligierenden adlig-bürgerlichen Beziehungen in der preußischen Verwaltung leiten. Sinnvoller schien ihm hierzu die Schaffung eines Personaladels, da seit dem Aufkommen des Briefadels die „[...] stillschweigende Rezeption in den Adel [...]“ leider verschwunden sei. Durch den Verweis auf historische Fälle suchte Raumer für den deutschen, wie die preußischen Provinzen die Existenz des Personaladels zu belegen: Die Königin von Schweden adelte 1660 den jedesmaligen Bürgermeister von Stettin; der Magistrat in Königsberg, Breslau, auch in Cölln galt für seine Person für adlich; ja es konnte im südlichen Deutschland ein Bauernbursche, wenn er Reichsabt wurde, für seine Person Gleichschätzung mit dem hohen Adel erlangen [...].

Nicht umsonst sei schon 1810 die Einführung eines Personaladels für Preußen verhandelt worden. Für den übrigen Adel wäre dessen Einführung unbedenklich, da er „[...] nicht gegen das Erblichkeitsprinzip des bestehenden Adels [verstößt], welches seinen Gang daneben fortgeht“. Dagegen hätten die neuen Bestimmungen der Standeserhöhungen auf den Huldigungslandtagen nach seinem Geschmack die Idee der „persönlichen Würdigkeit“ der Geadelten in den Hintergrund treten lassen zugunsten reiner Vermögens- und Grundbesitzverhältnisse. Doch in jedem „soliden Staat“ spiele die Idee des „Verdienstes“ eine große Rolle, und der preußische Beamtenstand (sic!) reagiere auf die Vorstellung, dass nun „[...] der Güterspeculant, der reich gewordene Pächter, der, der in Staatspapieren glücklich spielte“ vornehmlich Anspruch auf Nobilitierung erheben könne, äußerst „reizbar“ – „[...] und man wollte wünschen, daß er es nicht wäre“, fügte er unterschwellig drohend hinzu. Zwar könne die politische Bedeutung des Grundbesitzes für den Staat und für den Adelsstand nicht verkannt werden – aber Raumer, selbst Mitglied einer alten, (fast) grundbesitzlosen Beamtenadelsfamilie, warnte davor, „die im Dienstprinzip liegenden Adelselemente“ zugunsten „einer einseitigen Richtung“ aufzugeben, „durch die man in der besten Absicht nur den heillosesten Lehren des Zeitgeistes in die Hände arbeiten würde.“ Denn die „Aufgabe unseres Staates“ bestehe nicht darin, „eine grundbesitzende, politische Aristocratie zu bilden.“(!) Vielmehr müsse ein Weg gefunden werden, dem „Landadel, dessen substantieller Werth nicht in seinem politischen Schwergewicht, sondern in der aufgeerbten Gesinnung liegt, alle die anzuschließen, welche auf würdige Weise Grundeigenthum erlangt haben [...].“ Raumer interpretierte die neuen Adelsbestimmungen Friedrich Wilhelms nun recht frei als Einführung eines Personaladels, dem aber unter Erfüllung bestimmter Bedingungen, nämlich dem Besitz rittermäßigen Grundbesitzes, die Vererblichkeit zugesichert würde.173 Die Öffentlichkeit habe sich „der Sache nicht ganz abhold gezeigt“, aber

173 Dabei handelte es sich um eine kalkulierte Fehldeutung Raumers. Weder im Staatsministerium noch in der Adelskommission wollte jemand außer ihm die Einführung eines Personaladels, wie auch



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für den grundbesitzlosen geadelten Beamten müsse es wie Hohn klingen, dass er nur dann seinen Adel weitervererben könne, wenn er ein Rittergut erwerbe – Raumer wollte deshalb die Bedingungen für eine „Vererbungsgarantie“ des Adels nicht „ausschließlich an die Scholle fesseln“: Dies wären meine eventuellen Vorschläge, wenn einmal von der Vererbungs-Maxime geändert werden soll, indem ich auch alsdann nicht dafür stimmen könnte, die Vererbung an die Scholle zu knüpfen, um so weniger, als, wie schließlich darlegen werde, des Königs Majestät diese alleinige Abhängigkeit der Vererbung vom Grundbesitz neuerdings sogar bei den höheren Adelstiteln, den Grafen- und Freiherrn- Würde, daran gegeben haben, wo sie doch weit unbedenklicher ist, ja wo ich sie rechtfertigen möchte. Es ist nemlich gar nichts Neues in Deutschland, dass der Fürstentitel nur auf den ältesten Sohn gelangt, die anderen gräflichen Standes bleiben.

Im Gegenzug schlug er eine „Mannigfaltigkeit“ bei der Vererblichkeit des Adels vor: Für den großen Grundbesitz, die „große Celebrität“ und bedeutende Fideikommissen sollte die volle Vererblichkeit, also der Geschlechteradel verliehen werden können; eine andere, beschränktere Vererblichkeit sollte Majoraten und Rittergütern zuerkannt werden; und endlich sollte für höhere Zivilbeamte und Offiziere ohne Grundbesitz ein Personaladel eingeführt werden, der jedoch die Garantie enthielte, dass die Söhne und männliche Nachkommen bei Erreichen von höheren Positionen im Zivildienst und im Militär diesen Adel aufleben lassen und fortführen dürften. Moritz August v. Bethmann-Hollweg: Land als unabdingbare Machtgarantie Bethmann-Hollwegs Ausführungen über den Ursprung des Adels glichen auffällig Raumers historischen Einschätzungen bezüglich der Herkunft des niederen Adels aus dem Stand der Freien und seinem gewachsenen Verhältnis zum Staatsdienst. Die Schlussfolgerungen die Bethmann daraus zog könnten jedoch in keinem größeren Gegensatz zu Raumers Positionen gedacht werden.174 Nicht in der Verarmung eines Teils des Adels sah Bethmann das vordringliche Problem, da der unbegüterte Teil des Adels seit jeher „aus dem Staatsdienst im Civil und Militär seine Subsistenz und seinen Glanz“ gezogen habe. In den vereinzelten Fällen tatsächlicher Verarmung würde es ausreichend sein, wie schon Innenminister Gustav v. Rochow in seinem Votum vorgeschlagen habe, dass der Adel niedergelegt, oder, was Bethmann persönlich vorziehen würde, der Adel ruhe. Eine politische

die sich anschließenden Verhandlungen zeigten. Da aber Raumer endlich die Entwürfe eines Adelspatentes ausarbeitete, und in diese seine den erzielten Verhandlungsergebnissen entgegenstehenden Ansichten einarbeitete, gelangte dessen Deutung in die Historiographie. So behauptete schon Heinrich v. Treitschke in seiner kursorischen Zusammenfassung der Adelsreformverhandlungen die beabsichtigte Einführung eines Personaladels. Dieser Darstellung folgte auch Koselleck. Vgl. Ders., Deutsche Geschichte, Bd. 5, S. 249-252. 174 Votum Bethmann-Hollweg, Berlin 12. Okt. 1841, GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787, Bl. 149-157.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Bedeutung fehle dem Adel solange nicht, als er, „[…] wenn auch nicht vermöge eines gesetzlichen Vorzugs, doch faktisch, weil durch Sitte von anderen Berufsarten abgehalten […]“, sich dem Staatsdienst zuwenden würde. Die Missstimmung zwischen dem höheren Bürgertum und dem Adel sei auf „politische Zeitansichten“ zurückzuführen, und insofern durch einen Eingriff in das Adelsrecht kaum zu beeinflussen, höchstens kontraproduktiv, da es als Konzession an eben diesen „Zeitirrthum“ gewertet werden würde. Aber wenn eine „politische Institution, wie der niedere Adel ist, nicht nur äußerlich fortbestehen, sondern als lebendiges Glied des Staatsorganismus in dessen fernerer Entwicklung mit fortwachsen“ solle, genüge es nicht, einzelne Missstände zu beseitigen, vielmehr käme es auf das „eigentliche Wesen der Institution“ an, und welche Lebensfähigkeit dieser noch innewohne.175 Das hervorstechende Merkmal des Adels sei zunächst die ihm zugeschriebene höhere „Ehre“, eine soziale Auszeichnung, die auch die anderen Stände ihm zugeständen. Doch diese höhere Schätzung sei nur eine Folge, „mehr die Erscheinung eines vollen Vorzugs“, und ohne diesen echten Vorzug würde auch diese Höherschätzung wohl für eine Zeitlang, aber nicht auf Dauer bestehen können. Historisch aus dem Kreis der „Freien“ durch Ritterdienst, d.h. „ehrenvolle Beschäftigung“ und „ausschließend kriegerische Lebensweise“ entstanden, gehörte auch der größere Grundbesitz „wesentlich“ dazu, um diese Lebensweise zu ermöglichen, bzw. weil der Ritterdienst als „dingliche Last“ mit diesem verbunden war. Durch die Nobilitierung bürgerlicher Aufsteiger in den höheren Zivilstellen sei der Adel zur „conventionellen Auszeichnung geworden“, hätte aber zugleich verletzend eine Unvereinbarkeit von „Bürgerlichkeit und hohen Staatsämtern“ demonstriert. Von einer befruchtenden, konstruktiven Übernahme adliger Haltungen und Wertvorstellungen in den Habitus der preußischen Beamtenschaft wollte Bethmann im Unterschied zu Raumer nichts wissen. Das Schicksal des Adels ließe sich deshalb, zwar nicht für die unmittelbare Zukunft, aber in langfristiger Perspektive vorhersagen: von seiner „realen Basis“ zunehmend abgedrängt, nur vorübergehend noch „[…] durch die Meinung eine Zeitlang getragen, in den geselligen Kreisen mit dem höheren Bürgerstand sich vermischend […]“, wird er, wie schon im zeitgenössischen Frankreich zu sehen, nur noch in den Erinnerungen und Namen, nicht als politische Macht, fortleben. Die Frage sei deshalb allein, ob diese Entwicklung einfach nur beobachtet, gar gefördert, oder „durch geeignete Mittel“ gesteuert werden solle. Diejenige „zahlreiche Parthei“, welche „nur in absoluter Gleichheit Kraft und Freiheit erkennt“ würde „[…] jede blos retardierende […] Maaßregel, weil jenen Erfolg schließlich fördernd […], begrüßen.

175 An dieser Aussage besticht die von Bethmann als selbstverständlich vorausgesetzte Annahme, dass der (niedere) Adel per se noch als eine „politische Institution“ anzusprechen sei, was er ja nach der Reformgesetzgebung nicht mehr sein sollte, und auch von der Mehrzahl der übrigen Votanten verneint worden war.



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Wer aber Standesunterschiede wünsche, weil er „[…] in der Mannigfaltigkeit Leben und Freiheit, Gleichheit in der Ungleichheit als Wesen des Rechts erkennt […]“, müsse den niederen Adel, wenn vielleicht auch „modifiziert“, erhalten und neu beleben wollen – denn „[...] neue Stände zu erfinden oder zu schaffen […]“ sei unmöglich. Dies hätte zur Voraussetzung, dass künftig nicht mehr nach „Verdienst“ nobilitiert würde – „[…] Verdienst kann sich jeder in seinem Stande machen […]“: der Verdienstadel sei ein „Unding“, und dessen Erhaltung könne nur die „[…] Auflösung des Adels als Stand befördern“. Die Vergabe von Orden, wenn es eines solchen Anreizes überhaupt bedürfe, sei zur Auszeichnung von Verdienst vollkommen ausreichend. Bethmann verurteilte in diesem Punkt den Bericht des Staatsministeriums und die vom König daraufhin konzessionierten Modifikationen ausdrücklich. Um den Beamtenstand in seiner Gesamtheit nicht zu entmutigen wäre es deshalb günstig, auf Nobilitierung für Verdienste zu verzichten, bzw. Ausnahmen nur in Verbindung mit Dotationen vorzunehmen, wie diese in Fällen wirklich herausragender Verdienste (Bethmann verwies einmal mehr auf die Beispiele Scharnhorsts und Gneisenaus) sicher „nicht fehlen“ würden. Bezüglich der Verweise des Staatsministeriums auf den „Geschlechts“-Charakter des Adels stimmte Bethmann zu, dass dieses Merkmal der Adel „mit jeder Aristokratie“ gemeinsam habe, und in Verknüpfung der verschiedenen Generationen die „[…] edle, ächt nationale Sitte und Gesinnung in einer größeren Gemeinschaft […]“ fortpflanzt – doch die „höhere Standesehre“ begründe dies noch nicht. Beruhe die „gemeine bürgerliche Ehre“ auf der „sittlichen Würde“ des Einzelnen, so die „höhere Adels- oder Standesehre“ auf der „Macht“. Diese „Macht“ definierte Bethmann als eine Mischung von Privatrecht, Vermögen und öffentlichem Einfluss im Staat. Diese bedingten einander, denn „[…] Reichtum macht noch nicht vornehm, und der einflussreichste Staatsmann würde nicht die volle Ehre seines Amtes haben, wenn er daneben darbte […]“. Deshalb müsse ein eigentumsloser Staatsmann eine seinem Rang entsprechende Besoldung erfahren, wie umgekehrt der Adel reich sein müsse, um „[…] die höhere Ehre seines Standes zu behaupten […]“, d.h. nicht nur nicht arm, sondern selbständig. Entscheidende Grundlage der Macht aber sei das Land, welches auch nach der Aufhebung aller gutsherrlichen Rechte eine natürliche Herrschaftsposition garantiere. Bethmann schenkte also den eigentlichen ständisch-patrimonialen Rechten, die sich mit dem großen, bevorrechteten Grundbesitz verbanden keine eigentliche Beachtung: vielmehr war es der stabilere, „[…] weniger den Schwankungen des Schicksals ausgesetzt(e)“ Charakter des Grundvermögens, das dieses gegenüber dem „Capitalvermögen“ auszeichnete. Darüber hinaus eignete es sich besser, die „Macht“ des hervorragenden materiellen Vermögens auch nach „außen“, in der Öffentlichkeit zu konstituieren. Zwar hätten „Verschuldung“ einerseits und allgemeine ökonomische Verhältnisse den Grundbesitz und die „Industriellen“ näher gebracht, doch deren „Grundverschiedenheit“ dieser Vermögensarten keineswegs aufgehoben. Das Land garantiere die Fortdauer der Geschlechter. Außerdem sei das Land nicht einfach

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eine Sache, die als „Zweig der Industrie“ gewertet werden könne: am Land hingen immer Menschen. Und selbst wenn eines Tages alle noch verbleibenden patrimonialen Rechten aufgelöst, eine „[…] lebendige Communalverfassung unsere ländliche Bevölkerung wahrhaft zu emancipieren […]“ vermocht habe, so würde doch das natürliche materielle Gefälle zwischen Gutsherrn, benachbarten Bauerngemeinden, vor allem aber Tagelöhnern und „Häuslern“ ein neues „faktisches Herrschaftsverhältnis“ neu begründen. In genauer Umkehrung zu Raumers Darlegungen folgerte Bethmann also daraus konsequent, dass der Staatsdienst in keiner Beziehung zum Stand stünde und nur als ergänzende Einkunftsquelle dienen könne – wie diese Möglichkeit historisch auch durch den Adel in solchen Ländern genutzt worden sei, wo er ständisch zurückgedrängt und relativ unvermögend war, notabene in Preußen. Durch die Reformgesetze aber sei der Staatsdienst allen Ständen gleichermaßen zugänglich geworden, und Bethmann warnte ausdrücklich vor der Idee, dies wieder rückgängig machen zu wollen. Nicht nur sei das gegenüber dem Bürgertum ungerecht, sondern vor allen Dingen auch unwirksam, denn der Adel könne sich unmöglich über den Staatsdienst regenerieren. Für einen Neukonstituierung des Adels als Stand sei der Staatsdienst gerade deshalb ungeeignet, „[…] weil er seiner Natur nach mehr oder weniger abhängig macht […]“, und damit „Selbständigkeit“, dem Bedeutungskern des Begriffes „Stand“, ausschließt. Das „Amt“ sei als Grundlage eines „Geburtsstandes“ auch deshalb nicht geeignet, da es seiner Natur nach nicht erblich sei. Zwar begrüßte es Bethmann, wenn der Adel, „[…] und nicht bloß der Unbegüterte […]“, sich dem Staatsdienst in Zivil und Militär andient, doch „verfassungsmäßige Bedeutung“ könne daraus für den Adel nicht gewonnen werden. Das „Schlimmste“ wäre es deshalb, sollte versucht werden, durch informelle Bevorzugung bei Anstellungen zum Staatsdienst den Adel stützen zu wollen – weil es so „[…] ungerecht und erfolglos zugleich […]“ wäre. Die einzige Ausnahme könnten die wenigen „Hofstellen“ und ähnliche Positionen bilden, zu welchen „gesellige oder andere Rücksichten“ den Adel exklusiv oder vornehmlich qualifizierten. Umgekehrt wäre das Nobilitieren höherer Beamter ebenso „zweckwidrig“ für die Erhaltung des Adels als Stand. So bliebe allein die Landstandschaft, die eine selbständige politische Berechtigung für den Stand verleihen könne. Durch Nobilitierungen aus dem Stand der Rittergutsbesitzer könne das Ziel eines erneuerten Adels erreicht werden, „[…] in ähnlicher Weise, wie er ursprünglich aus den nichtritterbürtigen Freien sich ergänzte […]“. Der ältere Geschlechteradel würde in diesen erneuerten „Provinzialstand“ der Gesamtheit der großen Grundbesitzer seine „historischen Erinnerungen“, von der Landstandschaft aber seine politische Bedeutung erhalten – so erhielte die ständische Verfassung „nach dieser Seite hin“ erst ihren Abschluss; denn die (Provinzial-)“ Stände“ sollen doch „wirklich Stände vertreten“. Der Grundbesitz wäre dann durch die Beschränkung der Teilbarkeit unter den Erben und vor der Veräußerung zu schützen. Von fideikommissarischen Stiftungen als Bedingung der Nobilitierung sei aber abzusehen, um Bürgerliche nicht abzuschrecken. Andererseits sei mit indirekten



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Mitteln die Errichtung solcher grundbesitzbezogenen Familienstiftungen zu erleichtern und begünstigen, wobei Bethmann gegenüber dem „strengen“ Fideikommiss solche Grundbesitzbindungen bevorzugte, die eine eventuelle Veräußerung nicht ausschlossen, z.B. das schon von Gustav v. Rochow in Vorschlag gebrachte Stammgut. Bei Verlust des Gutes hingegen solle der Adel erlöschen – eine Bestimmung, die jedoch nicht auf den alten Adel angewandt werden solle, da historische Rechte nicht geschmälert werden dürften. Eine beschränkte Vererbung des Adels nach englischem Vorbild dagegen sei „vielleicht wünschenswert“, so Bethmann, aber übereinstimmend mit dem Staatsministeriums hielt er eine solche Maßnahme für nicht durchführbar. Die Zahl der nach den neuen Bestimmungen Geadelten wäre zu gering, die Voraussetzungen einer Gentry nach englischem Vorbild wäre aber unter den Nichterbenden auch nicht gegeben, da in England die Gentry aus wohlhabenden Rentiers bestünde, wofür es in Preußen keine ausreichende ökonomische Grundlage gebe. Keinesfalls, führte Bethmann fort, dürfte versucht werden den besitzlosen Adel „künstlich“ zu halten; vielmehr müsse in diesem Punkt die „natürliche Entwicklung der Dinge“ akzeptiert werden. Allenfalls solle die Einführung einer Unterscheidung im Prädikat zwischen Besitzern und Nichtbesitzern erwogen werden. Für die praktische Adelspolitik empfahl Bethmann, höhere Staatsbeamte und Offiziere, sofern diese über Grundbesitz verfügten, ohne Weiteres den Adel zu verleihen, bei den übrigen bürgerlichen Grundbesitzern aber, wie schon andere Votanten vorschlugen, auf das Urteil der Standesgenossen in den Kreisen, bzw. den Provinzen zu setzen. Wie schon Raumer verzichtete Bethmann darauf, auf das Verhältnis des Adels zum bürgerlichen Gewerbe einzugehen. Bethmann blieb außerdem die Antwort auf die Frage schuldig, in welcher Form und mit welchem Ziel der Adel seine „Macht“, begründet auf „Privatrecht“, „Vermögen“ und „öffentlichem Einfluß“ denn nutzen solle. Außerdem verabsäumte er es, die Einflussgröße des „öffentlichen Einflusses“ als drittem Bestandteil seiner eigenen Definition der „Macht“ genauer zu fassen – und zu klären, ob denn nicht gerade der Staatsdienst und seine Ämter die effektivste Quelle für „öffentlichen Einfluss“ bieten mussten. Das für den historischen Adel typische Ineinanderfallen von privaten und öffentlichen Funktionen wurde von Bethmann trotz der streifenden Erwähnung der Rolle des „Privatrechts“ als Bestandteil der adligen „Macht“ nicht weiter thematisiert. Friedrich Karl v. Savigny: Fideikommisse als Basis für einen neuen Geschlechtsadel Savigny setzte sich in seinem Votum grundsätzlich für eine Stärkung der Verbindung zwischen Adel und Grundbesitz ein, da dies nicht nur den Wohlstand und die persönliche Unabhängigkeit des Adels sichere, sondern auch die Interessen und Bedürfnisse bestimmter Geschlechter an einzelne Landesteile knüpfe.176 Aus diesem

176 Vgl. Votum Savigny, 14. Oktober 1841 in: GSTAPK I. HA Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 158-161v.

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doppelten Interesse heraus folgten nach Ansicht Savignys zwei alternative politische Konsequenzen: entweder allgemein die Bindung des Grundbesitzes an den Adel zu fördern, oder gar den Bodenbesitz zur Voraussetzung der Standeszugehörigkeit zu machen. Allerdings empfahl er dazu Wege, die weder ein neues Gesetz oder überhaupt öffentliche Verlautbarungen voraussetzten. Zum einen wäre so ein möglicher Widerstand der Öffentlichkeit zu umgehen, wie andererseits die Details dieser Maßnahmen flexibel genug bleiben sollten, um sich eine „entgegenkommende“, d.h. unterstützende „Gesinnung“ der Betroffenen zu sichern. Die Betrachtung der historischen Verhältnisse des bestehenden Adels, so Savigny, würden auch für den neuen Adel ein „bestimmtes Verhältnis zum Grundbesitz als dem Wesen desselben angemessen“ erscheinen lassen; wenn gleich dieselbe historische Begutachtung auch die „nothwendigen Gränzen dieses Verhältnisses“ aufzeigten. Denn die Bestimmungen anlässlich der Huldigung in Königsberg hätten den Eindruck erweckt, zukünftig „eine ganz individuelle Verbindung des Adels mit dem Grundbesitz eintreten lassen zu wollen“, so dass allein der Grundbesitzer, nicht aber dessen Geschwister und übrigen Verwandten am Adel Teil hätten. Übereinstimmend mit dem Staatsministerium verwahrte sich Savigny gegen eine solche beabsichtigte oder unbeabsichtigte Tendenz. Historisch hätte der Stand einer einzelnen Person nirgendwo persönlichen Grundbesitz vorausgesetzt, wie selbst bei primogenitalen, stark beschränkenden Erbordnungen kein Standesunterschied der nachgeborenen Erben wie auch der weiblichen Dezenz einträte. Für Savigny war allein entscheidend, dass überhaupt Grundbesitz in der adligen Familie vorhanden sei, der den Adel auch für alle nichtbesitzenden Familienmitglieder hinreichend begründen könne. Zur Erreichung dieses Ziels riet Savigny strikt davon ab neue Rechtsverhältnisse zu schaffen. Vielmehr seien die bestehenden Möglichkeiten fideikommissarischer Stiftungen für diesen Zweck angemessen und ausreichend.177 Daher müsse es vordringliches Ziel sein, die Hindernisse wegzuräumen, welche solchen Stiftungen entgegenstünden. Konkret schlug Savigny vor, die vom

177 Savigny war ein durchaus bedeutender Guts- und Grundherr. Seine Familiengüter, die er, sehr früh verwaist, seit seiner Jugend administrierte, lagen im Hessischen bei Hanau, so das Hauptgut Trages, das schon als Fideikommiss über einen Erbvertrag im 18. Jahrhundert an die Familie Savigny gekommen war. Dazu erwarb er Geschäftsanteile am böhmischen Landgut Bukowan. Jedoch hatte Savigny keine über die privatrechtlichen Verpflichtungen hinausgehenden Vorstellungen von einer Rolle als „Herr über Land und Leute“. Auch die Landwirtschaft spielte in Savignys Leben nie eine überragende ideelle oder kulturelle Bedeutung. Das rechtswissenschaftliche Interesse dominierte schon seit seiner Jugend. Zwar kümmerte er sich um seine Erbgüter, vor allem um Trages, nahm deren Verwaltung – aus der Distanz – als Pflichtaufgabe ernst, wollte aber schon ab 1841 die Wirtschaftsführung für Trages seinem Sohn übergeben. Diese Übergabe verzögerte sich aber mit nachteiligen wirtschaftlichen Folgen bis 1846. Als Gutsherr erlebte Savigny allerdings auch in der Praxis schmerzhaft die dramatischen politischen und rechtlichen Umwandlungsprozesse nach 1800, die sich in zahlreichen aufreibenden Gerichtsprozessen ausdrückten. Vgl. Sebastian Günther, Friedrich Carl v. Savigny als Grundherr, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/u.a. 2000, S. 28, S. 32 (Fideikommiss), 133f, 213f.



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Stempeesetzes geforderte Abgabe von 3 % des geschätzten Gutswertes bei Errichtung eines Fideikommisses deutlich zu senken, womöglich auf ein halbes Prozent. Desgleichen solle die Möglichkeit geschaffen werden, bestehende Fideikommisse zu mobilisieren, indem sie (z.B. im Falle eines Verkaufs der ursprünglichen Stiftungsbesitzes) auf andere Güterkomplexe übertragen werden könnten, ohne dass dafür ein schwer zu erzielender Familienschluss einzuholen wäre. Überhaupt sollten einfachere, alternative Formen anstelle des Familienschlusses eingeführt werden. Diese könnten die Stifter einer solchen Besitzbindung vorschreiben, um wirtschaftliche Verfügungen, ja sogar die Aufhebung von Fideikommissstiftungen zu erleichtern. Auch dafür bedürfe es keines Gesetzes, so Savigny, es müsse allein darauf geachtet werden, dass bei Erteilung des Adels ein entsprechender Passus in der Fideikommissstiftung nachgewiesen würde. Durch solche Maßnahmen wollte Savigny die von ihm erwünschte erweiterte und gestärkte Bodenbindung des Adels mit dem wachsenden Bedürfnis nach einer Dynamisierung und Flexibilisierung auch des groß-agrarischen Wirtschaftens verknüpfen. Allein die Landtagsfähigkeit eines Ritterguts sollte zukünftig für eine Fideikommissstiftung qualifizieren können, während der vom ALR geforderte Mindestreinertrag eines Gutes von 2.500 Talern durch landesherrliche Genehmigung zu erleichtern wäre: bei mehreren Erben könnte das gesetzliche Minimum der nicht erbenden Söhne herabgesetzt werden, um so den Ertragsanteil für den Haupterben zu erhöhen. Ein solcher Schritt bedürfe allerdings einer gesetzlichen Regelung, die allerdings ganz allgemein und ohne Erwähnung der Adelsverleihungen als eigentlichem Ziel dieser vorgeschlagenen Maßnahmen zu erlassen wäre. Ausdrücklich wollte Savigny die vorgeschlagenen Erleichterungen bei Fideikommissstiftungen auch für den bestehenden und alten Adel einführen. Unter solch erleichterten Konditionen wünschte Savigny bürgerliche Rittergutsbesitzer in den Adelsstand erhoben zu sehen, insofern sie ein Fideikommiss stifteten und in „in einem höheren Militär- oder Civil-Posten“ stünden, sowie durch den Stand der Provinzialritterschaft als nobilitierungswürdig erklärt würden. Dieser Adel wäre uneingeschränkt auf alle Nachkommen vererblich. Nobilitierte ohne solchermaßen qualifizierenden Grundbesitz sollten ihren Adel zumindest in die erste Deszendenz vererben können; im Falle einem der Nachkommen gelänge es, Grundbesitz zu erwerben und darauf ein Fideikommiss zu stiften, sollte auch für die durch die Stiftung erfassten Familienzweige der Adel uneingeschränkt erblich werden. Karl Wilhelm v. Deleuze de Lancizolle: die englischen Adelsverhältnisse stellen kein Alternativmodell zum preußisch-deutschen Adel dar Lancizolle legte in seinem Votum deutlich andere Schwerpunkte gegenüber seinen Kommissionskollegen.178 Er konzentrierte sich auf eine grundsätzliche Kritik der his-

178 Vgl. Votum Lancizolle, 20. Oktober 1841, in: GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787, Bl. 162-175.

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torischen Prämissen und Verlaufsvorstellungen bezüglich der Adelsgeschichte, die der neuen Adelspolitik Friedrich Wilhelms IV. zugrunde lagen: die angenommene historische Entwicklung und Formation des niederen Adels in Deutschland, aber vor allem die Legitimität einer Bezugnahme auf die englischen Adelsverhältnisse, insbesondere der Gentry. Adel und Bürgertum seien nicht, wie der König in der Erläuterung seiner Intentionen ausgeführt hatte, ursprünglich gemeinsam aus einem noch älteren, sich in germanischer Urzeit verlierenden „Stand“ der „Freien“ hervorgegangen, vielmehr hätten sich die mittelalterlichen Stände aus ehemals „Freien“ wie „Unfreien“ gemischt zusammengesetzt. Die Unterscheidung zwischen dem sich entwickelnden mittelalterlichen niederen Adel und Bürgertum beruhe vielmehr aus der jeweiligen Herkunft aus dem größeren ländlichen Grundbesitz einerseits, wie den Gruppen der Handwerk Treibenden andererseits: „Es stellt sich daher, nach meiner Einsicht der eine Ausgangspunct der von des Königs Majestät gehabten Absichten als eine dem wahren Verlaufe der Geschichte [...] nicht entsprechende Voraussetzung dar“. Auch eventuelle „provinzielle“ Sonderheiten der ursprünglich slawischen Regionen der preußischen Monarchie unterstützten solche Annahmen nicht, außerdem könne der Versuch einer solchen regionalen Bezugnahme kaum im Sinne des Königs sein: Denn es handelt sich ja nothwendig um den preußischen Adel im Ganzen und der kann, in allen wesentlichen Beziehungen sowohl aus seinen ursprünglichen Fundamenten und seinem gesammten früheren Schicksal als seine in neuerer Zeit ihm verbleibende Bedeutung betrifft, von dem gesammten deutschen Adel nicht ausgesondert werden (im Original Unterstreichung).

Doch hätten diese „[...] viele Jahrhunderte rückwärts liegenden, keineswegs in unbestreitbarer Klarheit hervortretenden Thatsachen keinen Einfluß [...]“ auf die aktuell zu lösende Aufgabe, denn es sei unbestritten, dass eine zeitgenössische Ergänzung des Adels nur aus dem höheren Bürgerstand erfolgen könne, resümierte Lancizolle. Anders verhielte es sich dagegen mit dem „Mißverständnis“ bezüglich der „englischen Verfassung“: „Als etwas für unsere einheimischen Stände wünschenswerthes und zu erstrebendes wird in den Allerhöchsten Eröffnungen die Bildung einer ‚gentry‘ im englischen Sinne ‚neben der Ritterschaft‘ bezeichnet [...]“. Dieses Vorhaben beruhe aber auf einer falsch verstandenen Analogie, so Lancizolle, denn die englische „nobility“ könne keineswegs mit der preußischen Ritterschaft, also dem niederen Adel verglichen werden; vielmehr entspräche sie dem deutschen hohen Adel, inklusive der Standesherren. Die Praxis der englischen „nobility“, dass nur der älteste Sohn den (höchsten) Titel des Vaters erbe und damit in der „nobility“ sukkzediert, während die nachgeborenen Söhne lediglich der Gentry angehören, könne deshalb durchaus mit den Verhältnissen des deutschen hohen Adels verglichen werden: auch hier sei es verbreitet, dass der höchste (gräfliche oder fürstliche) Titel allein auf einen Sohn übergeht, den übrigen Familienmitgliedern aber nur geringere Titel zustehen. Mit anderen Worten: die (englische) Gentry bezeichne keineswegs, wie der Monarch offenkundig



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annahm, eine soziale Gruppe, deren Mitglieder (als „Nachgeborene“) aus dem Adel „ausgetreten“ seien, sondern bildet selbst einen Teil des Adels (nämlich den niederen), in dem die jüngeren Söhne der „nobility“ miteingeschlossen sind: „Denn die englische gentry begreift als einen wesentlichen Bestandtheil einen zahlreichen, unserem deutschen niederen Adel durchaus gleichwertigen erblichen Stand.“ Lancizolles vom König divergierendes Verständnis der englischen Adelsverhältnisse verweist auf einen Interpretationskonflikt, der nicht nur die Zeitgenossen beschäftigte, sondern selbst in der heutigen Forschung immer wieder anzutreffen ist.179 Dieses Verständnisproblem beruht auf der im 19. Jahrhundert offensichtlich unsicher gewordenen rechtlichen und sozialen Position der englischen Gentry: zum Teil wird sie in der zeitgenössischen wie der heutigen Literatur als Bestandteil des englischen Adels betrachtet, in anderen Fällen aber als außerhalb des Adels stehend beschrieben. Da dieses Problem in der adelsapologetischen wie adelskritischen Literatur der Zeit immer wieder thematisiert wurde, soll auf diesen Punkt kurz genauer eingegangen werden. Die Ursache für diese bis heute andauernde Kontroverse ist in der Sozialgeschichte des englisch-britischen Adels vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert zu suchen, und der damit eng verknüpften Verschiebung der Begriffsbedeutungen von „nobility“ und „gentry“.180 Wie Lancizolle in seinem Votum ausführte, leitete sich die Bezeichnung „gentry“ (gentle, gentil) vom lateinischen „gens“ ab, meinte also ursprünglich „Leute, die von Geschlecht sind“, kurz: „gentilhommes“. Vor 1500 wurde in England die Bezeichnung „gentle“ synonym zu „noble“ benutzt, und „gentlemen“ umfasste entsprechend dieses Gebrauchs alle Adligen von Geburt. Erst in Gefolge einer stärkeren Ausdifferenzierung des englischen Adels nach politisch-rechtlichen Privilegien, insbesondere der Entwicklung des „House of Lords“, wurden die Begriffe des „gentleman“ und der „gentry“ zunehmend zur Abgrenzung niederer Adelsklassen im Sinne einer nobilitas minor von der titulierten „Peerage“, den Lords (als einer nobilitas major), verwandt.181 Parallel zu dieser Begriffsentwick-

179 Wie gleich noch gezeigt werden soll, entsprechen Lancizolles Ausführungen zu den englischen Adelsverhältnissen weitgehend den historischen Tatsachen nach heutigem Wissensstand. Die irrtümliche Annahme, dass die jüngeren Söhne der „nobility“, d.h. des Peer-Adels, in das „Bürgertum“ eintreten, ist aber bis in die heutige Forschungsliteratur zu finden, vgl. z.B. v. Kalm, Heroldsamt, S. 40. Wie Lancizolle richtig feststellte, zählen aber die jüngeren Söhne der „nobility“ sehr wohl weiter zum Adel und bilden als Mitglieder der Gentry deren höchste Stufe. 180 Die folgenden Ausführungen zur Evolution dieser Bezeichnungen folgen John V. Beckett, The Aristocracy in England 1660-1914, Oxford 1989, S. 18-22. 181 Auch Bush betont den Charakter der Gentry als „niederen Adel“, als ein Äquivalent zum kontinentaleuropäischen Kleinadel. Außerdem verfügten Gentry wie Nobility jeweils über Korporationsrechte, die allen Deszendenten zugute kamen, und nicht nur primogenital vererbt wurden (Wappenführung, Ansprache im Titel, schnellere Graduierung in Oxford u.a.), vgl. Ders., Aristocracy, S. 27-28. Die „nobilitas major“ der Peerage umfasste die Adelsstufen des „Duke“, „Marquess“, „Earl“, „Viscount“ und „Baron“. Die „nobilitas minor“ der Gentry setzte sich aus den „Baronets“, den „Knights“, „Esquires“ und (untitulierten) „Gentlemen“ zusammen.

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lung verengte sich die Bezeichnung „nobility“ im Sprachgebrauch der frühen Neuzeit allein auf die nobilitas major der Peerage. Trotzdem blieben nach dem Verständnis der des 16. und 17. Jahrhunderts zunächst alle Adligen auch weiterhin „gentlemen“, einschließlich des Monarchen und der Prinzen. Diese doppelte, gegenläufige Bedeutungsverschiebung von „gentleman“ und „noble“ tritt in einem Zitat eines elisabethanischen Zeitkommentators deutlich hervor: Of gentlemen, the first and chief are the king, the prince, the duke, marquesses, earls, viscounts, barons, and these are called lords and noblemen: next to these be knights, esquires and simple gentlemen.182

Bis zum 17. Jahrhundert differenzierte sich die Situation noch weiter aus: Nun galt „Gentleman“ zugleich als die Bezeichnung der untersten Rangstufe des niederen Adels in England, also all jener, die keine sonstigen Titel, wie „esquire“ oder „knight“, führten. Zugleich wurde die Zugehörigkeit der „gentry“ zur „nobility“ fraglicher; vor allem deshalb, weil im Zuge des sozialen Wandels und des gesellschaftlichen Bedeutungsgewinns bestimmter Berufs- und Ämtergruppen („lawyers, professors and ministers, archdeacons, prebends and vicars“) eine Reihe von Personen der „gentry“ zugeordnet wurden, die selbst nicht von Adel („noble“) waren.183 So konstatierte Guy Miegé gegen Ende des 17. Jahrhunderts, dass „Einige“ (aber eben nicht mehr alle) die „gentry“ auch als „lesser (or lower) Nobility“ bezeichneten; und im 19. Jahrhundert schließlich verneinten einige Autoren rundheraus die Zugehörigkeit der „gentry“ zur „nobility“.184 Nach 1800 nahmen die meisten Autoren eine scharfe Standesscheidung zwischen eigentlichem Adel („nobility“) und einer vorgeblich nichtadligen „Gentry“ vor, die nun auch retrospektiv als schon immer gültig behauptet wurde.185 Treibende Kraft dieser zunehmenden Trennung zwischen hohem und niederem Adel in England war die wirtschaftliche und soziale Aufwertung der führenden

182 Sir Thomas Smith, De Republica Anglorum: a discourse on the Commonwealth of England, ed. L. Alston (Cambridge 1906), S. 31, zit. nach: Beckett, Aristocracy, S. 18, Anmk. 8. 183 Zu diesem Vorgang genauer: Bush, Aristocracy, S. 38-40. Bush betont, dass nicht nur „lawyers and merchants“ von dieser Entwicklung profitierten, sondern gerade auch yeomen (Freibauern) etwa die Hälfte dieser neuen gentry ausmachten. Siehe dazu auch Schröder, Adel, S. 21f. 184 Diese zunehmende Unschärfe in den sozialen Zuordnungen Englands führte im 19. Jahrhundert zu einer Dauerdebatte über Fragen wie „What is a Peer“ und „True Gentility“, vgl. die Textbeispiele bei Wilhelm Leo Guttsman (Hrsg.), The English Ruling Class, London 1969, bes. „Honours, Rank and Style of Life“ S. 60-82. 185 „As time passed, the position became ever clearer: Dr. Johnson defined a gentleman as ‚not noble‘, and in 1830 another commentator was able to write that, ‚in the Empire of Great Britain, the term nobility has always been confined to the peerage; in France it comprehends all those to whom we should formerly, in strictness, have applied the term gentry.“ Vgl. Beckett, Aristocracy, S. 19. Zur ursprünglich engen sozialen und funktionsständischen Verflechtung von gentry und peerage vgl. Bush, Aristocracy, S. 40-43.



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Schichten der „commonalty“ (dem „Bürgertum“), denen es im informellen sozialen Verkehr gelang, nicht nur den Status, sondern selbst die Bezeichnungen der niederen Adelsklassen stillschweigend zu „usurpieren“. Umso mehr fühlte sich die „nobility“ bemüßigt, die Standesgrenzen schärfer zu ziehen, indem sie sich vom Gebrauch und der Selbstbeschreibung als „gentleman“ distanzierte: [...] every plebian in England who lives above the vulgar has of late years presumed to style himself a gentleman“. [...]. „It is only since the gentry permitted the plebians to encroach on them that the peers began to disdain the title of gentleman, a title which the first peers, nay, the princes of the blood, would not have disdained.186

Die Verflüssigung der Grenzen zwischen dem niederem Adel (Gentry) und „Commonalty“, der englischen Bürgerschaft, ließ im 19. Jahrhundert die Zugehörigkeit der „gentry“ zu einer historischen „nobility“ zweifelhaft erscheinen. Obwohl Lancizolle in seinem Votum das englische Beispiel zu relativieren suchte, indem er die historische Äquivalenz der englischen und deutschen Standesverhältnisse herausstrich und den erblichen Kern der historischen „gentry“ (nämlich in Form der Adelsstufen „baronet“, „knight“, „esquire“) betonte, kam er nicht umhin, diese Entwicklung, die Friedrich Wilhelm offenkundig zum Maßstab seiner neuen Adelspolitik nahm, in seinem Votum anzuerkennen: Allerdings ist aber der Begriff der gentry ein umfassenderer geworden, insofern derselbe so ziemlich auf Alles sich erstreckt hat, was wir bei uns höheren Bürgerstand nennen, wobei indes durch die Titel baronet, knight, esquire im strengeren Sprachgebrauch die unserem niederen Adel mehr analoge Classen des gentleman bezeichnen. Die Verschmelzung des niederen Adels und des höheren Bürgerstandes in der gentry hat freilich etwas eigenthümliches und daß auch die Descendenten der Lords größtentheils ihr angehören, verknüpft in einer organischen Weise den höchsten Stand mit den Mittelclassen.

Damit räumte Lancizolle den Zielen des Königs unfreiwillig eine gewisse Plausibilität ein, auch wenn Letzterer in seiner charakteristisch romantischen Auffassungsweise diese englischen Standesverhältnisse nicht als Ausfluss einer (jüngeren) historischen Entwicklung verstand, sondern irrtümlich altüberbrachten, „mittelalterlichen“ Traditionen zuschrieb. Lancizolle führte jedoch an, dass ähnliche Verflüssigungen und Öffnungen der (sozial-)ständischen Verhältnisse auch im deutschen Raum anzutreffen seien: Daß zahlreiche andere Personen, wie alle höheren Beamten, alle Offiziere etc. zur gentry gerechnet werden ist eine ähnliche und gleich naturgemäße Erscheinung, wie der persönliche Adel, der in einem gewissen Sinn, wenn auch ohne das Wörtchen ‚von‘ seit urdenklichen Zeiten fürstlichen Räthen und anderen distinguierten Personen in Deutschland zu Theil geworden ist.

186 J. Lawrence, On the Nobility of the British Gentry (1824), S. 26 und S. 41, zit. nach: Beckett, Aristocracy, S. 20.

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Zudem sei die Scheidung zwischen hohem und niederem Adel in Deutschland nie so streng gehandhabt worden, „[…] als theoretisch gewöhnlich angenommen wird“. Die „Mediatisationen“ des Rheinbundes und des Wiener Kongresses hätten diese Unterscheidungen weiter relativiert. Vor allem aber, führte Lancizolle aus, „[...] besteht bei uns etwas, m.[eines] E.[rachtens] der gentry analoges, etwas den niederen Adel und den höheren Bürgerstand verknüpfendes in dem Begriff der ‚Bildung‘, der ‚gebildeten Classen oder Stände‘.“ Doch Lancizolle verwarf ohne nähere Begründung die sich aufgrund dieser Feststellung aufdrängende Frage, inwiefern es denkbar wäre, „Ob und in welcher Weise aber diese Categorie der ‚Gebildeten‘ einer politisch bedeutsamen und ersprießlichen Entwicklung auch durch obrigkeitliche Pflege fähig seyn mag [...].“ Er konstatierte lediglich, dass „[…] dies, sowenig wie die englische gentry, so wenig wie überhaupt jemals ein wirklich lebendig gewordenes Standesverhältnis das Werk obrigkeitlicher Regierungsmaßnahmen [...]“ gewesen sei. Für seine Ablehnung behalf er sich allein mit der Behauptung, nur „krankhafte Auswüchse der Sache“ seien „mehr oder minder durch Regierungsmaßregeln“ hervorgerufen worden. Den Beleg für ein solches Scheitern sah er in den Folgen der versuchten Dynamisierung der preußischen Gesellschaft durch den „von oben“ erzwungenen gesellschaftlichen Wandel der Reformzeit: „[…] die durch übermäßige Vervielfältigung, zu große Wohlfeilheit und Ueberfüllung der Gymnasien, die durch Vernichtung der Ehre des Handwerkerstandes erzeugten Uebel“. Mit anderen Worten: gerade die durch das staatliche Verwaltungshandeln erzwungene ständisch-rechtliche Öffnung hätte die soziale Öffnung der Gesellschaft verhindert, oder zumindest belastet! Deshalb könnten Grundsätze über eine beschränkende Erblichkeit neuer Adelstitel „eine vollkommene Aneignung der gentry“ nicht befördern: während nämlich auch in England der erbliche Adel den „festen Kern der gentry“ bildet, „ermangele“ der „[...] Inbegriff der ‚Gebildeten‘ eines jeden festen Kerns zur Zeit [...]“. Damit begab sich Lancizolle der Möglichkeit, alternative Visionen einer wünschbaren (sozial-)ständischen Entwicklung zu entwerfen, und führte im Folgenden allein die Grundlinien eines einseitigen Adelsstützungsprogramms aus. Zwar gab er zu, dass die „mißliche Gestaltung der heutigen Adelsverhältnisse vornehmlich in Preußen, zu dem Wunsche bewogen“ habe, eine „heilsame Einwirkung“ auf dieselben „zu versuchen“. Doch empfahl Lancizolle ausgerechnet die Ständepolitik Friedrichs II. zur Orientierung einer neuen Adelspolitik. Die Tatsache, dass gerade dieser Monarch einen „[...] preiswürdigen Unterschied (zwischen) seiner practischen königlichen und landesherrlichen Staatsklugheit“ und seinen ansonsten aufgeklärten Idealen in Politik und Philosophie gemacht habe, erschien ihm dabei besonders vorbildlich. Die späteren Jahrzehnte, insbesondere seit 1806, würden dagegen wohl kaum solche „bestimmten Resultate“ bieten können, da seither nicht nur die „ganze bestehende Landesverfassung in Frage gestellt wurde“, sondern „wohl mehr als einmal der Gedanke sich geregt hat, im Opferdienste des Zeitgeistes wo nicht die völlige Aufhebung, doch die durchgreifende Umwandlung des ‚Adelsinstituts‘



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(gleich als wäre der Adel ein künstlich fabriziertes Stück der ‚Staatsmaschine‘) zu unternehmen“. Grundsätzlich wollte Lancizolle dem „[…] Verdienst, oder besser dem Dienst neben dem Grundbesitz ein noch größeres Gewicht […]“ als qualifizierendes Kriterium für Nobilitierungen zusprechen. Ähnlich wie Raumer argumentierte Lancizolle, dass der Adel in seinen Ursprüngen „[…] nicht bloß ein Grundadel, sondern eben so sehr ein Dienstadel […]“ gewesen sei. Auch durch Dienst neugeadelte Familien hätten sich in den bestehenden Adel „assimilieren“ können, ohne dass dafür der Erwerb von Gutsbesitz entscheidend gewesen sei. Lancizolle empfahl ausdrücklich, nicht nur „herausragendem Verdienst“, sondern schon „[…] bewährtem Dienst“ in den „höheren und höchsten Stellen des Civil und Militairdienstes (als Minister, als Präsidenten eines Landescollegiums, als General, als Oberste?) die Qualifikation zur Ertheilung des Adels […]“ zuzugestehen. Aus dem in der Öffentlichkeit zu beobachtenden „deference“-Verhalten gegenüber bürgerlichen Offizieren, die im sozialen Verkehr von Adligen wie Nichtadligen mit adligen Prädikaten adressiert wurden, glaubte Lancizolle auf die gesellschaftliche Akzeptanz eines solchen reinen „Dienstadels“ schließen zu dürfen. Künstlerische und intellektuelle Leistungen sollten dagegen nur dann berücksichtigt werden, wenn damit eine Dotation verbunden würde, denn: Die Einreihung aber in einen Stand, welcher der zwar schwer erkrankten, indes doch noch nicht ertödteten organischen Gliederung des Landes angehört, scheint mir da nicht wohl anwendbar, wo kein einigermaßen fester Zusammenhang mit dem Land und seiner Verfassung, wie er durch Dienst oder durch Grundbesitz gewonnen wird, bereits gegeben ist.

Auch bürgerliche Rittergutsbesitzer betrachtete Lancizolle als geeignete Nobilitierungskandidaten, aber bezeichnenderweise nur in Verbindung mit „gewissen höheren Dienstverhältnissen“, oder, falls dies nicht gegeben wäre, alternativ durch positive Begutachtung der Kandidaten durch die adligen Standesgenossen des Kreises (wie dies ja schon Innenminister Gustav v. Rochow und die königlichen Eröffnungen an die Adelskommission vorgeschlagen hatten).187 Als qualifizierende „höhere Dienstverhältnisse“ wollte Lancizolle in der Armee nur die Stufen der Stabsoffiziere gelten lassen, da die Weisung Friedrichs II., schon „Capitäne“ (Hauptmänner) für adelswürdig zu erkennen, aufgrund der veränderten „Verfassung der Armee […] unthunlich“ sei. Im Zivildienst sollte die Stellung eines „Rats“ in einem Landescollegium zur Nobilitierung qualifizieren, da die „besser und fester begründete Verfassung der LandesCollegien“ einen dauerhafteren Maßstab abgeben dürften, als die Zentralbehörden

187 Die von Lancizolle und anderen Votanten vorgeschlagene „Begutachtung“ von Nobilitierungskandidaten durch den ständischen Adel zielte dabei unwillkürlich in eine ähnliche Richtung wie die englische Entwicklung: die Aufnahme bürgerlicher Personen in den Adel würde von der „Schätzung“ durch Standesgenossen abhängig gemacht, und nicht allein vom Monarchenwillen.

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mit ihren Ministerialräten. Außerdem sollte so die Bedeutung der Provinzialbehörden gegenüber den Zentralbehörden auch symbolisch gestärkt werden. Eine beschränkte Vererblichkeit des neuen Gutsbesitzeradels lehnte Lancizolle rundweg ab, wobei er sich auf die Meinung sämtlicher Mitglieder der Kommission berufen zu können glaubte. Zwar erkannte Lancizolle die Rolle des großen Grundbesitzes für die Stellung des Adels insgesamt an, der „[…] auch jetzt noch zu den hauptsächlichsten und solidesten Qualitäten des Adels […]“ gehöre. In anderen Teilen Deutschlands würde auch aktuell entweder der Erwerb privilegierter Güter (Österreich), „oder doch der volle Genuß der daran geknüpften Rechte“ (Bayern) nur dem Adel zustehen. Desungeachtet sei der deutsche Adel nie ein reiner Grundadel gewesen, wie ihn die neue königliche Nobilitierungspolitik zum Ziel nähme. Deshalb könne dieser neue Adel nicht auf gesellschaftliche Akzeptanz hoffen, „[…] trotz des Geschreibes einiger adulatorischer und confuser Zeitungen […]“ (!). Die Idee der beschränkten Adelsvererbung stünde vielmehr den ältesten Rechtsauffassungen über den Adel entgegen, die im Mittelalter erst den Enkel, wenn nicht Urenkel eines in den Ritterstand eingetretenen Freien die vollen Standesrechte (z.B. die Lehnfähigkeit) zuerkannt hätten. Dabei sei die in der Familie geübte fortdauernde „ritterliche Lebensweise“ entscheidend gewesen, und dies sei ein „[…] der Natur des Adels viel gemäßeres (wenn schon nicht nothwendiges, heut zu Tage neu empfehlenswerthes) Prinzip.“ Auch wenn der Besitz eines Ritterguts historisch „niemals Bedingung des fortdauernden Ritterstandes“ gewesen sei, so wäre es dennoch wünschbar, dass möglichst viele adlige Familien und Individuen eine lebendige Beziehung „mit dem Lande und der Landesobrigkeit“ behaupten könnten. Zur Unterstützung dieser Beziehung schlug Lancizolle eine Reihe von Maßnahmen bezüglich der Lehns-, Fideicommißund Stammgutverhältnisse vor, sowie des Kredit- und Hypothekenwesens. Ein gewisses Maß an Grundeigentum sollten Nobilitierungskandidaten durchaus nachweisen müssen, wofür die provinzial unterschiedlichen Bedingungen für die Landstandschaft am „natürlichsten maßgebend“ wären, und die Verschuldungsmöglichkeiten eingeschränkt werden sollten. Des weiteren könnten neugeadelte Gutsbesitzer zur Stiftung von Fideikommissen verpflichtet werden, die durch das Hausministerium begutachtet und seitens des Königs bestätigt würden. Diese Besitzbindung sollte aber nicht an die strengeren Auslegungen des Fideikommissrechts, als an die flexibleren Formen der Lehne, der Stammgüter, bzw. der bäuerlichen Successionsordnung angelehnt werden, und als zusätzlicher Anreiz sollten Stempelgebühren möglichst gestrichen, ja eventuell gar Prämien für die Stiftung solcher Fideikommisse gewährt werden. Schließlich kam Lancizolle noch auf einen Punkt zu sprechen, der in den übrigen Voten (wie auch den Stellungnahmen des Staatsministeriums) keine Rolle gespielt hatte: dem aktiven Ausschluss „[…] von Subjekten, welche in die niedrigsten gesellschaftlichen Stufen herabgesunken sind […]“. Hierfür hielt Lancizolle eine Revision der bestehenden gesetzlichen Vorschriften über den Verlust des Adels notwen-



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dig, und erklärte zugleich die Kommission für kompetent, in dieser Hinsicht beim König zu petitionieren. Lancizolle warf der „gegenwärtig bestehenden (preußischen) Gesetzgebung“ vor, sich in diesem Punkt von Grundsätzen zu entfernen, die in anderen deutschen Staaten, selbst und gerade im konstitutionellen Bayern eine „fortwährende Anwendbarkeit behauptet haben“.188 Das Edikt vom 9. Oktober 1807 habe zwar dem Adel das Ergreifen bürgerlicher Berufe und Gewerbe zugestanden (Aufhebung des § 76 des ALR), aber dadurch sei keineswegs der § 82 des ALR obsolet, wonach eine „unehrbare“ und „gemeine“ (d.h. dem gemeinen Volk entsprechende) Lebensweise den Verlust des Adels nach sich zog. Dagegen würden die Behörden den Adel bei „Fabrikarbeitern“, „Arbeitsleuten“ und selbst „Comödianten“ („nicht blos am königlichen Theater“) gelten lassen. Selbst bei Handwerksburschen und kleinen Handwerkern, welche eigentlich zum „gemeinen Volk“ zu rechnen wären, könnte das Edikt vom Oktober 1807 zum Vorwand von Adelsanerkennungen genommen werden. Lancizolle plädierte aber nicht einfach auf eine Aufhebung des Ediktes von 1807, weil nach seinem Dafürhalten selbst die landrechtlichen Bestimmungen bezüglich Adelsaberkennungen nicht ausreichend seien. Er schlug vor, auch in Zukunft die Ausübung gewisser bürgerlicher Gewerbe dem Adel zuzugestehen, nur solche ausdrücklich auszunehmen, die „selbst einen Nicht-Adlichen in den niederen Bürgerstand verweisen würden“. Eine solche Bestimmung hätte eine Verschärfung der landrechtlichen § 82 bedeutet, der nur bei „unehrbarer Lebensart und mit Herabsetzung zum gemeinen Volk“ den Adel für verlustig erklärte.189 Außerdem wollte Lancizolle die Frage von Adelsaberkennungen, mit Ausnahme bei kriminalrechtlichen Fällen, nicht durch die ordentlichen Gerichte, sondern durch besondere Ehrengerichte behandelt wissen, die aus Standesgenossen und adligen Gerichtspersonen zu bilden seien.

Fazit: Von einem diskursiven „Invention of Tradition“ zu einem projektierten „Social Engineering“? Es fällt schwer, die Stellungnahmen der Kommissionsmitglieder auf einen Nenner zubringen, bzw. vergleichend gegenüber zu stellen – zu heterogen sind die Antworten und Ansätze. Auch wo sich einzelne Deutungen der Votanten (z.B. hinsichtlich der Einschätzung historischer Entwicklungsverläufe oder gegenüber dem Vorbildcharakter Englands) überschnitten, mussten keineswegs die gleichen adelspolitischen Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Grundsätzlich ist die allgemeine Ableh-

188 Lancizolle entrüstete sich in diesem Zusammenhang auch über die regelmäßigen Eheanerkennungen zwischen Adligen und Angehörigen des niederen Bürgerstandes durch die Gerichte. Diese Kritik fand auch Eingang in sein Buch „Über Königthum und Landstände in Preußen“, Berlin 1846, vgl. S. 478ff. 189 Mit dieser Idee griff Lancizolle eine Linie auf, die schon Friedrich v. Raumer 1810 vorgezeichnet hatte, vgl. oben Kap. 2.3.4.

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nung der königlichen Pläne über eine zukünftig beschränkte Adelsvererbung festzuhalten. Zugleich wurde damit die Idee einer zwischen Adel und Nichtadel positionierten „Gentry“ als neuer „Mittelklasse“ zurückgewiesen. Andererseits befürworteten wiederum alle Kommissionsmitglieder eine stringentere, nach klaren Grundsätzen geordnete Nobilitierungspolitik. Die Kommissionsmitglieder stimmten dem schon von Adolf v. Rochow in seiner großen Adelsdenkschrift von 1840/41 konstatierten Befund zu, dass durch eine gezielte Politik in bestehenden Adelsverhältnisse Preußens eingegriffen werden müsse, diese durch staatliche Vorgaben unterstützend formiert und einheitlicher gestaltet werden sollten. In Fortführung der Empfehlungen des Staatsministeriums beschäftigten sich mehrere Voten mit der Frage welche Kriterien, bzw. sozialen Verhältnisse eine Nobilitierung in Zukunft empfehlen sollten. Und genau an diesem Punkt spaltete sich die Adelskommission (wie im Grund schon das Staatsministerium) an der historischen Herleitung bzw. Legitimation solcher Kriterien: waren die aktuellen preußischen Standesverhältnisse als Aberration von einem historischen „Normalweg“ zu werten, als Ergebnis einer ungelösten Konfliktgeschichte? Oder doch das Resultat dynamischer und entwicklungsfähiger sozialer Prozesse, die, bei „richtiger“ Fortbildung, ein in sich stimmiges und zukunftsfähiges Elitenreservoir hervorbringen könnten? Dazu hatten die Mitglieder der Adelskommission erstens zu bestimmen versucht, inwiefern bestimmte Wertmuster dem preußischen Adel eigen waren, diese sich von anderen deutschen und europäischen Adelsgesellschaften unterschieden. Und zum zweiten, wie sehr diese „preußische Adligkeit“ von dem spezifischen historischen Zusammenspiel von Adel, Krone und bürokratischem Absolutismus in der jüngeren preußischen Geschichte geprägt war, kurz: auf welcher Traditionsgrundlage sie beruhten. Waren diese Wertmuster ursprünglich und dauerhaft angelegt, oder blieben sie ständigen Prozessen der Veränderung und Neuanpassung im Prozess der Staatsbildung ausgesetzt? Und ließ sich aus diesen Konstellationen erschließen, welche Adelsformierung für die Herausforderungen der Zukunft am aussichtsreichsten anzunehmen war? Bei diesem Konflikt standen sich zwei grundlegend abweichende Deutungen der jüngeren Adelsgeschichte gegenüber: Die Überlegungen König Friedrich Wilhelms, aber auch die der Rochows, die von Streckfuß und Bethmann-Hollweg waren von einer „Dekadenzgeschichte“ des Adels geleitet, welche die Krise des Adels aus dem sukzessiven Verfall seiner materiellen Grundlagen, seiner Verarmung, einer angenommenen Zunahme des grundbesitzlosen Adels ableitete. Dagegen hielten Raumer, Savigny und Lancizolle fest, dass die ostelbisch-preußischen Adelslandschaften schon immer durch einen zahlreichen grundbesitzlosen Adel, eine geringere Binnendifferenzierung und starke Erbteilung geprägt waren. Die historisch gewachsene Nähe zu Staats- und Militärdienst sei lediglich Folge dieser spezifischen Sozialstrukturen gewesen. Gerade der in der Ständegeschichte gut informierte Raumer skizzierte ausführlich diese strukturellen Unterschiede zwischen dem östlichen und westlichen deutschen Raum, die sich im übrigen durch moderne Forschungen sehr wohl bestätigen lassen. Lediglich die Rahmenbedingungen, so diese „Geschichtspositivisten“,



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hätten sich in der jüngeren Geschichte grundlegend gewandelt, bezeichnet durch den ökonomischen und sozialen Aufstieg des Bürgertums. Dies illustrierten die Votanten wiederholt am Beispiel der Integration von Bürgerlichen in den Offiziersstand und in das höhere Beamtentum. Deshalb könne von einer selbstverschuldeten „Adelskrise“ nicht die Rede sein. Damit erübrige sich die Notwendigkeit einer eigentlichen Adelsreform, vielmehr ginge es allein um das Problem einer Integration des aufsteigenden Bürgertums in den Adel – ein Eingriff in die ständischen Binnenstrukturen des Adels sei zu verwerfen, allein die Bedingungen der Aufnahme Bürgerlicher in den Adel wurden für diskussionswürdig befunden. Lediglich zugunsten einer stärkeren Stringenz der Nobilitierungspolitik hielt z.B. Raumer staatliche Eingriffe für zulässig: um die „Privatrücksichten“ der Monarchen zurückzudrängen, aber auch um die subkutanen Tendenzen preußischer Elitengeschichte bewusst fortzuschreiben. Die „diskursive Formierung“ einer als allgemeinverbindlich erachteten „preußischen“ Adelsgeschichte verlief also in der Adelskommission noch stärker akzentuiert als im Staatsministerium, und dies auf einem doppelten Wege: zum einen wurde über die Inhalte der Adelsidentität diskutiert, d.h. über die Gehalte einer „preußischen Adligkeit“. Dabei wurden die mannigfachen geographischen, konfessionellen und lebenskulturellen Erfahrungsunterschiede der verschiedenen Adelslandschaften und Adelsgruppierungen in der preußischen Monarchie weitgehend ausgeblendet, bzw. mit den Erfahrungen des ostelbisch-protestantischen Adels gleichgesetzt. Zum zweiten konkurrierten unterschiedliche Erzählungen über die Entwicklung dieser Wesensgehalte und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung in der preußischen Geschichte. Diese „teleologischen Erzählungen“ zielten im Falle der „Geschichtspessimisten“ darauf ab, durch einen tatsächlichen oder angeblichen „Rückgriff“ auf „ältere“, daher „ursprünglichere“ und „unverfälschte“ Standesmerkmale den Adel auf seinen „wahren“ Kern zurückzuführen, wie es schon Friedrich Wilhelms Instruktionen für die Adelskommission nahegelegt hatten.190 Dagegen setzte die „positivistische“ Deutung der neueren preußischen Adels- und Elitengeschichte durch Raumer, Savigny und Lancizolle darauf, die vorausgesetzte teleologische Tendenz in Richtung

190 Ähnliche Auseinandersetzungen hatte es im 18. Jahrhundert in Frankreich gegeben, als die adelsrechtliche Entsubstanzialisierung die Idee eines „natürlichen Adels“ stärkte, während andere adelslegitimatorische Argumente an Bedeutung verloren. Vgl. Arlette Jouanna, Die Legitimierung des Adels und die Erhebung in den Adelsstand in Frankreich (16.-18. Jahrhundert), in: Winfried Schulze (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988, S. 165-177. Dort wurden ursprünglich drei Adelslegitimationen eingesetzt: Adel begründet sich auf den Willen des Königs (S. 166f), – Adel als Ausfluss der Natur (natürliche Anschauung) (bes. S. 167, 175), – Adel begründet auf Recht der Eroberung (bes. S. 171-173). Die erste Begründung verlor im Verlaufe des 19. Jahrhundert an Bedeutung, der „natürliche Adel“ wurde zunehmend betont: Indiz auch der rechtlichen Verunsicherung der Adelslegitimation (Schwinden der positiven Gesetzgebung), die das Geburtsauslesekriterium stärkte (S. 177).

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eines alt- und neuadligen Dienst- und Staatsstandes bewusst und zielorientiert fortzusetzen. Die utilitaristischen Gesichtspunkte traten jeweils deutlich hervor nach denen „historische Versatzstücke“ der Adelsgeschichte ausgewählt und bei der weiteren Gesellschaftsentwicklung Verwendung finden sollten.191 Denn diese Selektionen wurden ja bewusst an den Interessen eines weiteren Staatsausbaus ausgerichtet. Die Neujustierung der seit der Reformzeit etablierten neuen sozial-ständischen Verhältnisse erfolgte einerseits über eine Orientierung an den Verhältnissen bis zum Ende des ancien régime, nutzte also alte Begriffe für neue soziale Beziehungen; oder sie konstruierte einen „Idealadel“, der sich nur noch durch einige extrem reduzierte Eigenschaften überkommener „Adligkeit“ auszeichnete, um die alt-adligen Gruppen und Verhältnisse zu überschichten: Streckfuß und Adolf v. Rochow z.B. befürworteten steuernde staatliche Eingriffe in die Adelsverhältnisse, solange nur der „Geschlechtsadel“ nicht grundsätzlich abgeschafft würde. Vorbild blieben für die Rochows die überkommenen Formen des Grundadels. Streckfuß wollte hingegen mithilfe eines neuen Adelsprädikats für Grundbesitzer („Edle von“) den alten Adel „überformen“, um darunter den alten mit dem Neuadel über das Grundbesitzkriterium miteinander zu verbinden. Beide Strategien können als „scheinkonservatives“ Vorgehen bezeichnet werden. Denn es wurde ja keineswegs eine Totalität der (historischen) Erscheinungen als gleichwertig in den Blick genommen, wie dies einer streng „historistischen“ Vorgehensweise entsprochen hätte. Selbst Raumer, der vor der Anwendung „utilitaristischer Prinzipien“ ausdrücklich gewarnt hatte, da dies den Adel langfristig jedweder staatlichen Willkür zur Disposition stellen müsse, beteiligte sich mit seiner scharfen Kritik an den „Unthätigkeits-Anstalten“ der Domstifte und Komtureien (die ja in der historischen Adelsgesellschaft eine entscheidende Rolle gespielt hatten) an dieser Selektion des Erwünschten. Insofern hatten die Diskutanten in der Adelskommission unwillkürlich die „kybernetischen Haltungen“ von „sozialen Ingenieuren“ eingenommen, die aus vergangenen Entwicklungen auf erwünschte, und deshalb administrativ zu fördernde Tendenzen der Gesellschaftsentwicklung zu schließen suchten.192

191 Eine Kurzfassung des Berichts des Staatsministeriums findet sich in GSTAPK Rep. 89, Bd. 1, Nr. 930 (Adel und seine Neubelebung. Erhebung in den Adel und Verlust des Adels 1841-1847), Bl. 2ff. 192 Der englische Originalbegriff „Social Engineering“ wird im Deutschen u.a. mit „Sozialkonstruktion“ oder „Sozialtechnik“ übersetzt, und umschreibt wissenschaftlich gestützte administrativ-politische Anstrengungen zur Schaffung oder Verbesserung gesellschaftlicher Strukturen. Eingeführt wurde der Begriff 1945 von Karl Popper in seinem Buch „The Open Society and Its Enemies“. Darin kritisierte Popper den Versuch, eine ideale Gesellschaft abstrakt zu entwerfen und diese in einem holistischen Ansatz verwirklichen zu wollen. Nach Karl Popper besteht ein „legitimes“ „social engineering“ darin, durch die Schaffung geeigneter Institutionen konkrete Probleme in Teilbereichen der Gesellschaft lösen zu wollen. Historisch führte Karl Popper das Aufkommen der Idee eines „social engineering“ auf den „Utopianismus“ des 19. Jahrhunderts zurück: in dieses Erklärungsmuster



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Tatsächlich erlaubten diese diskursiven Stilisierungen und Reduktionen der historisch in Preußen aufzufindenden adligen Lebenswirklichkeiten überhaupt erst, überregionale und gruppenübergreifende Gemeinsamkeiten verschiedener Adelsformationen unter staatsfunktional-utilitaristischen Gesichtspunkten zu formulieren. Mithilfe dieser diskursiven Verbindung von interpretierter Vergangenheit, erfahrener Gegenwart und erwarteter Zukunft wurden die heterogenen Verhältnisse der Adelslandschaften und Traditionsbestände zieldefiniert eingeebnet und homogenisiert. Zielbestimmend war dabei allerdings, wie schon in der Reformepoche, kein binnenadliger Legitimationskontext mehr, wie dies den älteren Idealen eines „Tugendadels“ entsprochen hätte, sondern allein die Herausforderung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung: die Bedeutung des Adel wurde an den „modernen“, „außeradligen“ Leistungsvorstellungen der Staatsführung gemessen. Diese auf die Gesamtgesellschaft gerichtete Leistungsorientierung einer erneuerten „Adligkeit“ verband sich notwendig mit der Frage nach dem Verhältnis des Adels zu den anderen gesellschaftlichen Gruppen und deren spezifischen Leistungen in der nachständischen Gesellschaft – und damit mit der Verfassungsproblematik. Auch wenn nur Streckfuß diesen Zusammenhang von Adelsfrage und Verfassungsfrage direkt angesprochen hatte, so reagierten doch auch andere Votanten unterschwellig auf diesen Nexus. In seinem Votum hatte Raumer die Tendenz einer „Rückgabe“ der Politik an die „Zivilgesellschaft“ festgestellt, da die nachabsolutistische „Beamtenhierarchie“ ihren „Culminationspunct“ erreicht habe. Um Staat und Gesellschaft wieder einander näher zu bringen, entwarf vor allem Raumer den Adel als Vertreter dieser „Zivilgesellschaft“, die sich spätestens seit der Reformepoche, eigentlich aber seit dem Absolutismus, dem Staat gegenüber zunehmend „entfremdet“, institutionell nicht mehr eingebunden empfunden habe. Auch nach den Worten Lancizolles’ sollte deshalb der „Adel im Staatsdienst“ deshalb die Rolle einnehmen, die in England der „Aristocracy“ zukam.

3.3.3. Der Bericht der Adelskommission: kein Konsens über die Gewichtung von „Dienst“ und „Grundbesitz“ Nach der Abgabe der Einzelvoten wurden die weiteren Verhandlungen der Adelskommission bis zu ihrem Schlussbericht im Oktober 1842 von der Suche nach einer gemeinsamen Stellungnahme geprägt. Die erste Gesprächssitzung fand am 28.10.1841 in Stolbergs Wohnung statt. Bei dieser Gelegenheit signalisierten alle Kommissionsmitglieder Kompromissbereitschaft. Trotzdem blieben erhebliche Meinungsverschie-

lassen sich Adelsreformvorstellungen als Bestandteile eines „konservativen Utopionismus“ durchaus einpassen, vgl. Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1987. Zur Verbindung von Fortschrittglauben und Historismus vgl. Hubert Knoblauch, Wissenssoziologie. Konstanz 2005, 30ff.

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denheiten bestehen, und die grundlegenden Positionsunterschiede, wie sie in dieser Gesprächssitzung protokolliert wurden, konnten auch bis zum Schlussbericht im Herbst 1842 nicht mehr überwunden werden.193 Zunächst wurde allein der Vorschlag von Streckfuß nach einer titularen „Überbauung“ des alten Adels mithilfe eines neuen Adelsprädikats („Edler v.“) für alle Rittergutsbesitzer mehrheitlich klar abgelehnt. Da diese Titulatur in Österreich seit dem 18. Jahrhundert eine neue Klasse von Nobilitierten bezeichnete, wurde befürchtet, dass sie in Preußen automatisch mit einer niederen adligen Rangstufe assoziiert würde, und so den alten Adel spalte.194 Dagegen sollte nach dem Willen der Kommission der grundbesitzende Adel „als dem Bewahrer der politischen Bedeutung seines Standes“ durch Hinzufügung des Guts- an den Familiennamen bei allen sich bietenden Gelegenheiten hervorgehoben und ausgezeichnet werden, ein Privileg, das immerhin schon das ALR dem Gutsadel einräumte. Einig war man sich in Übereinstimmung mit dem Gutachten des Staatsministeriums auch, dass es bezüglich der Vererbung von Grafen- und Freiherrntitel angemessen wäre, den höheren Titel an das Erbe eines Fideikommisses zu binden, die Nachgeborenen dagegen in niedereren Stufen des Adels folgen zu lassen, da es in Deutschland nicht unbekannt sei, den höheren Titel in einer Familie an die Erstgeburt zu knüpfen.195 Desweiteren griff die Mehrheit der Kommission dankbar den nun mündlich wiederholten Vorschlag Savignys auf, über die Förderung von Fideikommissstiftungen auf landtagsfähigen Gütern die vom König gewünschte „politische Bedeutung“ des Adels zu befördern.196 Zwar sei es unsicher, ob der „Glanz der Familien“ mit dieser Maßnahme zu erhalten sei, doch sei dies für den Staat auch „bedeutungs-

193 Vgl. Protokoll der Sitzung vom 28.10.1841 in: GSTA PK I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 181-197v. Mit den darin festgehaltenen Positionen stimmt die Reinschrift des Schlussberichts der Immediatkommission vom 10. Oktober 1842 überein, vgl. I. HA, Rep. 100, Nr. 3786, Bl. 18-36. 194 „Die Commission hielt dies jedoch insofern für unausführbar, als sie bezweifelte, daß der altgrundbesitzende Adel mit der Drangabe seines historischen Namens sich einer solchen Einrichtung anschließen werde und besorgte vielmehr, daß durch eine solche Masregel nur eine unerfreuliche Spaltung zwischen dem altgrundbesitzenden und dem neu nach dem Gut zu benennenden Adel hervorgerufen werden möchte. Auch glaubte sie, daß die bei uns ungewöhnlichen Prädikate Edler von oder Reichsedler von p. welche in andern Ländern sogar als eine niedere Stufe des Adels angesehen werden, sich des Beifalls nicht zu erfreuen haben würde. Es sei mithin zu besorgen, daß der alte Adel ein solches Unterscheidungsmerkmal zurückweisen, der neue sich dadurch zurückgesetzt fühlen möchte.“ Vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 185. 195 Ebd., Bl. 196v. Nach einem weiteren Meinungsaustausch zwischen dem König, Wittgenstein und Stolberg wurden die Erbregeln für Grafen am 23. Februar 1843 in einer Allerhöchsten Ordre gefasst, und durch ein Schreiben des Königs am 4. Juli 1843 ausdrücklich auf die Freiherrn ausgedehnt, vgl. Ebd., Bl. 243-244 und GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3786, Bl. 37-48. Bei fehlendem Fideikommiss sollte der primogenital vererbte Titel an ein bestimmtes Gut gebunden sein; außerdem war bestimmt, dass eine adlige Mutter Voraussetzung zur Vererbung des Titels sei. 196 Vgl. GSTAPK I. HA, Rep.100, Nr. 3787, Bl. 182-183.



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los“, wogegen aufgrund der preußischen provinzialständischen Verfassung, die „bestimmte politische Rechte vornehmlich (an) die Landstandschaft, den Besitz von Rittergütern“ knüpfe, ein „Interesse für den Landesherrn und für den Staat obwalte, den Besitz solchen bevorrechteten Grundeigenthums an feste Hand und dauernd an die Familie derer befestigt zu sehen, welche für Ausübung jener Rechte verfassungsmäßig berufen seien“ (!), so Savigny. Die von der Kommission im Einzelnen vorgeschlagenen Maßnahmen zur erleichterten Errichtung von Fideikommissen sollten ausschließlich dem landtagsfähigen Rittergutsbesitz zugute kommen: indem z.B. die Erfordernis eines Reinertrags von 2500 Talern aufgehoben, und im Falle einer solchen Stiftung auch die Bestimmung außer Kraft gesetzt werden sollte, wonach der Erwerber eines Rittergutes erst nach 10 Jahren zum Landtag wahlfähig wurde.197 Damit meinte die Kommission die vom König gewünschte engere Verknüpfung des Adels an den großen Grundbesitz und seine politische Bedeutung am sichersten zu fördern. Allein Streckfuß wies diesen Ansatz erleichterter Fideikommissgründungen erneut ab, da er gesamtwirtschaftliche Nachteile durch eine Abkehr von der liberalisierenden Wirtschaftspolitik seit der Reformepoche befürchtete. Adolf v. Rochow widersprach dagegen ausdrücklich, da durch die „jetzigen Konjunkturen“ keinesfalls zuviel Grundeigentum in die „tote Hand“ gelangen könne. Und Raumer und Lancizolle, die in ihren Voten als scharfe Verteidiger eines Dienstadelskonzepts aufgetreten waren, sprachen sich nun unter Berufung auf „neuere Vorschläge“ sogar dafür aus, Fideikommisse zukünftig „unter sich einen Zusammenhang bilden zu lassen“, zu deren besserer „Beaufsichtigung“, und da „die jetzige Isolierung“ ihrer Besitzer „oft nachteilig gewesen sei, und behindert habe, daß ein politisches Element sich

197 1. daß bei Errichtung einer solchen Stiftung die jetzige Beschränkung, wonach der Erwerber eines Rittergutes erst nach 10 Jahren zum Landtag wahlfähig ist, aufgehoben werde. 2. daß die jetzt so beträchtliche Stempelabgabe bei der Errichtung von Fideicommissen aufgehoben oder doch herabgesetzt u. 3. daß, nach dem Vorschlage des Herrn Hofmarschalls v. Rochow auf die dem Erbschaftsstempel bei dem Anfall von Fideicommissen Nachlaß gewährt u. der Anwärter nur als ein solcher betrachtet werde, dem ein Nießbrauch anfällt. 4. daß die landrechtliche Bestimmung, wonach beständige Fideicommisse einen Reinertrag von mindesten 2500 Rthl gewähren sollen, zu Gunsten der Fideicommisse aus Rittergütern aufgehoben werde. Es wurde bemerkt, daß zu den mehrsten dieser Erleichterungen es kaum eines neuen Gesetzes, sondern nur eine Ausdehnung der landesherrlichen DispensationsBefugniß u. eines bei den Bestätigungen zu gewährende Steuererlaßes bedürfen werde. 5. Sei es, um den Betheiligten zu Errichtung solcher Fideicommisse einen mehreren Anreiz zu geben, wünschenswerth daß, mit Feststellung des Princips, die Veräußerung der Rittergüter aus der Familie u. deren Verschuldung zu beschränken, im Übrigen in möglichst unbehinderter Benutzung derselben nach den Erfordernissen der Zeit, in Übertragung der Stiftungen von einem Gute auf ein anderes, so wie überhaupt in möglichst freie Bewegung innerhalb der Grenzen eines Stammguts u. in den Modalitäten der Stiftungen je nach dem Bedürfnisse u. dem Wunsche der Stifter, möglichsten Spielraum gegeben werde.“ Vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 183.

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daraus habe entwickeln können.“ Damit griffen sie die schon in der Provinzialständegesetzgebung eingeräumte Möglichkeit einer ständischen Weiterentwicklung über den organisierten Fideikommissbesitz auf.198 Allerdings erteilte die Kommission, wie schon das Staatsministerium, den intendierten königlichen Maßnahmen zur Einführung einer primogenitalen Vererbung des Adels und die parallele Bildung einer „Gentry“ eine einstimmige Absage – da dies den Adel „spalte“. Stattdessen empfahl sie, die bei den Huldigungen ausgesprochenen Vererbungskriterien ohne förmliche Zurücknahme faktisch aufzugeben, indem die Diplome nach herkömmlichem Muster ausgestellt würden.199 Doch da der Kommissionsvorsitzende Stolberg offen einräumte, dass nach seiner Erfahrung in verschiedenen Teilen der Monarchie die Pläne des Königs auf große Sympathie gestoßen seien, signalisierten einige Kommissionsmitglieder immerhin Kompromissbereitschaft. Raumer bestätigte Stolbergs Einschätzung, in einem Fall hätten sogar Kreisstände ausdrücklich eine Nobilitierung nach den neuen Grundsätzen für einen ihrer Mitstände gefordert; insofern könne er nicht raten, die (neue) „Masregel unbedingt fallen zu lassen.“200 Adolf v. Rochow wiederholte seinen Vorschlag, neugeadelten Rittergutsbesitzern erst nach der Stiftung eines Fideikommisses die Vererbung des Adels auf alle Nachkommen zu gestatten, während Raumer erneut seine Idee einer von den Grundbesitzverhältnissen abhängigen Vererbungspraxis vorbrachte, die bei fideikommissarisch gebundenem Grundbesitz die Vererbung in ganzer Dezendenz garantiere, während dem Nachkommen eines nobilitierten Beamten lediglich eine „Erbgarantie“ auf den Titel bei Erlangung eines Rittergutes oder einer höheren Staatsstelle eingeräumt würde. Im Folgenden griff die Kommission die von Raumer erhobene Forderung nach einer verbesserten „Stringenz“ der bisherigen Nobilitierungspolitik und einer Marginalisierung der vorherrschenden „Privatrücksichten“ auf. In Zukunft sollten, unabhängig von persönlichen Anträgen, gezielte Anfragen bei den Oberpräsidenten, bzw. den militärischen Vorgesetzten, bürgerliche Rittergutsbesitzer und verdiente Offiziere identifiziert werden, die zur Nobilitierung würdig seien. Ebenso einigte sich die Kommission auf Lancizolles Vorschlag, dass bei allen Nobilitierungen von bürgerlichen Rittergutsbesitzern das Urteil der zukünftigen Standesgenossen eingeholt werden solle, außer, diese Nobilitierungskandidaten hätten zugleich Positionen als „Stabsoffizier“ oder Räte in einem Landes- oder Regierungscollegium inne.201 Dieser letzte

198 Vgl. Teil I. Kap. 2.5.1. Raumer und Lancizolle plädierten außerdem für allgemeine Grundsätze zur Herstellung eines angemessen Realkredits zugunsten von Fideikommissen, ähnlich wie sie bei Bauerngütern zur Anwendung gekommen seien, vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 184. 199 Ebd., Bl. 186. 200 Ebd., Bl. 188-189. 201 Auf die Frage wie das Urteil der Standesgenossen einzuholen sei, bemerkte Rochow auf den mehrheitlich gemachten Vorschlag doch das Urteil der adligen Kreisstände einzuholen, daß dieses Verfahren, vor allem in Kreisen mit wenigen Mitgliedern, der nachbarschaftlichen Verhältnisse wegen



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Kommissionsvorschlag sprach dem Land- und Gutsadel eine völlig neue Entscheidungskompetenz zu, welche die politischen Gewichte zwischen Adel und Krone neu austariert hätte. Eine Umsetzung hätte zwei Adelsklassen zur Folge gehabt, einen in der Verwaltung positionierten „Staatsadel“, für dessen Rekrutierung und Auswahl allein der Monarch verantwortlich gewesen wäre, und einen Landadel, der seine Ergänzung und damit innere Zusammensetzung zu einem erheblichen Teil hätte selbst bestimmen können. Damit aber wäre Friedrich Wilhelms grundlegendes Ziel einer verbesserten Eliten- und Adelsintegration in Preußen konterkariert worden, und eine Verschärfung der historisch überkommenen Dichotomie der preußischen Adelsverhältnisse zu erwarten gewesen. Dagegen verwarf die Kommission Lancizolles’ scharf formulierte Forderung nach einer konsequenteren Sanktionierung eines „standesungemäßen Lebenswandels“ von Adligen. Schnell kam man darüber überein, dass die bisherig durch das Landrecht vorgesehene Sanktionierung von Eheschließungen zwischen Adligen und „Personen niederen Standes“ keine für die Stabilisierung des Adelsstandes zentrale Bedeutung mehr habe. Raumer bemerkte hierzu, dass der König neuerdings solche Ehen in den Fällen gestattet habe, in welchen die in Frage stehenden „Edelmänner“, welche in ihrer Lebensart mehrheitlich selbst schon den niedersten Ständen angehört hätten, den Adel niederlegten. Auch in der Frage, ob das Ergreifen „niederer Gewerbe“ mit dem Adelsverlust geahndet werden solle, fand Lancizolle mit seinen diesbezüglichen Forderungen keinen Widerhall: zwar wurde es als negativ bewertet, dass nach dem Erlass des Ediktes von 1807, welches dem Adel das Ergreifen bürgerlicher Gewerbe freistellte, alle diesbezüglichen Bestimmungen des Allgemeinen Landrechtes für aufgehoben betrachtet wurden.202 Andererseits verteidigte wieder Streckfuß die durch die Reformgesetze von 1807 erzielte Lage, und erklärte rundheraus, einer solche Sanktionierung nicht zustimmen zu können; oft genüg würde ein „niederes Gewerbe“ den „Weg zur Aufhülfe“ darstellen. Dagegen befürwortete er ausdrücklich eine Verschärfung der Vorschriften zum Adelsverlust in den Fällen moralischer Vergehen. Mehrheitlich kam man darüber überein, dass eine Grenze zwischen „niederer Lebensart“ und „höheren Gewerben“ nur schwer zu definieren sei, weswegen Raumer jede offizielle Unterscheidung zwischen einer nominellen Standeszugehörigkeit zum Adel und einer „tatsächlichen“ der Lebensführung aufgehoben sehen wollte. Es sei ausreichend, wenn der Adel einer Person in „niederen Lebensumständen“ ruhte. Und Savigny hielt diese Problematik nur in Fragen des Eherecht und der Injurien von praktischer Bedeutung, weshalb sie auch allein in jenen Zusammenhängen zu klären seien. Die Kommission sprach sich schließlich, da wie auch in den

bedenkliche Seiten habe. Angesichts der zu besorgenden Übelstände vereinte man sich zu der Ansicht, daß die Zustimmung der adlichen Mitglieder des Communal-, oder Provinziallandtages einzuholen sein würde, vgl. GSTAPK I. HA, Rep.100, Nr. 3787, Bl. 193v. 202 Ebd., Bl. 194v.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Fällen der „standesungleicher Ehen“ die Anzahl der „Unwürdigen“ und in niederen Lebensverhältnissen lebenden Individuen nicht sehr bedeutend sei, dafür aus, dass bei Ergreifung eines „niederen“ Berufs der Adel ruhen möge, um erst bei verbesserten Lebensumständen wieder aufgenommen zu werden. Insgesamt zeigte die Kommission in der Frage der Sanktionierung „unadliger“ Lebensweise die Tendenz, „moralische“ gegenüber „harten“, objektiv bestimmbaren Kriterien (wie z.B. bestimmte Erwerbsarten und Einkommensgrenzen) zu bevorzugen, wie auch eine Neigung zu „weichen“ Sanktionen („ruhender Adel“), die ein dauerhaftes Ausscheiden bestimmter Adelsangehöriger bzw. ganzer Familien unwahrscheinlich werden ließen. Verhärtung der Fronten über das Grundbesitzkriterium Hatte die Adelskommission in den Fragen zu den binnenständischen Strukturen des Adels und bezüglich der Stärkung und Ausweitung des Fideikommissbesitzes einen weitgehenden Konsens erzielen können, so kollidierten die unterschiedlichen Ansichten zur Frage des Grundbesitzes als Voraussetzung von Nobilitierungen um so heftiger. Die Kommission musste einräumen, dass sich diesbezüglich zwei grundsätzliche, nicht zu versöhnende Stellungnahmen in den schriftlichen Abstimmungen herausgebildet hätten.203 Sahen die Votanten Lancizolle, Raumer und Savigny im Dienst die ebenbürtige, wenn nicht die gewichtigere Nobilitierungsvoraussetzung, so lehnten dies Streckfuß, Hofmarschall Rochow und am entschiedensten BethmannHollweg ab. Letzterer sah in der Integration von „Dienstverhältnissen“ in den Adel den Grund der „Zerstörung des Standes“, da dies den Grundbegriff des Standes als einer selbständigen Macht zerstört habe. Deshalb müsse die Nobilitierung nichtgrundbesitzender Personen ganz aufhören, wenn der Adel jemals wieder politisch eine Rolle spielen solle. Der Dienst sei hingegen „eine gleichmäßige von persönlicher Qualifikation abhängige Berechtigung des Adels- und des Bürgerstandes“, für welche „letztere in ihren besseren Mitgliedern“ nicht einmal das adlige Prädikat wünschten, da es doch als „dienstliche Decoration“ erscheinen würde. Der Kommissionsvorsitzende Stolberg suchte zwischen diesen Positionen zu vermitteln, indem er den Dienst als Fundament zukünftiger Nobilitierungen, vor allem bei höheren Militärstellen, nicht ausschließen wollte, aber doch der Nobilitierung bürgerlicher Rittergutsbesitzer den Vorzug einräumen wollte. Diesem Angebot schlossen sich die Mitglieder der Kommission einhellig an, werteten die Nobilitierung von bürgerlichen Rittergutsbesitzern „umfassend positiv“, insbesondere in solchen Fällen, wo durch Erbfall oder zehnjähriger Besitz das Recht auf die Landstandschaft erworben worden sei. Rochow unterstrich in diesem Zusammenhang noch einmal den Wunsch einer vorzüglichen Berücksichtigung fideikommissarisch gebundener Familienbesitzungen. Dennoch könne der „preußische Staat“ auf das Nobilitieren der Beamten, insbesondere aber der Militärs, nicht verzichten. Allerdings dürften

203 Vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 190ff.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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dienstliche Kategorien keinesfalls den Ausschlag geben (wie es Raumer befürwortete), sondern die persönliche Prärogative des Monarchen und seine Beweggründe seien allemal als ausschlaggebend zu sichern. Nach dieser kompromissorientierten Aussprache verhärteten sich die unterschiedlichen Positionen der Kommissionsmitglieder erneut – die später schriftlich nachgereichten „Marginalien“ und Änderungswünsche, von Raumer zur Abfassung des Verhandlungsprotokolls einen Monat nach der Sitzung angefordert, machten einmal mehr deutlich, dass die mühsam erzielten Einigungen wesentlich Formelkompromisse gewesen waren.204 Zwar betonte Bethmann-Hollweg schon wenige Tage nach der Sitzung in einem „Nachtrag“ seine schon in den Verhandlungen skizzierten Kompromisslinien, musste aber die Erfahrung machen, dass die anderen Votanten in den nachgereichten „Monita“ ihre abweichenden Positionen herausstellten.205 Unter diesem Eindruck relativierte auch Bethmann seine Kompromissbereitschaft und beklagte nach Bonn zurückgekehrt, in seinem Anliegen nicht deutlich genug geworden zu sein.206 In dieser unüberbrückbaren Differenz kann ein wesentlicher Grund gesehen werden, warum der Schlussbericht der Kommission mit den nachträglich eingearbeiteten Monita schließlich erst ein Jahr nach den Verhandlungen fertig gestellt

204 Ausdrücklich wollte Raumer darin auch die anonymen Stellen des Protokolls durch die Namen der Kommissionsmitglieder ersetzt sehen: vgl. GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787, Bl. 199. 205 So insistierte Savigny auf seinem Vorschlag, dass der Adel wenigstens in der ersten Deszendenz auf alle Nachkommen vererbt werden solle, und Rochow betonte, dass die Gründung von Fideikommissen durch die Erteilung besonderer Adelsverleihungen auf alle Nachkommen der betreffenden Familie honoriert werden sollte. Die Monita Savignys und Streckfuß’ datierten auf denselben Tag wie Raumers Rundschreiben, den 27.11.1841, Rochows auf den 4. Dezember 1841, vgl. GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787, Bl. 198, 200-202. 206 „Die höhere Ehre des Adels, wenn sie kein bloß conventionelle Auszeichnung sein und auf die Dauer sich erhalten solle, setze als reale Grundlage eine höhere Stellung im Staate voraus, wie sie nur Vermögen und politische Berechtigung verleihe. Jenes werde dem Adel durch größeren, erblichen Grundbesitz gesichert, diese komme für ihn fortan nur in der an dem Grundbesitz geknüpften Landstandschaft gesucht werden. Denn wenngleich früher auch der Staatsdienst im Civil und Militär seine politische Bedeutung bedingt habe, so sei dies gegenwärtig nicht mehr möglich, nachdem der Staatsdienst in allen Stufen jedem, persönlich Befähigten gesetzlich geöffnet, also ein Gemeingut des Bürger- und Adelstandes geworden sei. Deshalb könne die dienstliche Stellung allein so wenig einen Grund zur Nobilitierung abgeben, als das Verdienst, welcher mit jedem Stande vereinbar sei. In dieser Anwendung trete die Verleihung des Adels ganz in die Kathegorie der Titel und Decorationen und müße seine Auflösung als Stand herbei führen. Bei seltenen und ganz ausgezeichnetem Verdienst werde, nach früheren Beispielen, eine Dotation mit Grundbesitz nicht ausbleiben, das Prinzip also dann immer aufrecht zu halten sein.“ Weiter vermisste Bethmann ein ausdrückliches Argument gegen die beschränkte Vererblichkeit, nämlich daß unter einem solchen Institut die Verschmelzung der landtagsfähigen Ritterschaft, was doch offensichtlich die Intention des Königs sei, verhindert würde. In der Ablehnung der Nennung von Namen im Protokoll schloß sich Bethman ausdrücklich der Meinung von Savigny und Streckfuß an. Ebd., Bl. 203.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

wurde.207 Er wurde zur Grundlage für die weiteren Auseinandersetzungen innerhalb des Ministeriums, welche sich noch bis 1847 hinziehen sollten. Zusammenfassung In den Stellungnahmen und Kompromissversuchen der „Adelskommission“ tritt uns das Paradoxon von „Konservierung durch Reform“ entgegen. Diese „katechontische Position“ (Carl Schmitt) der preußischen Administratoren und der vom König berufenen Berater versuchte die Erosion der traditionalen Gesellschaftsordnung und ihres vorzüglichen Vertreters, des Adels, aufzuhalten bzw. rückgängig zu machen, indem sie selbst an seiner projektierten Formierung – und damit Veränderung – Hand anlegte.208 Inwiefern sich diese paradoxe Haltung nicht nur in idealistisch-abstrakten Entwürfen niederschlug, sondern auch im praktisch-politischen Feld wirksam wurde ist in Teil III. Kap. 4.3. näher zu betrachten. Es bleibt festzuhalten, dass in diesem Stadium weder im Staatsministerium noch in der Adelskommission ein Konsens über die Richtung der Erweiterung des Adelsstandes, bzw. der dabei vorzüglich anzulegenden Kriterien erzielt werden konnte. Während für die Fragen standesgemäßer Ehen und Gewerbe konsensuale, oder zumindest kompromissfähige Positionen bei Akzeptanz der Folgen der Reformgesetzgebung gefunden wurden, schieden sich die Geister in der Gewichtung von Dienst- und Grundbesitzkriterien. Trotz einer starken Fraktion, die dem Staatsdienst den Vorzug gab, konnte sich diese Position doch nicht vollständig durchsetzen. Die vorläufigen Gutachten von Staatsministerium und Adelskommission überspielten diesen Konflikt eher, als dass sie ihn lösten, indem sie die verschiedenen Ansichten additiv verbanden. Die Adelskommission gestand in ihren praktischen Vorschlägen dem Grundbesitz sogar ein vages Übergewicht als Nobilitierungskriterium insofern zu, als sie die fideikommissarische Stärkung des Grundbesitzes, andererseits weiche Maßnahmen eines Adelsverlustes (ruhender Adel, oder Nichterblichkeit) bei dauernder Grundbesitzlosigkeit einer Familie befürwortete.209 Im Idealfalle sollten aber

207 GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787, Bl. 205-230: Schlussbericht der Kommission mit (nachträglich) eingearbeiteten Monita der einzelnen Mitglieder (diese Monita sind in den vorangehenden Blättern vorhanden), Berlin 10. Oct. 1842. Der Schlussbericht ist in Reinschrift, Datum 10. Oktober 1842 Berlin, Bonn, in Rep. 100 Nr. 3786 Bl. 19-36 erhalten. 208 Vgl. zu Carl Schmitts Idee des „Katechons“: Günter Meuter, Der Katechon: zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kritik der Zeit, Berlin 1994; Felix Grossheutschi, Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon, Berlin 1996. 209 Vgl. „Über AdelsVerleihung und Vererbung; nach den Vorschlägen der Commission, in: GSTAPK Rep. 89 Band 1 Nr. 930 (Adel und seine Neubelebung, Erhebung in den Adelsstand und Verlust des Adels 1841-1847), Bl. 3: „Der neue Adel soll mit Grundbesitz verbunden – auf ihm basirt seyn, um seinen Wohlstand, seine ständischen Rechte zu sichern. Der Adel kann beschränkt werden auf den Grundbesitzer allein, oder ausgedehnt f. seine Familie; ersteres ist das Prinzip bey den neuesten Ernennungen gewesen, letzteres ist der historische Karakter des deutschen Adels. Ein neuer diesen Karakter (sic!) nicht theilender würde von dem alten nicht für voll angesehen werden.



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noch immer Staatsdienst (bzw. für die Gesellschaft prominent erbrachte Leistungen) und Grundbesitz für die Qualifikation zu einer Standeserhöhung zusammentreffen. Die „Angst vor dem Grundbesitzkriterium“ bildete jedenfalls keine Brücke, über die eine geschlossene Front gegen die königlichen Pläne gebildet werden konnte.210 Mindestens bis 1848 wurden „Dienst“ (als „öffentliche“ Leistung) und Grundbesitz noch mehrheitlich als miteinander verschränkte „Adligkeitskriterien“ gedacht. Doch über deren genauen funktionellen Zusammenhang herrschte in den weiteren Beratungen noch lange Unklarheit und wurde kontrovers diskutiert. Auch lassen sich die jeweiligen Positionen schwerlich einfach aus den gesellschaftlichen Positionen ihrer Vertreter erklären – der trotz seiner geschätzten Dienste niemals nobilitierte, geschweige denn angesessene Streckfuß, der vermögende und neuadlige Bethmann-Hollweg befürworteten das Grundbesitzkriterium ebenso wie der altadlige Rittergutsbesitzer v. Rochow. Umgekehrt hatte sich der hoch vermögende Fürst Wittgenstein im Staatsministerium außerordentlich für die Idee eines Beamtenadels stark gemacht, für die

Standes Unterschied in seinem Geschlecht widerspricht dem nationalen Sinn und Herkommen, eben so wenig würde es eine Zwischenklasse wie die engl. Gentry. Der deutsche Adelsbegriff wurzelt in der Anerkennung des über menschliche Willkür hinausreichenden FamilienBandes- diese Anerkennung zu schwächen ist gewiß nicht räthlich, am wenigsten in unserer Zeit. Hierauf gründen sich folgende Vorschläge: 1. Verleihung des Adels vorzugsweise an bürgerliche Rittergutsbesitzer, etwa nach 10jährigem Besitz, oder wo durch fideicommis. Stiftung der Besitz fixiert wird, und nach Anhörung des Landtages über die persönliche Würdigkeit – ferner Verleihung für Verdienst um den Staat auch ohne Grundbesitz (Verdienstadel) 2. Beförderung von FamilienStiftungen auf Grundbesitz widerstrebt dem industriellen Zeitgeist, ist aber von großer politischer Wichtigkeit. Jede Familien Stiftung sollte sofort zur Ausübung ständischer Rechte befähigen, ohne Rücksicht auf den 10jährigen Besitzstand. Der Fideicommisstempel ist zu erlassen oder sehr zu ermäßigen. Es dürften auch FideiCommisse von weniger als 2500 rth Ertrag zu genehmigen seyn auf dem Wege der Dispensation. 3. Nur die letzte Maßregel ad 2 fordert ein neues Gesetz; Gesetze über diese Angelegenheit aber möglichst zu vermeiden, ist wegen der Opposition die sie hervorrufen würde sehr nöthig. 4. Die FideiComisse dürften nicht absolut unverschuldbar seyn. Eine corporative Verbindung aller FiedeicomissBesitzer, mit einer verwaltenden Behörde, welche für Nothfälle oder zu Meliorations Zwecken eine Verschuldung mit Amortisation genehmigen würde, wird für wohltätig erachtet, wenigstens für die noch zu errichtenden Stiftungen. 5. Einführung der Sitte, dem FamilienNamen als RittergutsBesitzer den GutsNamen anzuhängen. Es bedürfte dazu nur des Beyspiels des Königs und der Behörden. 6. Bey der Ertheilung von höheren Adelstiteln ist die Beschränkung auf ein einzelnes FamilienGlied unbedenklich zulässig erachtet; (es fragt sich ob hier nicht auch ein Sporn für Errichtung solcher FideiCommisse gefunden werden könnte, die zugleich für die Nachgebohrenen Vorsorge tragen,– daß dergl. Stiftung den Weg zur Freyherren oder GrafenWürde mit bahnen helfen könnten. 7. Erleichterungsmittel den Glanz des Adels zu erhalten würde es seyn, wennman solchen Personen die aus Noth sich in niederen Sphären bewegen, niedre Gewerbe ergreifen müssen, Anlaß gäbe, den Adel temporär abzulegen. Gesetzlich kann das freilich schwer geschehen.“ 210 Vgl. die anderslautende Schlussfolgerung bei Reif: Adelspolitik in Preußen, S. 223.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

auch der altadlige Lancizolle und der ebenfalls aus altem Adel stammende und zudem begüterte Savigny eintraten. Irreführend wäre es außerdem, diese Kontroverse als eine Auseinandersetzung zwischen „Gesinnungs- versus Grundbesitzadelsmodell“ zu charakterisieren – die erwünschte „Gesinnung“: konservativ, monarchenorientiert, keinesfalls altständisch-opponierend, war übergreifend unstrittig – es ging nur um die Frage, ob diese „Gesinnung“ am besten durch die Besetzung von Funktionspositionen im Staatsdienst, oder durch einen bedeutenden Grundbesitz erzeugt und dauerhaft gewährleistet würde. Bezeichnenderweise sprach gerade der vehementeste Verfechter dieser zweiten Richtung – Bethmann-Hollweg – den am bevorrechteten Grundbesitz hängenden ständisch-patrimonialen Rechten gar keine politische, bzw. gesinnungsentscheidende Bedeutung mehr zu. Allein die materielle Ausstattung als solche wirke sich auf das Bewusstsein der Besitzenden, ihrer Haltungen und politischen Präferenzen aus. Mit anderen Worten: zeigte sich die „Grundbesitz-Faktion“ überzeugt, dass nur materielle Grundlagen auf Dauer den Adel erhalten könnten, und „weiche“ Faktoren wie soziale Privilegien, Ausbildung und sozialer Verkehr allein nicht ausreichten, den Adel als (sozialen) Stand zu begründen, hielt die „Dienstadelsfaktion“ dagegen, dass in letzter Konsequenz der Adel sich über alle politischen und rechtlichen Brüche nur über diesen symbolischen Bereich zuverlässig habe vergewissern und (re-)konstituieren können. Mit dieser ungeklärten Ergebnislage des Kommissionsberichtes begannen nun die neuerlichen Beratungen im Staatsministerium unter Beisein des Königs.

3.4.

Die Beratung des Adelsgesetzes im Staatsministerium bis 1848: „Ritterschaft“, „Ritterstand“ und „Neuer Adel“

3.4.1. Die Verhandlung des Kommissionsberichtes im Staatsministerium Erst ein Jahr nach der Fertigstellung des Kommissionsberichtes trug Savigny die Kommissionsergebnisse im Oktober 1843 endlich dem König und einigen Staatsministern auf Schloß Sanssouci in Potsdam vor. Bei diesem Vortrag waren der Kriegsminister v. Boyen, der Staatsminister v. Thile, der Minister des Inneren v. Arnim und der Oberjustizrat und vortragende Rat im Zivilkabinett v. Voß-Buch anwesend.211

211 Dieser Vortrag fand am 26. Oktober 1843 statt. Die in der Akte befindliche schriftliche Ausarbeitung des Vortrags ist allerdings schon auf den 8. März 1843 datiert und befindet sich mit dem von Savigny angefertigten Sitzungsprotokoll in: GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3786 (Ministerium des königlichen Hauses, Kabinettsverhandlungen über den Adel 1841-46) Bl. 37-48, bzw. Bl. 49-56v. Eine reinschriftliche Abschrift dieses Vortrags und des Sitzungsprotokolls findet sich in: GSTAPK I. HA, Rep. 89, Nr. 930 (Adel und seine Neubelebung, Erhebung in den Adelsstand und Verlust des Adels 1841-1847), Bl. 62-70, bzw. Bl. 70v-72v. Nach einer Mitteilung Thiles an Radowitz in seiner Übersendung



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Die kontroversen Diskussionsverläufe der Adelskommission glättete Savigny in seinem Bericht mit der Behauptung, dass in der Kommission über die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben und dem „natürlichen Beruf des Adels“ Einigkeit geherrscht habe.212 In seinem Resümee betonte Savigny den konsensualen Wunsch nach einer gesteuerten und kontrollierten Zuführung „neuer und gesunder Kräfte“ in den Adel, deren dauerhafter Bindung an den Grundbesitz und die „Interessen eines bestimmten Landestheils“, wenngleich die Ausübung ständischer Rechte „auf den natürlichen Beruf des Adels“ verweisen sollten. Allein über die angemessenen Mittel zur Erreichung dieses Zwecks sei in der Adelskommission diskutiert worden. Dagegen unterstrich er die Kritik der Kommission an einer beschränkten Vererbung des Adels, wie an der Idee des Gentry-Modells insgesamt: selbst der Verlust des Adels erst in der zweiten Erbengeneration (wie vom Staatsministerium vorgeschlagen) würde in der Öffentlichkeit als unverschuldete Degradation verstanden werden; daher könne eine „Anwartschaft“ auf den Adel niemals die Grundlage für eine der englischen Gentry ähnlichen Gruppe schaffen – sondern nur deren „unbequeme, zweideutige Stellung“ zur Folge haben. Savigny rückte stattdessen die Vorschläge der Adelskommission zur Stärkung von Fideikommissen und anderen Familienstiftungen ins Zentrum seines Vortrages.213 Ihr bisheriger Charakter als reine Privatinstitute sollte einer klarer bestimmten politischen Bedeutung Platz machen, statt wie bisher nur den „Glanz“ und den „Wohlstand“ einer Familie zu sichern. In diese Richtung würden auch die veränderten Zeitumstände weisen: die Stiftung eines Fideikommisses allein aus privaten Interessen erscheine „als zweifelhafter Werth“, da „die schnelle Entwicklung der Industrie“ keine langfristigen „Berechnungen der in die Zukunft fallenden Verhältnisse“ zulasse. Ganz anders verhalte sich aber die Sache, wenn Fideikommisse als „politische Institutionen“ betrachtet würden. Denn der Staat habe zum einen das Anliegen, den „Adelsstand“ durch „dauernden Grundbesitz“ in „sicherem Wohlstand“ und „würdigem Einfluß auf die Verfassung des Landes“ zu erhalten, wie auch daran, den Rittergutsbesitz, eben als Element der Verfassung, nicht einem ständigen

der Verhandlungsunterlagen von 1847 wurde von dieser Sitzung kein ordnungsgemäßes Protokoll angefertigt. Savignys Aufzeichnungen seien ein auf Notizen basiertes Gedächtnisprotokoll. 212 Die abweichenden und teilweise die Adelsdiskussion erweiternden Vorschläge einzelner Kommissionsmitglieder tat Savigny mit kurzen Bemerkungen ab: den Streckfuß’schen Vorschlag einer neuen Titulatur („Edler von“) mit dem Hinweis, diese erinnere zu sehr an den Sprachgebrauch der alten Reichskanzlei; die Forderungen Lancizolles nach einem konsequenter gehandhabten Adelsverlust mit der Anmerkung, dass dieser Gegenstand nicht Teil des königlichen Auftrags gewesen sei, vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3786, Bl. 47v. 213 Berdahl hatte in seiner Darstellung der Adelsdebatte die Ergebnisse der Kommissionsarbeit nach den Ausführungen Savignys sehr knapp zusammengefasst. Aufgrund von Savignys sehr selektiver Wiedergabe der Verhandlungsergebnisse und des Kommissionsberichts fanden die alternativen Vorschlägen der Kommission zu einer Stärkung der Grundbesitzbindung durch Fideikommissstiftungen, wie auch die Diskussionen über die Notwendigkeit und Möglichkeit des Adelsverlustes keinen Eingang in Berdahls Darstellung; vgl. Ders., Prussian Nobility, S. 328.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Wechsel unterworfen zu sehen. Beide Ziele ließen sich durch die Begünstigung von Fideikommissen erreichen, indem diese einerseits den noch adligen Gutsbesitz in den Händen des Adels „fixierten“, wie andererseits als „Grundlagen neuer Adelsverleihungen“ dienen könnten. Ein weiterer Vorteil wäre, dass diese Maßnahmen ohne ein eigenes Gesetz durchgeführt werden könnten (mit der Ausnahme der von der Kommission gewünschten Erweiterung des königlichen Dispensationsrechtes), und das bedeutete: ohne öffentliche Verlautbarung.214 Würden diese Maßnahmen zwar nichts enthalten, was „verschwiegen oder verheimlicht“ werden müsste, so stünden sie doch in „direkten Widerspruch mit der destruktiven Tendenz eines großen Theils der Presse“. Eine „Fixierung“ der einzelnen Maßnahmen auf gesetzlichem Wege wäre auch nicht ratsam, solange keine genaueren Erfahrungen über eventuelle Änderungs- und Anpassungsnotwendigkeiten vorlägen. Doch Eingriffe in die „innere Beschaffenheit der Stiftungen“ seien vonnöten: das bis dahin im Landrecht ausgesprochene Verbot von Verschuldung und Veräußerung fideikommissarischer Stiftungen sollte aufgehoben werden. Die Bildung einer korporativen Verbindung aller Fideikommissbesitzer, durch eine Aufsicht führende Behörde verwaltet, sollte für neu hinzukommende Fideikommissstiftungen die bisher landrechtlich vorgeschriebenen „Familienschlüsse“ ersetzen, um flexibler und schneller wichtige Entscheidungen der Bewirtschaftung treffen zu können. Die sich an diesen Vortrag anschließende Verhandlung stellte sich trotz, oder gerade wegen Savignys Vortrag recht unstrukturiert dar und führte zu keinen abschließenden Ergebnissen. Als Arbeitsbasis für eine in Aussicht genommene abschließende Verhandlungsrunde griff der König noch einmal drei Hauptpunkte auf, die schon die Kommission beschäftigt hatten: ob ein „persönlicher Adel“ geschaffen werden sollte und inwiefern bestimmte Rangstufen im königlichen Dienst sogar den erblichen Adel gewähren sollten, welche Regelungen hinsichtlich der Erhaltung und des Verlusts des Adels, und welche Anstalten zur Sicherung des Wohlstandes des neuen Adels zu treffen seien. Wie schon die Kommission, zeigten sich nun auch die Minister weniger an dem geplanten „Neuen Adel“ interessiert, als an Maßnahmen in Bezug auf den bestehenden Adel (Fideikommisse, Majorate). Zum Thema der Adelsverleihungen hat sich alleine die Anmerkung von Voß erhalten, dass einer Begutachtung durch die zukünftigen Standesgenossen – wie von der Kommission vorgeschlagen – zwar nichts grundsätzlich entgegenstünde, diese Begutachtung aber „nur unter der Hand einzuziehen“ sei, und diese auch nichts „Allgemeines und nichts Bindendes“ bewirken dürfe.

214 „Der königliche Gesetzgeber war auch nach Einführung der Gesetz-Sammlung zunächst befugt, nach Belieben in jedem Einzelfall eine andere Publikationsweise als in der Gesetz-Sammlung zu bestimmen und auch sich von dem Erfordernis der ministeriellen Kontrasignatur (vgl. § 28 V. 20. III. 1817) zu entbinden.“, vgl. Hubrich, Entziehung, S. 350.



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In der Frage der Erhaltung bzw. des Verlusts der neuen Adelstitel ging der König den Vorschlägen seiner Kommission und den Protesten der Minister einen großen Schritt entgegen. Es sei keineswegs seine Absicht gewesen, dass die nachgeborenen Kinder eines Titulierten dem „Adelsstande fremd bleiben, sondern nur die Bezeichnung des Adels vorläufig nicht theilen sollten“. Ja, er sei „nicht abgeneigt“, diese Unterscheidung zwischen dem Gutsnachfolger und den Nachgeborenen sogar ganz fallen zu lassen, „so lange überhaupt der Gutsbesitz in der Familie bleibe“. Allein bei Verlust des Gutes, so der König, solle dieser Adel für alle Mitglieder der Familie erlöschen, die nach Verlust des Gutes geboren würden. Eine Namensunterscheidung zwischen dem jedesmaligen Besitzer des Gutes und den übrigen Familienmitgliedern wollte der König aber unbedingt einführen. Es war offenbar wiederum alleine Oberjustizrat Voß, der den Vorschlag machte, einen vom Gutsbesitz abgeleiteten Beinamen zu nutzen, wie es ähnlich ja schon die Kommission vorgeschlagen hatte – im Falle des Verlustes des Gutsbesitzes würde das Verschwinden dieses Beinamens in der Familie die Öffentlichkeit über diesen materiellen Verlust deutlich informieren. Dagegen wurde nun „von allen Seiten“ die Forderung nach Bestimmungen der Suspension, oder gar des dauerhaften Adelsverlusts erhoben. Adelsmatrikel für den Gesamtstaat wie für einzelne Landesteile sollten dabei helfen die Führung von Adelstiteln zu kontrollieren, wobei der Problematik des „Incolats“ besondere Beachtung geschenkt werden sollte.215 Die „meisten und wichtigsten“ solcher Bestimmungen beträfen allerdings vordringlich den alten Adel, und wiesen deshalb über den Gegenstand der gegenwärtigen Beratung hinaus, waren sich die Minister einig. Diese letztere Einschätzung hielt die Minister nicht davon ab, auch beim nächsten Verhandlungspunkt, der Frage der Sicherung des „Wohlstandes des neuen Adels“, vornehmlich über überkommene Instrumente der (Grund-)Besitzsicherung zu sprechen: ganz auf der Linie des Kommissionsberichts waren sich die Minister über die Notwendigkeit einer „corporativen Behörde“ zur Entwicklung und Oberaufsicht von Fideikommissstiftungen einig. Wieder war es Voß, der dazu mahnte, dass bei aller Sorge um den neuen Adel doch der alte nicht vergessen werde, für welchen die „meisten zu treffenden Anstalten“ ebenfalls einzurichten seien. Ziel der Förderung von Fideikommissen sollte nach Voß aber weniger die Unterstützung möglichst großer Familienstiftungen sein, die durch viele „Competenzen“, d.h. Mitspracherechte einzelner Familienmitglieder, belastet würden; besser sei es, große Familienvermögen auf mehrere kleinere Fideikommisse zu verteilen. Dabei gab Voß zu bedenken, dass im Adel selbst starke Vorbehalte gegenüber Fideikommissstiftungen existierten  – „manche Personen“ scheuten eine solche „Konzentrierung“ in einer Hand durch

215 Mit „Inkolat“ wurde vor allem in Österreich und Böhmen das ständische Recht bezeichnet, über die Aufnahme von neuen Mitgliedern in die Korporation selbst zu bestimmen. Hier war wohl allgemein die förmliche Aufnahme in den (preußischen) Adel gemeint, über die nun aber vordringlich der König, bzw. die Zentralverwaltung zu entscheiden hatte.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Primogenitur und zögen Erbregelungen nach dem Muster der überkommenen märkischen Lehen vor. Minister Arnim begründete diese Skepsis im Adel gegenüber Fideikommissen damit, dass hauptsächlich die dauerhafte Bindung des Bodens abschreckend wirke, während eine zeitlich auf zwei Generationen beschränkte Bindung wie in England gerne eingerichtet würde.216 Ohne terminliche Festlegung für die vorgesehene abschließende Verhandlungsrunde endete auch dieses Ministertreffen mit dem diffusen Stimmungsbild, das uns die Akten überlassen. Die Minister folgten wesentlich den Empfehlungen der Kommission, den (bestehenden) Adel über den Grundbesitz stärken zu wollen. Anscheinend wurde die Problematik des „Neuen Adels“ und die vom König gewünschte „Gentry“ bei dieser Gelegenheit nicht näher besprochen. Auch unterblieb eine Auseinandersetzung über die Bedeutung des Staatsdienstes für die Schaffung und Erhaltung des Adels, obwohl der König diese Thematik mit Bezug auf einen eventuellen Personal­ adel durchaus angesprochen hatte.

3.4.2. Ein entschiedener Unterstützer der königlichen Ideen: Christian Karl Josias v. Bunsen Es sollte bis zum Sommer 1844 dauern bis die Minister zur einer nächsten Beratungsrunde einberufen wurden.217 Im April 1844 hatte der preußische Gesandten in England, Christian Karl Josias Freiherr v. Bunsen (1791-1860) vom König den Auftrag erhalten, einen Verfassungsvorschlag zu erarbeiten. Neben diesem Verfassungsvorschlag verfasste Bunsen zugleich ein darauf bezogenes Memorandum über die in seinem Verfassungsentwurf nur streifend thematisierte Adelsreform.218 Eine solche Adelsreform betrachtete Bunsen gar als eines von vier Hauptzielen einer neuen Verfassungsordnung! Bunsen kann als ein typischer bürgerlicher Vertreter der Idee vom

216 An weiteren praktischen Maßnahmen zur Förderung von Fideikommissstiftungen wurde von Minister v. Thile vorgeschlagen, die von der Adelskommission angeregte Erlassung von Stempelgebühren unmittelbar einem Fonds für Nachgeborene zugute kommen zu lassen, während alternativ Minister v. Voß den Erlass der Stempelgebühren von einer ausreichenden Versorgung der Nachgeborenen abhängig machen wollte. 217 Im März 1844 wurde die Adelskommission lediglich darüber informiert, dass der König ernsthaft über die Wiederherstellung von Lehnsverhältnissen bei den neuen Grafen-Ernennungen nachdachte und dazu das Gutachten der Kommission einholen wolle: vgl. Schreiben von Thile an Savigny, Stolberg und Voß am 9. März 1844, in: GSTAPK Rep. 89, Band 1, Nr. 930, Bl. 7. 218 Bewusst hatte der Monarch mit Bunsen wie mit dem zeitgleich mit demselben Auftrag versehenen Radowitz zwei außerhalb der Regierung stehende, aber freundschaftlich verbundene Ratgeber mit der Ausarbeitung von Verfassungsvorschlägen beauftragt, vgl. Bahne, Verfassungspläne, S. 3839. Vgl. die diesbezüglichen Auszüge in: Friedrich Nippold (Hrsg.), Christian Carl Josias Freiherr von Bunsen. Aus seinen Briefen und nach eigener Erinnerung geschildert von seiner Witwe. 3 Bände. Zweiter Band, Leipzig 1869, S. 284f; 289.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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„dritten Weg“ verstanden werden, der politischen Fortschritt „zwischen der Wiederkehr des Alten und revolutionärer Umwälzung“ suchte.219 Ausführlich empfahl Bunsen in seinem Memorandum die englische Gesellschaftsentwicklung nach dem Aufstieg der dortigen Gentry seit dem 16. Jahrhundert als Orientierungsfolie für eine staatliche preußische Gesellschaftspolitik.220

219  Zur „dritten Weg“-Vorstellung Bunsens vgl. Wilma Höcker, Der Gesandte Bunsen als Vermittler zwischen Deutschland und England, Göttingen 1951, S. 16. Bunsen lernte den König und den Kronprinzen im Herbst 1827 kennen, mit dem Kronprinzen schloss er im Oktober 1827 während eines Aufenthaltes in Paretz Freundschaft, vgl. Ebd., S. 66-67. Der Auftrag erfolgte in Folge eines Gesprächs Bunsens mit dem König am 2. April 1844. Vgl. Nippold (Hrsg.), Bunsen, S. 281ff. 220 In einem Brief an Canitz äußerte sich Leopold v. Gerlach überraschend gnädig (da er selbst den königlichen Adelsreformplänen kritisch gegenüberstand) über Bunsens Beraterrolle, dessen adelspolitische Aktivitäten und sogar deren Inhalt: „Im Ganzen ist hier jetzt Ruhe, aber nur eine negative: das einzige active Element ist Dein Londoner College, der nachdem er lange unbenutzt blieb jetzt zum Ärger seines Chefs u. der anderen Minister, ein Ärger der nicht ganz zu tadeln ist, sehr thätig im [...] Memoirenschreiben u.s.w. ist. So ist er bei der Adelssache, welche seit der Huldigung fest liegt gebraucht worden, u. hat darüber nach dem, was ich davon erfahre ganz gute und auch practische Ideen. Die Minister sind stets unzufrieden über diese […] Räthe Sr. Majestät, sehen aber nicht ein, daß sie so lange nöthig sind, als sie es für ihren Beruf halten, sich stets nur hinter den Wagen anzuspannen.“ […] „Wenn man mit den Provinzialständen weiter will, so muß man doch zunächst daran denken, ihre Grundlagen, die von Tag zu Tag lockerer werden zu befestigen. Denn jetzt löset sich der Bauernstand auf, die [...] demokratische Städteordnung wirkt immer nachtheiliger, und die Rittergutsbesitzer werden von Tag zu Tag bürgerlicher, oder richtiger ausgedrückt ephemerer [! Hervorhebung G. H. Vgl. dazu oben Teil I. Kap. 2.5.1.]. Das Nächste wäre also eine Befestigung dieser Stände. Wie schwächlich sind aber die Maasregeln dazu; ja man hat nicht einmahl den Muth mit Prinzipien hervor zu treten, sonst böte das Parcellierungsgesetz, das Gewerbe-Policeygesetz u. die Reconstitution des Adels [Hervorhebung G. H.] dazu die beste Gelegenheit. Aber wer soll solche Dinge auch nur berathen? Wie gesagt dazu muß nur Er [der König, G. H.] kommen u. eine Gastrolle geben, u. hat er das, wie du aus eigner Erfahrung weißt gethan, so fällt doch alles wieder in das alte Geleise. Was hat denn England durch alle Revolutionen hindurch, aller verkehrten Ideen im Inneren ungeachtet, erhalten, als die der Nation tief eingeprägte Tendenz nach dem Grundbesitz u. das Festhalten desselben. Das ist der allgemeine Conservatismus der Engländer, das ist der Grund daß Aller Reichthum zu letzt zum Adel zurückkehrt oder anders ausgedrückt, daß Alle Notabilitäten zu letzt im Adel aufgenommen werden, wodurch dieser frisch und kräftig bleibt. Ein solcher neuer Adel wie dort hebt den alten in dem dieser dann in Wahrheit etwas ist u. auch etwas war, ein Vorzug, den ihm Niemand nehmen kann. Das war kann man ihm bei uns auch nicht nehmen, aber ohne das ist muß es allmählig zur Curiosität herabsinken.“ Vgl. Schreiben v. Leopold v. Gerlach an Canitz, Berlin den 2. Juli 1844, in: GSTAPK Nachlass Canitz u. Dallwitz, Rep. 92, Nr. 11 (Briefwechsel zwischen Karl Ernst Wilhelm v. Canitz und Leopold v. Gerlach 1832-1849), Brief Nr. 20.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Bunsens Parallelisierung der englischen und preußischen Standesverhältnisse Die gesellschaftspolitische Ausgangslage in Preußen nach Bunsen Wie vor ihm schon Innenminister Rochow, aber vor allem Lancizolle in seinem Votum für die Adelskommission, zeichnete Bunsen einmal mehr die englische Gesellschaftsentwicklung bezüglich des adlig-bürgerlichen Verhältnisses nach; doch anders als seine beiden Vorgänger ging er mit seinem König konform, dass die historische englische Entwicklung grundsätzlich mit der aktuellen preußisch-deutschen Dynamik vergleichbar sei.221 Bunsen entwickelte seine gesamtgesellschaftliche Analyse aus der Überlegung, warum die Kabinettsordre vom 15. Oktober 1840 über die beschränkte Vererblichkeit des neu verliehenen Adels in der Öffentlichkeit auf so wenig Zustimmung gestoßen sei. Nach Bunsens Einschätzung lag dies daran, dass diese Verordnung weder den Interessen des Bürgertums noch des Adels entsprechen konnte – dem Bürgertum bot das neu eingeführte Prinzip der möglichen „Verfallbarkeit [Caducität] des Adels“ kein Versprechen auf eine dauerhafte Standeserhöhung und damit Gleichstellung mit dem alten Adel; wogegen der Adel durch das in dieser Verordnung anklingende „Angebot“ einer Nobilitierung des reichen Bürgertums „eifersüchtig“ wie auf jede „Maßregel“ reagieren musste, „welche den kastenartigen Unterschied des Adeligen und Nichtadeligen zu verwischen, und eine ihm bedenkliche Concurrenz für Ehre und Genuß zu eröffnen scheint“. Die bürgerlichen Spitzen, im Vollgefühl, die „ungeheure Mehrheit der Bildung, der Beamtenschaft und des Reichthums zu sein“, würden sich aber standespolitisch niemals von dieser Mehrheit trennen lassen, solange es nicht „zu einem Gleichen der bevorzugten Minderheit“ werden könne. Denn der „Bürgerstand“ sei „jetzt nichts als ein unorganisiertes Ganzes, welches die übrige Masse des Volkes ohne Unterschied, in unbedingtem und gleichem Gegensatze des Adels, umfasst“. Bunsen konnte dabei darauf verweisen, dass die noch im ALR vorgenommene Unterscheidung zwischen hohem und niederem Bürgertum jeglicher juristischer wie politischer Bestimmtheit ermangele – dem Adel also der gesamte „Nichtadel“ als relativ geschlossene „bürgerliche“ Masse entgegenstand. Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen würde sich aber der „achtbarste und reichste Theil des Bürgerstandes nie in eine solche Verfügung eingehen“. Die Folgen dieser „verneinenden Stellung des Bürgerstandes zu allen Adelsverfügungen“ und der „tiefverwurzelten Feindschaft gegen den Adel als Junkerthum“ müssten als um so schwerwiegender zu bewerten sein, als in absehba-

221 Diese „Denkschrift über die Verfügung vom 15ten Oktober 1840 den Adel betreffend“, datiert Berlin, April 1844, findet sich in GSTAPK Rep. 89, Nr. 930, Bl. 8-21. Auszüge dieser Denkschrift wurden schon durch Bunsens Witwe Frances veröffentlicht, vgl. Nippold (Hrsg.), Bunsen, S. 287-289. Robert M. Berdahl fasste dieses Memorandum kurz zusammen, wobei er sein Hauptaugenmerk auf Bunsens Ausführungen über die erwartete preußische Gesellschaftsentwicklung richtete. Bunsens adelspolitische Vorschläge gibt er nur knapp wieder und geht auf deren Bedeutung für die weiteren Verhandlungen über den Adel gar nicht ein, vgl. Ders. Prussian Nobility, S. 328-331.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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rer Zukunft „die große Mehrheit der Rittergüter in mehreren Provinzen sich in den Händen von Nichtadligen befinden wird“. Diese „verfassungsmäßige Mehrheit“ bürgerlicher Rittergutsbesitzer werde „bei jeder Gelegenheit einen antiaristokratischen Geist zeigen, also an die Spitze einer gesamten antiaristokratischen Bewegung der Landstände treten“. Nur der „Erwerbsstand“ würde „jedes Jahr gebildeter und aufstrebender“, „stetig und nachhaltig wohlhabender“; nur er könne die großen Vermögen bilden und auch erhalten. Diese Tatsache bestimme die „ganze Zukunft“ Europas, und werde in Preußen, weil hier die ganze „Geld- und Besitzmacht“ der „gebildeten und erwerbenden Klasse“ auf „den Erwerb des Grundes und Bodens gerichtet“ sei, bald „verfassungsmäßig die erste Standschaft [...] nach dem Herrenstande“ bilden. Ganz genau so wäre auch die Aristokratie Englands, trotz ihres „geschichtlichen Einflusses und ihres kollossalen Grundbesitzes“ längst der „herannahenden Fluth der Geldmacht erlegen“, wenn nicht die „nationale Adelsverfassung“ genau diese Geldmacht und die damit verbundene Bildung umgekehrt zur „Hülfsquelle des Adels“ gemacht hätte. Die englische Elitenentwicklung nach Bunsen Dieses englische „Adelsverfassung“ habe bewirkt, dass seit 200 Jahren der neugebildete bürgerliche Reichtum der Städte danach bestrebt gewesen sei, sich auf dem Land einzukaufen und auch die Lebensweise des alten Landadels anzunehmen: „Der reiche Kaufmann und Fabrikherr wird Landedelmann (country gentleman). Die reiche und wohlerzogene Erbin desselben heirathet einen solchen [Landedelmann, G. H.], vielleicht sogar den Sohn eines Peers.“ In diesem generellen Streben „des gebildeten Erwerbstandes wie der Bediensteten“ nach Landbesitz sah Bunsen das eigentliche Sondermerkmal Englands gegenüber den kontinentaleuropäischen Verhältnissen, sobald „man von dieser Erscheinung [der englischen Standesverhältnisse, G.  H.] dasjenige [abstreift], was England [...] schon vermöge der gänzlich verschiedenen Geschichte des eigentlichen Herrenstandes, eigenthümlich ist“. Diese Assimilationsund Integrationsprozesse Bürgerlicher in den (niederen) Landadel seien allerdings ganz ohne förmliche Verleihung adliger Titel an solche neuen „country gentlemen“ erfolgt, wie ja auch der alte Landadel aus betitelten wie unbetitelten „Ritterfamilien“ bestanden hätte. Der „aristokratischen Charakter“ diesen „Standes der Rittergutsbesitzer“ wurde nach Ansicht Bunsens wiederum garantiert durch „die Idee eines beschränkten Fideikommisses – des einzig möglichen in England seit Heinrich VIII.“222 An anderer Stelle bezeichnete Bunsen diese „Gentry“ und den von ihr besessenen Grundbesitz zudem als den „Güterbesitz der Gebildeten“, betonte also neben der durch großen gebundenen Bodenbesitz garantierten materiellen Potenz deren ideell-kulturelle Qualifizierung. Bunsen sah in dieser Fusion materieller wie kultureller Privilegierung den Grund, dass dieser immer wieder erneuerte niedere

222 Zur historischen Entwicklung dieses Instituts des „strict settlement“ vgl. unten Teil III. Kap. 4.3.2.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Adel „Gegenstand des Stolzes und der Liebe der Nation, und nicht ihres Neides und Hasses“ sei. Und so wie die unbetitelte Gentry die „Pflanzschule“ der Baronets, so hätten sich diese wiederum im Laufe der Zeit zu „Pflanzschulen der Pairie“ entwickelt, und so jeweils dieses höchste Stratum des Adels vor „Absterben wie vor der Verarmung“ bewahrt. In Gegensatz zu Gustav v. Rochow, aber vor allem Lancizolle, die den gemeinsamen Ursprung von englischer „Gentry“ und „Nobility“ betont hatten, bezog sich Bunsen in seiner Zeichnung der englischen Standesverhältnisse auf die zeitgenössisch verbreiteten (jedoch historisch nicht zutreffenden) Auffassungen, wonach „gesetzlich“ allein die Pairie zur „Nobility“ gerechnet werde, und entgegen der gesellschaftlichen Behandlung selbst der Sohn eines Herzogs „rechtlich“ allein des Status eines „gentleman commoners“ habe. Deshalb stünde die „nobility so wenig der gentry als eine geschlossene Kaste gegenüber, als die gentry der übrigen Nation“. Äußeres Merkmal dieser Durchlässigkeit zwischen diesen ständischen Stufen sei ein „liberum connubium“, also die Möglichkeit grundsätzlich standesübergreifender Heiraten, ohne dass diese grundsätzlich als Mißheiraten gälten – Messailliancen, die gegen „Sitte und Sittlichkeit“ verletzten, würden allein durch soziale Sanktionierung, wie der „Zurückweisung der Frau von Hof und Gesellschaft bestraft“.

Bunsens Vorschlag zur Übertragung der englischen Entwicklung auf Preußen Wie aber könnte nach diesem englischen Vorbild in Preußen eine „wohlerwogene, und im rechten Augenblick erlassene Adelsordnung, eine entsprechende aristokratische Gestaltung“ befördert werden, „welche die Monarchie und den Adel verstärkte, und dabei dem Geist des gebildeten Bürgerstandes, welcher der Geist der Zeit und der Nation ist, genügte?“ Bunsen erklärte sich überzeugt, dass der Augenblick gekommen sei für einen Versuch, „eine solche monarchisch aristokratische Institution dergestalt in die demokratische Richtung der Zeit zu werfen, daß sie von ihr getragen“ werde. Eine solche „Adelsordnung“ müsse drei sozialpolitische Tatsachen berücksichtigen: die immer noch gültigen „wohlerworbenen Rechte und die bestehende Bevorzugung“ des alten Geschlechter- als des neueren Briefadels“, die „verfassungsmäßige Begründung der Ritterstandschaft auf ein in der Matrikel verzeichnetes Rittergut“, und die „Ausdehnung persönlicher Befähigung durch die Ordnung des Dienstes im Heere und im Staate, wie sie seit 1808 besteht“. Die Bildung eines preußischen Herrenstandes Die für Preußen zur erlassende Adelsordnung musste nach Bunsen auf zwei Säulen beruhen: eine von diesen habe ein für Preußen „politisch festzustellender“ Herrenstand zu sein, der aus dem allgemeinen deutschen „Herrenstand“ (des deutschen Bundes) entnommen, doch von diesem klarer geschieden werden sollte. Damit griff Bunsen ein Thema auf, dass in den bisherigen Verhandlungen der Adelskommission wie des Staatsministeriums überhaupt nicht berührt worden war – die Frage eines



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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preußischen „Oberhauses“.223 Tatsächlich lässt sich aus Friedrich Wilhelms adelspolitischen Initiativen auch deutlich der Wille zu einer „Aristokratisierung“ von Teilen des Adels herauslesen, die genau so tief in die überkommenen Adelsstrukturen eingegriffen hätte wie die beabsichtigte beschränkte Adelsvererbung.224 Die Idee zur Schaffung einer preußischen „Aristokratie“, die gegründet auf gebundenen Grundbesitz sich über die breite Masse mit eigenen staatspolitischen Aufgaben erheben sollte, war Friedrich Wilhelm lange vor Bunsen vor allem durch Hermann v. Pückler-Muskau während seiner Kronprinzenzeit nahegelegt worden.225 Die Bestimmungen über die sich allein primogenital vererbenden höheren Adelstitel der Freiherrn und Grafen drückten sich dazu deutlich aus. Zunächst begriff Bunsen diesen deutschen „Herrenstand“ als die Gesamtheit der dem königlichen Hause ebenbürtigen, ehemals reichsfürstlichen Familien (inkl. der drei stolbergischen Grafenlinien), zudem die „Mediatisierten“ sowie die wenigen Familien des hohen deutschen Adels, die nicht zu den Mediatisierten zählten. Während aber dieser deutsche „Herrenstand“ nicht erneuert werden könne, und sich durch Absterben der Geschlechter schließlich verringern müsse, könne die preußische Krone eigene preußische Fürsten- und Grafen ernennen. Dieser zu definierende preußische Herrenstand sei zum einen binnenständisch nach seinen Prädikaten (Fürsten, Grafen, Freiherrn) zu gliedern, sowie nach ihren Berechtigungen, auf den Landtagen mit Viril- oder Kuriatstimmen abstimmen zu dürfen.226 Entscheidend sei, dass die Söhne dieser Standesherren zu den Ritterschaften zählen sollten, um im Falle eines persönlichen Rittergutsbesitzes auch als Vertreter derselben in die Landtage gewählt zu werden. Auf diese Weise erhielte der „zweite Stand der Monarchie“, eben die Ritterschaft, eine „bedeutende aristokratische Verstärkung“, und ganz nach dem englischem Vorbild würden hoher Adel und Ritterschaft sozial verbunden und zugleich eine gefährliche scharfe soziale Trennung zwischen den beiden „Kammern“ der Provinziallandtage vermieden werden: Was wäre aus dem englischen Parlamente und aus England geworden, wenn die künftigen Peers und ihre Brüder nicht im Unterhause säßen? und was wäre aus der Pairie und dem Oberhause geworden?

223 In seinem Votum hatte Streckfuß ja ausdrücklich bedauert, dass ohne die gleichzeitige Diskussion einer Staatsverfassung, die Debatte um eine Adelsreform gewissermaßen im „luftleeren“ Raum agiere. 224 Vgl. dazu unten Teil III. Kap. 4.3.3. 225 Vgl. zu diesem Einfluss Hermann v. Pückler-Muskaus unten Teil III. Kap. 4.3.3. 226 Inwieweit diesen Familien die preußische „Reichsstandschaft“ zuerkannt werden solle, darüber könne ohne Rücksicht auf staatsrechtliche Bedenken frei entschieden werden, führte Bunsen mit Verweis auf seine genaueren Ausführungen „in der allgemeine Denkschrift“ (zu einer reichsständichen Verfassung) aus.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Diese soziale „Vermittelung“ sei aber nicht allein „durch Recht und Sitte des liberum connubium längst vorbereitet, sondern auch durch die landständischen Anordnungen und ihre Folgen“, welche den Oberhäuptern der standesherrlichen Familien in Preußen eine persönliche politische Bevorrechtigung eingeräumt, und damit eine innerfamiliale ständische Differenzierung vollzogen haben. In einigen Familien würden sogar differenzierende Titel benutzt, ganz wie dies in England die Regel, und auch früher in Deutschland üblich gewesen sei. Kontrolle des höheren Adels durch Einführung von Adelslisten Für eine solche Formierung eines neuen preußischen Herrenstandes erschien Bunsen die bessere Kontrolle und Eindämmung des Gebrauchs der Freiherrentitel dringlich. Alle Versuche der Krone, dem im sozialen Verkehr inflationierten Gebrauch dieses Titels „aus einem wohlverstandenen Interesse des Adels wie des Rechtes“ entgegenzuwirken, seien jedoch vergeblich gewesen.227 Bunsen empfahl deshalb, den „Freiherrenstand bei der Erweiterung der ständischen Rechte wesentlich zu berücksichtigen“, gleichzeitig aber den mißbräuchlichen Gebrauch zu verbieten und zu verpönen, wozu auch die Einführung eines „Wappenamtes“ und eine zu veröffentlichende „Freiherrenliste“ notwendig sei.228 Zugleich sollten gesetzliche Bestimmungen für die Erhebung in den Freiherrenstand erlassen werden, die als Bedingungen entweder die adlige Geburt des Begnadigten und einen Gutsbesitz, oder den Rang eines Generals im Heer, bzw. eines „Rats erster Klasse“ voraussetzen sollten. In den beiden letzten Fällen sollte aber der Erwerb eines Gutes mit einem Mindestreinertrag von 6.000 Talern und die Stiftung eines „Majorats nach englischer Sitte“ (strict settlement) hinzutreten müssen. Der Freiherrentitel sollte allein auf den jeweiligen Gutserben übergehen.229

227 Ursächlich dafür erschien Bunsen vor allem die „Sitte von Süddeutschland, jeden Adligen Baron zu nennen und zu schreiben“. Tatsächlich gab es regelmäßig Versuche der preußischen Krone, wenigstens im eigenen Machtbereich den Gebrauch von Freiherrntitel einzudämmen – deren Wiederholung belegen zugleich deren relative Erfolglosigkeit, besonders in Bezug auf das Offizierskorps: vgl. die einschlägigen Reskripte und A.C.O.s: GSTAPK I. HA Rep. 176, Nr. 12 (Heroldsamt, Acta gen. betr. den preußischen Adel allgemein): so z.B. A.C.O. 20.12.1823 bzgl. der Beweismittel für die Zugehörigkeit zum Freiherrenstand; Reskript v. 29.9.1829 über Anmaßungen des Freiherrenstandes bei Offizieren; Reskript v. 28.5.1839 über Beweismittel über die Zugehörigkeit zum Freiherrenstand; A.C.O. 19.5.1844 betr. eines Verzeichnisses der in der Provinz Westfalen zur Führung eines Freiherrntitels berechtigten Familien. Selbst 1879 erschien es noch notwendig, ein Verzeichnis der zur Führung des Freiherrntitels berechtigten, bzw. nicht berechtigten Familien anzulegen, und noch in späteren Jahren beschäftigte das Problem der Freiherrntitel das preußische Heroldsamt regelmäßig. 228 Diese Freiherrenliste sollte nach Bunsen in den Gothaer Almanach aufgenommen werden. 229 Bunsen machte zudem praktische Vorschläge hinsichtlich der vorzunehmenden Titulatur für den jeweiligen Gutsbesitzer, den designierten Gutserben und die sonstigen Familienmitglieder, sowie bezüglich des Gutsnamens in Fällen von Besitzwechseln.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Die Einführung eines preußischen „strict settlement“ Überhaupt wollte Bunsen zur Formierung eines preußischen Herrenstandes generell den „beschränkten englischen Fideikommiss“, also das „strict settlement“, als neues Instrument familienrechtlicher Bodenbesitzbindung einführen. Bunsen sah im „strict settlement“ ein ideales Instrument um den „Standesgeist“ zu befördern. Denn um erfolgreich sein zu können, erzwang das „strict settlement“ die Selbstdisziplinierung jeder Erbengeneration. Anstelle des „äußeren“ Disziplinierungsmittels eines staatlich garantierten und beaufsichtigten Fideikommisses erforderte dieser immer wieder zu erneuernde Generationenvertrag gewissermaßen die Internalisierung eines neuadligen Habitus – wie es Bunsen an dem „vollen und herzlichen Einverständnisse der jüngeren Zweige der besitzenden Familien“ in England zu beobachten meinte. Dadurch könne auch in Preußen die „Sitte“ allein „von selbst die Wirkung eines festen Majorats [entwickeln] [...], ohne daß man nöthig hätte, dem Besitze neue Fesseln anzuschlagen“.230 Die Einführung des „strict settlements“ sollte zwei Zielen dienen: zum einen dabei helfen, die Gruppe der Grafen und Freiherren zu homogenisieren. Denn durch diese Form des Bodenbindungsrechts würde der „unangenehme Unterschied“ der erbrechtlichen Bestimmungen überflüssig, welcher durch das Edikt vom 15. Oktober 1841 zwischen den „alten“, unbeschränkt vererblichen Grafentiteln und den nur mehr beschränkt vererblichen neuen Titeln herrschte.231 Gleiches träfe für die Freiherren zu. Zum zweiten sollte diese Form des zeitlich beschränkten Fideikommisses zur Formierung des niederen Adels herangezogen werden. Ein preußisches „strict settlement“ sollte nach Bunsens Auffassung nichts weniger, als die gesamten neuen Bestimmungen hinsichtlich einer beschränkten Vererbung des Adels, wie sie in der Kabinettsordre vom 15. Okober 1840 festgelegt worden waren, ersetzen, und zur eigentlichen Grundlage einer neuen Ordnung des niederen Adels werden. Denn eine solche Familienstiftung sei die sicherste Gewähr, dass der Gutsbesitzer das Gut nicht nur mit Blick auf die Aussicht auf eine mögliche Nobilitierung erwerben würde. Die nach den Regeln des „strict settlement“ vorgenommene erbliche Übertragung des Gutes an die Enkelgeneration („oder überhaupt dem dritten Gliede“) sei Ausweis genug, „daß die Familie als Rittergutsbesitzerfamilie gegründet und landansässig geworden ist und von nun an tritt für sie dieselbe Freiheit ein, welche der alte Adel

230 Man beachte die ganz vergleichbare Vorstellung schon bei Dohna-Schlobitten 1810, die Habitualisierung einer „Familiengesinnung“ durch die Notwendigkeit zu erzwingen, ein „vinkuliertes“ Gut immer wieder neu durch Familienschluss binden zu müssen! Siehe oben Teil I. Kap. 2.3.4. Vgl. zum „strict settlement“ unten Teil III. Kap. 4.3.2. 231 Anlässlich der Huldigungen 1840 waren 22 Grafentitel verliehenen worden. Dazu kam 1841 der nach dem Recht der Erstgeburt gegrafte Legationsrat Heinrich Friedrich v. Arnim aus dem Haus Heinrichsdorff und Werbelow. Eine Liste der 1840 erfolgten Grafen- und Freiherrnerhebungen findet sich in GSTAPK I. HA Rep. 89 Nr. 919 (Allgemeine Bestimmungen in Adelssachen 1824-1874, bzw.1798-1915), Bl. 43-43v.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

genießt“. Dazu gehöre auch, dass der Familie das adlige Prädikat auch dann erhalten bleibe, wenn das Gut doch verkauft werden muss. Mit anderen Worten: gegenüber den im Staatsministerium und der Adelskommission vorgeschlagenen Adligkeitskriterien setzte Bunsen alternativ auf einen dokumentierten Willen zur Erbdisziplin als Ausweis und Beleg einer internalisierten „Adligkeit“. Neuordnung des niederen Adels In der Neuordnung des niederen Adels, der Hauptmasse und des daher politisch wichtigsten Adelssegments, sah Bunsen die zweite Säule und die Hauptaufgabe einer Adelsreform. Bunsens Vorschläge liefen auf nichts weniger als eine Totalrevision des politisch bevorrechtigten niederen (Ritterguts-)Adels hinaus. Bunsen ging mit seinen Vorschlägen über den bisher erzielten Konsens, dass vornehmlich aus dem Kreis der bürgerlichen Rittergutsbesitzer neuer Adel hervorgehen sollte, weit hinaus. Nach Bunsen sollte jeder („persönlich befähigte“) Erwerber eines Rittergutes, der zugleich einen „beschränkten Fideikommiss“ nach englischem Vorbild stiftete, sofort zur Erhaltung des adligen Prädikats „befähigt“ sein. Im Falle der Nobilitierung würde dieser dann mit sofortiger Wirkung als Mitglied der landschaftlichen Ritterschaft mit allen Wahl- und Repräsentationsrechten betrachtet werden. Persönliche Adels- und Stiftungsfähigkeit statt historischer Rittergutsqualität Nach Bunsen sollte es in Zukunft gar nicht mehr darauf ankommen, ein „immatrikuliertes“, also mit den ständischen „Gerechtsamen“ ausgestattetes Gut erwerben zu müssen, um das ständische Repräsentationsrecht zu erhalten – bedeutende „Complexe an Güterbesitz“, die in einer Hand vereinigt an Größe und Ertrag den Vorschriften der Provinzial-Verfassungen entsprächen, sollten sofort „matrikulationsfähig“ werden, sobald deren Besitzer darauf ein „beschränktes Fideikommiss“ stiftete (dessen persönliche „Würdigkeit“ immer vorausgesetzt). D.h., die in den Rittergutsmatrikeln erfasste, relativ konstante Zahl von zur Repräsentation auf den Landtagen berechtigten Rittergütern sollte jederzeit und formlos erweitert werden können. Während nach bisheriger Praxis ein relativ fest definierter Bestand an bevorrechteten Rittergütern die Repräsentationsrechte an den jeweiligen Besitzer „weitergab“, zielte Bunsens Vorschlag darauf, dass umgekehrt die persönliche Qualität eines „Adelswürdigen“ dem von diesem besessenen Boden mit der Repräsentationsfähigkeit ausstattete. Nichts, so Bunsen, könnte „dem Land und der Krone“ wünschenswerter sein, als dass recht viel von Grund und Boden auf diesem Wege „geadelt“ würde. Im Gegenzug sollten die Rittergutsmatrikel um solche Güter bereinigt werden, deren Erträge das ritterschaftliche Minimum nicht mehr erreichten. Eine solche Praxis hätte einerseits den Kreis der persönlich zur Nobilitierung „Befähigten“ deutlich über die Zahl der bisherigen bürgerlichen Besitzer schon matrikulierter Rittergüter wachsen lassen. Andererseits hätte sie die Möglichkeit relativiert, sich aufgrund von „materieller Potenz“ die politische Repräsentationsfähigkeit über den Erwerb eines matrikulierten Rittergutes „erkaufen“ zu können. Denn die



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Stiftung eines „strict settlement“ und die verlangte persönliche „Würdigkeit“, bzw. „Befähigung“ hätten einen Personenkreis assigniert, der mit der Nobilitierung die sofortige landschaftliche Ritterfähigkeit erhalten würde – während sonstige Bürgerliche zur Erlangung der Ritterfähigkeit auch weiterhin ein immatrikuliertes Gut erben, bzw. mindestens zehn Jahre besitzen müssten. Als weitere Tendenz einer solchen Neudefinition der „Standschaft“ wäre das Wahlrecht von der Grundbesitzbindung zunehmend gelöst, und damit individualisiert worden: die Wahlberechtigung wäre nicht mehr „vom Boden“ ausgegangen, sondern zu einer individuell zuschreibbaren Qualität geworden. Objektive Definition der „Adelsbefähigung“ Die dritte Komponente neben Gutsbesitz und Fideikommissstiftung zur Neuordnung des niederen Adels sollte eine zeitgemäße und geordnete Festlegung der Eignungskriterien für die persönliche Adelsbefähigung sein, die Bunsen mit dem Begriff der „Ritterbürtigkeit“ zu fassen suchte. Bunsen monierte, dass nach den bisherigen provinzialständischen Verfassungen gar keine persönlichen Bedingungen an den „Eintritt in den zweiten Stand“ (der Rittergutsbesitzer) geknüpft waren: dabei müsse „ein ständischer Rittergutsbesitzer [...] wesentlich ritterbürtig, d.h. durch Erziehung, Bildung und adeliges Leben ein Edelmann sein.“ Bunsens Auffassung der „Ritterbürtigkeit“ umriss inhaltlich wohl am treffendsten, was in der Forschung aktuell unter dem Begriff der „Adligkeit“ zu fassen versucht wird – eine latente Adelsbefähigung, die allerdings, wie der Begriff der persönlichen „Würdigkeit“, nach einer genaueren Bestimmung einer „eigentlich“ adligen Lebensführung verlangte. Nach Bunsen schieden dafür nicht nur „serviler“ Dienst und Handwerk, sondern selbst Handel und Industrie (die jeweils höhere Bildung und Unabhängigkeit voraussetzten) aus, solange sie vornehmlich mit dem Ziel der persönlichen Bereicherung betrieben wurden. Denn adliges Leben sei wesentlich durch Muße und Fähigkeit zur freien Beschäftigung mit dem Allgemeinen geprägt. In Preußen habe die neue Heeresordnung „die ganze Nation ritterbürtig gemacht, sofern sie die zum Offizier-Examen erforderliche Übung, Bildung und Geneigtheit aufweisen kann“. Dieser Weg müsse nur konsequent weiter verfolgt werden: „Man gebe der ganzen gebildeten Nation gesetzlich bürgerliche Ehre, wie man ihr militärische gegeben hat [...].“ Der Genuss dieser Befähigung müsse aber an Bedingungen geknüpft werden, die „aus der Wirklichkeit“ entnommen seien, wie es das Vorbild der Armee gezeigt habe: „Denn es giebt keine größere Geschichtlichkeit als der wirkliche gesellschaftliche Zustand eines ganzen Volkes“. Diese Empfehlung richtete Bunsen wohl an den König, wissend um dessen Sorge, die angestrebte neue Stände- und Adelsordnung nicht als „künstliches Konstrukt“, sondern als Ausfluss der geschichtlichen Überlieferung verstehen, ja, als historisch logischen und zwingenden teleologischen Entwicklungsschritt begreifen zu dürfen. Als standesgemäße Laufbahnen identifizierte Bunsen für den „gebildeten Mann adeliger Befähigung“ das Heer, den Staatsdienst, die Stadtverwaltung in Städten

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

„ersten und zweiten Ranges“, sowie Kirche und Wissenschaft. Die Befähigung zur einer „politisch adeligen Wirksamkeit“ müsse sich auf diesen Laufbahnen aber schon „bewährt“ haben, weswegen Eingangsprüfungen zu diesen Laufbahnen nicht als Qualifikation zur Adelsbefähigung zählen könnten. Beginne der „adelige“ Dienst im Heer mit dem Rang des Leutnants, so könne der Hauptmannsrang als Anerkennung einer bewährten adeligen Befähigung gelten. Im Staatsdienst entspräche diesem Verhältnis der Karriereschritt vom Assessor zum „Rat“ in einem Gerichts- oder Verwaltungskollegium, in der Stadtverwaltung vom Stadtrat zum Bürgermeisteramt, in der Kirche vom Prediger zum Superintendenten, bzw. Konsistorialrat, in der Wissenschaft vom außerordentlichen Professor zum ordentlichen Professor, bzw. an den Schulen vom Oberlehreramt hin zum Direktor. In diesem Punkt variierte Bunsen also das schon vom König wie von der Adelskommission vorgeschlagene Adligkeitskriterium einer qualifizierenden Position im Staatsdienst – wobei auffällt, dass Bunsen dieses Kriterium deutlich niedriger ansetzte: der König hatte den Ministerialrat 2. Klasse bzw. den Rang eines Oberst in der Armee als qualifizierende Stufen genannt, Lancizolle und Raumer die Räte in Landes- und Regierungskollegien in Vorschlag gebracht, für die Armee sogar auf dem Rang eines Stabsoffiziers bestanden. Die Verleihung der „Ritterbürtigkeit“ durch den Erhalt von „Ritterorden“ Ganz nach diesem Schema wollte Bunsen auch die Verleihung von Ritterorden behandelt wissen, die ja die direkteste persönliche Anerkennung der „Würdigkeit“ einer Person durch die Krone darstellten. Die unterste Klasse eines Ordens (normalerweise die dritte) wollte Bunsen entsprechend mit dem Beginn einer der oben genannten Laufbahnen gleichstellen, die zweite Ordensklasse zeige dann die „Befähigung“ eines Ausgezeichneten zum Eintritt in die Ritterschaft an. Durch die Ordensverleihungen erhielte die Krone zugleich die Möglichkeit, einzelne Personen gezielt in die Ritterschaft zu bringen, deren sonstige Lebensverhältnisse und Dienstränge sie nicht dazu qualifizierten. „Fremde“, d.h. nichtpreußische Orden (wie auch Adelsverleihungen) dürften genau wie in England dagegen keine politischen Vorrechte gewähren.232 Bunsen: „Adligkeit“ als Leitbild der preußischen Nation? Durch diese Maßnahmen wollte Bunsen den Adel als ein soziales Ziel der gesamten preußischen Gesellschaft neu etablieren, und dadurch über die „Liebe und Achtung

232 Bunsen verwies hierbei auf die Problematik der Verleihung „unqualifizierter“ Adels-, ja sogar Freiherrentitel an den kleinen deutschen Höfen. Der Personaladel, der in Bayern an manche Orden geknüpft sei, habe sogar zu einer „Annäherung an die gesellige Sitte Österreichs“ geführt, „welche aber nur aus vollkommener Nichtigkeit des Adelstitels entstanden ist“. Diese Kritik Bunsens knüpfte an die in Preußen schon seit der Reformzeit etablierte Kritik an den österreichischen Adelsverhältnissen an.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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der Nation“ als eine „politische Wahrheit“ zu neuer Macht verhelfen. Der „Ritterstand“ solle „Blüthe und der Sprecher der gebildeten Nation“ werden: „Der Adel ist allen adelig Erzogenen und Gesinnten zugänglich, allen Ziel eines edelen Strebens.“ Dadurch erhielte auch „die Krone“ die Macht, gegenüber dem „aufstrebenden, reichen und gebildeten“ Bürgertum ihre Autorität neu zu begründen, indem dessen Ehrgeiz „veredelt“ und „gezügelt“ werden könne. Zugleich würde die „conservativste aller Beschäftigungen“, der Landbesitz, neu gestärkt. Voraussetzung „alles politischen Fortschreitens auf dieser Bahn“ nach englischem Vorbild sei aber die Gewährung des liberum connubium: So lange nicht für den gesammten Adel, mit Ausnahme natürlich der dem Hause ebenbürtigen siebenzehn Häuser, die Ehe mit allen ritterbürtigen Familien gestattet wird, so ist keine Gründung eines mächtigen und dem Volke theuren Adels, eine wahre und doch volksmäßige Aristokratie möglich, sondern die Monarchie wird früher oder später dem Verhängnisse verfallen, welches alle mit inneren Widerspruche behafteten Staaten bedroht, nie aber mehr als in unseren Tagen.

Adelsreform und Verfassungsbildung Wie eng Bunsen die von ihm vorgeschlagenen adelspolitischen Maßnahmen mit der preußischen Verfassungsfrage verbunden sah, erläuterte er ein Dreivierteljahr nach seiner Adelsdenkschrift in einem weiteren Memorandum für den König. Die enge Anlehnung an die englischen Verhältnisse frappiert einmal mehr.233 Die preußischen Provinzialstände wollte Bunsen leicht demokratisieren, indem das Muster des rheinländischen Landtags (jeweils ein Drittel der Abgeordneten für jeden Stand) auf alle Provinzen ausgedehnt werden sollte. Gleichzeitig würde jedoch der Kreis der Wählerschaft einzugrenzen sein: nur noch die Rittergutsbesitzer und die Bewohner der Regierungsbezirks-Hauptstädte (25) sollten die Wahlkörper bilden. Damit würde die Zahl der Wählbaren allerdings umfangreicher ausfallen als die der Wähler! Doch es sei ein „großer Irrtum“ der neueren Gesetzgebung anzunehmen, dass der Kreis der Wähler und der Wählbaren identisch zu sein habe. Ein Differenzierung zwischen beiden Gruppen sei gerade für Preußen empfehlenswert, da in „keinem Staat der Welt“ als in Preußen so wenige Rittergutsbesitzer so vielen Beamten und Offizieren, die Ersteren an Bildung und Kenntnissen überlegen seien, gegenüber stünden. Den Kreis der Wählbaren definierte Bunsen nach den Qualifizierungsmerkmalen für die „Ritterbürtigkeit“ in seiner Adelsdenkschrift vom April 1844: die ritterbürtigen königlichen Beamten und Offiziere der Monarchie. Über diese Gruppe der Wahlfähigen sei auch der Einfluss der Krone gesichert – über das Mittel der notwendigen

233 Mit dieser Denkschrift nahm Bunsen direkten Bezug auf seinen früheren Verfassungsvorschlag vom Juni 1844: „Die Zusammensetzung des ständischen Hauses der Abgeordneten. Nachtrag zur Denkschrift vom Junius 1844“, London Januar 1845, in: GSTAPK BPH Rep. 50 E2 Nr. 2, Bl. 293-318. Bodelschwingh lehnte diesen Plan in seinem Übersendungsschreiben vom 9. Februar an den König als „unpraktisch“ ab, vgl. Ebd. Bl. 292.

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Dienstbeurlaubung dieser Kandidaten könne die Regierung mit Hilfe der Rittergutsbesitzer genehme höhere Beamte in die Versammlungen wählen lassen! Diese Beamten und Offiziere wären zudem überall, unabhängig von ihrer Stationierung, in allen Provinzen wählbar. Der Kreis der Städte sollte durch die neue Industrie(-Großstadt) Elberfeld-Barmen ergänzt werden, ganz so, wie in England mit der Reformbill von 1832 die Industriestädte Manchester, Leeds und Birmingham als neue Wahlbezirke berechtigt worden waren.234 Elberfeld habe sich immer als „anhänglich an das Fürstenhaus“ gezeigt und durch „Vaterlandsliebe“ ausgezeichnet. Diese Ausdehnung der Wählerschaft bedeute also keine Gefahr, wie überhaupt über die Beamtenschaft der Verwaltungs- und Gerichtsbehörden, das Militär- und Schulpersonal die dortige Wählerschaft leicht durch die Regierung beeinflussbar blieb, so dass deren Abgeordneten an Loyalität einer „Ernennung seitens der Regierung“ gleichkämen. Ebenso würden die Städte „Cöslin, Gumbinnen, Marienwerder, Bromberg […], ohne „close boroughs“ zu sein, doch der preußischen Regierung unter allen Umständen dieselbe Sicherheit ihre höchsten Beamten ohne Zeitverlust in das Haus wählen zu lassen, als jene der englischen gewähren.“ Die Idee, über die Wahl ihrer Beamten indirekten Einfluss auf die Provinzialständeversammlungen zu gewinnen, entnahm Bunsen direkt den englischen Verhältnissen: denn auch dort hatte die Krone noch einen gewichtigen Einfluss, indem der Monarch die Bediensteten seiner Administration als Wahlkandidaten aufbot, oder als „Sponsor“ für die Wahlkampfkosten begünstigter Kandidaten aufkam.235 So habe die Regierung dieselben Einflussmöglichkeiten wie bei einer direkten Berufung von Abgeordneten – aber wieviel „edler“ sei die Form, und wie verschieden das Ansehen des Hauses, so Bunsen. Weiter mahnte Bunsen die Bildung eines konservativen städtischen Patriziats an: nachdem die Städteordnung nach dem Untergang der mittelalterlichen Zünfte und Innungen „versäumt“ habe, eine neue „organische Gestaltung“ der Städtebewohner vorzunehmen, bliebe als Ordnungsprinzip die „Schatzung“, also die Differenzierung der Wählerschaft nach dem Vermögen. Doch sei dies grundsätzlich ein konservatives Prinzip, und die Tatsache, dass die reichsten Bürger und Fabrikherren Anhänger des Liberalismus seien, und gegenüber der Regierung opponierten, sei allein einer „vorübergehenden Spannung“ geschuldet – aufgrund des „Stillstandes der Verfassungsfrage und des Mangels eines zeitgemäßen Adels“ (Hervorhebung G. H.).

234 Vgl. zur Reform und Ausdehnung der Wahlbezirke in England 1832: Brandt, Europa 1815-1850, S. 175. 235 Vgl. zu dieser englischen Regierungspraxis: Ebd. S. 171.



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3.4.3. Die zweite ministerielle Beratung im Juni 1844 Die Ideen zur Ausdehnung und Flexibilisierung der Bodenbindungsmöglichkeiten und die damit verbundenen detaillierten Ideen Bunsens zur Neuformierung des niederen Adels sollten den ganzen Richtungsverlauf der weiteren Adelsdiskussion entscheidend beeinflussen.236 Bunsen erschien in der nächsten ministeriellen Beratung am 27. Juni 1844 persönlich in Sanssouci.237 Diese Runde war gegenüber der Sitzung vom Oktober 1843 noch um die Staatsminister v. Bodelschwingh und Stolberg sowie dem Kronprinzen Wilhelm erweitert.238 Nachdem Kronprinz Wilhelm zwischen 1842 und 1844 nicht direkt über die Verfassungsfrage informiert worden war, da er von Anfang an gegen die Einberufung ständischer Ausschüsse und überhaupt gegen die königlichen Pläne von „Generalständen“ opponiert hatte, wurde er 1844 von seinem königlichen Bruder stärker in die Verfassungsverhandlungen einbezogen.239 Dazu gehörte auch seine Teilnahme an dieser Beratungsrunde über die Adelsfrage. Gegenüber der Sitzung vom Oktober 1843 entwickelte sich diese zweite Verhandlung nicht zuletzt aufgrund der inhaltlichen Vorleistungen durch Bunsens Denkschrift deutlich strukturierter und mit klaren Ergebnissen. Das Ergebnis dieser Sitzung war eine Fusion der Vorschläge Bunsens, der Adelskommission und der ministeriellen Beratungsrunde von 1843.240 Dabei setzte sich recht eindeutig das Prinzip des Grund-

236 Der König übersandte Bunsens Memorandum am 8. Juli 1844 von Schloss Sanssouci an die Staatsminister Mühler und Savigny, vgl: GSTAPK I. HA, Rep. 10, Nr. 3787, Bl. 255. Am 31. Oktober 1844 verlangte Thile das Memorandum Bunsens wieder zurück, da er es dem König vorlegen solle. Savigny ließ ihm daraufhin eine Abschrift dieses Dokuments zukommen, weil das Original offenbar inzwischen schon an Graf v. d. Groeben zugeleitet worden war, vgl. GSTAPK Rep. 89, Nr. 919, Bl. 129. Bunsens allgemeine Verfassungspläne wurden aber durch die Minister Bodelschwingh („unpraktisch“) und Canitz („Laboratorium der politischen Experimente“) und selbst den König („Bunsens Ideen bedeuten die Einführung einer Konstitution“) abgelehnt, vgl. Bahne, Verfassungspläne, S. 38. Trotz dieser Ablehnung seiner Generalentwürfe erhielt Bunsen noch im Herbst 1844 vom König den Auftrag, anlässlich eines Englandbesuchs des Thronfolgers, den Prinzen Wilhelm in einer Unterredung von der Notwendigkeit zu überzeugen, eine nach dem „Geist“, nicht nach dem „Muster“ (!) der englischen Verfassung auch in Preußen eine Repräsentation des Gesamtstaates einführen zu müssen, vgl. Ebd., S. 48. 237 Reinschrift des Protokolls über die Verhandlungen in Schloss Sanssouci am 27. Juni 1844, vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3786, Bl. 52-56v; das Konzept befindet sich in Rep. 100, Nr. 3783 (Ministerium d. Königl. Hauses, Verhandlungen des Staatsministeriums über den Adel 1840-1846), Bl. 91-98. 238 Der als liberal geltende Ernst v. Bodelschwingh wurde im Juli 1845 (vorerst interimistisch) Arnims Nachfolger als Innenminister, nachdem er schon seit gut einem Jahr als Kabinettsminister in der Nähe des Königs tätig gewesen war. Im Kreis der Vertrauten um Friedrich Wilhelm IV. wurde er argwöhnisch als möglicher „inoffizieller Ministerpräsident“ betrachtet, vgl. Vgl. Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 185. 239 Vgl. Bahne, Verfassungspläne, S. 47-49. 240 Am 11. Juli 1844 übersandte v. Savigny das Konzept des Protokolls über die am 27. Juni 1844 in Sanssouci abgehaltene Konferenz über Adelssachen an die Staatsminister mit der Bitte, eventuell

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besitzes als Grundlage eines sich dauerhaft vererbenden Adels durch. Ausnahmen sollten nur die Verleihung des Schwarzen Adlerordens bzw. des Prädikats „Exzellenz“ darstellen, in welchen Fällen die (nichtadligen) Begnadigten zugleich den unbeschränkten Erbadel erhalten sollten.241 Ansonsten wurde die Einführung eines reinen Personaladels entgegen früherer Überlegungen wie im Oktober 1843 endgültig verworfen. Nur noch bürgerliche Rittergutsbesitzer sollten für Nobilitierungen berücksichtigt werden, vorausgesetzt, sie besäßen das Gut für eine Mindestdauer von zehn Jahren, oder sie würden darauf einen Fideikommiss bzw. eine Erbfolgeregelung für mindestens zwei Successionsfälle stiften, oder das positive Urteil ihrer zukünftigen Standesgenossen erhalten.242 Allerdings wurde dem Monarchen immer noch das Recht eingeräumt, „aus exzeptionellen Gründen“ (zu denen neben persönlichen Verhältnissen auch herausragende politische Staatsakte wie die Huldigungen zählten) nach Gusto zu Nobilitieren. Dem Staatsdienst wurde nur noch insofern eine Bedeutung für Adelsverleihungen zugedacht, als bestimmte Rangstufen (so genannte „Kategorien“) in der zivilen und militärischen Laufbahn einen Personenkreis definieren sollten (der wesentlich den Vorschlägen Bunsens entsprach), welcher die oben angeführten Nobilitierungsvoraussetzungen für bürgerliche Rittergutsbesitzer (alternativ Besitzdauer, oder Fideikommissstiftung, oder befürwortendes Urteil der Standesgenossen) nicht erfüllen musste, um für Standeserhöhungen berücksichtigt zu werden.243 So sollten Personen dieser „Kategorien“ allein durch den Erwerb eines ritterschaftlichen Grundbesitzes für eine sofortige Nobilitierung qualifiziert sein. Die Zugehörigkeit zu diesen

Fehlendes zu ergänzen, „als bei der in jener Conferenz zuweilen abschweifenden Unterhaltung nicht immer mit Sicherheit unterschieden werden konnte, ob Etwas als bloß individuelle Bemerkung zu betrachten war, oder die Zustimmung Sr. Majestät des Königs erhielt. Zur deutlicheren Übersicht füge ich eine ähnliche Registratur hinzu, die ich früher über die am 26. Oktober v. J. abgehaltene Conferenz aufgenommen habe.“ Vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 91. 241 Den mit dem Prädikat „Exzellenz“ Ausgezeichneten sollte allerdings eingeräumt werden, darum zu bitten, den Adel nur auf ihre Person zu beschränken und nicht auf ihre Nachkommen übergehen zu lassen. Dadurch sollte ausgeschlossen werden, dass für die Nachkommen unvermögender Ausgezeichneter sozial-wirtschaftliche Nachteile entstünden. 242 Dieses „Zeugnis der Standesgenossen“ sollte alternativ entweder aus einem Antrag eines Provinziallandtages zur Nobilitierung eines Kandidaten bestehen können; oder einer Begutachtung der adligen Mitglieder der landständischen Ritterschaft in den Fällen, in denen ein Gutsbesitzer persönlich um den Adel nachsuchte, oder aus formlos eingeholten „Erkundigungen“ auf Initiative des Monarchen. 243 Zu diesen „Kategorien“ sollten gehören: Hauptleute und Rittmeister der Linie und der Landwehr; Wirkliche Räte der Landeskollegien; Oberbürgermeister und Bürgermeister von Städten mit mehr als 10.000 Einwohnern; Konsistorialräte und Superintendenten; Ordentliche Mitglieder der Akademie der Wissenschaften; Ordentliche Professoren der Universitäten; Direktoren der Gymnasien; außerdem Ritter des Roten Adlerordens bis zur 3. Klasse, des Eisernen Kreuzes 1. Klasse, des Ordens Pour le Mérite der Militär- wie der Friedensklasse.



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„Kategorien“ sollte zugleich die Hoffähigkeit verleihen.244 Eine gleichzeitige Revision, bzw. Erweiterung der Rittergutsmatrikel um Neugüter, die sich durch ihre Größe wie die „Würdigkeit“ ihres Besitzers qualifizierten, wie Bunsen es vorgeschlagen hatte, war dagegen kein Thema. Neben dieser Festlegung der Nobilitierungsbedingungen bildete das zweite bemerkenswerte Ergebnis dieser Sitzung der Beschluss, die Stiftung von Fideikommissen zu erleichtern, doch vor allem: die auf zwei Erbfälle beschränkte Sukzessionsform privilegierter Landbindung einzuführen, wie sie Bunsen (aber in der Beratung vom Oktober 1843 auch Arnim) unter Verweis auf das englische „strict settlement“ empfohlen hatte. Zweifellos ging dieser bemerkenswerte Passus wesentlich auf den direkten Einfluss von Bunsens Memorandum sowie dessen persönlicher Teilnahme an den Beratungen zurück. Adlige und nobilitierte Stifter eines beständigen Fideikommisses, bzw. der neuen Form einer zeitlich beschränkten Erbfolgeordnung, sollten sofort die landständischen Rechte in Anspruch nehmen dürfen, unabhängig von der Besitzdauer; bürgerliche Stifter zumindest einen landesherrlichen Dispens in diesem Punkt erwarten dürfen. Die Stempelgebühren für solche Stiftungen ganz zu erlassen, wie es die Adelskommission vorgeschlagen hatte, wurde aber abgelehnt. Allein eine Reduktion dieser Gebühren auf ein halbes Prozent (normal: drei Prozent) wurde mit der Maßgabe gewährt, dass diese nachgelassene Differenz solchen Stiftungen zufließe, die dem Unterhalt weiblicher Familienmitglieder dienten.245 Ebenfalls abgelehnt wurde die Anregung der Adelskommission, das gesetzlich vorgeschriebene Einkommensminimum von 2.500 Talern für dauerhafte Fideikommissstiftungen aufzuheben. Dafür bestünde kein Bedarf, umso weniger, als die geplante neue Form einer Sukkzessionsstiftung, das „strict settlement“, kein gesetzliches Mindesteinkommen für das dafür vorgesehenen Gut forderte. Die von der Adelskommission vorgeschlagene „korporative Verbindung“ von Fideikommissbesitzern, für die sich Savigny in seinem Vortrag im Oktober 1843 noch einmal stark gemacht hatte, und damit eine gesonderte politische Bedeutung für den gesamten Fideikommissbesitz, wurde als unnötig zurückgewiesen – diese schon in der Provinzialständegesetzgebung latent angelegte Entwicklungsmöglichkeit der

244 Laut dem Sitzungsprotokoll sollte dieser Personenkreis dem „Ritterstand“ gleichgestellt werden. Dabei wurde der Begriff des „Ritterstandes“ (gegenüber der „Ritterschaft“) nicht genauer erläutert. Doch darf unter Bezug auf die verstreuten Äußerungen Friedrich Wilhelms und vor allem seinen späteren Ausführungen in der Kabinettssitzung von 1846 (vgl. unten) geschlossen werden, dass darunter die neue Kategorie der zwar „adelsfähigen“, aber selbst nicht adligen Nachgeborenen des „Neuen Adels“ gemeint waren. 245 Bei freiwilliger Entrichtung eines (ebenfalls ermäßigten) Stempelbetrags von 1 % würde der Stifter das Recht zur Besetzung einer Stelle in einem Fräuleinstift erwerben.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Provinzialstände wurde also endgültig verworfen.246 Allein die wirtschaftliche Bedeutung solcher Stiftungen für den Adel wurde ausführlich gewürdigt; der bestehenden provinzialständischen Ritterschaft sollte offensichtlich keines Falls eine neue politische Konkurrenz zur Seite treten, bzw. jene durch eine politische Organisation der Fideikommissbesitzer ersetzt werden. Zum dritten strittigen Punkt der Verhandlungen, der Vererbung des Adels, wurde bestimmt, dass er in den Fällen der bei der Huldigung in den Adel erhobenen Familien für alle Familienmitglieder dauerhaft würde, sobald entweder eine Substitution auf einen Gutsbesitz (Fideikommiss oder „strict settlement“) erfolgte, oder der Gutsbesitz faktisch über drei Generationen in der Familie erhalten bliebe. Nur indirekt ging aus dieser Festlegung hervor, dass der neue Adel bei nicht vorhandenem Grundbesitz weiterhin in der übernächsten Generation erlöschen sollte. Offen blieb, ob diese Bestimmung auch für zukünftige Nobilitierungen gelten sollte, oder eben nur ausdrücklich für diese spezifische Gruppe Neugeadelter.247

246 Vgl. dazu Kap. 2.5.1. Dennoch setzte sich Lancizolle noch einmal 1845 in Zusammenhang mit der Frage eines zu bildenden „Vereinigten Landtages“ für eine ständische Vertretung der Fideikommissbesitzer ein, in deutlicher Anlehnung an das Entwicklungspotential der Provinzialständeordnung. An Canitz, der bald darauf mit der Ausarbeitung eines Einberufungspatentes für den „Vereinigten Landtag“ beauftragt werden sollte (vgl. unten), übersandte Lancizolle am 4. Oktober 1845 eine entsprechende Denkschrift. Darin machte Lancizolle konkrete Vorschläge, wie zukünftig Fideikommissbesitzer in einer neuen Ständeordnung besondere Berücksichtigung finden sollten: für die Provinz Brandenburg mit 1 Kollektivstimme im „Ersten Stand“, anstelle der bisherigen gemeinsamen Stimme der Grafen Hardenberg und Arnim, für die Provinz Sachsen mit 1 Kollektivstimme, die bisher dem Grafen Asseburg exklusiv zustand, für die Provinz Preußen 1 Kollektivstimme anstelle der Stimme des Grafen Kayserling für die in Litauen gelegene Grafschaft Ronitenburg, für die Provinz Schlesien 1 Kollektivstimme in der Ritterschaft, die neu gebildet und daher niemandem „weggenommen“ werden sollte. In den übrigen Provinzen Rheinland, Posen, Westfalen und Pommern waren keine Kollektivstimmen für Fideikommissbesitzer vorgesehen. Vgl. den „Nachtrag zu den Bemerkungen über die mögliche Zukunft unserer Landstände“, verfasst in Magdeburg 12. September 1845, in: GSTAPK, Nachlass Canitz u. Dallwitz, Rep. 92, Nr. 17 (Briefe bzgl. ständische Verhältnisse), Anschreiben Lancizolles Berlin 4. Okt. 1845, Bl. 103-112, die Denkschrift: Bl. 114-129v. Darin ist auch eine tabellarische Übersicht der Zusammensetzung der Deputierten nach Provinzen beigefügt. Lancizolle schlüsselte die Zusammensetzung nach Ständen, bzw. Landesteilen auf. 247 Diesen ungeklärten Umstand suchte sich Thile zunutze zu machen, indem er in seinen zwei Jahre späteren Vorbereitungen zur nächsten staatsministeriellen Verhandlungsrunde der Adelsangelegenheit einfach konstatierte, dass bei allen künftigen Nobilitierungen der Adel auf alle Nachkommen übergehen solle, solange sich nur ein Mitglied der Familie in Besitz ritterschaftlichen Grundbesitzes befände, vgl. das nicht signierte Dokument „Vorbereitung zum Kabinetts-Vortrag, Sanssouci d. 10. September 1846, entnommen aus den bisherigen Kabinettsverhandlungen, in: GSTAPK I. HA, Rep. 89, Band 1, Nr. 930, Bl. 76f.



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Adelsreform und die Auseinandersetzung um eine „reichsständische“ Versammlung Die vom König geplante Adelsreform stand ohne Zweifel in Zusammenhang mit seinen Ideen über eine allmähliche Ausbildung einer reichsständischen Ordnung stand. Trotzdem finden sich in den Verhandlungen selbst keinerlei Bezüge auf die parallel verlaufenden Auseinandersetzungen über die Einführung solcher „Generalstände“. Dahinter kann auch eine Strategie des Monarchen vermutet werden, der das Zusammengehen der Opposition gegen seine Pläne über Reichsstände und gegen die dafür vom König dafür notwendig gehaltene Adelsreform zu vermeiden suchte indem er bewusst diese beiden Diskussionskreise (trotz personaler Überschneidungen) getrennt hielt. Die signalisierten Kompromissoptionen seitens Friedrich Wilhelms (in seiner Reaktion auf das Staatsministerium 1841 wie in der Beratungsrunde von 1843), seine Einbeziehung von „externen“ Beratern für die Ausarbeitung von Verfassungswie Adelsreformentwürfen (Bunsen und Radowitz) können leicht darüber hinwegtäuschen, mit welcher Unbeirrbarkeit der Monarch selbst nach Jahren der Verhandlungsunterbrechungen, den abweichenden und von seinem Kernanliegen wegführenden Stellungnahmen und Alternativvorschlägen immer wieder auf seine Hauptanliegen zurückkam. Der scheinbar ungeordnete Verlauf der Adelsdebatte illustriert treffend die Einschätzung Barclays über den Arbeitsstil und die politische Zielorientierung Friedrich Wilhelms: But too many contemporary observers and too many subsequent historians have focused far too much on the contradictions of that personality. In the things that mattered most to him, [...], Frederick William was quite consistent. Erich Marcks once insightfully remarked that Frederick William was ‚consistent in the innermost of his being, but inconsistent in every individual act that he undertook.248

Trotzdem fanden auch 1844 die Verhandlungen über die Konditionen von neu zu verleihenden Standeserhöhungen keinen Abschluss. Vielmehr sollten bis zur nächsten und letzten ministeriellen Beratungsrunde über eine Neuformierung des Adels im September 1846 noch einmal über eineinhalb Jahre vergehen. Neben der von Anfang an bremsenden bis oppositionellen Einstellung des Ministeriums in dieser Angelegenheit dürfte für diese erneute Verzögerung der sich zuspitzende Konflikt über die Einführung einer „reichsständischen“ Verfassungsordnung verantwortlich gewesen sein, der in den Jahren 1844 und 1845 auf einen Höhepunkt zusteuerte und schließlich offen ausbrach.249 In Presse und Öffentlichkeit liefen verstärkt Gerüchte über Verfassungspläne des Königs und die Opposition des Kronprinzen umher. Kronprinz Wilhelm milderte zwar seine ursprüngliche Totalopposition gegen die Einführung von Reichsständen allmählich, fürchtete aber weiterhin, dass sein königlicher

248 Vgl. Barclay, Frederick William IV., S. 74, S. 52. 249 Bahne, Verfassungspläne, S. 68ff.

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Bruder voreilig und überstürzt eine Entwicklung herbeiführen würde, die Preußen den eigentlich von beiden Brüdern verabscheuten „Konstitutionalismus“ einbrächte. Wiederholt äußerte der Kronprinz die Sorge, dass die Einführung eines konstitutionellen Systems die Existenz Preußens gefährde, „wenn es bei seiner Zerrissenheit der geographischen Lage noch die Einheit der königlichen Macht opfert.“250 Außerdem sah er drohende Konflikte mit den großen konservativen Nachbarn, Russland und Österreich voraus, falls Preußen auf eigene Faust einen „zu raschen Fortschritt“ einschlage, der „den Staat innerlich und in seinen Verhältnissen gegen die übrigen Staaten gewiß ins Unglück stürzen werde“.251 Zwischenzeitlich hegte Prinz Wilhelm sogar den Verdacht, „daß der König nach Vorwänden haschen wird, zur großen Geldbewilligung, um nur Freude sich oft machen zu können, die Reichsstände zu versammeln“.252 Prinz Wilhelm insistierte auf einer gebremsten Entwicklung und stellte sich insbesondere gegen die vermutete Lieblingsidee seines Bruders, für Preußen eine Verfassung nach englischem Vorbild zu entwickeln. Insbesondere für ein Zweikammersystem fehle Preußen „die dortige Aristokratie“ war er überzeugt, womit er einen seit den Verhandlungen über eine provinzialständische Verfassung nach 1806 etablierten Topos aufgriff.253 Diese Feststellung sollte ihn aber nicht daran hindern, im weiteren Verlauf des Verfassungsstreits schließlich selbst auf der Bildung eines in einer Kammer vereinigten Herrenstandes im Rahmen eines Zweikammersystems zu bestehen, falls eine Generalständeversammlung unvermeidlich wäre. Mit dieser Position vertrat der Kronprinz einer Minderheitenmeinung im Umfeld des Königs. Mit Ausnahme der Minister Boyen und Arnim waren alle Berater und Minister des Monarchen gegen die Einrichtung eines besonderen Herrenstandes. In mehreren Denkschriften und Briefen brachte Wilhelm in der zweiten Hälfte des Jahres 1845 und 1846 seine Bedenken gegen die Pläne seines Bruders vor.254 Doch der König wollte tatsächlich zwar eine Verstärkung der Herrenkurie und das Recht gesonderter Abstimmungen für dieses Gremium reservieren, lehnte aber (noch) ein offenes Zweikammersystem mit einem Herrenhaus an der Spitze ab.255 Der Kronprinz suchte für seine Oppositionspolitik wiederholt Unterstützung bei den großen konservativen, mit Preußen in der sogenannten „Heiligen Allianz“ verbündeten Nachbarmächten, Österreich und Russland. Dieses Vorgehen schien um so

250 Bahne, Verfassungspläne, S. 63. 251 So Wilhelm in einem Gespräch mit dem Industriellen Josua Hasenclever im Juli 1845, vgl. Josua Hasenclever, Erinnerungen aus meinem Leben, Hamburg 1911, zit. nach Bahne, Verfassungspläne, S. 72. 252 So in einem Schreiben des Kronprinzen an den Großherzog Georg v. Mecklenburg-Strelitz am 24. März 1845, vgl. Karl Pagel (Hrsg.), Der Alte Kaiser. Briefe und Aufzeichnungen Wilhelms I., Leipzig 1925, zit. nach Bahne, Verfassungspläne, S. 68. 253 Bahne, Verfassungspläne. Siehe auch oben Teil I. Kap. 2.5.1. 254 Ebd., S. 73-75. 255 Ebd., S. 82.



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aussichtsreicher, als der König seit seinem Antritt der Regentschaft regelmäßig bei diesen Mächten für seine Ideen einer neuen preußischer Ständeordnung um Verständnis geworben hatte. Insbesondere das (Ein)Verständnis der österreichischen Regierung mit dem Staatskanzler Metternich an der Spitze war dem König wichtig. Diesem Zweck dienten wiederholte Treffen des Monarchen mit Metternich, so erstmals 1842 auf der Burg Stolzenfels am Rhein und im August 1844 im österreichischen Ischl.256 In Folge dieses letzten Treffens beauftragte Friedrich Wilhelm den Gesandten in Wien, General-Lieutnant Karl Wilhelm Ernst Freiherr von Canitz und Dallwitz (17871850) noch im selben Monat mit der Ausarbeitung einer Denkschrift über das Problem der Verfassungsfrage, die den österreichischen Staatskanzler Metternich über die preußischen Verhältnisse informieren sollte.257 Zugleich beauftragte der König, der sich gerade in Königsberg aufhielt, Minister v. Bodelschwingh am 28. August, Canitz über die Stände- wie auch die Adelsdebatte zu informieren, damit sich dieser darüber mit Metternich beraten könne.258 In der Eingangsbestätigung der diesbezüglichen Dokumente machte Canitz die „vertrauliche Mitteilung“ an Savigny, dass anlässlich einer Reise zum königlichen Land- und Sommersitz in Erdmannsdorf in Schlesien der Minister von Bodelschwingh die Idee geäußert habe, „die Herrenbank auf den Landtagen zu verstärken“, [...] vielleicht einen abgesonderten Körper daraus zu bilden“.259 „Ein solches Projekt,“ so Canitz, und überhaupt eine Veränderung der jezt [sic] bestehenden landständischen Verhältnisse des Adels (der Virilstimmen sowohl wie der Ritterschaften), scheint mir mit dem ganzen Plan der Regulierung der ständischen Verhältnisse der Preußischen Monarchie in einem bedeutsamen und folgenreichen Zusammenhang zu stehen. Darauf bezieht sich der Auftrag mit dem S. Majes-

256 Kurz vor diesem Treffen hatte Wittgenstein ebenfalls in Ischl den österreichischen Staatskanzler über die Existenz des politischen Testaments des verstorbenen Königs Friedrich Wilhelm III. informiert. Mit diesem brisanten Wissen suchte er Metternich gegen die Verfassungspläne des eigenen Monarchen zu munitionieren. Friedrich Wilhelm III. hatte in diesem Testament seine Nachfolger dazu verpflichten wollen, von jeglichen Entwicklungen in Richtung „konstitutioneller“ Reichsstände Abstand zu nehmen. Vgl. Bahne, Verfassungspläne, S. 50. 257 Vgl. Bahne, Verfassungspläne, S. 50-51, Siehe bes. S. 51, Anmk. 137. 258 Am 30. August übermittelte Bodelschwingh den Befehl des Königs (der am 28. in Königsberg eingetroffen war) an Savigny, dass die Abschriften der Registraturen über die Immediat-Conferenzen an den Gesandten in Wien, Canitz, zu übersenden seien. Savigny tat dies am 5. September 1844 mit der Bemerkung an Canitz: „Der davon zu machende Gebrauch ist Euer Exzellenz schon auf anderem Wege bekannt geworden.“ Vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 103-105. 259 Alle folgenden Zitate nach dem Schreiben von Canitz, ohne Datum (September 1844), unter Bezug auf Savignys Brief v. 5. Sept. 1844 in: GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3783, Bl. 107-110. Das von Canitz erwähnte Erdmannsdorf war Domäne und königlicher Land- und Sommersitz im schlesischen Regierungsbezirk Liegnitz, 1833 von König Friedrich Wilhelm III von der Familie des 1831 verstorbenen Feldmarschalls Grafen von Gneisenau erworben. Vgl. Alphabetisch-statistisch-topographische Übersicht der Dörfer, Flecken, Städte und andern Orte der Königl. Preuß. Provinz Schlesien, verfaßt von J.G. Knie, 2. Auflage, Breslau 1845.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

tät mich zu beehren geruhten, darüber geben aber die beiden Verhandlungen vom 26. Oct. v. J. und vom 27ten Juni d. J. keinen hinreichenden Aufschluß. Ew. Exzellenz werden mich sehr verpflichten wenn Sie mir darüber Licht verschaffen wollen.

Canitz’ Einschätzung bestätigt also die auffällig mangelnde Bezugnahme der adelspolitischen Verhandlungen zu der übergeordneten ständischen Verfassungsfrage, die er im Auftrag Friedrich Wilhelms mit Wien abstimmen sollte. In seiner kurzen Reaktion auf die ihm mitgeteilten Kabinettsverhandlungen begrüßte Canitz ausdrücklich die darin ausgesprochene Ablehnung eines persönlichen, mit dem Dienstrang verbundenen Adels. Das österreichische Beispiel sei abschreckend genug: Die AdelsVerleihungen an alle höhere Beamte, zeigt hier in Östreich [sic], recht deutlich, wie damit durchaus nichts Ersprießliches bewirkt wird. Das Land wimmelt von Leuten die sich ‚Edler von K.K.‘ nennen, die weder zum Bürgerstand noch zum Adel gehören, beiden im Wege stehen und von ihrer sogenannten Erhebung eigentlich nichts haben als: eine ihnen selbst und anderen lästige unbefriedigende Prätension.

Gerade der persönliche Adel würde die Ressentiments gegenüber dem Adel verstärken, da die Nichtadligen völlig zurecht eine gewisse Missachtung des bürgerlichen Standes darin fänden, wenn als Gunst gelte, „jemanden in den Adelsstand zu erheben“, der doch, nach wie vor, nicht zum Adel gehöre. Für diejenigen, welche „jedes vererbten Vorzugs entbehren“ („dessen unverkennbare Existenz alles Gleichheitsgeschrei vergeblich wegzuleugnen sucht, selbst wenn es gelingt, ihn lediglich auf das zu redigieren“) liege vielmehr die Genugtuung darin, „durch Verdienst (oder Glück) empor kommen zu können, ohne daß es einer Metamorphose bedürfe“. Die Organisation des englischen Adels wiederum habe zwar „große Vorzüge vor der unsrigen“ fuhr Canitz fort. Aber deren „Wurzel und Grundlage“ sei die Pairie – „ohne diese hätte das Übrige keine echte Bedeutung und dass wir kein House of Lords machen können ist einleuchtend genug“ schloss Canitz ohne weitere Begründung. Canitz lehnte also jede Idee eines Zwei-Kammer-Systems mit einem Ober- oder Herrenhaus an der Spitze ab. Handlungsbedarf sah er allein darin, die „Basis und corporative Verbindung [des Adels, G. H.] deren es bedarf“, zu „befestigen“, denn diese sei „schwankend und lose geworden“. Darin war er sich also mit den Schlüssen der Adelskommission wie auch den Stellungnahmen der vorangegangenen Ministerberatungen von 1843 und 1844 einig. Diese Einschätzungen des Wiener Gesandten sollten noch an Gewicht gewinnen, da er ein Jahr nach diesen Ereignissen neben Bodelschwingh zum wichtigsten Berater des Königs in der Verfassungsfrage und in der Ausarbeitung des Februarpatents von 1847 zur Einberufung eines Vereinigten Landtages werden sollte.260 Mit Bodelschwingh stimmte er in der Ablehnung der königlichen Verfassungspläne überein, wenn auch aus gegenteiligen Motiven. Während Bodelschwingh eine relativ liberale Haltung einnahm stellte sich Canitz vor allem gegen Ideen, in den

260 Vgl. Bahne, Verfassungspläne, S. 95. Siehe auch Barclay, Frederick William IV., S. 123ff, 126.



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Provinziallandtagen und darüber hinaus für einen „Generallandtag“ einen gesonderten „Herrenstand“ zu reorganisieren – „Jede Änderung in dem Organismus der Provinzialstände alteriert ihre Stellung der Regierung gegenüber und öffnet weiterem sog. Zeitgemäßen, zweckmäßigen Veränderungen Tür und Tor“.261 Canitz suchte schließlich in der geforderten Denkschrift für den österreichischen Staatskanzler seinem Auftrag gemäß die preußischen Auseinandersetzungen um eine erweiterte ständische Verfassung dahingehend zu legitimieren, dass er für die durchaus notwendige Entwicklung ständischer Institutionen allein „eine nähere Bestimmung und zweckmäßigere Ordnung“ zur Bildung einer vom Willen des Königs abhängig bleibenden Ständeversammlung für ausreichend einschätzte. Der preußische König würde dadurch freilich nicht alle Wünsche seiner Untertanen befriedigen, aber er würde doch eine „mächtige Partei“ für sich gewinnen und den Oppositionsgeist in eine machtlose Defensive werfen.262 Doch die Hoffnungen Friedrich Wilhelms, durch solche Vorstellungen und wiederholte Kontaktaufnahmen zum Zaren Nikolaus und vor allem dem österreichischen Staatskanzler die Zustimmung der anderen Hauptmächte der „Heiligen Allianz“ für seine Ständepläne zu gewinnen wurden herb enttäuscht. Und so entschloss sich der König endlich ohne deren Unterstützung seine Vorhaben umzusetzen.263 Im Dezember 1844 entwickelte Friedrich Wilhelm einen dreistufigen Verfassungsplan.264 Gegen diesen Entwurf, der die Bildung einer Herrenkurie vorsah, protestierte Kronprinz Wilhelm im Januar 1845 in einem 30seitigen Schreiben. Prinz Wilhelm forderte die Einrichtung eines Zwei-Kammer-Systems, das 150 aus den Provinziallandtagen zu wählenden Deputierten versammeln sollte. Diese Versammlung sei als „Reichsstände“ ohne Petitions- und Bewilligungsrecht zu proklamieren, so sein Alternativvorschlag.265 Auf Initiative Leopold v. Gerlachs wurde im Sommer 1845 vom König

261 So Canitz im Rahmen der Ständekommission am 5.11.1846, vgl. Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten aus dem Leben Leopold v. Gerlachs, General der Infanterie und Generaladjutant Friedrich Wilhelms IV. Nach seinen Aufzeichnungen hrsg. von seiner Tochter, 2. Bände, Berlin 1891, hier Bd. 1, S. 114f. 262 Vgl. Bahne, Verfassungspläne, S. 52, S. 61 Anmk. 160. Siehe auch GSTAPK Rep. 92 Canitz Nr. 11 (Brief an Bodelschwingh 25.11.1844): Das Volk unterliege einem unseligen Irrtum, wenn es glaube, die Freiheit durch „formelle Bollwerke“ sichern zu können und dass der König ein bedenkliches Wagnis eingehe, seine Macht „durch ein für alle Mal aufgestellte Normen sicherstellen zu wollen“. Allerdings erklärte Canitz, nachdem er 1845 von Wien nach Berlin zu seiner neuen Funktion als Außenminister abberufen worden war, gegenüber dem Kronprinzen Wilhelm, dass er nach seiner Ankunft in Berlin die Stimmung und Verhältnisse ganz anders vorfinde als erwartet, deshalb seine konservativen Ansichten aufgeben müsse, und sich denen des Königs anschließe. Prinz Wilhelm warf ihm daraufhin Opportunismus vor; vgl. Bahne, Verfassungspläne, S. 66-67. 263 Bahne, Verfassungspläne, S. 75. 264 Vgl. oben zur Vor- und Nachgeschichte dieses Plans den Verfassungsentwurf Bunsens vom April 1844 und die königliche Reaktion darauf, sowie Ebd., S. 37-39. 265 Ebd., S. 61. Vgl. zur Reaktion Kronprinz auch Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 490f.

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eine besondere Kommission zur weiteren Bearbeitung der „Generalstände-Sachen“ gebildet. Als Mitglieder wurden die Minister Bodelschwingh, Savigny, Uhden, Canitz (seit September 1845 in seiner neuen Funktion als Außenminister) und der brandenburgische Landtags- und Hofmarschall Theodor v. Rochow, der Bruder des vormaligen Innenministers, berufen. Im September stießen noch Thile, Rother und der rheinische Landtagsmarschall Fürst Solms-Lich hinzu. Die Hauptkontroversen der Verhandlungen, die im Juli, sowie September und Oktober stattfanden, drehten sich um die Größe und Zusammensetzung der geplanten Ständeversammlung, das Problem des Anleihe- und Steuerbewilligungsrechts, und um die Frage, ob dieser Generallandtag eine oder zwei Kammern umfassen sollte. Allein das Kommissionsmitglied Theodor v. Rochow, der seinem Bruder Gustav v. Rochow politisch nahestand, blieb auch nach diesen Verhandlungen prinzipiell gegen Reichsstände eingestellt. Und fast alle anderen Kommissionsmitglieder lehnten eine Einberufung aller Provinziallandtage als Reichsständeversammlung und die Bildung eines besonderen Herrenstandes ab.266 U.a. mit seinem Vorschlag der Einrichtung einer eigenen ersten Kammer des hohen Adels (Herrenhaus) war Innenminister Arnim mit seinem Verfassungsvorschlag, der zugleich die Periodizität eines vereinigten Landtags vorsah, schon im Frühjahr 1845 vor dem König gescheitert.267 Anders erging es Bodelschwingh, der wie die Mehrheit der Minister und Berater für ein Einkammersystem mit einem gemeinsamen Votum aller Stände eintrat.268 Deswegen, und wegen seiner Persönlichkeit, wurde er zwischenzeitlich zum wichtigsten Minister und zusammen mit Canitz zum einflussreichsten Berater des Königs in der Reichsständefrage. Bodelschwingh galt neben Boyen als der relativ liberalste Minister Friedrich Wilhelms und war wohl, im Gegensatz zu Canitz, zu einer Annäherung an ein konstitutionelles System bereit. Sein Einfluss beim König stieg schließlich so weit, dass er bei seinen Ministerkollegen und im Beraterumfeld des Königs zwischen 1845 bis 1847 gar als heimlicher und zukünftig möglicherweise auch offizieller „Premierminister“ gehandelt wurde. Aber Canitz wandte sich entschieden gegen den „ständischen Liberalismus“ Bodelschwinghs, und der im Sommer 1845 zu den ständischen Beratungen hinzugezogene Radowitz trat im Beisein des Königs ebenfalls „mit aller Schärfe“ Minister Bodelschwingh entgegen. Und letztlich entschied sich der König gegen die Einführung eines das Ministerium leitenden Premierminister- oder Staatskanzleramtes. Stattdessen berief er im Oktober 1847 anstelle Bodelschwinghs Savigny zum Vorsitzenden des Staatsrats

266 Bahne, Verfassungspläne, S. 73. 267 Ebd., S. 66. 268 Bodelschwingh wurde nach dem Rücktritt Arnims dessen Nachfolger als Innenminister und vereinte damit sein Amt des vortragenden Kabinettministers. Ebd., S. 82.



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und des Staatsministeriums.269 Damit war die unentschiedene Machtkonkurrenz im Ministerium wieder hergestellt. Der Monarch wollte selbst Premierminister bleiben. Der Kronprinz erneuerte dagegen Ende 1845 und im Jahr 1846 in mehreren Briefen und Denkschriften seine Forderungen gegenüber seinem Bruder, obschon er nach einer vom König veranlassten Unterredung mit Radowitz die Einrichtung von Reichsständen nicht mehr völlig verwarf. Eine entsprechende Denkschrift des Thronfolgers vom 20. November 1845 ließ der König auf dessen ausdrücklichen Wunsch durch die Ständekommission noch im darauffolgenden Monat prüfen – worauf diese die Einwände des Prinzen zurückwies.270 Vor diesem Hintergrund fanden im März 1846 erste gemeinsame Sitzungen des Staatsministeriums und der ständischen Immediatkommission zur Beratung der Verfassungsfrage statt, in denen der Kronprinz den Vorsitz führte. Vor der ersten Sitzung am 11. März teilte er schriftlich noch einmal seine Bedenken und Gegenvorschläge den Ministern sowie dem General Müffling und dem Oberjustizrat Voß mit. Vor allem unterstrich er noch einmal die Notwendigkeit von zwei Kammern für den geplanten Landtag, um in der ersten Kammer mit Konservativen Deputierten eine Gegengewicht und eine Vetomacht gegen die in der zweiten Kammer von ihm erwarteten „subversiven Elemente“ zu haben. Im Ergebnis der folgenden Verhandlungen befürwortete die überwältigende Mehrheit eine Einberufung einer Reichsständeversammlung, einschließlich des Kronprinzen, allein die beiden Brüder Rochow blieben konsequent bei ihrer grundsätzlichen Ablehnung jeder zentralständischen Versammlung. Ebenfalls eine Mehrheit fand sich für das Einkammersystem sowie eine knappe Mehrheit für die Einberufung des großen Vereinigten Landtages.271 Die Verhandlungen über Einzelfragen der geplanten ständischen Verfassung zogen sich noch bis zum Ende des Jahres 1846 hin. Dennoch trat seit März eine Entspannung zwischen dem Kronprinzen und seinem königlichen Bruder ein. Hauptthema der weiteren Auseinandersetzungen blieb aber die Bildung der für den Vereinigten Landtag beschlossenen „ersten Bank“, die sich aus den Standesherren, den vier preußischen Oberräten, je einem Abgeordneten der Landesuniversitäten und der zehn größten Städte des Landes, sowie aus je drei von vierundzwanzig Deputierten aus jeder Provinz (deren jeder jeweils einen Stand vertrat) zusammensetzen sollte.272

269 Vor allem Leopold v. Gerlach sah Bodelschwinghs Entwicklung „auf geradem Wege zum PremierMinister“ mit Sorge und Ablehnung, und warf ihm „ständischen Liberalismus“ vor; Ebd., S. 73-75, bes. S. 74 (Premierminister) und Ebd., Anmk. 189 zum endlichen Scheitern dieser Aussichten auf eine solche Position für Bodelschwingh. 270 Ebd., S. 75 u. 76. 271 Ebd., S. 80. 272 Möglicherweise spielte Stolberg dabei eine vermittelnde Rolle, Ebd., S. 81f.

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3.4.4. Die dritte ministerielle Beratung des Adelsgesetzes im September 1846 Mitten in diesen andauernden Querelen über das Reichsständegesetz fand am 10. September 1846 die dritte Verhandlung des Staatsministeriums über das geplante Adelsgesetz statt. Die Sitzungen fanden vormittags in Sanssouci, nachmittags in Schloss Charlottenhof in Potsdam statt. Anwesend waren neben dem König der Prinz von Preußen, der erst vor kurzem aus Petersburg zurückgekehrt war, die Minister Boyen, Thile, Bodelschwingh, Stolberg, Canitz und Savigny. Bei der nachmittäglichen Beratung in Charlottenhof trat noch der Vorsitzende des Staatsrats Gustav v. Rochow hinzu. Diese auch als „Kronrat“ bezeichneten Zusammenkünfte des alt-adligen Teils des Staatsministeriums bestätigte in allgemeinen Zügen zwar die Übereinkunft der Beratungen von 1843 und vom Juni 1844, modifizierte sie jedoch in bezeichnender Weise.273 Dabei waren die Verhandlungen offenbar von dem Ziel geleitet, den vom König intendierten „Neuen Adel“ und die ebenfalls neue Kategorie des „Ritterstandes“ (als der designierten „preußischen Gentry“) mit der bestehenden ständischen Kategorie der (adlig-bürgerlichen) „Ritterschaft“ in Einklang zu bringen. Damit traten erstmals die thematischen Beziehungen zwischen der Adelsreformdebatte und der Verfassungsfrage deutlicher hervor, die in den Verhandlungen zuvor von Minister Canitz wie dem Adelskommissionsmitglied Streckfuß vermisst wurden. Zunächst wurden die Beschlüsse von 1844 bestätigt, wonach den Trägern des Schwarzen Adlerordens und den mit dem Prädikat „Exzellenz“ ausgezeichneten Personen und ihren Nachkommen gestattet sein, ihren Adel in der überkommenen Weise ohne weitere bedingende Voraussetzungen auf die gesamte Nachkommenschaft zu vererben. Desgleichen wurde dieses Privileg für die bei der Huldigung 1840 Nobilitierten bekräftigt, vorausgesetzt, diese begründeten eine Familienstiftung auf mindestens zwei Generationen, oder vererbten einen ritterschaftlichen Grundbesitz über mindestens drei Generationen innerhalb der Familie. Mit diesen Entschließungen verzichtete der König endgültig darauf, die bei den Huldigungen Begnadigten zum Fundament seines intendierten „Neuen Adels“ zu machen, und näherte diese Gruppe wieder dem Herkommen des alten Adels an. Diese Formation erhielt dadurch gewis-

273 Vgl. das Protokoll in: GSTAPK I. HA, Rep. 89, Band 1, Nr. 930, Bl. 77v-79v, bzw. eine Abschrift in Rep. 100, Nr. 3786, Bl. 59-60v. Diese Sitzung ist die einzige der staatsministeriellen Verhandlungen über den Adel, die in der Literatur dokumentiert wurde. Aufgrund ihres Sondercharakters und Treitschke folgend wird sie in der Literatur gerne als „Kronrat“ bezeichnet. Ein „Kronrat“ war eine seltene Variante der Staatsministeriumssitzungen, von denen bisher nur drei für den Vormärz protokollarisch dokumentiert sind. Sie zeichneten sich gegenüber den ordentlichen Sitzungen des Staatsministeriums dadurch aus, dass sie vom König einberufen und unter dessen Vorsitz stattfanden. Sie behandelten ausnahmslos politische Fragen von strategischer Bedeutung, wie dies ja auch auf die Adelsdebatte zutraf. Insofern wäre zu fragen, ob auch die vorangegangenen ministeriellen Zusammenkünfte von 1843 und 1844 als „Kronräte“ bezeichnet werden könnten. Vgl. HOLZ, Einleitung, S. 21, 24.



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sermaßen die Rolle einer „Schwellengruppe“ zugewiesen, die einesteils zwar schon den neuen Adelsbestimmungen unterworfen, durch die latent wiederzubelebende überkommene Vererbungspraxis aber eine historische Verbindung mit dem älteren Adel erhielt. Verworfen wurde einmal mehr die Einführung eines „persönlichen Adels“ in Preußen; bestätigt hingegen die Definition „persönlicher Kategorien“, d.h. „Leistungsstufen“ im Staatsdienst, die in besonderem Maße die Aussicht auf eine Nobilitierung eröffnen sollten. Zwei bedeutsame Änderungen wurden allerdings hinsichtlich der „unpersönlichen“ Kriterien vorgenommen, d.h. der Rolle, die der Grundbesitz für die Nobilitierungsperspektive spielen sollte. Nun wurde festgelegt, dass nicht mehr der einfache Besitz eines landtagsfähigen, ritterschaftlichen Gutes zur „Würdigkeit“ der Adelsverleihung qualifiziere, sondern dass zusätzlich ein Reinertrag von mindestens 1.000 rth aus „eigenem“ Vermögen, zu dem allerdings auch das „bewegliche“ (d.h. Kapitalvermögen) zugezählt werden dürfe, ausgewiesen werden müsse. Zudem wurden die Beschlüsse von 1844 dahingehend abgeändert, dass nicht mehr alternativ und gleichrangig entweder der zehnjährige Besitz eines bevorrechteten Ritterguts, oder eine Familienstiftung auf mindestens zwei Generationen (d.h. ein „strict settlement“ oder ein klassischer Fideikommiss), oder das Zeugnis der Standesgenossen die Erhebung des bürgerlichen Besitzers in den Adel in Aussicht gab. Nun kam man überein, dass das Zeugnis der zukünftigen Standesgenossen „copulativ“, also zusätzlich, und nicht nur alternativ auch bei zehnjähriger Besitzdauer oder bei Einsetzung einer Familienstiftung eingeholt werden solle. Diese Modifikationen erweiterten die dem grundbesitzenden Adel 1844 erstmals eingeräumten Mitspracherechte bei Nobilitierungen bürgerlicher Rittergutsbesitzer. War diese „Mitsprache“ damals nur als eine alternative Möglichkeit eingeräumt worden, die sich ihrem Charakter gemäß vor allem im Sinne eines Vorschlagsrechts für bestimmte Nobilitierungen hätte auswirken können, so erhielt der Adel durch die nun konzedierte Mitsprache in allen Fällen einer möglichen Nobilitierung de facto ein Vetorecht in die Hand.274 Die vom Monarchen angestrebten „materiellen“, wesentlich am (gebundenen) Grundbesitz orientierten Nobilitierungskriterien wurden hiermit noch einmal relativiert, als sie in keinem Fall zukünftiger Nobilitierung allein ausschlaggebend wirken konnten. Es fällt außerdem auf, dass der Kronprinz Wilhelm (wie schon bei der Beratung im Oktober 1844) auch bei dieser Gelegenheit keinen Versuch unternahm, die Entwicklung eines Herrenstandes zum Thema der Adelsreformberatungen

274 Dieses bemerkenswerte Verhandlungsergebnis zeigt wie weit der König bereit war dem ständischen Adel entgegenzukommen, um das Hauptziel einer Adelsreform erreichen zu können. Zugleich relativiert es die u.a. von René Schiller aufgestellte Behauptung, dass Friedrich Wilhelm IV. bei der 1855 erfolgten Gründung des Heroldsamtes bewiesen hätte, dass er keinesfalls bereit gewesen sei, dem Adel ein Mitspracherecht in Fragen der Nobilitierung einzuräumen. Dieses Detail belegt einmal mehr, dass von Entscheidungen und Ergebnissen nach 1848 unmöglich auf ursprüngliche Intentionen und Entwicklungspotentiale geschlossen werden darf, vgl. Ders., Nobilitierungen, S. 56.

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zu machen. Dieser Aspekt einer Neuordnung der Adelsverhältnisse in Preußen hatte, wie schon in der Adelskommission und in den sich anschließenden Ministerberatungen, trotz Bunsens Anregungen vom April 1844 keine Rolle gespielt. Der neue Ritterstand nach der Vorstellung des Königs Vor dem Hintergrund der erneuten Zugeständnisse des Monarchen an seine Minister fällt um so mehr die Hartnäckigkeit auf, mit der Friedrich Wilhelm seine Ideen zur Etablierung einer „preußischen Gentry“, in seinen Worten: eines „Ritterstandes“, auch in dieser Beratungsrunde verfolgte. Erneut setzte er seine Motive und Vorstellungen bezüglich dieses neuen „Ritterstandes“ detailliert auseinander. In der Erwartung des Monarchen würde sich dieser „Ritterstand“ durch die Einführung einer beschränkten Vererbbarkeit des (neuen) Adels ganz automatisch im Rechtsraum zwischen Adel und Bürgertum etablieren. Obwohl der „größte Teil der Anwesenden“ die schon in den früheren Teilvoten, Abstimmungen und Berichten im Staatsministeriums wie in der Adelskommission erhobenen Einwände wiederholte, dass dies bei den zukünftig Geadelten nicht auf „Beifall und Zufriedenheit“ rechnen dürfe, die dadurch in den Adelsstand eingeführte Differenzierung einerseits „zu subtil“ sei um verstanden und anerkannt zu werden, andererseits zugleich eine Spaltung des Adels provoziere, und endlich der Status der weiblichen Nachkommen „ganz unbestimmt und schwankend“ würde, hielt der Monarch an seiner Idee fest. Ein solcher „Ritterstand“ zwischen Adel und Bürgern, so der König, sei schon jetzt „wirklich vorhanden“: nämlich in Gestalt der landtagsfähigen bürgerlichen Rittergutsbesitzer. Und diesem „Ritterstand“ sollten zukünftig auch diejenigen Nachkommen von Neugeadelten zuzählen, welche nicht selbst einen landtagsfähigen, ritterschaftlichen Grundbesitz erbten. Diesem Ritterstand sprach er also eine „latente“ Adelsfähigkeit zu, eine „Adligkeit“ im Sinne von Bunsens „Ritterbürtigkeit“. Denn es sei nicht im Interesse der „Erhaltung des Adelsstandes“ wie der „Freiheit der Individuen“, wenn solche Personen zum Adel gezählt würden, die weder durch ihren Lebensberuf noch durch ihr Vermögen diesem zugezählt würden. Die Privilegierung der Angehörigen dieses neu definierten „Ritterstandes“ sei gegeben, als sie unter bestimmten Bedingungen „unmittelbar“ und ohne neue Verleihung in den Adel eintreten könnten: entweder durch den Erwerb eines Rittergutes, oder den Eintritt in eine der bereits festgestellten „Kategorien“ des Staatsdienstes. Mit dieser letzten Entscheidung hatte Friedrich Wilhelm das Vorhaben zur Schaffung adelswürdiger „Kategorien“ im Staatsdienst auf eigentümliche Weise mit der ursprünglich von Raumer aufgebrachten Idee fusioniert, wonach den Nachkommen der im Staatsdienst Nobilitierten zumindest eine „Erbgarantie“ des Adels bei vergleichbarer Leistung eingeräumt werden sollte. Ohne dass dies im Protokoll der Verhandlungen explizit festgehalten wurde, hätte dies zur Konsequenz gehabt, dass der Erwerb ritterschaftlichen Grundbesitzes auch für Staatsdiener der genannten „Kategorien“ weiterhin notwendig bleiben würde, um für Nobilitierungen berücksichtigt zu werden. D.h. der Staatsdienst würde



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seine „automatisch“ nobilitierende Qualität nur bei den grundbesitzlosen Nachkommen des neuen, sich beschränkt vererbenden Adels, dem neuen „Ritterstand“ entfalten können. Wogegen bürgerlichen Beamten, die zwar im Staatsdienst die qualifizierenden „Kategorien“ der Ämterhierarchie erreichten, aber kein ritterschaftliches Gut besaßen, die Nobilitierung als zu Regelfall“ nicht erwarten durften. Ritterschaft, Ritterstand und „Neuer Adel“ Diese komplizierte Differenzierungen zwischen der schon bisher bestehenden, adligbürgerlichen Ritterschaft, die allein über den Grundbesitz definiert und politischständerechtlich privilegiert war, dem in den Beratungen von 1846 erstmals verbindlich definierten neuen „Ritterstand“, der einzig sozial privilegiert werden sollte, sowie dem „Neuen Adel“, in dem sich soziale und politische (als Rittergutsbesitzer) Privilegierung überschneiden würden (und dem wiederum der nicht gutsbesitzende „Alte Adel“ ohne besondere politische Vorrechte gegenüberstand) löste auch bei den Beteiligten der Verhandlungen verständlicherweise eine gewisse Irritation aus. Thile störte sich an der im Protokoll vorgenommenen Formulierung des neuen „Ritterstandes“, der ex negativo als aus denjenigen Nachkommen eines Neugeadelten bestehend definiert würde, die nicht den väterlichen Grundbesitz erben (sollten). Daraus, so befürchtete Thile, könne fälschlicherweise geschlossen werden, dass der (designierte) Haupterbe und Gutsnachfolger schon vor dem eigentlichen Erbgang dem Adel (wenn auch nicht der Ritterschaft) zugezählt werden würde, wogegen die (voraussichtlich) nicht erbenden Geschwister als alleinig dem neuen „Ritterstand“ angehörig erschienen. Mit anderen Worten: Thile fürchtete wohl auf diesem indirekten Weg sozialer Anerkennung doch noch die Einführung „englischer Verhältnisse“, eines sich strikt in Primogenitur vererbenden Adels. Aus diesem Grunde kündigte er schon in den Beratungen ein Sondervotum an, dem sich auch Minister Stolberg anschloss.275 Dieses Sondervotum vom 14. September 1846 drängte darauf, den vom König neue konzipierten „Ritterstand“ stärker vom Adel wie von der ständisch privilegierten adlig-bürgerlichen Ritterschaft der Rittergutsbesitzer abzugrenzen. Dem ersten Ziel sollte eine genauere Formulierung der königlichen Absichten dahingehend dienen, dass die Nachkommen der unter den neuen Bedingungen Geadelten grundsätzlich alle gemeinsam der neu definierten „Ritterschaft“ angehörten. Jeder dieser Nachkommen könne dann in den eigentlichen Adel übertreten, wenn sie entweder durch Erbschaft, Abtretung oder eigenen Erwerb in den Besitz eines landtagsfähigen, ritterschaftlichen Grundbesitzes gelangten, oder eine der festgestellten Leistungs-„Kategorien“ erfüllten – also von einer grundsätzlichen Gleichrangigkeit der Nachkommen auszugehen sei. Und zur schärferen Unterscheidung dieses neuen „Ritterstandes“ von der ausschließlich über den bevorrechtetem Grundbesitz definierten politischen „Ritterschaft“ hielten Thile und Stolberg es notwendig, dem neu definier-

275 Vgl. Votum v. Thile, Berlin, 14. September 1846 in: GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3786, Bl. 61-61v.

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ten „Ritterstand“ die Hoffähigkeit und das Tragen der Standesuniformen als äußeres Zeichen der politischen Bedeutung der eigentlichen Ritterschaft zu untersagen.276 Vermeidung einer öffentlichen Debatte über die neue Gesetzgebung Wie sehr dem König daran gelegen war, jeden möglichen Widerstand der breiteren Öffentlichkeit gegen seine neue Adelspolitik zu vermeiden, geht daraus hervor, dass in jedem Fall ein gesetzgeberisches Vorgehen (mit der dann notwendigen Veröffentlichung) vermieden werden sollte. Die neuen Bestimmungen sollten nur für Adelsverleihungen seit der Huldigung gelten, weshalb der König kein Gesetz, sondern lediglich ein Patent über den Charakter dieser bedingenden Adelsverleihungen und den neu anzuerkennenden Ritterstand für notwendig hielt. Wegen dieses Verordnungscharakters bedürfe es auch keiner Vorlage an die Stände, umso weniger, als ja auch vorhandene Standesrechte nicht beschränkt würden. Dem gleichen Ziel eines möglichst clandestinen Eingriffs in die Standesverhältnisse blieb die beabsichtigte Einführung von Fideikommissstiftungen „auf zwei Generationen“ („strict settlement“) verpflichtet: diese neue Form von Familienstiftungen sollte zwar ausdrücklich als konstituierendes Element des „neuen Adels“ erfolgen. Doch sollte der Gesetzestext nichts von dieser Beziehung zur Adelspolitik verlauten lassen, sondern – ähnlich der schon bestehenden Gesetzgebung zu Fideikommissen – „einen allgemeinen Charakter“ erhalten, „ohne Beschränkung auf irgend ein Standesverhältnis“. Um öffentliche Debatten im Vorfeld auszuschließen, sollte desweiteren das neue Gesetz zu Familienstiftungen „auf zwei Generationen“ (‚strict settlement‘) erst nach der genauen Ausarbeitung den Ständen zur Beratung vorgelegt werden, sowie die beabsichtigte sofortige Gewährung der vollen landständischen Rechte für ein erworbenes Rittergut allein auf der Grundlage einer (systematischen) Anwendung des königlichen Gnadenrechts („Dispensation“) erfolgen: eines neuen Gesetzes bedürfe dieser Aspekt der neuen Standespolitik dann ebenfalls nicht, so waren sich die Versammelten einig.

3.4.5. Der Patententwurf zu einer neuen Adelsordnung bis 1848 Die Entwicklung des Patententwurfs durch Raumer und Savigny Der erste Patententwurf Einen Tag nach den Verhandlungen von Sanssouci und Charlottenhof informierte Savigny Raumer darüber, dass ihn der König in Folge dieser Beratungen mit dem Immediatauftrag versehen hätte, die bisher ruhenden Beratungen wieder in Gang zu

276 Bezeichnenderweise differenzierte Thile in seinem Sondervotum begrifflich nicht präzise zwischen „Ritterschaft“ und „Ritterstand“, sondern benutzte den Begriff des „Ritterstandes“ synonym zu „Ritterschaft“ – ein Indiz, wie unsicher selbst die Diskussionsbeteiligten in der genauen Abgrenzung waren.



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setzen und zu Ende zu führen. Die besondere Dringlichkeit unterstrich Savigny mit der Bitte, ihm eine genaue Bestandsaufnahme der seit der Huldigung erteilten Standeserhöhungen, mit einer Übersicht der schon erteilten Adelsbriefe und der darin festgelegten Vererbungsbestimmungen zukommen zu lassen.277 Eine hierzu angelegte tabellarische Übersicht der seit 1840 vorgenommenen Nobilitierungen belegt einmal mehr die komplexen rechtlichen Differenzierungen, welche die unterschiedlichen Adelsbestimmungen seit 1840 nach sich gezogen hatten.278 In seiner auf dieser Grundlage vorgenommenen Ausarbeitung unterschied Raumer nicht nur zwischen dem „älteren System“ der unbedingten sowie dem „neu adoptierten System“ einer beschränkten Vererbung des Adels.279 Vielmehr „zerfielen“ nach Raumer die sich

277 Vgl. das Schreiben von Savigny an Raumer, Berlin 11. September 1846. Umgehend bat Savigny den König auch um Erlaubnis, den Oberregierungsrat Raumer zu dem ihm übertragenen Auftrag hinzuziehen und mit der Ausarbeitung der betreffenden Entwürfe unter seiner Leitung beauftragen zu dürfen. In einem Schreiben vom 15. September 1846 gab der König dazu seine Zustimmung, vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3787 (Verhandlungen der Immediatkommission 21. Juli, a. in Folge der Allerhöchst. C.O. v. 21. Juli 1841, b. in Folge des ImmediatAuftrages an den Staats- u. Justizminister v. Savigny 1846) Bl. 257, Bl. 270. 278 Diese tabellarische Übersicht der seit 1840 vorgenommenen Adelserhebungen (ohne die Erhebungen in den Grafen- und Freiherrenstand!) wurde am 14. September vom Archivrat Roenne übermittelt, vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 259-260. Roennes Übersicht ergab, dass in Königsberg 10, in Berlin 27 Personen in den Adelsstand erhoben worden waren. Einen Tag nach der Huldigung in Berlin wurden noch einmal 3 Personen begnadigt. Seither wurden bis zum 1. September 1846 3 Personen mit dem persönlichen Adel ausgestattet sowie 28 mit einem vererblichen Adel. Zwei weitere Fälle wurden gar ohne förmliche Ausfertigung eines Diploms begnadigt. Von diesen insgesamt 71 mit Diplom in den Adelsstand erhobenen Personen hatten aber nur 7 (!) bis 1846 ihr Diplom tatsächlich erhalten – ausnahmslos Personen, die nicht in Folge der Huldigungen nobilitiert worden waren. 64 Personen, darunter alle bei den Huldigungen bedachten Nobilitierten mussten bis in die späten 1850er Jahre auf ihre Dokumente warten! Erst ab 1856 wurden die Diplome durch das damals schon eingerichtete Heroldsamt ausgestellt, zum Teil nach dem Tod der Begnadigten, wie im Falle des Oberlandesgerichtspräsidenten v. Steltzer (1858)! Vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 89 Nr. 929 (Acta betr. die aus Veranlassung der Erbhuldigung 1840 stattgefundenen Standeserhöhungen und sonstigen Auszeichnungen, 1845-1884) Bl. 106. Diese Akte wie auch die Vorgängerakte GSTAPK I. HA, Rep. 89 Nr. 928 (Acta betr. die aus Veranlassung der Erbhuldigung 1840 stattgefundenen Standeserhöhungen und sonstigen Auszeichnungen, 1840-1844) belegen eindrücklich die Masse an Folgeanträgen aufgrund der neuen Rechtsverordnungen zu Standeserhöhungen. Dabei ging es um genaue Ausführungsbestimmungen von Wappen, Namensbezeichnungen, neben den unvermeidlichen Auseinandersetzungen um die genaue Erbfolgeordnung und Ausnahmeanträge. 279 Raumer unterschied die Beispiele einer „unbedingten Vererbung“ außerdem zwischen den „eigentlichen“ Adelserhebungen (mit oder ohne „Adelsdiplom“) und „Adelsanerkennungen“, bzw. „Adelserneuerungen“ – also von Fällen in denen für eine Familie von einer historisch latenten, oder vorhanden gewesenen Standeszugehörigkeit zum Adel ausgegangen wurde. Der Weg einer solchen „Adelsanerkennung/Adelserneuerung“ bot dem Monarchen und seiner Administration die Möglichkeit, in eventuell politisch oder sozial umstrittenen Fällen, vorausgesetzt die Begnadigten konnten ein Minimum an Legitimationsplausibilität vorweisen, eine Standeserhöhung durchzusetzen; vgl. Raumers Promemoria, 17. September 1846, GSTAPK I. HA , Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 262-264v.

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bedingt vererbenden neuen Adelstitel nun noch einmal in solche Fälle, in denen zwar alle Kinder des Begnadigten mit in den Adelsstand erhoben wurden, jedoch das Vorhandensein von herausragendem Grundbesitz in der Enkelgeneration über die weitere Vererbung entscheiden sollte, und den Fällen eines „Personaladels, in denen nur der Begnadigte selbst, ohne seine Kinder nobilitiert wurde.280 Der Patententwurf als Mittel zur Relativierung der königlichen Absichten Diese Unklarheiten suchte Raumer in seinem Entwurf zu einem „Adelspatent“, auf Grundlage der letzten Verhandlungsergebnisse vom 10. September, aufzulösen. Dem Charakter nach handelte es sich bei diesem „Patent“ eigentlich nur um „Ausführungsbestimmungen“ für die künftig auszustellenden „Adelsbriefe“, da ja ein eigentliches Adelsgesetz nicht erlassen werden sollte.281 Raumer nutzte seinen Patententwurf, um, wie er in seinen Erläuterungen gegenüber Savigny ausführte, tatsächliche oder scheinbare konzeptionelle Lücken des bisherigen Diskussionsstandes über eine Adelsreform in den bisherigen „Cabinettsverhandlungen“ zu schließen. Das vornehmliche Ziel seines Adelspatents sah Raumer in der „Objektivierung“ der Standespolitik durch eine präzisere Fassung der für eine Standeserhöhung qualifizierenden Kriterien, um „dem Publicum die Grundsätze selbst deutlich“ zu machen, und der „Allerhöchsten Intention gemäß“ zu begründen. Eine solche „Stringenz“ der Standespolitik hatte Raumer ja in seiner Denkschrift wie die Adelskommission in ihrem Bericht als Ziel einer neuen Adelspolitik in den Vordergrund gestellt. Die Hauptschwierigkeit einer neuen Adelspolitik erkannte Raumer aber in der Kontrolle der gegebenen Vorschriften.282

280 Das erste Vorgehen hätte sich allerdings nur auf die bei den Erbhuldigungen in Berlin und Königsberg vorgenommenen Standeserhöhungen beschränkt, wobei den Betroffenen noch keine Diplome ausgestellt bekommen wurden. Alle Nobilitierungen nach den Huldigungen, soweit sie nicht sowieso als „Adelsanerkennung“ oder „Erneuerung“ mit unbeschränkter Vererbbarkeit galten, seien ausdrücklich sogar nur für die Begnadigten selbst ausgesprochen worden. So hatte im Fall des erhobenen Oberstleutnants Kuhserow das Ministerium d. Königlichen Hauses nachgefragt, ob nicht auch die Kinder ersten Grades den Adel erhalten sollten, was aber in einer Kabinettsorder vom 7. März 1845 in Rücksicht auf die noch schwebenden Erörterungen über die Grundsätze der Standeserhöhungen abgelehnt worden war. Damit, so Raumer, sei entschieden, dass für jetzt die seit der Huldigung erhobenen nur für ihre eigene Person sich des Adels bedienen dürften, jedoch seien hiervon höheren Orts Ausnahmen gemacht worden. 281 Am 24. Oktober übersandte Raumer diesen Vorschlag als „ein Fazit der ihm mitgeteilten Verhandlungen“ mit ausführlichen Erläuterungen an Savigny. Das Anschreiben mit den Erläuterungen seines Patentes in: GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 271-279v. Der beiliegende Entwurf des Adelspatents: Ebd., Bl. 280-289. 282 Es ja noch keine zentrale, spezialisierte Behörde zur Verwaltung der Adelsangelegenheiten, d.h. ein Heroldsamt; Zivilkabinett, das Ministerium des königlichen Hauses und das Innenministerium nahmen sich gleichermaßen der Adelssachen an, was eine konsequente oder gar vollständige Behandlung der Standesfragen erschwerte.



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Dieses Vorgehen nutzte er, um eigene Vorschläge und Interpretationen in das Patent einzuführen, welche den grundlegenden Intentionen des Königs tendenziell entgegenliefen. Einmal mehr ging es ihm darum, das Grundbesitzkriterium für den Erhalt und die Vererbung des „Neuen Adels“ zu relativieren, den Staatsdienst aber als potentiell „adelndes“ Kriterium aufzuwerten und insgesamt die Idee des Geschlechteradels gegenüber einem „beschränkt“ vererblichen Adel zu stärken. So lehnte Raumer die in der letzten ministeriellen Verhandlungsrunde getroffene Vereinbarung, dass ein „Nobilitierungskandidat“ neben einem rittermäßigen Gutsbesitz noch mindestens 1.000 rth. Revenüen aufweisen solle, rundweg ab. Zwar werde „man freilich daran festhalten müssen, daß eine, auch mit dem Besitz eines verschuldeten Rittergutes verknüpfte Armut keine Empfehlung zur Verleihung des Adels ist“. Doch die genaue Festlegung einer Summe würde nur „zu falschen Deutungen Veranlaßung geben“.283 Diese vage Formulierung ließ offen, ob Raumer eher befürchtete, dass solche objektiven materiellen Kriterien eventuell Ansprüche auf Nobilitierung seitens dazu formal berechtigter, aber politisch unerwünschter Kandidaten wecken könnten, oder ob er jede mögliche Assoziation eines bestimmten Geldeinkommens mit der Aufnahmeberechtigung in den Adel auszuschließen wünschte. Die Tatsache wiederum, dass die Kabinettsverhandlungen die Vererblichkeit des Adels in Familien mit bedeutenden fideikommissarischen Stiftungen „nicht besonders berührt“ hätten, nutzte Raumer, um für solche Fälle die Möglichkeit der Verleihung eines unbeschränkt vererblichen Adels ausdrücklich einzuräumen, was nach dem tatsächlichen Verhandlungsstand allein für die Familien der 1840 Geadelten vorgesehen war!284 „Erbgarantie“ des nichtangesessenen Dienstadels bei Leistungsnachweis Besonders beschäftigte sich Raumer aber mit dem Problem, wie Nachgeborenen, die kein Rittergut erbten, mittelst einer höheren Stellung im Staatsdienst doch ihren Adel belassen werden könne, worüber sich die „Cabinettsverhandlungen [...] allerdings nicht mit Bestimmtheit“ ausgedrückt hätten. Eigenmächtig führte er sein eigenes Konzept einer von Grundbesitz unabhängigen „Erbgarantie“ des Adels bei Erreichen bestimmter Dienststufen in Armee und Verwaltung für die nichterbenden Söhne von Rittergutsbesitzern in das Patent ein. Selbst die Söhne nichtangesessener Beamter und Offiziere, die den Adel erhalten hatten, wollte er in dieser „Erbgarantie“ berücksichtigt sehen.285 Die dafür vorgesehenen „Leistungsstufen“ übernahm Raumer den

283 Vgl. Punkt 10 seiner „Erläuterungen“ gegenüber Savigny. 284 Vgl. Punkt 4 seiner „Erläuterungen“ gegenüber Savigny. Dass ausschließlich die Gruppe der 1840 Geadelten entweder durch Familienstiftungen oder die Vererbung ihres Grundbesitzes über drei Generationen sich an den „alten“ Adel anschließen dürfen sollte, war nach Raumers Ansicht (vgl. Punkt 20 seiner Erläuterungen) schon für sich selbst fragwürdig. 285 Vgl. die Punkte 18 und 19 seiner „Erläuterungen“ wie seines Patententwurfs. In einer Randbemerkung zu Punkt 18 hielt Savigny fest, dass „in der letzten Conferenz der Immediatkommission“ (über den Adel, G. H.) sogar an einen Eintritt in den Adel „ipso jure“ gedacht war.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Verhandlungen über das Adelsgesetz, bzw. Bunsens Memorandum: ebenso wie die Dienstränge eines Hauptmanns oder Rittmeisters in der Armee und Landwehr, bzw. die Stellung eines Rats bei einem Landeskollegium dazu privilegieren sollten, auch ohne Sukkzessionsstiftung auf ein Gut, bzw. zehnjähriger Besitzdauer, sowie ohne Begutachtung durch die „Mitstände“, nobilitiert zu werden, sollten die gleichen (und natürlich höheren) Rangstufen den Adel „bewahren“. In diesem Zusammenhang machte sich Raumer ausdrücklich für das in den Verhandlungen wiederholt verworfene Konzept eines dienstlichen Personaladels stark, „auf den die Richtung der Zeit und das Beispiel anderer Länder ohnehin hinführt, [...]“. Da in den Kabinettsverhandlungen die Idee eines Personaladels endgültig abgelehnt worden war, insistierte Raumer gegenüber Savigny, dies nur dahingehend verstehen zu können, „daß nicht festgesetzt werden soll, daß diese oder jene Dienstkategorie ohne Weiteres zur Führung des Adelsprädicats berechtigen solle. Denn sonst ist es doch auch nur ein Personaladel, wenn ein Rittergutsbesitzer in den Adelsstand erhoben wird, den er nicht vererben kann, oder wenn ein mit dem Exzellenzprädikat Begabter die Vererbung des Adelsprädicats auf seine Nachkommen nicht wünscht“. Zusätzlich verwies Raumer auf das Beispiel des erst kürzlich nobilitierten Legationsrats Dr. Alfred Reumont, dem der König den Adel allein unter der Bedingung verliehen habe, dass er seinen Adel nur im Falle des Erwerbs eines Rittergutes vererben dürfe.286 Die Relativierung des Konzeptes des „Ritterstandes“ als einer preußischen Gentry Tatsächlich war allerdings diese scheinbare konzeptionelle „Lücke“ bezüglich der nachgeborenen, nichterbenden Söhne des „Neuen Adels“, die Raumer mit seinem Vorschlag einer „Erbgarantie“ bei Karriereerfolg dem Adel erhalten wollte, in den Kabinettsverhandlungen durch die königliche Definition eines neuen „Ritterstandes“ durchaus geschlossen worden. Doch Raumer ging weder in seinen Erläuterungen noch in seinem Patententwurf auf dieses Konzept ein, die nichterbenden Adelssöhne dem bürgerlichen Teil der „Ritterschaft“ sozial-ständisch gleichzustellen. Zwar übernahm Raumer das Argument Friedrich Wilhelms, dass „die nicht adliche Ritterschaft gleichsam als Pflanzschule des Adels“ zu betrachten sei, und als „Mittelstufe zwischen Adel und Nichtadel“ ein dem Adel „hinneigender“ Stand sei, dem zum „vollen“ Adel nur noch die landesherrliche Sanction fehle.287 Zugleich suchte Raumer aber die Entwicklung einer besonderen, zum Adel „befähigten“ sozialständisch-definierten Gruppe auszubremsen. In seinen Erläuterungen gegenüber Savigny plädierte Raumer, dass der Nachgeborene eines Nobilitierten, der schließlich selbst ein Ritter-

286 In derselben Akte GSTAPK I. HA , Rep. 100, Nr.3787, Bl. 265-269v. befindet sich das Konzept eines Adelsbriefes und eine Wappenbeschreibung für diesen Fall des Legationsrats Dr. Alfred Reumont. 287 Vgl. die Punkte 7 und 8 seiner „Erläuterungen“ und seines Patententwurfs.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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gut erwirbt, keineswegs automatisch („eo ipso“) in den Adel eintreten dürfe, sondern eines landesherrlichen Diploms bedürfe, „das ihm aber in der Regel nicht abgeschlagen werden soll“.288 Ein „Automatismus“ („ipso jure“) sollte also, abweichend von den Intentionen des Königs, ausgeschlossen werden. Savigny stimmte in einer Randbemerkung Raumers Vorbehalt ausdrücklich mit einem „Sehr gut“ zu, „[...] weil bei diesem [Nobilitierungskandidaten, G.  H.] die Persönlichkeit ganz ungewiß ist“. Zugleich hielt Savigny fest, dass „in der letzten Conferenz“ (gemeint war die Kabinettsverhandlung vom 10. September) „durchaus ein Eintritt [in den Adel, G. H.] ipso jure gemeint“ war. Wider besseres Wissen unterstützte Savigny also die von Raumer beabsichtigte Relativierung der geplanten sozialen Kategorie eines „Ritterstandes“, wie er sich überhaupt mit Raumers Patententwurf „im ganzen“ einverstanden erklärte.289 Die ständisch-separierenden Tendenzen von Raumers Patententwurf unterstützend wollte Savigny konsequent den Begriff des „Ritterstandes“ für die nichtadligen Besitzer von bevorrechteten Rittergütern eingesetzt sehen, da unter dem Begriff der „Ritterschaft“ „[...] bis jetzt gerade der Adel selbst verstanden [werde], auch hat der König in der Conferenz stets den Ausdruck Ritterstand gebraucht“.290 Savigny schlug deshalb vor, den Begriff der (provinzialständischen) „Ritterschaft“, der seit der Reformepoche adlige und bürgerliche Gutsbesitzer umfasste, durch den Ausdruck „ansässige Personen“ zu ersetzen, „um gleichsam eine Einleitung und Grundlage für den neu einzuführenden Begriff des Ritterstandes zu geben“.291 Die Überarbeitung des Patententwurfs In der Überarbeitung seines Patententwurfs fügte Raumer nicht nur Savignys Ergänzungen und Vorschläge ein, sondern erweiterte die Ausnahmetatbestände bezüglich der beschränkten Vererbung noch einmal.292 Diese Eigenmächtigkeit legitimierte er in seinem Patententwurf damit, dass es angeblich nicht die Intention des Königs sei, […] den zu verleihenden Adelsstand ganz ausschließlich von Grundbesitz abhängig zu erklären, solches auch in Deutschland von alten Zeiten in dieser Ausschließlichkeit nicht hergebracht ist, Unsere [also des Königs, G. H.] Absicht vielmehr nur darauf gerichtet ist, dem Adelsstande im Allgemeinen durch Anknüpfung an einen rittermäßigen Grundbesitz eine dauernde politische Bedeutung, als dessen sicherste Unterlage zu erhalten, für einzelne Personen aber auch durch Eintritt in Unseren Staatsdienst die Zugehörigkeit zum Adelsstand zu Theil werden zu lassen […].

288 Vgl. Punkt 17 seiner „Erläuterungen“. 289 Schreiben von Savigny an Raumer, 26.10.1846, vgl. GSTAPK I. HA, Rep.100, Nr. 3787, Bl. 294. 290 Vgl. die Randbemerkung Savignys zum siebten Punkt von Raumers Patententwurf. 291 Dieser Widerstand Savignys gegen die allgemeine Stoßrichtung der königlichen Adelspläne äußerte sich nicht nur bezüglich des Patententwurfs über die künftigen Adelsverleihungen, sondern auch in der Frage der Neufassung der Fideikomissgesetzgebung. Vgl. dazu unten Kap. 4.3.2. 292 Vgl. „Zweiter Entwurf zu einem Patent wegen künftiger Verleihung und Vererbung des Adelsstandes“, 12.11.1846 und „Motive zu dem Patente wegen künftiger Verleihung und Vererbung des Adelsstandes“, in: GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 295-303v; 304-313.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Zum einen fügte Raumer nun den Passus hinzu, dass in Einzelfällen die Führung des Adelsprädikats mehreren erbenden Söhnen zugestanden werden solle, sofern sie im ungeteilten Besitz eines „größeren väterlichen Rittergutes bleiben wollten“ – damit kam er auf das Stammgutkonzept zurück, wie es schon Gustav v. Rochow vorgeschlagen hatte! Entwurf eines „Personaladels“ entgegen der staatsministeriellen Beschlüsse Vor allem aber formulierte Raumer seine in der ersten Fassung des Patents noch mehr angedeuteten Vorstellungen hinsichtlich eines „Personaladels“ aus. Nicht nur nachgeborene Söhne nobilitierter Rittergutsbesitzer, auch sonstige nichtangesessene Beamte und Offiziere ab den Rangstufen eines Hauptmann/Rittmeisters, bzw. königlichen Rats sollten diesen persönlichen Adel erhalten können – und so wie der neue Gutsadel sich über das Kriterium des Rittergutsbesitzes weitervererben sollte, so dieser Dienstadelstyp über das Kriterium einer Leistungskontinuität, die am Erreichen bestimmter Karrierestufen gemessen werden sollte. Damit beraubte er nicht nur die nun im zweiten Patentsentwurf ausdrücklich genannte neue Standesklasse des „Ritterstandes“ ihres wesentlichsten Privilegs, sondern stiftete zugleich eine dem Rittergutsadel gleichrangige Adelsklasse eines Beamten- und Offiziersadels, wie er es ja schon in seinem Kommissionsvotum getan hatte! Allein in den „Motiven“ des zweiten Patententwurfs ging Raumer schließlich auf die Stellung der Töchter des „neuen Adels“ ein, die bisher weder in den Verhandlungen, noch den Ausführungsentwürfen berücksichtigt worden war. Raumer stellte klar, dass die Töchter nach den bisherigen Maßgaben niemals, weder zu Lebzeiten, noch nach dem Tod des (adligen) Vaters den Adel erben würden, sondern in jedem Falle dem neuen „Ritterstand“ angehörten – dies würde sie einerseits für eine „vermittelnde“ Rolle zwischen den Ständen prädestinieren, andererseits die ungleichen Standesverhältnisse zwischen den Geschwistern verschärfen. Letztere könne nur „gemildert“ werden, wenn sämtlichen Kindern eines adligen Rittergutsbesitzers für ihre Person der Adel zugestanden würde schloss Raumer, ohne daran eine ausdrückliche Empfehlung oder Bestimmung zu knüpfen.293

293 Raumer übersandte den überarbeiteten Patententwurf und die „Motive“ am 12.11.1846 an Savigny. Die Antwort Savignys mit dem Postskriptum erfolgte am 13.11.184, vgl. GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 314. In seinem Empfangsschreiben machte Savigny Raumer auf das Buch „Gespräche aus der Gegenwart“ aufmerksam, für welches er zutreffend Radowitz als Verfasser vermutete. In diesem würden auf Seite 418 ff die Grundzüge des beabsichtigten Gesetzes dem Publikum vorgelegt. Vgl. dazu Radowitz Einschätzung des Adelspatentes unten.



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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Die Reaktion des Oberjustizrats Voß auf das Patent: Adelsverlust nicht berücksichtigt Nach dieser wiederholten Überarbeitung durch Raumer und Savigny wurde der Patententwurf mit den „Motiven“ schließlich unter dem Datum vom 17. November 1846 unter den Mitgliedern der Adels- und der Ständekommission verteilt.294 Parallel zu diesen Vorgängen fanden im Spätherbst 1846 auch die Auseinandersetzungen um die Bildung und Einberufung des Vereinigten Landtags ihren Abschluss.295 Schon im Januar 1847 intervenierte der Oberjustizrat und vortragende Rat im Zivilkabinett Voß wegen des Adelspatentes bei Thile, und wiederholte sein Anliegen anlässlich der Ministerialbesprechungen: dem beabsichtigten Edikt fehle eine „Hauptsache“, nämlich eine genaue Bestimmung darüber, welche „Hantierungen“ eine Niederlegung des Adels nach sich ziehen müssten, wobei er besonders das „Commödianten Handwerk“ hervorhob, allein mit der möglichen Ausnahme der königlichen Hofbühne. Savigny, an den Thile diesen Einwand weiterleitete, verwarf aber die Aufnahme eines entsprechenden Passus in das beabsichtigte Adelsedikt. Zwar seien in den Verhandlungen mögliche Bestimmungen darüber, „wie der Adel verloren gehe“, bzw. „unter welchen Umständen derselbe als ruhend zu betrachten sey“ diskutiert worden. Doch einstimmig wäre man darüber eingekommen, dass „solche Bestimmungen nicht mit den seit Jahren verhandelten Aussprüchen über Adelsverleihungen in Verbindung gebracht werden dürften“. Offen blieb, ob die von Savigny dafür vorgebrachte Begründung nur seinen eigenen Standpunkt wiedergab, oder in der Adelskommission Konsens war: „Man käme fast auf eine Codification des Adelsrechts, die gewiß nicht zu rathsam wäre, weniger als bei den meisten anderen Gegenständen des Rechts.“296

294 Vgl. das Übersendungsschreiben von Stolberg an den Präsidenten des Staatsrates Gustav v. Rochow und an Hofmarschall Adolf v. Rochow vom 22. November 1846 mit einer reinschriftlichen Abschrift des 2. Patententwurfs „wegen künftiger Verleihung und Vererbung des Adelsstandes“ und den Motiven zu dem Patent, in: GSTAPK I. HA, Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 295-303v, 315-332v; und GSTAPK Nachlass Adolf v. Rochow Rep. 92, Nr. 11 (Comission zur Beratung über Adelsverleihungen, 1841). 295 Die gemeinsamen Beratungen des Staatsministeriums und der ständischen Immediatkommission endeten am 17. Dezember 1846. In einem Sondergutachten von 19./29. Dezember 1846 und einem Nachtrag vom 4. Januar 1847 versuchte der Kronprinz Wilhelm ein letztes Mal, möglichst viele seiner Vorstellungen durchzusetzen, vor allem die Bildung einer eigenen „Herrenbank“ als Gegengewicht zur „Bank der Abgeordneten“. Es sei falsch, die neue ständische Institution nicht sofort vollständig einzurichten, sondern sich die Organisation des Herrenstandes für später vorzubehalten. Auf diese Vorhaltungen ließ der König dem Kronprinzen durch Bodelschwingh ausrichten, dass er sich entschlossen habe, den Vereinigten Landtag in zwei Kammern nach den Vorschlägen des Prinzen „abzuteilen“. Aufgrund dieser Entscheidung für eine selbständige „Herrenbank“ bot der strikt gegen eine „Pairskammer“ eingestellte Bodelschwingh sogar seinen Rücktritt an, der aber abgewiesen wurde. In Folge dieser Konzessionen des Königs gab der Kronprinz seine übrigen Bedenken auf und stimmte den königlichen Plänen zu. vgl. Bahne, Verfassungspläne, S. 86-87 (vgl. auch Anlage 18). 296 Handschreiben von Voß aus Potsdam an Thile vom 4. Januar 1847. Die nichtadressierte Reaktion Savignys vom 6.1.1847, vgl. GSTAPK Rep. 89, Band 1, Nr. 930, Bl. 24-25.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Die Parallelen der projektierten preußischen Adelsreform zur bayerischen Situation Trotz einer solchen impliziten oder expliziten Ablehnung einer „Kodifikation des Adelsrechts“, zeitigte diese Ergebnislage der Verhandlungen und des Patententwurfs eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu den Lösungen, welche die bayerische Adels(reform)politik mit den Konstitutionen von 1808 und 1818 vorweggenommen hatte. Wie in Preußen war auch in Bayern das Ziel dieser adelsformierenden Maßnahmen gewesen, den Adel in einem ersten Schritt (1808) in den Staatsverband neu einzugliedern, um anschließend (1818) eine privilegierte Klasse von Staatsbürgern neu abzuschichten! Wie in Preußen projektiert, waren dort schon verschiedene Adelsklassen eingeführt worden (fünf), waren die Bestimmungen für den Verlust des Adels schärfer gefasst worden (nicht nur im Falle des Verlustes der Bürgerrechte, sondern auch bei niederen Handwerken und Gewerben, die freien Künste ausgenommen), war eine Adelsmatrikel eingeführt worden, konnte ein Personaladel, der über drei aufeinanderfolgende Generationen wiederholt verliehen wurde, erblich werden. Allerdings war in Bayern die „Gentry-Idee“ klar ausgeschlossen worden, war Adelsverlust – ob durch Rechtsurteil oder freiwilliges Ablegen – immer nur persönlicher Natur, und der geburtsständische Charakter des Adels wurde insgesamt betont.297 Einen Vorstoß zu einer „englischen Adelsreform“ hatte es im bayerischen Landtag sogar schon 1827 gegeben – das „Fundamentalprinzip des Grundbesitzes“ sollte durch erleichterte Fideikommissbildung und ein neues Erbrecht nach englischem Muster für eine zu bildende Pairie gestärkt werden. Allerdings hatte die Kammer der Reichsräte diesen Entwurf abgeschmettert.298

Die Begutachtung des Adelspatents durch Radowitz Kurz darauf wurde das „Februar-Patent“ über die Einberufung des Vereinigten Landtags veröffentlicht. In diesem Patent hatte sich Friedrich Wilhelm mit seinen Vorstellungen bezüglich eines „General-Landtages“, trotz der Konzessionen an den Kronprinzen, weitgehend durchgesetzt.299 Besonders der kleine Landadel empfand die Bestimmungen über die Bildung einer abgesonderten Herrenkurie als Beeinträchtigung des eigenen Wertes.300 Die Versuche des Adels, innerhalb der Ritterschaften der Provinziallandtage als geschlossener sozialer Stand aufzutreten war durch diese

297 Vgl. Hofmann, Herrschaft. Siehe zum fränkischen Adel unter der bayerischen Adelspolitik der Konstitutionen von 1808 und 1818 S. 379-409; vgl. zu den äquivalenten Elementen und Maßnahmen dieser Adelspolitik bes. S. 384-388; Ausschluss des „Gentry-Gedankens“, eBd. S. 385. 298 Ritter, Stein, Bd. II, S. 110. 299 Vgl. Bahne, Verfassungspläne, S. 92ff. 300 Bahne, Verfassungspläne, S. 100-101. „Der ritterschaftliche Adel ist furchtbar aufgereizt, und diese Leidenschaftlichkeit wird ein wirksamer Bestandtheil der nächsten Kämpfe sein“ (5.4.1847), Varnhagen von Ense, Tagebücher, Bd. 4, S. 25, 30ff, 54.



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Politik konterkariert – die neuen Adelsklassen, definiert nach Viril- und Kollektivstimmen in der eigenen Herrenkurie zusammengefasst, deuteten im Grunde schon auf eine neue binnenständische Differenzierung, wie sie auch das Adelspatent vorsah.301 Thiles Einschätzung des Patententwurfs Im Mai 1847, also einen Monat nach Einberufung des Vereinigten Landtags in Berlin, übersandte Thile im Auftrag des Königs das von Raumer und Savigny entworfene Adelspatent an den preußischen Gesandten in Karlsruhe, Josef Maria v. Radowitz, damit dieser dazu Stellung beziehen konnte.302 In seinem Anschreiben an Radowitz zeigte sich Thile keineswegs als unversöhnlicher Gegner der vom König beabsichtigten neuen Adelspolitik.303 Die Idee einer stärkeren Besitzbindung fand durchaus seine Zustimmung, denn „[…] den neuen (Adel) an Besitz zu knüpfen [sei] höchst wünschenswerth und zweckgemäß […].“ Zwar bekannte Thile, dass er gegen „die ganze Sache“ „[…] gestritten habe, so viel ich es vermochte“. Doch entzündete sich seine Kritik bezeichnenderweise an den zahlreichen Sonder- und Ausnahmetatbeständen, die Raumer (mit Billigung Savignys) zur Relativierung der königlichen Adelspolitik eingefügt hatte. In Thiles Augen drohte damit eine Entwicklung, die den Adel in eine Vielzahl schwer zu unterscheidender Untergruppen zu zerspalten drohte, nämlich in einen „unbedingt erblichen, eines rein persönlichen oder Dienstadel, und eines halben Adel (die Gentry)“. Der unbedingt erbliche Adel wäre überwiegend besitzlos (da zu ihm auch die Masse des historischen Adels gehöre), der bedingt erbliche dagegen auf Besitz begründet, doch der Eintritt in den Dienstadel wie auch in die „Gentry“ könne durch „bloße Güter-Spekulation“ erreicht werden. Vor allem aber stieß der von Raumer so favorisierte persönliche Adel wie die Idee eines neuen „Ritterstandes“ auf Thiles Ablehnung, da […] alle Mittelglieder, die dazwischen neu noch geschaffen werden können, […] aber nur geeignet [sind], Verwirrung und Spaltung zu erzeugen und den ursprünglichen Karakter des Adels zu verdunkeln, der – mit Waldheim zu reden – im fließenden, historischen besteht. Eine Quelle,

301 Koselleck, Landrecht, S. 522. 302 Anbei versandte er ein Exemplar des Raumerschen Patententwurfs und dessen „Motive“, die Protokolle der staatsministeriellen Beratungen vom 26.10.1843 und 27.6.1844, sowie eine Kopie der Denkschrift von Bunsen, vgl. GSTAPK Rep. 89, Band 1, Nr. 930, Bl. 29-80v. 303 Es ist unverständlich, warum Berdahl vermutete, dass Thile eigenmächtig oder hinter dem Rücken des Königs Radowitz informierte, um ihn zu einem Veto des Adelsgesetzes zu bewegen – das Anschreiben Thiles vom 28. Mai 1847 nennt ausdrücklich den königlichen Auftrag für diese Übersendung: „Der König wünscht, dass Sie Ihre Ansicht darüber in einem Promemoria aussprechen und ihm zugehen lassen mögen […]“. Auch war Thile kein grundsätzlicher Gegner aller Aspekte der neuen Adelspolitik, wie es Berdahls unvollständige Zitation seines Anschreibens suggerieren kann, vgl. Berdahl, Prussian Nobility, S. 332.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

die 5 Schritt hinter ihrem Ursprung wieder in die Erde versinkt, ist aber kein Fluß, und darum ist für mich der persönliche Adel ein Unbegriff.304

Thile sprach sich sehr wohl dafür aus, „gewissen Schichten der Gesellschaft“ Angebote hinsichtlich einer „socialen Stellung“ zu machen, die sich „größtentheils schon von selbst macht, der man aber immerhin auch ein formelles Fundament geben möge“. Doch wollte Thile zwischen der „persönlichen Beilegung der socialen Adelsvorrechte (soweit sie nicht mit dem Grundbesitz verwachsen sind) und Adelsverleihung […]“ unterschieden wissen. Vornehmlich dachte Thile dabei an die Ausdehnung der Hoffähigkeit, wodurch „der Kreis jener socialen Vorrechte meines Erachtens schon geschlossen [wäre], denn etwas Weiteres enthalten sie [die sozialen Adelsvorrechte, G. H.] ja nicht mehr; […]“. Damit wäre diese neu definierte soziale Gruppe aber auch mit „Consequenz geschlossen“, wogegen die Verleihung eines „Personenadels […] bei vorübergehendem Güterkauf“ willkürlich und unbefriedigend bliebe. Die politisch-zeitgenössische Einordnung des Adelspatents durch Radowitz Einen Monat später übersandte Radowitz die erbetene gutachterliche Stellungnahme an Thile. Radowitz nutzte diese Gelegenheit für eine schonungslose Bilanz der Politik Friedrich Wilhelms IV. seit 1840.305 Er sah das geplante Adelspatent dasselbe Schicksal teilen, wie alle bisherigen „größeren Unternehmen“, die Friedrich Wilhelm mit dem Ziel des „Wiederaufbaus der ständischen Monarchie“ verfolgt hatte. Neben der inhaltlichen Kritik an dem Adelspatent, auf die gleich näher einzugehen ist, hielt Radowitz vor allem den Zeitpunkt der Veröffentlichung eines solchen Patents für völlig ungeeignet: aufgrund der Versäumnisse der vergangen sieben Regierungsjahre Friedrich Wilhelms sei der Boden unvorbereitet geblieben für den Versuch, als Alternative zum gescheiterten „Administrationsabsolutismus“ des bisherigen Regimes und der „unter der Form des Repräsentationsstaates verhüllten Volkssouveränität“ eine „altfürstlich-ständische Regierung“ aufzurichten.306 Radowitz skizzierte ein

304 In seinem Zitat bezog sich Thile mit „Waldheim“ auf das alter ego von Radowitz in dessen „Gesprächen aus der Gegenwart“ (S. 389), vgl. Näheres dazu unten. 305 Vgl. sein Schreiben aus Karlsruhe vom 13. Juni 1847 mit den „Bemerkungen zu dem Entwurfe eines Patentes wegen künftiger Verleihung und Vererbung des Adelsstandes“, GSTAPK Rep. 89, Band 1, Nr. 930, Bl. 43-46v und 47-52v. Die von Thile übersandten Unterlagen und der Entwurf des Gutachtens von Radowitz befinden sich in dessen Nachlass: GSTAPK Nachlass Radowitz d. Ältere, Rep. 92, 1. Reihe, Nr. 95 (Das Adelspatent betr. 1843-1847). Knapp und verkürzend fasst die Reaktion von Radowitz zusammen Berdahl, Prussian Nobility, S. 333. 306 Schon anlässlich einer Kritik des Einberufungspatentes zum „Vereinigten Landtag“ 1847 hatte Radowitz die europäischen Regierungssysteme nach dem Muster seiner „Dritte-Weg“-Vorstellungen zugeordnet: nur zwei Hauptgegensätze gebe es in den zeitgenössischen Regierungssystemen – „Beamtenregierung“ und „Repräsentativregierung“. Russland, Österreich, die italienischen Staaten, Preußen und Dänemark gehörten zur ersteren Kategorie. Zur zweiten zählten Frankreich, England, Belgien, Niederlande, die pyrenäischen Staaten, die kleineren deutschen Staaten, Schweden. Verbin-



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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alternatives Regierungsprogramm, das seiner Ansicht nach geeignet gewesen wäre, das für eine solche neo-ständische Politik notwendige „volle Vertrauen und die volle Autorität“ der preußischen Regierung in der Öffentlichkeit herzustellen:307 die Schaffung einer emanzipierten publizistischen Öffentlichkeit durch Pressefreiheit und eine „daraus erwachsende Litteratur im größten Maßstabe zur Verständigung“; eine „Decentralisation und Erweckung der lokalen Kräfte“; die Behandlung der „unabweisbaren socialen Probleme der Gegenwart“ durch eine „Organisierung der Arbeit“ und „Leitung der Auswanderung“; weitere wirtschaftspolitische Maßnahmen wie die Förderung der Schifffahrt und die Ausweitung des deutschen Zollvereins; doch vor allem die Gewinnung der „großen nationalen Interessen und Sympathien durch eine glanzvolle Aufrichtung des [Deutschen, G. H.] Bundes“ – dies wäre „recht eigentlich Eurer Königlichen Majestät welthistorische Aufgabe“.308 Nun aber sei es zu spät – „Sieben Jahre sind verflossen die nicht wiederkehren; in tiefstem Schmerze sorge ich, daß weil das Mögliche nicht versucht worden, jetzt das Unmögliche unternommen werde“.309 Aufgrund dieser Versäumnisse könne nun das beabsichtigte Adelspatent, „welchen Inhalt es auch habe“, nicht mehr auf Dank und Verständnis einer Öffentlichkeit rechnen, die nun „ein verstimmtes, mißtrauisches Geschlecht, von Innen und Außen unterwühlt, schlechtem Einfluß willig geöffnet“ sei. Deshalb seien vielmehr „Mißdeutung und Gehässigkeit“, sowie „mannigfache Nachteile“ durch die Veröffentlichung des Patents zu erwarten.

dungsglieder zwischen beiden Prinzipien könnten in Preußen, Dänemark, in Schweden wie auch den kleineren deutschen Staaten gesucht werden. Das Dekret vom 3. Februar 1847 sei der erste Versuch gewesen, „außerhalb und oberhalb jener Gegensätze“ einen „Standpunct“ zu gewinnen. Das von Radowitz schon vor dem „Vereinigten Landtag“ befürchtete Misslingen dieses Versuchs sah er keinesfalls in der Sache, allein in der Ausführung begründet, vgl. „Die ständischen Edikte des 3ten Februar 1847“, in: Radowitz, Gesammelte Schriften, Vierter Band, S. 160-166, bes. S. 165f. 307 Dies im Unterschied zur Darstellung Berdahls, der Radowitz Programmpunkte offenkundig als Empfehlungen für die Zukunft auffasste – Radowitz sprach aber davon, was seit 1840 hätte geschehen müssen, nicht was in Zukunft erfolgen solle. 308 Dieselben Aufgaben und Programmpunkte formulierte schon eine 1843 durch Radowitz verfasste Denkschrift: „Friedrich Wilhelm IV. und seine Aufgabe“ (Manuskript, Mai 1843), in: GSTAPK, Rep. 92 Nachlass Joseph Maria v. Radowitz d. Ä., 1. Reihe Nr. 45d, Bl. 1-16. Vgl. allg. zu Radowitz’ Ideen: Barclay, Radowitz, S. 37-67, S. 48-57. 309 Vgl. die teils ganz gleichartig formulierte Kritik einer mangelhaften Information und Vorbereitung der Öffentlichkeit für die königlichen Pläne in Radowitz’ Reaktion auf das Februarpatent. Während er die Einberufung des Vereinigten Landtages aber noch im Ganzen als positiv einschätzte, hatte sich seither sein Urteil, nun anlässlich des Adelspatentes, deutlich verdüstert, obwohl er die Errichtung einer tatsächlich ständischen Monarchie offenbar noch immer für möglich hielt, vgl. „Die ständischen Edikte des 3ten Februar 1847“, in: Radowitz, Gesammelte Schriften, Vierter Band, S. 160166. Vgl. zu dazu auch Bahne, Verfassungspläne, S. 96.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Die von Radowitz skizzierten adelsreformatorischen Ziele Inhaltlich skizzierte Radowitz in seinem Gutachten zwei Wege, auf denen die Staatsgesetzgebung auf die „unläugbare Thatsache“ reagieren konnte, dass der Adel in Preußen, wie den meisten europäischen Ländern, „seiner Aufgabe“ nicht mehr entspräche. Der erste sei, den landsässigen Adel zu vermehren und (wirtschaftlich) zu stärken, indem alle bürgerlichen Rittergutsbesitzer, die ihr Eigentum fideikommissarisch zu befestigen willens, und persönlich geeignet seien, geadelt würden. Dieser Weg habe den großen Vorteil der „Einfachheit und Natürlichkeit“ für sich, der daher kaum Anfechtungen ausgesetzt sei. Diesbezüglich kritisierte Radowitz die Bestimmungen des Adelspatents aus zwei Richtungen: zum einen wandte er sich gegen die tendenzielle Gleichachtung von (höheren) Dienstkategorien mit dem befestigten Grundbesitz. Höhere Dienststellen seien zwar Ausweis der persönlichen Würdigkeit eines Nobilitierungskandidaten, könnten aber weder als Äquivalent eines zehnjährigen Besitzes eines matrikelfähigen Rittergutes noch einer fideikommissarischen Familienstiftung gelten. Andererseits wandte sich Radowitz gegen eine Nobilitierung von Fabrikanten und Kaufleuten mit Rittergutsbesitz. Diese drohe besonders, wenn der Besitz bestimmter höherer Orden als Merkmal persönlicher Würdigkeit mit dem Dienstrang gleichgestellt würde. Aus diesem Grund würden auch in Österreich und Bayern, wo der Adel an bestimmte Orden geknüpft sei, diese Orden niemals an Gewerbetreibende verliehen.310 In die gleiche Richtung zielte seine Forderung, im Falle einer Veräußerung des Rittergutsbesitzes den Adel sofort für den vormaligen Besitzer und nicht erst nach dessen Ableben erlöschen zu lassen da sonst „leichtsinniger oder transitorischer“ Güterkauf begünstigt würde.311 Der zweite, ehrgeizigere Weg einer Adelsreform bestünde darin, eine grundlegende Restauration des „aristokratischen Prinzips“ als ständisches Ordnungsmerkmal der Gesellschaft zu bewerkstelligen. Dazu sei es notwendig, die faktisch vorhandenen aristokratischen Elemente in der Gesellschaft zu identifizieren, sie unter sich und mit dem älteren Adel in Verbindung zu bringen, und ihnen dann eine politische und soziale Aufgabe im „Gesamtleben der Gegenwart“ zuzuweisen. Offenkundig habe sich das von Raumer und Savigny entworfene Adelspatent dieses anspruchs-

310 In einer mit Bleistift notierten Randbemerkung bemerkte Raumer zu dieser Aussage von Radowitz, dass ein Fabrikant mit Rittergutsbesitz, dessen Würdigkeit durch Ordensverleihung anerkannt sei, wohl kaum als ein „bloßer Industrieller“ einzuschätzen sei. 311 Um den im Patent neu eingeführten neuen „Ritterstand“ in seiner Stellung zwischen Adel und Bürgertum besser hervorzuheben schlug Radowitz vor, diesen mit dem Recht der Wappenfähigkeit auszuzeichnen. Die nichterbenden Söhne adliger Rittergutsbesitzer könnten die Wappen ihrer adligen Familienmitglieder (mit abweichenden Helmzeichen im Wappen) einfach weiterführen, den bürgerlichen Rittergutsbesitzern würde es vom König besonders verliehen.



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vollere Ziel gesetzt.312 Jedoch habe das Patent verabsäumt, allen dazu notwendigen Aufgaben inhaltlich gerecht zu werden. Das Patent sei nur auf den ersten Punkt, die Identifikation der aristokratischen Elemente, eingegangen. Aber weder der Platz des alten Adels in der neuen Struktur sei definiert, noch die Möglichkeiten festgestellt worden, wie der Monarch auf den alten Adel zugunsten der neuen Struktur einwirken könne. Vor allem aber fehle eine genaue Erörterung über das Wesen des aristokratischen Prinzips in der Gesellschaft, das als Prinzip der „Ehre“ dem nichtaristokratischen „Gewinn“ entgegenstünde, und als gesellschaftliches Gliederungsprinzip alleine geeignet wäre, der Despotie eines Machthabers oder der Despotie der Masse entgegenzuwirken. Aus dieser Erörterung wäre dann zu klären, welche zeitgenössischen, „tief in das organische Leben der Gegenwart“ eingreifende Pflichten der Adels erfüllen müsste, um die alten Pflichten zu ersetzen, die er nicht mehr erfüllen könne. Radowitz vermisst eine politisch-soziale Aufgabenstellung für den Adel Mit dieser Kritik traf Radowitz instinktsicher den eigentlichen Schwachpunkt aller Adelsreformdiskussionen seit der Reformzeit in Preußen, und der Adelsreformdiskussion unter Friedrich Wilhelm IV. in besonderem. Die Diskutanten hatten sich viel zu sehr in den (scheinbaren) Gegensatz eines „realistisch“ gegründeten oder „idealistisch“ orientierten Adelsmodells verharkt.313 Radowitz hatte diesen (angeblichen) Gegensatz selbst schon 1844 als Grund für die Differenzen zwischen der deutschen und englischen Adelswirklichkeit charakterisiert, und in einer für ihn typischen Weise historisch zu erklären versucht: im Mittelalter hätte der Adel zwischen „ideellem Klerus“ und „realem“ Volk gestanden, bzw. sich mit beiden Seiten gleichermaßen verknüpft. Während der Reformation habe sich der Adel jedoch mit dem Klerus überworfen, und befände sich seither in einer „einseitigen, halben, ungesunden“ Lage: entweder habe er sich seither einseitig in Richtung der „Realien“ entwickelt wie in England, wo großer Besitz, die Positionen in der Magistratur und die politische Stellung in der Pairie die Adelszugehörigkeit bestimmten. Oder der Adel habe sich einseitig auf sein „ideelles“ Selbstverständnis beschränkt wie in Deutschland, wo „Geschlecht“, „Ritterlichkeit“ und „Ehre“ allentscheidend seien.314

312 Umgekehrt ließe sich betonen, dass der von ihm zuvor skizzierte „einfachere, klarere“ Weg die ursprüngliche königliche Intention eines Adelsgesetzes recht genau wiedergab, das ja erst durch die Interventionen der Adelskommission und der Minister zunehmend verkompliziert worden war. 313 Schon Neumann benennt diesen Gegensatz als Ursache der Spannung zwischen „realistischerem Junkertum und idealistischerem Beamtenadel“ im Kreis der romantisch-konservativen „Kamarilla“ des Vormärz, vgl. Ders., Stufen, S. 54. 314 Radowitz, Gesammelte Schriften, Vierter Band, S. 138-140, hier S. 139. Dieses Argument führte Radowitz in seinen zwei Jahre später veröffentlichten „Gesprächen aus der Gegenwart“ noch einmal aus: die englische Peerage sei deshalb „nach deutschen Ansichten“ eher als eine „erbliche Magistratur“ denn als Adel aufzufassen, vgl. Ders., Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche, Stuttgart 1846, S. 410-411.

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Allerdings hatte eine Erörterung der Aufgaben und Pflichten des Adels ja durchaus (wenn auch rudimentär) schon im Staatsministerium, ausführlicher noch in der Adelskommission stattgefunden: allerdings ist Radowitz` Einschätzung insofern zuzustimmen, als diese Aufgabenzuschreibung äußerst dürftig ausgefallen, ein eigentlich politisches Konzept für den Adel, z.B. als Korrektiv gegenüber dem Monarchen oder der „Despotie der Masse“ (entsprechend der politischen Publizistik immer wieder gern benutzte Metapher vom „Mittler zwischen Thron und Volk“) nicht erfolgt war. Die Antwort der Adelskommission hatte sich auf die Rolle des Adels im Staatsdienst konzentriert (in dem dieser nicht nur Verdienst, sondern auch „Ehre“ suche) und der nach Auffassung eines Teils der Adelskommission (vor allem Raumers) schon per se einer „politischen“ Aufgabenübernahme entsprach. Völlig ausgespart blieb aber die Frage, welchem Ziel diese politische Arbeit dienen sollte, was sie für die Gesamtgesellschaft „leisten“ sollte? Die Aufrechterhaltung der Idee der Geschlechtsfamilie und die Idee ehrbarer Beschäftigungen, durch die Abwesenheit direkter körperlicher und fabrizierender Arbeit gekennzeichnet, wurden offensichtlich schon als echte „Leistungen“ des Adels für die Gesamtgesellschaft behauptet. An dieser unvollständig formulierten Aufgabenstellung scheiterten denn wiederholt alle Diskussionen, denn der „Gegensatz“ zwischen „realen“ und „idealen“ Adels- bzw. „Adligkeitsvorstellungen“ war ja durchaus auflösbar, beide Aspekte waren letztlich sogar aufeinander angewiesen. „Materiell“ wie „idealistisch“ orientierte Adelsbefürworter waren aber die Antwort schuldig geblieben, mit welchen Leistungseigenschaften, bzw. „Sozialwerten“ der Adel als Vorbild und role-model in die Gesellschaft hinaus wirken sollte, die sich nicht in einer platten „unverbrüchlichen“ Loyalität zu Königshaus und Staat erschöpften – der Adel drohte darin zu einer reinen Ämtertitulatur mit Loyalitätsgarantie zu werden.315 Die Notwendigkeit des Adels für die Existenz einer ständisch gegliederten Monarchie wurde so immer behauptet, aber nicht näher begründet.316 Radowitz’ Versuch, einen zeitgemäßen „Adelsberuf“ zu entwerfen In seinen „Gesprächen aus der Gegenwart“ hatte Radowitz diese Frage nach einer Aufgabe, nach einem „Beruf“ des Adels in der Gegenwart zu lösen versucht.317 Radowitz entwarf darin einen „Diskurs“ verschiedener Persönlichkeiten, die zugleich die wesentlichen Strömungen des politischen Zeitgeists widerspiegeln sollten. Diese Reflektionsstruktur lehnt sich (wohl nicht zufällig) an Achim v. Arnims „Landhaus-

315 Auch für den nach der bayerischen Adelsgesetzgebung neudefinierten dortigen „Verdienstadel“ stellte Hofmann einen „fast unvermeidlichen Laufbahncharakter“ fest, vgl. Ders., Herrschaft, S. 471. 316 Da die Adelskommission sich mit ihren weitergehenden Vorschlägen (z.B. in der Frage des Adelsverlusts) nicht durchsetzen konnte, reduzierte sich die Adelsproblematik notgedrungen wesentlich auf die im Patent fast exklusiv behandelte Frage der Vererbungskonditionen. 317 Radowitz, Gespräche, S. 351-435, zum Adelsgesetz bes. S. 418-430. Die „Gespräche aus der Gegenwart“ erfuhren in kurzer Zeit vier Auflagen: im April 1846, Oktober 1846, Februar 1847 und März 1851. Das gesamte „Vierzehnte“ und „Fünfzehnte Gespräch“ behandeln das Adelsproblem.



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leben“ (1826) an: es treten der pietistische Junker Arneburg, dessen links-hegelianischer jüngerer Bruder Detlev, der konstitutionelle Monarchist und liberale Industrielle Curtius (künftiger Schwiegervater v. Detlev), der administrativ-absolutistische Bürokrat Oeder und der aristokratische Weltmann Waldheim, das alter ego von Radowitz, gegeneinander an.318 Waldheim/Radowitz lotete einmal mehr die Möglichkeit eines „dritten Weges“ aus.319 Das „adlige Prinzip“ an sich sei unzerstörbar und „ewig“, daher sei Adel „Fügung“ (der Geburt), nicht eigentlich „Zufall“, wie die Adelskritik moniere. Denn der Adel habe sich nicht selbst erschaffen und sei „ohne eigene Einwirkung zustande gekommen“ – durch das „unhintergehbare“ und „unenteigenbare“ soziale Kapital der „Erinnerung und Bekanntheit des Namens“. Auch eine formelle Adelsabschaffung könne daher den wirklich bedeutenden und bekannten Familien nichts anhaben.320 Doch der Adel habe sich immer gewandelt, und müsse dies auch weiterhin tun, damit dem unwandelbaren Kern des adligen Prinzips, die unterschiedliche Chancenverteilung in der Gesellschaft nach Gütern und Machtzugang, auch wieder „gleichbindende Pflichten“ gegenüberstünden, wie dies aktuell nicht der Fall sei, da der Privatbesitz dominiere.321 Diese Pflichten des Adels sah Radowitz vor allem gegenüber den ärmeren Schichten der Gesellschaft gegenüber „Haus- und Dienstgenossen“ gegeben: den „[...]

318 Vgl. zu Arnims „Landhausleben“ Knaack, Arnim, S. 77ff. Die Parallelen der Persönlichkeitsstrukturen sind auffällig. Allerdings ist der „neutrale“ Rittmeister in „Landhausleben“ keineswegs ein alter ego von Arnim. 319 „Also wiederhole ich, dass nach meiner innigsten Überzeugung kein anderer Staat ohne aristokratische Gliederung möglich ist, als der absolute, der despotische. Sey es denn, dass der Despotismus als imperatorische Alleingewalt auftrete, oder als abstracte Republik.“, vgl. Radowitz, Gespräche, S. 394. Radowitz unterlegte vor wie auch nach 1848 seinen Ausführungen regelmäßig Bilder eines „Dritten Weges“, oder einer „dritten Position“: „Die Freiheit bedarf neben ihr der Autorität, denn sonst wird sie zur Anarchie. Die Autorität bedarf neben ihr die Freiheit, denn sonst wird sie zum Despotismus“. Und auch er identifizierte mit diesen „falschen“ Alternativen jeweils einen politischen Raum: Deutschland werde bedroht (1844): „Von Frankreich aus durch die Lehren und Waffen der Volkssouveränität, von Russland her durch die des absoluten Imperatorenthums“, vgl. „Deutschlands Gefahren“ in: Radowitz, Gesammelte Schriften, Vierter Band, S. 140. An diesem Bild hielt Radowitz noch 1851 fest: „Deutschland ist von zwei Gefahren bedrohet: von der Demokratie im Westen, und von der austro-russischen Absolutie im Osten“; Ebd., „Die Aufgabe für Deutschland“, S. 226. Herrmann Beck deduzierte Radowitz’ „dritte“ politische Position aus weiteren verstreuten Äußerungen als ein Ressentiment „gegen jede Form von Absolutismus“, sei es in der Form der „Revolution“ (d.h. Volkssouveränität), „königlicher Allmacht“, „absoluten Staatstums“ oder des „Konstitutionalimus“, denn: absoluter Staat und Revolution sind im gemeinsamen Hass gegen die Stände vereint, vgl. Ders., Sozialkonservatismus, S. 69. Vgl. auch den programmatischen Artikel von Radowitz im Berlinischen Politischen Wochenblatt vom 29. Oktober 1832: „Das Berlinische Wochenblatt am Schlusse des ersten Jahres seines Bestehens“. 320 Radowitz, Gespräche, S. 382ff. 321 Ebd., S. 399.

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Arbeiter, den Tagelöhner, den Gehülfen, den Schuldner, dann gegen den bedürftigen Staatsgenossen überhaupt“ – „Je höher die Schicht, je weiter die Pflicht!“322 Radowitz interpretierte also die durch den „neuen“ Adel zu repräsentierenden Sozialwerte ganz anders, als dies z.B. Stein getan hatte – weniger als historisch-ästhetisch-kulturelles Vorbild und soziales Gedächtnis sollte der Adel agieren, denn als Repräsentant einer staatlich-gesellschaftlichen Sozialagentur, die durch eine „Organisation der Arbeit“ das zeitgenössische Problem der Pauperismus in der frühindustriellen Gesellschaft beheben sollte. Eine solche Aufgabenbeschreibung barg allerdings die Gefahr einer Reduktion der überkommenen Lebens- und Darstellungssphäre des Adels: zwar sollte der Adel nach Radowitz immer noch ein (neues) gesamtgesellschaftliches Lebensmodell als „Mikrokosmos“ verkörpern, doch ließ sich die Umsetzung dieser Aufgabe durchaus getrennt von ästhetischen und kulturellen Darstellungsformen denken.323 Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, müsse der Adel aus der Gesamtheit der „aristoi“ allerdings neu gebildet werden: ein Teil des Adels gehöre nicht mehr zu den „aristoi“, ein Teil der Bürgerlichen sehr wohl. Ganz nach Burke sah sich Radowitz mit dem Problem konfrontiert, diejenigen Bevölkerungsteile, die durch neue Besitz- und Dienstformen, oder auch unabhängig von diesen, überragende Bedeutung gewonnen haben, in die „wirkliche Aristokratie“ aufzunehmen, da sich diese sonst in „ätzende Gifte“ verwandelten, die eine Ordnung zu zersetzen drohten, in der sie keinen Platz finden könnten.324 Diese Positionen kontrastierten deutlich zu den Auffassungen, die Radowitz mehr als zehn Jahre früher in Zusammenhang mit der Rolle des Adels im preußischen Militär formuliert hatte.325

322 Ebd., S. 425f, spez. 429. 323 Die Idee des Adels als Mikrokosmos der Gesellschaft bei Schäffle, Adelsbegriff, S. 57ff. 324 Radowitz, Gespräche, S. 404f. 325 1833 behauptete Radowitz, „das Wesen der preußischen Monarchie erfordere, dass stets ein zahlreicher und armer Adel vorhanden sei.“ Denn der preußische Staat hänge seiner Geschichte und Zusammensetzung nach vom Heere ab, sei mit diesem untrennbar verflochten. Die Güte der Armee gründe aber wiederum auf seinem Offizierskorps, vor allem den Subalternoffizieren. Deren Stellung sei durch die an sich widersprüchliche Anforderung geprägt, relative Kargheit und (Karriere-)Aussichtslosigkeit mit einem Bewusstsein absoluter sozialer Überlegenheit verbinden zu müssen, dabei einer „Aristo-Demokratie“ anzugehören, die vom Seconde-Lieutenant bis zum Feldmarschall vollkommene Standesgleichheit gewähre. Für diese Stellung bringen die Söhne des Kleinbürgertums nicht die nötige Gesinnung wie die Gewöhnung in höhere Standesverhältnisse mit, um vor den Soldaten den „Rang auch bei dürftiger Ausstattung zu behaupten“; für das höhere Bürgertum wie für den reicheren Adel wäre aber dieser karge Karriereweg uninteressant, weil mit zu vielen Einschränkungen verbunden. Vgl. „Die preußische Armee“ (1833), in: Radowitz, Gesammelte Schriften, Vierter Band, S. 50-56. Die gleiche Beobachtung hielt er allerdings noch 1850 fest: „Die Aristokratie und ihre Formen“; Ebd., S. 213-215, nun allerdings mit der Weiterung, dass entgegen seiner früheren Aussage ganz offensichtlich der „Standesgeist“ des (adligen) Offizierskorps „in ganz gleicher Weise“ durch die bürgerlichen Offiziere aufgenommen worden sei.



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Zu einer solchen Adelsreform könne der Staat nur Impulse und Anregungen geben, letztlich müsse sie aber der Adel selber leisten. Die von Radowitz vorgeschlagenen Maßnahmen entsprachen allerdings in weiten Zügen den in den Verhandlungen der Adelskommission und des Staatsministeriums erzielten Kompromissen:326 jedem Besitzer eines größeren und geschlossenen Gutes stünde der Adel offen. Sein Antrag auf Nobilitierung ginge an die Adelskorporation des Kreises; stimme die der Würdigkeit des Kandidaten zu, erfolge stets der Adelsbrief. Die zweite Generation trete schon aus eigenem Recht in den Adel ein. Wo der Gutsbesitzer zugleich im Kriegsoder Zivildienste eine gewisse Stufe einnimmt, entschiede unmittelbar der König über die Aufnahme in den Adel; nur der Erbe des Besitzes folge in den Adel nach, die übrigen Geschwister verblieben im Bürgerstande, führten aber auch das Wappen. Dem Namen des Adligen solle der Name des Gutes angehängt werden. Im Falle des Gutsverkaufs hätten die Verwandten ein Vorkaufsrecht und folgen bei Erwerb in den Adel. Im anderen Falle ginge der Adel der Familie verloren.327 In Gegensatz zur Adelskommission und dem Staatsministerium verband Radowitz in seinen Ausführungen allerdings noch die Forderung, dem Landadel einen „Stadtadel“ (Patriziat) gegenüberzustellen, der sich durch den Besitz von Stadtgrundstücken und Stadtämtern, aber auch Leistungen in Wissenschaft und Künsten qualifizieren könne. England als Entwicklungsvorbild lehnte Radowitz aber nicht nur bezüglich des Adelsmodells ab, sondern auch hinsichtlich des politischen Systems, d.h. seines Parlamentarismus – dort „herrsche der König“ nicht, doch der Monarch müsse „über den Parteien herrschen“, selbst derjenigen, die seine eigenen Interessen vertrete.328 In seinen „Gesprächen“ distanzierte sich Radowitz einmal mehr von Möser mit der Behauptung, dass sich der englische Adel in seiner „Peerage“ mehr zu einer „erblichen Magistratur“ entwickelt habe, deren Mehrzahl sogar einem geringeren Geschlechtsadel angehöre als ein Teil der unter ihr stehenden Gentry. In Deutschland habe sich dagegen die „ideale Seite“ des Adels in den Vordergrund geschoben: „Geschlecht, Stammbaum nach Männer- und Weiberlinie, Ritterlichkeit, adelige Beschäftigung“.329 Ein Einfluss von Friedrich August Liebe auf die Ideen von Radowitz? Die Radowitzsche Argumentationsführung, ja selbst Einzelheiten seiner Formulierungen lassen einen starken Einfluss durch den Braunschweiger Juristen und Pub-

326 Wie dies ja schon Savigny gegenüber Raumer festgestellt hatte, vgl. oben. 327 Radowitz, Gespräche, S. 418ff. 328 Radowitz kritisierte die politische Entwicklung in England seit der „glorious revolution“ und befand sich damit sogar in Opposition zu dem hochkonservativen Gerlach-Kreis, vgl. Barclay, Radowitz, S. 46. 329 Radowitz, Gespräche, S. 396f, S. 409f.

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lizisten Friedrich August Liebe vermuten.330 Dieser hatte sich schon 1844 unter dem Titel „Der Grundadel und die neuen Verfassungen“ mit dem Problem eines „Berufs“ für den Adel in der nachständischen Gesellschaft beschäftigt.331 Sein viertes Kapitel („Die Aristokratie“) widmete Liebe ganz diesem Problem, denn da der Adel selbst über seine Aufgaben und Ziele keine Klarheit besitze, sei er wiederholt in seinen politischen Anliegen gescheitert. Zukünftig könne der Adel jedoch nur noch eine „Stan-

330 Friedrich August Liebe (1809-1885) wurde in Braunschweig als Sohn eines Buchhalters geboren und wuchs früh verwaist in seiner Geburtsstadt auf. Dort besuchte er das Gynmasium und das Collegium Carolinum, bezog 1828 die Universität Göttingen, wo er 1830 promoviert wurde. Aufgrund seiner finanziellen Verhältnisse konnte er nicht nach seinem Wunsch in den Staatsdienst eintreten, sondern arbeitete als Advokat und Notar in Braunschweig, während er trotzdem 1836 das Staatsexamen bestand. 1837 wurde er nach der Empfehlung der Prüfungskommission als Kreisgerichtsassessor in den Staatsdienst in Wolfenbüttel übernommen. Durch eine Reihe juristischer Publikationen begründete er seinen wissenschaftlichen Ruf, erlangte die Aufmerksamkeit der Braunschweiger Regierung und wurde 1841 zu den Sekretariatsgeschäften im Staatsministerium berufen. Schon im Dezember 1841 wurde er zum Kanzleisekretär ernannt, 1847 zum Hofrat. In diesen Jahren veröffentlichte er weitere wissenschaftliche Abhandlungen zu wichtigen Tagesfragen. Über eine Arbeit zur Frage der Wechselordnung wurde er 1847 in die Kommission der deutschen Staaten zur Beratung einer neuen Wechselordnung berufen. Seine Arbeit von 1844 über den „Grundadel und die neuen Verfassungen“ (Braunschweig) entstand ebenfalls in Auseinandersetzungen über die tagespolitischen Fragen der Zeit; er veröffentlichte außerdem in der Heidelberger „Deutschen Zeitung“ im November 1847 Vorschläge zur Verbesserung der deutschen Bundesverfassung. Für dieses politische Ziel setzte er sich seit April 1848 als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung ein, das er aber nicht als Volks-, sondern Regierungsvertreter ausfüllte. Zugleich wurde er nämlich zum Legationsrat und Braunschweiger Bundestagsgesandten ernannt (zusätzlich mit der Stimme Nassaus ausgestattet), übernahm im September 1848 im Auftrag der deutschen Zentralgewalt eine diplomatische Mission nach dem Haag bezüglich der wegen des Herzogtums Limburg entstandenen Friktionen. Nach der Auflösung des Reichsministeriums Gagern am 10. Mai 1849 nahm Liebe keinen neuen Ministeriumsposten der Reichsgewalt mehr an, und wurde am 7. Juli 1849 als Bundestagsgesandter abgelöst und in diplomatischer Mission des „Dreikönigsbündnisses“ nach Berlin entsandt. Persönlich überzeugt von der Kleindeutsch-Preußischen Lösung der „deutschen Frage“ engagierte er sich im deutschen Unionsparlament in Erfurt wo er zu den fünf Kommissaren gehörte, die hier die Zentralbehörde vertreten sollten. Im Mai 1850 nahm er außerdem an der Berliner Konferenz der verbündeten deutschen Regierungen teil, die zur Gründung des Fürstenkollegiums führte, deren Bevollmächtigter Braunschweigs er wurde. Von der Braunschweiger Regierung wurde er danach zu der von Österreich initiierten Konferenz in Frankfurt a. M. gesandt. Nach dem endgültigen Scheitern der preußischen Unionspolitik blieb Liebe der borussischen Deutschlandpolitik verpflichtet, was ihm den Posten eines braunschweigischen Geschäftsträgers am preußischen Hof einbrachte. 1855 wurde Liebe durch den braunschweigischen Herzog in den erblichen Adelsstand erhoben. Wiederholt mit Braunschweigischen und preußischen Orden ausgezeichnet, zum Legationsrat ernannt und ab 1861 Mitglied des Braunschweigischen Staatsministeriums, war Liebe maßgeblich am braunschweigischen Anschluss an die preußische Politik 1866 beteiligt. Im norddeutschen Bund und später im neuen Kaiserreich wurde Liebe deshalb Bevollmächtigter beim Bundesrat und spielte wiederum eine gewichtige Rolle bei den Verhandlungen über die neue Verfassungsordnung von Bund und Reich. Vgl. ADB, Bd. 51, Leipzig 1906, S. 698-702. 331 Friedrich August Liebe, Der Grundadel und die neuen Verfassungen, Braunschweig 1844; siehe v.a. die Kap. 4, 5, 9, 10.



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desclasse“ sein, aus der sich „ein Teil“ für eine neue Aristokratie qualifizieren ließe.332 Wie viele Liberale der Zeit und wie schon Rehberg verwarf Liebe eine Entwicklungsgeschichte des Adels, die diesen in seiner Gesamtheit auf den germanischen Uradel, und überhaupt als „einen Stand“ seit den Anfängen begriff. Denn „Adel“ und „Fürsten“ stammten nicht „aus einer Wurzel“. Eine ständische Annäherung des niederen Adels zum Bürgertum sei deshalb ganz natürlich. Auf dem alten „geistigen Glauben“ an die tieferen moralisch-physiologischen Ursachen gesellschaftlicher Unterschiede könne eine neue Standesgliederung keinesfalls mehr aufbauen. Desgleichen gelte für den Topoi der überkommenen adligen Bürokratiekritik – diese sei im modernen Staat nicht zukunftsfähig.333 Deshalb müsse der Definition und Aufgabenzuschreibung einer neuen Aristokratie eine tiefer gehende Betrachtung vorausgehen. Ehre und Ansehen hingen immer von einem gewissen Maß äußerer Güter ab – doch Geld und Gut dürften nicht als Zweck, müssten vielmehr als Mittel einer neuen ständischen Gliederung aufgefasst werden. In einer solchen neuen ständischen Ordnung der Gesellschaft käme dem Adel zwar in besonderem Maße der „Beruf zur Aristokratie“ zu, doch keineswegs das „exklusive Recht“.334 Diese neue Aristokratie müsse zwar als „geistiges Element“ der Gesellschaft entworfen werden, das „Treue, Gesinnungstüchtigkeit, Ehre, feines Anstandsgefühl“, kurz: eine gesamtgesellschaftliche „virtù“ verkörpere. Doch Adelsvereinigungen, die notwendig immer standesegoistische Ziele verfolgen, könnten diesem Anliegen nur schaden. Eine „materielle“ Definition des Aristokratischen nach englischem Vorbild wäre ebenso kontraproduktiv wie die reine „Familienerinnerung“, da ihr in den überwiegenden Fällen keine „Berühmtheit“ im Bewusstsein des Volkes entspräche.335 Die „Geschlechtsauffassung“ habe durch den tendenziellen Standesabschluss sogar ein neuerliches „Eindringen“ von „Berühmtheit“ in den Stand verhindert und seit dem 17. Jahrhundert den Stand verknöchern lassen.336 In diesen Zügen nahm Liebe die spätere Argumentation Radowitz’ ebenso vorweg wie dessen Ablehnung der englischen Adelsverhältnisse als Entwicklungsmuster – der englische Pairie-Adel sei eben nicht Adel, dem man politische Stellung eingeräumt habe, sondern umgekehrt nur aufgrund dieser Funktionen sei jemand Lord und Mitglied der Aristokratie, so Liebe (hier klingt Radowitz’ „Magistratsadel“ an). Die Nachahmung englischer Verhältnisse würde jedoch nicht nur die Bildung vergleichbarer Institutionen, sondern auch einer vergleichbaren Aristokratie erfordern. Allerdings zeigte sich Liebe in seinen positiven Ausführungen über die Formierungsbedingun-

332 Liebe, Der Grundadel, S. 154ff. 333 Ebd., S. 187ff. 334 Ebd., S. 169. 335 „Adelsassoziationen“ als „Privatschutzverein“ seien entweder überflüssig (denn der Staat schütze alle), oder schädlich – sie bildeten einen „Staat im Staate“ und zögen weiteren Standesabschluss nach sich, vgl. Liebe, Der Grundadel, S. 180f, 190f. 336 Ebd., S. 170f.

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gen einer „deutschen Pairie“ nicht so überzeugend, wie in seiner Kritik: so lehnte er die Bildung von Majoraten und Unveräußerlichkeitsbestimmungen für Grundbesitzstiftungen ab, obwohl er der gesicherten materiellen Grundlage des Adels das Wort redete, und „Land“ als entscheidender Faktor für Stabilität und Dauerhaftigkeit von ihm anerkannt wurde.337 Die Ambivalenz des Radowitzschen Entwurfs eines sozialpolitischen „Adelsberufs“ Letztlich blieb Liebe in seinen Schlussfolgerungen also ähnlich ambivalent wie einige Jahre später Radowitz. Bei Radowitz war es allerdings der vollkommene Hass auf den Liberalismus, der ihn vor dem direktesten und einfachsten Wege eines adlig-bürgerlichen Elitenausgleichs zurückschrecken ließ – in Vergleich zu seinem alter ego „Waldheim“ in den „Gesprächen“ wirkte selbst der steifleinerne „Widersacher“, der rational-absolutistische Beamte „Oeder“ recht gemäßigt und gegenüber dem monarchisch-liberalen bürgerlichen „Curtius“ verbindlicher. Tatsächlich war Radowitz nicht so sehr an einem Elitenkompromiss interessiert; vielmehr gedachte er das im Entstehen begriffene neue Industrieproletariat als taktischen Hebel gegen das Bürgertum einzusetzen. Durch ein solches „sozialpartnerschaftliches“ Bündnis gegen den entstehenden Industriekapitalismus sollte die Bourgeoisie politisch niedergehalten werden.338 Das von „Waldheim“/Radowitz entworfene „soziale Königtum“, das den Staat als Unternehmer und Arbeitgeber in Betracht zog, tendierte gar in eine staatssozialistische Richtung.339 Offen bekannte „Waldheim“ in den „Gesprächen“, dem „konsequenten Republikaner“ (in Gestalt des Linkshegelianers „Detlev Arneburg“) ideologisch näher zu stehen, als dem liberalen Monarchisten! Die Brücke dieses unwahrscheinlichen Bündnisses sollte die Ablehnung des liberalen „Materialismus“ bilden, der Aufruf zu einem „Höheren“ in der Gesellschaft. In dieser Verbindung eines entschiedenen Antiliberalismus mit einer allgemeinen Kulturkritik klangen bei Radowitz schon Themen an, die erheblich später von Paul de Lagarde, Julius Langbehn oder Moeller van den Bruck durchkomponiert werden sollten.340 In seiner

337 Ebd., S. 241f, 287ff. 338 Vgl. Beck, Sozialkonservatismus, S. 63, 77. 339 Als praktische Maßnahme schwebte Radowitz eine „Adelsverbrüderung nach dem Sinne der alten Orden“ vor, die Armenkolonien in den unterbesiedelten Gebieten des preußischen Ostens gründen sollten. Dort würde den Armen auf den Gütern des Ordens festes Eigentum zugewiesen. In dieser Fürsorge könnte sich der Adel schließlich selbst finden, vgl. „Wo thut Hilfe Noth?“, in: Berliner Politisches Wochenblatt, 13. Februar 1841: „Und gewiß eine Verbrüderung, dass sie zur Ritterschaft der armen Leute werde, das wäre für ihn und die anderen die herrlichste Zeitaufgabe, die nur der deutsche Adel verwirklichen könnte“), zit. nach Beck, Sozialkonservatismus, S. 74. Die Idee solcher Armensiedlungen mit konservativ-sozialstabilisierender Zielrichtung sollte im späten Kaiserreich wie in der Weimarer Republik noch eine Renaissance, bzw. praktische Umsetzung finden. 340 Vgl. Beck, Sozialkonservatismus, S. 79.



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tendenziellen Verachtung für privates Eigentum und Wohlstand stand Radowitz womöglich auch der von Friedrich August Liebe geäußerten Skepsis gegenüber dem gebundenen Grundeigentum nahe – ein „konservativer“ Antimaterialismus, der von der welterfahren-energisch zusammengedachten Dependenz von materiellem Wohlstand, ja Reichtum, und herausragenden sozial-kulturellen Betätigungen im Sinne eines Freiherrn v. Stein kaum entfernter gedacht werden kann!341 In seiner Ablehnung des Liberalismus entging „Waldheim“/Radowitz, wie sehr dieses Programm eines intervenierenden Staates mit einer aktivischen Wirtschaftspolitik den bürokratischen Anstaltsstaat geradezu einforderte – dessen Bürokratie Radowitz doch mindestens genauso hasste! Radowitz war wohl überzeugt, dass der organisierte Adel in selbständiger Regie dieses gewaltige wirtschaftliche und verwaltungstechnische Unterfangen bewerkstelligen könne. In jedem Falle waren diese Ideen kaum mehr den Steinschen Idealen einer Verkörperlichung übergreifender Sozialwerte in der adligen Familie vergleichbar, oder mit der Marwitzschen Ablehnung entfremdeter Herrschaft durch ein Festhalten an den dezentralisierenden, tendenziell anarchischen Bestandteilen adliger Selbstvergewisserung.

Das Ende des Adelspatentes durch die Revolution 1848 Thile leitete Radowitz` Antwort noch unmittelbar im Sommer 1847 an Savigny bzw. Raumer zur Kenntnisnahme und Anfertigung einer Abschrift weiter.342 Die kritische Stellungnahme von Radowitz ist also kaum als Ursache für das erneute Aussetzen in der Behandlung der Adelsreform anzunehmen. Sie verursachte auch keineswegs die endgültige Aufgabe dieses Plans wie verschiedentlich gemutmaßt wurde.343 Allenfalls aufschiebende Wirkung könnte dieser Intervention zugeschrieben werden. Denn noch im Frühjahr 1848 erfolgte ein letzter Anlauf zur Realisierung des geplanten Adelspatentes.

341 Und Jahrzehnte später von den bürgerlichen Adelsideologen Hermann Wagener und Oswald Spengler zur vollen Konsequenz entwickelt werden sollte. Der „Preußische Sozialismus“ Spenglers hatte nicht mehr „Wohlstand“ zum Ziel, sondern die Hierarchisierung praktischer, moralischer und intellektueller Fähigkeiten der Individuen – eine Tendenz, die sich ja schon bei den Vertretern eines Beamtenadelsideals in Adelskommission und Staatsministerium gezeigt hatte, vor allem bei Raumer! Vgl. Beck, Sozialkonservatismus, S. 91. 342 Savignys sandte am 7. Juli 1847 die von Thile überstellten Bemerkungen von Radowitz zurück, vgl. GSTAPK Rep. 89, Band 1 Nr. 930, Bl. 53. 343 Im Gegenteil wurde noch im August 1847 durch den König das parallel geplante, und mit dem Adelsgesetz in Verbindung stehende Gesetzesvorhaben neuer fideikommissarischer Stiftungsbestimmungen voranzutreiben versucht, vgl. unten Teil III. Kap. 4.3.2.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

Die erneute Aufnahme der Beratungen 1848 Das Gutachten von Radowitz spielte noch einmal eine prominentere Rolle, als ein Schreiben des Kabinettrats Illaire im Namen des Königs am 13. Februar 1848 Savigny aufforderte, die Arbeiten zu dem beabsichtigten Adelsgesetz wieder aufzunehmen und zu beschleunigen.344 Zugleich ließ der König bei Savigny anfragen, inwiefern nicht die Gelegenheit der gegenwärtigen Anwesenheit der vereinigten Landtagsausschüsse dazu benutzt werden sollte, die Ansichten der adligen Mitglieder dieser Ausschüsse über die dem geplanten Adelsgesetz zugrunde liegenden Grundsätze einzuholen.345 Savigny erbat von Raumer seine diesbezügliche Meinung und nähere Auskünfte über den Stand der Gesetzesausarbeitung. Savigny betonte, dass einer „Wiederaufnahme und Beschleunigung des beabsichtigten Gesetzes [...] an sich Nichts einzuwenden“ sei, nur der Zeitpunkt aufgrund seiner persönlichen sowie Uhdens und Bodelschwinghs Arbeitsbelastung mit den Ausschüssen ungünstig wäre. Savigny riet aber dringend davon ab, die adligen Mitglieder der Ausschüsse zu Rate zu ziehen, wie es dem König vorschwebte, ohne allerdings seine „verschiedenen Gründe“ zu nennen.346 Zugleich erkundigte sich Savigny bei Thile, ob und an wen die im November 1846 für die Mitglieder der Immediatkommission („der ständischen Angelegenheiten“, G. H.) übersandten Kopien seines Patententwurfs und der Motive tatsächlich verteilt worden seien, und ob der eine oder andere Minister daraufhin gegenüber Thile sich über den Entwurf geäußert habe.347 Eine Antwort darüber blieb offenkundig aus, bzw. ist nicht überliefert – denn nur vier Wochen später beendete die Revolution die Hoffnungen und Pläne des Königs bezüglich eines friedlichen und kontinuierlich-„organischen“ gesellschaftlichen Wandels. Bisher hatte sich der König in seiner Adelspolitik wie in der Reichsständefrage weder durch die vielen Gegenstimmen seiner Minister noch die seiner selbstgewählten Berater, nicht einmal durch Radowitz, nachhaltig irritieren lassen.348 Erst die Revolution schien Friedrich Wilhelms neuständische und adelspo-

344 Vgl. Schreiben des Kabinettsrats Illaire v. 13 Februar an Savigny in: GSTAPK I. HA Rep. 89 Nr. 919, Bl. 141. Darin machte Illaire darauf aufmerksam, dass die Erledigung der Standeserhöhungen seit 1840 von der „Emanation“ dieses Gesetzes abhinge. Raumer wurde von Savigny noch am selben Tag über diese Aufforderung unterrichtet, vgl. GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787, Bl. 333. 345 Über dieses Ansinnen informierte Savigny am folgenden Tag auch Thile, vgl. GSTAPK I. HA Rep. 89 Nr. 919, Bl. 142. 346 Schon am nächsten Tag, den 14. Februar, sandte Raumer das mit seinen Bleistiftbemerkungen versehene Gutachten von Radowitz mit der Empfehlung an Savigny, „daß zunächst nur an „des Herrn Minister v. Thile Exzellenz wird geschrieben werden können, da die Mittheilung nur an ihn geschehen ist.“ GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787, Bl. 334; Bl. 335-341. Die beiliegenden Bemerkungen zur künftigen Adelspolitik von Radowitz waren nach einer Anmerkung Raumers von Thile zur Abschrift übermittelt worden, Ebd., Bl. 335. 347 Schreiben Savignys an Thile, 14. Februar 1848, vgl. GSTAPK I. HA Rep. 89 Nr. 919, Bl. 142. Auch Raumer erkundigte sich bei Thile nach einer Reaktion des Staatsministeriums auf den Patententwurf, vgl. GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787, Bl. 342. 348 Berdahl nahm irrtümlich an, dass die ablehnende Haltung von Radowitz im Sommer 1847 das



3. Die Adelsreform der 1840er Jahre 

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litische Vorhaben endgültig zu begraben. Aber es sollte sich zeigen, dass, kaum dass der Staub der revolutionären Ereignisse sich etwas gelegt hatte, der König hartnäckig seine Pläne wieder aufgriff. In einem späteren Kapitel wird daran anzuknüpfen sein.349 Fazit Durch die königliche Initiative Friedrich Wilhelms IV. war die administrative Spitze des preußischen Staates den gesamten Vormärz hindurch bis zur Revolution mit Fragen und Herausforderungen einer neuen, systematischen Adelspolitik konfrontiert worden. Worin bestehen die entscheidenden Eigenschaften des Adels, insbesondere des preußischen Adels? Wie wäre der preußische Adel nach diesen Eigenschaften neu zu ordnen? Wie und nach welchen Kriterien sollten sich diese Eigenschaften, seine „Adligkeit“, zukünftig vererben? Welche Angehörigen des Bürgertums wären nach diesen Parametern der „Adligkeit“ für adelswürdig zu identifizieren? Auch wenn ein eigentliches Adelsgesetz, oder besser: Adelspatent letztlich aufgrund der Revolution in Preußen unterblieb, so ist doch festzuhalten, dass sich bei den Auseinandersetzungen über diese Fragen gezeigt hatte, dass innerhalb der hohen Staatsverwaltung (und des extern hinzugezogenen Beraterkreises) bei allen Differenzen über die generelle Richtung und die einzusetzenden Mittel einer solchen neuen Adelspolitik die Ansicht geteilt wurde, dass eine „adels(re)formierende“ Politik in jedem Falle notwendig und wünschbar war, um einer generell empfundenen Adelskrise steuern zu können. Blieb aber dieses Paradigma über die Wünschbarkeit, ja Notwendigkeit adelsreformerischer Eingriffe der Politik und des Verwaltungshandelns auf den Austausch von Ideen und Gutachten beschränkt? Oder zeitigen die bisher identifizierten Tendenzen der Staatsverwaltung zu einem latenten administrativen „social engineering“ der Gesellschafts- und Adelsverhältnisse auf der Grundlage „katechontischer“ Strategien Konsequenzen? Schlugen sich diese in adelspolitischen Entscheidungen und Verwaltungshandeln nieder? Erfolgte über das Verwaltungshandeln gar eine latente „Formierung“ von Adelsstrukturen, z.B. über Verrechtlichungsprozesse? Wäre also insofern den in den bisher zu Tage tretenden Positionen, Verwerfungen und Gegnerschaften, aber auch den erzielten Kompromissansätzen und Tendenzen eine gewisse Handlungsrelevanz zuzusprechen? Und welche Erwartungen der Administration gegenüber dem Adel traten dabei hervor? Auf der Suche nach möglichen Äquivalenzen und Wirkungen des inneradministrativen Adelsreformparadigmas soll aber zunächst der Blick auf darauf gerichtet werden, ob und inwiefern sich auch außerhalb dieses oben behandelten, eng

Adelspatent verhindert hätte. Auch Kalm irrte sich offensichtlich, als er seinerseits annahm, dass es Thiles Kritik gewesen sei, die den Plan einer Adelsreform noch vor 1848 zu Fall gebracht hätte, vgl. Ders., Heroldsamt, S. 42. 349 Vgl. Teil III. Kap. 4.3.3.

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 Teil II: Was ist Adel in Preußen?

begrenzten administrativen Kreises entsprechende Vorgänge und geistige Bewegungen im weiteren (preußischen) Adel finden lassen. Radowitz hatte ja festgestellt, dass eine eigentliche Adelsreform durch den Adel selbst geleistet werden müsse – der Staat könne dazu nur Hilfen geben. Fand die königliche Initiative also eine Resonanz im Adel oder blieb sie völlig isoliert? Welche außeradministrativen Versuche und Anstrengungen gab es zu einer Adelsreform (in Preußen), bzw. einer dieser vorausgehenden adligen Sammlungsbewegung? Und falls es sie gab: in welchem Verhältnis standen ihre Inhalte und Konfliktlinien zu der inneradministrativen Adelsreformdebatte? Mit anderen Worten: wie repräsentativ waren die Vorgänge innerhalb der preußischen Staatsleitung für Konflikte in der weiteren Adels-„Gesellschaft“ in Preußen (und Deutschland)? Welche Resonanzen und Entsprechungen fanden die administrativen Versuche zu einer stringenteren, rationaleren, zugleich staatsorientiertutilitaristischen Adelsformierung? Und damit für eine rechtliche aber auch mentale Egalisierung und Hybridisierung der unterschiedlichen Adelslandschaften und ihrer Traditionsbestände? Diesen Fragen wird im folgenden III. Teil nachgegangen.

Teil III. Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Die Adelszeitung nach Christi Geburt

Was bringt die Adelszeitung Neues? Sie bringt die alte Herrlichkeit, Das alte Glück der alten Zeit, Der Deutschen alten Preis und Ruhm: Das heilige deutsche Adelstum. Was bringt die Adelszeitung Neues? Sie bringt, was ihr von alters wisst. Dass uralt aller Adel ist, Denn eh die Welt den Heiland sah, War schon der deutsche Adel da

Was bringt die Adelszeitung Neues? Sie bringt und singt den alten Sang, Dass aus der Götter Schoß entsprang Des Adels echtes Reis, Der armen Menschen Ehrenpreis.

Was bringt die Adelszeitung Neues? Sie bringt und singt das alte Lied, Das alte Lied vom Unterschied Und, dass ein göttergleich Geschlecht Verdient ein eignes Menschenrecht

Was bringt die Adelszeitung Neues? Sie bringt den alten Satz zurück, Dass Fürstenheil und Völkerglück Und alles Gute dieser Welt Nur mit dem Adel steht und fällt.

Was bring die Adelszeitung Neues? Sie bringet uns das Alte nur: Dass jede Bürgerkreatur Nie ein Verdienst hat um den Staat, Solang sie nicht den Adel hat

Was bringt die Adelszeitung Neues? Sie bringt das einzige Neue nur, Dass auf des Vaterlandes Flur Stammbäume wieder gut gedeihn – Gott wollt uns allen gnädig sein! Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1840aus „Unpolitische Lieder“, I. Teil

4.

Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma?

In der vormärzlichen Adelsdebatte der preußischen Staatsverwaltung hatte sich ein regelrechtes „Adelsreformparadigma“ gezeigt, d.h. die konsensfähige Überzeugung, dass eine zielgerichtete Formierung des preußischen Adels wünschenswert, ja notwendig sei, um dieser sozialen Formation, die aus staatspolitischen Gesichtspunkten noch immer unverzichtbar schien, eine Zukunft zu sichern. Den möglichen Formierungswirkungen dieses inneradministrativen „Adelsreformparadigmas“ soll im III. Teil nachgegangen werden. Dabei ist zu fragen, ob dieses Paradigma auch außerhalb der preußischen Staatsverwaltung in weiteren Kreisen des Adels geteilt wurde. Welche Resonanz fanden dort die Bemühungen um eine Adelsreform durch Friedrich Wilhelm IV.? Wie bereit zeigte sich der Adel, eine solche Reform seiner binnenständischen Strukturen, solche staatspolitisch bestimmten Erwartungen an seine ideellen und Mentalitätsgehalte zu akzeptieren, ja diesen sogar durch eigene Initiativen entgegenzukommen? Waren die (preußischen) Adelslandschaften für eine solche standespolitische Konzentrations- und Sammlungspolitik bereit? Dazu soll die parallel zu den preußischen Adelsreformdebatten der Administration gebildete Kommunikationsplattform der „Zeitung für den deutschen Adel“ untersucht werden, sowie verschiedene Aufrufe und Initiativen zu einer organisatorischen Sammlung des Adels. Dieses Kommunikationsorgan wie auch die Ziele von Sammlungsprojekten wiesen zwar einesteils deutlich über den preußischen Rahmen hinaus. Dennoch bewahrten sich in diesen starke preußische Bezüge und Schwerpunkte: aufgrund des geographischen und politischen preußischen Ausgreifens im Deutschen Bund erhielt selbst eine Adelspolitik, die im deutschen Rahmen agierten wollte, starke preußenbezogene Züge. Welche Schwerpunkte und Präferenzen hinsichtlich einer „Adligkeit“ zeigten sich also in diesen Beiträgen und Programmen? Welche Tendenzen einer Formierungsbereitschaft und zu Neudeutungen adliger Traditionsbestände offenbarten sich darin?

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

4.1. Die Adelszeitung – ein Instrument der kommunikativ-ideellen Formierung des Adels? Im April 1840 veröffentliche Friedrich Engels unter dem Pseudonym „Friedrich Os­wald“ im Telegraph für Deutschland ein „Requiem für die Deutsche Adelszeitung“.1 In beißendem Sarkasmus eröffnete er seine Abrechnung mit dem Blatt, indem er deren im Vorjahr veröffentlichten Subskriptionsaufruf zitierte. Dieser gipfelte in dem Ausspruch Napoleon Bonapartes: „Le journalisme est une puissance“.2 Engels nahm dieses Zitat als Beleg dafür, dass das Anliegen der Adelszeitung alles andere als „mittelalterlich“, bzw. „gedankenlos“ zu verstehen sei. Er erkannte den eminent politischen, keineswegs „romantischen“ (im Sinne von nostalgischen) Charakter dieser Publikation. Der gedachten Zielgruppe widmete er eine ausführliche Karikatur – eine groteske adlige Familienszene junger, arroganter Herren namens „Theoderich von der Neige“ (!), „Siegwart“ und „Giselher“, die, ausgerüstet mit Reitstiefeln und der unvermeidlichen Reitpeitsche, Jagdhunde und Untergebene kujonierten, während der Herr Papa im Sessel mit dem Studium eines alttestamentarischen Stammbaums im ersten Buch Mose beschäftigt war, bis er voller Rührung die Adelszeitung zu Gesicht bekam. Schließlich wandte Engels seinen Spott den beiden adligen Herausgebern des Blattes zu, Ludwig von Alvensleben und Friedrich de la Motte Fouqué. Den ehemaligen Berufsoffizier und Schriftsteller Carl Ludwig Friedrich Wilhelm Gustav von Alvensleben, der seit Jahrzehnten sein bescheidenes Auskommen als Übersetzer und Verfasser zahlreicher romantischer Erzählungen und Ratgeberliteratur fand, parodierte er wie seinen Mitherausgeber Friedrich de la Motte Fouqué als ritterlichen Begleiter der „anmutigen Dame“ Adelszeitung auf ihrem „Papierzelter“. Auf diesem ritten sie stolz in die moderne Welt ein. Und nachdem der „Ritter“ Alvensleben sein Streitross zuvor ausgiebig über französische Schundliteratur hätte paradieren lassen, so Engels, ginge es nun gegen bürgerliche Flegel zu Felde. Doch der edle Held Alvensleben sei vorzeitig vom Pferd gefallen, und an seiner statt hätte es „Herr Friedrich, Baron de la Motte Fouqué“ übernommen, seine „Rosinante“, das „alte blinde Pferd“, das selbst in seinen besten Tagen niemals wohlgenährt gewesen sei und während seines langen Aufenthaltes im Stall seine Hufeisen verloren hätte, in den Kreuzzug gegen die Ideen der Zeit zu führen. Seine auf den Bürgerstand gerichtete „verbogene Lanze“ hätte er

1 Hier zitiert nach: Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), Band 3, Friedrich Engels: Werke, Artikel, Entwürfe bis August 1844, Text 98, Apparat 820. Original in: Telegraph für Deutschland, Nr. 59 und 60 (April 1840), verlegt von Hoffmann und Campe, bzw. von Julius Campe in Hamburg, vgl. Sybille Obenaus, Literarische und politische Zeitschriften 1830-1848, Stuttgart 1986, S. 13-15; und dies., Literarische und politische Zeitschriften 1848-1880, Stuttgart 1987, S. 18. 2 Engels bezog sich auf die „Ankündigung und Einladung zur Subscription auf die mit dem 1. Januar 1840 erscheinende Zeitung für den Deutschen Adel“ wie sie unter anderem im „Sprecher oder Rheinisch-Westphälischer Anzeiger“ Nr. 69 am 28. August 1839 veröffentlicht worden war.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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dagegen in einem geschickten Vorwort verborgen, das einer ausführlichen Besprechung würdig sei.3 Engels hatte sein „Requiem“ jedoch zu früh angestimmt. Die offenbar schon im ersten Erscheinungsjahr kursierenden Gerüchte um eine Einstellung der Adelszeitung erwiesen sich als voreilig. Tatsächlich erschien die „Zeitung für den deutschen Adel“ noch bis 1844 unter diesem Namen, um anschließend unter dem Titel „Panorama der Vergangenheit und Gegenwart“ bis 1845 ein allerdings wenig glamouröses Dasein zu fristen.4 Nicht nur in diesem Punkt täuschte sich Engels. Wie auch seine Zeitgenossen Hoffmann von Fallersleben oder der junge Theodor Fontane konnte er in der Stoßrichtung der Adelszeitung kaum mehr als reaktionären Ausfluss des „geballten Hass(es) einer untergehenden Klasse“ (Classen) erkennen – grotesk, anachronistisch und unbeholfen in Stil wie in der Zielsetzung.5 Tatsächlich repräsentierte dieser Versuch, ein Presseorgan für den gesamten deutschen Adel etablieren zu wollen, ein hoch innovatives Vorhaben adliger Selbstorganisation. Die „Zeitung für den Deutschen Adel“ ist das wohl früheste Beispiel des Versuchs, eine überregionale Kommunikationsplattform, jenseits überkommener landschaftlicher, konfessioneller oder binnenständischer Grenzen, für den ganzen deutschsprachigen Adel des Deutschen Bundes zu schaffen. Nicht umsonst bezeichnete Fedor v. Zobeltitz in seiner historischen Würdigung die Adelszeitung als Vorläufer des „Deutschen Adelsblatts“.6 Die Lancierung der Adelszeitung ist nicht nur ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass und wie im Vormärz konservative Kräfte durch

3 Anspielung an das „Vorwort an unsere Leser“ der ersten Nummer der „Zeitung für den deutschen Adel“, vom 1. Januar 1840. 4 „Zeitung für den deutschen Adel“, Leipzig, 1840-1844. Danach als „Panorama der Vergangenheit und Gegenwart“ bis 1845, u.a. in Altenburg weitergeführt. Zu ihrer verlegerischen und redaktionellen Entwicklung siehe unten. 5 Vgl. das Spottgedicht auf die Adelszeitung von Hoffmann von Fallerslebens Gedicht „Die Adelszeitung nach Christi Geburt“ von 1840, in der Einleitung dieses Kapitels. Zu Theodor Fontanes Spottgedicht „Die Adelszeitung“ (ca. 1842) vgl. Jens Erik Classen, Altpreußischer Durchschnitt. Die Lyrik Theodor Fontanes, Frankfurt a. M., 2000, Kap. III, Der geballte Hass einer untergehenden Klasse – „Die Adelszeitung“, S. 31-37, u. Anhang S. 238f. Zu weiteren zeitgenössischen Angriffen auf die Adelszeitung vgl. dieselbe: Nr. 65 (u. Nr. 66 Fortsetzung), Mittwoch 12. August 1840, S. 257-258, „Erwiderung an den Verfasser des Aufsatzes: An den deutschen Adel, über die Zeitung für den deutschen Adel (Minerva, Januarheft 1840)“. Darin beklagte Friedrich de la Motte Fouqué vor allem die Anonymität der Angriffe. 6 Fedor v. Zobeltitz, „Ein Vorläufer des Adelsblattes“, in: Adelsblatt Jg. 50, 1932, S. 109-110. Seit dem 18. März 1883 erschien als „Wochenschrift für die Interessen des deutschen Adels beider Confessionen“ die Zeitschrift „Deutsches Adelsblatt“ (DABl.). Schon auf dem Adelstag der DAG am 17. Februar 1884 wurde beschlossen, das DABl. zum offiziellen Organ der DAG zu machen. Am 1. April 1886 ging die Zeitschrift in den Besitz des „Vereins zur Förderung des Deutschen Adelsblattes“ über. Das Deutsche Adelsblatt erscheint bis heute als Organ der deutschen Adelsverbände. Zunächst im Eigenverlag der „Deutschen Adelsgenossenschaft“ wird es derzeit vom Verlag Deutsches Adelsblatt GmbH veröffentlicht.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

eine offensive Pressepolitik Raum in der öffentlichen Debatte gut zu machen suchten.7 Repräsentierte diese Zeitung einerseits einen völlig neuen Ansatz adlig-ständischer Selbstvergewisserung und des Versuchs, überkommene Standesbegriffe neu zu deuten und anzupassen, so verweist ihr letztliches Scheitern zugleich auf die Grenzen dieser Möglichkeiten und der generellen Vermittelbarkeit einer adligen Sammlungspolitik über die vielfältigen Adelslandschaften im damaligen Deutschland hinweg. Bisher wurde die Adelszeitung in der Forschung überhaupt nicht wahrgenommen.8 Das ist aufgrund ihrer engen Verbindung mit so prominenten Akteuren wie dem romantischen Dichter Fouqué, und über diese Persönlichkeit mindestens indirekt auch mit Friedrich Wilhelm IV., mehr als erstaunlich.9 Der Blick auf die Entste-

7 So widerspricht die Adelszeitung dem in der Forschung lange vorherrschenden Bild des Verhältnisses konservativer Gruppen gegenüber der zeitgenössischen Presse: deren Widerwille gegenüber der Idee der politischen Partizipation der breiteren Öffentlichkeit eine habe eine Anerkennung der Pressemacht seitens der traditionellen Eliten bis 1848 verzögert, vgl. Sybille Obenaus, Zeitschriften, S. 74. 8 Tatsächlich findet sich selbst in einem Bittschreiben Friedrich de la Motte Fouqués an den Kronprinzen um eine Erhöhung seiner Militärpension vom April 1840 (!), also Monate nach Beginn seiner Arbeit für die Adelszeitung kein Wort über diese Tätigkeit, bzw. den sich daraus ergebenden finanziellen Konsequenzen. Im selben Brief erwähnt Fouqué, dass seine neuestes, dem Brief beiliegende „Werkchen“ allein dank einer finanziellen Unterstützung seines Stiefsohns, des Innenministers Gustav v. Rochow, zustande kam: „[...] – ein Mann, den ich überhaupt, mancher Differenz zwischen uns unerachtet, mit freudigstem Stolz meinen Stiefsohn nenne“. Dies war allerdings eine freundlichbeschönigende Umschreibung seines tiefen Zerwürfnisses mit der Familie seiner ehemaligen Frau Caroline, geschiedene/verwitwete v. Rochow. Der Kronprinz gewährte auf dieses Schreiben auch wirklich eine jährliche Zulage von 300 Talern (nach Fouqués eigener Auskunft lebte er von 800 Talern jährlich). Vgl. Schreiben von Friedrich de la Motte Fouqué an den Kronprinzen Friedrich Wilhelm v. Preußen, 10. April 1840, Halle a. d. Saale; vgl. Teilnachlass des Deutschen Literaturarchivs Marbach a. Neckar, Bestandssignatur: A. Fouqué, Nr. 14. 9 Selbst in der einschlägigen Untersuchung Krolls über die Beziehung Fouqués zu Friedrich Wilhelm IV. wird die Adelszeitung nicht einmal erwähnt: vgl. Kroll, Friedrich Wilhelm IV., S. 46-53, hier bes.: S. 51. Tatsächlich haben sich nach Auskunft Krolls der König und Fouqué in dieser Korrespondenz ausschließlich über private und dichterische Themen ausgetauscht (ebd. S. 49). Eine eigene stichprobenartige Überprüfung des Briefwechsels Friedrich Wilhelms IV. im Staatsarchiv Berlin/Dahlem ergab ebenfalls einen nur negativen Befund. Allerdings stellt Kroll auch den oben angesprochenen, dezidiert politischen Charakter der Fouquéschen „Gespräche zweier Edelleute“ und seines veröffentlichten Briefwechsels mit Perthes („Etwas über den deutschen Adel“) nicht heraus. Krolls kontrastierender Gegenüberstellung der jeweiligen Verhältnisse Fouqués und Bettina von Arnims zu Friedrich Wilhelm (vgl. S. 53-61) welches letztere er als dezidiert „politisch“ bezeichnet, kann jedoch nur schwer zugestimmt werden. Fouqué war ganz vergleichbar zu Achim von Arnim „nicht nur Poet“. Umgekehrt erscheint die Exklusivität, mit der Kroll den Einfluss der Fouquéschen Romantik auf Friedrich Wilhelm als Ursachen und Motivationen für dessen Staats- und Verfassungsideale verantwortlich macht, als zu überbetont. Die enge Affinität im politischen Denken und der emotionalen Haltung zwischen Friedrich Wilhelm und Fouqué lässt sich wohl eher auf die parallelen biographisch-generationelle Erfahrungen zurückführen – der Dichter hat den späteren Monarchen wohl nicht so sehr geformt, als dass sich beide (und speziell der Kronprinz den Dichter und dessen Werk) „gefunden“ hatten.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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hungsgeschichte und den Inhalt dieser Publikation eröffnet nun eine völlig neue Perspektive auf das Wirken des Dichters Fouqué, der keineswegs nur poetisch auf seine Zeit einwirken wollte. Vielmehr verstand er seine Dichtung selbst als politischen Akt.10 Aus diesem Blickwinkel erscheint auch eine Neubewertung des „poetisierte(n) Bild(s) der „heilen“, mittelalterlichen Feudalkultur“, wie es Fouqué als „Richtschnur und Maßstab für die Gestaltung der eigenen politischen Gegenwart“ (Kroll) entwarf, als überfällig: Gerade im Kontext der Adelszeitung wirkt die literarische Produktion Fouqués keineswegs „naiv“ und „weltfremd“ sondern als politisches Strategem. Ganz wie im Falle Friedrich Wilhelms IV. verdient die nicht nur rhetorisch-literarisch sondern praktisch umsetzungsorientierte Funktion des romantischen Mittelalterideals eine Neubewertung.

4.1.1.

Der Beginn der „Zeitung für den deutschen Adel“

Das Gründungsvorhaben einer „Zeitung für den Deutschen Adel“ fiel in die letzte Phase der Regierung Friedrich Wilhelms III. Carl Ludwig Friedrich Wilhelm Gustav von Alvensleben setzte in einem Schreiben vom 13. August 1839 den preußischen Minister des Königlichen Hauses, Fürst von Sayn-Wittgenstein, darüber in Kenntnis. Alvensleben bat in seinem Schreiben den Minister, den König über die beabsichtigte Publikation zu informieren, und wenn möglich dessen aktive Unterstützung durch Subskription der Zeitung zu erreichen.11 Alvensleben unterstrich in seinem Schreiben den „zeitgemäßen“ Charakter des Unternehmens, welches durch den „anständigsten, ruhigsten und gemessendsten Tone eine würdevolle und dadurch imponierende Haltung“ zum Ausdruck bringen sollte. Ja mehr noch: er verpflichtete sich, „die mir etwa zukommenden Winke höherer Personen pünktlich zu beachten und zu verfolgen“. Dies kam dem Vorschlag gleich, dem preußischen Staat ein privates Unternehmen zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung anzubieten, und als Mittel zur Formierung adlig-ständischer Interessen einzusetzen. Überraschen konnte ein solches Ansinnen kaum: war es doch allgemein bekannt, dass Preußen eine durchaus aktive Pressepolitik betrieb, die nicht nur einheimische Zeitungen finanziell unterstützte, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, sondern über die sächsische Pressestadt

10 Fouqué selbst bezeichnete z.B. in einem früheren Schreiben an Friedrich Wilhelm seine Liedersammlung „Die Weltreiche“, die er zu Anfang des Jahres 1835 an den Kronprinzen gesandt hatte, als „die poetische Blüthe meiner politischen Vorlesungen“; vgl. Schreiben von Friedrich de la Motte Fouqué an den Kronprinzen Friedrich Wilhelm v. Preußen, 13. August 1835, Halle a. d. Saale, in: Teilnachlass des Deutschen Literaturarchivs Marbach a. Neckar Bestandssignatur A. Fouqué, Nr. 13. 11 GSTAPK I. HA Rep. 100 A, Nr. 3759 (Ministerium des Königlichen Hauses, betr. geplante Herausgabe einer Zeitung für den deutschen Adel durch L. v. Alvensleben 1839), unpaginiert.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Leipzig auch außerpreußische Medien mit einbezog.12 Alvensleben versäumte nicht darauf hinzuweisen, dass eine solche Konstellation zwischen offiziellen Stellen der Staatsadministration und einer privatwirtschaftlichen Zeitung besonders geeignet sei: Könnte mich nun bei diesem Streben auf der einen Seite das Gefühl einschüchtern, daß mein Adelsrang und meine Stellung nicht hoch genug sind, um an der Spitze eines solchen Institutes zu stehen, so gereicht mir doch auf der anderen Seite der Umstand zur Ermuthigung, daß höher gestellte Männer sich schwerlich durch Nennung ihres Namens den mancherlei Unannehmlichkeiten und Anfeindungen auszusetzten geneigt gewesen wären, welche bei der offen an den Tag gelegten Tendenz der Adelszeitung von den meisten der jetzt existierenden Zeitschriften kaum ausbleiben werden; So wie auch noch der Umstand, daß ich vielleicht aus eben diesem Grunde der Herausgabe um so mehr geeignet sein dürfte, wenn es mir gelingt einen hohen Protector zu finden, der geneigt ist, dem Blatte die Unterstützung zu verleihen, ohne die ein ähnliches Institut auf die Dauer kaum bestehen kann; [...].

Diesem Anschreiben lag neben dem Subskriptionsschein eine von Alvensleben als Redakteur und vom Verleger Heinrich Franke aus Leipzig als gleichberechtigtem Herausgeber unterzeichnete „Ankündigung und Einladung zur Subscription“ bei.13 Darin umrissen die beiden Herausgeber die selbst gestellte Aufgabe der Zeitung folgendermaßen: es sei notwendig, auch dem Adel, als dem „Schutzwall aller monarchischer Staaten und deren Einwohner“ und „kräftigste[n] Wehr der Fürsten“, ein „Organ“ der Öffentlichkeit zu verschaffen. Im Einzelnen werde beabsichtigt die Vorrechte, die der Adel über Jahrhunderte aufgrund „glänzender Thaten seiner Geschlechter“ und „edle[r] Aufopferung seiner einzelnen Mitglieder für das Wohl der Fürsten und Völker“ erworben habe, so weit sie noch existierten“ und „ohne Angriffe auf irgend einen anderen Stand“ zu verteidigen. Dazu bemühten die Herausgeber das Bild der „Adelskette“, die nun auf neue Weise fester und bewusster miteinander verknüpft werden sollte.14 Der Adel sollte über die Zeit- und geographischen Grenzen hinweg miteinander ins Gespräch gebracht werden.15 Ausdrücklich sollte dabei alle Polemik aus dem Plane der Adelszeitung „gänzlich verbannt“ sein, wohl um einer adelskriti-

12 Dies geschah z.B. über finanzielle Zuwendungen für quasi „offiziöse“ Presseorgane, vgl. Lothar Dittmer, Beamtenkonservatismus und Modernisierung: Untersuchungen zur Vorgeschichte der konservativen Partei in Preußen 1810-1848/49, Stuttgart 1992. 13 In dieser „Ankündigung“ wurde das Erscheinen der Zeitung auf wöchentlich zwei Nummern „in dem Formate dieser Ankündigung“ angegeben, für einen Preis von 8 Talern jährlich. Bestellungen würden durch sämtliche Buchhandlungen, Postämter und Zeitungs-Expeditionen angenommen. 14 Vgl. zur kurzlebigen Adelsvereinigung der „Adelskette“ unten Kap. 4.2.1. 15 „Alle der Tendenz angemessene Mittheilungen über Angelegenheiten des Standes werden willkommen sein, mögen sie allgemeine sein, wie Verhältnisse des Adels zum Hofe, zum Staat, zum Bürger, zu den Landständen, zu den Lehnsunterthanen, zu den Gläubigern, zu den Ritterschaften etc. oder speciell-persönliche über irgend ein besonderes Adelsverhältniß; bei allen Mittheilungen, wo dieses verlangt wird, namentlich aber bei denen der letzteren Art, sichert die Redaction die unbedingteste Verschwiegenheit und Discretion zu.“, vgl: „Ankündigung und Einladung zur Subscription“, in:



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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schen Öffentlichkeit eine geringere Angriffsfläche zu bieten und so auch eine breitere Akzeptanz beim zeitgenössischen adligen Publikum zu finden: „Die Stellung, welche die Zeitung für den deutschen Adel einzunehmen beabsichtigt, soll keine herausfordernde, angreifende, negierende sein, sondern eine standhaft defendierende.“ Zur Unterstützung des Projektes erbat Alvensleben neben der direkten finanziellen und der persönlichen Subskription Wittgensteins auch die Überlassung offizieller Mitteilungen über die Ernennungen, Beförderungen und anderer Entscheidungen durch das Sekretariat des Ministeriums des Königlichen Hauses. Eine eigene Rubrik der zukünftigen Zeitung könne damit bestritten werden. Doch mit seinem Gesuch um eine persönliche wie auch offizielle Unterstützung des Vorhabens scheiterte Alvensleben. In einem Antwortschreiben vom selben Tag beschied ihm Wittgenstein, dass er sich nicht in der Lage sehe, das erwünschte Wort beim König einzulegen. Alvensleben solle sich direkt an den König wenden. Auch sehe er sich nicht in der Lage, „zur Zeit auf die von Ihnen beabsichtigte Zeitung zu subscribieren“. Betreffend der erhofften Benachrichtigung der „Zeitung für den Deutschen Adel“ über die „vorgekommenen Ernennungen, Beförderungen pp“ erklärte Wittgenstein, dass „alle solche Bewilligungen durch die öffentlichen Blätter der hiesigen Residenz ungesäumt bekannt gemacht werden“, mithin also eine eigene Rubrik in einem speziellen Organ überflüssig wären. Unklare Beziehungen der Adelszeitung zur preußischen Regierung Nichtsdestoweniger erschien am 1. Januar 1840 die erste Nummer der „Zeitung für den deutschen Adel“. Dass Wittgensteins Antwort nicht das letzte Wort seitens der offiziellen Stellen der preußischen Regierung gewesen sein konnte legt nicht nur der Inhalt der Zeitung nahe. Vielmehr zeichneten hochrangige Mitglieder des Hauses Hohenzollern die Subskription. Dazu kamen Namen des hohen und bekannten Adels der preußischen Monarchie.16 Auch inhaltlich war der überwiegende Teil der Artikel und Beiträge der Zeitung stark auf Preußen und ein preußisches Publikum ausgerichtet. Wie in vergleichbaren Fällen wurde über den „Umweg“ der weit weniger zensierwütigen Verlagsstadt Leipzig die preußische Öffentlichkeit gesucht. Und nicht nur der Name Alvensleben, sondern auch die zentrale Rolle de la Motte Fouqués lassen die „Zeitung für den deutschen Adel“ als ein schwerpunktmäßig „preußisches“ Unternehmen erscheinen. Dass dieses finanziell riskante Projekt, das, wie nicht zuletzt die dem Engelschen „Requiem“ zugrunde liegenden Gerüchte offenbarten, von Anfang an mit finanziellen Engpässen zu kämpfen hatte, dennoch über fünf, bzw. sechs Jahrgänge bestehen konnte, spricht für eine tatkräftige Unterstützung von dritter Seite, hinter der

GSTAPK I. HA Rep. 100 A, Nr. 3759 (Ministerium des Königlichen Hauses, betr. geplante Herausgabe einer Zeitung für den deutschen Adel durch L. v. Alvensleben 1839), unpaginiert. 16 Vgl. unten Kap. 4.1.3. zu den Subskribenten.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

nicht zuletzt die preußische Regierung vermutet werden kann. Leider ist es im Zuge dieser Untersuchung nicht gelungen, eine solche Verbindung nachzuweisen.17 Andererseits markiert die kühl-ablehnende Einschätzung durch Innenminister v. Rochow anlässlich einer durch die Adelszeitung angestoßenen Privateingabe deutliche Vorbehalte der politischen Zentrale gegenüber den Strategien und der adelspolitischen Linie dieser Publikation. Angeregt durch die in der Adelszeitung diskutierten Vorschläge für eine nicht zuletzt materiell-finanzielle Stützung des Adelsstandes, hatte im März 1840 ein auf der Bundesfestung Luxemburg stationierter Premierlieutenant v. Rekowsky einen entsprechenden Vorschlag an den König gesandt, in der er die Einrichtung einer „Tontine“ anregte, aus deren Gewinnen bedürftigen Adligen eine Unterstützung zukommen solle.18 Der König erbat darüber die Prüfung bzw. ein Gutachten seitens Wittgensteins. Dieser wandte sich an Rochow, da die Vorschläge Rekowskys nicht allein die „persönlichen Landesangelegenheiten“ des Adels berührten, sondern auch die Frage einer staatlichen finanziellen Unterstützung desselben.19 Rekowsky hatte die Bildung eines Adelsvereins vorgeschlagen, der sich der Organisation und Verwaltung einer standesinternen Versicherung widmen sollte, eben der „Tontine“.20 Rochow betrachtete eine solche Einrichtung als „Glücksspiel“ und hielt

17 In den preußischen Zensurakten taucht die Adelszeitung nur kurz und ohne Verweis auf eine nähere Verbindung zur preußischen Regierung auf. So antwortete der Oberpräsident der Provinz Sachsen, Flottwell, am 11. Dez. 1841 an den Geheimen Justizrat Professor Dr. Pernice in Halle wegen dessen Gesuchs einer erleichterten Zensur der Adelszeitung (diese solle am Ort des Verkaufs – Nordhausen – zensiert werden, um ihre Verteilung zu beschleunigen): beim Inhalt der Adelszeitung käme es nicht auf Geschwindigkeit der Verbreitung an, wie bei Tageszeitungen. Denn: „Bei einem Blatte aber, welches die speziellen Interessen eines Standes vertritt und so hochgestellte Abonnenten hat, ist eine sorgsame Censur eines durchaus qualifizierten Censors zur Vermeidung jeder Reibung oder mißfälligen Bemerkung unerlässlich und als solcher kann der Bürgermeister Goetling [der beantragte Ortszensor, G. H.] dortselbst nicht anerkannt werden [...].“ Vgl. GSTAPK I. HA Rep. 77 Ministerium des Inneren Tit. 2 Spez. Lit. A Nr. 40 (betr. der v. L. v. Alvensleben hrsg. bei Heinrich Franke in Leipzig verlegten „Zeitung für den deutschen Adel“ 1839-1841), Bl. 10. 18 Vgl. die Überlieferungen dieses Vorganges in: GSTAPK I. HA, Rep. 100 A, Nr. 3761 (Ministerium d. Königl. Hauses, Antrag von Rekowskys auf Bildung eines Adelsvereins 1840), Bl. 1-40, sowie die teilweise Parallelüberlieferung in GSTAPK Rep. 89, Nr. 919 (Allgemeine Bestimmungen in Adelsachen und Inhaltsverzeichnis der Akten über allgemeine Bestimmungen 1824-1874,bzw. 1798-1915), Bl. 3640. 19  Die Eingabe Rekowskys ist schon von Sigmund Neumann knapp und allgemein erwähnt worden. Neumann las diese Eingabe vor allem als Beleg für die prekäre Lage des preußischen Offiziersadels: so berichtete Rekowsky mit ausdrücklicher Zustimmung, ja sogar auf Anweisung seines vorgesetzten Generals der Kavallerie v. Borstell, dass nur ein Drittel der adligen Militärs zu Offizieren befördert waren, vgl. Ders., Stufen, S. 32, u. Anmk. 28. Der Brief Rekowskys vom 28. März 1840 in: GSTAPK I. HA, Rep. 100 A, Nr. 3761 (Ministerium d. Königl. Hauses, Antrag von Rekowskys auf Bildung eines Adelsvereins 1840), Bl.13-14. Anbei Bl. 15-38 der ausgearbeitete Vorschlag zur Bildung eines Adelsvereins, sowie Bl. 40-43 eine beiliegende Probenummer der „Zeitung für den deutschen Adel“. 20 Das Modell der „Tontine“ ist von dem Italiener Lorenzo Tonti entwickelt worden. 1663 ist diese besondere Form einer Lebensversicherung in Frankreich und später in die Versicherungspraxis der



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es für eine besonders gefährliche Idee, dass sich der Adel in spekulativen Finanzierungsmodellen beteiligen solle: Daß diese Idee den Verfasser der Immediat-Eingabe zu so umfassenden Vorschlägen begeistern konnte, läßt mehr auf seine lebhafte Einbildungskraft als auf seine politische Bildung schließen; beweist aber, daß die Anstrengungen des militärischen Festungsdienstes nicht immer zu schützen vermag gegen die Einflüße des Actien-Schwindels, wovon die Luxemburgische Atmosphäre noch geschwängert ist, und gegen die Täuschungen eines falschen Industrialismus, der sich der heterogensten LebensKreise bemächtigen will, und von denen vor allen der Adel sich fern halten sollte.21

In seinem in indigniertem Ton gehaltenen Schreiben versäumte Rochow nicht zu monieren, dass Rekowskys Vorschlag nur allzu offensichtlich durch die Lektüre der Adelszeitung inspiriert worden war, eine Publikation „[...] die sich durch unpractische und mißverstandene Auffassung ihrer Aufgabe besonders auszeichnet und in der That giebt sich in dem Aufsatze des Premier-Lieutnants von Rekowsky überall diese Quelle genugsam zu erkennen.“ Rochow konnte in diesem Organ offensichtlich keine hilfreiche Stütze für eine staatliche Adelsstützungs- und Formierungspolitik erkennen.22 Wie eng allerdings die Beziehungen dieses Blattes zum preußischen Hof und königlichen Haus tatsächlich waren, erweist sich daran, dass nicht nur der Vetter des Innenministers, Adolf v. Rochow, Hofmarschall bei Prinz Wilhelm und Mitglied der Adelskommission, Subskribent war – und zumindest bei einer Gelegenheit sogar einen Beitrag zu diesem Blatt lieferte: nämlich sein adelspolitisches Gutachten von 1840/41!23

meisten anderen Länder übergegangen. Es handelt sich dabei um eine „Gesellschaft zur gegenseitigen Beerbung“. Die Besonderheit der Tontine besteht darin, dass der Veranstalter keinen Anteil am versicherungstechnischen Risiko der Langlebigkeit trägt; dieses Risiko wird vollständig von der Versichertengemeinschaft getragen. In der modernen Lebensversicherungsmathematik lebt die Tontine insofern fort, als die Versicherungsnehmer über die Überschuss- bzw. Gewinnbeteiligung am tatsächlichen Sterblichkeitsverlauf Anteil nehmen – und damit an diesem Risiko indirekt beteiligt sind. 21 GSTAPK I. HA, Rep. 100 A, Nr. 3761, Bl. 3. 22 Wittgenstein schloss sich Rochows Votum an, und so erging am 2. August 1840 eine auf dieses Gesuch abschlägige Kabinettsordre an die Minister, die diesen Bescheid umgehend an Rekowsky weiterleiteten. 23 Vgl. dazu oben Teil II. Kap. 3.3.1. Darüber hinaus führen die Subskribentenlisten neben dem Prinzen v. Preußen auch die preußischen königlichen Hoheiten Prinz und Prinzessin Friedrich in Düsseldorf auf. Näheres zu den Subskribenten siehe unten Kap. 4.1.3.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

4.1.2.

Die Redaktion und die Herausgeber der „Zeitung für den deutschen Adel“

Schon vor der „Zeitung für den deutschen Adel“ hatte es Versuche gegeben, Adelsinteressen durch das neue Massenmedium der Zeitungen gegenüber einer breiten Öffentlichkeit zu stärken.24 Eine moderne publizistische Initiative in diese Richtung ging z.B. von dem Legationsrat Johann Babtist v. Pfeilschifter im Jahr 1832 aus, der mit den „Blättern für den deutschen Adelsstand“ eine journalistische Vertretung der Interessen des Adels schaffen wollte.25 Doch ohne Erfolg. Offenbar war das adlige Publikum über eine solche Presse noch nicht ausreichend zu mobilisieren.26 Auch die Adelszeitung sollte sich nur schwer halten. Immerhin überstand sie über die Zäsur von Fouqués Tod im Januar 1843 und erschien trotz mehrerer Verlegerwechsel bis 1844, um nach einem Namenswechsel als „Panorama der Vergangenheit und Gegenwart“ noch bis 1845 zu überdauern.

24 Wie z.B. „Das Preußische Adelsarchiv historischen, statistischen und genealogischen Inhalts in zwanglosen Blättern herausgegeben von einem Standesgenossen“, welches in Berlin in mindestens 18 Lieferungen vom August 1824 an erschien und vornehmlich genealogische und heraldische Fragen des norddeutschen Adels behandelte. Der Schriftleiter dieser Publikation, Georg Leopold Reiswitz, Freiherr v. Kaderzin und Grabowska, war Kgl. Preuß. Kriegsrat (1765-1828), Sohn des Königlich Preußischen Hauptmanns Heinrich Wenzel v. Reiswitz. Reiswitz war - nach seiner Tätigkeit als Kgl. Preußischer Regierungsrat – ab 1824 alleinverantwortlich als Herausgeber, Initiator und Hauptverfasser des Adelsperiodikums. 25 Diese „Blätter für den Adelsstand“ erschienen kurzzeitig als Beilage im „Zuschauer am Main. Zeitschrift für Politik und Geschichte“, hrsg. in Aschaffenburg zwischen 1831-1838. Vgl. dazu den erwähnten Beitrag zu dieser Publikation von Graf v. Mirbach, oben Teil I. Kap. 2.4.3. Der Herausgeber, Johann Babtist (seit 1829 v.) Pfeilschifter wurde 1793 in Cham in der Oberpfalz geboren und entstammte kleinsten bäuerlichen Verhältnissen. 1807-1810 besuchte er die königlich-bayerische Studienanstalt in Straubing, danach studierte er Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte an der Universität Landshut, wo er 1815 promoviert wurde. Nach Aufenthalten in München und der Schweiz ließ er sich in Weimar nieder, wo er mit Goethe und Kotzebue in Verbindung trat. Dort versuchte er sich auch in ersten Zeitschriften. 1819/20 wurde er Redakteur der „Zeitung der Freien Stadt Frankfurt“, anschließend ging er als Korrespondent der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ nach Holland, Frankreich, Spanien. Dort wandelte er sich von einem überzeugten Liberalen zu einem entschieden Konservativen. Im Dienste Metternichs gab er schließlich in Offenbach die Zeitschrift „Der Staatsmann“ heraus. 1825 wurde er von dem (zum Katholizismus konvertierten) Herzog Ferdinand v. Anhalt-Köthen zum Legationsrat ernannt, 1829 sogar nobilitiert, wohl um ihn auf eine diplomatische Mission nach Paris vorzubereiten, die er aber nie antrat. Durch seine doktrinär-polternde Art verbaute sich Pfeilschifter aber dauernden publizistischen Erfolg und er verstarb schließlich völlig verarmt in Regensburg. Vgl. Lexikon des Konservatismus, hrsg. v. Caspar v. Schrenck-Notzing, Graz 1996, S. 420-422; und Fedor v. Zobeltitz, S. 109f. 26 „Sie [die publizistischen Vorläufer der Adelszeitung, G.  H.] gingen indes bald wieder ein, weil sie nicht genügend Absatz fanden. Mehr erhoffte der Verlag Franke von Fouqué, war wohl auch der Ansicht, daß sein berühmter Name noch zugkräftig wirken könnte. Aber schon seit etwa 1820 hatte Fouqués Produktion an jener Frische verloren, [...]“, vgl. Fedor v. Zobeltitz, Adelsblatt, S. 109f.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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Fouqués Beziehungen zur Adelszeitung in der Gründungsphase sind allerdings verwirrend und unklar. Nach der Darstellung von Zobeltitz hatte Alvensleben „auf Betreiben Friedrich Wilhelms IV.“ die Übergabe der Redaktion an Fouqué angeboten. Dieser war im Sommer 1840 auf Einladung Friedrich Wilhelms IV. nach Berlin übergesiedelt. Doch zumindest mit der Angabe dieses Zeitpunktes muss Zobeltitz einem Irrtum unterlegen sein, da die Zeitung erstmals im Januar 1840 erschien und schon in dieser ersten Ausgabe eine „Erklärung“ auf der ersten Seite vermerkt, dass Nach freundschaftlichem Übereinkommen mit dem Herrn Baron de la Motte Fouqué [...] derselbe die Redaction der Adelszeitung führen [wird]; als Herausgeber und Mitarbeiter werde ich aber mein Streben mit dem des Baron von Fouqué zur Förderung des gemeinsamen Unternehmens vereinigen.

Außerdem hatte Fouqué schon das in dieser ersten Ausgabe erschienene „Vorwort an unsere Leser“ verfasst. Entweder irrte Zobeltitz grundsätzlich, oder es muß angenommen werden, dass Friedrich Wilhelm schon als Kronprinz (1839) seinen Einfluß geltend machte, als Fouqué noch in Halle a.d.S. lebte. Die oben zitierte „Erklärung“ vom 1. Januar 1840 spricht immerhin dafür, dass Alvensleben erst nach einem Streit von der Chefredaktion zurücktrat und sie Motte Fouqué überließ – was für eine Intervention von „höherer“ dritter Stelle spräche. Wandte sich Alvensleben nach seinem erfolglosen Gesuch über das Hausministerium (Wittgenstein) also tatsächlich direkt an den König und erreichte so den Kontakt zum Kronprinzen? Worauf dieser ihm Fouqué zur Verfolgung seines Vorhabens empfahl und weitere Unterstützung gab? Dies sind alles noch offene Fragen. Nach einer weiteren unklaren Formulierung von Zobeltitz ging die Initiative zum Engagement Fouqués jedoch vom Verleger aus, der sich von dem immer noch bekannten, wenn auch nicht mehr überaus populären Namen Fouqué mehr Zugkraft für seine Publikation erhoffte – es muss demnach vorerst leider ungeklärt bleiben, von welcher Seite die Initiative zum Engagement Fouqués ergriffen wurde.27 Alvensleben selbst war allerdings eine schillernde Gestalt, und seine abenteuernde adlige Grenzexistenz war wohl nicht geeignet, dem gewagten Unternehmen Adelszeitung seriöse Reputation einzubringen.28 Als ein gern gelesener Schriftsteller

27 Eigene Recherchen über diese Zusammenhänge blieben leider erfolglos. Arno Schmidt, der sonst eigentlich alles über Motte Fouqué wissen konnte was heutigen Historikern aufgrund der vernichteten Quellen kaum je wieder rekonstruierbar sein wird, hat über eine solche Beziehung Friedrich Wilhelm IV. zur Adelszeitung ebenfalls nichts zu berichten, vgl. Arno Schmidt, Fouqué und einige seiner Zeitgenossen. Biographischer Versuch, (Bargfelder Ausgabe), Bargfeld 1993,§ 61, S. 548f. 28 Carl Ludwig Friedrich Wilhelm Gustav von Alvensleben besaß eine ausgesprochene Außenseiterbiographie. Er wurde am 3. Mai 1800 in Berlin geboren und starb in Wien am 3. August 1868. Ludwig v. Alvensleben hatte eine ungewöhnliche adlige Abstammung. Zum einen war er der Sohn des unehelich geborenen jedoch 1787 mit einer preußischen Adelslegitimation versehenen Majors August v. A. (1775-1819) und seiner Frau Charlotte Gräfin v. Schlippenbach (1777-1831). Die Mutter dieses Majors v.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

war er an zahlreichen Theatern vorübergehend beschäftigt, so auch 1836 als Intendant des Meininger Hoftheaters, bevor er vom Verleger Franke in Leipzig für die Herausgeberschaft der „Zeitung für den deutschen Adel“ gewonnen werden konnte. Alvensleben war das schwarze Schaf seiner Familie, und vermutlich aufgrund einer kurzen Haftzeit (weil er gegen die Zensur verstoßen hatte) war ihm die Führung seines Adelsprädikats in Preußen untersagt. Dies warf ihm jedenfalls der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn vor, ein enger Bekannter Motte Fouqués, der schon die Probeblätter der Zeitung gesehen hatte:29 Der Sänger des Sigurd, der Gebrochenen Burg, und mancher von Mund zu Mund getragenen Lieder darf sich nicht einem G. Alvensleben zum Schriftordner [sic!] beigesellen! Der Mann von deutschem und europäischem Ruf darf mit G. Alvensleben keine schriftstellerische Kameradschaft machen! Der Baron und Ritter kann nicht mit G. Alvensleben verkehren, und der preußische Major und Untertan muß es nicht! [...]. Wem sein Adel im Vaterland abgesprochen, darf ihn nirgends im Auslande führen. Er mag sich unter der Menge verlieren und wieder ehrlich leben. [...]. Selbst wenn A. eine Begnadigung von unserem König erlangt hätte und völlige Vergessenheit des Geschehens, auch völlige Nichtzurechnungsfähigkeit, so würde doch wegen seiner frü-

A. war wiederum die Schauspielerin Friederike v. A. gewesen, die in erster Ehe mit dem Theaterintendanten Karl Theophil Döbbelin verheiratet gewesen war. Nach einem Scheidungsskandal heiratete sie 1776 den Kammerherrn Johann Friedrich v. A. Friederike v. A., dessen Kind sie schon geboren hatte. Sie selbst behauptete von der elsässischen Familie v. Klinglin abzustammen. In Brüssel geboren wuchs sie nach eigenen Angaben in einem Kloster auf, bevor sie sich der Theatergruppe um Döbbelin anschloss. Ludwig v. A., diesem doppelt unstandesgemäßen Familienhintergrund gezeichnet, nahm 1813 in der hannoverschen Infanterie an den Kriegen gegen Napoleon teil. Zwischenzeitlich wollte er seinen Abschied nehmen, doch wurde er aufgrund Napoleons Rückkehr von Elba 1815 freiwilliger Jäger und blieb anschließend von 1817-1823 als Leutnant der Garde-Artillerie in Dienst. Ludwig v. A. setzte den ungewöhnlichen Lebensweg seiner Voreltern fort: nach seinem Abschied studierte er von 1825 bis 1828 in Leipzig die Rechte, wohl um sich auf einen Posten im Staatsdienst vorzubereiten. Gleichzeitig widmete er sich vielfältigen literarischen Arbeiten. Er brach sein Studium ab und lebte vom Verfassen von Belletristik und Dramen sowie von Übersetzungen aus und in das Englische und Französische. Dabei benutzte er oft das Pseudonym „Gustav Sellen“, manchmal auch „Chlodwig“. Er unterzeichnete selbst als „Ludwig“ und wird auch in den überwiegenden Literaturangaben so zitiert. Doch finden sich Einträge zu seiner Person auch unter „Gustav v. A.“. 1830 kam er wegen einer gegen die Leipziger Polizei gerichteten Schrift „Schatten und kein Licht“ für kurze Zeit in Haft. 1836 leitete er das Hoftheater in Meiningen. A. redigierte mehrere Zeitschriften wie den „Theaterfreund“, die „Allgemeine Theaterchronik“, die Zeitschrift „Hebe“ oder die „Sachsenzeitung“. Er war mit Friedrich de la Motte Fouqué eng befreundet. Alvensleben war dreimal mit bürgerlichen Frauen verheiratet: mit Florentine Franziska Herzog (1807-1833), mit Elwine Böhn (1818–1853) und mit Emma Greiffeld (1831–1909). Aus diesen Ehen gingen insgesamt 9 Kinder hervor. 1841 siedelte er nach Wien über und nahm dort im Oktober 1848 als Leutnant der Mobilgarde am revolutionären Widerstand gegen österreichische Truppen teil. Dafür wurde er zum Tode verurteilt, dann zu einem Jahr Kerker begnadigt; vgl. Fedor v. , Adelsblatt, hier S. 109; und: Neue Deutsche Biographie, Berlin 1953, Artikel „Alvensleben“ (Verf. Udo v. Alvensleben), S. 234. 29 Mit Ausnahme der Behauptungen Jahns gibt es in den biographischen Nachschlagewerken jedoch keinerlei Hinweis auf einen formellen Adelsverlust Alvenslebens.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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heren Geschichten ein starkes Bedenken obwalten, ob er zum Ordner einer Zeitung für den Adel zuzulassen sei.30

Wechselnde Herausgeber Die Adelszeitung erfuhr in ihrem relativ kurzen Bestehen mehrfache Redaktions- und Besitzerwechsel, und insbesondere nach dem Ausscheiden Fouqués auch deutliche Veränderungen in Form wie Inhalt.31 Nach Fouqués Tod entpolitisierte sich das Blatt sehr rasch in der Thematik wie im Stil der verschiedenen Beiträge. Der Grund dafür war ihr unbefriedigender Erfolg in der Öffentlichkeit, dem die wechselnden Herausgeber durch einen weniger kontroversen Stil und „konsensfähigeren“, politisch neutraleren Inhalt begegnen wollten. Am deutlichsten manifestierte sich dies endlich in der Aufgabe ihres Namens: 1845 wechselte der Verleger Julius Helbig den Titel der Zeitung in „Panorama der Vergangenheit und Gegenwart. Blätter für gebildete Leute“. Helbig begründete diesen Schritt in seiner Einleitung des Jahrganges 1845 mit dem starken Widerstand und dem „merkwürdige[n], aber entschiedene[n] Vorurtheil gegen den Titel und in Folge dessen gegen die ganze Zeitung.“ Helbig sah darin auch die Ursache für den wiederholten Verlegerwechsel. Die ausgeprägte Adelsfeindschaft im Vormärz hätte dazu geführt, dass trotz des Lobes und der Bestätigung „von hochgestellten Persönlichkeiten“ diese zugleich erklärt hätten, eine Zeitung mit solchem Titel nicht halten zu können, bzw. als Subskribenten desselben nicht genannt werden wollten! Noch während der Leitung des Blattes durch Fouqué im dritten Jahrgang wechselte der Verlag von Franke zu B.G.  H. Schmidt in Nordhausen und Leipzig. Dort erschien die Zeitung bis kurz nach Fouqués Tod in Berlin am 23. Januar 1843. Die letzte Ausgabe vom 28. Januar desselben Jahres war noch von Fouqué redigiert worden. In dieser Ausgabe brachte der Verleger B.G. H. Schmidt schon die von ihm verfasste Todesannonce Fouqués unter. Dann stellte die Zeitung ihr Erscheinen für fast ein Vierteljahr ein. Erst am 21. April 1843 wurde das Blatt nun durch den Verlag Julius Helbig in Altenburg wieder aufgelegt, wobei diese erste Ausgabe der Neuerscheinung trotzdem unter der Datumsangabe 9. Februar (!) 1843 firmierte.32 Für diesen neuen

30 Zitiert nach Arno Schmidt, Fouqué und einige seiner Zeitgenossen,§ 61, S. 549. 31 Von 1840-1843 erschien die Zeitung mit zwei Nummern wöchentlich, Mittwochs und Sonnabends. Beigegeben war ihr ein sogenanntes „Intelligenzblatt“, welches Anzeigen enthielt. Die Zeitung hat eine durchgehende Seitenzählung. Ab dem Jahrgang 1843 gab es keine genauen Datumsangaben mehr und der Erscheinungsrhythmus wird unklar. 32 Die bis dahin übliche Nennung der Erscheinungstage und die genaue Datierung wurde sofort eingestellt, nach der Nr. 16, noch unter „Februar“ veröffentlicht, wurden auch die Monatsnamen nicht mehr aufgeführt. Der neue verantwortliche Redakteur, Heinrich Alexius Freiherr Einsiedel, hatte in seiner Einführung allerdings erklärt, dass die Zeitung auch weiterhin zweimal wöchentlich erscheinen sollte; es ist daher nur zu vermuten, dass dies weiterhin Mittwochs und Sonnabends geschah.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Anlauf übernahm Heinrich Alexius Freiherr von Einsiedel die redaktionelle Leitung des Blattes.33

4.1.3.

Die Subskribenten

Ein besonderer, und auch bei Gelegenheit der hier vorliegenden Studie noch nicht vollständig gehobener Schatz der Adelszeitung sind die dort abgedruckten Subskribentenlisten. Für den ersten Jahrgang finden sich insgesamt 287, für den zweiten Jahrgang zusätzlich 37 Namen, unter denen sich neben mehreren Hohenzollern-Prinzen Vertreter der Bundesfürsten, zahlreiche Mitglieder des mediatisierten und des hohen Adels, aber auch prominente Vertreter des kleinen Adels und bekannter adels­ politischer Publizisten und Aktivisten wie z.B. der alte Mitstreiter Steins, Dr. Christian Schlosser, wiederfinden lassen. Mit anderen Worten: die Subskribentenliste der Adelszeitung umfasste neben einem großen Teil der sozialen Spitzen der deutschen Öffentlichkeit vor allem denjenigen Teil des Adels, der aktiv nicht nur an adelspolitischen, sondern sogar adelsreformerischen Themen interessiert war. Eine prosopographische und geographisch vergleichende Auswertung dieser Namen verspricht einen umfassenden Zugriff auch auf adelspolitisch interessierte Kreise der „zweiten Reihe“ – und dies für eine Periode, in welcher die publizistische und organisatorische Erfassung breiterer Adelskreise in Vergleich zum späten 19. Jahrhundert (über die Deutsche Adelsgenossenschaft, Parteien, Organisationen) auf erheblich größere Schwierigkeiten stößt.34 Und eine erdrückende Dominanz des Kleinadels, oder auch

33 Zu Heinrich Alexius Freiherr von Einsiedel bemerkt Zobeltitz, dass er nichts über ihn habe herausfinden können, außer dass es sich um einen entfernten Verwandten des „lustigen Kammerherrn und späteren Oberhofmeisters der Herzogin Amalie, des liebenswürdigen „ami“ des Weimarer Kreises, Friedrich Hildebrand v. Einsiedel“ handelte: „Über die Persönlichkeit des Heinrich Alexius, der die Zeitschrift bis zu ihrem letzten Jahrgang 1844 leitete, habe ich nichts herausfinden können. In der Genealogie der Familie findet sich nur ein Mitglied mit diesen beiden Vornahmen, vom Wolsitzer Zweig, dieser Heinrich Alexius wird indes als schon am 14. März 1842 verstorben bezeichnet.“, vgl. Zobeltitz, Adelsblatt, S. 110. 34 In den Ausgaben des ersten Jahrganges sind die Subskribenten nach und nach durchnummeriert veröffentlicht worden. Eine nicht durchnummerierte, dafür aber alphabetische Subskribentenliste findet sich in der letzten Dezemberausgabe von 1841, welche aber nicht die Buchhandlungen, Postund Zeitungsexpeditionen erfasste. Die Inhaltsübersicht der gebundenen Bände (z.B. in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin) führt für den Jahrgang 1840 eine Liste dieser verteilten Subskribentennennungen unter dem Titel: „IX. Verzeichnis der Subskribenten“. Insgesamt sind dort 287 Namen angeführt. Für den 2. Jahrgang 1841 finden sich im entsprechenden Inhaltsverzeichnis die Nummern 299 bis 336. Die Lücke zwischen der Nr. 287 (letzte Nummer erster Jahrgang) und dem ersten genannten Namen unter der Nr. 299 (zweiter Jahrgang) ist nicht erklärlich. Als Subskribenten finden sich hier auch einzelne Buchhandlungen, Bibliotheken und Institutionen wie z.B. die „Bürger-Ressource“ in Schwerin. An dieser Stelle seien exemplarisch nur einige Namen angeführt, um zugleich einen Eindruck der Prominenz der Leserschaft zu vermitteln: Neben dem schon genannten



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des ostelbisch-protestantischen Adels, wie bei der erheblich späteren „Deutschen Adelsgenossenschaft“ lässt sich bei den hier aufgeführten Namen ebenfalls nicht ausmachen. Im Gegenteil: die starke Präsenz des herausragenden mittel- und süddeutschen Adels bis nach Österreich, vor allem auch Böhmens, sticht ins Auge, sowie für Preußen die prominente Vertretung Schlesiens.

4.1.4. Der Aufbau und der Charakter der Zeitung Die Entwicklung der inhaltlichen Schwerpunkte Nach Fouqués Tod wandelte sich die Adelszeitung recht schnell zu einer mehr gesellschaftlich-kulturellen Publikation. Trotzdem (oder deswegen?) konnte der enge Kreis der Subskribenten auf Dauer nicht erweitert werden. Noch zur Fouqués Wirkungszeit ist seit 1842 eine deutliche Abnahme der privat eingesandten Familiennachrichten und Bekanntmachungen zu verzeichnen. Eine wesentliche Aufgabe der Publikation wurde so verfehlt: das Angebot einer Kommunikationsplattform für die verschiedenen Adelslandschaften und Adelsgruppierungen wurde offensichtlich nicht angenommen. Auch die adelspolitischen Beiträge und Stellungnahmen gingen ab 1843 erheblich zurück und veränderten ihren zuvor dezidiert zielgerichteten Charakter. Symptomatisch dafür ist, dass bis 1843 Themen wie die ständische Gesetzgebung und Adelsgesetze in Preußen regelmäßig behandelt, u.a. die neuen Adelsrichtlinien Friedrich Wilhelms IV., begrüßt und verteidigt wurden. Der Versuch, den Adel politisch

Thronfolger und Prinzen v. Preußen sind als „Hoheiten“ der bayerische Prinz Carl zu München, der Herzog Adam v. Württemberg, der Landgraf Wilhelm v. Hessen-Cassel, der Prinz Georg v. Hessen und bei Rhein in Darmstadt aufgeführt. Außerdem finden sich 31 Vertreter des hohen Deutschen Adels mit dem Prädikat „Durchlaucht“, und zwölf Vertreter mit dem Prädikat „Erlaucht“. Damit waren die regierenden und mediatisierten Häuser recht vollständig vertreten. Als Nummer 1 der ersten Subskribentenliste findet sich Prinz Friedrich v. Preußen zu Düsseldorf; 2. Fürst zu Hohenzollern-Hechingen; 3. Erblandhofmeister von Schlesien Graf Schaffgotsch, Warmbrunn; 4. Domkapitular zu Merseburg und Lehnsvassal der Herrschaft Asch Graf Carl Moritz von Zedwitz, Unterneuburg; 5. Lieutenant im 7. Preuß. Inf. Reg. Graf Friedrich von Reichenbach-Goschütz auf Pilsen; 6. Graf Ferdinand SchirndingerFridolin, Prag; 7. Königl. Hannöversche Staats- und Kabinettsminister Freiherr v. Schele-Schelenburg, Hannover; 8. Königl. Hannnöversche Staats- und Kabinettsminister a. D. Baron L. v. Ompteda, Celle; 9. Freiherr Carl v. Stillfried, Hischberg; 10. Königl. Preuß. Reg. Präs. in Oppeln, Graf E. v. Pückler; 11. Gouverneur v. Danzig Königl. Preuß. Generallieutenant v. Rüchel-Kleist; 12. Fürst zu Guémené, Rochefort und Montauban Prinz Camill Rohan, Prag; 13. Ernst, Graf und Edler Herr zu Lippe-Biesterfeld, Obercassel bei Bonn; 14. Königl. Preuß. Wirkl. Geh. Rat und Kammerherr, Freiherr v. Oelsen, Bietnitz bei Königsberg i.d.N.; 15. Königl. Preuß. Kammerherr Freiherr v. Romberg, Brünighausen bei Wesel; 16. Major v. Könneritz, Munzig; 17. Königl. Preuß. Obrist a. D. v. Natzmer, Halle; 18. Rat Dr. Schlosser, Stift Neuburg b. Heidelberg; 19. Königl. Preuß. Obristlieutenant i. 37. Inf. Reg. v. Trützschler, Luxemburg; 20. Baron v. Baerst, Breslau; 21. Amtsassessor u. Erb- und Gerichtsherr zu Mielenhausen v. Mengershausen, Osterrode.

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zu formen und institutionell durch Gründungen überregionaler Corporationen und Vereine neu zu organisieren, scheiterte aber schon in dieser frühen Zeit. Fouqués Werben um eine institutionalisierte neue Form einer korporativen Adelsverfassung in Deutschland erwies sich als nicht durchsetzungsfähig. Lediglich bezüglich des dritten Zieles, der ständischen Selbstvergewisserung, kann auch nach 1843 von einer gewissen Kontinuität gesprochen werden, allerdings nur in stark verallgemeinerter und abgeschwächter Form. Während Adelspolitisches und selbst die innerständische Kommunikation stark zurücktraten (schon zuvor blieben die dahingehenden Versuche überwiegend anekdotisch und familiengeschichtlich beschränkt), entwickelte sich die Adelszeitung damals zu einem reinen Konversationsblatt, in dem mehr und mehr literarische Themen und der Abdruck von (qualitativ nicht sehr hoch stehender) Belletristik dominierten.35 Der adelspolitische Anspruch äußerte sich nur noch in rein defensiver Rhetorik. Die wenigen noch verbliebenen adelspolitischen Beiträge wiesen einen deutlichen Pragmatismus auf; die für Fouqués Redaktionszeit typischen romantischen Überhöhungen, etymologischen Argumentationen und Spekulationen (z.B. über die Herkunft des Adelsbegriffs) verschwanden. Die geschichtlichen Herleitungen und Abhandlungen über den Adel und „das Ständische“ wurden „seriöser“, weniger spekulativ-idealistisch, das Politische praktischer aufgefasst. Als Beispiel mag eine Artikelserie über „Eisenbahn und Conservatismus“ dienen (der erste Beitrag erschien allerdings noch in der letzten von Fouqué redigierten Nummer), welche die Bedeutung des Engagements des englischen Adels in der Industrialisierung des Landes als positives Vorbild für eine Neupositionierung des Standes in der Gesellschaft bewertete. Diese Gesamttendenz wurde 1844 noch deutlicher, als fast gar keine adelspolitischen Artikel mehr erschienen. Mit dem Wechsel zu Helbig und dem Titel „Panorama“ setzte sich diese Entwicklung endgültig durch, so dass 1845 die ursprüngliche Adelszeitung zu einem reinen Unterhaltungsblatt der „höheren Stände“ mutiert war. Endlich beherrschten Fortsetzungsromane und „Erbauliches“ den Inhalt und läuteten das endgültige Ende dieses ständepolitischen Versuchs ein. Der Adel wurde darin nur noch anekdotisch und in Persönlichkeitsschilderungen thematisiert. Aus diesem Grund konzentriert sich die folgende inhaltliche Untersuchung der adelspolitischen Linie auf die Redaktionszeit Fouqués in den Jahren 1840 bis 1843.

35 Gegenbeispiele waren z.B. die Nr. 88, Mittwoch 3. November 1841, S. 350-352 und die Nr. 89, Sonnabend 6. November 1841, S. 355-356, die „Über den Adel im Kurfürstenthum Hessen-Cassel“ sehr genau und strukturiert dessen „Verfassung“ und Zusammensetzung wiedergaben. Weitere Beispiele finden sich im Jahrgang 1841 wo zu den Niederlanden und Frankreich ebenfalls systematisierende Darstellungen versucht wurden.



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Zielstellung und Aufgabenfelder der Adelszeitung (bis 1843) Den Herausgebern des Blattes stand offenbar die Notwendigkeit klar vor Augen, dass es nicht ausreichte, die Interessen des Adels allein über die engen personalen Beziehungen zu Hof und Monarchen zu sichern, sondern dem Adel auch durch die neuen Mittel der Massenpresse und des Journalismus neue Wirkungsmöglichkeiten auf die Öffentlichkeit geschaffen werden mussten. Geleistet werden sollte dies in neun Hauptrubriken, deren Programmatik nach drei Zielen differenziert werden kann.36 Die beiden ersten aufgeführten „Hauptrubriken“ umrissen das Ziel, zur Selbstvergewisserung des Adels als Stand über das Mittel der geschichtlichen Erinnerung zu dienen.37 Dazu sollte zum einen die allgemeine Geschichte als Adelsgeschichte gelesen und vermittelt werden um die Leistungen des Standes herauszustreichen. Dem wurde programmatisch die biographische Betrachtung „ausgezeichneter Männer des deutschen Adels“ zur Seite gestellt. Diesen Programmpunkten blieb die Adelszeitung Zeit ihres Bestehens treu, auch wenn sich thematische und methodische Verschiebungen erkennen lassen. Bis 1843 und darüber hinaus beschäftigten sich eine große Zahl von Artikeln und Beiträgen mit der konkreten Geschichte und politischen Geschehnissen. Die Auseinandersetzung mit adeligen Biographien war dagegen breiter gestreut, umfasste politische Akteure wie auch durch Charakter und Lebensform herausragende Persönlichkeiten. Ab 1844 präsentierte sich die Zeitung zunehmend „literarischer“, es dominierten belletristische Texte und schöngeistige Beiträge (Gedichte, Anekdoten) gegenüber historischen Themen und sachbezogenen Auseinandersetzungen. Die „ständische Selbstvergewisserung“ wurde abstrakter und allgemeiner formuliert, auch um den Vorwurf zu entkräften, ein rein standesbezogenes Medium, zu sein; dazu wurde verstärkt auf allgemein bildungsadäquate Themen gesetzt, um so ein Publikum jenseits des Adels anzuziehen. Zum zweiten wollte die Mehrzahl der aufgeführten Hauptrubriken der Zeitung eine Kommunikationsplattform bieten, die ein erweitertes soziales und kulturelles Adels-Gespräch durch die Verbreitung von Nachrichten aus dem Familienkreis, einzelner Adelslandschaften und Regionen über deren überkommenen Gesichtskreis hinaus ermöglichte.38 Bezogen auf das adlige Verständnis von politischen Beziehun-

36 Vgl. die Verlagsanzeige „Ankündigung und Einladung zur Subscription“, in: GSTAPK I. HA Rep. 100 A, Nr. 3759, unpaginiert. 37 Die geschichtlich-biographischen Hauptrubriken lauteten: 1. Mittheilungen aus der Geschichte des deutschen Adels; Darstellung einzelner Perioden, die das Verdienst des Adels hervorzuheben geeignet sind; einzelne Züge von besonderer Ruhmwürdigkeit. 2. Biographien und biographische Notizen ausgezeichneter Männer des deutschen Adels, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Zeit. 38 Die der Adelskommunikation zuzuordnenden Hauptrubriken lauteten: 4. Eine fortlaufende Chronik der neuesten Ereignisse des gesammten deutschen Adels; dahin gehören: Familiennachrichten fürstlicher Personen und des höheren Adels, Adelsverleihungen und Erneuerungen, Ordensverleihungen, Standesbeförderungen in höheren Graden. 6. Heraldische und chronologische Miscellen deutscher Adelsgeschlechter. 7. Besprechung der literarischen Erscheinungen, welche specielleres Interesse für den

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gen als personaler Kommunikation war dies eine wichtige Voraussetzung zur Schaffung einer adligen politischen „Öffentlichkeit“. Trotz wiederholter Aufrufe und Aufforderungen nahmen die privaten Anzeigen (Todes-, Heirats- und Geburtsanzeigen) und Nachrichten noch zu Fouqués Zeit ab dem Jahrgang 1842 deutlich ab und hörten nach Fouqués Ausscheiden fast völlig auf. Die Zeitung wurde also von der breiteren Adelsöffentlichkeit als Publikationsorgan und Plattform eines breiten adligen Binnengesprächs nicht akzeptiert, was als Indiz für die immer noch stark regionale, kaum landschaftsübergreifend oder gar „nationale“ Orientierung der Adelsmehrheit gelesen werden kann. Unter der dritten und fünften Hauptrubrik verbarg sich der politische Schwerpunkt der Zeitung.39 Er betraf allgemein die politische Ertüchtigung und Aktivierung des Adels („Zeitfragen, welche für den Adel von Wichtigkeit sind“) und speziell die Neuformierung des Adels als politischer Körperschaft. Diese lapidare Ankündigung umfasste das redaktionelle Hauptinteresse zumindest der Periode von 1840 bis 1843. Adelspolitik und Adels(re)organisation waren die dominierenden Themen der den Adel betreffenden „Zeitfragen“, die unter Fouqué debattiert wurden. Sie gliederten sich nach folgenden Zielstellungen: I. die moralische Erneuerung in der Lebensführung, in den binnenständischen Verhältnissen und zu den anderen Ständen II. die ideologische Legitimation und Neuformierung des Adels III. die Schaffung neuer privat und/oder staatlich institutionalisierter Organisationsformen in Form eines Ordens oder Adelsvereins

Diese dritte Zielsetzung einer politischen und sozialen Neuausrichtung des Adels durch seine korporative Organisation ist hier von vordringlichem Interesse. Doch deren Verwirklichung baute auf die vorangestellten, vor allem zweite Zielstellung notwendig auf – um den gesamten Adel als Stand in Korporationen und Institutionen organisieren zu können, war die Schaffung eines gemeinsamen, konsensfähigen Standesbewusstseins notwendig. Darin wiederholte sich die Problematik der versuchten administrativen Adelsreform der preußischen Verwaltung qua „social engineering“, und dies in einem sozial und geographisch noch einmal enorm erweiterten Raum. Dieser Versuch zur Bildung eines neuen, übergreifenden „Standesbewusstseins“ musste mit seinem überkonfessionellen, die landsmannschaftlichen und regionalen Loyalitäten, die überkommenen Familienstrukturen und binnenständischen

Adel haben. 8. Interessante Notizen über Adelsereignisse des Auslandes. 9. Beschreibung außerordentlicher Festlichkeiten der Höfe und des höheren Adels. 39 Die „politischen“ Hauptrubriken umfassten wesentlich: 3. Besprechung einzelner Zeitfragen, welche für den Adel von Wichtigkeit sind. 5. Correspondenzen aus solchen Gegenden oder Orten, wo besondere Adelscorporationen statt finden. Vgl. „Ankündigung und Einladung zur Subscription“, in: GSTAPK I. HA Rep. 100 A, Nr. 3759, unpaginiert.



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Schichtungen sprengenden Ansatz womöglich sogar die Ziele einer „moralischen Erneuerung“ und einer regionalen Verständigung mit den anderen Ständen konterkarieren. Denn ein lokaler, aber ständeübergreifender Erinnerungs- und Loyalitätshaushalt war so tendenziell gar nicht mehr ansprechbar. Dieser Konflikt tritt uns in den eingesandten Beiträgen und Stellungnahmen immer wieder entgegen. Allerdings kamen die meisten Beiträge argumentativ kaum über die Defensive hinaus. Jeder Artikel entwickelt sich fast unvermeidlich zu einer Auseinandersetzung über die „allgemeinsten Prinzipien“. In langwierigen Wiederholungen wurde immer wieder auf die verschiedenen Aspekte der tatsächlichen oder imaginierten Adelsgeschichte seit der Antike (und davor!) abgehoben, wurden etymologische, rechtshistorische und allgemein philosophische Einzelheiten ausführlich behandelt. So findet sich auch in einem Beitrag „Über den Adel in der Preußischen Monarchie“ erst ein langer Vorlauf über die allgemein erwünschte und erhoffte Position und Aufgabe des Adels in der Monarchie und seines Verhältnisses zu „Consitutionen“, aber keine Lösungsvorschläge, wie dies über die strukturellen Unterschiede und divergierenden politischen Lager hinweg erreicht werden könnte.40 Es fällt weiterhin auf, dass fast in jedem dieser Artikel eine intensive Auseinandersetzung mit Frankreich, seinen Revolutionen und den daraus resultierenden zeitgenössischen Entwicklungen geführt wurde. Mit Ausnahme der zahlreich erhobenen Forderungen und Vorschlägen einer allgemeinen Adelsreorganisation lässt sich deshalb kaum eine konsistente Linie einer konsensual möglichen Adelspolitik ausmachen. Die politischen Anliegen und Forderungen bleiben meistenteils defensiv, spiegeln die zeitgenössisch verbreitete Kritik am Beamtenwesen, dessen Wirken mit der „demokratischen Richtung“ der Gesetze gleichgesetzt wird: „In den Gesetzen erkennen wir, daß das preußische Volk nur noch aus Gemeinen besteht, und daß die Wirksamkeit des Adels aufgehört hat.“ Entsprechend würden die Beamten gegenüber dem Adel begünstigt: „Je mehr der Adel sinkt, desto höher steigt die Macht der Beamten. Sie will Gemeinen, nicht Adel. Über jene ist leichter und unbeschränkter zu herrschen, als über einen kräftigen Adel. [...]. Alles soll jetzt zu Gemeinen werden, und was noch nicht Gemeine ist, muß wenigstens so heißen.“ 41

40 Vgl. die Serie „Über den Adel in der Preußischen Monarchie“, in: Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 69, 70, 71, 1841. 41 „Über den Adel in der Preußischen Monarchie“, in: Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 70 Mittwoch 1. September 1841, S. 277.

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4.1.5. Inhaltsanalyse der „Zeitung für den deutschen Adel“ Unterstützung und Propagierung der neuen Adelspolitik Friedrich Wilhelms IV. Entgegen den Schlüssen, welche aus der leitenden Position Friedrich de la Motte Fouqués gezogen werden könnten, trat die Adelszeitung sehr deutlich und entschlossen für die neue, grundbesitzorientierte Adelspolitik Friedrich Wilhelms IV. von Preußen ein.42 Hatte sich Fouqué 1806 und 1819/20 entschieden zugunsten eines idealisierten Krieger(dienst)adels ausgesprochen, und gegenüber Perthes die immateriellen Erinnerungsbestände, das Geschlechtsbewusstsein und die Idee der „Ehre“ gegenüber einem „englischen“ Adelsmodell verteidigt, so führte diese persönliche Überzeugung Fouqués keineswegs zu einer entsprechenden dominierenden Linie in den Beiträgen der Adelszeitung, schon gar nicht in der Anfangszeit.43 Immer wieder drangen ganze Artikelserien auf eine Stärkung und politische Reorganisation des Grundbesitzes als adliges Standesmerkmal.44 Die Grundüberzeugung und die Prämissen der überwiegenden Beiträge der Adelszeitung bezüglich einer neuen Adelspolitik im Deutschen Bund und in Preußen bringen womöglich die Artikelserien „Was ist uns geblieben?“ vom September 1840, und die darauf Bezug nehmende Reihe „Wonach sollen wir streben?“ vom Januar 1841 am konsistentesten zum Ausdruck. Der Verfasser der ersten Serie leitete seine Betrachtungen mit der Frage ein, ob der Adel als ein „nothwendiges Opfer“ der Zeit und ihrer Anforderungen zu betrachten sei. Diese Annahme wies er mit Verweis auf die Situation des Adels in England, aber auch Österreichs zurück – in beiden Ländern habe sich „unter den verschiedenartigsten Modificationen der erblichen Monarchie

42 U.a. besprach die Adelszeitung den in Leipzig erschienen Band „Zwei Capitel aus einem Manuscripte über deutsche Angelegenheiten. 1. Über den Beruf und die vornehmste Aufgabe deutscher Publicisten. 2. Über den deutschen Adel und seine Reform“ sehr positiv: darin forderte der anonyme Verfasser die Bindung des Adels an den Grundbesitz. Vgl. „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 3, Sonnabend 9. Januar 1841, Extra-Beilage (Intelligenzblatt), „Literatur“. 43 Vgl. zu diesen Haltungen Fouqués oben Teil I. Kap. 2.4.3. 44 Z.B. die „Betrachtungen über die Gegenwart und Zukunft des Adels und des gesellschaftlichen Zustandes überhaupt. Vorschläge zur Gestaltung der Zukunft“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 21, Mittwoch 11. März 1840, S. 81-82; Nr. 22, Sonnabend 14. März 1840, S. 85-86, „Beschluß“ in der Nr. 23, Mittwoch 18. März 1840, S. 89-90. Oder die Artikelserie „Der Adel, wie er fortbestehen soll“. Deren Autor wollte zwischen dem „aktiven“ (d.h. mit Hoheitsrechten und Grundbesitz ausgestatteten) und dem „passiven“ Adel (der nur noch den Namen besäße) unterscheiden. Die Besitzer „adeliger Besitzungen“ sollten konsequent nobilitiert werden. Und in erstaunlicher Parallele zu den Forderungen eines Grafen Dönhoff auf Hohendorff von 1817 (vgl. oben Teil I Kap. 2.4.3.) forderte dieser Autor noch jetzt, dass der Adel „Freicorps“ bilden solle, um nicht durch sozialen Kontakt zu den niederen Klassen in „Sitte und Anstand [...] zu verlieren.“ Desweiteren sah dieser Beitrag die Bildung von „Adelsunterstützungscassen“ für Witwen und Waisen vor, und wollte die Adelstöchter als „natürliche Erben“ gegenüber männlichen Agnaten gestärkt sehen, siehe: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 42, Mittwoch 26. Mai 1841, S. 165-166; Nr. 43, Sonnabend 29. Mai 1841, S. 169-170; Nr. 44, Mittwoch 2. Juni 1841, S. 173-174.



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ein materiell und intellectuell mächtiger Adel“ erhalten, mit enormen Einfluss auf das „politische Gesammt-Leben des Volkes“. Ungeachtet der demokratischen Tendenzen sei der Adel in England „populär“, sein „Glanz Gegenstand des Stolzes“, nicht des Neides der Nation. Ähnlich umgebe in Österreich der Adel den Thron wie eine Schutzwehr, ohne „der Entwicklung des Volkes hemmend im Wege zu stehen“. Vielmehr habe die „österreichische Aristocratie“ ihre Aufgabe begriffen, und sich an die Spitze der „Intelligenz und Industrie der Nation“ gestellt. Daher liebe das Volk „seinen Adel“ wie in England. In Frankreich habe dagegen trotz des vorangegangenen napoleonischen Neuadelsansatzes die Restauration ihre Aufgabe nicht verstanden, den Adel neu zu „constituieren“, um schließlich die nach 1814 neu begründete erbliche Pairie dem „Phantom der Volks-Souveränität“ zu opfern – seit 1830 stünden die „ephemeren Notabilitäten“ der Pairkammer „wie ein schwankendes Rohr im Wind der Volksmeinungen“.45 Entgegen der nach „papierenen Schemas entworfenen Repräsentativ-Verfassungen“, die „nach dem bekannten Kreislaufe den Gräueln der Volks-Souveränität, so wie endlich diese wiederum der Militär-Despotie zu weichen“ hätten, könne nur eine Vermittlung zwischen Thron und Volk wie in Österreich und England „würdig umgesetzt“ gegen die Herrschaft der Beamten und der Geld-Aristokratie helfen. Doch auch in den übrigen deutschen Staaten habe der Adel noch reelle Machtchancen – in den Volksvertretungen und in seinen sozialen Privilegien! In geistiger und intellektueller Hinsicht dürfte der Zustand des Adels sogar besser dastehen, als in der jüngeren Vergangenheit. Deshalb könne sich der Adel mithilfe des Staates als ein „organisches, factisch begründetes Element“ in der Staatsgesellschaft neu begründen, wenn er die dazu notwendigen „materiellen“ als auch „moralischen, intellectuellen“ Maßnahmen ergriffe.46 „Ideell“ müsse der Adel dem vorherrschenden „industriellen“, nur auf kurzzeitigen Gewinn orientierten Geist entgegenwirken, „edle Bildung“ aufnehmen und „unwürdige Standesgenossen“ ausstoßen. Aber eine solche „Aristocratie des Geistes“ genüge nicht; diese „Seele des Adels“ brauche auch einen körperlichen, materiellen Gegenpart: den Grundbesitz, der wiederum befestigt und vermehrt werden müsse. Der Verfasser bedauerte daher ausdrücklich, dass die „in einigen Provinzen des preußischen Staats von der Regierung den Landständen vorgelegten Präpositionen eines Gesetzes für Vererbung der Rittergüter“ nicht „überall Anklang“ gefunden hätten. Dazu genüge ein „Stamm großer vermögender Familien pro Provinz“ – der kleine, kaum vermögende Adel müsse sich an einer ungleichen Erbfolgeordnung gar nicht beteiligen.47

45 „Was ist uns geblieben?“, in: Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 74, Sonnabend 12. September 1840, S. 293-295. 46 „Was ist uns geblieben?“, in: Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 75, Mittwoch 16. September 1840, S. 297-298. 47 „Was ist uns geblieben?“, in: Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 76, Mittwoch 19. September 1840, S. 301-302.

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Unter Bezug und als Antwort auf diese Artikelserie antwortete ein anderer Verfasser in ebenfalls mehreren Artikeln im Januar 1841 mit der programmatischen Frage: „Wonach sollen wir streben?“ Dieser verband seine Ausführungen mit großen Hoffnungen auf die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. und der seither erfolgten neuen Adelsbestimmungen von Königsberg und Berlin im September und Oktober 1840. Der Autor musste zwar einräumen, dass diese Anordnungen nicht überall begeistert aufgenommen wurden; die Gesinnung, die diesen Anordnungen entspräche, sei wohl „bereits zu fern von dem betheiligten Stande entwichen [...]“. Dabei zeigte sich der Verfasser sehr gut informiert über die seither ergangen „Modifikationen“ der Adelsbestimmungen: dass schon am 15. Oktober eine auch auf die Standeserhöhungen vom 13. September rückwirkende veränderte Bestimmung ergangen sei, die Grafenwürde davon aber ausgeschlossen blieb, und die „Beförderungen“ vom 15. Oktober von denen des September insofern abwichen, als dass die beschränkte Adelsvererbung nun nicht nur auf Rittergutsbesitzer, sondern auch auf Militärs und Zivilbeamte ohne Grundbesitz ausgedehnt wurde. Der Verfasser befürwortete diese Maßnahmen rückhaltlos und äußerte seine Begeisterung über diese königlichen Pläne: Wer Edelmann im wahren Sinne des Wortes sein, wer adelige Prärogativen genießen will, die nicht auf den leeren, gehaltlosen Formen eines flachen Junkerthums beruhen, der wird die Kraft in sich fühlen, für jene politische Bedeutung eine feste Basis gründen zu helfen, der muß sparen, entsagen können, um den Familienbesitz Einem Kinde zu hinterlassen, und den übrigen eine tüchtige Erziehung und einen mäßigen Nothpfennig auf den Lebensweg mitgeben zu können.48

Wer nicht die Kraft für eine solche Aufteilung des Familienbesitzes besitze, bzw. um als Nachgeborener die Beschränkungen im Familieninteresse hinzunehmen, „der begnüge sich mit dem leeren adligen Titel, aber er mache keine Ansprüche auf adelige Geltung, adeliges Recht“, sondern solle in den Bürgerstand übertreten. Diese Gesinnung sei an sich nicht tadelnswert, aber „Edelmann“ sei eine solche Person mit einer rein „familienbürgerlichen“ Tendenz nicht. Die Bestimmungen vom 13. September 1840 beeinträchtigten niemanden, wer den Bestimmungen nicht folgen wolle, für den bliebe der verliehene Adel oder adlige Titel eben eine persönliche Auszeichnung auf Lebenszeit. Persönlich bedauerte der Verfasser die nachträglichen Modifikationen der Königsberger Bestimmungen, und machte als Ursache hierfür verantwortlich, dass „die Gesinnung des Adels selbst im Allgemeinen für die Erfassung jenes Grundsatzes noch nicht reif sei, und daß derselbe, durch minder schroff erscheinende Bestimmun-

48 In einer Anmerkung verwies der Verfasser auf die anonyme Schrift: „Über Fideicommisse: eine Bitte an unsere Landstände. Von einem Bürgerlichen, Berlin 1833, siehe: „Wonach sollen wir streben?“, in: Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 5, Sonnabend 16. Januar 1841, S. 17-18, bes. S. 18.



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gen, allmählig zu jenem Princip vorbereitet und erzogen werden müsse.“49 In den drei weiteren Fortsetzungen ging der Verfasser noch auf die zu erwartenden Folgen dieser Adelsbestimmungen für die Betroffenen, aber vor allem auf die Möglichkeiten ein, mit denen der Adel diesen staatlichen Maßnahmen sinnvoll entgegen kommen könne, denn der Staat könne nur helfen, wenn der Adel in „Geist und Kraft“ dafür empfänglich sei: Der Adel hingegen kann bei aller innerer Kraft wohl die Tüchtigkeit der Gesinnung wahren, aber nicht zu einem staatsbürgerlichen, corporativen Bewußtsein gelangen, wenn seine Entwicklung als Stand durch die Staatspolitik niedergehalten wird.50

Als Mittel hierzu schlug der Verfasser die Sparsamkeit der Haushalte, eine nachhaltige Verbesserung des Grundbesitzes und Abtragung der Grundschulden, die tüchtige geistige und praktische Ausbildung und Erweckung adeligen (nicht junkerhaften!) Sinnes, die erlernte „Opferung des Moments“ seitens des Individuums zugunsten des Geschlechtes vor. Letzteres sollte durch Fideikommisse und Erbfolge-Ordnungen, die Einrichtung von Witwenkassen, Lebens-Versicherungen, Rentenanstalten zur Entlastung des Grundbesitzes von der Witwenversorgung und Apanagen, der Pflege „adliger Beschäftigungen“ in Militär, Beamtenschaft, der Geistlichkeit, dem Gutsbesitzer- und Gelehrtenstande erreicht werden. Bei „nicht schicklichen“ Beschäftigungen sollte der Adel freiwillig und temporär niedergelegt werden. Ansonsten bliebe die „rege Teilnahme“ an allen kommunal-, ständischen- und öffentlichen Beziehungen unter Pflege der Rede, Schrift und Tat zu üben, um einen allgemeinen korporativen Sinn und ein Standesgefühl zu entwickeln, Popularität bei Vermeidung „leerer exklusiver Formen“ zu erreichen, und die Bereitschaft zur Opferung im Krieg zu befördern. Der Staat könne diese Bestrebungen durch die Einrichtung von Adelsmatrikeln und der Bildung eines Vereins der Familienhäupter unterstützen; für den Beitritt zu letzterem wäre die Bildung von Fideikommissen und Erbfolgeordnungen, die Leistung von Beiträgen für Versorgungsfonds jüngerer Kinder und zur Unterstützung ärmerer Standesgenossen zu fordern. Ein solcher Verein könne auch als Vormundschaftsinstitution für minderjährige Kinder und als Schiedsgericht in Familiensachen und Ehrenhändeln dienen.51 Heroldsamt und Adelsmatrikel seien allerdings vonnöten, um die königlichen Bestimmungen abzusichern und ihnen Dauer zu geben. Sie dienten auch der Kontrolle der neuen „bürgerlichen Ritterschaft“, die erst nach generationentiefem Besitz von Rittergütern eine „adlige Gesinnung“ und die „Idee eines höheren

49 Vgl. „Wonach sollen wir streben?“, in: Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 6, Mittwoch 20. Januar 1841, S. 21-22. 50 „Wonach sollen wir streben?“, in: Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 7, Sonnabend 23. Januar 1841, S. 25-26. 51 „Wonach sollen wir streben?“, in: Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 8, Mittwoch 27. Januar 1841, S. 29-30.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

ständischen Prinzips“ entwickeln könnte, um dann erst als Reservoir für einen neuen Erbadel zu dienen.52 Noch 1843 unterstützte ein weiterer Beitrag die Friedrich Wilhelmschen Adelsbestimmungen – verband damit allerdings die Forderung, dem armen, nicht begüterten Adel die königlichen Domänen in Zeitpacht zu geben, um den Adel wieder mit dem Grundbesitz in Verbindung zu bringen.53 England als Vorbild? Auch wenn der oben angesprochene Artikel „Was ist uns geblieben?“ in besonderem Maße das englische Vorbild für eine deutsche Adelspolitik herausstrich, so spielte England als mögliches Vorbild für eine Adelsneustrukturierung in der Adelszeitung keine herausragende Rolle. Ein Artikel im ersten Erscheinungsmonat der Adelszeitung behauptete gar die historische Notwendigkeit der Überwindung des englischen adelskonservativen „Toryismus“, um einer echten „Dritte-Weg“-Alternative den Weg zu ebnen: die in einem „Dialog im Nebel“ mit einem „Ritter“ streitende „Zeit“ (gemeint der Zeitgeist), droht diesem: „Du pochst auf Altenglands eisernen Torysmus, auf diesen Riesenvorkämpfer der mittelalterlichen Zeiten und Gedanken. Poche nicht zu viel, auch dieses Achilles Ferse wird gefunden und getroffen werden!“54 Doch der „Ritter“ setzte dem entgegen, dass ihn diese Aussicht nicht schrecke: wie die Reformation Luthers letztlich die katholische Kirche reinigte und neu stärkte, so würde die aktuelle Adelskritik den „Toryismus“ stürzen, nur um den Adel einen neuen Boden der Fruchtbarkeit zu bereiten.55 Zwar wurde in vielen Beiträgen fast stereotyp die Verarmung des Adels beklagt, andererseits belegen die zahlreichen Eingaben und Forderungen die den (grund-) besitzenden Adel vornehmlich zum Adressaten nahmen, wie z.B. zu Themen der Besitzbindung und der verbesserten Besitzstandswahrung, dass dem Adel in Deutschland noch immer eine auch materielle Regenerationskraft zugetraut wurde. Ein Beleg dafür bietet selbst noch ein Beitrag aus der Spätphase, als der verstorbene Friedrich de la Motte Fouqué längst nicht mehr die Redaktion leitete und die Adelszeitung ihre adelspolitische Stoßrichtung schon weitgehend verloren hatte. Die „Gedanken über

52 „Wonach sollen wir streben?“, in: Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 9, Sonnabend 30. Januar 1841, S. 33-34. 53 Der Artikel war mit „v. Sydow“ gezeichnet: „Ein Wort für den deutschen Adel in Preußen“ in: Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 1, Mittwoch 4. Januar 1843, S. 2-4 und Nr. 2, Sonnabend 7. Januar 1843, S. 7-8. 54 „Der Ritter und die Zeit. Ein Dialog beim Nebel“, Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 4, Sonnabend 11. Januar 1840. 55 Der „Ritter“: „Der Mann pocht gar nicht und auf gar nichts. Ich bekenne Dir sogar meinen Glauben, daß Englands Torysmus fallen wird, fallen muß, aber nicht, um Deiner Ansicht den Triumph verschaffend – den Adel in Europa vollends zu stürzen, sondern um in neuem Boden ihm neue Wurzeln zu einem neuen gedeihlicheren Leben zu verleihen, die nöthige Reformation zu vollenden, den Schlußstein in den neuen, schönen Bau zu fügen.“



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das Verhältnis des deutschen Adels zu dem englischen“ nahmen den materiellen Vergleich zwischen den deutschen und englischen Adelsverhältnissen zum Ausgang ihrer Überlegungen. Jedoch wurde dieser nach einer Anmerkung offensichtlich als Auftakt einer Serie gedachte Artikel nicht fortgesetzt – die Krise der Zeitung und das Scheitern ihrer selbstgesteckten politischen Zielvorgaben waren dazu offenbar schon zu weit fortgeschritten.56 In diesem Beitrag wurden die materiellen Unterschiede zwischen den englischen und deutschen Adelsverhältnissen als lediglich relative geschildert – in beiden Ländern stünde der Adel gleichermaßen an der Spitze des Wohlstandes der jeweiligen Gesellschaft: Es wird oft behauptet, unser deutscher Adel könne einen Vergleich mit dem englischen, weder in Hinsicht seines Reichthums, noch seiner politischen Berümtheit bestehen. Ein gründlicher, unbefangener Beobachter wird diese Ansicht nicht theilen. Daß England ein reicheres Land ist, als Deutschland, bedarf keines Beweises. Nicht nur der englische Adel ist im Allgemeine reicher, als der deutsche, sondern auch der Kauf- und Gewerbsmann, der Handwerker, Pächter usw. Vergleicht man aber die Vermögensverhältnisse der verschiedenen Klassen in jedem der beiden Länder unter sich, so dürfte das Vermögen des Adels in Deutschland gegenüber dem der übrigen Klassen unseres Vaterlandes verhältnismäßig gewiß eben so bedeutend erscheinen, als dies bei einem solchen Vergleich in England der Fall ist.

Zwar habe der Adel in Deutschland durch die „vielen verheerenden Kriege“ einen großen Teil seines Grundbesitzes verloren. Dennoch verfüge er noch immer über ein „beträchtliches Vermögen im Grundbesitz“: Kaum dürften alle Reichthümer des deutschen Handelsstandes zusammengenommen den Werth des adligen Vermögens in Grundbesitz in Deutschland übertreffen. Der Adel in Mecklenburg, Hannover, Westphalen, Schlesien, Böhmen und dem Reich [gemeint ist wohl das Kaisertum Österreich, G.  H.] hat noch so bedeutendes Vermögen in Grundbesitz, daß das Geschrei über gänzliche Verarmung unseres deutschen Adels wohl mit Recht als sehr übertrieben betrachtet werden muß!

Aber nicht nur wegen seines Vermögens, sondern auch wegen seines moralischen und politischen Gewichts könne der „Adel in Deutschland“ dem Adel in England „mit vollem Recht“ zur Seite gestellt zu werden. Doch kam es nicht mehr zu einer genaueren Ausführung über die Gründe dieser vergleichbaren „moralischen“ und „politischen“ Position.

56 „Gedanken über das Verhältnis des deutschen Adels zu dem englischen“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 18, 1844, S. 70. Unterzeichnet war dieser Beitrag mit dem Kürzel: „B.v.R.“ In einer Anmerkung wurde der Artikel als Vorläufer eines ausführlicheren Aufsatzes über diesen Gegenstand bezeichnet. Dieser Aufsatz ist nicht mehr in der Adelszeitung erschienen.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Die Frage einer Adelsmatrikel In der oben als in gewissem Sinne „programmatisch“ aufgefassten Beitragsserie „Wonach sollen wir streben?“ wurde als adelspolitische Maßnahme die Einrichtung von Adelslisten, bzw. eines Heroldsamtes besonders empfohlen. Tatsächlich setzte in der Ausgabe vom 19. August 1840 eine Serie von Beiträgen ein, welche die Frage nach der Einrichtung von Adelsmatrikeln „in den deutschen Bundesstaaten“ behandelten.57 Anlass dieser Ausführungen war die Meldung vom 4. Juli des Jahres, dass die österreichische Regierung „auf das Adelswesen große Aufmerksamkeit richte“ und schon seit 1828 insgesamt 180 Bände mit Diplomabschriften (über Adelsverleihungen) sammelte. In Folge dieser Maßnahmen hätten sogar vereinzelte gräfliche Familien, die keinen schriftlichen „Beweis“ ihres Adelsranges vorlegen konnten, von ihrer „Adelsstufe herabsteigen müssen“. Der Autor dieser Artikelserie war vermutlich Motte Fouqué selbst, der nun aber nicht den möglichen Vorbildcharakter dieser adelspolitischen Maßnahme Österreichs für andere deutsche Bundesstaaten zum Thema nahm, sondern allein die Sorge, dass die Anlage einer Adelsmatrikel zu einem schleichenden Adelsverlust solcher Familie führen würde, die ihre Adelstitel und -ränge nicht durch Verleihungsdiplome nachweisen könnten. Weder der deutsche „Uradel“, noch die „Ur-Freiherrlichkeit“ habe auf „Diplomen“ beruht, wogegen, so der Verfasser sarkastisch, allerdings schon „viele Glücksritter auf den Thron gekommen seien, welche dann fontes nobilitatis wurden“. Der Adel sei also nicht als Folge und Konsequenz der Monarchien zu betrachten, vielmehr sei dieser im Gegensatz zu den Monarchien im Naturzustande der Menschen angelegt und daher nicht nur älter sondern auch legitimer: der Unterschied sei, „daß die eine [d.i. die Monarchie, G. H.] auf Gewalt mit oder ohne Recht, die andere aus der Menschennatur hervorsprudelte, und nur das Naturrecht und die Absichten des Schöpfers dieses Rechtes und der Menschheit, zum Urgrunde hat“. Der Uradel hätte entsprechend seiner fränkischen und germanischen Wurzeln aus sich selbst heraus bestanden und Wahlämter besetzt, die erst später erblich geworden seien.58 Insbe-

57 „Einige Worte über Adel und Adels-Matrikel in den deutschen Bundesstaaten“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 67, Mittwoch 19. August 1840, S. 265-266. Dieser Beitrag wurde in drei weiteren Teilen fortgesetzt, nämlich in der Nummer 68, Sonnabend 22. August 1840, S. 269-271; Nr. 93, Mittwoch 18. November 1840, S. 369-370; Nr. 94, Sonnabend 21. November 1840, S. 373-374. 58 Der Verfasser, also vermutlich Fouqué, schrieb dem Adel eine historisch von Ämtern und Funktionen unabhängige Entstehungsgeschichte zu, um ihn als „Urstand“ zu kennzeichnen, wie auch das Wort „Adel“ selbst angeblich aus dem Begriff des „Aelterstandes“ entwickelt worden sei. Diese pseudo-wissenschaftliche historisch-etymologische Kennzeichnung des Adels verweist auf Fouqué als Autoren dieses Beitrags, der diese etymologische Herleitung in zahlreichen Beiträgen zur Adelszeitung immer wieder bemühte, bis sie schließlich auch von anderen Beitragenden übernommen wurde. Vgl. dazu die inhaltlichen wie sprachlichen Parallelen im Artikel „Sammtverein des teutschen Adels, zum Artikel: An den Adel teutscher Nation, Blatt Nr. 2, 4 dieser Zeitung“, der vom selben Autor in mehreren Folgen von Oktober bis Anfang November erschien: „Zeitung für den deutschen Adel“,



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sondere in der Fortsetzung des Beitrags vom 22. August wurde ausgeführt, dass die alten „Erbstände“ (die zusammen die zeitgenössische Bürgerschaft bildeten) nicht mit den „Geschäfts-Personalständen“ des „Wehr-, Lehr- und Nährstandes“ identisch seien, „deren Verwechslung [...] viel Unsinniges im Vaterlande hervorgebracht hat“.59 Nichtsdestoweniger hielt Fouqué (?) die Einführung einer Matrikel grundsätzlich für geboten, jedoch: „Bei deren Aufstellung aber darf keine Staats-Regierung einen ungestörten Besitzstand der Geschlechter des Alt- oder Adelstandes außer gebührender Acht lassen, denn die Geblüthsrechte sind allenthalben gleich heilig, wie die Rechte der Monarchenfamilie in Erbreichen, und wie alle Rechte, welche die Sammtbürgerschaft zur Gemeinwohlfahrt sich untereinander in der Grundverfassung zuerkannt hat [...].“ Eine Adelsmatrikel müsse berücksichtigen, dass viele Adelsgeschlechter aus den verschiedensten Gründen ihren Adel nicht schriftlich nachweisen könnten, da Urkunden nie vorhanden, verloren oder vernichtet sein könnten:60 So wurde im Jahre 1712 der General, Freiherr von und zu Buttlar, in den Reichsgrafenstand mit seiner Nachkommenschaft [...] erhoben, nahm aber den Titel dieser Adelsstufe nicht, [...] an, [...], ohne sich anders, als von Buttlar zu unterzeichnen, weil dieser Brauch bei allen zum Uradel gehörenden Adelsgenossen [...] herrschte, indem es bis auf die neueste Zeit herab, nur um das Adelsalter und auf die Ahnenzahl bei Stifts- und Hofproben ankam.

In den Novembernummern drängte der Autor darauf, die „Notorietät“ des Adels für die Eintragung in den Matrikeln anzuerkennen, oder besser gleich die Wappen zu schützen, da diese präziser als die Namen (die oft bei verschiedenen Familien gleich seien) die Geschlechter differenzierten.61 Um aber jeglichen „Mißbrauch“ der Wappen abzustellen, sollten die Bundesstaaten dem Bauern- und Bürgerstande nicht nur einfach gestatten ebenfalls eigene Wappenzeichen zu führen, sondern diesen Gebrauch sogar zu gebieten! Dieser letzte Vorschlag ist ganz bezeichnend für Fouqués ideologischstrategisches Vorgehen, das unter 4.1.5. noch genauer vorgestellt wird – die begrenzte Ausdehnung bestimmter als „adlig“ konnotierter Auszeichnungselemente auf nichtadlige Gruppen, um den Adel weniger als herausgehoben-privilegierten Stand neu zu bezeichnen, sondern als „anders-Gleicher“ unter scheinbar „Gleichen“ neu zu positionieren.

Nr. 85, Mittwoch 21. Oktober 1840; Nr. 86, Sonnabend 24. Oktober 1840; Nr. 87, Mittwoch 28. Oktober 1840; Nr. 88, Sonnabend 31. Oktober 1840 u. Nr. 89, Mittwoch 4. November 1840. 59 Vgl. „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 68, Sonnabend 22. August 1840, S. 269-271, wie Anmerkung 58. 60 Die Parallele dieses Protests zu den ablehnenden Haltungen gegenüber einer Adelsmatrikel in der preußischen Staatsverwaltung ist offensichtlich. Vgl. dazu unten Kap. 4.3.1. 61 „Einige Worte über Adel und Adels-Matrikel in den deutschen Bundesstaaten“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 93, Mittwoch 18. November 1840, S. 369-370; Nr. 94, Sonnabend 21. November 1840, S. 373-374.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Entgegen dieser von Fouqué verfolgten Linie drang jedoch die Mehrzahl der eingesandten Artikel auf eine ständische Hervorhebung, wenn nicht Abgrenzung des grundbesitzenden Adels von den Standesgenossen. Diesem Ziel sollten auch Adelsmatrikel und besondere ständische Uniformen als Bestandteil symbolischer Privilegierung dienen. Ein Beitrag forderte gar die Einrichtung von „Ritterhäusern“ für Preußen, welche den landbesitzenden Adel neben eigenen Matrikeln und eigenen Uniformen (mit auszeichnenden Abzeichen für die vier Abstufungen des Adels) gegenüber den mit Bürgerlichen durchsetzten „Stand“ der Rittergutsbesitzer auszeichnen sollten. Diese „Ritterhäuser“ wurden zugleich als Vorläufer eines eventuell einzurichtenden Herrenhauses projektiert: „Vielleicht dürfte in Folge dieses es nöthig werden, auf den Landtagen allgemein einen vierten Stand zu formieren, wie dieser in einigen Provinzen durch die Standesherren schon besteht.“62 Ein „Haupt-Ritterhaus“ unter Führung des Königlichen Hausministeriums sollte in Berlin eingerichtet, weitere „Provinzial-Ritterhäuser“ mit je einem Direktor an der Spitze in den Hauptstädten der Provinzialverbände etabliert werden. Dem Haupt-Ritterhaus käme die Aufgabe einer Standeskontrolle zu (Matrikelaufsicht) und mit der Mitgliedschaft sollten sich bestimmte Privilegien verbinden.63 Der Verfasser verband mit diesem Vorschlag zugleich die Hoffnung, durch ein solches „Haupt-Ritterhaus“ in der Hauptstadt schon so etwas wie eine ständische Repräsentation für den Gesamtstaat geschaffen zu haben, um endlich die leidige Verfassungsfrage im konservativen Sinne zu lösen: Vielleicht auch würde bei dieser Veränderung der durch das Gesetz vom 5. Juni 1823 herbeigeführte unglückliche Irrthum geschickt beseitigt werden können: als sei eine allgemeine Ständeversammlung der Monarchie heilsam und nothwendig, deren endlichem Erscheinen, wie es in dem Gesetz verheißen ist, so viele schwache oder verirrte Köpfe, als wünschenswerthes Ziel mit Sehnsucht entgegensehen, und darauf die eitelsten und thörigsten Hoffnungen bauen.

62 Vgl. „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 71, Sonnabend 4. September 1841, S. 281-283. Die darin organisierten Mitglieder des ausschließlich landbesitzenden Adels sollten eigene Uniformen erhalten (wenn möglich mit auszeichnenden Abzeichen für die vier Abstufungen des Adels) um sich von den Rittergutsbesitzern abgrenzen zu können. 63 Diese Privilegien sollten den gutsbesitzenden Adel den Untergerichten entziehen, ihn als Schiedsmann de jure im Gutsbezirk einführen, die Polizeiverwaltung und eine damit verbundene Gesetzgebungsbefugnis auf den Gütern geben, ihn als Steuereintreiber für die direkten Staatssteuern einsetzen, bei Wohnsitz in der Stadt von den direkten Steuern der Stadtgemeinden auf dessen ländliches Einkommen befreien. Diesen Privilegien stünden als Verpflichtungen die Unverschuldbarkeit des Grundbesitzes, die beschränkte Vererbbarkeit, die Bildung von Fideikommissen und Majorate gegenüber.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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Die angestrebte moralische Erneuerung Im Vergleich zum Thema einer materiellen (Grund-)Besitzsicherung, wie es als zentrales Anliegen der überwiegenden Einsendungen und Beiträge sichtbar wurde, und den Bemühungen der Redaktion um eine Adelsreorganisation, spielte das Thema einer moralischen Erneuerung des Adels, eines „Tugendadels“, eine überraschend geringe Rolle. Der Vorbildcharakter des Adels wurde in den meisten Artikeln eher als selbstverständlich vorausgesetzt denn anhand konkreter Verhaltens- und Bewährungsproben eingefordert. So fällt insbesondere auf, dass Religiosität und gelebte christliche Praxis in den vielfältigen Anregungen und Aufforderungen zur Formierung eines erneuerten adligen Bewusstseins und Lebenswandels kaum eine Rolle spielten. Eine Artikelserie vom Februar 1840 mit dem Titel: „Warum hat in unserer Zeit der Adel ganz besonders sich eines christlichen und kirchlichen Sinnes zu befleißigen?“ darf als Ausnahme bezeichnet werden.64 Darin beklagte der Autor nicht nur grundsätzlich den Niedergang des christlichen, als vor allem auch des kirchlichen Geistes als Folgen der Aufklärung und einer falsch verstandenen Toleranz. Diese seien auch für den Ansehensverlust des Adels ursächlich. Denn die Achtung vor der Autorität des Alters und des Herkommens gingen im Religiösen wie im Ständischen parallel einher: Ferner findet sich auch zwischen dem Ansehen und der Geltung des Adels und zwischen dem christlichen und kirchlichen Sinne des Volkes sowohl ein logischer wie ein historischer Zusammenhang, dessen Nachweis eine neue Aufforderung für den Adel unserer Zeit enthält.65

Der Grund dafür sei, dass die religiöse Vorbildrolle und die Ahnenverehrung als die eigentlichen Quellen adliger Sonderstellung überhaupt zu betrachten seien: Was ist denn der Adel? Ist es nicht der Stand, welcher entweder durch eigene oder seiner Ahnen Tugend und Mannhaftigkeit, Ehre und Macht, im Besitze von angeerbten Reichthümern, eine größere Unabhängigkeit d.i. Freiheit, als der Bürger und Bauer, hat? [...]. Was er ist, ist er nicht durch Briefe und Pergamente, durch Diplome oder Privilegien: die geben Titel, aber keinen Adel. Nein, er ist es durch die edle Frömmigkeit und durch die vornehme Berümtheit seiner Vor­ fahren.66

64 „Warum hat in unserer Zeit der Adel ganz besonders sich eines christlichen und kirchlichen Sinnes zu befleißigen?“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 12, Sonnabend 8. Februar 1840, S. 4546; Nr. 13, Mittwoch 12. Februar 1840, S. 49-50; Nr. 14, Sonnabend 15. Februar 1840, S. 53-54; Nr. 15, Mittwoch 19. Februar 1840, S. 57-59; Nr. 16, Sonnabend 22. Februar 1840, S. 61-62. 65 „Warum hat in unserer Zeit der Adel ganz besonders sich eines christlichen und kirchlichen Sinnes zu befleißigen?“, in: „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 15, Mittwoch 19. Februar 1840, S. 57-59. 66 „Warum hat in unserer Zeit der Adel ganz besonders sich eines christlichen und kirchlichen Sinnes zu befleißigen?“, in: „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 14, Sonnabend 15. Februar 1840, S. 53-54, hier S. 53.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Die Geltung und Bedeutung des Adels beruhe nämlich zum einen auf der Achtung gegenüber ausgezeichneten und durch Leistung und Besitz erkennbaren Ahnen, sowie auf dem daraus abgeleiteten Ansehen der lebenden Nachkommen, worin der Verfasser eine geradezu anthropologische Konstante erkennen wollte: Das findet sich überall, daß man dem Sohne eines vortrefflichen Vaters mehr Ehre erweist, als einem anderen gleichbefähigten aus dunklem und unbekanntem Geschlechte. [...]. Man fühlt sich gewissermaßen genöthigt, anzunehmen, daß von dem Geiste des Vaters Etwas wenigstens auf dem Sohne ruhen müsse: weshalb denn auch Kinder unberühmter, oder gar schlechter Eltern eine wohl zehnfache Kraftanstrengung und einen hundertfachen göttlichen Segen gebrauchen, wenn sie, in sich edlere und höhere Richtung verspürend, den Faden, welcher sie an die Vorfahren bindet, zerschneiden und so zu sagen ein neues Geschlecht begründen wollen. [...]. Es mag noch so schlimm bei unserem Volke geworden sein, es mag noch so sehr den Respect vor Angebornem und durch das Blut Eigenem verloren haben: es sieht einen Namen mit einem kleinen v. davor und den Mann, welcher ihn führt, doch ganz anders an, als einen anderen von sonst gleicher Art.67

Im folgenden skizzierte der Autor in wenigen Sätzen einige elitentheoretische Überlegungen, die eine ganze Reihe der Hypothesen späterer soziologischer Forschungen vorwegnehmen sollten:68 allein rationalistisch seien die Prinzipien, welche den ursächlichen Überzeugungen von der „sozialen Vererblichkeit“ herausragender Eigenschaften zugrunde lägen, nicht zu verstehen. Aber es könne festgestellt werden, dass die „Überlegenheit von Macht und Güterbesitz“ notwendig auf die Nachkommen übergehe; dass die Söhne „hoher Eltern“ durch die natürliche Verbindung mit anderen angesehenen Personen leichter wieder in hohe Ämter gelangten. Sind diese Vorteile der Nachkommen privilegierter Eltern auch rational noch ohne weiteres nachzuvollziehen, so führte der Autor darüber hinaus aber noch ein „irrationales“ Argument ins Feld: nämlich, dass das Andenken an die Auszeichnungen der Vorfahren „von selbst“ ein günstiges Vorurteil für deren Nachkommen erwecke. Doch würden alle diese Argumente einen Rationalisten ebenso wenig überzeugen, wie der Umstand, [...] daß, wenn die gelehrtesten und weisesten Menschen vieler Jahrhunderte von diesem Dogma diese bestimmte Überzeugung gehabt haben, dies für seinen Hochmuth nur die mindeste Auctorität abgeben könne. 69

67 „Warum hat in unserer Zeit der Adel ganz besonders sich eines christlichen und kirchlichen Sinnes zu befleißigen?“, in: „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 15, Mittwoch 19. Februar 1840, S. 57-59, hier S. 57. 68 Vgl. oben Einleitung Kap. 1.2. 69 „Warum hat in unserer Zeit der Adel ganz besonders sich eines christlichen und kirchlichen Sinnes zu befleißigen?“, in: „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 15, Mittwoch 19. Februar 1840, S. 57-59, hier S. 59.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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Doch aufgrund dieser „irrationalen“ Elemente, die der Idee adliger „Geburtsauslese“ zugrunde lägen, so ließen sich die weiteren Ausführungen dieses Autors resümierend zusammenfassen, könne es als eine plausible und sinnvolle Aufgabe im Standesinteresse gelten, den Glauben im Alltag einer breiteren Bevölkerung lebendig werden zu lassen. Das Mittel dazu erkannte der Autor im regelmäßigen und vorbildhaften Kirchenbesuch – eine Betätigung, die auch adligen Personen ohne sonstige herausragende Verdienste ermöglichen würde, in vorgelebter Frömmigkeit standesgemäße „Leistungen“ zu erbringen, und gegenüber der nichtadligen Öffentlichkeit dem gesamten Adel eine erneuerte Autorität zu gewinnen: Aber fromm sein, das kann Jedweder, dem lieben Gott durch ein demüthiges und edles Herz danken, das stehet allen Menschen wohl an. Das kann und soll auch der Edelmann. Wenn er sich selbst auch nicht zum Ersten oder zu einem der Ersten gemacht hat, so soll der doch in seinem Kreise der Erste zu sein streben, so soll der durch Tugend und Gottseligkeit das ersetzen, was an seinen sonstigen Leistungen für das Wohl des Vaterlandes und zur Ehre seines Stammes abgeht.70

Auch wenn der Autor anonym blieb, ließe sich doch mit einiger Plausibilität aus diesem entworfenen Standesideal schließen, dass hier mit hoher Wahrscheinlichkeit der Standesvertreter einer katholisch, womöglich gar reichskirchlich-stiftsadlig geprägten Adelslandschaft sprach. Seine Ausführungen über die erwünschte Verschränkung von Besitz, Verantwortung für das Landeswohl und persönlicher Frömmigkeit würden diese Annahme unterstützen: Man kann in unseren Tagen – und hätte das eigentlich zu jeder Zeit thun müssen – annehmen, es solle ein neuer Adel begründet werden. Wie das sonst ist, macht auch jetzt noch immer Grundbesitz, frommer Sinn und Verdienst um das Vaterland zum Adligen.71

So empfahl der Verfasser eine Erneuerung des Adels unter Rückgriff auf diese Traditionen, die, auch wenn sie noch besonders in katholischen Regionen der ehemaligen Reichskirche lebendig, bzw. stark erinnert wurden, ebenfalls für den protestantischen Adel vorbildlich werden könnten. Die Mitglieder des Adels sollten gezielt einfache Positionen des geistlichen Standes anstreben – vor allem in den protestantischen Kirchen, „[...] so würde doch nach und nach auch in der protestantischen Kirche das-

70 „Warum hat in unserer Zeit der Adel ganz besonders sich eines christlichen und kirchlichen Sinnes zu befleißigen?“, in: „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 14, Sonnabend 15. Februar 1840, S. 53-54, hier S. 54. 71 „Warum hat in unserer Zeit der Adel ganz besonders sich eines christlichen und kirchlichen Sinnes zu befleißigen?“, in: „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 15, Mittwoch 19. Februar 1840, S. 57-59, hier S. 59.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

selbe Verhältnis sich wieder bilden, was ehemals bei den Anfängen der katholischen Statt fand.“72 Dieser Aufruf blieb allerdings, anders als die Aufforderungen zur Bildung von Adelsvereinigungen ohne bemerkenswerte Resonanz. Andere Vorschläge und Forderungen einer moralischen Erneuerung traten überwiegend in kursorischer Form, vor allem im Kontext allgemeiner Programme adliger Selbstorganisation auf (Adelsvereine). Eine weitere Ausnahme findet sich z.B. unter der Rubrik „Correspondenz-Nachrichten“ schon im Januar 1840, in der als mögliche Vorbilder für den deutschen Adel zwei polnische Adelsvereine vorgestellt wurden, welche durch eine binnenständische Selbstkontrolle die Ausgaben polnischer Adliger für Luxusgüter begrenzen helfen, bzw. den Adel in Fragen der Wirtschaftsführung beraten sollten.73 Im Falle des einen handelte es sich um einen adligen Luxus-Verein, der das Ziel verfolgte, den Konsum in „Kleidung, Einrichtung und Bewirtung“ so zu begrenzen, dass der Adel wirtschaftlich nach dem polnischen Aufstand von 1830 wieder in Höhe käme. Zu diesem Zweck stand ihm ein eigenes „Comitee für Moden“ zur Seite! Der zweite Verein zielte darauf mit Rat und der Tat (der Verein war verschiedenen Kredit-Vereinen angeschlossen) die „wirtschaftlichen Verhältnisse der adligen Mitglieder steuern [zu] helfen“. Das Besondere dieses zweiten Vereins war es, dass ihm auch ein Rügerecht gegenüber Mitgliedern zugestanden wurde. Aber als eigenständiges Sujet blieb die „moralische Erneuerung“, insbesondere in Verbindung mit Religion und gelebter Religiosität, zur Zeit der redaktionellen Federführung durch Motte Fouqué auffällig unterentwickelt. Demgegenüber fallen die durch die Redaktion (Fouqué) vorgetragenen Versuche auf, dem Adel durch eine ideologisch-historisierende Formierung eine neue gemeinsame, die geographischen und binnenständischen Unterschiede relativierende weltanschauliche Grundlage zu schaffen.

Die ideologische Formierung und Neuausrichtung des Adels (Fouqué) Gleichheit in der Differenz? Differenz in der Gleichheit? – der Adel als „Anders-Gleicher“ Schon in der ersten Nummer der Adelszeitung vom 1. Januar 1840 hatte Friedrich de la Motte Fouqué die Absichten und Ziele dieser neuen Publikation in einem „Vorwort an unsere Leser“ in den Linien umrissen, wie sie sich dann bis zu seinem Tod im Januar

72 „Warum hat in unserer Zeit der Adel ganz besonders sich eines christlichen und kirchlichen Sinnes zu befleißigen?“, Nr. 16, Sonnabend 22. Januar, S. 61-62. 73 „Correspondenz-Nachrichten. Zwei Briefe aus Warschau“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 3, Mittwoch 8. Januar 1840, S. 11; und Ebd.: Nr. 4, Sonnabend 11. Januar 1840, S. 15.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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1843 wiederfinden lassen.74 Als verantwortlicher Redakteur gab er nicht nur entscheidende Anstöße in den von ihm geschriebenen Artikeln, sondern kommentierte eingegangene Beiträge und Stellungnahmen in Anmerkungen und Gegendarstellungen. Auch auf die (wenigen) regelmäßigen Kontribuenten dürfte sein Einfluss stark eingewirkt haben. Besonders deutlich wird dieser Einfluss in den von ihm eingebrachten Begriffen, die von einigen seiner Mitautoren bereitwillig übernommen wurden und die in ihrem scheinhistorischen Verfahren maßgeblich den „innovativen“ Charakter der Publikation belegen. Dabei zielte Fouqué auf den Entwurf eines weitgefassten, „integrativen“ Selbstverständnisses des Adels, um den Adel über überkommene Binnendifferenzierungen und regionale Sonderheiten hinweg einigen und auf eine gemeinsame Grundlage stellen zu können.75 Diese größere Geschlossenheit als Stand sollte es dem Bürgertum erleichtern, wenn schon nicht die überkommenen adligen Privilegien in ihrer Gänze, so doch eine sozial-kulturelle (und damit indirekt auch politische) „Präeminenz“ des Adels als wünschbar und mit den eigenen Interessen kompatibel anzuerkennen, ihn als führenden Partner in einer neo-ständisch verfassten Gesellschaft zu akzeptieren. Nicht zuletzt diese geschickte Argumentationsfigur dürfte Friedrich Engels zu seinem bei aller Kritik anerkennenden Kommentar zu Fouqués „Vorwort an unsere Leser“ bewegt haben.76 Deshalb musste es Fouqués vordringlich darum zu tun sein, den Adel innerlich zu formieren und auf ein neues Selbstverständnis einzuschwören. Wie in seinen späteren Beiträgen bemühte sich Fouqué gleich in seinem „Vorwort“ darum, die grundsätzlichen historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen den, wie Fouqué es nannte, „drei Erbständen“ (d.h. Adel, Bürger und Bauern) anzurufen, um so den Adel lediglich als „Stand neben anderen Ständen“ zeichnen und die tatsächlichen Unterschiede in Machtchancen und materiellen Privilegien zwischen den Ständen latent relativieren zu können: Wie es an und für sich keinen Anspruch auf höheres Verdienst begründen kann, dem Adel anzugehören, kann dieser Umstand auch nicht eben so wenig eine Veranlassung zur Hinabwürdigung begründen. Wie man, ohne deshalb gescholten, oder gar bescholten zu werden, von den eigenthümlichen Rechten und demzufolge auch Pflichten des Bürger- oder Bauer-Standes, oder irgend eines denkbaren Standes sonst, billigerweise reden kann, wird es auch eben so wohlvergönnt sein, von den Rechten und Pflichten des Adels zu reden, und dieselben erläuternd in’s

74 „Vorwort an unsere Leser“, von Friedrich de la Motte Fouqué, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Erste Nummer, 1. Januar 1840, S. 1-4. 75  In diesem rückprojezierenden Entwurf einer angeblich ursprünglichen Gesellschaft der „Gleichen“ von Adel könnte ein weiteres Beispiel der von Hartwig Brandt bezeichneten Idee eines „[…] anverwandelten, ins Konservative gewendeten Rousseau […]“ gesehen werden, wie er dies für die Adam Müllersche Idee der „Repräsentation“ beschrieb: vgl. Ders., Adel und Konstitutionalismus. Stationen eines Konflikts, in: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 17701848, München 1994, S. 69-81, hier S. 72. 76 Siehe oben Kap. 4.1.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Auge zu fassen, sowohl ihrer einfach klaren Idee nach, als auch vermöge geschichtlicher Entwicklung in den mannigfaltigsten Zeitepochen.77

Anhand prominenter historischer Beispiele herausragender nobilitierter „Aufsteiger“ suchte Fouqué die grundsätzliche Offenheit des Adels als Stand zu illustrieren, indem er gerade den Nobilitierten eine herausragende „Adelsqualität“ zuerkannte: Ja, ein neu als ritterlich anerkanntes Geschlecht übt hierbei den eigenthümlichen Zauber einer in die Wirklichkeit eintretenden alten Sagenherrlichkeit. Der Edelmann, aus uraltem Geschlecht entsprossen, muß, versteht er anders wahrhaft seine Väter und sich selbst, mit dem begeisternden Gefühl zu dem Begründer eines beginnenden Ritter-Geschlechtes aufblicken [!]: „Da erscheint Dir Dein Urahn in sichtbar herrlicher Gestaltung auf’s Neue!78

Diese Argumentationsstrategie kam nicht weniger als einer Umwertung aller adligen Standeswerte gleich, die ja traditionell den Nobilitierten gerade eben nicht dem eigentlichen Adel zurechneten, sondern dazu „adlige Geburt“ voraussetzten, also mithin die volle „Adelsqualität“ erst den Kindern, in der Regel sogar erst den Enkelkindern zugute zuschrieb. Fouqués strategischer Ansatz, die grundsätzliche Kompatibilität und, wenn schon nicht Interessengleichheit, so doch Interessenparallelität zwischen Adel und (höherem) Bürgertum zu propagieren, findet sich auch in seinen redaktionellen Beiträgen, die dieses Thema vielfältig variiert in illustrativer und suggestiver Weise vortrugen – den Adel suchte er als „Mitstand“ des „Bürger- und Bauernstandes“, als „Anders-Gleicher“ neben „Anders-Gleichen“ rhetorisch zu positionieren. So finden sich unter der Überschrift „Gegensätze“ zwei Anekdoten, um die unterschiedliche Haltung von „Klein“- und „Groß“-Bürgertum gegenüber dem Adel anschaulich zu machen: im einen Falle äußerte sich der Bürger „einer kleinen Stadt“ dahingehend, dass wahrer Bürgergeist automatisch sich gegen den Adel äußern müsse. Dagegen wird in der zweiten Anekdote ein „hansischer Großbürger“ vorgestellt, der sein Unverständnis gegenüber einer grundsätzlichen Adelsfeindschaft seitens Bürgerlicher äußerte, da diese Ausdruck bürgerlicher „Duckmäuserei“ (also eines Minderwertigkeitskomplexes) sei:

77 „Vorwort an unsere Leser“, von Friedrich de la Motte Fouqué, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Erste Nummer, 1. Januar 1840, S. 1-4, hier S. 1-2. 78 Vgl. „Vorwort an unsere Leser“, von Friedrich de la Motte Fouqué, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Erste Nummer, 1. Januar 1840, S. 1-4, hier S. 2. Fouqué führte die Namen damals geläufiger „Aufsteiger“ in den Adel an: die auch heute noch bekannten Derfflinger und Fugger, den Stallmeister des Großen Kurfürsten Emanual Froben (vgl. ADB Bd. 8, S. 124-125) sowie Friedrich v. Jung-Stilling (1795-1853), russischer Oberpostmeister und Stadtrat in Riga (vgl. NDB Bd. 10, S. 665*). Wer mit „Günther“ gemeint sein könnte, ließ sich nicht klären.



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Was aber kann mehr unsern Stamm [den bürgerlichen, G. H.], und somit auch uns selbst, erniedern, als wenn wir uns unter einen neben uns hergehenden Stamm gestellt erklären, im Wahn, wir müßten ihn uns erst vom Nacken heben, um das Haupt frei gegen das uns, wie ihm offen beschiedene Firmament emporzurichten!79

Doch wollte Fouqué diese von ihm behauptete relative „Gleichheit“ von Adel und höherem Bürgertum nicht dahingehend verstanden wissen (wie dies einige eingesandte Beiträge taten), dass Bürgerliche einen vereinfachten Zugang zum Adel finden sollten oder beide Stände langfristig sogar miteinander verschmelzen sollten. Vielmehr sei die „Trias der Stände“ als naturgemäße Entfaltung der Nationen bewährt. Zwar betonte Fouqué: „Daß demgemäß eine Kastentrennung der Stände weder hier beabsichtigt werden soll, noch überhaupt nur denkbarlich ist, geht aus den so eben dargestellten Ansichten von selbst hervor.“80 Aber wie u.a. aus der Rezension des Buches „Über den Adel, als einen zur Vermittlung zwischen Monarchie und Demokratie nothwendigen Bestandstheil“ hervorging, begründete die „Redaktion der Adelszeitung“, und das heißt maßgeblich Fouqué, den Adel als eine anthropologische Konstante: Daß der Sohn des Erfinders einer neuen Art Dampfmaschine kein Verdienst um die Mechanik ansprechen kann, daß der Sohn eines Feldherrn nichts zum Gewinn der Schlacht, die sein Vater oder Großvater geschlagen, beigetragen hat, dies zu läugnen, wird wohl keinem Menschen, der über seine fünf Sinne frei zu disponieren im Stande ist, einfallen, demungeachtet wird sich der Nachkömmling des Einen wie der des Andern etwas auf seine Geburt einbilden, und dies liegt auch dergestalt in der menschlichen Schwäche, daß Niemand der Wahrheit nach behaupten kann, er sei frei davon; mithin ist jeder Mensch ein geborener Aristocrat. Irgend eine Aristocratie aber ist unvermeidlich. Würde heute ein agrarisches Gesetz proclamiert, so würde es vierundzwanzig Stunden später bereits wieder eine Aristocratie geben, [...]. Vernichtet man die eben bestehende Aristocratie, so ist sogleich eine neue da, ist es keine gute, so wird es eine schlechte sein, und es fragt sich nur: ob ein Geburtsadel, ein Geldadel oder ein Beamtenadel der bessere sei. In Amerika, dem Lande der Freiheit und der Schinken, ist es der Hautadel, welcher herrscht.81

79 „Gegensätze“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 6, Sonnabend 18. Januar 1840, S. 22. 80 „Vorwort an unsere Leser“, von Friedrich de la Motte Fouqué, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Erste Nummer, 1. Januar 1840, S. 1-4, hier S. 3. So forderte Fouqué in seinem Beitrag „In wiefern adelt die Stellung in der staatlichen Genossenschaft den Mann und sein Geschlecht? In wiefern kann eine solche Stellung entadeln?“ in der Ausgabe vom 4. Juni 1842, S. 221-222, dass der Offiziersrang in jedem Fall zum persönlichen Adel verhelfen solle, ab einem bestimmten Rang sogar den Geschlechtsadel für dessen ganz Familie. Ein Beamter hätte nach Fouqués Vorstellungen zwar ebenfalls ein Anrecht auf den persönlichen, in keinem Falle aber auf den „Geschlechtsadel“. 81 Diese Rezension bezog sich auf: Friedrich W. v. Geisler, „Über den Adel, als einen zur Vermittlung zwischen Monarchie und Demokratie nothwendigen Bestandstheil. Minden 1835. Die Rezension befindet sich in der „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 48, Sonnabend 13. Juni 1840, S. 191-192. Diese Rezension ging nicht auf den Inhalt des Buches ein, oder auf die Frage, wie eine funktionale, staatsinstitutionelle Vermittlungsposition und Aufgabe des Adels aussehen könnte. Stattdessen wurde eine Art Kurzabriss der wesentlichen leitenden Auffassungen der Adelszeitung geboten: „Wir sehen

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Alle Mitglieder der Gesellschaft trügen also eine „adlige Latenz“ in sich, die nach Umständen „aktivierbar“ sei. Fouqué lehnte aber Ideen einer Adelsreform ab, die einer pauschalen Inklusion starker Anteile bürgerlicher Aufsteiger in den Adel gleichkam. So schien es Fouqué notwendig, sich in einem Anhang am Schluss der Artikelserie „Betrachtungen über die Gegenwart und Zukunft des Adels und des gesellschaftlichen Zustandes überhaupt“ ausdrücklich von dessen Inhalt zu distanzieren da er „in mancherlei Ansichten von dem geehrten Einsender abweiche“.82 Fouqué wurde in dieser Anmerkung nicht konkreter. Doch sind die Differenzen zwischen seinen Ansichten und denen des Einsenders offensichtlich: denn dieser Beitrag sprach sich nicht allein für eine Stärkung des Adels aus, indem das bestehende (römische) Erbrecht abgeschafft und verbesserte Bodenbindungsbestimmungen ersetzt werden sollte83 – sondern forderte im Gegensatz zu den Intentionen Fouqués eine auf großem

überdies, daß selbst das Bürgerkönigthum in Frankreich nicht ohne eine Pairskammer zurecht zu kommen glaubte und wenn in einer Zeit, wie die jetzige, die materiellen Interessen vorherrschen, und der Adel – oder was wir für identisch halten, die Bedeutung desselben, nur beim Comptoirtische, beim Klingen des Geldsacks, in der Fabrik, beim Knarren der Spinnmaschine oder beim Brodeln des Farbkessels gewonnen werden kann, so wird über kurz oder lang dennoch wieder eine Zeit eintreten, wo der tapferste Krieger der Edelmann sein wird. [...]. Fragt man dagegen: ob dies immer so bleiben wird, ob es immer so bleiben soll? so wird Jeder, dem es wahrhaft um Fortschritte zum Bessern zu thun ist, mit: Nein! antworten, und dieses: Nein! wird der Vernünftige auch auf die heutigen Verhältnisse unseres Adels gern anwenden.“ Der Vorwurf der Adelsbevorrechtigung sei lächerlich in einer Zeit in der jedem Gebildeten alle Stellen, mit Ausnahme einiger weniger Hofstellen offenstehen, denn auch diese würden mehr aus Gewohnheit von den Fürsten an Familien gegeben werden, die seit Jahrhunderten mit ihrem Haus verbunden seien. Es gäbe nur noch etwas noch lächerlicheres als jemand der eine Position begehrt, die er nur aufs lächerlichste und ungeschickteste ausfüllen würde, nämlich einen verarmten, verdienstlosen Adligen, der ein Handwerk betreibt und dabei auf seinem „von“ besteht und es nicht ablegt bis bessere Zeiten kämen. „Jeder Gebildete ist in unseren Tagen ein Edelmann (Gentleman), will der adlich Geborene mehr sein, so stehen ihm so gut, wie jedem Andern, die Wege, sich Verdienste zu erwerben, offen; hat er diese, so wird jeder Unbefangene den Sohn, der seine Väter sich würdig erwies, nur um so mehr achten.“ 82 „Betrachtungen über die Gegenwart und Zukunft des Adels und des gesellschaftlichen Zustandes überhaupt. Vorschläge zur Gestaltung der Zukunft“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 20, Sonnabend 7. März 1840, S. 77-78; Nr. 21, Mittwoch 11. März 1840, S. 81-82; Nr. 22, Sonnabend 14. März 1840, S. 85-86; Nr. 23, Mittwoch 18. März 1840, S. 89-90. Diese Artikelserie stellt eines der wenigen Beispiele dar, in denen Einsender eine echte Adelsreform unter Einschluss eines großen Teiles bürgerlicher „Neuadliger“ befürworteten. 83 „Daß es in Deutschland noch einen Bauernstand und einen Rest alter Ritterfamilien gibt, verdankt man lediglich der Abweichung, welche durch deutsche Rechte (Lehn- und Meierrecht, Gutsbehörigkeit) von den römischen Erbfolgerechten bewirkt wurden. Der Bauernstand, welcher jetzt, von den Banden der Dienstpflicht befreit, sichtlich aufblüht, wird in zweiter, höchstens dritter Generation in Folge der zerstörenden Wirkung des römischen Erbfolgerechtes ohnfehlbar völlig ruiniert sein, durch Natural-Erbtheilung oder Theilung des vollen augenblicklichen Werthes und daraus entstandener übermäßiger Hypotheken-Last. Und das preußische Landrecht, Thl. 2, Tit. 2,§ 392 geht in Beschränkung des natürlichen, väterlichen Dispositions-Rechtes sogar noch weiter, wie das römische. Das römische Recht gestattet unter allen Umständen die freie Disposition über die Hälfte des Vermö-



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(und gebundenem) Bodenbesitz und Leistungen im Staatsdienst gegründete erhebliche Ausweitung der Nobilitierungen. Es läge in der Verantwortung des Adels, die „Recrutierung neuer Mitglieder“ verabsäumt zu haben. Daher sei es an der Zeit, dass, „wie zur Zeit der Blüthe des Ritterthums, sich alles [zum Adel, G. H.] bekennt, was sich durch Vermögen und Bildung über die große Menge erhebt“. Zur Zeit des Rittertums habe es nur das Verdienst der Waffen gegeben – jetzt sei das Verdienst weit „manichfacher“: Wer jetzt klug und tapfer genug ist, um Offizier, Assessor, Professor zu werden, würde früher sicher auch klug und tapfer genug gewesen sein, um sich die Rittersporen oder ein geistliches Ordenskleid zu verdienen. Warum soll die Quelle des Adels nur einmal wahrhaft zeitgemäß allen, welche ihr Verdienst durch die That bewährten, gesprudelt haben? Hat etwa die menschliche Natur, oder die Natur des Verdienstes sich geändert, weil die Formen der Gesellschaft und die Formen des Verdienstes sich änderten?84

Zudem wurde eine umfassende Nobilitierung bürgerlicher Rittergutsbesitzer versäumt: Es würde die Verminderung des Adels an Zahl und Besitz die Existenz des ganzen Standes minder bedroht haben, wenn man, als der Grundsatz aufgegeben werden mußte, daß nur Ritterbürtige Rittergüter erwerben können, den nun zugelassenen bürgerlichen Käufern die Lösung eines Adelsdiploms gesetzlich zur Pflicht gemacht hätte. So hatte man sich in Schwedisch-Pommern vor einer Schwächung und Theilung des Ritterstandes während der schwedischen Regierung bewahrt. Die Fürsten Deutschlands scheinen oft die an sich wünschenswerthe Erhaltung alter verdienter Familien, nicht aber die noch weit wichtigere Erhaltung des ganzen Standes berücksichtigt, und in den Bemühungen für Erhaltung aller Familien wenig Glück gehabt zu haben.“85

Fouqué sprach sich in seinen Reaktionen und Kommentaren zu solchen Einsendungen zwar immer wieder für eine Stärkung des Grundbesitzkriteriums für den Adel aus – und befürwortete ausdrücklich den Verlust des Adels nicht nur in Fällen persönlicher Vergehen (in welchem Fall auch nur die betreffende Person den Adel ver-

gens, – das preußische nur über ein Drittheil, sobald fünf oder mehrere Kinder vorhanden.“ Deshalb forderte der Einsender: „Das Mindeste was geschehen muß, ist, die jetzt zu 1/3 und 1/2 bestimmten Pflichttheile des römischen Erbrechts auf 1/6 und 1/4 herabzusetzen – dann zu verordnen, daß die Taxen nicht nach augenblicklichem, sondern nach 100jährigem Durchschnittswerthe der zu taxierenden Gegenstände ermittelt werden; weil man nur so hoffen darf, einen bleibend gültigen Werth zu ermitteln“, vgl: „Betrachtungen über die Gegenwart und Zukunft des Adels und des gesellschaftlichen Zustandes überhaupt. Vorschläge zur Gestaltung der Zukunft“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 21, Mittwoch 11. März 1840, S. 81-82. 84 „Betrachtungen über die Gegenwart und Zukunft des Adels und des gesellschaftlichen Zustandes überhaupt. Vorschläge zur Gestaltung der Zukunft“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 20, Sonnabend 7. März 1840, S. 77-78. 85 Ebd.

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lieren sollte) oder der Egreifung „unadliger“ Erwerbszweige, sondern teils auch bei Verlust des Grundbesitzes.86 Doch blieb für Fouqué der Kern adliger Zugehörigkeit weiterhin das „Geblüthsrecht“, auch wenn der Adel möglichst „begütert“ sein sollte. In Fällen des Güterverlustes sollte deshalb der Adel nicht dauerhaft verloren gehen, sondern nur „ruhen“, um bei neuerlichem sozialen Aufstieg wieder ergriffen werden zu können. Dabei berief sich Fouqué auf ein in der zeitgenössischen Adelsliteratur verbreitetes angeblich historisches Beispiel aus der Bretagne, das durch einen Einsender zitiert wurde.87 Aus demselben Grund sollte nach Fouqués Auffassung auch eine unterschiedliche Qualität der „Besitzthümer“ keine grundsätzlichen scharfen innerständischen Grenzen ziehen dürfen: Legen wir also dem Grundbesitze keinen eingebildeten, sondern nur seinen wirklichen Werth bei, und halten nicht ferner an mittelalterlichen Ungereimtheiten! Auf unsere drei Erbstände gründet sich unser ächtes Teutenthum, nicht auf das Land, das seine Geltung nur als unser Grund-Eigenthum durch unser Stammvolk erhalten hat, und das wohl Jahrtausende hindurch nur eine Wüstung war, die von Auern, Bären, Wölfen, Ebern, Eulen, Adlern und anderen wilden Tieren bewohnt war, ehe es die Teuts-Söhne in Besitz nahmen, und als ihr Eigenthum gegen die Altrömer behaupteten.88

Außerdem erwies sich wie schon 1806 und 1819/20 Fouqués starke Orientierung am Militäradesideal als bestimmend für die Zielrichtung seiner historisierenden Adelsle-

86 Vgl. z.B. Fouqués zustimmende Rezension des Buches von Dr. M. F. W. Grävell, Der Baron und der Bauer, oder das Grundeigenthum, Leipzig 1840, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 34, Sonnabend 25. April 1840, S. 134-136. In einer eigenen etymologischen Interpretation leitete Grävell den Titel „Baron“ historisch von „Bar“ oder „Ber“, d.i. der „Freie“, ab, um darauf einmal mehr die Idee einer ursprünglichen gleichen „Gemeinfreiheit“ von (niederem) Adel und Bürgertum zu begründen. Die Idee Grävells, den Geburtsadel „der keine Majorate zu begründen im Stande ist“ dadurch zu „verwischen“ indem man „das ganze Land adelt“ bedachte Fouqué allerdings mit einem „Lächeln“. Die französische Bestimmung, dass Adelsanmaßungen keiner Ahndung unterlägen wäre für eine solche „inflationsbedingte“ Entwertung von Adelstiteln, die nicht durch (Grund)Besitz unterstützt würden, völlig ausreichend. Der besprochene Autor ist Maximilian Karl Friedrich Wilhelm Grävell, ein Jurist und preußischer Staatsbeamter, der sich auch als juristischer und philosophischer Schriftsteller betätigte. Er wurde 1781 in Belgard (Hinterpommern) als Sohn eines Feldpredigers geboren, war früh verwaist, studierte in Halle. Er veröffentlichte eine Reihe von Schriften zur preußischen Verfassungsfrage, wurde 1848 Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung und starb 1860 in Dresden. Er besaß ein Rittergut Wolfshain bei Spremberg in Brandenburg. Er beriet seine Gutsnachbarin, die Fürstin Pückler-Muskau, Tochter Hardenbergs und Ehefrau des berühmten Gartengestalters, in Rechtsangelegenheiten gegen den preußischen Staat und die Gemeinde Großdüben. 87 Vermutlich war dieser angebliche historische Beleg jedoch Yorick Sternes „Sentimental Journey“ entnommen. Vgl. „In wiefern adelt die Stellung in der staatlichen Genossenschaft den Mann und sein Geschlecht? In wiefern kann eine solche Stellung entadeln?“ in der Ausgabe vom 4. Juni 1842, S. 221-222. 88 „Über Nennung und Verhältnisse des ersten Erbstandes. Beschluß“, in: „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 94, Mittwoch 24. November 1841, S. 373-374, hier S. 373.



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gitimation. Nicht nur in seinem „Vorwort“, auch in seinen späteren Beiträgen schrieb er dem „Waffendienst“ eine herausragende Rolle als adliges Betätigungs- und Bestätigungsfeld zu: Oder wer durch ein anderweitiges Verdienst, nach vorhin bereits angedeuteter achtungswerther Möglichkeit, in den Adelstand eintritt, bekenne sich zugleich als verpflichtet, mindestens für seine Nachkommen den Grundberuf einer kriegerischen Bestimmung in rüstiger Stetigkeit festzuhalten, aller sonstig ehrbaren Tüchtigkeit unbeschadet.89

Diese Unterstützung des Militäradelideals darf aber nicht mit einer kritiklosen Identifizierung Fouqués mit dem Wertehorizont des ostelbischen (kleinen) Land- und Offiziersadels verwechselt werden, in den seine Vorfahren als zugewanderte „Außenseiter“ hineingewachsen waren. In verschiedenen seiner Beiträge zur Adelszeitung warnte er den Adel vor einem „Junkertum“ – einen Begriff, den er nicht genauer ausführte, aber unter dem aus dem Kontext ein politisch wie sozial allein auf Wahrung seiner Eigeninteressen bedachter Adel verstanden werden kann. Fouqués Einstellung gegenüber dem Grundbesitzkriterium stellt sich also recht ambivalent dar: einerseits sollte der Grundbesitz den Adels-“Stand“ mit dem Bürger- und selbst den Bauern“Stand“ zu einer „Genossenschaft“ der „Standesrechte“ pseudo-egalisierend verbinden, aber andererseits unterschiedliche Grundbesitzqualifikationen keine binnenständischen Unterschiede innerhalb eines der „Erbstände“ wie den des Adels begründen können: Selbst das Bestizthum des regierenden Adelshauses [also des Monarchen! G. H.] in einem Staate kann nicht mehr Rechte und Werth haben, als jedes Privatbesitzthum aller drei Erbstände. Die Würde und der Adelstitel eines Altstandsgeschlechtes bildet nur Classen oder Stufen eines und desselben Erbstandes, und unter den angesessenen Bürgern (sie mögen viel oder noch so wenig vom Staatsboden besitzen) gehören die Altstandsbürger zur Genossenschaft unserer Standesrechte.90

Fouqué ging sogar noch weiter und propagierte eine grundsätzliche Öffnung des gesamten Bodeneigentums für alle sozialen Gruppen – einschließlich des Bodeneigentums der Territorialfürsten: Beachten wir das Vaterland in allen seinen Theilen gleich werth als unser Volkseigenthum, und nützen wir es so vortheilhaft, als wir es können, nur gewöhnen wir uns ab, Fürsten-, Herzog-, Grafen-, Ritter- oder Herrenthümer darin zu sehen, sondern nur als Grundstücke, deren ganzer Unterschied nur in ihrer Mehr- oder Minderfruchtbarkeit besteht, und lassen sie eben so bald Eigenthum eines Altstands-Genossen jeder Rangclasse sein, bald auch wieder dem Burger- oder

89 „Vorwort an unsere Leser“, von Friedrich de la Motte Fouqué, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Erste Nummer, 1. Januar 1840, S. 1-4, hier S. 2. 90 „Über Nennung und Verhältnisse des ersten Erbstandes. Beschluß“, in: „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 94, Mittwoch 24. November 1841, S. 373-374.

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Bauernstande angehören, je nachdem das Vermögen eines Jeden oder die Liebhaberei es verstattet.91

Dieser allgemeinen Verkehrsfreiheit des Bodens solle aber eine innerständisch-adlige vorangehen – und dazu sollte ein von der Adelszeitung initiierte „Adelsverein“ einen ersten Anstoß geben! Mit unserem Erbstande muß unerläßlich der Anfang gemacht werden, ihn, als ersten Erbstand, in richtige Stellung zu bringen, weil er durch den Verlauf der Jahrhunderte heraus-, und zuletzt durch die Alles verderbende Erbfolge, die Afterweisheit, wie durch die falsche Freiheits- und Gleichheitslehre der Neufranken im Westen Europas, auch um einen großen Theil des Wohlstandes gebracht worden ist. Ein Verein aller Titel- und Rangclassen unseres Erbstandes muß vorangehen, wenn dieser wichtige und eben jetzt dringend nothwendige Zweck der Richtigstellung unseres Erbstandes und der Hebung des Stammvolksgeistes erzielt werden soll.“92

In dieser Vision einer gesamtadligen (sogar den hohen Adel umfassenden!) Standesgleichheit spiegelte sich Fouqués eigene prekäre Adelsexistenz, die er durch den schmerzlichen Verlust seines „erheirateten“ Gutes Nennhausen nach dem Tod seiner Frau Caroline und dem anschließenden Zerwürfnis mit deren Familie besonders scharf erfahren musste. Am eigenen Leib hatte Fouqué die unangenehmen Konsequenzen des noch gültigen familien-lehensmäßig orientierten Erbrechts in Preußen erlebt, das den „Eingeheirateten“ gegenüber den blutsverwandten Agnaten benachteiligte. Um ganz seiner eigenen Situation entsprechend mahnte Fouqué in einer Anmerkung die Solidarität seiner Standesgenossen mit dem armen Adel in den Fragen standesgemäßer Eheschließungen an – hatte er doch 1833, zwei Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau, in Halle die „unstandesgemäße“ Albertine Tode geheiratet: Hierbei ist besonders zu bemerken, daß der Theil unseres ersten Erbstandes, der glücklich mit seinem Vermögen, an Grundbesitze sowohl, als an Gelde und anderen Werthsachen, bisher durchgekommen ist, sowohl, als der Theil, dessen Geschlechter nichts an ihren Ahnenproben – der sogenannten Stiftsmäßigkeit – verloren haben, auf jenen Theil unserer Erbstands-Genossenschaft, der in den Unglückszeiten genöthigt war, in großer Beschränkung – bisweilen bis zur gänzlichen Verarmung – zu leben, und bei seinen Verehelichungen nur auf häusliches Glück und nicht auf Ahnenproben zu sehen, nicht unter bitteren Äußerungen, sondern nur mit liebevoller Theilnahme hinsehen möge, wie dieses ohnehin unser Erbstand unbedingt fordert, weit mehr aber noch in unserer Zeit, die Alles von sich werfen muß, was der Eintracht, folglich dem Teutenthume und unserer nothwendigen Volksmacht gegen Außenfeinde zuwider ist.

91 Ebd., hier S. 373. 92 Ebd.



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Fouqués Neuentwurf des Adelsstandes durch historisch-begriffliche Auswahl und Formierung überkommener Adelsmerkmale Durch die Behauptung einer angeblich „ursprünglichen“ ständischen Gleichheit des Adels versuchte Fouqué den Stand von Grund auf neu auszurichten und zu strukturieren. Die Begriffe und Bilder die er dabei verwendete, griffen tief in das überkomme adlige Selbstverständnis ein. Wiederholt betonte Fouqué, dass eine Erneuerung des Adels keineswegs einfach die Bestätigung bzw. Wiederherstellung des Alten bedeuten könne. Versuchte Fouqué die ständischen Abgrenzungen zwischen Adel, Bürgertum und Bauern einerseits zu bekräftigen, andererseits das Machtgefälle zwischen ihnen zu relativieren, indem er sie in einem neuen Verständnis als „Mitstände“ titulierte, so wollte er dessen binnenständische Differenzierungen durch die Betonung einer gemeinsamen „ethnologisch-historischen“ Grundlage weitgehend aufheben. Damit operierte Fouqué auf einer begrifflich-rhetorischen Ebene in vergleichbarer Weise, wie dies im selben Zeitraum die Gutachter des Staatsministeriums und ihre externen Berater in der Adelskommission mit Hilfe einer historisch-rechtlichen Argumentation durchführten, und deren Vorstellungen sich subkutan in langfristiger Perspektive auf den Gebieten des Adels-, Namens- und Familienrechts auswirken sollten.93 Fouqué war dagegen vornehmlich auf dem sprachlich-begrifflichen Feld tätig. Dieses bearbeitete er in ähnlicher Weise durch ein utilitaristisches „Auswählen“ ihm geeignet scheinender Elemente anhand seines „poetologischen“ Instrumentariums – weswegen es völlig falsch wäre, seine Poesie als „unpolitischen“ Ausfluss reinen Sentiments zu lesen. Seine poetisch erfasste Interpretation des Mittelalters diente nicht zuletzt dazu, eine neue adlige Selbstzuschreibung zu entwerfen, für das die zeitgenössische Welt wie die Adelsgeschichte keine Vorbilder liefern konnte. In diesem Vorgehen erweist sich der dezidiert „romantische“ Charakter von Fouqué, der zwar mit anderen Mitteln, aber ansonsten ganz vergleichbar zu Friedrich Wilhelm IV. die Vergangenheitsbestände nach eigenen, zeitgenössischen Bedürfnissen und Zielen auswählte und neuordnete. Und wo Friedrich Wilhelm mit den personellen, administrativen wie materiell-architektonischen Elementen seiner Monarchie operieren konnte, musste sich Fouqué auf die ihm zur Verfügung stehenden poetisch-semantischen Ressourcen beschränken. Es ist diese Gemeinsamkeit der assoziativen Reorganisation überkommener Traditionsbestände, die Fouqué und Friedrich Wilhelm als Geistesverwandte unwillkürlich gegenseitig anzog: ein spezifisch moderner Umgang mit alten Formen. So finden sich in der Adelszeitung bemerkenswert früh Argumentationsmuster, wie sie aus den Schriften der deutlich späteren „völkischen“ Literatur als „methodi-

93 Dies schlug sich z.B. in der Tendenz zur Betonung einer adligen Kernfamilie nieder: so in den Ansätzen und Bestimmungen des für die Provinz Preußen vorgeschlagenen neuen Erbrechts, in der Förderung von Fideikommissstiftungen und in den Überlegungen zur Einführung eines preußischen „strict settlement“; aber schließlich auch in den Qualifikationskriterien für das Herrenhaus von 1854; vgl. dazu unten Kap. 4.3.2. und 4.3.3.

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sche Einfühlung“ bekannt sind. Ähnlich wie bei manchen Beispielen dieser späteren pseudo-konservativen Literatur, wurden auch hier überkommene Rechts- und politische Begriffe mithilfe sprachlich-poetischer Zugangsweisen tendenziell „aufzulösen“ und zu „verflüssigen“ versucht, um ihnen eine neue inhaltliche Bedeutung zuschreiben zu können. Nach innen gewendete „Tiefforschung“ (Fouqué!) sollte das Korsett der vorgeblich „falschen“ Erkenntnisse der konventionellen Wissenschaft sprengen, um deren „Irrlehren“ überwinden, und „intuitiv“ den „wahren Kern“ historischer Erscheinungen erfassen zu können. Diese Vorgehensweise wurde programmatisch in der redaktionellen, höchstwahrscheinlich von Fouqué allein verfassten Artikelserie „Über Nennung und Verhältnisse des ersten Erbstandes“ vorgestellt:94 Daher rühren die Irrlehren und ihre weite Verbreitung, in welchen wir befangen waren, bis wir zur Selbstforschung uns genöthigt sahen, um zu richtiger Ansicht zu gelangen. Die Adelszeitung gewährte uns das geeignetste Mittel, die Ergebnisse unserer Tiefforschungen zu besprechen und dadurch gründlich mitzutheilen, insofern nämlich, als dieses im Interesse unseres ersten Erbstandes nöthig erscheint, um die verbreitet gewesenen Irrlehren endlich zu beseitigen, und zur Überzeugung des Wahren auch jene höchst- und hochzuehrenden Standesgenossen über die falschen bisherigen Grundsätze ins hellere Licht zu setzen, die ihnen durch den erhaltenen Jugendunterricht – auch ohne alles Verschulden ihrer Lehrer – einst eingeimpft worden sind. 95

Bezeichnenderweise wurden in diesem Artikel in scheinhistorischer Weise die Deutschen archaisierend als „Teutenvolk“ oder „Teut-Söhne“ angesprochen, war von ihrer „Teutengeschichte“ die Rede, wurde der Deutsche Bund gar als „Teutenbund“ bezeichnet!96 Aber Fouqué griff auch bereitwillig auf die Anregungen seiner Mitautoren zurück, wiewohl er nicht zögerte, in einigen Fällen dieser dilettantischen und pseudo-historischen Bedeutungsableitungen seine Zweifel anzumelden. Fouqué hatte sich schließlich selbst intensiv mit den alt-germanischen Sprachen beschäftigt: Was also der ehrenwehrte Herr Verfasser des Aufsätzchens: „die Entstehung des Namens „Adel“ (Nr. 68, S. 272 dieser Adelszeitung) desfalls sagte, und was der Aufsatz: „Bemerkungen über die Standes-Verhältnisse des Adels“ (Nr. 71, S. 283) vorgebracht hat, ist schätzbarer Beitrag und jedenfalls willkomene Besprechung, wozu die Adelszeitung eigentlich bestimmt ist, aber es ist keine hinlängliche Ermittlung des Zeitpunktes der Entstehung des Namens „Adel“ für unseren ersten Erbstand, so wie dadurch auch nicht erwiesen werden kann, daß unter „Adel“ ein anderer Sinn, als des heutigen Wortes „Alt“, anzunehmen stehe; denn Hunderte von Urkunden in den Archiven aus dem achten und neunten Jahrhunderte beweisen, daß „Athol, Adal, Al, Odal, Ol,

94 „Über Nennung und Verhältnisse des ersten Erbstandes“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 92, Mittwoch 17. November 1841, S. 365-366; Nr. 93, Sonnabend 20. November 1841, S. 369-371; Nr. 94, Mittwoch 24. November 1841, S. 373-374. 95 „Über Nennung und Verhältnisse des ersten Erbstandes“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 92, Mittwoch 17. November 1841, S. 365-366, hier S. 365. 96 „Über Nennung und Verhältnisse des ersten Erbstandes“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 93, Sonnabend 20. November 1841, S. 369-371, hier S. 371.



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Udal, Ul, so wie „Ald, Old, Adel, Odel, Udel“, nicht mehr und nicht weniger sagen als das heutige „Alt.97

Trotz dieser angemeldeten Zweifel wurden in mehreren Artikeln diese fragwürdigen historischen Begriffe wie „Älterstand“ verwendet. Fouqué selbst verstand unter den „Altstandsbürgern“ allerdings die Mitglieder aller drei („angesessenen“) „Erbstände“, also Adel, Bürger und Bauern, worunter der Adel lediglich der „erste Erbstand“ sei. Doch ohne Zweifel durch Fouqués gelehrte Spekulationen zusätzlich angeregt, beteiligten sich auch andere Autoren an solchen formierenden Neuentwürfen. So schlug der Einsender des oben schon zitierten Beitrags „Der Adel, wie er fortbestehen soll“ eine neue Erbordnung mit einer Betonung der Kernfamilie vor, die nicht nur die Töchter „als natürliche Nachkommen“ gegenüber den (männlichen) Agnaten bevorzugte, sondern zugleich völlig neue Titel einführte („Mitherr“), um die nachgeborenen Söhne in ihrer „Teilhaberschaft“ am Geschlechtserbe hervorzuheben: Als Erbteilung wird vorgeschlagen, daß der älteste Sohn ein Drittel des Gesamterbes (samt Namen ‚Herr zu‘), die anderen Söhne unter dem Titel ‚Mitherr‘ ein sechstel Teil, die Töchter ein Zwölftel. Erst nach Aussterben aller natürlichen Nachkommen (auch der Töchter) solle der Besitz an den nächsten männlichen Verwandten gehen.98

Deutlicher noch traten solche „proto-völkischen“ Deutungen und Umdeutungen überlieferter Sozial- und Rechtsverhältnisse in einem redaktionellen Beitrag über die „Nachheile der Aufhebung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses“ hervor, welcher nicht nur in seinen materiell-rechtlichen, sondern in ausführlichen sozialkulturellen Argumenten teils schon die biologistischen Erklärungsansätze für soziale Ungleichheiten und Abhängigkeiten der Neuadelsideen um 1900 vorwegnahm.99

Die korporative Reorganisation des Adels durch einen Adelsverein Praktisches Hauptanliegen der Adelszeitung in der Zeit der Chefredaktion Motte Fouqués war die vereinsmäßige Reorganisation des Adels. Eine solche Organisation

97 „Über Nennung und Verhältnisse des ersten Erbstandes“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 92, Mittwoch 17. November 1841, S. 365-366, hier S. 366. 98 „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 44, Mittwoch 2. Juni 1841, S. 173-174. 99 „Nachtheile der Aufhebung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 41, Mittwoch 20. Mai 1840, S. 161-162; fortgesetzt bis Nr. 48. Friedrich F. Babenzien erkannte in Fouqué allerdings nur insofern einen „Wegbereiter völkischer Kultur“, als er durch seine Studien der nordischen Sprachen und durch die Übersetzungen der nordischen Sagas insbesondere Richard Wagner anregte. Auf Fouqués eigentümliche Geschichtsspekulationen ging Babenzien nicht ein, vgl. Ders.: Der Märker Friedrich de la Motte Fouqué. Ein Wegbereiter völkischer Kultur, in: Deutscher Kulturwart 3 (1936), S. 272-276.

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des Adels wäre einer Adelsreform schon fast gleichgekommen.100 Das Blatt bemühte sich, Anregungen und Initiativen zur Gründung von Adelsvereinen aufzunehmen und allgemein bekannt zu machen. Darüber hinaus gab die Redaktion selbst Anstöße zur Gründung solcher Vereine. In ganzen Artikelserien kam es zu regelrechten Diskussionen verschiedener Projektvorschläge durch Leser und Abonnenten der Zeitung. Die Redaktion kommentierte in eigenen Beiträgen und Fußnoten diese Eingaben. Schließlich ging von der Zeitung selbst eine Initiative zur Bildung eines solchen Adelsvereins aus: ein erstes Treffen zur Konstituierung dieses Vereins, der Diskussion und Verabschiedung seiner Satzung fand im Sommer 1841 in Leipzig statt. Diese bemerkenswerte Initiative zielte in ihrem geographischen wie inhaltlichen Ansatz über alles hinaus, was es (mit Ausnahme der „Adelskette“ von 1815) bis dahin im Deutschen Bund gegeben hatte. Hier soll zunächst die diskursive Vorbereitung dieses Projekts zwischen 1840 bis 1843 betrachtet werden.101 Adelsreorganisation statt Adelsreform Die der Adelszeitung vorgelegten Pläne zielten ausnahmslos darauf ab, die vielfältigen Adelslandschaften zu einer aktiven Zusammenarbeit zu bewegen, den Adel in seiner inneren Konsistenz zu stärken, aber dadurch eben auch nach außen neu abzugrenzen. Jenseits rhetorischer Behauptungen wurde keine realistische Annäherung an andere gesellschaftliche Gruppen, insbesondere an das Bürgertum, gesucht. Adelsstützung, nicht so sehr Reform standen im Mittelpunkt der behandelten adelspolitischen Organisationsversuche. Die Mehrzahl dieser unterbreiteten Vorschläge nahm die finanzielle und materielle Sanierung des Adels zum Hauptziel der Vereinstätigkeit. Die „Verarmung des Adels“ wurde fast stereotyp zur Ursache der Adelskrise erklärt. Inwiefern die Diskutanten dabei von der öffentlichen Adelsdiskussion oder eigenen Beobachtungen geleitet wurden, oder ob das Thema des „verarmenden Adels“ sich jenseits der sonstigen binnenständischen und konfessionellen Grenzen hinweg als besonders konsensfähig erwies, muss offenbleiben. Die Idee einer „Gesamtadelskasse“ Den Auftakt der zahlreichen Aufrufe zur Bildung von Adelsvereinen oder eines neuen „Adelsordens“ machte schon in der zweiten Ausgabe der Zeitung vom 4. Januar 1840 eine Serie mit dem Titel „An den Adel deutscher Nation“, unter welcher Überschrift in

100 „Man kann die neugegründeten Adelskorporationen des 19. Jahrhunderts selbst als Ansätze zur Adelsreform bezeichnen. Denn „Genossenschaft“, „Association“ war auf den verschiedensten sozialen und wirtschaftlichen Gebieten für die Zeitgenossen ein Zauberwort, von dem sie Heil erwarteten, und kaum ein Entwurf zur Reorganisation des Adels, der nicht auf genossenschaftlichen Zusammenschluß gedrängt und dazu oft sehr detaillierte Ausführungen gemacht hätte“, vgl. Heinz Gollwitzer, Die Standesherren, S. 327. 101 Inhaltlich wird diese der Forschung bisher unbekannte Initiative in Kap. 4.2.4. im Zusammenhang früherer Adelsvereinsgründungsversuche genauer vorgestellt.



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Folge eine Reihe verschiedener, meist anonym eingesandter Vorschläge veröffentlicht wurden. Der erste, nach Auskunft der Zeitung ein „von achtbarer Hand der Redaktion mitgeteilter Aufsatz“, beklagte das Versagen „der Mehrzahl des früheren deutschen Adels“ auf wirtschaftlichem Gebiet, dessen „unökonomischen Sinn“. Dieser Mangel ginge oft genug einher mit dem „nicht seltene[n] tolle[n] Glaube[n], daß der Adel über die Nation erhaben sei“, und die daraus abgeleitete Forderung, „bestimmte Staatsund Funktionsstellen exklusiv zu bekleiden“. Im selben Atemzug warf der Verfasser dem Adel einen Mangel an wissenschaftlicher Ausbildung vor.102 Die Uneinigkeit des Adels und seine nicht mit der Zeit gegangenen „Adelsvereine“, „deren Einrichtung nicht selten bis zum Lächerlichen herabgesunken“ seien, hätten diesen Niedergang besiegelt. Zur Überwindung der Krise wurde die Einrichtung einer „Gesamtadelskasse“ vorgeschlagen in die jeder deutsche Adlige 12 Jahre lang 1/10, 1/100 oder 1/1000 seines jährlichen Einkommens einzahlen sollte. Diese Beiträge wären dann in „sichere Hypotheken“ und „gute Staatspapiere“ nach dem Modell einer Lebensversicherung oder Rentenanstalt zu investieren. Die eingenommenen Mittel sollten dem Ankauf von Gütern dienen (§ 2), deren Einkünfte, wie auch die übrigen Mittel, insgesamt zwanzig Jahre lang, durch einen durch Wahlmänner des gesamten Adels ernannten Ausschuss, allein auf höchstmöglichen Gewinn angelegt werden sollte (§ 3).103 Würde der Grundbesitz zu sehr wachsen, sollten Juristen und Kameralisten, die letzteren in Gewerbe, Berg- und Hüttenwesen spezialisiert, als „Direktoren“ die Verwaltung der Güter übernehmen (§ 4). Nach Ablauf der Gesamtfristen (also zwanzig Jahren) sollte dann den „Senioren“ der Adelsfamilien (entsprechend der Höhe der von ihren Familien geleisteten Einzahlungen) ein bestimmter Ertragsteil (soweit dieser nicht zum „Gesammtwohl [sic!] des Adels oder für Fürst und Vaterland“ aufgewendet werden sollte) zukommen (§ 5). Die Güter sollten im Gebiet des Deutschen Bundes erworben werden, in den jeweiligen Provinzen, bzw. Ländern sollten einige auf drei, bzw. sechs Jahre gewählte Adlige die (unentgeldliche) Aufsicht führen und dem Gesamtdirektorium berichten (§ 6), welches für die Anstellung der Gutsverwalter verantwortlich wäre und auch die juristische Interessenvertretung zu übernehmen hätte (§ 7). Wie viele weitere der in der Adelszeitung nachfolgenden Vorschläge zu einer organisatorischen Verbindung des Adels zeichnete dieses Konzept die eigentümliche Verbindung aus „modernen“ und „traditionellen“ Merkmalen aus. In diesem Falle sollten offenbar die Elemente eines modernen Versicherungswesens mit den überkommenen Formen eines ritterschaftlichen Pfandkreditsystems kombiniert werden –

102 Der Titel „An den Adel deutscher Nation“ spielte natürlich auf Luthers „An den christlichen Adel teutscher Nation“ an, um die Dringlichkeit und historische Bedeutung des Beitrages zu steigern. Vgl. „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 2, Sonnabend 4. Januar 1840, S. 5-6. 103 Die direkten Einzahlungen der einzelnen Mitglieder sollten nach den 12 Jahren definitiv enden, danach nur noch die Zinsen zum Vermögen der Einrichtung fließen.

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das eingezahlte Geld sollte eben nicht nur in Aktien und Anleihen, sondern ausdrücklich auch in Landbesitz investiert werden, dessen Verwaltung wesentlich die Motivation und die Grundlage einer organisierten adligen Vergesellschaftung bieten sollte. Drängt sich der Vergleich mit den ritterschaftlichen Pfandkreditanstalten auf, so doch mit dem Unterschied, dass in diesem Falle der angesessene Adel nicht mit seinen Gütern, sondern allein die Einrichtung der „Gesamtkasse“ mit dem angekauften Grundbesitz haften würde. In mehreren Anmerkungen kommentierte die Redaktion (also Fouqué) diesen Programmentwurf einer „Gesamtadelskasse“. Die darin geübte Adelskritik, die von politisch-administrativen wie auch wissenschaftlichen Leistungskriterien geleitet war, reizte seinen Widerspruch: weder die Bedeutung des Grundbesitzes (dessen Erbteilung noch als wichtige Ursache des adligen Niederganges zu nennen sei) noch die der „Waffentüchtigkeit“ dürften für das Standesselbstverständnis unterschätzt werden.104 Die vorgeschlagene Maßnahme einer „Gesamtkasse“ war nach Sicht der Redaktion zu kompliziert; Provinzial- und Landeseinrichtungen seien praktikabler. Ebenso wäre es sinnvoller, die Einzahlungsfrist individuell auf 12 Jahre anzusetzen (um mehr Grundkapital einzutreiben), und eine nicht gestaffelte, sondern individuell zu bestimmende Zahlungsraten festzulegen, um keine potentiellen Mitglieder abzuschrecken. Ein weiterer Vorschlag zur Bildung einer adligen „Adels-Corporations-Casse“ wurde im April desselben Jahres vorgestellt. Da Bürger und Bauern ohne weitere Bedingungen Güter kaufen könnten, Adlige hingegen städtischen oder dörflichen Grundbesitz nur zusammen mit dem Bürgerrecht, bzw. der dörflichen „Nachbarschaft“, sei es als „Ausgleich“ nur angemessen, so der anonyme Verfasser, wenn Bürgerliche und Bauern zukünftig bei Erwerb von „adelichen Besitzungen“ sich zugleich in die adlige „Corporation“ einkaufen müssten. Von diesem Geld (des vom Landesherrn oder den Ständen zu bestimmenden Einkaufungspreises) sollte zwei Drittel an eine „Adels-Corporations-Casse“, ein Drittel an den Landesherrn gehen: „Aus der Adels-Corporations-Casse, welche sich aus der Finance der neuen Ankömmlinge bildet, wären die verarmten Nachkommen aus der activen Adels-Corporation zu unterstützen [...].“105

104 Anmerkungen Nr. 2 und 3 durch die Redaktion, vgl. „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 2, Sonnabend, 4. Januar 1840, S. 5. 105 Vgl. „Andeutungen zu Vorschlägen für die Erhaltung des Adels als Corporationsstand und zur Hebung des Nationalwohlstandes im Allgemeinen“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 32, Sonnabend, 18. April 1840, S. 125-126. Laut Redaktion stammte die Eingabe von unbekanntem Verfasser. Wie aus einer inhaltlich ganz parallelen Eingabe anlässlich der Gründungsversammlung zum Adelsverein in Leipzig 1841 hervorgeht (vgl. unten Kap. 4.2.4.) handelte es sich bei diesem Einsender offensichtlich um Baron Crousaz-Chexbres aus Erfurt. Dieser wollte zugleich einen neu zu definierenden „vierten Stand“ für die in der überkommenen dreigliedrigen Ständeordnung nicht erfassten Berufsgruppen einrichten: die Gruppe der „Capitalisten, der Geistlichkeit, des Lehr- und



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Eine ebenfalls eher kuriose Variation solcher Vorschläge zur Stärkung und Hervorhebung des adligen Grundbesitzes wurde unter dem Titel „Ein Vermächtnis an den Adel deutscher Nation“ als Nachlass eines verstorbenen Adelsgenossen ausgegeben.106 Dieser Nachlass bot die Idee eines „Vereins der deutschen Grundbesitzer zu einer Austrägalverfassung für Civilhändel unter sich“, dessen Statuten insgesamt 43 Paragraphen umfassten. Sinn und Ziel dieses Vereinsvorschlags war es, dem „Adel als Stand eine neue, zeitgemäße Bevorrechtigung und Auszeichnung“ zu geben, „nämlich als Grundbesitzer“. Dies sollte durch die Einsetzung einer „selbst begründeten und selbst geübten Rechtsverfassung“ geschehen, eben in Austrägalgerichten, bei welchen die Prozessierenden ihre eigenen Richter ernennen.107 Dadurch sollten Rechtsstreitigkeiten, die angeblich die Ursache des Ruins vieler Grundbesitzer waren, weniger kostspielig und zeitraubend werden, indem die „winkligen Verfahren“ des

Gelehrtenstandes, so wie der Publicisten im Verhältnis als eine Abtheilung der Corporation der Zeit gemäß im Interesse des pecuniären und geistigen Wohles der Nation mit Stimmrecht besonders zu versehen sein; [...].“ 106 „Unser Freund gehörte einem alten adligen Geschlechte an, das auf seinem Rittersitze verarmt war, wie so viele. Nach einer höchst sorgfältigen und wissenschaftlichen Jugenderziehung wurde sein unablässiges Streben für höhere geistige Interessen leider der Beweggrund zur Wahl einer wissenschaftlichen Laufbahn, deren übliche Vorbereitungen auch mit unendlicher Aufopferung der Seinigen vollendet wurde. Allein eben jener beständige Druck äußerer Verhältnisse erweckte in diesem rastlosen Gemüthe eine über alles Maaß gehenden Speculationsgeist zur Entwerfung von oft eben so überraschend kühnen und originellen, als auf der anderen Seite im gewöhnlichen Laufe der Dinge unausführbaren Pläne. Es war in unseres Freundes Geiste die wunderbarste Mischung von durchdringendem, sogar spitzfindigem Verstande mit einer folgerechten Richtung auf das durchaus Practische, ja bisweilen grob Materielle und von der ungemessendsten, abenteuerlichsten Phantasie. Man würde staunen, wollten wir die Entwürfe alle anführen, die er nur uns mittheilte, bald zu neuen, geistreich erdachten literarischen Werken, bald zu literarischen, auch rein mercantilistischen Speculationen, die sich auf die buntesten Gegenstände erstreckten, bald zu großartigen Gestaltungen im Staatsleben, welche jedoch nie auch nur den entferntesten Anflug von democratischem Schwindel blicken ließen.“ Vgl. „Ein Vermächtnis an den Adel deutscher Nation“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 33, Mittwoch, 22. April 1840, S. 129-131, mit Fortsetzungen in den Nr. 34, 35 und 36; ungenannter Verfasser mit den Initialen: R.G.F. 107 Die Idee von „Austrägalgerichten“ ist vermutlich durch die zeitgenössische Publikation von Philipp Friedrich Wilhelm v. Leonhardi, Das Austrägalverfahren des Deutschen Bundes (Frankfurt a. M. 1838) popularisiert worden. So genannte Austräge waren schiedsrichterliche Entscheidungen, aber auch die Bezeichnung für die zur Erteilung derartiger Entscheidungen berufenen Schiedsgerichte. So sollten nach der Verfassung des Deutschen Bundes die Bundesglieder unter keinem Vorwand Streitigkeiten mit Gewalt austragen. Letztere sollten vielmehr bei der Bundesversammlung angebracht werden, welche dieselben nötigenfalls zur gerichtlichen Entscheidung durch eine wohlgeordnete Austrägalinstanz (Austrägalgericht) zu bringen hatte. Das Verfahren war durch die Bundesausträgalordnung vom 16. Juni 1817 und durch einen Bundesbeschluss vom 3. Aug. 1820 über das bei der Aufstellung der Bundesausträgalinstanz zu beobachtende Verfahren geregelt.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

römischen Rechts, welches nicht ein „mit der Nation organisch lebendes“ sei, abgekürzt würden.108 Frühere Initiativen zur Bildung eines überregionalen Adelsvereins Mit Bezug auf solche Ideen zu einer neuen Adelsreorganisation verwies das Blatt in der folgenden Ausgabe unter dem gleichbleibenden Kolumnentitel „An den Adel deutscher Nation“ auf ein überregionales Adelstreffen, das zwei Jahre zuvor, nämlich im Februar 1838, in Osnabrück stattgefunden hatte.109 Dieses Osnabrücker Treffen brachte Vertreter der dortigen Ritterschaft mit Mitgliedern des Adels aus dem Münsterland und Ostfriesland zusammen. Bei dieser Gelegenheit hatte der anwesende Freiherr von Schele einen engeren Standeszusammenschluss in Form eines Adelsvereins gefordert, durch das Vorbild der münsterschen stiftsadligen Familien inspiriert.110 Schele sah die Ursachen des Niedergangs des Adels in der „Auflösung der Einheit“, dem unritterlichen Egoismus und der „schnöden kalten Selbstsucht“ begründet. In Anknüpfung an die alten überregionalen landschaftlichen Verbindungen sollten neue Adelsvereinigungen entstehen: Tourniere haben schon lange aufgehört, aber damit endete auch bald nachher die frühere Erziehung junger Edelleute, die zu Standesgenossen hingegeben wurden. [...]. Ich beantrage hiernach, daß die früher befreundeten Ritterschaften, von Minden, Münster und Osnabrück, sich wieder mehr vereinigen und wie einst, eine Westphälische Ritterschaft bilden, dass sie ein bis zwei Mal im Jahre Versammlungen halten, um sich über gegenseitige Standes-Interessen zu

108  Denn in Preußen hätten nicht die Ablösungen der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse den Ruin vieler Grundbesitzer bedeutet, sondern die sich anschließenden Prozesse. 109 Vgl. „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 3, Mittwoch, 8. Januar 1840, S. 9-10: „Wir glauben, diesen Aufsatz, welcher jenen Aufruf in gewisser Beziehung ergänzt, unseren Lesern ohne Zögern mittheilen zu müssen.“ 110 Eduard August Friedrich Freiherr von Schele (geb. 1805 in Schelenburg; gest. 1875 in Frankfurt am Main), Ministerpräsident des Königreichs Hannover und Generalpostmeister in Frankfurt am Main. Schele besuchte das Lyceum in Hannover und studierte ab 1823-26 Rechtswissenschaften an der Universität Göttingen. Danach trat er in die Ministerialbürokratie des Königreichs Hannover ein und wurde 1844 auch zur Ausbildung des hannoverschen Kronprinzen mit herangezogen. 1847 wurde er Justizminister, trat aber mit Beginn des Ministeriums Struve zurück. Nach einer politischen Auszeit trat er 1850 wieder in die Dienste des Königreichs und wurde nach dem Tod von König Ernst August Ministerpräsident („Ministerium Schele“). In diesem Ministerium trafen Interessenvertreter des Adels und des Bürgertums aufeinander; Schele wie auch der Kultus- und spätere Finanzminister Georg Bacmeister neigten letzteren zu. Der Streit dieser Parteien ließ auf Dauer keine konstruktive Regierungsarbeit zu, so dass das Ministerium Schele am 21.11.1853 entlassen wurde. Vgl. ADB, Bd. 30, Leipzig 1890, S. 747-751. Schele wird in der sukzessive veröffentlichten Subskribentenliste der Adelszeitung an siebter Stelle aufgeführt. Dass er darüber hinaus unter Zeichnung seines Namens auch eigene Beiträge in der „Adelzeitung“ platzierte darf als Indiz für ein überdurchschnittliches Engagement für adelspolitische und adelsreformerische Anliegen gewertet werden. Deshalb ist auch zu vermuten, dass er selbst den Bericht über das Adelstreffen in Münster verfasste.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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besprechen. Die Mitglieder, welche diesem Vereine beitreten, sollen das Recht haben, zu diesen Versammlungen Gäste mitzubringen, jedoch nur Standesgenossen.

Der Bericht informierte darüber, dass die Wahlen für die Vorstände der Ritterschaften aus Minden, Münster, Osnabrück und Ostfriesland durchgeführt wurden, doch die für den folgenden Frühsommer in Münster angesetzte konstituierende Hauptversammlung (zur Ausformulierung der Statuten) nicht mehr stattfand: „[...] zu diesem, gewiß nur augenblicklichen Mißlingen unglückliche politische Constellationen eine Hauptursache waren [...]“, resümierte der anonyme Verfasser dieses Beitrags. Denn: Aus den oben angedeuteten Gründen unterblieb die in Münster beabsichtigte Zusammenkunft; nähere Bestimmungsgründe dieser Unterlassung waren, daß mehrere Herren aus der Gegend von Münster, so wie aus dem Paderbornischen die Zeit für sehr ungünstig hielten, einen solchen ritterschaftlichen Verein zu bilden, wobei aber die Zusicherung erfolgte, den Gegenstand in geeigneter Zeit wieder in Anregung zu bringen. Nicht ohne Einwirkung auf diesen ZögerungsBeschluß waren vielleicht manche Beziehungen der Rheinischen Ritterschaft, so wie der Umstand, daß der Adel von Münster und Minden allerhöchsten Ortes Gesuche eingereicht hatte, die in jenen Provinzen früher bestandenen Ritterschaften wieder herzustellen, und daß mehrere einflußreiche Mitglieder der Meinung waren, die landesherrliche Entscheidung abwarten zu müssen, ehe in dieser Beziehung weiter etwas Wesentliches zu unternehmen sei. So unterblieb seit jener Zeit jede weitere Anregung um so mehr, als die Thätigkeit des Landraths von Schele als Mitglied der ersten Hannövrischen Kammer anderweitig zu sehr in Anspruch genommen wurde.

An diesen Bericht heftete die Adelszeitung die dringliche Aufforderung, eigene Überlegungen in diese Richtung anzustellen und dem Publikum mitzuteilen. Doch etwa einen Monat später widersprach eine anonyme Einsendung Scheles Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen des münsterschen Adelstreffens.111 Die Ursachen des ständischen Zerfalls des Adels seien keineswegs „höheren Orts und in tieferen Gründen“ zu suchen; zwar wäre „bei den legalen Verhältnissen vieler deutscher Staaten“ eine „Corporationsbildung für den Adel“ nur schwer herzustellen, wünschbar wäre ein solches Vorhaben aber unbedingt. Dazu müsse sich der Adel aber den „Schimären vollends zu entheben, den Träumen zu entwinden“ verstehen; die Statuten und Zwecke einer solchen Assoziation dürften auch keinesfalls einer Verschwörung gegen den Zeitgeist gleichen, sich vielmehr dessen weiterer Entwicklung widmen. Dieses vergleichsweise unsentimentale Bekenntnis wies endlich auf die in der Tat immer noch offenen Fragen, was denn eigentlich „Beförderung, Belebung und Erhaltung ritterlichen Sinnes“, „gegenseitiger Beistand“ und „feste Begründung des monarchischen Prinzips“ bedeuten solle.

111 Vgl. „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 16, Sonnabend, 22. Februar 1840, S. 62: „An den Adel deutscher Nation. Einige Betrachtungen über den Aufsatz unter diesem Titel in Nr. 3 dieser Zeitung“.

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Freiherr v. Schele-Schelenburg nahm in der nächsten Ausgabe selbst Stellung zu dieser Kritik.112 Er wollte die Berufung auf das alte Turnierwesen nicht zu wörtlich verstanden wissen, da „Ringelrennen, Pferderennen usw. wenig Anklang finden und dem vorliegenden Zwecke eben nicht förderlich sein dürften [...]“.113 Schele deutete „ritterlichen Sinn“ nun seinerseits als ethische Größe einer neuen Standessolidarität: das „bedeutsame Thun“ des „Rittertums“, der „ritterlicher Sinn“ müsse bedeuten: „Gefühl für Standesgenossenschaft und daher Bewahrung alles dessen, was der Begriff von Adelsstand und Genossenschaft mit sich bringen.“ Unter dem „gegenseitigen Beistand“ sei: Die Obliegenheit [zu verstehen, G.  H.], die vor Zeiten ein Ritter dem anderen schuldete, und Verpflichtung auf Empfehlung eines Mitglieds der verbundenen Adels-Corporation, sich in allen vorkommenden Fällen nach Kräften und geeigneter Weise eines empfohlenen Individuums anzunehmen.

Konkreter wurde Schele allein in der „festen Begründung des monarchischen Prinzips“. Diesbezüglich müsse eine „Corporation“ feste Klippen schaffen, „woran Ansichten, wenigstens von Standesgenossen scheitern müssen, die von Irrlehren unserer Zeit verlockt worden.“ Neben der Stiftung einer unbedingten „inneren“ Standessolidarität des Adels verblieb laut diesen Aussagen also vor allem eine innerständische „Gesinnungskontrolle“ als praktische Aufgabe einer solchen Vereinigung. Die Sammlung von Vorschlägen zu einer Adelsvereinigung durch die Adelszeitung Bis zum Herbst 1840 wurde nun wirklich eine Reihe von Vorschlägen zur Bildung von Adelsvereinigungen eingesandt und abgedruckt woraus sich mehrere Diskussionsstränge ergaben. Die Redaktion bemühte sich, diese verschiedenen Beiträge und Vorschläge zusammenzuführen und in einer Gründungsbewegung für einen Adels­verein

112 Vgl. „An den Adel deutscher Nation. Einige Betrachtungen über den Aufsatz unter diesem Titel in Nr. 3 dieser Zeitung“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 17, Mittwoch, 26. Februar 1840, S. 67. 113 Fouqué wollte wiederum diese Relativierung nicht unwidersprochen stehen lassen. In einer ausführlichen Anmerkung warnte die „Redaktion der Adelszeitung“ davor, zu leichtfertig auf „traditionale“ Formen adliger Selbstdarstellung zu verzichten, und neue „Adligkeitsentwürfe“ nicht in die Tradition rückzubinden: „So ganz außer dem Bereich günstigen Einflusses auf Wiederbelebung adlicher Sitte und Weise möchte Dergleichen denn doch keineswegs liegen. Schon an und für sich tragen Zusammenkünfte all und jeder Corporation, wo sie auf ein auch an sich bedeutsames Thun gerichtet sind, zur innerlich kraftvollen Anfrischung und Verbrüderung wesentlich bei. Der Adel ist bleibt nun einmal ein ritterlicher Stand, und die Gewandheit und Kühnheit im Reiten ist für unsre heutige Kriegsführung nicht minder wichtig, als für die des sogenannten Mittelalters. Überhaupt haben wir uns bei den vorliegenden Bestrebungen gar ernstlich zu hüten, daß wir uns nicht losreißen lassen, noch minder selbst losreißen wollen von der alten, noch immer kraftbegabten Wurzel des Ritterthums.“



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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zu bündeln.114 Ein Höhepunkt der versuchten Gründungen von Adelsvereinen stellte aus Sicht der Redaktion die damals stark publizistisch diskutierte angebliche Formierung einer sogenannten „Adelsreunion“ aus den Reihen des schlesischen Adels dar. Nicht nur in der Adelszeitung fand diese Gründung eine starke Resonanz:115 Mit wahrem Vergnügen bringen wir zur Kenntnis unseres Lesers die Nachricht eines Vereines, der in vielen Puncten mit dem übereinstimmt, was durch die verschiedenen Aufsätze bezweckt wird, die wir unter der Auffschrift ‚An den Adel deutscher Nation‘ mitgetheilt haben. Es hat sich nämlich, besonders in Schlesien, ein Adelsverein schon vor einiger Zeit gebildet, dessen Bestrebungen, welche mit denen der Adelszeitung zu gleichem Ziele gehen, aus dem Programm näher zu ersehen sind, welches wir hier mittheilen, und dem wir dann bald möglichst das Resultat folgen lassen werden, welches sich aus den verschiedenen, über diesen höchst wichtigen Gegenstand gegen uns ausgesprochenen Meinungen und Ansichten ziehen läßt.116

1840 verzichtete die Zeitung allerdings auf eine direkte Kritik des Programms der „Adelsreunion“; in einer Anmerkung erklärte die Redaktion: „Auf die Besprechung mancher einzelner in diesem Programme enthaltenen Punkte werden wir, Wiederholungen zu ersparen, in unserem Résumé zurückkommen.“117 Der Nachdruck des Vereinsprogramms der „Adelsreunion“ durch den Verleger Friese in Leipzig von 1842 war schließlich Anlass für eine ausführliche Rezension des Programms.118 Dagegen diente ein weiterer ausführlicher Vorschlag zur Bildung einer Adelsvereinigung, eingereicht durch Uso Baron „Künßburg“-Thurnau aus Obersteinbach in Franken, als Grundlage für die vorbereitenden Abstimmungen einer Vereinsbildung. Im Juli 1840 erneut unter der Rubrik „An den Adel deutscher Nation“ veröffentlicht, eröffnete Künßburg seinen pathetisch formulierten Aufruf an den deutschen Adel („Dies sind bekanntlich gegen 10.000 Familien“) mit der doch ernüchternden Fest-

114 Vgl. z.B. „Sammtverein des teutschen Adels, zum Artikel: An den Adel teutscher Nation, Blatt Nr. 2, 4 dieser Zeitung, ff“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 85, Mittwoch 21. Oktober 1840, S. 338-339. 115 Eine ausführliche Würdigung der „Adelsreunion“ und ihrer Rezeption in der Öffentlichkeit findet sich unten in Kap. 4.2. 116 Die Zeitung druckte das ganze Programm der „Adelsreunion“ in zwei Folgen ab. Nach der redaktionellen Einführung erschien in einem ersten Teil die allgemeine Begründung und der Ziele und Zwecke der Reunion, sowie in einer zweiten Folge das detaillierte Programm der „Adelsreunion“: „Die Adelsreunion“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 49, Mittwoch, 17. Juni 1840, S. 193-194, hier S. 193; und: „Die Adelsreunion (Beschluß)“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 50, Sonnabend 20. Juni 1840, S. 197-198. 117 Vgl. „Die Adelsreunion (Beschluß)“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 50, Sonnabend 20. Juni 1840, S. 197-198, hier S. 198. 118 Diese Rezension erschien in der Beilage der Ausgabe Nr. 26 vom Mittwoch den 30. März 1842. Das Programm wurde grundsätzlich positiv aufgenommen, allerdings wurden einige der aufgeführten Forderungen des Programms, wie z.B. die nach einer „burgähnlichen Wohnung“, oder nach der „Auszeichnung durch Kleidung, Waffen, Pferde“ durch Adlige als eine „partie faible“ bezeichnet. Näheres zu diesem Programm und der Reaktion der Öffentlichkeit darauf unten Kap. 4.2.

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stellung: „Jeder kennt die vielen und mehrfachen Versuche des deutschen Adels, um sich zu vereinigen: doch vergebens; bisher erstickten alle in der Geburt.“ „Künßburg“, eigentlich Künsberg, hoffte einen weiteren Fehlschlag zu vermeiden, indem der in den meisten Staaten des Deutschen Bundes aufgehobene „Deutsche Orden“ der zu gründenden Organisation „Namen, Form und Tendenz“ geben sollte.119 Uso v. „Künßburg“/Künßberg, der als „aufgeschworenes“ Mitglied der Ballei Utrecht Mitglied des nur noch in den Niederlanden und Österreich bestehenden Rumpfordens war, wünschte sich diesen Orden „[...] neu nach der schönen Form der jetzigen deutschen Verfassung, und nur zum Schutze des Vaterlandes.“120 Entsprechend der staatsrechtlichen Verhältnisse des Deutschen Bundes sollte in jedem Bundesstaat eine „Ballei“ gründet werden. Jeder Adlige wäre aufnahmefähig, sofern er „in gutem Rufe“ stand. Allerdings sollte die „Mehrzahl der Ritter der Ballei“ gegen eine solche Aufnahme nichts einzuwenden haben, und zudem sollte der jeweilige Landesherr seine Bewilligung aussprechen. Als „modernisierendes“ Element wollte es Künßburg-Thurnau wohl verstehen, dass Adlige, welche „die früher

119 Der Artikel war unterzeichnet und auf den 1. Juli 1840 datiert, vgl: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 60, Sonnabend 25. Juli 1840, S. 238-239. Bei dem Verfasser handelte es sich um den 1810 in Ermreuth geborenen Uso Baron Künßberg auf Schloss Thurnau, der 1838 auch eine Familiengeschichte verfasste: Ders., Geschichte der Familie Künßberg-Thurnau. Als Manuskript gedruckt, München 1838. Uso Künßberg, Subskribent der Adelszeitung und später Gründungsmitglied des „Adelsvereins“ in Leipzig, war Doktor beider Rechte und deutscher Ordensritter der Ballei Utrecht, vgl. NDB, Bd.13, Berlin, 1982, S. 225-226. Ob seine Schreibweise als „Künßburg“ der schwache Versuch einer Pseudonymisierung darstellte, oder zeitgenössischem Sprachgebrauch entsprach, muss offen bleiben. In der Literatur finden sich die Schreibweisen „Künßberg“ wie „Künsberg“. Künßberg entstammte einem der ältesten fränkischen Adelsgeschlechter, das eng mit der Familie v. Giech verbunden war. Wie die Giech scheint auch dieser Vertreter der Künßberg, und überhaupt der fränkische Adel, in adelspolitischen und -organisatorischen Angelegenheiten sehr aktiv gewesen zu sein. Zur Familienstiftung der Giech von 1855, die eine „englische Adelsreform“ schon für die eigene Familie vorwegnahm, und als Anregung einer preußischen Adelspolitik ihren Niederschlag auch in den Berliner Ministerialakten fand vgl. unten Kap. 4.3.3. Künßburg-Thurnau veröffentlichte noch weitere Artikel, z.B. Ders., Worte über Entadelung des Altstandes, in: Zeitung für den Deutschen Adel, 1841, S. 101-102 und S. 105-106. 120 Der historische „Deutsche Orden“ war 1809 durch Napoleon in den Staaten des Rheinbundes verboten worden, seine Besitzungen schon vorher durch den Frieden von Lunéville 1801 auf die rechtsrheinischen Gebiete des Alten Reiches beschränkt worden. Kaiser Franz II. erhielt aber das Recht, die Hoch- und Deutschmeisterwürde einem Mitglied seines Hauses erblich zu verleihen. Dazu ernannte er seinen Bruder Erzherzog Anton. Außer in Österreich blieb der Orden nur noch in den Niederlanden mit der Ballei Utrecht bestehen. Kaiser Ferdinand versuchte in Österreich eine Neubelebung des Ordens, indem er am 28. Juni 1840 neue Statuten verlieh und ihn als geistlichritterliches Institut unter einem Großmeister (seit 1894 wieder: Hoch- und Deutschmeister) und der Oberlehnshoheit des Kaisers herstellte, vgl. Artikel „Orden, Ritterorden“ in: Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, hrsg. v. Carl v. Rotteck u. Carl Welcker, 12. Band, 1841, S. 11-12; und William D. Godsey, Adelsversorgung in der Neuzeit. Die Wiederbelebung des Deutschen Ritterordens in der österreichischen Restauration, in: Vierteljahreshefte für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG), Nr. 90, 2003, S. 25-34, bes. S. 27f.



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bestehende Ahnenprobe“ ablegen konnten, einen niedrigeren Aufnahmebetrag von 1.000 Gulden zahlen zu entrichten hätten, wogegen die Übrigen noch einmal 1.000 Gulden „Dispens“ zu zahlen müssten; jedoch sollten auch Nobilitierte dieses Privileg einer niedrigeren Aufnahmegebühr genießen – dem „alten“, durch eine besondere „Standesdisziplin“ ausgezeichneten Adel sollte offensichtlich der durch eigenes persönliches Verdienst Geadelte bewusst „zur Seite“ gestellt werden – um diese beiden Kategorien gegenüber jenen abzugrenzen, die ihren Adel zwar ererbt, aber darüber hinaus keine besonderen „Standesleistungen“ erbracht hatten.121 Die Ordensmitglieder sollten dagegen durch ihre Mitgliedschaft in ihren Lebensformen diszipliniert werden: Jeder Adeliche, der nicht in Staatsdiensten, wozu vor allen Kriegsdienste gehören, ist, oder am Hofe lebt, muß, wenn er Güter besitzt und nicht den größten Theil des Jahres auf diesen verlebt, Dispensation an den Orden zahlen, allenfalls 1 Prozent seiner reinen Einkünfte. Denn dem Adel frommt nur solches Leben.

In diesem Ordensplan tauchte ebenfalls wieder die Idee von „Austrägal-Gerichten“ auf, um den adligen Ordensmitgliedern eine neue Form eines „eximierten“ Gerichtsstandes bieten zu können. Zugleich sollte der Orden Sozialagentur für bedürftige Standesgenossen sein, und seine Einkünfte zu einem Drittel an sämtliche „Ritter“, den „Vorständen“ und an „bedürftige Adlige, deren Vater Ritter war oder ist“ verteilen. Und zum dritten hätte der Orden bei der Landesverteidigung eine Rolle zu spielen – jede Ballei müsse im Kriegsfalle ein „Freikorps zu Fuß oder Pferd“ stellen. In dieser Aufgabenverschränkung war also einmal mehr die alte Idee vom Adel als einer „Multifunktionselite“ in eine organisatorische Form gebracht, die mit dem historischen „Deutschen Orden“ jedoch wenig gemein hatte. Eine anonyme Eingabe widersprach Künßberg etwa einen Monat später unter dem Titel „Bemerkungen zu dem Vorschlage über die Stiftung eines adlichen Vereins“.122 Die „unerreichbare[n] Ideale zur Verbesserung der Lage des Adels“ und die „nicht zeitgemäßen kastenähnlichen Vereine, die um deswillen den Keim ihres Unterganges und ihrer gehässigen Anfeindung in sich tragen[...]“ seien für das wiederholte Schei­ tern einer Adelsreorganisation verantwortlich. Nur der Staat könne dem Adel wirklich aufhelfen. Grundsätzlich sei dem Plan Künßburgs zuzustimmen, doch „modernere“ Formen und Kriterien seien vonnöten – für solche „modernere“ Formen schien dem Kritiker die Reduzierung der Ahnenprobe auf acht Ahnen und der Verzicht auf eine Ordensuniform, die „ganz unpraktisch“ und „nicht lebbar“ sei, offenbar völlig aus-

121 Jedoch wurde die Ahnenprobe durch den Verfasser eigens lobend hervorgehoben, da diese Maßgabe für die durch die Erbformen des Lehnrechts und der Fideikommisse „[...] enterbten adelichen jungen Damen eine Entschädigung für ihre Enterbung [...]“ widerfahren würde, und überhaupt das ganze deutsche Erbrecht darauf begründet sei. 122 Vgl. „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 67, Mittwoch 19. August 1840, S. 266-267.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

reichend. Dagegen sei die Forderung, den Adel zu einem Leben auf dem Lande zu zwingen gar nicht vorteilhaft, und würde auch die wissenschaftliche Ausbildung der Kinder behindern. Andere Reaktionen unterstützten Künßburgs Ideen. Allerdings fand Künßburg bezeichnenderweise ausgerechnet in seinem Wunsch nach einer Gleich­handlung der Neugeadelten Kritik: Darin scheint ein Widerspruch oder eine Minderachtung des Älterseins im Stande (dessen Vorzug doch durch die frühere Ahnenprobe des Ordens begründet war) zu liegen, [...]. Ich sollte vielmehr es geeigneter, wenigstens folgerichtiger ansehen, wenn der sich zur Aufnahme meldende selbst erst in den Adelsstand Versetzte 3000fl. Dispens-Summe zu erlegen haben solle, und die weniger oder mehr zum erforderlichen Adelsalter aufgestiegenen Standesgenossen im Verhältnisse weniger Dispens-Geld von 2000, 1000 und 500fl. einzahlen müßten; […].123

Die von Künßburg bewusst betonte Honorierung des persönlichen Verdienstes, die der „geborene“ Adlige allein durch in der Adelsprobe erbrachten Nachweis einer besonderen Standesdisziplin ausgleichen konnte, sollte wieder durch eine streng „lineare“ Stufung adliger „Würdigkeit“ nach Generationentiefe ersetzt werden. Der vom Verfasser vorgebrachte Begründung blieb allein der überkommenen ständischen Rationalität der binnenständischen „Leistungsprobe“ verpflichtet, wie sie insbesondere im west- und süddeutschen katholischen (Stifts-) Adel bis zum Ende des Alten Reiches als Auslesekriterium für Pfründen und Ämter durchaus zweckgerichtet gewesen war: Was für einen besonderen Nutzen würde es ferner für den Aedelmann haben, dessen Vater sich mit einer 16schildigen Gemahlin verbunden gehabt, wenn er keinen größeren Vortheil davon hätte, als wenn seine Mutter von minderschildigem oder gar nicht vom Adelsstand gewesen wäre? – Eine solche Nichtberücksichtigung der Statt gehabten Verheirathung würde eben gar nicht vortheilhaft auf die Wahl einer Gemahlin von 16 Schilden wirken und überhaupt, bei der Leichtigkeit der Dispens, für die Verheirathung aller Adelstöchter schädlich werden, die kein ansehnliches Vermögen haben, sie mögen viel oder wenig probiren können.124

Von jeder Kritik an der Sinnhaftigkeit solcher nachständischer „Ahnenzählerei“ völlig unbefangen, „feilschte“ der Verfasser um jede nachzuweisende Adelsgeneration: […] so wie ich dann überhaupt erst auch noch eine alternative Ahnenprobe von entweder sieben Geschlechtsfolgen im Adelsstand vom Vater, oder 16 Ahnen in fünf Geschlechtsfolgen in gleichen Werth setzen würde.125

123 Vgl. „Herstellung des Teutschen Ordens unter zeitgemäßer Veränderung“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 69, Mittwoch 26. August 1840, S. 273-274. 124 Vgl. Fortsetzung „Herstellung des Teutschen Ordens unter zeitgemäßer Veränderung“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 70, Sonnabend 29. August 1840, S. 277-278, hier S. 277. 125 Ebd.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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Anstelle der nicht mehr gegebenen Logik eines binnenständischen Auslesekriteriums wollte der Verfasser den Sinn der Ahnenprobe in einem neuen Ziel erkennen – der Möglichkeit zur innerständischen Sanktionierung abweichenden Verhaltens:126 Man wird aber mit mir noch einen andern Grund finden, weshalb die Ahnenprobe ein sehr zu beobachtender Gegenstand war und bleibt, wenn gleich auch die Stifter aufgehoben sind, welche die Ahnenprobe einen jetzt verlorenen Werth gegeben haben. Dieser, in unsrer Zeit aus Adelspflicht wieder hervorzuhebende Grund ist die Kindschafts- oder sogenannte Filiations-Probe, welche alle Personen aus den Proben ausschließt, die nicht völlig rein von außerehelicher Geburt nachgewiesen waren. Die Tugend und das feine Ehrgefühl – nicht sonstige Verdienste – liegen in der Wesenheit des Adelsstandes, weshalb unser Erbstand (jeder Genosse ohne Ausnahme) hierin musterhaft voranzugehen und also mit den Dienern der Religion auf einen und denselben Zweck hinzuwirken hat. 127

Ein Carl Graf v. Hülsen reagierte unverhohlen begeistert auf Künßburgs Aufruf.128 Schon lange sei es seine Idee gewesen, wie auch die seiner Freunde, dass der Adel sich selbst helfen müsse; denn die Regierungen wollten und könnten dies nicht tun. Hülsen legte nun seinerseits die Grundzüge eines solchen Ordensstatuts mit stark erleichterten Beitrittskriterien vor. Nach Hülsen solle jeder „Edelmann“ ohne Unterschied der Konfession in einem Mindestalter von 24 Jahren diesem Orden beitreten können. Die Ahnenprobe sei auf vier Ahnen zu beschränken; jedoch sollte er Offizier gewesen sein oder noch in aktivem Dienst stehen, oder alternativ das „Triennium der Hochschule absolviert“ oder eine vergleichbare Bildung haben. Eine Summe von 300 Talern wäre beim Beitritt in den Orden zu hinterlegen, wobei diejenigen, die keine vier Ahnen nachweisen könnten, die doppelte Summe zu zahlen hätten.129 Sobald die gezahlten Mitgliedsbeiträge eine Gesamtsumme von 150.000 Talern erreicht wäre (also ca. 500 Mitglieder), sollte bei der Bundesversammlung in Frankfurt ein Antrag

126 Vgl. zu dieser Funktion Reif, Westfälischer Adel zur Funktionsweise der Stifter und Ahnenproben. Auch derselbe: Die Familie in der Geschichte. 127 „Herstellung des Teutschen Ordens unter zeitgemäßer Veränderung“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 70, Sonnabend 29. August 1840, S. 277-278, hier S. 278. 128 Vgl. seinen Beitrag: „Einiges über den deutschen Adel“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 102, Sonnabend 19. Dezember 1840, S. 405-406. Carl Graf v. Hülsen aus Danzig war ebenfalls Subskribent der Adelszeitung und gehörte zu den wenigen regelmäßigen und namentlich bekannten Mitautoren. Hülsen war auch bei der Gründungssitzung des „Adelsvereins“ im Sommer 1841 anwesend. 129  Allerdings wollte Hülsen zugunsten hoher Mitgliederzahlen in diesem Punkte flexibel agieren: „Da aber ein Particulier, welcher von den Zinsen seines mäßigen Vermögens lebt, oder ein Gutsbesitzer, welcher sich in einer nicht sehr günstigen Vermögenslage befindet, vielleicht wohl 100, aber nicht 300 Thaler missen kann, so würde ich um so mehr anräthig sein, diesen Standesgenossen, wenn sie die verlangten vier Ahnen nachweisen können, für eine geringere Summe, vielleicht für 100 Thaler, die Aufnahme in den Orden zu gestatten, als uns Alles daran liegen muß, daß recht viele Standesgenossen diesem Unternehmen beitreten“, vgl. Ebd., hier S. 406.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

um Erlaubnis zur Bildung eines solchen Ordens gestellt werden. Zuvor seien aber die Statuten für eine solche Vereinigung festzulegen, und dazu sollte in Halle oder Leipzig eine Urversammlung zu einem von der Redaktion der Adelszeitung zu bestimmenden Termin einberufen werden. Zur Teilnahmeberechtigung an dieser Urversammlung sei die verlangte Ahnenzahl nachzuweisen. Mit der Summe der Mitgliedsbeiträge sollte „ein Gut in der Mitte Deutschlands – wo möglich ein solches, welches sich gegenwärtig in dem Besitz eines Nichtadligen befindet – aquiriert, und dies zum Hochmeistersitze bestimmt und eventualiter eingerichtet werden“. Im Falle der gewählte „Hochmeister“ sei durch die Umstände behindert dort seinen Sitz zu nehmen, solle ein Ausschuss von drei, „der Ökonomie kundiger“ Ritter dort residieren und das Gut „gegen ein der Sache angemessenes Gehalt zum Besten des Ordens verwalten“. Der Hochmeister, wie auch die „Provinzialen und Comthuren“, die als Deputierte der Ritterschaften der einzelnen Provinzen und Länder gebildet würden, müssten ihre Ämter allerdings anfänglich ohne Vergütung ehrenamtlich verwalten. Die Einkünfte des Gutes sollten (nach Abzug der Kosten wie z.B. der Besoldung des Ausschusses) zum Kauf weiterer Güter verwandt werden. Hülsen versprach sich allein schon durch eine „einfache Ordensuniform“ als exklusives neues Standesmerkmal genug Anziehungskraft für den Orden:130 Es giebt (sic!) viele Edelleute, welche nicht in Staatsdiensten stehen, auch nicht Gutsbesitzer sind, und deshalb nicht die Berechtigung haben, Uniform zu tragen; aber es giebt gewiß noch mehr Standesgenossen, welche Gutsbesitzer sind und als solche zwar Ständeuniform tragen dürfen, indeß keinen Gebrauch von dieser Berechtigung machen – (weil sie dies Vorrecht nicht mit Schustern, Schneidern, Juden usw. theilen mögen, welche sich mittelst ihres erschusterten, erschneiderten oder durch Schacher mit unseren Glaubensgenossen gewonnenen Geldes in den Besitz von Rittergütern gesetzt haben) – und unter allen diesen Edelleuten dürfte so Mancher sein, welcher, um nicht eine Uniform gleich jenen ungebildeten, aufgeblasenen Emporkömmlingen tragen, oder die geckenhaften Pariser Moden gleich den Gesellen mitmachen zu müssen, lediglich durch die Uniform des deutschen Ordens veranlaßt werden möchten, sich in diesen aufnehmen zu lassen.

Ein mehr auf die moralische Wirkung abzielender Vereinsvorschlag antwortete auf Hülsens Konzept noch im Februar 1841: „Die Grundlage des Ordens müßte die wahrhafte Ehre sein, die vor Gott gilt“ (Punkt 2 des Programms).131 Entsprechend sollten

130 Carl Graf v. Hülsen machte sich zugleich für eine Neustabilisierung des Adels über den Grundbesitz stark. Wiederholt plädierte er für eine exklusive Verpachtung der königlichen Domänen an bedürftige Adlige, u.a. in: „Einige Bemerkungen über den Aufsatz: Ein Wort für den deutschen Adel in Preußen“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 9, Februar 1843, S. 42: „Ich kenne nur wenige Domainenpächter, aber diese leben sämmtlich herrlich und in Freuden, wie die feisten Mönche eines reichen Klosters. Mir sind daher die Domainenbeamtenstellen immer wie Sinecuren vorgekommen.“ 131 „An den Adel deutscher Nation. Bemerkungen über die Stiftung eines deutschen Ordens“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 16, Mittwoch 24. Februar 1841, S. 61-62.



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die Aufgaben des Ordens, ganz wie beim historischen „Deutschen Orden“ die „Wohltätigkeit“ sein (Punkt 3 des Programms). Die ansonsten vorgeschlagenen „materiellen“ Aktivitäten des Ordens blieben ganz dem schon bekannten Schema verhaftet: die Aufnahme in den Orden gewähre einen Nachlass an den Ausbildungskosten der Ritterakademien, „Fräulein-Stifte“ sind einzurichten, „notleidenden Ordensrittern“ zu helfen. Trotz dieser Kritiken und Weiterungen konstatierte Künßburg-Thurnau schon im Herbst 1840 eine überwiegende Zustimmung zu seinen Aufsatz und plädierte dafür, unverzüglich mit den einleitenden Schritten zu einer Vereinsgründung zu beginnen, auch wenn die verschiedenen Anregungen in dieser Sache noch bis Ende des Jahres durch die Adelszeitung ausgewertet werden müssten.132 Die Vorbereitungen zur Vereinsgründung Ab Dezember 1840 bündelte die Redaktion die unterschiedlichen Vorschläge und Initiativen und begann erste Gründungsschritte vorzubereiten.133 In der Ausgabe vom 5. Dezember 1840 wandte sich die Redaktion erneut an ihre Leser und rief dazu auf Vorschläge zu Ort und Zeitpunkt einer „Urversammlung“ zu machen. Bisher, so die Redaktion, hätten sich aus Preußen 5, aus Sachsen 4, aus Bayern 2, aus Hannover 2, aus Österreich 1 und aus Hessen 1 Person zu einem Beitritt in einen solchen Verein bereit erklärt. Die hohe Interessentenzahl aus Sachsen fällt auf. Umgekehrt ist bezeichnend, dass das Interesse in dem flächenmäßig wie in Einwohnerzahl gegenüber den Mittelstaaten absolut dominierenden Preußen eher gedämpft schien. Das geringe Interesse aus Österreich (und auch Hessen, bzw. den gar nicht genannten südwestdeutschen Staaten) mochte sich im österreichischen Falle teils aus der geographischen Distanz erklären – Subskribenten (und Leser?) hatte die Publikation in Österreich ja durchaus gefunden. Doch blieb die Resonanz insgesamt verhalten. Ein Verfasser resümierte seine erfolglosen Versuche, weitere Interessenten für ein solches Vorhaben zu werben.134 Die meisten Standesgenossen hätten abwartend bis ablehnend reagiert, nicht so sehr gegen eine „Adelsversammlung“, als gegen die Idee eines Vereins oder gar Ordens, dessen erklärtes Ziel es sei, um Genehmigung durch den Bundestag zu petitionieren  – dies sei zu „politisch“ und möglicherweise den Interessen der Regierungen einiger Bundesstaaten zuwiderlaufend. Der Einsender fasste damit nicht zuletzt seine eigenen Skrupel und Bedenken zusammen: für den Fall, dass er selbst an einer

132 Vgl. „An den Adel deutscher Nation“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 91, Mittwoch 11. November 1840, S. 363. 133 „Ein Wort der Redaktion an die Leser“, in: „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 98, Sonnabend 5. Dezember 1840, S. 389-390. 134 „Zu den Angelegenheiten des Adels-Vereins“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr .43, Sonnabend 29. Mai 1841, S. 169-170.

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Teilnahme an dieser Adelsversammlung verhindert wäre, verwahrte auch er sich vorsichtshalber gegen Beschlüsse einer Adelsversammlung, die in diese Richtung interpretiert werden könnten. Überhaupt vergaß er nicht zu betonen, dass ihm als Hauptgegenstand von Beratungen die Probleme bezüglich der Errichtung von Majoraten, Familien- und Erziehungsstiftungen viel einleuchtender erschienen, als die Gründung eines Ordens. Doch die Redaktion nutzte diese Einwände, um an diesem Beispiel alle Argumente gegen die Gründung eines Adelsvereins Punkt für Punkt zu widerlegen.135 In mehreren Anmerkungen erklärte die Redaktion, dass sich die meisten Stimmen gegen einen Orden, doch für einen Verein ausgesprochen hätten. Natürlich seien die Beschlüsse der Urversammlung bis zur Leistung einer Unterschrift und der Genehmigung der Statuten nicht bindend. Eine eigentliche Petition an den Bundestag sei nicht geplant, lediglich die Statuten sollten zur Genehmigung vorgelegt werden. Dies diene vor allem dazu, die Anerkennung durch die Bundesstaaten vorzubereiten und zu erleichtern. Doch musste die Redaktion in einer weiteren Notiz zugeben, dass in der Öffentlichkeit, auch innerhalb des Adels, der Eindruck entstanden war, dass der geplante Verein oder Orden ja nur als Mittel zum Zweck zur Stiftung von Majoraten, Erziehungsinstituten und ähnlichen Einrichtungen dienen solle. Ganz richtig hatte die Öffentlichkeit durchaus zutreffend die materielle, nicht ideelle Betonung der meisten diesbezüglich gemachten Vorschläge wahrgenommen. Vornehmlich materielle Orientierung der Subskribenten und Einsender Aus den eingesandten Beiträge geht ein überwiegendes Interesse an Fragen der Grundbesitzsicherung deutlich hervor, wenn auch diese durchaus mit Ideen einer ideellen Selbstorganisation und neuformierten Standesvertretung gekoppelt sein konnten. Entgegen der Fouquéschen Zielsetzung einer „idealistischen“ Neuformierung des Standes blieb die Mehrheit der Einsender ganz den praktischen und materiellen Interessengrundlagen und ihren überkommenen „traditionellen“ Formen verpflichtet. So z.B. die Artikelserie „Erbfolge des Adels. Erbfolge im Grundbesitze“ vom Frühjahr 1841.136 Der Verfasser dieser Serie war nach eigener Auskunft durch den Aufsatz „Erbfolge des Adels“ im Journal „Unser Planet“ von 1837 zu einer eigenen Abhandlung über dieses Thema angeregt worden, die er nach eigener Angabe schon 1838 verfasst hatte. Nun sandte er beide Schriften zum gemeinsamen Abdruck zu.

135 Der starke redaktionelle Eigenanteil auch ungezeichneter Artikel der „Zeitung für den deutschen Adel“, die direkte Kommentierung einzelner Einsendungen in Fußnoten und Anhängen lässt es nicht undenkbar erscheinen, dass einzelne angeblich anonyme Einsendungen womöglich fingiert waren, um in dieser indirekten Form anderweitig zugetragene Kritik und Positionen in der Zeitung zu Wort kommen, bzw. die eigenen Positionen deutlicher hervortreten zu lassen. 136 „Erbfolge des Adels. Erbfolge im Grundbesitze“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 10, Mittwoch 3. Februar 1841, S. 37-38; Nr. 11, Sonnabend 6. Januar 1841, S. 41-42; Nr. 12, Mittwoch 10. Februar 1841, S. 45-46; Nr. 13, Sonnabend 13. Februar 1841, S. 49-50; Nr. 14, Mittwoch 17. Februar 1841, S. 53-54; Nr. 15, Sonnabend 20. Februar 1841, S. 57-58.



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Der auslösende Beitrag in der Zeitschrift „Unser Planet“ war mit „Sartorius v. Schwansee“ gezeichnet, dem kaum verfremdeten Pseudonym von Ernst Sartorius v. Schwanenfeldt, der damit seine Denkschrift gegen das projektierte Erbfolgegesetzes für die Provinz Preußen und für eine weitere wirtschaftliche und soziale Dynamisierung des Grundbesitzes veröffentlichte.137 Ganz dieser Perspektive des ostpreußischen „Gutsbesitzerliberalimus“ verpflichtet, unterzog „Sartorius v. Schwansee“ den Adel im Licht seiner jüngeren Privilegienverluste einer kritischen Bilanz: was in der Vorzeit, einer Zeit des Faustrechts, sich aus dem Lehnsinstitut sinnvoll entwickelte hätte, sei nun, unter gänzlich veränderten Bedingungen „verwitterte, baufällige, dem Standpuncte unserer heutigen Verfassung nicht zusagende Denkmäler der Feudalaristokratie; [...]“. Damals sei der Adel zuverlässigste Stütze des Thrones gewesen, doch: Ist dies heute noch der Fall? Das Faustrecht ist dem Gesetz gewichen. [...]; Jeder lebt im Schutze der Gesetze, [...]; der Adel besteht nur dem Namen nach als ein unschädliches Trümmerwerk der Vorzeit. In der Wirklichkeit hat er aufgehört zu sein. Seine früheren Beziehungen zum Throne haben aufgehört; sein Einfluß auf die Gutsinsassen ist gelähmt; seine persönlichen Vorrechte sind vernichtet, sein Besitztum ist verschuldet, [...].

Doch trage der Adel an dieser Entwicklung entscheidend Mitschuld. Nicht die „bestehenden“ (d.h. die in den 1830er Jahren gültigen) Erbfolgegesetze seien die Gründe für diese Entwicklung. Vielmehr sei es der über seine Verhältnisse gehende Konsum der des Adels, verursacht durch die Idee „äußerlicher Repräsentation“ und seine Vorbehalte gegenüber der Berufsarbeit, die dies verursacht und eine Besserung verhindern würden. Der Autor warnte davor, dem Adel durch solche staatliche Schutzmaßnahmen aufhelfen zu wollen – das Volk, das sich an die neuen Freiheitsrechte gewöhnt habe, würde diese neuerliche Privilegierung nicht ruhig hinnehmen: „Auch den schlafenden, zahmen Löwen zu wecken, ist gefährlich.“ Und die jetzt noch unzweifelhafte Liebe zum Monarchen könne so nicht erhalten, geschweige denn gesteigert werden.138 „Sartorius“ lehnte, wie der ostpreußische Provinziallandtag und die dort eingerichtete Kommission, die vorgeschlagene Erbfolgeordnung ab, denn es sei falsch, den Ritterbesitz auf immer den überkommenen Familien erhalten, Schulden, die auf dem Grundbesitz lasteten beseitigen und den Adel in seiner „uralten Gestalt“ wiederherstellen zu

137 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.4.3. Der Artikel erschien nach den Angaben in der Adelszeitung in: „Unser Planet. Blätter für Unterhaltung, Literatur, Kunst und Theater“, Altenburg, Nr. 216, S. 217ff, 1837. Die Zeitschrift „Unser Planet“ wurde zwischen 1830 bis 1843 von C. H. F. Hartmann in Leipzig herausgegeben und danach durch Ferdinand Philippi fortgesetzt unter dem Titel: „Der Wandelstern. Blätter für Unterhaltung, Literatur, Kunst und Theater“, Grimma, 1844-1848. Vgl. zu dieser Zeitschrift auch: Sybille Obenaus, Zeitschriften, S. 18-19. 138 „Erbfolge des Adels. Erbfolge im Grundbesitze“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 10, Mittwoch 3. Februar 1841, S. 37-38, hier besonders S. 37.

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wollen.139 Die neue Erbfolgeordnung würde nur unzählige Prozesse verursachen, da die Rechte zahlreicher bürgerlicher Ehefrauen gekränkt würden, und die Bevorzugung eines Erben müsse Streit, Zwietracht und Spaltung in die Familien tragen.140 Doch der anonyme Artikelverfasser, der sich von „Sartorius“ inspirieren ließ, plädierte diesem entgegen für eine neue Form der Bodenbesitzbindung. Als Kompromiss zwischen den bisherigen Vererbungsgesetzen und dem von „Sartorius“ kritisierten Erbfolgegesetz schlug der Verfasser vor, diese über die Einrichtung von Fideikommissen zu erzielen; einem Instrument, das einer Familie den nötigen Unterhalt gewähren könne und zugleich die Erfüllung der Pflichten zu Ausbildung und Unterstützung der Nachgeborenen ermögliche.141 Außerdem würde dadurch die Gefahr der Übernahme des Grundbesitzes durch einen „nicht ausreichend bemittelten Mittelstand“ vermieden, der sich leicht durch „unentwickelte Güter“ ruiniere, und die Güter durch häufige Besitzwechsel an Bodenkultur und Parzellierungen verlieren lasse. Die Forderungen nach gleichen Erbteilen und der Erhaltung eines großen Grundbesitzes seien jedenfalls unvereinbar.142 Deshalb sei vor allem der Zwang zu Pflichtteilen weitgehend aufzuheben (bzw. diese um die Hälfte zu mindern) und das Verfügungsrecht über das Erbvermögen generell wieder ausschließlich in die private Verfügbarkeit zu überantworten. Die Besitzbindung schien dem Verfasser nicht nur aus vermögenswirksamen, sondern auch wegen der von ihm verfolgten familienstrategischen Ziele notwendig: ohne solche Formen der Vermögenssicherung in einer Familie zerfalle diese in Individuen, die ihre Vermögensanteile nur noch zum schnellen Konsum verwenden und sich nicht mehr als Teil einer Familie verstehen würden – die Folgen einer solchen Politik würden am Beispiele Irlands, oder der starken Auswanderung aus den Rheinprovinzen deutlich.143 Zugleich könnte auf diesem Wege die unter der neueren Erbgesetzge-

139 Vgl. zu dieser Argumentation oben Teil I. Kap. 2.4.3. 140 Es folgten Ausführungen über die Details der Erbfolgeordnung. Der Erstgeborene sollte demnach vorweg die Hälfte des Gutes und zusätzlich von der zweiten Hälfte seinen gesetzlichen Pflichtanteil erhalten. Der Wert des Gutes soll durch eine landschaftliche Taxe bestimmt werden und der ermittelte Ertrag zu 6 % capitalisiert werden. Daraus erwüchse dem Begünstigten der Vorteil, so rechnete „Sartorius“ vor, dass der Haupterbe das Gut zu einem Preise übernehmen könnte, der mindestens 30, eher 40 % unter seinem tatsächlichen Wert läge. Die übrigen Erben würden darüber hinaus nach dieser Erbfolgeordnung dazu angehalten, ihre Anteile dem Haupterben auf einen unbestimmten, willkürlich durch einen Dritten festgelegten, Zeitraum gegen 4 % zu überlassen. „Sartorius“ belegte dies anhand eines Rechenbeispiels, vgl: „Erbfolge des Adels. Erbfolge im Grundbesitze“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 11, Sonnabend 6. Januar 1841, S. 41-42. 141 „Erbfolge des Adels. Erbfolge im Grundbesitze“, in: „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 12 Mittwoch 10. Februar 1841, S. 45-46. 142 „Erbfolge des Adels. Erbfolge im Grundbesitze“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 13 Sonnabend 13. Februar 1841, S. 49-50. 143 „Erbfolge des Adels. Erbfolge im Grundbesitze“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 14, Mittwoch 17. Februar 1841, S. 53-54.



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bung geschwächte „väterliche Autorität“ gegenüber den erbenden Söhnen, mit ihren für die Kinder nachteiligen Folgen, wie deren „Genußsucht“ und „Überschätzung der Erbteile“, wieder gestärkt werden. Eine solche Besitzbindungspolitik sollte jedoch auch den Bauern und anderen Bevölkerungsteilen eröffnet werden, denn: „Es ist wenig gelegen an Vermehrung einzelner Glanzpuncte“.144 Und es wäre dann auch zu erwarten, dass der Widerwille der Öffentlichkeit gegenüber dieser Einrichtung nachließe.

4.1.6. Die Positionen der Adelszeitung nach dem Scheitern des Sammlungsprojektes Diese Diskrepanz zwischen den konkret-materiellen Vorstellungen und der von der Redaktion der Adelszeitung mehr idealistisch orientierten Neuadelspolitik dürfte wohl die hauptsächliche Ursache für das schließliche Scheitern des projektierten „Adelsvereins“ gewesen sein. Immerhin hatte ein Gründungstreffen im Juli 1841 in Leipzig stattgefunden, das Ludwig v. Alvensleben moderiert und protokolliert hatte, und zu dem fast dreißig Interessierte, zum Teil aus weit entfernten Regionen angereist waren. Diese konnten sich sogar über ein erstes Programm und Statuten verständigen. Diese Veranstaltung wird ausführlich in Kap. 4.2.4. gewürdigt. Doch erfolgten keine weiteren Treffen, und auch die anschließenden Aktivitäten und Korrespondenzen scheinen so ernüchternd schwach ausgefallen zu sein, dass Ludwig v. Alvensleben im Januar 1842 in einer mehr indirekten Anspielung das Scheitern dieses Projekts eingestehen musste, obwohl er die weitere Verfolgung dieses Planes verkündete.145 Es sei ein Entwurf von Statuten beschlossen worden, der an alle Standesgenossen verschickt wurde, welche sich vorläufig zum Beitritt bereit erklärt hatten, und es seien Schritte unternommen worden, um die Genehmigung des Vereins zu erlangen. Dieser demonstrative Optimismus Alvenslebens war vergebens; selbst in der Adelszeitung finden sich keine weiteren Hinweise, wie dieses Projekt weiter verfolgt werden sollte. Die Idee eines gesamtdeutschen Adelsvereins sollte bis zur Gründung der „Deutschen Adelsgenossenschaft“ 1874 der Umsetzung harren. Das Scheitern des projektierten Adelsvereins bedeutete einen herben Rückschlag für alle Hoffnungen, dass der Adel aus eigener Kraft und Willensanstrengung in der Lage wäre, sich eine neue, die deutschen Bundesstaaten überspannende Selbstorganisation und Interessenvertretung schaffen könnte. Zerknirscht gestand ein eingesandter Beitrag 1843 ein:

144 „Erbfolge des Adels. Erbfolge im Grundbesitze“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 15, Sonnabend 20. Februar 1841, S. 57-58. 145 „Über den beabsichtigten Adelsverein“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 1, Sonnabend 1. Januar 1842, S. 2-3.

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Der beabsichtigte Adelsverein ist an Mangel größerer Theilnahme, d.h. an dem Mangel eines Corporations-Geistes im Adel, gescheitert, und ein neuer Versuch, denselben nach ähnlichem Plane zu organisieren, möchte, allen Aussichten nach, abermals verunglücken.146

Die große Verzagtheit der beteiligten Einsender und Diskutanten, und ihre praktische Unfähigkeit, neue ständische Formen zu entwickeln und diese selbstbewusst gegenüber einer tendenziell adelskritischen bis adelsfeindlichen Mehrheitsgesellschaft zu vertreten, kontrastierten scharf mit dem adligen Anspruch, in der Gesellschaft noch als Korporation eine Rolle spielen zu wollen. Eine übergroße Vorsicht selbst derjenigen Einsender und redaktionellen Beiträger, welche offen mit der Gründung eines Adelsvereins sympathisierten und mit praktischen Vorschlägen vorgetreten waren, hatte sich ja nicht nur gegenüber den Interessen der Fürsten und Oberhäupter der Bundesstaaten äußerst quietistisch gezeigt. Gegenüber jeder Öffentlichkeit waren sie auf Vorsicht bedacht. Die vorgelegten praktischen Vorschläge für eine Adelsorganisation waren zudem wenig innovationsfreudig – so hatte kein einziger Vorschlag versucht, das (höhere) Bürgertum bewusst mit einzubeziehen, oder diesem gegenüber adelseigene gesamtstaatliche, bzw. gesamtnationale politische Ansprüche, Ziele und Aufgaben zu formulieren. Die Projekte blieben defensiv bestimmt und zeichneten sich durch einen extremen Innenblick aus. Die Bemühungen erschöpften sich im Wesentlichen darin, den Adel überhaupt erst im geographischen Rahmen des Deutschen Bundes zu mobilisieren. Nicht umsonst wandte sich die Aufmerksamkeit der Adelszeitung nach den Erfahrungen des Sommers 1841 verstärkt solchen Adelsreorganisationsprojekten zu, die ihre Hoffnungen auf eine staatliche Adelspolitik richteten, und hier insbesondere auf Preußen. Eine stärkere Hinwendung zum Staat? So ist es wohl kein Zufall, dass gerade in diesem Zeitraum, im Januar 1842, die Denkschrift Adolf v. Rochows von 1840/41, die ja als anregende Schrift für die Einsetzung der preußischen Adelskommission vermutet werden darf, in voller Länge und ganzem Wortlaut, aber selbstverständlich anonym, in der Adelszeitung abgedruckt wurde.147 Ein ähnliches Programm, das adlige Reform und staatliche Aufsicht mit einander verband, jedoch mit einer erheblich stärkeren adelsreformerischen Komponente, prä-

146 So das kurze Fazit des Artikels „Verein der Adelsgenossenschaft gegen Verarmung ihrer Glieder“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 19 1843, S. 81-82. Dieser Beitrag wurde mit den Initialen „CC., E-z.“ unterzeichnet, datiert auf „Januar 1843“. 147 Adolf v. Rochows Denkschrift erschien anonym in mehreren Folgen: „Denkschrift über einige Maßregeln in Bezug auf den Adel, besonders in Preußen“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 2, Mittwoch 5. Januar 1842, S. 7-9; Nr. 3, Sonnabend 8. Januar 1842, S. 13-14; Nr. 4, Mittwoch 12. Januar 1842, S. 18-19; Nr. 5, Sonnabend 15. Januar 1842, S. 22-23.



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sentierte die Artikelserie des Freiherrn Friedrich Ludwig Karl v. Medem (1799-1885), einem der wenigen namentlich zeichnenden Autoren.148 Medem war eine durchaus prominente Persönlichkeit. Er entstammte einem alten baltisch-pommerschen Geschlecht und betätigte sich als historisch-wissenschaftlicher Publizist. 1827 wurde er durch den Oberpräsidenten Pommerns, Johann August Sack, beauftragt, das Archiv der Provinz Pommern in Stettin zu organisieren, woraus sich das spätere Staatsarchiv entwickelte. Medem wurde dabei zu einem Mitbegründer der modernen Archivkunde.149 In seinem Beitrag betonte Medem den engen Zusammenhang zwischen der Adelsfrage und der Grundbesitzfrage. Dabei ging er ausführlich auf die Beziehung zwischen dem Grundbesitz (als eines Fundus aus Land, Geld und Immobilien) und dem Beruf, wie zwischen dem geistigen und materiellen Leben überhaupt ein. Für Medem war die Adelsfrage wesensgleich mit der Grundbesitzproblematik, denn diese läge der Ständeordnung generell zugrunde: Ein Gesetz, das die Verhältnisse des Adels ordnete, würde, um die zu erwähnen, nothwendig auch das Grundeigenthum betreffen, sich mit den an ihm haftenden Rechten und Lasten beschäftigen und folglich die bäuerlichen Grund-Besitzer, wie überhaupt Alle, in deren Händen

148 Vgl. „Über die Grundlagen der Stände mit besonderer Rücksicht auf den Adel“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 24, Mittwoch 23. März 1842, S. 115-117; Nr. 25, Sonnabend 26. März 1842, S. 121-123; Nr. 26, Mittwoch 30. März, S. 125-127; Nr. 27, Sonnabend 2. April 1842, S. 131-132; Nr. 28, Mittwoch 6. April 1842, S. 135-137; Nr. 29, Sonnabend 9. April 1842, S. 141-142. Der Verfasser zeichnete seinen Artikel mit „Fr. L.B. v. Medem“. Freiherr Friedrich Ludwig Karl v. Medem (1799-1885) wurde als Sohn eines preußischen Majors in Schröttmar/Lippe geboren. Von 1823 bis 1827 diente er als Offizier. Ab 1827 bis 1846 war er im Archiv Stettin tätig. Er veröffentlichte auch unter den Namensvarianten „Friedrich von“, „Friedrich Ludwig Carl von“, „Ludwig von“ geschichtliche Artikel und Werke, bzw. wird entsprechend in der Literatur zitiert. 149 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dienten Archiv nur in geringem Maße wissenschaftlichen Zielen, sondern unterstanden den laufenden Bedürfnissen der Verwaltung und der Regierung. Medem gab mit Ludwig Franz Höfer und Heinrich August Erhard die „Zeitschrift für Archivkunde, Diplomatik und Geschichte“ heraus, die allerdings nur in zwei Bänden in Hamburg von 1834 bis 1836 erschienen war, und die eine neue Rolle staatlicher Archive als freie, wissenschaftliche Institutionen diskutierte (vgl. insbesondere Medems neuartige Ansichten über das Archiv als öffentliche Institution für Verwaltung und Wissenschaft: Ders., Das Königliche Provinzialarchiv zu Stettin, in: Zeitschrift für Archivkunde, Diplomatik und Geschichte, Bd. II, 1835; und Ebd.: Ders., Über den organischen Zusammenhang der Archive mit den Verwaltungsbehörden). Medem veröffentlichte als historischer Schriftsteller in den Jahren 1832 bis 1838 u. a. in der ab 1832 in Stettin erscheinenden historischen Zeitschrift „Baltische Studien: pommersche Jahrbücher für Landesgeschichte“, hrsg. von der Gesellschaft für Pommersche Geschichte, Altertumskunde und Kunst, Stettin. Diese Gesellschaft wurde im Jahr 1824 auf Anregung des damaligen Oberpräsidenten von Pommern, Johann August Sack, unter dem Namen ,,Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde“ gegründet. Vgl. Staatsarchiv Stettin – Wegweiser durch die Bestände bis zum Jahr 1945, hrsg. v. d. Generaldirektion der Staatlichen Archive in Polen, bearb. v. Radoslaw Gazinski, Pawel Gut, Maciej Szukala, Band 24, München 2004, S. 116; Wolfgang Leesch, Die deutschen Archivare 1500-1945, 2 Bde., München-New York-London-Paris 1985, 1992, S. 392.

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sich der Fundus befindet, mit umfassen. Dieses Durchdringen, diese Gegenseitigkeit von Beziehungen, ist eben das Charakteristische des Ständewesens. Es ist derselbe Gedanke, den gleich das Vorwort dieses Jahrgangs der A.Z. (Adelszeitung, G.  H.) ausspricht: „Wer den Adel-Stand gründlich befestigen hilft, hilft zugleich den Bürger-Stand und den Bauern-Stand gründlich befestigen.150

Ganz ähnlich zu dem pommerschen Ständepolitiker Ernst v. Bülow-Cummerow wollte Medem ausschließlich „aus der Masse von Grundbesitzern“ eine „Corporation“ bilden, wobei „Besitz und Beruf“ die notwendigen Brücken zur Bildung eines gemeinsamen Interesses bieten sollten. Entscheidend hierzu sei die Verleihung „politischer Qualitäten“ an den Grundbesitz, der sich natürlich durch seine Größe dafür qualifizieren müsste. Dies würde dem Adel als dem noch immer größten Grundbesitzer zugute kommen. Die nach „Bildung“, „Haltung“ und „Vermögens-Verhältnissen“ qualifizierten nichtadligen Grundbesitzer müssten unbedingt in diese „Corporation“ miteingebunden werden. Für Medem war der große Grundbesitz nicht nur wegen der daran hängenden ständepolitischen Privilegierung, der materiellen Absicherung entscheidend, sondern auch aufgrund seiner langfristigen habituell formenden Wirkungen auf Individuen wie des Familienverständnisses. Denn dieser gemeinsame Lebenshintergrund führe nicht nur psychisch zu Gemeinsamkeiten, sondern auch zu Ähnlichkeiten und Besonderheiten der äußeren Gewohnheiten in Gang und Haltung. Von selbst würde so ein neuer gemeinsamer Standeshabitus geschaffen.151 Trotzdem wollte Medem zur Beaufsichtigung von Erbgängen und zur Rücklagenbildung von Vermögen auf Adelsbehörden nicht verzichten. „Adels-Ämter“ in den einzelnen Provinzen, dazu ein „Ober-Amt“ in der Residenz sollten ähnlich dem von König Friedrich I. 1701 gegründeten „Ober-Heraldsamt“ diese Aufgabe übernehmen.152 Die Aufsicht sollte aber nicht durch „Beamten-Collegien“ geführt werden, sondern durch Mitglieder des Adels selbst. Geistige Qualität, generativ fortgesetzter Grundbesitz und ein Mindestertrag würde zur Erhebung in den Adelsstand qualifizieren und dem alten Adel eine „namhafte Zahl“ neuer „Majoratsherren“, neuen Besitzstand und Ansehen zuführen. Eine staatliche Oberaufsicht würde neue und altadlige Majoratsherren sozial integrieren helfen. Diese gegenüber dem bürgerlichen Großgrundbesitz bemerkenswert offenen Einlassungen Medems erstreckten sich auch auf andere Gebiete potentieller adlig-bürgerlicher Konfliktstellen: Medem verwarf ausdrücklich die überkommenen Formen adlig-bürgerlicher Segregation in den familiären Verhältnissen und verteidigte die

150 „Über die Grundlagen der Stände mit besonderer Rücksicht auf den Adel“, in: Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 25, Sonnabend 26. März 1842, S. 121-123, hier S. 122. 151 „Über die Grundlagen der Stände mit besonderer Rücksicht auf den Adel“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 26, Mittwoch 30. März, S. 125-127, hier S. 126. 152 „Über die Grundlagen der Stände mit besonderer Rücksicht auf den Adel“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 27, Sonnabend 2. April 1842, S. 131-132.



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Möglichkeit der Adoption Nichtadliger durch Adlige, die Legitimierung unehelicher Kinder, wie auch („unstandesmäßige“) Ehen „zur linken Hand“. Auch die Nobilitierung solcher Kinder erachtete er grundsätzlich als sinnvoll, um die soziale Kontinuität und Dauer in solchen Familien zu garantieren, die für den Staat von höchstem Interesse seien. Der nichtangesessene Adel sei dagegen konsequent selbst von der Vertretung reiner Adelsinteressen auszuschließen.153 Die Alternative zu einem Adelsverein – eine „Adelsbank“? Trotz der Enttäuschungen mit dem Projekt eines „Adelsvereins“ und der daraus erfolgenden stärkeren „Staatsorientierung“ der Beiträge gab es auch weiterhin Vorschläge, den Adel, wenn auch auf pragmatischere Weise, in einen ständegeographisch übergreifenden Funktionszusammenhang zu bringen. „Idealismus“ und ständisches Bewusstsein reichten offenbar als Motivation für eine adlige Reorganisation nicht aus: „Ein Adelsverein anderer Art wäre jedoch noch möglich!“ Das ökonomische Eigeninteresse der adligen Individuen sollte gekitzelt werden.154 Einmal mehr wurde eine „Versicherungsanstalt auf Gegenseitigkeit“ („Verein der Adelsgenossenschaft gegen Verarmung ihrer Glieder“) vorgeschlagen, und nun sogar eine „Deutschen Adelsbank“ ins Gespräch gebracht.155 Von hochgestimmten, romantischen Idealen eines „Ordens“ oder ähnlich ausgerichteter Adelsvereinigungen war in diesen Vorschlägen nichts zu spüren. Über die Adelszeitung sollten die Mitglieder einer solchen Versicherung gewonnen werden: „Eine Subscriptions-Liste, bei den verehrlichen Abonnenten der Adelszeitung beigelegt, behufs weiterer Unterzeichnung, wäre wohl der schnellste und geeignetste Weg, zum Zweck zu gelangen.“156 Doch die Erfahrung mit dem fehlgeschlagenen Projekt des Adelsvereins ließ den Autor grundsätzlich an der Organisationsbereitschaft des Adels zweifeln: Entspricht aber dieses auch nicht zum geringen Grade unseren Erwartungen, so müssen wir annehmen, daß der Adel, gänzlich ohne Sinn für Corporationsgeist, seinen Stand verdorren

153 „Über die Grundlagen der Stände mit besonderer Rücksicht auf den Adel“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 29 Sonnabend 9. April 1842, S. 141-142. Fouqué schloss sich in einem „Anhang zu dem vorstehenden Aufsatz“ an Medems Forderungen rückhaltlos an, was allerdings in Anbetracht von Fouqués „Adelsidealismus“ erstaunt. Neben seinem grundsätzlichen Einverständnis mit Medems Ausführungen ging Fouqué in diesem „Anhang“ noch auf eine angeblich ihm widerfahrene Anekdote ein, um die Möglichkeit einer Verständigung und des Ausgleichs in den Familien- und Lebensvorstellungen von Adel und den auf großen Grundbesitz gegründeten Bürgerfamilien zu illustrieren. 154 „Verein der Adelsgenossenschaft gegen Verarmung ihrer Glieder“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 19 1843, S. 81-82. 155 So die Artikelserie mit dem schlichten Titel „Deutsche Adelsbank“, in: „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 28, 1843, S. 115-116; Nr. 29, 1843, S. 118-119; Nr. 30, 1843, S. 123-124; Nr. 31, 1843, S. 128-129; Nr. 32, 1843, S. 132-133; Nr. 33, 1843, S. 135-136; Nr. 34, 1843, S. 139-140. 156 „Verein der Adelsgenossenschaft gegen Verarmung ihrer Glieder“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 19 1843, S. 81-82, hier S. 82.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

lassen will; dann hilft Nichts mehr, und wir müssen von diesem Stande sagen: er hat sein factisches Ende erreicht!!“

Doch vermittels der Adelszeitung hoffte der Verfasser noch binnen eines Jahres genug Interessenten für eine solche Adelsvereinigung zusammenzubringen. Der Vorschlag zur Gründung einer „Deutschen Adelsbank“ führte noch weiter weg von überkommenen Standesvorstellungen. In diesem Falle betonte der Einsender den Bildungsaspekt, dass Geburt allein zur Auszeichnung nicht mehr ausreiche und der Adlige, der „heutzutage träge, unwissend, ungebildet oder ausschweifend ist, nicht mehr seinen Stande, sondern daß der Stand ihn schändet [...]“, da die öffentliche Meinung an ihn höhere Ansprüche stelle.157 Andererseits werde bei „ziemlich gleichen Fähigkeiten“ die öffentliche Meinung noch immer denjenigen mit ausgezeichneten Vorfahren automatisch bevorzugen.158 Deshalb sei der Adel eine natürliche Einrichtung, die auf den überall gegebenen ständischen Unterschieden aufbaue, wie sie auch in Nordamerika existieren, dort jedoch auf „zufälligen, willkürlichen“ Geldbesitz begründet. Aber der Geburtsadel sei – in Kombination mit Bildung – etwas Natürliches. Um aber „[...] im Schmuck eigener, vielseitiger, gediegener Bildung [zu] strahlen, den des Purpurs Herrlichkeit [der Fürsten, G.  H.] nicht im Schatten zu stellen vermag“, müsse sich der Adel auf „geordneten Grundbesitz“ gegenseitig „die Hand reichen zu Credit- und Geld-Beihülfe durch Errichtung einer deutschen Adelsbank“. Dadurch würde der Adel auch unabhängig von der „Geld-Aristokratie“ und könnte diesem in Verbund mit dem gesamten Grundbesitzerstand ein Gegengewicht entgegenstellen. Diese Leistungsforderungen auf Gebieten, die traditionell dem Adel eher fremd waren, erstreckten sich aber noch jenseits des finanzwirtschaftlichen Feldes: „Auch muß der Adel nicht nur Gelehrte und Künstler als Standesgenossen in seiner Mitte aufnehmen, sondern solche ebenfalls aus den Adelsclassen selbst hervorgehen lassen; [...].“159 Denn der Adel müsse „das poetische Moment des Lebens repräsentieren, und eben dadurch das Verflachen in einen unwürdigen Materialismus aus dem Reiche der Möglichkeit verdrängen, ja er müsse alle Verhältnisse zu verklären suchen durch das reine Licht des Christenthums, und sich fern von dem Streben halten, Reichthümer um ihrer selbst willen zu sammeln, sondern vorzugsweise durch die That beweisen, daß sie nur als Mittel zu höhern Zwecken gelten, [...]. Es hätte sich ja auch erwiesen, dass die Menschen sich nur aus sich selbst heraus moralisch entwickeln und die gesellschaftlichen Verhältnisse verbessern könnten, und nicht durch Veränderung der Staatsformen.160 Das Mittel dazu sollten Vereine sein, die einen „Lebens- und Geschäftszweck“ haben müssten, um nicht in leerem Wortschwall und innerer Ziellosigkeit zu scheitern. Das war offenbar die bittere Schlussfolgerung des Verfassers aus dem geschei-

157 „Deutsche Adelsbank“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 29 1843, S. 119. 158 „Deutsche Adelsbank“, in: „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 28 1843, S. 115-116. 159 „Deutsche Adelsbank“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 29 1843, S. 119. 160 „Deutsche Adelsbank“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 30 1843, S. 123-124.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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terten Adelsvereinsprojekt. Die Adelsbank beruhe hingegen auf einer klaren Idee: der Sammlung des Adelsvermögens, um dieses mit 3-4 % zu verzinsen und davon Kredite mit einem nur einen halben Prozentpunkt höheren Satz auszugeben. Für die Statuten der Bank, so der Verfasser, könnte die Österreichische Nationalbank das Vorbild sein. Insbesondere die Rolle die der Adel in dieser Bank spiele, sei beispielhaft: Der große Reichthum der englischen Aristokratie, die gediegene Haltung der österreichischen Aristokratie (welche zum größten Theile bei Fundierung der Nationalbank betheiligt ist) beruhet ganz einfach auf einer thätigen Theilnahme der Bewegungsmittel für die allgemeine Betriebsamkeit, durch gewandte Gebarung von Geldmitteln für die gewerblichen und handeltreibenden Classen, welche letztere eben dadurch in die einflußreichste Abhängigkeit von den höheren Standesclassen versetzt werden, anstatt daß zeither die „umgekehrte Welt“ bei uns gespielt wurde. 161

Fazit: Gründe für das Scheitern der Adelszeitung Die Gründe des Scheiterns der Adelszeitung sind offenbar nicht in einem Versagen der redaktionellen Bemühungen, oder in einer grundsätzlichen Gleichgültigkeit des adligen Publikums an einer überregionalen Kommunikation zu suchen. Vielmehr zeigten sich nur schwer zu überbrückende Differenzen in den Erwartungen und erhofften Strategien zwischen verschiedenen adelspolitischen Akteuren, ja ganzen Adelslandschaften. Trotz des übergreifend festzustellenden Wunsches nach einer neuen organisatorischen Form des Adels, dem Interesse an einem überregionalen „Gespräch“, erweist sich wie schon 1808-1812, und mehr noch 1817-1819/20 insbesondere die Frage nach der „Mischung“ zwischen besitzständischen und „idealistischen“ Elementen adliger Existenz als echte Hürde. Zwar betonten die meisten Beiträge die entscheidende Wichtigkeit großen Grundbesitzes, doch gelang es selbst auf dieser Grundlage nicht, ein Angebot ständischer Erweiterung in das Bürgertum hinein zu formulieren. Einmal mehr finden sich die wenigen diesbezüglichen Stimmen in den östlichen Provinzen Preußens, bzw. des Baltikums. Das Publikum, gerade in den westlichen Landschaften Deutschlands und den Ländern der österreichischen Monarchie stark vertreten, rieb sich dagegen an der Frage der Standesexklusivität auf. Noch einmal wurde die Bedeutung von Ahnenproben intensiv diskutiert, als wären seit der Zeit des westfälischen Ständekampfes um Mirbach und Stein nicht noch einmal zwanzig Jahre vergangen. Eine gemeinsame Linie konnte unter diesen Umständen kaum gefunden werden – darin dürfte auch der Grund zu suchen sein, warum so zahlreiche Artikel und Beiträge immer wieder mit ausschweifenden Einleitungen zur Herkunft und Entwicklung des Adels einsetzten: es wurde immer noch um gegenseitige Verständigungsmöglichkeit zwischen den verschiedenen Adelslandschaften mit ihren spezifischen binnenständischen Differenzierungen, Traditionen, Funktionszusammenhängen und staatsfunktionellen Positionen gerungen. Rechtli-

161 „Deutsche Adelsbank“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 31 1843, S. 128-129.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

che Egalisierung und die Deregionalisierung eines Standesbewußtseins waren selbst innerhalb des preußischen Staatsverbandes offenbar noch nicht weit genug fortgeschritten. Zeigten sich schon die östlichen Adelslandschaften Preußens in den Verfassungsbestrebungen zwischen 1810 und 1823 zum Teil extrem in ihren Interessen und Zielrichtungen zerklüftet, wie sollte da eine Verständigung zwischen den westlichen mediatisierten und Stiftsadelsfamilien mit den Guts- und Militäradligen der östlichen preußischen Provinzen erzielt werden? Die Adelszeitung konnte die intendierte Rolle als Sammlungsblatt und Klärungsstelle für eine konsistentere adelspolitische Richtung im Vormärz nicht erfüllen. Fouqués Versuche, über eine sprachlich-begriffliche, oder auch poetologische „Verflüssigung“ adliger Lebens- und Traditionszusammenhänge eine neue gemeinsame Verständigungsebene zu entwickeln wurde kaum verstanden und war deshalb (noch) zum Scheitern verurteilt. Denn sein Versuch, den gesamten deutschen Adel jenseits seiner jeweiligen landschaftlichen, konfessionellen und sozialen Rückbindung anzusprechen, machte es ihm unmöglich, eine konservative Ideologie auf eindeutige lebensweltliche Institutionen und ökonomische Interessen zu begründen. Er musste deshalb auf idealisierte Substrate lebensweltlicher Elemente aus verschiedenen Adelslandschaften zurückgreifen. Dass es sich dabei um „scheinkonservatives“ Tun handelte, war ihm sicher nicht bewusst. Die durch eigene Sprachforschungen vorangetriebene „Wiederentdeckung“ angeblich lange vergessener Begriffe, Institutionen und „Wahrheiten“ nutzte „alte“ Begriffe und Bedeutungen zur Umschreibung des tatsächlich Neuen. Doch dies erschwerte die Kommunikation seines Anliegens. Denn seine Kommunikationspartner erwiesen sich in ihren Argumentationsfiguren und Neuständemodellen vorerst noch ganz ihren regionalen und adelsgruppenspezifischen Familienordnungen und Ständeverfassungen verpflichtet – als „Konservative“ im eigentlichen Wortsinne. Ihre „reformerischen“ und „erneuernden“ Ideenansätze handelten vorwiegend von einer Reorganisation des „Alten“, konzessionierten die Bildung neuer Konstellationen aus Elementen des Überkommenen. Verbesserter und aufgeweiteter sozialer Kontakt zu Standesgenossen und anderen gesellschaftlichen Gruppen schien zur Krisenbewältigung der Mehrheit noch ausreichend. Selbst die stark materiell geprägten Lösungsvorschläge waren ausschließlich introspektiv angelegt, handelten von modernisierten Erbordnungen, neuen wirtschaftlichen Sicherungssystemen für Standesgenossen, der gesicherten Finanzierung der Ausbildung der Kinder. Entsprechend bewegten sich die Vorstellungen über neue Organisationsformen um die überbrachten Modelle von Fideikommiss, Majorat, Pfandbriefsystem und Familienstiftung. Verbesserte Kommunikation, begleitet durch eine gezielte moralische Einflussnahme innerhalb und außerhalb des Standes – darin erschöpften sich hingegen die „idealistischen“ und „moralischen“ Reformvorstellungen. Fouqués weit ehrgeizigere Anregungen für einen adelsständischen Neuentwurf wurden nur vereinzelt aufgegriffen und variiert: in der Bildung neuer Begriffe und in rhetorischen Bekenntnissen zu einer binnen- wie zwischenständschen „Gemeinfreiheit“ aus der historisch der Adel erst erwachsen sei. Ein radikales neues Denken



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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über eine neue binnenständische Solidarität und Gleichheit, aber auch entschiedene Neuansätze bezüglich erweiterter sozialer Kontakte außerhalb des eigenen Standes – mit den zentralen Fragen der Ebenbürtigkeit und des Konnubiums – wurden dagegen vermieden. Fouqué war seiner Zeit noch immer weit voraus.

4.2. Adelsvereinsprojekte – Selbstformierung durch Sammlung des Adels? Gewiß scheint mir, dass jedes lautbar werdende Bestreben nach Erweckung des Rittersinns eine unvermeidliche Reaktion [...] hervorbringen würde, deren Stoß zu begegnen oder auch ihm auszuweichen wir nicht vermögend wären; desto weniger, da unsere Neider wohl wissen, was sie wollen, unter Hunderten der Unsern aber wohl kaum Einer weiß, was wir wollen dürfen und wollen sollen.

4.2.1.

Friedrich Leopold Stolberg 1816

Die Urform eines nachständischen Adelsvereins: die „Adelskette“ von 1815

Schon vor der Initiative der Adelszeitung hatte es Versuche gegeben, eine überregionale Selbstorganisation des Adels zu stiften. Die Bestrebungen zu Adelsvereinigungen in der nachständischen Zeit mussten nicht unbedingt auf eine Adelsreform im engeren Sinne zielen. Umgekehrt war für eine Adelsreform eine solche Selbstorganisation im modernen Staat fast unhintergehbare Voraussetzung. Genau dies hatte ja Radowitz in seinem Gutachten über die Adelspläne Friedrich Wilhelms IV. 1847 ausdrücklich festgehalten.162 Der Staat konnte dem Adel in der Formulierung neuer Aufgaben behilflich sein, doch musste die Hauptinitiative aus dem Adel selbst kommen. Nur so konnte ein standesübergreifender Konsens über Inhalt, Sinn und Zweck eines neuen Adels gestiftet und popularisiert werden. Ohne einen solchen Konsens blieb die politische Wirksamkeit jeder staatlich initiierten Adelsreform fraglich. Wie sah es also mit dem Willen und der Fähigkeit des preußisch-deutschen Adels aus, sich als provinz- und landschaftsübergreifende Handlungseinheit zu organisieren? Das erste Beispiel eines solchen Versuchs, auf das sich zahlreiche spätere Ansätze und auch die Aufrufe in der Adelszeitung beriefen, war die Gründung der „Adelsgesellschaft zur Kette“ auf dem Wiener Kongress 1815.163

162 Siehe oben Teil II. Kap. 3.4.5. 163 Lange Zeit galt ein Aktenband verschollen, der die Sitzungsprotokolle der „Kette“, Vorträge und Aufsätze über Ziele der Adelsvereinigung, Mitgliederlisten und Korrespondenzen enthielt. Dieser

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Persönlichkeiten und Motivationen hinter dem Vereinsprojekt der „Kette“ Diese kurz „Die Kette“ genannte Initiative ging auf einen Aufruf vom 7. Januar 1815 durch den Reichsfreiherrn, damaligen fürstenbergischen Geheimrat und Bevollmächtigten auf dem Wiener Kongress, Freiherr Josef v. Laßberg (1770-1855) zurück.164 Dieser schwäbische Freiherr eines aus Österreich stammenden Geschlechts betätigte sich als dilettierender Germanist und Historiker, und trug eine große Sammlung an Autographen und Handschriften der mittelalterlichen Geschichte zusammen.165 Laßbergs Ini-

Aktenband soll sich im Besitz des Kunst- und Altertumsforschers Mark Rosenberg befunden haben und wurde im 8. Band des Katalogs der Badischen Handschriften beschrieben. Aus diesem Bestand arbeitend hatte Georg Simmel erstmals die „Adelskette“ wissenschaftlich erwähnt. Max Binder vermutete, dass diese Akte Max Rosenbergs bei einem Brand (Sommer 1914 in Schapbach) verlorenging, da sie bei Überstellung des Rosenbergschen Nachlasses in das badische Staatsarchiv 1923 nicht mehr vorhanden gewesen sei. Binder hoffte mit einem Artikel im Adelsblatt der Akte doch noch auf die Spur zu kommen, vgl. Max Binder, Von der „Adelsgesellschaft zur Kette“, in: Deutsches Adelsblatt. Zeitschrift der Deutschen Adelsgenossenschaft für die Aufgaben des christlichen Adels“. Berlin, Jahrgang 1932, S. 190-191, hier S. 190: „In den Akten sind aufgenommen die Sitzungsprotokolle; Vorträge und Auffsätze über die Ziele des Bundes, darunter solche der Grafen Joseph von Westphalen und Ernst von Bethusy, der Freiherren Isaak von Sinclair, Joseph von Laßberg und Karl von Baden, des Vorstehers des Vereins zur Kette; Briefe und Entwürfe, worunter ein Verfassungsentwurf des Grafen von Stolberg-Wernigerode. In dem Verzeichnis der vorzuschlagenden Mitglieder des schwäbischen Kreises, dessen Führer Joseph von Laßberg war, finden sich die Namen Reischach, Roth von Schreckenstein, Enzenberg, Bodmann, Sturmfeder, Gemmingen und Buol von Schauenstein. Sodann befindet sich bei den Akten das Original der Verfassungsurkunde vom 28. April 1815 mit 14 Unterschriften, ferner ein Aufsatz von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg über die Aufrechterhaltung des Adels, und schließlich das, was uns am meisten interessieren muß: Entwürfe eines Planes, ein Institut zur Erziehung des deutschen Adels zu gründen.“ Erst 1979 konnte Horst Conrad von einem zufällig gefundenen Aktenband berichten, der sich im Privatarchiv des Freiherrn von und zu Brenken auf Erpernburg fand: Handschrift „Die Kette“, Nachlass Friedrich v. Brenken, Nr. 83. Vgl. Ders., Kette. Seiner Beschreibung nach dürfte es sich um den von Max Binder als verschollen geglaubten Aktenband (bzw. einer Abschrift davon) handeln. Die einzige sonstige zeitgenössische Überlieferung über „Die Kette“ (mit Ausnahme brieflicher Berichte und Bezugnahmen Laßbergs aus späterer Zeit) stellen die abgedruckten Akten des Wiener Kongresses durch Johann Ludwig Klüber dar: Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815, Erlangen 1816, Bd. 6, S. 452-460. Darin ist aber allein der „Plan zu einem allgemeinen Adelsverein durch ganz Teutschland, die Kette genannt; datiert Wien, den 10. Jan. 1815“ abgedruckt, sowie eine „Nachschrift“, S. 461-462 (durch Klüber?), die die Ziele der Kette zusammenfasste und kritisch begutachtete. Deren letzter Satz lautete: „So war denn vorauszusehen, daß diese Wiener Congreß Frucht, welche vier Jahrhunderte zu spät kam, zur Reife nicht gedeihen werde!“ 164 Laßberg hatte auf dem Wiener Kongress das Dokument verfasst, welches die me­dia­tisierten und reichsadligen Kreise durch Fürstin Elisabeth v. Fürstenberg am 15. Oktober 1815 dem österreichischen Kaiser überreichen ließen, um auf die Wiederherstellung ihrer einstigen privilegierten Stellung anzutragen, und ihn zur Wiederannahme der deutschen (Kaiser/Königs-)Krone zu bewegen, vgl. Karl Siegfried Bader, Der Reichsfreiherr Joseph v. Laßberg. Gestalt und Werk, in: Ders. (Hrsg.), Joseph v. Laßberg. Mittler und Sammler. Aufsätze zu seinem 100. Todestag, Stuttgart 1955, S. 11-50, hier S. 33. 165 Joseph Maria Christoph Freiherr von Laßberg wurde 1770 in Donaueschingen geboren. Nach seiner Schulzeit in Kloster Salem und am Gymnasium in Donaueschingen sowie einem Jura-Studium in



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tiative und die inhaltliche Orientierung, die er dieser Adelsassoziation geben wollte, verweisen auf die ganz ähnlichen Ideen des Freiherrn v. Stein im selben Zeitraum. In seiner Funktion als faktischer Leiter der antinapoleonischen und proösterreichischen Politik des Fürstentums seit 1809 kam Laßberg in näheren Kontakt zu Stein.166 So wie sich Stein in seiner Monumenta Germaniae historica (deren Vorbereitungen 1819 einsetzten) um eine Sammlung und Publikation mittelalterlicher Quelltexte bemühte, suchte Laßberg mit seiner eigenen mittelalterlichen Sammlung eine Grundlage für die historisch-ideelle Neuorientierung des Adels zu schaffen.167 In diesem Sinne war

Straßburg und Freiburg i. Brsg. folgte er seinem Vater in den Dienst der fürstlich-fürstenbergischen Verwaltung nach (1792). 1804 wurde er zum Nachfolger seines Vaters als oberster Verwalter bestimmt und leitete die fürstliche Kameral- und Forstverwaltung mit dem Titel eines Landesoberforstmeisters (1807). Er war in erster Ehe mit Anna Maria Ebinger von der Burg verheiratet. Durch den Kauf des Schlosses Helmsdorf (bei Immenstaad) erwarb er die Mitgliedschaft der schwäbischen Reichsritterschaft. Als Reichsritter und im Auftrag der verwitweten Fürstin Elisabeth v. Fürstenberg, mit der er ein unstandesgemäßes Verhältnis einging und einen Sohn hatte, versuchte Laßberg auf dem Wiener Kongress vergeblich die Souveränität des Fürstentums zu erlangen. Nach der Volljährigkeit des jungen Fürsten Karl Egon II. zu Fürstenberg nahm der seit 1814 verwitwete Laßberg 1817 den Abschied und zog sich auf seinen Besitz Eppishausen in Erlen im schweizerischen Thurgau zurück. Neben der Bewirtschaftung seines Gutes begann Laßberg im großen Stil mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur zu sammeln, nachdem es ihm schon 1814 auf dem Wiener Kongress gelungen war, mit Mitteln der Fürstin die Handschrift C des Nibelungenliedes zu erwerben. Nach seinem Thurgauer Besitz wählte er sein Pseudonym „Meister Sepp von Eppishusen“. Laßberg unterhielt einen ausgedehnten Briefwechsel, u.a. mit Jacob Grimm, Ludwig Uhland, Gustav Schwab und Karl Lachmann. Über seine literarische Sammlungstätigkeit wurde er zu einem Experten der frühen Germanistik und der mittelalterlichen Geschichte, der sein Wissen aber vor allem über seine Korrespondenz verbreitete. Durch eine zweite Ehe mit der Freiin Maria Anna wurde er 1834 Schwager der Schriftstellerin Annette v. Droste-Hülshoff, die in späteren Jahren bei ihrer Schwester und ihrem Schwager auf der Meersburg am Bodensee wohnte. Dort starb auch Laßberg 1855, nachdem er aufgrund der ihm widerstrebenden politischen Entwicklung in der Schweiz seinen Thurgauer Sitz verlassen, und von der badischen Domänenverwaltung Schloss Meersburg erworben hatte. Laßbergs private Bibliothek umfasste weit über 10.000 Bücher, Handschriften und Manuskripte, als er sie der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek verkaufte. Laßberg gehörte auch der Wollzeilergesellschaft an, welche Jacob Grimm am 4. Januar 1815 in Wien gegründet hatte. 1845 wurde Laßberg von der Universität Tübingen mit dem Titel Dr. phil. h. c. geehrt. 1849 wurde er zum Ehrenmitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Vgl. ADB Bd. 17, Leipzig 1883, S. 780-784; NDB Bd. 13, Berlin 1982, S. 670-672. 166 Schon vor 1813 vereinten sich Laßberg und Stein, die sich auch nach Herkunft und Selbstverständnis so nahe standen, im Kampf gegen Napoleon. Auf dem Wiener Kongress vertiefte sich dieser Kontakt, und fand im Projekt der Steinschen Monumenta Germaniae weitere Anknüpfungspunkte. Fürstin Elisabeth v. Fürstenberg war sogar schon vor Laßberg mit Stein (seit dessen „Exil“ in Böhmen) befreundet. Vgl. Bader, Laßberg, S. 31f. 167 Fürstin Elisabeth v. Fürstenberg (1767-1822), eine geborene Prinzessin v. Thurn und Taxis, leistete auch bedeutende finanzielle Zuwendungen an das durch Freiherrn Karl vom Stein gestiftete Editionswerk „Monumenta Germaniae historica“, vgl. Artikel „Laßberg“ in ADB Bd. 17, Leipzig 1883, S. 780-784. Zu ihrer Rolle im Kampf gegen die Mediatisierung und ihrer Folgen vgl. Bader, Laßberg, S. 28-36.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

auch die von ihm initiierte „Kette“ politisch gemeint, auch wenn sie vordergründig allein dazu dienen sollte, die „moralische und wissenschaftliche Bildung“ unter dem Adel befördern.168 Laßberg entwickelte seine Vorstellungen über eine erneuerte adlige Existenz in nachständischer Zeit besonders intensiv entlang eines Ideals der „Ritterlichkeit“. Anders als der zweite zentrale Mitinitiator der „Kette“, Werner v. Haxthausen, machte sich Laßberg aber keine Gedanken, wie dieses Ideal auch einer nichtadligen Umwelt, z.B. über popularisierbare Turnierspiele, vermittelt werden konnte. Laßbergs Vorstellungen blieben diesbezüglich auf den Adelsstand (z.B. in der Idee der „Kette“), bzw. seine eigene Person begrenzt. So stilisierte er sein persönliches Leben nach den Maßgaben einer ungebrochen, ganzheitlichen Existenz, in der sich historisches und philologisches, agrar- und forstwirtschaftliches Interesse mit praktischer Tätigkeit in Verwaltung und Landwirtschaft (der eigenen Güter und des fürstenbergschen Besitzes), denkmalpflegerischer Bautätigkeit an verschiedenen Burgen und Schlössern überschnitt. Sein romantischer Neuentwurf eines Ritterlichkeitsbegriffs umfasste Vorstellungen von „Frauendienst und Mannesmut, Adelgut und Standestreue, dazu die Tugenden des Großmuts, der Verlässlichkeit und eines Ethos des Dienens“, in der die Verpflichtung zur Geselligkeit eine herausragende Rolle spielte.169 Dieser Lebensentwurf gelang ihm offenbar so gut, dass ihn schon seine Zeitgenossen als „Ritter“ wahrnahmen. Dabei war Laßbergs privates „Projekt Rittertum“, das er bewusst dem „Trend der Bürgerlichkeit“ entgegensetzte, durchaus eklektisch; es zielte nicht auf die Wiederherstellung einer mittelalterlichen Gesellschaft, sondern auf Reform aus dem „Geist des Mittelalters“. Schon der „Ritterschlag“, den er als sechzehnjähriger Schüler noch 1786, kurz vor der französischen Revolution, als „Letzter“ im Alten Reich wie Laßberg meinte, erhalten hatte, wurde durch einen umgewidmeten Husarensäbel ausgeführt, entsprach in seiner ganzen Szenerie keineswegs einer historisch korrekten „Schwertleite“.170 Ganz vergleichbar zu den von Stein/Schlosser 1818 skizzierten Aufgaben eines Adels in neuer Zeit suchte Laßberg über sein „imaginiertes

168 So die Paragraphen 2, 7, 8, 9 des „Plans zu einem allgemeinen Adelsverein, in: Klüber, Acten, Bd. 6, S. 452-460. Conrad, Kette, S. 7. Max Binder schloss neben der „sittlichen und wissenschaftlichen Hebung“ des Adels auf eine politische Zielsetzung aufgrund der Tatsache, dass für die Aufnahme in diesen Bund das Verhalten des einzelnen Adligen in der Napoleonischen Zeit zum Maßstab genommen wurde, vgl. Ders., Adelsgesellschaft, S. 191. 169 „Das meint nicht jene klebrige Mixtur, die alles mit allem verührt und Totalitätsgebräu erzwingt, sondern ein Miteinander, auch freies Nebeneinander unterschiedlicher Denk- und Lebensmöglichkeiten. Er hat nicht nur Burgen, weil sie zur ritterlichen Lebenstheatralik gehören, vielmehr auch, weil sich auf solchem Bau und Areal eine kleine komplette Welt verwirklichen lässt: Der Reichtum der Übersichtlichkeit.“ Vgl. Gaier u. Weidhase. Laßberg, S. 20f. 170 Dieses eindrücklichste, ihn dauerhaft verpflichtende Jugenderlebnis wurde am Johannistag 1786 durch einen Onkel in der Burgkapelle der Ruine Trifels iszeniert. Laßberg zelebrierte diesen Tag jährlich, und beschrieb dieses Erlebnis noch 1829 tief bewegt in bewusst „mittelalterlicher“ Diktion Jacob Grimm. Laßberg hielt sich auch im wörtlichen Sinne für den „letzten Ritter“, der seinen „Ritterschlag“



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Mittelalter“ eine adlige Funktion in der neuen Gesellschaft zu entwerfen, die sich der Bewahrung der sittlichen, gemeinschaftsbildenden Werte verschrieb, die aus der Tradition der Kultur erwuchsen und der Pflege und Erneuerung bedurften.171 Ziel seiner intensiv kultivierten Gelehrsamkeit war nicht der wissenschaftliche Forstschritt als solcher, sondern die auf einer offenen, nicht ideologisch verengten Forschungstätigkeit begründete Geselligkeit. Damit stand Laßberg quer zu der sich damals scharf entlang national-ideologischer Leitlinien entwickelnden Germanistik und Medievistik.172 Zudem treten die Parallelen in der Auffassung dieses Mittelalterideals zu den poetologisch-sprachlichen Ansätzen Friedrich de la Motte Fouqués hervor, nur dass letzterer aufgrund seiner prekären Existenz dazu verdammt war, diese nur im abstrakten Feld der sprachlich entworfenen Bilder vorzunehmen, wo Laßberg über genügend Mittel verfügte, diesen auch lebensräumlich Ausdruck geben zu können. Für dieses ideell-moralische Programm der „Kette“ stand neben Laßberg auch die zweite zentrale Figur dieses Adelsvereinsprojekts: Werner v. Haxthausen (17801842).173 Dieser befand sich auf Anregung Hardenbergs als einfacher Gast ohne

noch im vergangenen Römischen Reich erhielt. Vgl. zur „Ritterlichkeit“ Laßbergs: Gaier u. Weidhase. Laßberg, S. 11 - 37, der „Ritterschlag“ S. 14-18. 171 Gaier u. Weidhase. Laßberg, S. 102. 172 Ebd., S. 19-20. Laßberg ging damit gewissermaßen einen „dritten Weg“ zwischen der Idee der Gebrüder Grimm, belletristische Texte als Zeugnisse kollektiver Kunstschöpfung, als Dokumente einer „Volksseele“ zu lesen (die es in diesem Sinne zu „reinigen“ galt), und der streng genie-ästhetischen Philologie der Schule Karl Lachmanns, die nach dem Vorbild der Antiken-Disziplinen nach einem „originalen“ Autor suchte. Zu Laßbergs wissenschaftlichem Ansatz in Kontrast zu den den schon früh ideologisch verengten national-patriotischen Tendenzen der „borussischen“ Schulen bes. S. 84-95. 173 Werner Moritz Maria Freiherr v. Haxthausen, 1780 zu Bökendorf bei Paderborn geboren, studierte 1800-1803 in Münster, später in Prag, Jura und Sprachen. 1804 übernahm er ein Kanonikat in Paderborn und bildete sich weiter eingehend in orientalischen Sprachen aus. 1809 schloss Haxthausen sein Studium in Göttingen ab, um sich anschließend im Kampf gegen Napoleon zu engagieren. Als Mitglied des Tugendbundes und Teilnehmer an der Dörnbergschen Erhebung musste er nach Halle fliehen. Dort lernte er Persisch und widmete sich zugleich medizinischen Studien in der Hoffnung, über seinen Freund Graf Münster, dem damaligen hannoverschen Gesandten in London, als Arzt einer englischen Expedition nach Indien vermittelt zu werden. In Halle befreundete er sich u.a. mit dem Naturforscher Henrich Steffens, auf den er nach dessen eigener Aussage einen nachhaltigen Einfluss gewann. Nach kurzer Rückkehr nach Bökendorf musste Haxthausen erneut vor der französischen Verfolgung fliehen, und gelangte über Schweden nach London, wo er sich als Arzt niederließ und Vorlesungen über Naturphilosophie hielt. Der Herzog von York verschaffte ihm 1812 eine Stelle als Arzt im Dienste der ostindischen Compagnie mit einem Gehalte von 1000 Pfund und der Verpflichtung im nächsten Frühjahr seine Stellung anzutreten. Der Rückzug Napoleons aus Russland verschaffte Haxthausen stattdessen die Möglichkeit, nach Deutschland zurückzukehren und im Stab des Generals Wallmoden gegen Davoust und die Dänen vor Hamburg zu kämpfen. Als Major und Ritter des Guelfenordens verabschiedet, wurde er 1815 durch den mit ihm befreundeten Grafen Solms-Laubach, dem neuen Oberpräsidenten der Rheinprovinz, als Regierungsrat nach Köln berufen. Hier traf er auf E. M. Arndt, die beiden Boisserée, Görres, E. v. Groote, den Brüder Schlegel und begann sich intensiv mit altdeutscher Kunst und Literatur auseinanderzusetzen. 1825 zog er sich ins Privatleben zurück um die

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Geschäftsbereich auf dem Kongress. Haxthausen war mit Laßberg weitläufig verwandt und unterstützte das Vereinsprojekt von Anfang an.174 Und Haxthausens Ideen und Erfahrungen in und mit der „Kette“ wirkten in den folgenden Jahren in den Initiativen des westfälischen Adels zur Standeserneuerung weiter.175 Über Werner v. Haxthausen fanden deutlich durch Leopold v. Stolberg beeinflusste Adelsideale Eingang in das Programm der „Kette“, denn Werner war zeitweise im Hause Stolbergs erzogen worden.176 Allerdings lehnte ausgerechnet Stolberg das Vorhaben der „Kette“ als illusorisch und in der politischen Intention verfehlt ab.177 Werner v. Haxthausen ließ sich aber nicht irritieren; Werner verfolgte ein komplexes neuständisches Ideal als politisches Programm, ähnlich wie es sein Bruder, der Agrarökonom August v. Haxthausen (1792-1866) es auf einem ganz anderen Weg versuchte. Auf einem mittelalterlich inspirierten „ordo-Gedanken“ aufbauend legitimierte Werner v. Haxthausen schon in seinen Schriften für den Adelsverein eine neu-ständische Ordnung eines sich in

Verwaltung seiner väterlichen Güter zu übernehmen. 1833 erregte er als ritterschaftlicher Deputierter auf dem westfälischen Landtage und Vorsitzender des Ausschusses über die bäuerliche Sukzessionsgesetzes mit seiner Schrift „Über die Grundlagen unserer Verfassung“ großes Aufsehen und scharfe Kritik. 1837 siedelte er nach Neuhaus bei Neustadt in Franken über und wurde vom bayerischen König in den erblichen Grafenstand erhoben. Er starb 1842 zu Würzburg. Haxthausen war hoch gebildet, verstand nicht weniger als 16 Sprachen, sammelte und übersetzte griechische Volkslieder und dichtete, ohne davon etwas zu publizieren, vgl. ADB, Band 11, Leipzig 1880, S. 121ff. 174 Volker Schupp, Vitae parallelae. Kettenbrüder: Joseph von Laßberg und Werner von Haxthausen, in: Badische Heimat, Nr. 84, 2004, 354-369. Neben Haxthausen war der ebenfalls westfälische Freiherr Carl Friedrich von und zu Brenken der einzige der „Kettenbrüder“, die mit Laßberg dem Adelsverein die Treue hielten, was letzterer den beiden nie vergaß. Haxthausen war ein Cousin der beiden Droste-Hülshoff Schwestern, vgl. Conrad, Kette, S. 9f. Über diese verwandtschaftlich-freundschaftliche Verbindung lernte Laßberg während einer Schweiz-Reise 1831 auch seine zweite Frau Maria Anna v. Droste-Hülshoff kennenlernen. Brenken hatte wiederum eine Haxthausen geheiratet, vgl. Gaier u. Weidhase. Laßberg, S. 71-74. 175 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.4.3. 176 Laßberg und Haxthausen wurden mit Joseph Clemens v. Westphalen in den geschäftsführenden Ausschuss gewählt. Zum Vereinsvorsitzenden wurde am 13. Januar 1815 Carl v. Baden gewählt, vgl. Conrad, Kette, S. 20. 177 So Stolberg in zwei Briefen vom 1. und 6. Februar 1816 an den Mitbegründer, „Kettenbruder“ und Mitglied des geschäftsführenden Ausschusses Joseph Clemens Graf von Westphalen, vgl. Conrad, Kette, S. 49-54. Tatsächlich waren Stolbergs eigene Gedanken einer Standeserneuerung wesentlich defensiver und „involutiver“ gestimmt. Stolberg fürchtete vor allem die öffentliche Gegenreaktion auf einen solchen „Ritterverein“. Deshalb sei es im Falle einer Gründung notwendig, „Publizität“ zu vermeiden, nichts „auszuposaunen“, andererseits aber durch ein unbefangenes Verfahren jedem Verdacht eines Geheimordens zu vermeiden. Zum zweiten kritisierte Stolberg die einseitig starke Orientierung an einem mittelalterlichen Ritterideal zur Formulierung der sittlichen Ziele des Vereins; diese würde eine „unvermeidliche Reaktion von Seiten des Hofes und der anderen Stände hervorbringen [...], deren Stoß zu begegnen oder auch ihm auszuweichen wir nicht vermögend wären [...].“, vgl. Ebd., S. 53f. Für die Formulierung dieses „mittelalterlichen“ Ritterideals zeichnete aber vor allem sein ehemaliger Zögling Werner v. Haxthausen verantwortlich.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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der Natur wie der Geschichte offenbarenden göttlichen Heilsplans, wie er es knapp zwanzig Jahre später in seiner Schrift „Über die Grundlagen unserer Verfassung“ näher darlegte: nur der Adel mit seiner Position zwischen Volk und Monarchen sei Garant für die Freiheit des Landes, das ansonsten entweder der Despotie des Tyrannen, oder der Anarchie des Pöbels anheimfallen müsse, wie die französische Revolution gezeigt habe. In seinen adelspolitischen Ideen wies Haxthausen deutlich über seinen „Lehrer“ Stolberg hinaus: nicht „passiv“ nach innen gerichteter Bildungsund Leistungsauftrag an den Adel, sondern offensive Vermittlung und Umsetzung dieses Gedankens durch eine handlungspraktische „Vereinigung“ des Adels zur Verwirklichung konkreter Maßnahmen sei das Gebot der Stunde. In den bürgerlich ausgerichteten Bildungszielen ging Haxthausen mit Stolberg konform, doch sollte der Adelsverein z.B. auch dazu dienen, dem Verkauf von Adelssitzen entgegenzuwirken und eine standeskontrollierende Ehrengerichtsbarkeit auszuüben. Anders als Stolberg suchte Haxthausen neben der Übernahme (bürgerlich geprägter) Bildungs- und Leistungsziele auch nach der Formulierung eines allgemeinen Lebensideals, das er, hierin im Gleichklang mit Laßberg (und Fouqué) vor allem durch Orientierung am mittelalterlichen Ritterideal zu finden hoffte. Wiederholt beschwor Haxthausen das „alterthümliche und ritterliche Leben“, Ideale wie das „Gefühl für Recht und unbestechbare Treue für eigene Überzeugung“.178 Selber hoch gebildet ging es ihm nicht darum, bürgerliche Bildungswerte per se abzuwerten, sondern er kritisierte diese als zu einseitig: anstelle des allein „Allgemeinen“ und des „Halbwissens“ müsse das „Gründliche“, das Detailwissen des „Vaterländischen“ angestrebt werden. Als Beispiel für Letzteres kann durchaus die wissenschaftliche Beschäftigung seines Bruders August mit den preußischen Agrarverhältnissen zählen, der in einer jahrzehntelangen stupenden Aufnahme umfassendes und detailreiches Material zusammentrug.179

178 Conrad, Kette, S. 10ff. 179 August Franz Ludwig Maria Freiherr v. Haxthausen, wurde 1792 ebenfalls zu Bökendorf geboren. Erzogen wurde er im Hause seines Onkels, des Freiherrn v. Kalenberg. Er besuchte zwischen 1808-13 die Bergwerksschule zu Clausthal. In der hannoverschen Armee machte er als Freiwilliger den Feldzug an der Elbe und in Dänemark mit. Danach studierte er in Göttingen Jura, und wurde dort Mitglied der „poetischen Schustergilde“, eine Verbindung, die Kunst und Poesie im romantischen Geist zu fördern suchte. In der zugehörigen Zeitschrift „Wünschelruthe“ gaben auch Achim v. Arnim, Brentano und die Gebrüder Grimm Werke heraus. Die Familie Haxthausen hatte bedeutenden Anteil an der Sammlung von Märchen, Sagen und Liedern der Brüder Grimm. 1819 kehrte August v. H. nach Bökendorf zurück und beschäftigte sich intensiv mit den agrarischen Verhältnisse Norddeutschlands. 1829 veröffentlichte er darüber das Buch „Über die Agrarverfassung in den Fürstenthümern Paderborn und Corvey und deren Conflicte in der gegenwärtigen Zeit nebst Vorschlägen, die den Grund und Boden belastenden Rechte und Verbindlichkeiten daselbst aufzulösen.“ Darin entwickelte er schon ein ganzes politisches Programm, das zum Ziel hatte, die Agrarverfassung nach historischen Gesichtspunkten und streng anti-kapitalistisch fortzuentwickeln, um sie als Grundlage einer neuen ständischen Gliederung der Gesellschaft heranziehen zu können. Darüber wurde der preußische Kronprinz auf ihn aufmerksam und berief ihn nach Berlin, um seine Ideen praktisch zu verwerten. August v. H. soll-

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Werner v. Haxthausen ging es weiterhin um die Bildung einer charakterlich geformten Adelspersönlichkeit, die mit dem Fach- und Sachwissen eine standesspezifische „Haltung“, die „Contenance“ verbinden sollte. Und während sein Bruder das agrarische Wissen der Zeit mit enzyklopädischer Akribie sammelte, versuchten er und Laßberg auf philologisch-historischem Gebiet Ähnliches. Werner v. Haxthausen strebte wie Laßberg nicht nach einer willkürlichen und undifferenzierten Sammlung von Kuriosa, sondern um Identifikation und Auswahl von zeitgenössisch Brauchbarem. Sie betrieben philologische Forschung zur Bildung neuer Erziehungsleitbilder. In diesen Zielen trafen sich Haxthausens wie Laßbergs Ideen für den Adelsverein mit den Anliegen der Steinschen Monumenta Germaniae. Die Vereinsgründung und ihre projektierten Ziele Nachdem Laßberg am 7. Januar 1815 in einem Memorandum die Gründung des Adelsvereins angeregt hatte, fand schon am 9. Januar 1816 die konstituierende Sitzung statt; während dieser gab sich die Versammlung den Namen und das Sinnbild der „Kette“.180 Die geographische Reichweite dieser Organisation sollte deutlich über die Grenzen des gerade erst gegründeten Deutschen Bundes hinausgreifen, und orientierte sich auch in der projektierten Organisation nach „Kreisen“ und „Gauen“ deutlich an der inneren Gliederung des Alten Reiches, ohne mit der „alten Turniergeographie“ genau übereinzustimmen.181 Entsprechend der in Wien versammelten Adelsgesellschaft handelte es sich bei den Gründern und ersten Mitgliedern dieser

te die einzelnen preußischen Provinzen bereisen, um ihrer jeweilige Agrarverfassung aufzunehmen und für eine zukünftige Ständeordnung auszuwerten. Haxthausen widmete sich dieser Aufgabe neun Jahre, und veröffentlichte 1838 den ersten Band der projektierten Reihe „Die ländliche Verfassung in den einzelnen Provinzen der preußischen Monarchie“ über Ost- und Westpreußen; der zweite Band über Pommern erschien erst 1861. Über einen von ihm 1842 veröffentlichten Artikel wurde der russische Zar Nikolaus aufmerksam, und beauftragte ihn mit der Erforschung der russischen Agrarverhältnisse. Die Ergebnisse seiner Reise von 1843 bis Sommer 1844 veröffentlichte er in den „Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands“, I. II. Hannover 1847, III. Berlin 1852, und in „Transkaukasien. Andeutungen über das Familien- und Gemeindeleben und die socialen Verhältnisse einiger Völker zwischen dem schwarzen und caspischen Meere“, I. II. Leipzig 1852. 1847 und 1848 war August v. H. Mitglied des vereinigten Landtags und eine Zeit lang Mitglied der ersten preußischen Kammer. Mit dem Tod Friedrich Wilhelms IV. verlor die Arbeit von Haxthausen seine ständepolitische Grundlage. Danach beschäftigte er sich fast nur noch mit kirchlichen Fragen und dem Ziel, die griechisch-orthodoxe und römisch-katholische Kirche zu vereinen und den Malteserorden zu regenerieren, vgl. ADB, Band 11, Leipzig 1880, S. 119-121. 180 Als Zeichen der „Kraft“ und „Gleichheit“ von an „Muth, Kraft und Beharrlichkeit wetteifernden Mitgliedern [...], welche fest, wie die Ringe einer Kette zusammen halten, und weder Anfang noch Ende zeigen, an dem sie getrennt und von einander entfertn werden könntenl.“ Vgl. § 23 des „Plans zu einem allgemeinen Adelsverein, Klüber, Acten, Bd. 6, S. 460. 181 Inklusive der Schweiz, „Burgunds“ und „Preußens“ (d.i. Ost- und Westpreußen), vgl. §§ 12, 13, des „Plans zu einem allgemeinen Adelsverein“, Klüber, Acten, Bd. 6, S. 460 und „Nachschrift“, ebd. S. 461.



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Vereinigung vor allem um den hohen und alten Reichsadel. Die auf dem Kongress endgültig enttäuschten Mediatisierten und der Reichsadel, die ihre verlorene politische Stellung nicht mehr restaurieren konnten, trugen entscheidend zu dem spontanen Erfolg der Kettengründung bei.182 Während des Kongresses kam es zwischen Januar bis April 1815 zu 30 ordentlichen und sonstigen Zusammenkünften, bei denen neben einem ausgesprochen strengen Aufnahmeverfahren vor allem außervereinliche Themen diskutiert wurden.183 Darin kann schon ein Vorzeichen des baldigen Zerfalls des Adelsvereins gesehen werden, der nach dem Auseinandertreten des Kongresses zu keiner ordentlichen Vereinssitzung mehr zusammenfand.184 Die spätere freimütige Begründung des ehemaligen Vereinsvorsitzenden Carl v. Baden, er habe die „Kette“ nie für etwas anderes als „angenehme Unterhaltung“ gehalten, verbitterte Laßberg ganz besonders.185 Dieses Eingeständnis völlig anders gearteter Erwartungen an die

182 Zu Laßbergs Absicht, Mediatisierten und Reichsadel mit der „Kette“ eine Plattform neuer Einflussmöglichkeiten zu schaffen siehe Bader, Laßberg, S. 33. So zählten zu den Gründungsmitgliedern Prinz Ernst zu Hessen-Philippsthal, ein Fürst und ein Prinz zu Wied, der Mainzer Domdechant v. Wambold, der Graf Joseph Clemens v. Westphalen, Graf Heinrich v. Stolberg-Wernigerode, Graf v. Poninsky, die Freiherrn Carl v. Baden, Carl v. Baumbach, Friedrich v. Brenken zu Espernburg, Werner v. Haxthausen-Abbenburg, Isaac v. Sinclair, sowie die Herren v. Horstein, v. Rudel und v. Zobel. Später traten noch während des Kongresses bei der Landgraf Friedrich Wilhelm v. Hessen, Fürst Herman v. Hohenzollern, Fürst Carl v. Löwenstein-Wertheim, Herzog Josef Arnold v. Looz-Corswarem, die k.u.k. Generäle Graf Bentheim und v. Degenfeld-Schonburg, die Grafen v. Holk, v. Bentinck, v. Bethusy, sowie Graf Friedrich Ludwig v. Solms-Laubach (als einer der prominentesten Figuren des Kongresses), die Herren von Hornstein, v. Heidemann, Ludwig August v. Baumbach, v. Aspremont, v. Hardegg, Rüdt v. Collenberg, v. Türckheim, und v. Moltke. Diese „reichische“ geistige Herkunft und Struktur des Adelsvereins schlug sich auch in dessen vorgeschlagener Organisationsstruktur nieder: so sollte der Verein nach „Kreisen“, und diese wieder nach „Gauen“ gegliedert werden, die sich jeweils in ihren Grenzen wie in ihren Bezeichnungen an der Kreiseinteilung des Alten Reiches orientierten, vgl. Conrad, Kette, S. 59. 183 Ein Kandidat musste ohne eigenes Wissen durch Mitglieder auf einer Gauversammlung vorgeschlagen werden. Diese musste die Würdigkeit des Kandidaten durch Einholen von Informationen prüfen und dann den Kandidaten dem Kreisvorsteher melden. Erst nachdem dieser wiederum alle Gauvorsteher seines Kreises und den Vereinsvorsteher unterrichtet hatte, wurde durch eine Ballotage der Kreisversammlung über die Aufnahme des Kandidaten entschieden. Doch erst nach Verlauf einer dreimonatigen Reklamationsfrist konnte die Neuaufnahme durch den Vereinsvorsitzenden bestätigt werden. Vgl. den§ 20 des „Plans zu einem allgemeinen Adelsverein, in: Klüber, Acten, Bd. 6, S. 458f. Siehe auch Conrad, Kette, S. 55-62. 184 Die letzte Versammlung auf dem Wiener Kongress fand am 29. April 1815 statt, die geplante nächste Versammlung für 1816 in Frankfurt a.M. kam schon nicht mehr zustande. 185 In einer Rückschau nach 1848 wollte Laßberg schon in diesem Fehlschlag die Vergeblichkeit einer adligen „Wiedergeburt“ erkannt haben: „Da ich im Jahre 1815 die Adelsgesellschaft der Kette in Wien stiftete, da hatte ich andere und freudigere Hoffnungen; allein 1816 auf der Frankfurter Ostermesse zeigte es sich, daß dieser Verein keine perennierende, sondern eine planta annua war. Seitdem habe ich den deutschen Adel aufgegeben: il est pourri et la pourriture le mangera!“ Vgl. Binder, Adelsgesellschaft, S. 191.

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„Kette“ unterstreicht einmal mehr die Kluft zwischen den aus der napoleonischen „Flurbereinigung“ der ehemaligen Reichsterritorien „siegreich“ hervorgegangenen Fürstendynastien, und den verzweifelt um Standessicherung kämpfenden „mediatisierten“ und reichsadligen Geschlechter!186 Es wäre deshalb eine Verkürzung, den Grund für den überraschend schnellen Zerfall des Adelsvereins in vorgeblich „unrealistischen“ und einseitig rückwärtsgewandten Zielen und Aufgaben suchen zu wollen, wie sie während der Vereinssitzungen lebhaft diskutiert wurden.187 Laßberg schwebte vor allem eine lexikalische und genealogische Erfassung des gesamten Adels vor, und auch andere Mitgliedern forderten die Einrichtung eines Marschallamtes und eines Weistumsamtes für die archivarisch-historischen Belange des Vereins.188 Neben solchen Vorschlägen mehr selbstbeschäftigender Vereinsaktivitäten nahmen sich Haxthausens Ideen geradezu revolutionär aus:189 in der Vereinsversammlung vom 15. Februar 1815 schlug er turnierähnliche Wettkämpfe vor, die zu festgesetzten Festtagen stattfinden sollten. In sportlicher Konkurrenz sollten vor allem historische Waffen und Ausrüstungen (Hellebarden, Armbrust, Schwerter und Lanzen) zum Einsatz kommen und die Kombattanten durch farbige Wappen unterschieden werden. Doch in Gegensatz zum „reinen“ Mittelalter wollte Haxthausen bei diesen manöverähnlichen Turnierveranstaltungen auch Bürgerliche und selbst die Bauern integrieren: die Ritter als Vereinsmitglieder hätten dazu aus eigens angelegten „Rüstkammern“ ihre Bauern auszustatten (ein Gedanke, der an Fouqués Idee der Waffenausstattungen und -übungen des Landvolks durch „seinen“ Adel von 1808 erinnert), die örtlichen Schützengesellschaften wären ebenfalls in die Durchführungen einzubeziehen. Haxthausen schwebte offensichtlich ein „mannschaftsartiges“ Auftreten der Wettkämpfer, gegliedert nach Herkunft und Regionen vor.190 Doch solche Zielsetzungen überforderten die zeitgenössischen Stan-

186 Gaier u. Weidhase. Laßberg, S. 97. 187 So die Einschätzung von Conrad, Kette, S. 21. 188 Wenn auch nicht im Rahmen des Adelsvereins, so fanden diese Anregungen zu historisch-philologischen Bemühungen doch auf privater Ebene eine zahlreiche Umsetzung, indem sich viele Adelsfamilien um die Erforschung der regionalen Kultur und deutschen Geschichte verdient machten, wie sie sich in privaten Sammeltätigkeiten, Museumstiftungen und der musikalischen Förderung niederschlugen. Neben Laßberg und Stein sind dafür mehrere Beispiele aus dem westfälischen Raum zu nennen, vgl. Horst Conrad auf, vgl. Ders., Kette, S. 32f. 189 Ein weiterer, durchaus zukunftsträchtiger Vorschlag aus den Reihen des Adelsvereins betraf die Gründung einer vereinseigenen Erziehungsanstalt, für die ein Rittergut, möglichst eine repräsentative Burg, erworben werden sollte. Vgl. Conrad, Kette, S. 25. Dieser Gedanke fand schließlich im westfälisch-katholischen Adel seine musterhafte Umsetzung, als wesentlich auf Initiative MirbachHarffs 1842 die Ritterakademie Bedburg gegründet wurde. In Brandenburg wurde diese Idee mit der Wiederbelebung der Ritterakademie Brandenburg in „gemäßigterer“, weniger adelsexklusiver Weise durchgeführt, wobei Adolf v. Rochow eine wichtige Rolle zukam, vgl. oben Teil I. Kap. 2.4.3. 190 Bevor ein solcher Vorschlag als vollkommene „Phantasterei“ abgetan wird, sollte bedacht werden, dass die immer noch aktuellen pseudo-hellenisch-antik inspirierten olympischen Spiele der



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desgenossen in ihrer Vorstellungskraft über standesgemäße Leistungsmöglichkeiten zur Integration einer neuen Gesellschaft. Laßberg gelang es zwar noch, im April 1816 die einzige „Gauversammlung“ dieses Vereins für den Hegau zu organisieren, und lud noch einmal zu einer allgemeinen Versammlung zum 18. April 1816 nach Frankfurt a. M. Diese fand mit einwöchiger Verspätung am 24. April 1816 dann auch statt, scheiterte aber an der zu geringen Teilnehmerzahl: neben Laßberg erschienen nur ein v. Westphalen, v. Degenfeld, v. Reischach, v. Hornstein und v. Wambold. Und schon am 5. April 1816 hatte Carl v. Baden seinen Rücktritt als Vereinspräsident erklärt.191 Dieser Fehlschlag des Adelsvereins aufgrund der offenkundig zu heterogenen Interessenlagerungen zwischen den Dynastengeschlechtern und dem herrschaftsständisch deklassierten, unsicher gewordenen mediatisierten Reichs- und Kleinadel beendete aber keineswegs die Faszination, die von diesem Projekt auf die deutsche Adelsgesellschaft ausstrahlte. Die vielfältigen in den Jahrzehnten bis 1848 vorgeschlagenen und in einzelnen Teilregionen sogar verwirklichten Adelsreorganisationen nahmen in ihren Programmen und Organisationsformen regelmäßig Bezug auf die Wiener „Kette“ und variierten die schon damals diskutierten Maßnahmen. Aber bis zu den Bemühungen der „Adelszeitung“ von 1840 sollte es keinen Versuch mehr geben, eine solche Reorganisation für den gesamten Adel des Deutschen Bundes zu wagen. Der Impetus hierzu erfolgte schließlich nicht mehr aus dem Kreis des hohen und mediatisierten Adels, sondern aus dem Kleinadel.192 Bis 1840 sollten initiierte und verwirklichte Adelsorganisationen ausschließlich auf regionaler Ebene auftreten. Wohl nicht zufällig unternahm die „Zeitung für den deutschen Adel“ (wie unter Kap. 4.1.5. geschildert) erst unter dem Eindruck der adelspolitischen Initiativen Friedrich Wilhelms v. Preußen um 1840 einen neuen Anlauf zu einer überregionalen Standesreorganisation. Zum selben Zeitpunkt intensivierte sich die bürgerliche Auseinandersetzung mit den adligen Reorganisationsversuchen. Im Folgenden sollen drei in der Forschung bisher wenig bekannte Initiativen zu einer Adelsorganisation aus dem Raum der preußischen Monarchie skizziert werden: eine

Neuzeit ebenfalls nicht zuletzt mit dem Ziel der erneuerten Integration einer erschütterten, sich wandelnden Gesellschaft entwickelt wurden! Die olympischen Spiele der Neuzeit wurden wohl nicht zufällig ebenfalls von einem Adligen, Pierre de Frédy, Baron de Coubertin (1863-1937) in Reaktion auf den durch Frankreich verlorenen Krieg von 1870/71 und der daraus resulterienden tiefen Identitätskrise einer ganzen Nation 1896 neu gestiftet. Vgl. dagegen Horst Conrad, der die Turnierideen Haxthausens als Beleg für die „illusionären“ Ziele und „träumerische Utopien“ des Adelsvereins bewertet: Ders., Kette, S. 55-62. 191 Vgl. Conrad, Kette, S. 27f. 192 Die langjährigen Diskussionen innerhalb des hohen und mediatisierten Adels im Deutschen Bund um eine eigene Organisation der „Standesherren“ soll hier nicht weiter berücksichtigt werden – die Studie von Heinz Gollwitzer über die „Standesherren“ bietet darüber genügend Aufschlüsse, auch für die Gründe ihres Scheiterns.

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aus Ostpreußen und zwei aus Schlesien. Die ostpreußische von 1826 stand noch ganz unter dem Eindruck des gescheiterten Projekts der „Kette“. Die schlesischen um 1840 riefen eine starke Resonanz in der zeitgenössischen liberalen und konservativen Publikation im frühen Vormärz hervor und stellen ein Beispiel des adelsorganisatorisch in den 1830er Jahren wohl recht rührigen schlesischen Adels dar. Vor dem Hintergrund dieser Beispiele soll anschließend die Initiative zur Gründung eines Adelsvereins durch die „Adelszeitung“ einer eingehenderen Würdigung unterzogen werden.

4.2.2.

Der Vorschlag einer Adelskette in der Provinz Preußen von 1826

Bis ins ferne, den Adelsverhältnissen des Alten Reiches denkbar fremde Ostpreußen strahlte die Faszination des „Kettenprojektes“ aus. Am 11. April 1826 übersandte der Königsberger Justizkommissar (und spätere Justizkommissionsrat) Dr. jur. Wilhelm Tortilowicz v. Batocki, Rittergutsbesitzer auf Pokarben und Bledau, einen Vorschlag zur Bildung eines Adelsvereins an Innenminister Graf Alexander v. Dohna-Schlobitten.193 In seinem Anschreiben verwies er auf schon während des landschaftlichen Landtages Anfang März gemachte mündliche Andeutungen über diesen Gegenstand. Sein „Erneuerter Vorschlag einer Adelskette“ nahm schon in seinem Titel direkten Bezug auf das kurzlebige Projekt einer „Adelskette“ während des Wiener Kongresses. Batocki bezeichnete in seinem Brief den Oberstleutnant und Chef des Generalstabes in Königsberg v. Auer als denjenigen, der in ihm einen „höheren Sinn“ als dem „größten Gut eines Edelsmanns“ geweckt hätte. Dem v. Auer, einem „leuchtenden Stern am Horizont des preußischen Adels“, habe er zuerst seinen Vorschlag unterbreitet, und mit ihm weiter ausgearbeitet.194 Die Ankunft des preußischen Gesandten am sardinischen Hofe, des Grafen v. Waldburg-Truchseß in der Provinz Preußen im Dezember des vorigen Jahres sei dazu verwandt worden, diesen Plan einer „Adelskette“ zu dritt erneut zu diskutieren und in die nun vorliegende Form umzuarbeiten.195 Waldburg-

193 Dieser Vorgang ist fast vollständig abgedruckt in: Theodor v. Schön, Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor v. Schön, Vierter Band, Berlin 1876, S. 420-467. Die Originale befinden sich in GSTAPK Rep. 300 Dep. Brünneck I Nr. 26, Bl. 3 ff. Jedoch fehlen die zwei editierten Entwürfe zum Vorschlag einer Adelskette vollständig! Sie wurden offensichtlich für die Publikation aus den Akten herausgenommen. 194 Es handelt sich wohl um den preußischen Generalmajor Ludwig Kasimir v. Auer (1788-1837). Auer machte sich um die Wiederherstellung der Marienburg verdient, indem er mit seiner Schrift „Kriegsgeschichtliche Denkwürdigkeiten des Ordens-Haupthauses und der Stadt Marienburg in Westpreußen“ (1824) dafür warb, und durch eine Sammlung in Offizierskreisen erste Mittel dazu beschaffte, vgl. NDB, Bd. 1, S. 431f. 195 Graf Ferdinand Ludwig Truchseß v. Waldburg, Botschafter in Turin, gehörte einer der historischen 12 großen „Dynastengeschlcchter“ Ostpreußens an, vgl. zur Familie und ihrer Bedeutung im 17. und 18. Jahrhundert Wolfgang Neugebauer, Wandel, S. 43, 70, 82f.



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Truchseß habe den Plan nach Berlin gebracht, und dort verschiedenen „hohen Personen“ übergeben, die Batocki aber schriftlich nicht nennen wollte. Nun sollten zur Unterstützung dieses Plans 20 bis 30 Unterschriften von „Edelleuten unserer Provinz“ eingeholt werden, um die Genehmigung durch den König zu erbitten. Die Auswahl wünschbarer Unterschriften solle sich eher an der „Würde der Familie“ denn an der Bekleidung eines hohen Amtes orientieren. Ihm selbst aber fehlten die Ahnen, die als Bedingung für die Aufnahme in die Adelskette gefordert würden, daher ende seine Tätigkeit in dieser Sache sobald die „Kette“ ins Leben getreten sei.196 Der genannte v. Auer wandte sich seinerseits am 13. Juli an den Oberpräsidenten Theodor v. Schön, und übersandte ihm den Entwurf dieses „Vorschlags einer Adelskette“, sowie eine Beilage zu demselben, die beide Ende Juni 1826 fertiggestellt worden seien.197 Laut seinem Schreiben hatte Auer wohl schon mündlich mit Schön über dieses Vorhaben gesprochen, und übersandte nach eigenem Bedauern ein „durch Abänderungen und Correcturen entstelltes Exemplar“ der Entwürfe. Auer hielt die Idee einer „Adelskette“ noch für „sehr unreif“, dennoch habe er nicht „umhin gekonnt“ sich „dafür zu interessieren, daß diese Angelegenheit zur Sprache komme, da unser Adel einer Reform bedürfe um als ein achtbares und würdiges Institut da zu stehen“. Seine Zweifel, ob man „von oben her geneigt sein würde, etwas Würksames für diese Angelegenheit zu thun“, habe das „unvollkommene“ und „ungenügende“ Projekt einer „Adelskette“ entstehen lassen. Auer setzte seine Hoffnung aber eigentlich auf eine staatliche Initiative zur Förderung des Adels, die er sich bezeichnenderweise vor allem als Defensivmaßnahme vorstellte: ein solches Vorhaben wäre überflüssig, wenn der Staat selbst den Adel „von unwürdigen und unpassenden Mitgliedern reinigte“. Der Inhalt dieses ostpreußischen „Kettenvorschlags“ bestand aus zwei Teilen: einer umfangreichen Einführung und Begründung und einer „Beilage“ mit einem

196 Wilhelm Tortilowicz (teils auch „Tortilovitz“ geschrieben) v. Batocki auf Pokarben und Bledau (1779-1862) hatte diesen einst angeblich „abgelegten“ Familiennamen mit königlicher Genehmigung vom 9.6.1821 „wieder angenommen“. Dieses Geschlecht stammte ursprünglich aus Litauen, und geht auf den katholischen Priester und späteren protestantischen Pfarrer in Insterburg, Johann Tortilowitz (+ 1558) zurück, dessen Nachkommen sich Tortilovius nannten. Zur ungewöhnlich verwickelten Geschichte der Aufsteigerfamilie Tortilowitz v. Batocki gehörte, dass der Sohn des oben genannten Einsenders, Wilhelm Adolf, den Namen Gerth (nach seinem Pflegevater) trug, und der Enkel Karl Otto Friedrich (Fideikommissherr auf Bledau) ab 1853 unter dem Namen „Friebe-Gerth“ (Friebe der Mädchenname seiner Frau) erneut geadelt wurde, um endlich ab 1857 mit königlicher Erlaubnis den Namen seines Großvaters als Tortilowitz v. Batocki-Friebe wieder aufzunehmen, vgl. Genealogisches Handbuch des Adels, Adelige Häuser B Band XVIII, Seite 484, Band 95 der Gesamtreihe, Limburg (Lahn) 1989, S. 484. Ein Ur-Enkel des Rittergutsbesitzers und Justizkommissars Dr. jur. v. Batocki war Adolf Max Johannes Otto v. Batocki-Friebe, Oberpräsident von Ostpreußen in der Zeit des ersten Weltkrieges und Mitglied des preußischen Herrenhauses. Vgl. NDB, Berlin 1953, S. 627. 197 Dieses Schreiben ist das einzige nicht in der Edition berücksichtigte, vgl. GSTAPK Rep. 300 Dep. Brünneck I Nr. 26, Bl. 11.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

ausführlichen Regelwerk für diesen Verein.198 Der Misserfolg des Vorbildes, der „Wiener Kette“, wurde damit begründet, dass diese nicht 400 Jahre zu spät gekommen sei, wie Kritiker hämisch bemerkt hätten, sondern „ein Jahrzehnt zu früh“, als das Monster der Revolution gerade erst niedergerungen war, und „die Kraft der am Boden kriechenden Revolutions-Pflanze“ unterschätzt wurde.199 In ihrer Begründung und historischen Legitimation des Adelswesens blieben die Verfasser noch ganz der adelsapologetischen Tradition der Spätaufklärung verhaftet: der Adel sei nicht exklusiv berechtigt, sondern nur besonders berufen zu Ämtern, so dass die Möglichkeit zur Ernennung der Fähigsten gewährt bleibe; aber es gebe die „Geburt ein Merkzeichen mehr zur Entscheidung über die Vorzüge der Bewerber“: denn Geburt verwiese auch auf die Erziehung, und Geburt und Erziehung begründeten gemeinsam die „Gesinnung“. Deshalb schrieben die Verfasser auch der Ahnenprobe eine Bedeutung zu, die sie z. T. biologisch („angeborene Gesinnungen, die so wie Gesichtszüge einzelnen Familien eigen sind“), und teilweise sozial begründeten (Einfluss der Verwandtschaft). Die Aufgabe des Adels sei es, den Thron zu „schirmen“, und ansonsten der Kriegsdienst; der Adel habe zwar keine besondere „Neigung zum Kriege“, aber doch die für die Landesverteidigung notwendige „Bereitwilligkeit“. Hier habe sich der Adel auch zivilisatorisch bewährt: denn „stehende Heere“, von adligen Offizieren geführt, hätten nicht minder tapfer, aber mit mehr „Menschenwürde“ gekämpft, als die „Kriegsscharen der französischen Gleichheit“.200 Zudem käme dem Adel die Aufgabe zu, durch seinen in Grundbesitz gegründeten Wohlstand, die „Herrschaft des Geldes“ zu mildern, die Bedeutung seines eigenen Wohlstands durch entgegenstehende Sozialwerte zu relativieren, dem „Geldstolz“ des Emporkömmlings seine durch Herkommen und Königsnähe gestützte Gesinnung entgegenzustellen. Entsprechend sei der Besitz von Gütern keine notwendige

198 Schön, Aus den Papieren, Vierter Band, Berlin 1876, S. 423-456. Die Adelskette sollte insgesamt 9 „Ämter“ umfassen, u.a. vom leitenden „Meister-Amt“, über ein „Prüfungs-Amt“ (Aufnahme neuer Mitglieder), dem „Kassen- und dem Schreibe-Amt“, ein eigenes „Herolds-Amt“, ein „Lese-Amt“ (zur Bildung einer Bibliothek sowie der Korrespondenz von adelsrelevanten Publikationen), einem „Bildungs“- (zur Beförderung adliger Standesbildung in der Jugend) und einem „Unterstützungs-Amt“ (nicht als Wohltätigkeitsorganisation, sondern zur Bildung eigenständiger Versorgungsinstitute), bis zu einem Amt zur Koordination der Erwerbung und Verwaltung von Grundeigentum durch Mitglieder. 199 Dieser Passus des „zu-spät-kommens“ legt nahe, dass Batocki über den Plan der „Adelskette“ aus Klübers aktenmäßiger Dokumentation des Wiener Kongresses genauestens informiert war: denn diese Kritik am Vorhaben der „Kette“ wurde darin im letzten Satz einer „Nachschrift“ (wohl von Klüber selbst) geäußert: „So war denn vorauszusehen, daß diese Wiener Congreß Frucht, welche vier Jahrhunderte zu spät kam, zur Reife nicht gedeihen werde!“ Vgl. Klüber, Acten, Bd. 6, S. 452-462, S. 462. 200 Vgl. die Bemerkungen von Perthes zur generellen Beobachtung einer Brutalisierung des französischen Militärs in Folge seiner revolutionär bedingten inneren Umwälzung und seinem radikalisierten militärischen „Effizienzbegriff“, der kaum noch zwischen feindlichem Militär und Zivilbevölkerung unterschied, oben Teil I. Kap. 2.4.3. in: Motte Fouqué, Rittersinn, S. 87ff.



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Voraussetzung für den Adel – im Gegenteil: dessen Rittersinn würde sich um so „freier erheben, je weniger er vom Vermögen abhängig sei“! Trotzdem müsse ein Teil des Adels natürlich über Vermögen verfügen, damit der Stand in seiner Gesamtheit gesellschaftlich wirken könne. Die Adelsverleihung habe außerdem ihren Sinn als Auszeichnung für Verdienste, was aber konterkariert würde, sobald er zu oft verliehen würde; ihren Wert würde die Nobilitierung völlig verlieren, wenn allein der Reichtum seinem „christlichen oder jüdischen Besitzer“ den Adelsstand verschaffe. An institutionellen Adelsstützungsmaßnahmen sah der Plan die Einrichtung eines Heroldsamtes und einer Adelsmatrikel vor, mit dem erklärten Ziel, die „fortlaufende Vermischung“ des Adels mit den anderen Ständen „zu hemmen“, wie auch eine Einschränkung der „Erwerbsart“ eine „kräftigere Scheidung des Adels von anderen Ständen“ bewirken sollte. Handel und Gewerbe seien immerhin zulässig, solange der Adlige mehr als Unternehmer und Firmenleiter („Handel und Fabriken“) auftrete (ohne zuvor in einem abhängigen Lehr- und Gehilfenstatus gewesen zu sein). Die Relativierung des Grundbesitzkriteriums, die generelle Kritik an der wirtschaftlichen Dynamisierung und Geldwirtschaft, die in diesem Programm zum Ausdruck kam, verwundert besonders bei dem Hauptinitiator und Mitautor v. Batocki, der eben selbst wohl nicht zuletzt aufgrund einer erfolgreichen Güterakkumulation nach 1807 in die Lage versetzt worden war, sich seinen „angestammten“ Adel „erneuern“ zu lassen.201 Dohnas Kritik: die Idee als Adelskette konterkariert den Adel als Teil der politischen Repräsentanten Aufschlussreich ist nun die entrüstete Zurückweisung dieses ostpreußischen Kettenvorschlags durch den altadligen Innenminister v. Dohna, deren Motivation wohl als repräsentativ für die politisch entscheidende Faktion des gutsbesitzenden ostpreußischen Adels gelten kann. Vehement verteidigte er die wirtschaftliche Liberalisierung des Gütermarktes, die er ja schon 1810 ausdrücklich begrüßte. In seinem Antwortschreiben an den Oberpräsidenten der Provinz Preußen, Theodor v. Schön, vom 25. April 1826 machte Dohna seinem Unmut gegenüber dem Kettenplan jedoch noch aus einem anderen Grunde Luft. An sich sei die Sache, die sehr rein und brav und gutmüthig gemeint wird, – unschädlich, und um so unschädlicher, da dieselbe wegen ihrer Ohnmacht sofort beim Eintritt in die Welt todt in sich zusammenstürzen muß, wegen der darin jedoch versteckten verkehrten Grundrichtungen könnte selbige aber dennoch, [...], Confusion und Mißverständnisse erregen, und die gute Sache des Adels compromittiren.202

201 Das Gut Bledau ging offenbar erst nach 1807 durch eine Zwangsversteigerung aus der Familie Korff in den Besitz der Batocki über, vgl. Neugebauer, Wandel, S. 182. 202 Schön, Aus den Papieren, S. 456f.

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Seinen Hauptvorbehalt gegen den Kettenvorschlag motivierte Dohna denn tatsächlich aus dessen Tendenz, den Adel vornehmlich als Instrument der Krone gegenüber der Gesamtgesellschaft organisieren und aufstellen zu wollen – denn dadurch würde der Adel als eigenständige politische Korporation, wie sie seit Montesquieus Formulierung als „Mittler zwischen Thron und Volk“ geläufig definiert wurde, desavouiert und in eine einseitige Verteidigungsstellung gezwungen! In einem bemerkenswerten Ausfall bezeichnete Dohna diese Pläne als Versuch, den Adel nach einem „orientalischen“ Modell als Garantiemacht einer „Einherrschaft“ zu positionieren – dies aber seien „muselmännische Träumereien“! „Der halbe Mond“ werde bald „auf unserem Festlande“ herrschen – Goethe hätte mit seinem west-östlichen Divan diesen Ideen die Bahn gebrochen, die nun gerade in Wien ihre Verehrer „des Großtürken“ fänden (dies in Bezug auf die originale Wiener Kettengründung!), die „umnebelt von Weihrauch und Opiumdünsten“ durchs Leben taumelten. So werde nun alles nach „muselmännischem Geist“ umgedeutet, und ebenso „unser Adelswesen in ein Janitscharenwesen“! Tendenziell würde dieser Plan den Adel dem jeweiligen Landesherrn unterstellen: „Der eigene Landesherr ist jedem Edelmann das zu bewahrende Kleinod“ hätten die Verfasser geschrieben. Damit würde der Adel als eigenes „konstitutionelles“ Element im Staat vernichtet – dagegen seien selbst „die Janitscharen noch zu constitutionell und selbständig“! Doch „honnette und anständig mäßige Geschäftsmänner“ würden es in den Wiener Zeitungen noch dahin bringen, „die Spitze des Systems, die Eunuchen, mit gelähmter Zunge, als die ersprießlichste und ehrenwerteste Corporation zu empfehlen“. Mit anderen Worten: durch einen solchen Adelsverein sah Dohna sofort und instinktiv die gerade in Ostpreußen immer noch lebendigen Hoffnungen bedroht, eine effektive Repräsentantenschicht aus adlig-bürgerlichen Gutsbesitzern selbst nach der ergangenen Provinzialständeordnung bilden und etablieren zu können. In seiner parallelen brieflichen Antwort an Batocki schlug Dohna zwar einen verbindlicheren Tone an: zwar stimme er mit dem Petenten überein, dass „in Beziehung auf die Verhältnisse des Adels sich eine Lücke in unserer Gesetzgebung befindet, und daß es wünschenswerth wäre, wenn dieselbe auf eine würde Weise ausgefüllt würde“. Verantwortlich dafür sei Napoleon, der die im Oktober 1807 so glücklich begonnene Reformpolitik durch seine Intervention (Entlassung Steins, G.  H.) „gestört, und dadurch der Menschheit und unserer Monarchie eine der tiefsten Wunden versetzt hätte“. Dohna sprach sich in Übereinstimmung mit Batocki für die Einführung eines Heroldsamtes und einer Matrikel aus, um so mehr, als er selbst „vor beinahe fast 17 Jahre dieserhalb Anträge gemacht, und meine Meinung in diesem Punkte während dieses bedeutenden Zeitraumes keineswegs geändert, sondern vielmehr nur noch mehr befestigt habe“.203 Das Oktoberedikt sei ganz unschuldig an der derzeitigen Lage des Adels, alles was darin ermöglicht und erfordert wurde sei damals „als christlich und dem Lande heilsam“ dem König angetragen worden, und entsprach „Weisheit,

203 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.3.4.



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Gerechtigkeit“ und den „Zeitumständen“. Ein Adelsgesetz sei fest geplant gewesen, und deshalb habe das Oktoberedikt in Fragen der Gewerbefreiheit u. a. sich nicht bestimmt ausdrücken müssen, um so weniger, als das Edikt den Theil II, Titel 9, § 82, der dem Adel unehrenhafte Beschäftigungen untersagte, aufgehoben habe.204 Hätte man das „Glück“, über eine „vortrefflich eingerichtete Staatsanwaltschaft“ wie die französische, oder Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Verwaltung wie in der Rheinprovinz zu verfügen, wäre solchen Auswüchsen besser zu steuern. „Gottlob“ gehörten aber die „mehrsten dieser unwürdigen Subjekte“ der „vewerflichsten Abart des Adels – nämlich dem Wiener – an“. Für solche Fälle plädierte Dohan auf sofortigen Adelsverlust. In Fällen eine „ehrbare jedoch illiberale“ Beschäftigung werde gewählt, die auch nicht mehr zum höheren Bürgerstande gezählt werden könne, solle der Adel ruhen.205 Entgegen der Stoßrichtung in Batockis Vorschlägen verteidigte Dohna vehement die den Gütern zustehenden Jurisdiktions- und Patronatsrechte, die zum „höchsten“ zählten, was der Landesherr verleihen, und zum „köstlichsten“ was ein Edelmann besitzen könne.206 Weiter unterstrich Dohna mit Bezug auf eine nur anonym zitierte Druckschrift, die im Vorjahre erschienen war, die Wichtigkeit einer Gesellschaftsklasse im Staat, die sich nicht mit dem Gelderwerbe berufsmäßig beschäftige, sondern sich vorzugweise Arbeiten widme, die sich auf den Staat und das Gemeinwesen unmittelbar beziehen – diese „Klasse selbständiger Eigentümer“, sollten durch „Gewohnheit, Sitte und Erziehung“ dafür vorbereitet werden, für „das Edle, Kühne, das Gemüth Ansprechende“ alles zu wagen, ihre „Persönlichkeit auf’s Spiel zu setzen“.207 Deshalb lehnte es Dohna ausdrücklich ab, den Adel „als eine isolierte Kaste darzustellen, als die nächste Umschirmung des Throns, als dessen vorzügliche Stütze“! Gerade dies könnte für den Monarchen genauso gefährlich werden, wie fürs „allgemeine Beste“ und nicht zuletzt den Adel selbst! Der Thron bedürfe als der „zu dem heiligen Geräth“ gehörigen Dinge vielmehr einer „in der Geschichte, und in den unsichtbaren höchsten Dingen liegenden Grundlage, als daß ein Theil der Nation,

204 In Fußnoten seines Adelskettenvorschlages hatte Batocki eine Reihe zeitgenössischer skandalöser Fälle aufgelistet, in welchen sich Adlige (Maximiliane v. Grabowsky, allerdings geb. Kolter) als Seiltänzerinnen, oder in anderen als „unehrenwerten“ Berufen betätigten („Güter-Mäkler“ v. Freisleben – „häufig Baron genannt“), bzw. durch Höflichkeitsfloskeln und Wappenübernahmen „als Zierde“ durch Bürgerliche die adlige Symbolwelt inflationiert und entwertet wurden, vgl. Ebd., S. 425f, Anmk. d.h. Diese Beispiele hatte Dohna noch einmal extra in seinem Anschreiben an Batocki übertragen – sie hatten ihn wohl sehr beeindruckt, Ebenda, S. 425f. 205 Von dieser Sitte hätte man ehedem eine „sehr schöne Analogie in dem vornehmen Adel der Bretagne“ gehabt, Ebd., S. 462. Dieses Beispiel des bretonischen Adels wurde ja noch Jahrzehnte später in der „Adelszeitung“ bemüht, vgl. oben Kap. 4.1.5. 206 Der Auf- und Einsteiger Batocki zeigte dagegen die deutliche Bereitschaft, diese Standesrechte als erste Konzession an eine neuständische Stabilisierung daranzugeben. 207 Ebd., S. 463f.

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wäre es auch der in jeder Beziehung wahrhaft edelste, isoliert von den Übrigen, behaupten möchte, ihn so ganz vorzugsweise halten und stützen zu können“. Die Monarchie müsse für ihren Erhalt also über eine breitere soziale Grundlage verfügen, als dies der Adel allein bieten könnte – zugleich zeigten Dohnas Ausführungen gewisse Ähnlichkeiten zu den Steinschen Ideen: „Familiengeist“ sei ohne Zweifel notwendig, und dieser bedürfe auch der Majorate als dauerhaftem „Anhaltspunkt“, weswegen eine „Modification dieser Einrichtungen [...] wünschenswerth“ wäre. Auch hierin zeigte sich die Kontinuität der Dohnaschen Anschauungen seit 1810. Den Vorschlag, die Adelskette als Kreditierungsverein zu nutzen, lehnte Dohna rundweg als kaum in eigener Regie zu leisten ab: dies könne nur der Staat. Dohna empfahl statt eines Adelsvereins, der nur falsche Erwartungen enttäuschen müsse, für eine Modifikation der Adelsverhältnisse „den Anfang mit dem Anfange“ machen, und das heiße: den guten Rat aufzugreifen, den Justus Möser „vor nun fast fünfzig Jahren dem deutschen Adel gab“! Mit dieser Reaktion Dohnas hatte sich das Projekt einer „Adelskette“ unter dem provinzial-preußischen Adel offensichtlich erledigt. Nicht jedoch für Batocki, der noch 1835 anlässlich der Verhandlungen über die Gesetzesrevision des ostpreußischen Provinzialrechts einen erneuten Antrag stellte, dass die Stände Ostpreußens für die Erhaltung, ja sogar für eine „Neubildung“ des Adels in dieser Provinz die Initiative ergreifen sollten.208 Denn gerade der Adel dieser Provinz sei so arm wie kaum irgendwo, und die Adelsvorrechte völlig zusammengeschmolzen: selbst der eximierte Gerichtsstand gehöre ihm nicht mehr exklusiv und der Adel sei nicht mehr was er einst war. Der Briefadel im Staatsdienst hingegen richte den eigentlichen Adel zu Grunde, denn die Beamtenschaft sei die natürliche Widersacherin des Adels. Schon das Beispiel Frankreich habe gezeigt, dass die wachsende Zahl des Briefadels für den Ansehensverlust des gesamten Standes hauptsächlich verantwortlich gewesen sei. Damit bemühte Batocki 1835 noch einmal das ganze Spektrum der adelsapologetischen Klage über die Korruption der stände-sozialen Verhältnisse, um dann doch etwas überraschend in die politische Forderung zu münden, dass der Adel als drittes Element im Staate zwischen Monarch und Volk zur Kontrolle der staatlichen Exekutive vonnöten sei. Die „Constitutionen“ nämlich hätten in dieser Kontrollfunktion versagt, da nicht so sehr die Gesetzgebung, als vielmehr die Exekutive die Rechte des Einzelnen verletzt hätten. Mit dieser Argumentation rückte Batocki in auffälliger Weise von seiner ursprünglichen Forderung nach Bildung einer „Adelskette“ als „Schirm“ des Monarchen ab.

208 Petition des Dr. v. Batocki, Justizkommissionsrat, Gutsbesitzer auf Bledau, Königsberg, 31. August 1835. Diese Denkschrift sollte zum X. Pensum der Verhandlungen zur Gesetzesrevision am 19. März 1836 vorgelegt werden, vgl. GSTAPK I. HA Rep. 84 II Tit. 4 X (Justizministerium betr. Revision der Gesetzgebung) Nr. 17 zu ALR 1826-1842 (unpaginiert).



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Diese bemerkenswerte Entwicklung in Batockis Anschauungen, sein erneuter Vorschlag zu einer Adelserneuerung ist wohl in Zusammenhang mit der bis 1835 aufgefächerten und intensivierten Publikationslandschaft zur Adelsfrage zu vermuten. In Argumentationsführung und Begriffswahl scheint Batockis neue Initiative durch die ein Jahr früher publizierten Adelsreformüberlegungen Hermann Graf Pücklers beeinflusst worden zu sein.209 Zudem ist neben einer ganzen Reihe ähnlicher Initiativen in verschiedenen deutschen Adelslandschaften in den 1830er Jahren der Vorstoß des westfälischen Adels zur Bildung einer „Genossenschaft des rheinisch ritterbürtigen Adels“ für Preußen besonders hervorzuheben.210 Außerhalb Preußens sind ähnliche Bestrebungen und erfolgreiche Vereinsgründungen der Ritterschaften aus Hessen (1835) und Franken (1837) bekannt, wobei letztere unter dem Endruck des rheinischen „Autonomiestatuts“ aktiv geworden war.211

4.2.3.

Zwei Adelsvereinsprogramme aus Schlesien

Nach der Totgeburt der ostpreußischen „Adelskette“, die nicht zuletzt aufgrund der dort auch innerhalb des gutsbesitzenden Adels noch bis in den Vormärz reichenden „liberalen“ Konsenses gescheitert sein dürfte, häuften sich andernorts adlige Sammlungsbewegungen also im dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Der „Brockhaus“ von 1838 machte hierfür die veränderte adlige Gesinnung verantwortlich, die seit 1815 gelernt habe, sich über die binnenständischen Grenzen hinweg als eine „große, durch ganz Europa verzweigte Familie“ zu empfinden, die ein gemeinsames Interesse auszeichne. Parallel dazu, so der „Brockhaus“, habe sich seither der Adel im gesellschaftlichen Verkehr stärker von bürgerlichen Gruppen entfernt, als dies zuvor

209 Vermutlich hatte Batocki seinen bemerkenswerten Perspektivenwechsel von einem streng-monarchisch orientierten Adelsmodell hin zu einer unabhängigeren Korporation gegenüber Monarch und dessen Verwaltung, neben den allgemeinen Einflüssen des in Ostpreußen noch starken Adelsliberalismus, vor allem unter dem Eindruck der Lektüre von Fürst Pücklers Ausführungen in „Tutti Frutti“ von 1834 vollzogen: die Kritik am Versagen der Konstitutionen, von der Bedrohung der „Rechte des Einzelnen“ (Freiheitsrechte) weniger durch Gesetzgebung und Judikative als durch die Exekutive, all das klingt in Argumentationsführung wie Wortwahl sehr ähnlich zu Pücklers Ausführungen (Schutz der Bürgerrechte, d.i. „Freiheit der Presse“ und der „Unverletzlichkeit der Person“ durch eine der Exekutive entgegenzustellende „Pairie“). Näheres zu Pücklers adelsreformerischen Konzepten vgl. unten Kap. 4.3.3. 210 Vgl. die Rolle Mirbachs in Zusammenhang mit dieser Genossenschaftsbildung, oben Teil I. Kap. 2.4.3. Eine königliche Kabinettsordre vom 16.1.1835 gab bestimmten, als „ritterbürtig“ definierten Familien das Recht, „autonom“, d.h. unabhängig von dem sonst geltenden „gleichen“ Erbrecht eigene testamentarische Bestimmungen festzusetzen. Ins Leben trat diese Körperschaft des „autonomen Adels“ schließlich kraft königlicher Verordnung am 21. Januar 1837 (königliches Statut ausgegeben 25. Mai 1837). 211 Drechsel, Entwürfe, S. 20-32.

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üblich gewesen sei.212 Die Erfolge der rheinisch-westfälischen Ritterschaft sowie die neuen adelspolitischen Ansätze des 1840 sukkzedierten preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. trafen jedenfalls auf einen veränderten Resonanzboden im ganzen preußischen Adel. Dies belegen die Reaktionen auf zwei Vorschläge zur Bildung von Adelsvereinen aus Schlesien, die um 1840 entstanden.

Das Programm einer „Adelsreunion“ Überregional bekannt wurde um 1840 die Anregung zur Bildung einer Adelsreunion, die angeblich aus dem schlesischen Adel hervorging. Obwohl das Programm dieser „Adelsreunion“ schon im Sommer 1840 in der „Adelszeitung“ abgedruckt wurde, machte es erst die Veröffentlichung in den „Sächsischen Vaterlandsblättern“ ein Jahr später einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.213 Kenntnis von diesem Programm hatte diese links-liberale Zeitung über den an der Breslauer Universität lehrenden adelskritisch-liberalen Dichter August Heinrich Hoffman v. Fallersleben erhalten.214

212 Der Artikel „Adel und Bürgerstand in der neusten Zeit“ des „Brockhaus“ war in seinem Grundton keineswegs „adelshasserisch“ gehalten, sondern zeigte im Gegenteil viel Verständnis für das adlige Interesse an eigener Organisation und besonderen Erbstrategien: „Daß nun der deutsche niedere Adel von dieser Bedeutung zu erhalten sucht, was möglich ist, liegt in der Natur der Sache, und das Bestreben kann ihm, so lange es nicht mit Ungerechtigkeit gegen Andere verbunden ist, nicht zum Vorwurf gereichen.“ Ganz entgegen der verbreiteten scharfen öffentlichen Polemik gegen die „autonomen Rheinländer“ bezeichnete dieser Beitrag ein solches adliges Sonderanliegen für die sonstige Gesellschaftsentwicklung als „harmlos“, solange nur keine Bevorzugung des Adels im Staatsdienst eintrete. Dieser Artikel spricht in Zusammenhang mit dem Freiherrn v. Stein auch explizit von der durch diesen beabsichtigten „Reform des Adels“, vgl. Conversations-Lexikon der Gegenwart. In vier Bänden. Erster Band, Brockhaus, Leipzig 1838, S. 50-55. 213 Vgl. zum Abdruck in der „Adelszeitung“ oben, Kap. 4.1.5. Wie dort schon bemerkt wurde das ganze Programm der „Adelsreunion“ mit einer redaktionellen Einführung und Kommentierung in zwei Teilen abgedruckt: „Die Adelsreunion“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 49, Mittwoch, 17. Juni 1840, S. 193-194; und Nr. 50, Sonnabend 20. Juni 1840, S. 197-198. Die „Sächsische Vaterlandsblätter“ veröffentlichten das Programm in den Nummern 167-169 vom 27. und 30 Nov.1841 sowie vom 2. Dezember 1841, S. 717f, S. 721ff, 725ff. 214 Die Nachricht von der Einsendung durch Fallersleben entstammt einem Agentenbericht für Metternich, vgl. Karl Glossy, Literarische Geheimberichte aus dem Vormärz (Jahrbuch der GrillparzerGesellschaft), Wien 1912, 1, S. 234f, zit. nach Obenaus, Anfänge, S. 601, Anmk. 31. Die „Sächsischen Vaterlandsblätter“ sammelten Spenden für politisch Verfolgte. Auch August Heinrich Hoffman von Fallersleben kam in den Genuss einer solchen Unterstützung. Fallersleben ist ein Beispiel dafür, wie die „Vaterlandsblätter“ Kontakte zur demokratischen Bewegung in Schlesien pflegten. Aus diesem Grund verbot die preußische Regierung 1845 die Zeitung, ein Schritt dem sich Bayern, Baden und schließlich auch Sachsen anschlossen, vgl. Peter Reichel, Robert Blum. Ein deutscher Revolutionär 1807-1848, Göttingen 2007, S. 49f. Fallersleben verfasste nach seiner politisch motivierten Dienstentlassung in seinem Schweizer Exil das Spottlied „Die Adelsreunion“. Darin nahm er vor allem die im Adelsreunionsprogramm gemachten Vorschläge zur adligen Heirat reicher bürgerlicher Erbinnen aufs Korn.



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Die „Vaterlandsblätter“, herausgegeben von dem berühmten Robert Blum in Leipzig, beabsichtigten augenscheinlich durch diese Veröffentlichung das Programm und den Adelsverein zu diskreditieren und damit wirkungslos zu machen.215 Das „Programm der Adelsreunion in Schlesien“ nahm eindeutig Bezug auf die adelserneuernden Ansätze Friedrich Wilhelms IV., als es in der Einleitung die Überzeugung aussprach, dass „Die Reunion glaubt aus mannichfachen Zeichen zu erkennen, daß der Staat in seinen höchsten Kreisen die Nothwendigkeit der Erstarkung des aristokratischen Princips begreift und hier bemüth ist, mit ruhiger Weisheit die Keime desselben zu sammeln und zu pflegen; diesem nicht die Hand zu bieten, hieße thörig den Weg zum Besseren verlängern und versperren.“216 Der Inhalt des Reunionprogramms Das Programm der „Adelreunion“ stellte sich außerordentlich umfassend und vielschichtig dar, und war dabei auffallend politischer und praktischer als z.B. das Wiener „Kettenprogramm“. Um der erwarteten öffentlichen Kritik entgegenzutreten,

215 Zwischen 1840 und 1845 erschienen die Sächsischen Vaterlandsblätter dreimal wöchentlich und wurden in der Anfangsphase durch Geldzuwendungen aus Blums Privatvermögen am Leben erhalten. Blum gründete die Vaterlandsblätter 1840, um sich gegen die frankreichfeindliche Stimmung zu wenden, die durch die französische Forderung nach der Rheingrenze aufgekommen war. Robert Blum wurde 1807 in Köln geboren. Er stammte aus unterprivilegierten, kleinbürgerlichen Verhältnissen, und hatte sich neben seinen Ausbildungen in verschiedenen Handwerken autodidaktisch weitergebildet. Seit den 1830er Jahren arbeitete er als Theatersekretär und ließ sich in dieser Funktion in Leipzig nieder. In den Jahren des Vormärz wurde er als Politiker der sich formierenden Linken in Sachsen bekannt, und gelangte als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung und Führer des linken Flügels zu nationaler Berühmtheit. Er trat als Verfechter eines republikanisch verfassten deutschen Nationalstaats auf. Im Oktober 1848 ging er nach Wien, um sich an der Verteidigung der Revolution gegen die kaiserlich-österreichischen Truppen zu beteiligen. Nach dem militärischen Niederwerfen des Aufstandes wurde er am 9. November 1848 in der Brigittenau bei Wien standrechtlich erschossen. Vgl. zu seiner Biographie: Reichel, Blum. Genaueres zu den Sächsischen Vaterlandsblättern ebenda, S. 47 u. 49f. 216 Allerdings hatte schon Rudolf Maria Bernhard Graf Stillfried von Rattonitz-Alcántara in der zweiten Auflage seiner eigenen anonymisierten Reaktion auf das „Reunionsprogramm“ vermutet, dass eine solche schlesische Adelsreunion vielleicht gar nicht existiere, „sondern dem schlesischen Adel blos angedichtet wird“ (!) Vgl. Anonymus, Vorschläge zu einer den alten und neuen Zwiespalt der Stände versöhnenden Reorganisation des Adels: Ein Beitrag zu den Beleuchtungen des Programms der Adelsreunion in Schlesien, Berlin 1842, S. Vf. Offen muss auch bleiben, warum Heinz Reif (vgl. Ders., Adelserneuerung, S. 212) die Entstehung dieses „Adelsreunionsprogramms“ auf 1836 datiert – weder der von ihm zitierte Ludwig Buhl, noch die knapp zusammenfassende Darstellung von Drechsel (vgl. Ders., Entwürfe, S. 33f), noch die von mir eingesehenen Quellen geben darauf einen Hinweis, vielmehr scheint der Zeitraum um 1840 am wahrscheinlichsten. Der Abdruck des Reunionsprogramms zusammen mit kommentierenden Bemerkungen in der „Zeitung für den deutschen Adel“ wenige Wochen nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. im Juni 1840 ist jedenfalls auffällig. Eigene Recherchen im adligen Brief- und sonstigen Nachlass schlesischer Adelsgeschlechter im Staatsarchiv Wroclaw/Breslau 1996 erbrachten keine Hinweise auf diese „Adelsreunion“.

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formulierten die Reunionsstatuten in ihrem ersten „Gesetz“ als Aufnahmebedingung neben Adelsstand und Mündigkeit „eine anerkannt tüchtige Gesinnung, die den Zweck der Reunion nicht in der Grabeserstehung des Junkerthums glaubt und sucht“. Das Reunionsprogramm liest sich in seinen verschiedenen Facetten wie eine Zusammenfassung der bis dahin im engeren Adelskreis und durch eine begrenzte Öffentlichkeit diskutierten Vorschläge. Überhaupt zeichnete sich seit den 1830er Jahren die Tendenz ab, die bis dahin unternommenen, so zahlreichen wie vielfältigen Adelsreformvorschläge einer vergleichenden Zusammenschau zu unterziehen, um auf dieser Grundlage ein Desiderat der überzeitlichen Gemeinsamkeiten als Handlungsgrundlage zu gewinnen. Zugleich ließ sich durch dieses Vorgehen ein argumentativer „Traditionsstrang“ destillieren, der adelsreformerischen Absichten eine „gewachsene“ Legitimation und Plausibilität zusprach.217 Einerseits griff der Adelsreunionsplan die Ideen auf, die schon während der Wiener Kettenversammlungen geäußert worden waren: die Sammlung des Adels um gemeinsame Tätigkeiten wie genealogische und familiäre Mitteilungen und Studien, die Beschäftigung mit Fragen der „Volks- Landesund Provinzialverfassung“ sowie den „Staatseinrichtungen“. Zudem rief es zur auf-

217 Ein Beispiel für dieses resümierende Verfahren bietet die anonym herausgegebene Druckschrift: „Einige Bemerkungen über den deutschen Adel“, Quedlinburg/Leipzig 1836. Das besondere an dieser Publikation ist, dass der Verfasser weniger eigene „originelle“ Ideen und Vorschläge einer Adelsreform zu generieren versuchte, sondern vielmehr die zahlreichen Argumente und Facetten der gesamten Adelsdebatte seit 1815 Revue passieren ließ: denn die „Constituierung des Adels“ bliebe eine offene Aufgabe! (Ebd., S. 61) Die „große“ Tradition der bis dahin stattgehabten „Adelsreformdebatte“ belegte der Verfasser unter Verweis auf so bekannte Namen wie Möser, Brandes und Rehberg, aber auch die diesbezüglich weniger bekannten Beiträge von Pufendorf, Struben, Scheidt, Schmidt, Pütter, Perthes, Arndt, Steffens, Rau, Hegel, Göschel, Leo und Stahl (Ebd., S. 8). Denn eine Adelskritik sei zwar im „breiten Volk und der Publizistik“, nicht aber jedoch unter den „größten Autoritäten der Literatur“ und des Staats- und Volkslebens verbreitet, den „wahrhaft Freisinnige[n], wohlwollende[n], besonnene[n] und unparteiische[n] Männer[n], die selbst nicht zum Erbadel gehören“ (Ebd., S. 24). Unter Bezug auf den Briefwechsel von de la Motte Fouqué und Perthes warnte der Autor davor, den Adel vorzeitig abzuschreiben, plädierte vielmehr für die Einrichtung einer Pairie, für die aber zugleich ein neugeordneter Kleinadel als „Pflanzschule des zarten Ehrgefühls, der großartigen nationalen Gesinnung, der kecken und zugleich mutigen adligen Sitten“ die Grundlage bilden müsse (Ebd., S. 17). Denn: „Der abgezogene Begriff des gemeinen Wohls kann das Anschauliche nicht ersetzen.“ (Ebd., S. 9) Doch der „Verdienstadel“ könne die Bestimmung eines „Erbadels“ nicht erfüllen (Ebd., S. 13) Das Prinzip der Erblichkeit diene der anschaulichen Repräsentation des „monarchischem Prinzips“, solle jedoch zugleich den Zugang zur „Zentrale der Macht“ (d.i. der Hof) regeln: die negativen Folgen eines ungeordneten Zugangs zur Machtzentrale zeige „die Geschichte der Muhamedanischen Staaten, freilich in einer Stärke, die bei uns nicht denkbar wäre; aber daß es hiermit doch eine andere Bewandtniß hat, als mit Staatsämtern, leuchtet selbst ein“ (Ebd., S. 10f). Als eigentliche adlige Privilegien sollten allein der (informelle) gesellschaftliche Vorrang, die Hof- und Kronämter und ein bevorzugter Gerichtsstand bestehen bleiben, Landtagsfähigkeit, „Bannerführung“ etc. würden zwischen allen Ständen gleichgestellt. Denn eine zu scharfe Absonderung des Adels (Ahnenproben, eingeschränkte Geselligkeit) sei ebenso zu verwerfen, wie Hofordnungen, die eine soziale Segregation beförderten (Ebd., S. 28ff).



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merksamen Beobachtung des „Zeit- und Volksgeistes“ auf, und zur gegenseitigen Mitteilung darüber. Nach „außen“ orientiert war die Forderung nach Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch die „Verbreitung der eigenen Grundsätze“, der „Beobachtung und Charakterisierung“ von Personen, die für die Reunion „im Guten wie im Bösen“ von Interesse sein konnten. Neben diesen allgemein politischen Aktivitäten sollte die Reunion dazu genutzt werden, dem Adel eine neue feste Wirtschafts-, Sozial- und Erbordnung zu geben (Abschnitt I. der Statuten): dabei sei das Ziel zu verfolgen, generell das Erstgeburtsrecht in Bezug auf das Grundeigentum mit Hilfe von Majoratsstiftungen durchzusetzen. Zugleich sollten Stiftungen, darunter auch die Wiederbelebung des Malterserordens, die nachgeborenen Söhne und Töchter versorgen helfen, ergänzt durch das „moderne“ Mittel von „Lebens-Assekuranzen“. Als eine Besonderheit der katholisch geprägten Adelslandschaft Schlesiens ist die Forderung nach Eintritt der nachgeborenen Söhne in den geistlichen Stand hervorzuheben. In diesem Punkt zeigte das Programm eine ausgesprochene Sensibilität für nichtmaterielle Macht- und Überzeugungsressourcen. Denn noch ganz unter dem Schock der revolutionären Ereignisse von 1830 fragte das Programm kritisch danach, ob der „Waffenverband“ zwischen den deutschen Staaten alleine genüge, die gefährdete deutsche Lage in Europa zu festigen. Wäre dies 1830 gelungen, und konnten die „Dämonen“ niedergehalten werden, so hätte doch Karl der Große sein „Weltreich mit dem Kreuz und dem Schwerd in der Hand“ gegründet, den „Bischof neben den Graf“ gestellt. Der Edelmann als Priester verfüge über mehr Mittel, „um Hülfe und Trost in die Kreise der Noth, Dürftigkeit und Entsagung zu bringen, als die Mehrzahl der jetzigen Landgeistlichen“. Im geistlichen Stand sei der Edelmann der „wahre und natürlichste Friedensrichter“, der zwischen den Gutsherrn und die Landgemeinde treten könne: „dem einen durch die Bande des Bluts und der Ehre, dem andern durch Pflicht und Weihe zugewandt und von beiden vertraut“. Diese Stellung könne die friedliche Verschmelzung des Adels und des Volkes fördern, wodurch sich dem Adel in der Kirche ein weites, jetzt verschlossenes Feld (Hervorhebung im Original) eröffne, um patriarchalisch wirken und einen Rang einnehmen zu können, den er „nie hätten verlieren sollen.“218 Parallel dazu wurde die „moralische Kräftigung des Adels“ (Abschnitt II. der Statuten) durch die Übernahme von Ehrengerichts- und Erziehungsaufgaben durch die Reunion angemahnt, überwacht durch gewählte „Adels-Marschälle und Schöffen mit patriarchalischen Rechten“.

218 Wie stark gerade in Schlesien das Verhältnis des Adels zur Kirche diskutiert wurde, belegt die Schrift eines anonymen Autors von 1836: K. F. (Anonymus), Kirche und Adel, oder Beantwortung der Frage: welche Vortheile bringt es der Kirche, dem Volke und dem Adel, wenn sich Edelleute dem geistlichen Stande widmen, und welche Einrichtungen in Kirche und Staat können diese Richtung des Adels fördern?, Glogau 1836.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Besonders innovativ zeigten sich die Statuten der Reunion in Abschnitt III. (Wiederbelebung der patriarchalischen Verhältnisse zwischen dem Grundadel und dem Bauernstande), die ein Programm paternalistischer Fürsorge für Gutsuntertanen wie der breiteren Bevölkerung vorlegten: neben der Besetzung öffentlichkeitswirksamer Ämter wie Offiziersstellen in der Landwehr, Landtagsabgeordneten, Schiedsmännern und Polizei-Distrikts-Kommissarien sollte die umsichtige Handhabe der gutsherrlichen Polizei-Gerichtsbarkeit, die besondere Fürsorge für Gesinde und „langgedienter Diener“, die durch Adelsdamen geübte Wohltätigkeit und Krankenpflege gegenüber Gutseinsassen nicht nur die persönlichen Bindungen zwischen Rittergutsherrschaft und -untertanen stärken, sondern den Adel als eine wirkliche „ruling class“ auf dem Lande positionieren. Die „Friedensrichter“- und „Lord-Lieutenant“-Modelle englischen Musters, wie sie in der Reformzeit Vincke, Stein und anderen vorgeschwebt hatten, scheinen hier noch einmal auf. Doch nicht nur auf gutsherrschaftlicher und regionaler Ebene wollte das Reunionsprogramm den Adel neu aufgestellt sehen. Öffentliches politisches Wirken in Wort und Schrift, die offensive Bekämpfung gegnerischer „Doktrinen“, die Suche nach einer Nähe zu anderen Gesellschaftsschichten, die sich „gleichermaßen stolzer und schädlicher Isolierung wie herabziehender Fraternität fernhält“, sollte die „allmähliche Gewöhnung der öffentlichen Meinung an das bestimmtere Hervortreten des Adels an die Spitze der Nation“ (Abschnitt IV.) vorbereiten. Dabei verwendeten die Statuten große Aufmerksamkeit auf das äußere Erscheinungsbild und den Habitus des adligen Auftritts. Fern von pauschalen Mäßigungsappellen wurde die Wichtigkeit der visuellen und symbolischen Einwirkungsmöglichkeiten auf die „Sinne des Volkes“ betont: öffentliche Jagden, Wettrennen, die öffentliche Kultivierung von distinguierender Kleidung, Pferde, Waffen und Dienergefolge sollte möglichst durch die Wahl einer burgartigen Wohnung abgerundet werden.219 Desweiteren muss als hoch innovativ die Empfehlung des Punktes d. im Abschnitt IV. der Statuten bewertet werden: die Förderung nämlich der patrizischen Tendenzen nichtadliger Rittergutsbesitzer und bedeutender Fabrik- und Handelsherrn! Hier liegt einer der seltenen Fälle vor, in denen Adelsreformprogramme explizit das Ziel einer sozial-kulturellen Annäherung an andere soziale Gruppen durch die erziehende Einwirkung des Adels thematisierten. Dem gleichen Ziel ist der Punkt g. im selben Abschnitt zuzurechnen, der eine fördernde Teilnahme an öffentlichen Vereinen und Gesellschaften anmahnte. Der Abschnitt V. der Statuten widmete sich schließlich

219 Heinz Reif sah in diesem Programm das Bewusstsein für Bourdieus „symbolischem Kapital“ schon avant-la-lettre verwirklicht, wie überhaupt schon alle Strategien, die sich der Adel im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zu seiner Interessenverteidigng zu eigen machen sollte, vgl. Ders., Adelserneuerung, S. 213. Reif zitiert allerdings irrtümlich „bürgerliche“ statt „burgartige Wohnung“. Dies sei hier nur deshalb korrigiert, weil dieser Punkt das gewollt distinguierende Lebensprogramm der Reunionstatuten besonders hervorhebt.



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der wirtschaftlichen Hebung des Adels durch die Förderung einer rationalen Landund Forstwirtschaft, der Herabsetzung belastender Pfandbrief- und Hypothekenzinsen, sowie, ganz besonderes bemerkenswert: der „industriellen Schöpfung auf den Gütern“. Umgekehrt sollte einer Verschwendung durch eine Aufsicht über „Sitten und Gewohnheiten“ gesteuert werden. Und unter diese gleiche Rubrik der „Wirtschaftsförderung“ führte das Reunionsprogramm pikanterweise die Aufforderung zu verbreiterten (Ehe-)Verbindungen mit Töchtern des wohlhabenden Bürgertums auf! Das Adelsreunionsprogramm als integratives Adelsreformkonzept Dieses Reunionsprogramm ist nicht nur deswegen bemerkenswert, weil es im Gegensatz zu den sonstigen ostelbischen Adelsreform- und erneuerungsideen dem Aspekt des „sozialen“ und inbesondere „kulturellen“ und „symbolischen“ Kapitals einen so breiten Raum zugestand. Sondern weil es die verbreiteten, bald darauf auch in der „Adelszeitung“ zu beobachtenden Grenzen lebensweltlich und rechtshistorisch gebundener Möglichkeitsträume überwand, und idealistische wie materialistische Gesichtspunkte gleichgewichtig behandelte: die Idee genealogischer und regionalhistorischer Sammlungen wie sie Laßberg anregte, aber auch die durch Werner v. Haxthausen propagierte (und von Laßberg vorgelebte) sozialkulturell-öffentlichkeitswirksame Selbstdarstellung; die intellektuelle und kulturelle Stärkung durch Bildungsinstitute, wie sie Adolf v. Rochow und Mirbach schließlich förderten, wie die zahllosen (und fast standeskonsensualen) Forderungen nach einer Stärkung des Grundbesitzes über erleichterte Majorats- und Fideikommissstiftungen. Das Programm sprach sich außerdem für eine Neubegründung des gutsherrlich-bäuerlichen Paternalismus aus, wie es in dieser Deutlichkeit vor allem Marwitz getan hatte. Darüber hinaus plädierte das Adelsreunionsprogramm für eine Öffnung gegenüber bürgerlichen Rittergutsbesitzern und dem höheren Bürgertum überhaupt, die mit dieser Konsequenz bisher vielleicht einzig im ostpreußischen Adel (Dönhoff-Hohendorff, Dohna) erhoben wurde. Dagegen fällt auf, dass „Kriegeradesideale“ wie bei Marwitz oder (in anderem Kontext) bei Motte Fouqué völlig fehlten. Ebenso ungewöhnlich für eine „ostelbische“ Adelslandschaft war die unmissverständliche Forderung nach einer entschieden politischen Mitwirkung des Adels auf den obersten politischen Ebenen, und vor allem die vorgeschlagene neue Form eines politisch-öffentlichen Handelns durch eine ständeübergreifende Vereinstätigkeit. Als eine schlesisch-katholische Spezialität muss außerdem die Beschreibung kirchlich-religiöser Betätigungen als Handlungsfelder adliger Erneuerung gelten. Dieser Aspekt war in Preußen sonst nur innerhalb des westfälisch-katholischen Adels konsensual, auch wenn dem Kreis hofnaher Pietisten in den östlichen Provinzen ähnliche Ziele vorschweben mochten.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Ein direkter Adelsvereinsvorschlag aus Schlesien an den König Wie schon in den Jahren nach 1806 scheint gerade Schlesien um 1840 tatsächlich ein Schwerpunkt von Initiativen zu einer Organisierung des Adels gewesen zu sein.220 Dies belegt zum anderen die beeindruckend umfangreiche Eingabe, die im September 1841 direkt an den preußischen König erging, und von diesem umgehend an die von ihm eingesetzte Adelskommission weitergeleitet wurde.221 Dieser vermutlich in Liegnitz überreichte Antrag zu „Maaßregeln zur Erhaltung eines erblichen Adelsstandes“ wich von dem oben ausgeführten Programm der „Adelsreunion“ allerdings erheblich ab – so war dieser Antrag auf eine monarchische Unterstützung von Adelsvereinigungen deutlich introspektiver und defensiver angelegt – von einer Annäherung an „patrizisch gesinnte“ bürgerliche Rittergutsbesitzer und Fabrikherrn, von einem Heraustreten des Adels an die „Spitze der Nation“ mit nationalpolitischer Mission war hier nicht die Rede. Im Gegenteil: ein möglichst enger Anschluss an die „Erbmonarchie“ wurde gesucht, denn „die Sache der Erbmonarchie von der des Erbadels zu trennen“ sei unmöglich, beide beruhten auf dem gleichen Prinzip der „Vererbung politischer Rechte in einzelnen Geschlechtern (genauer betrachtet alle Erblichkeit von Verhältnissen)“.222 Deshalb plädierte dieser Vorschlag zu einer strengeren inneren Reorganisation des Adels, für eine schärfere Trennung des Adels von den übrigen Ständen. Nicht etwa gemischt adlig-bürgerliche Ehen seien nötig, um den gesellschaftlichen Konflikt zu entschärfen, sondern die Sicherung der inneren Disziplin des Standes, der nicht nur durch unstandesgemäße Tätigkeiten, sondern ebenso durch unstandesgemäße Heiraten und generelle Vermischung mit den anderen

220 Vgl. die reformfeindlichen „Kreiskränzchen“ des schlesischen Adels ab 1808, sieht oben Teil I. Kap. 2.4.3. 221 Dass dieses Manuskript mit dem Titel „Über den Adel. Über die Maaßregeln zur Erhaltung eines erblichen Adelsstandes unter der Erbmonarchie. Mit besonderer Beziehung auf Preußen“ aus dem schlesischen Adel hervorging, kann aus dem Übersendungsort Liegnitz in Schlesien vermutet werden. Thile übersandte im Auftrag des Königs das Manuskript von dort am 2. September 1841 an Stolberg, um es der Adelskommission zur Verfügung zu stellen. Aufgrund einer damaligen Abwesenheit Stolbergs ging die Schrift zuerst an Raumer, der den Vorsitzenden der Kommission erst am 15. Oktober darüber informierte, und darum bat zu entscheiden, ob diese unter den Kommissionsmitglieder in Umlauf gebracht werden solle. Am 19. Oktober berichtete Stolberg an Raumer, dass er und Bethmann die Schrift gelesen hätten, doch „keinen besonderen Nutzen“ aus ihrer Kenntnisnahme erwarte, dennoch ihre Zirkulation befürworte. Am 21. Oktober übersandte Raumer das Manuskript an Savigny, der sie wiederum an Lancizolle weiterreichte. Vgl. GSTAPK I. HA Rep. 100 Nr. 3787 (Verhandlungen der Immediatkommission den Adel betreffend, 1841, 1842, 1843, 1846, 1848, a. in Folge der Allerhöchst. C. O. v. 21. Juli 1841, b. in Folge des Immediat­Auftrages an den Staats- u. Justizminister v. Savigny 1846), die Korrespondenz Bl. 14-16; das Manuskript Bl. 17-62 v. Siehe zu diesem Vorgang auch ein entsprechendes Schreiben Thiles an Stolberg vom 2. September 1841. 222 Vgl. „Über den Adel. Über die Maaßregeln zur Erhaltung eines erblichen Adelsstandes unter der Erbmonarchie. Mit besonderer Beziehung auf Preußen“. Ebd., Bl. 21-21v.



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Ständen bedroht sei.223 Gefährlich sei außerdem die innere Desintegration des Adels, viele Edelleute konzentrierten sich nur noch auf die Interessen ihrer Kernfamilie, und ignorierten die eventuell „zurückgekommenen Zweige“ der Verwandtschaft.224 Dagegen helfe nur die Belebung der „Gesinnung“, die im folgenden zwar als Orientierung an König und Staat skizziert wurde, aber dennoch kein eigentliches Funktions- und Leistungsadelsmodell vorstellte. Denn diese Gesinnung sollte sich eben nicht in der möglichst effizienten oder zielorientierten Erfüllung staatspolitischer Aufgaben beweisen, sondern umgekehrt wurde dem Dienst allein in dem Sinne Bedeutung zugemessen, wie er der Ausbildung einer bestimmten Standes-Gesinnung förderlich schien.225 Diese Gesinnung sei besser im Kriegsdienst für den Landesherrn zu erwerben, so die „Maaßregeln“; der Zivildienst sei hingegen problematischer: denn dort sind „unterer und höherer Dienst schärfer getrennt als im Offizierscorps“, weshalb in ihm die Resultate einer gemeinschaftlichen Standesehre weniger zum tragen kämen. Deshalb sollten zur Karrierewahl des Zivildienstes die Aufstiegsaussichten eines jungen Edelmannes als besonders günstig eingeschätzt werden. Wie schon das Programm der „Adelsreunion“ betonte auch dieser schlesische Reorganisationsplan den geistlichen Stand als geeignetes Feld adliger Betätigung, da doch in „allen Völkern mit lebendiger Religiosität [...] aus den edelsten Geschlechtern Diener der Religion genommen worden.“ Doch nach dem protestantischen habe sich nun auch der katholische Adel aus der Kirche zurückgezogen, was kein gutes Zeugnis für den Stand ablege. Aufgrund der gegenüber den Vertretern eines monarchisch orientierten Funktionsadelsmodells, wie z.B. Mühler und Raumer im Staatsministerium, anders definierten „Gesinnung“, legten die „Maaßregeln“ eine starke Betonung auf die Bedeutung des Grundbesitzes. Dieser sei Grundlage der „Gesinnung“, da sie sich nicht „in Verhältnissen bewahren [lässt], wo mit der Sorge um die ersten Bedürfnisse des Lebens

223 Aspiranten in den Adelsstand wurden nicht als willkommene Kraft adliger Erneuerung betrachtet, sondern als zweifelhafte „Emporkömmlinge“, die zwar nach dem „äußeren Glanz der AdelsPrädikate“ griffen, aber diese dadurch erst Recht zu einem „Dekorum des beweglichen Reichtums“ herabwürdigten, und langfristig nur den „besitz- und gesinnungslosen Nominal-Adel“ vermehrten. Ebd., Bl. 24-24v. 224 Die Auflösung der Ritterorden, Dom- und Damenstifte habe die Ahnenprobe außer Gebrauch kommen lassen, und in den östlichen Provinzen seien bürgerlich-adlige Heiraten sowieso „seit längerer Zeit“ häufig gewesen. Diese aber schwächten den Adel, weil sie einer Bildung und Weitergabe einer standesspezifischen „Gesinnung“ entgegenwirkten. Ebd., Bl. 56f. 225 Diese wurde aber über einen Ehrbegriff definiert, der „alle irdischen Güter“ hintansetze und „alle übrigen weltlichen Rücksichten unterordne“, um „das Geschenk der Vorsehung, die ihn [den Edelmann, G.  H.] als den Erben eines Namens geboren werden ließ, der in den Erinnerungen des Volkes lebt und für ihn selbst eine günstige Vermutung begründet, zu schützen [...].“ Diese Stellung sei als eine „Fügung Gottes“ zu betrachten, der der Edelmann „Folge zu leisen hat, die ihm Lasten auferlegt, die vielleicht für ihn die Quelle harter Prüfungen werden kann und in allen Fällen Ergebung von ihm fordert.“

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

gekämpft werden muß [...].“226 Mit starken Überschneidungen zu den Überlegungen des Freiherrn v. Stein behaupteten die „Maaßregeln“, dass die Geschlechter solchen Grundbesitz nicht nur als „Bürgschaft ihrer Stellung“, sondern auch als familialen „Vereinigungspunkt“ benötigten.227 Aus diesem Grund lehnten der oder die Verfasser der Denkschrift aber Majoratsstiftungen ab (dies wiederum abweichend von den Positionen Steins), die den Hauptteil des Besitzes in eine erbende Hand brächten, ohne die Nachgeborenen ausreichend zu versorgen, bzw. durch Geldabfindungen dieser Nachgeborenen die Desintegration der Familien noch beförderten. Fideikommisse seien das bessere Instrument zum Erhalt von Grundbesitz und Familien, insofern Abfindungsrenten, und seien sie noch so klein, einen natürlichen „Vereinigungspunkt“ der Familie bildeten, der verhindere, dass sich die einzelnen Mitglieder entfremdeten. Das Fideikommiss gäbe allen Familienmitgliedern ein Interesse am Stammvermögen.228 Noch besser als Fideikommisse seien freilich „Successionsordnungen“, da diese ganz nach dem Muster der alten Lehnrechte einen noch weiteren Kreis an (erbenden) Familienmitgliedern erreichten. Die politisch-ständische Bedeutung des Adels stünde und fiele aber nicht mit der Größe oder dem Einkommensumfang des Grundbesitzes, sondern mit dessen rechtlicher Qualität: diese verliehen dem Adel nämlich „Regierungsrechte über ein bestimmtes Gebiet“, und bestimmten daher auch sein spezifisches Verhältnis zum monarchischen „Oberherrn“. Stattdessen besäße der englische Adel trotz seines großen Grundbesitzes keine eigentlichen „Regierungsrechte“ – nur die „soziale“, nicht die „politische“ Revolution habe deshalb der englische Adlige zu fürchten, da er allein die Interessen des Reichtums überhaupt teile. Die Käuflichkeit der ständischen Rechte seit 1807 hätten diesen „Regierungs-Rechten“ den „Glanz der Ehre“ genommen, dem Adel dauerhaft geschadet, um so bedauerlicher, dass die latent ablehnende Haltung der Staatsbeamten gegenüber den „Rechten der Territorialherren“ (Hervorhebung G.  H.) noch nicht überwunden, die Idee, den Patrimonialgerichtsherrn die Kriminalrechtspflege zu entziehen neuerdings wieder in Anregung gekommen sei.229

226 Als soziale Grundlage einer solchen inneren gesinnungsmäßigen Erneuerung seien aber zunächst nur Geschlechter geeignet, deren hervorragende Stellung „historisch“ ist, denn „dass die historische Bedeutung eines Geschlechtes dessen Adel ausmacht, liegt in der Natur der Sache.“ 227 Vgl. „Über den Adel. Über die Maaßregeln zur Erhaltung eines erblichen Adelsstandes unter der Erbmonarchie. Mit besonderer Beziehung auf Preußen“, Ebd., Bl. 32v. 228 Allein die Töchter müssten ausdrücklich durch Kapital abgefunden werden, damit in deren Verheiratungsfalle nicht „missliche Verwicklungen in die Verhältnisse der einzelnen Geschlechter würden gebracht werden.“ 229 Zur Abwendung dieser drohendenden Nivellierung der ständischen Rechte der Rittergüter schlugen die „Maaßregeln“ vor, zukünftig ständisch bevorrechteten Grundbesitz nur noch mit landesherrlicher Genehmigung zu veräußern, bzw. die freie Veräußerung nur ohne diese Rechte vonstatten gehen zu lassen – die daraus resultierende Wertminderung könne durch die Staatskasse ersetzt werden. Zudem wäre eine rangliche und ständische Differenzierung innerhalb des Rittergutsbesitzes zugunsten der älteren historischen Bedeutung angebracht. Sogar ein gemäßigtes Wiederaufleben der



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Die „Maaßregeln“ schlugen nun vor, über provinzweise organisierte Adelsvereine eine Kerngruppe aus dem grundbesitzenden Adel zu organisieren.230 Denn nur die Verbindung zwischen Geschlechtern im Besitz von Lehn-, Majorats- und Fideikommissgütern sei sinnvoll, wogegen Adelsvereine keinesfalls den gesamten Adel wieder „zu einem Stand“ vereinigen könnten. Ein solcher Verein solle sich dem Erhalt und dem Neuerwerb von Grundbesitz widmen, „Successionsordnungen“ ausarbeiten und nach landesherrlicher Bestätigung in der Durchführung überwachen.231 Anders als dieser konkrete Arbeitsvorschlag suggerieren könnte, wurden die im Rheinland und Westfalen schon bestehenden „Adelsvereine“ jedoch keineswegs als vorbildlich bewertet, da den dortigen privat zugesprochenen Privilegien eigener Testiermöglichkeit keinerlei Verpflichtungen gegenüberstünden. Die der „autonomen Ritterschaft“ zugrunde liegende Idee, dass der in einer Hand konzentrierte Reichtum über ostentativen Luxuskonsum und Schaugepräge dem ganzen Stand zugute käme, sei ein Irrtum: das Ansehen des Standes hänge vielmehr von der nach außen vertretenen Haltung jedes einzelnen Adligen ab. Ebenso abzulehnen sei das englische Beispiel: die strikte Primogenitur habe die erzieherische Vernachlässigung der Nachgeborenen und Seitenverwandten zur Folge, verhindere „eine geschlossene Standeswürde“, und ließe durch zufällige Erbfolge doch immer wieder einen dieser nicht auf die Pairie vorbereiteten Grade in die Pairschaft gelangen. Dadurch fehle „ein inneres Band“ und die englische Pairschaft sei „politisch charakterlos“. Besondere schlesische Charakteristika der Adelsreformideen? Den besonderen „schlesischen Charakter“ dieser beiden Adelsvereinsvorschläge macht neben der Betonung einer kirchlich-religiösen Aufgabe des Adels die Mischung „östlicher“ und „westlicher“ Forderungen und Argumentationsfiguren aus: ganz in

Ahnenprobe ließe sich an den Grundbesitz knüpfen: wenn auch nicht mehr als ausschließendes Kriterium („dies würde als Härte empfunden“), aber doch als ein bevorteilender Faktor bei der Sukkzession in Fideikommissgüter. Dieser Passus war inspiriert durch den „Fingerzeig“ der KabinettsOrdre vom 4. September 1830 (vgl. Gesetzsammlung 1830, S. 129), welche festlegte, dass zur erblichen Sukkzession in Fideikommisse, die eine adlige Herkunft beider Elternteile voraussetzen (Vollbürtigkeit), nur vier adlige Ahnen gefordert werden konnten, mit Ausnahme derjenigen fideikommissarischen Erbbestimmungen, die eine genau festgesetzte Ahnenzahl aufführten. 230 Ebd., Bl. 46ff. 231 Der Verein könne als „Kreditanstalt“ dienen, die, anders als die bestehenden ritterschaftlichen Landschaften, dazu diente, bestimmte Geschlechter im Besitz zu halten. Auch Vorschüsse auf Grunderwerb durch nichtangesessene Mitglieder könne diese Kreditanstalt bieten. Der Verein eigne sich außerdem als Träger von Stiftungen für die jüngeren Söhne und Töchter, was auch deren Interesse am Verein aufrechterhielte. Insgesamt wäre dem Verein eine Art Überwachungsfunktion über den gesamten Grundbesitz einzuräumen: er sollte als zusätzliches Kontrollgremium dem Agnatenkonsens bei Fideikommiss- und Majoratsgütern beitreten, andererseits in Fällen eines unbegründet verweigerten Agnatenkonsenses diesen ersetzen können; und in Fällen schlechter Bewirtschaftung von Gütern diese sogar der Sequestration zuführen können.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Übereinstimmung mit den in Brandenburg bis Ostpreußen dominierenden Leitbildern wurde eine primogenital vermittelte Besitzkonzentration abgelehnt – dies in Gegensatz zu der westfälischen Praxis, wie sie sich im gewährten „Autonomiestatut“ wieder reetablierte. Andererseits wurde das Grundbesitzkriterium und eine damit verbundene herausgehobene Lebensführung besonders stark betont und in dem „Liegnitzer“ Adelsvereinsvorschlag sogar zum zentralen Kriterium einer Vereinsgründung erhoben. Eine gewisse, mit materiellem Wohlstand verbundene standesexklusive Einstellung ist in beiden schlesischen Adelsvereinsprogrammen festzustellen – wobei die „Liegnitzer“ Eingabe in Gegensatz zur „Adelsreunion“ wesentlich involutiver argumentierte, sogar adlig-bürgerlich gemischte Ehen grundsätzlich verwarf, sehr einseitig auf den Schutz „ausgesuchter“ Geschlechter setzte, und sich damit erheblich „standesexklusiver“ positionierte, als dies im sonstigen „ostelbischen“ Raum üblich war. Von den im Adelsreunionsprogramm vorgeschlagenen adlig-bürgerlichen Verständigungs- und Kooperations-Brücken und Aufgabenzuschreibungen war darin nichts zu finden.

Die breite öffentliche Resonanz auf das schlesische Adelsreunionsprogramm Der „Liegnitzer“ Adelsvereinsvorschlag blieb allerdings diskret in den Akten verborgen, und damit wie so viele andere Adelsreformpläne einer weiteren Öffentlichkeit unbekannt. Hingegen fand das Programm der schlesischen „Adelsreunion“ schnell einen starken und langandauernden publizistischen Widerhall. Der Veröffentlichung in den „Sächsischen Vaterlandsblättern“ 1841 folgte eine Reihe gesonderter Drucke.232 Die Reaktionen in der Öffentlichkeit waren vielfältig und differenziert, selbst unter den adelskritischen Stimmen. Diese Aufnahme beweist, wie hoch sensibilisiert die Öffentlichkeit um 1840 in allen Fragen der Ständeordnung und des Adels war. Verantwortlich dafür dürfte nicht zuletzt die von Friedrich Wilhelm IV. eingeleitete neue Adelspolitik gewesen sein, die ja nach Gustav v. Rochows eigener Aussage auf eine keineswegs nur negative Aufnahme stieß. Insbesondere die gedruckte Reaktion des Zeremonienmeisters und Vertrauten Friedrich Wilhelms, Rudolf Maria Bernhard (Graf) Stillfried v. Rattonitz-Alcantara, traf aufgrund seiner Königsnähe offenbar auf eine so große Nachfrage, dass sich dieser 1843 zu einer Neuauflage bewegt sah: „Inzwischen ist ein Jahr verstrichen und das Bedürfnis einer neuen Auflage dieser Schrift hat sich fühlbar gezeigt. Ob man nach dieser kleinen Schrift aus Neugierde

232 Der Beitrag der „Sächsischen Vaterlandsblätter“ wurde 1842 unter dem Titel „Programm der Adelsreunion in Schlesien nebst einer Beleuchtung. Urversammlung und Statuten des Adelsvereins. Vorrede v. C.C.“ in Leipzig bei Friese zusammen mit dem Protokoll der Urversammlung und der Statuten des durch die „Adelszeitung“ initiierten Adelsvereins noch einmal gesondert veröffentlicht. 1845 wurde bei Langhoff in Hamburg das Adelsreunionsprogramm zusammen mit den Statuten und Berichten über den „Adelsverein“ erneut veröffentlicht: Anonymus, Programm der Adelsreunion in Schlesien und Urversammlung und Statuten des Adels-Vereins.



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greift, oder ob man die darin entwickelten Vorschläge beherzigenswerth findet – ich weiß es nicht.“ Das Publikum erhoffte aus Stillfrieds Schriften vermutlich genauere Auskunft und Kenntnis der weiteren königlichen Adelspläne, auch wenn Stillfried, wie unten gezeigt wird, keineswegs in allen Punkten mit den Vorstellungen Friedrich Wilhelms übereinstimmte. So viele aber, fuhr Stillfried fort, schrieben derzeit über den Adel, dass es nicht mehr zu übersehen sei, gleich ob es aus „Liebe zur alten Perücke“, oder aus Haß gegen diese sei. Doch seien die Meisten sich einig, dass etwas Neues geschaffen werden müsse – doch Uneinigkeit herrsche darüber, wie dieses Neue aus dem Alten geschaffen werden könne. Und dieses Alte sei nun einmal da, und könne nicht ignoriert werden. Noch aber sei nirgends der Adel in irgend einer norddeutschen Provinz oder Staat zur Bildung einer Vereinigung zusammengetreten.233 Die links-liberalen Adelsfeinde: Buhl und Wuttke Wenig verwundern kann die einhellige, ja spöttische Ablehnung des „Adelsreunionsprogramms“ durch die links-liberale Publizistik. Für diese stellte sich keineswegs Stillfrieds Frage, wie „Neues aus Altem“ geschaffen werden könnte – das „Alte“ habe zu weichen, nichts sonst. Ludwig Buhl (1844) und Heinrich Wuttke (1847) griffen im Vormärz an den Beispielen der Wiener „Adelskette“ und der schlesischen „Adelsreunion“ jeden Versuch an, dem Adel noch einmal eine wie auch immer definierte politische Bedeutung zuzuschreiben.234 Beide sahen in solchen Versuchen adliger Reorganisation gefährliche Geheimbünde am Werk.235 Beide gaben sich zugleich

233 Offenbar zählte Stillfried die Versammlung zur Gründung eines Adelsvereins in Leipzig, ausgerufen durch die „Adelszeitung“, nicht zu „Norddeutschland“; es ist kaum anzunehmen, dass er von dieser Versammlung nichts wusste, denn er kannte die „Adelszeitung“ und war über deren Inhalt genau informiert, vgl. Anonymus, Vorschläge, S. VIf. 234 Buhl, Geburtsprivilegium. Zur Wiener „Adelskette“ ebenda S. 20ff, zur schlesischen „Adelsreunion“ S. 26-30. Heinrich Wuttke, Die schlesischen Stände, ihr Wesen, ihr Wirken und ihr Wert in alter und neuer Zeit, Leipzig 1847, S. 181f. Vgl. zu Wuttke auch Obenaus, Anfänge, S. 601, Anmk. 31. 235 Vor allem Wuttke überschätzte (aus polemischen Gründen?) die Wirkungen der „Adelskette“, nahm diese wie das Reunionsprogramm als umgesetzte Realität: „Auch im Adel gab das gesteigerte Leben sich kund [des Vormärz, G.  H.]. Von jener berüchtigten Adelskette her ziehen sich geheime Verbindungen von Edelleuten, deren Ziel ihre Wiedererhebung ist in die ihnen (vermeintlich) nur im Drange der Zeit entfremdete Stellung: Ketten von Vereinen, die zwischen 3 und 9 Mitglieder zählen, welche sich monatlich ein paarmal versammeln und mittelst einer Garde littéraire auf die Litteratur achten. Das Programm einer schlesischen Adelsreunion kam am 27. November 1841 durch die sächsischen Vaterlandsblätter an’s Tageslicht und offenbarte zum Erstaunen derjenigen, welche von glatten Edelmannsworten geblendet die Aristokratie gebrochen wähnten, welch finstrer Geist noch spukt, wie die Von’s den Ständeunterschied für ein ewiges Naturgesetz ansehen, und bejammernd, daß „Recht und Besitz des Adels einer von krankhaften Staatstheorien erfüllten Periode unter lagen“, das alte Unwesen wieder zurückzuführen streben.“ Wuttke verwies in Folge noch auf publizistische Aktivitäten aus dem schlesischen Adel: ein Freiherr v. Strachwitz gab die Zeitschrift „Für Recht und Besitz“ heraus. Und die „Oderzeitung“ wurde auf Initiative des Fürsten Hatzfeldt und der Creme der

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selbstgewiss vom Scheitern derartiger Versuche wie überhaupt vom endgültigen Untergang des Adels überzeugt. Während aber Buhl die Tragik des Adels anerkannte, die sich in solchen Ansätzen der Selbstorganisation offenbare, hatte Wuttke nur Hohn für dieses Programm, das in der Öffentlichkeit verschiedentlich wohl als adelskritische Satire aufgefasst wurde.236 Buhl erkannte dagegen deutlich den verzweifelten gesellschaftspolitischen Spagat den das Reunionsprogramm zum Ausdruck brachte und die daraus erwachsende Ursache für die verhaltene Aggressivität des Adels gegenüber Staat wie Gesellschaft: Man würde Unrecht thun, die hier ausgesprochenen Ansichten und Bestrebungen bloß zu verlachen. Allerdings sind sie sehr geeignet, einen komischen Eindruck zu machen, aber sie haben auch eine ernste Bedeutung, insofern sie aus der gegenwärtigen Stellung, oder vielmehr Mißstellung des Adels hervorgehen. Seine Mißstellung hat ihren Grund darin, daß er angetastet und beschädigt worden ist, ohne vernichtet worden zu sein.237

Während Buhl in längerer historischer Perspektive darauf verwies, dass der Adel schon vor dem bürgerlichen Angriff auf seine Privilegien durch das Ausgreifen des Staates, bzw. der Fürsten, den Kern seiner Wesensbedeutung verloren habe („das Wichtigste, was nicht blos eingebildeten Werth verlieh, haben ihm die Fürsten selbst genommen. Gegen seine Altvorderen steht er als ein Kastenmensch wie ein Luftgebilde ohne festen Boden“), konzentrierte sich Wuttke auf die Gefahr, die von der neuen königlich-preußischen Adelspolitik für die bürgerlichen Hoffnungen in die Gesellschaftsentwicklung ausging; schon Ernst v. Bülow-Cummerow habe das Programm entworfen, den Adel über den großen Grundbesitz neu zu begründen, nun werde damit ernst gemacht:238

Hochadligen über den Klerus vertrieben. Vgl. Ders., Schlesische Stände, S. 181f. 236 „Der gutmüthige Michel nahm dieses Programm für eine Satyre: es ist ächt; er ist zuweilen ein rechter Tropf.“, vgl. Wuttke, Schlesische Stände, S. 181. 237 Buhl weiter: „Daß er zwar aus einigen seiner Positionen herausgetrieben worden ist, daß er sich aber in fast allen Hauptwerken behauptet hat. Er steht noch aufrecht, aber seine Basis ist erschüttert worden; er wird fortwährend als eine Stütze des Bestehenden anerkannt, und doch hat ihm der Sieg des Bestehenden nicht alle seine Begünstigungen zurückgegeben. Dadurch erhält er einen aggressiven Charakter: die Vorrechte, die ihm geblieben sind, dienen ihm als Vorwand, auch die zurück zu verlangen, die er verloren hat, und wenn er seinen früheren status quo wieder erobern sollte, so würde er darauf die Notwendigkeit fernerer Erweiterungen seiner Macht begründen. Er ist also in fortwährendem Kriegszustande begriffen, sowohl gegen den Staat, der in zwar auszeichnet und bevorrechtet, aber sich ihm nicht ganz hingeben will, wie gegen die Zeitrichtungen und die Meinung, die von ihm abgefallen sind. Dies Dilemma kann nur auf zweierlei Weise gelöst werden: entweder der Adel wird vernichtet und findet in seiner Aufhebung die Beruhigung, die ihm der jetzige unbehagliche und halbe Zustand nicht gewähren können [sic!], oder er wird wieder vollkommen rehabilitiert.“ Vgl. Buhl, Geburtsprivilegium, S. 30-31. 238 Wuttke zitierte nach Ernst v. Bülow-Cummerow aus „Über die Verwaltung des Staatskanzlers von Hardenberg“ von 1821, S. 80: „Wie hemmen diesen natürlichen Lauf? [des Zerfalls des Adels, G. H.]



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Als die Majestät zur Bildung von Majoraten ermunterte, als sie Adelstitel mit der Bestimmung verlieh, daß das Grundeigenthum ungetheilt auf den ältesten Sohn übergehen müsse und nur ein Sohn oder Enkel den Adel ererbe und mit der Beschränkung, daß die Kinder aus standesgemäßen Ehen entsprossen seien, als sie mit Geld adligen Verarmten beisprang – da frohlockte, da jauchzte der Adel [...].239

In seiner völligen Verkennung der tatsächlichen, im preußischen (Klein)Adel überwiegenden skeptisch-ablehnenden Haltung gegenüber den königlichen Plänen, verwarf Wuttke zugleich die Idee, aus den reichsten Adligen eine neue Pairie zu begründen – und zwar mit einem auf die schlesische Situation gemünzten rechtshistorischen Argument, das sonst gerne von adels-konservativen Gegnern einer binnenadligen Differenzierung bemüht wurde: Die reichsten Adligen möchten aus sich eine Pairie im alten Geschmacke machen. Der sogenannte Fürstenstand bezog sich 1841, allen Ernstes, auf die ‚nach der früheren schlesischen Verfassung den Fürsten und Standesherren gebührenden Rechte und Privilegien’, er, der nur aus großen Besitzern besteht. Jene aber waren Herrscher, deren Vorfahren sich blos unter die böhmische Oberhoheit begeben hatten.

Und: Der kleine Adel auf den Gütern vergaß, daß er eigentlich dem Stande der Bauern angehört und die Landleute ihm gleich stehen [...].“ Ein Erfolg dieser Politik könne deshalb nur ein Scheinsieg werden, der „das fürchterliche Unheil auf seine [des Adels, G. H.] Häupter heraufbeschwören“ würde: „Stellt den zertrümmerten Adel her und Ihr werdet eine Ernte bekommen, vor der Euch’s grauset.240

Der adelsfreundliche Bürgerliche: Welcker im „Staatslexikon“ Dagegen gehörte der ebenfalls, wenn auch nicht radikale, liberale Staatsrechtler Carl Welcker zu denjenigen unter den Bürgerlichen, die sich sehr wohl Gedanken darüber machten, wie „Neues aus Altem“ geschaffen werden könne. Unter Bezug auf die Veröffentlichung in den „Vaterlandsblättern“ reagierte Welcker noch 1841 in dem von ihm mit herausgegebenen „Staatslexikon“ auf den Reunionsplan.241 1845 nahm das „Staatslexikon“ diese Reaktion in leicht erweiterter Form sogar unter dem eigenen

Die Idee der Tüchtigkeit und des Verdienstes, also der ächten Adeligkeit aufgeben, weil beides auf die Bürgerlichen übergegangen ist und einen neuen Adel auf den Besitz des Bodens gründen. Viele arm lassen, um Gütermassen in einer Hand zusammen zu halten.“ 239 Vgl. Wuttke, Schlesische Stände, S. 181f. Die Bestimmung über die standesgemäßen Ehen als Voraussetzung zur Vererbung höherer Adelstitel wurde einer weiteren Öffentlichkeit wohl u.a. über einen Artikel in den Sächsischen Vaterlandsblättern vom 12. Mai 1842 bekannt. 240 Vgl. Wuttke, Schlesische Stände, S. 186f. 241 Bezeichnenderweise unter dem Stichwort „Öffentlichkeit“ in: Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, hrsg. v. Carl v. Rotteck und Carl Welcker, 12. Band, 1841, S. 271-276, Anmerkung.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Stichwort „Adelsreunionen/Adelskette“ in seinen Hauptteil auf.242 Welcker maß in seiner Kritik der Adelsfrage eine bedeutende Rolle in der zeitgenössischen politischen Entwicklung bei: Ob und in wie weit wir Deutsche ohne neuen blutigen Umsturz auf dieser rettenden und allein heilsamen Bahn fortschreiten werden, ob das nach der jetzigen Cultur und Lage der gebildeten Welt und unseres Vaterlandes auch für letzteres absolut unentbehrliche und unvermeidliche System der Öffentlichkeit auf friedlichem Wege siegen wird – dieses hängt, wie bei uns die Dinge jetzt stehen, vor Allem von der Würdigkeit, Tüchtigkeit und politischen Bildung unseres Adels ab.243

Eine solche Entwicklung sah Welcker durch Bestrebungen wie die der „Adelsreunion“ gefährdet, vor allem durch ihren Charakter als „Geheimgesellschaften“. Dennoch erstaunt, dass Welcker bei seiner grundsätzlichen Sympathie für den Adel, dem er ausdrücklich auch eine politische Rolle bei allen zukünftigen Landes- wie (deutschen) Nationalverfassungen zuerkennen wollte, die innovativen, potentiell die ständischen Verhältnisse „aufweichenden“ Programmpunkte nicht erkennen konnte oder wollte.244 Seine Sorge um eine „drohende“ „privatrechtliche“ Reorganisationsmöglichkeit des Adels überwog – in diesem Punkte fürchtete er ganz wie Buhl und Wuttke

242 Das Stichwort „Adelsreunionen/Adelskette“ findet sich in: Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, hrsg. v. Carl v. Rotteck und Carl Welcker, 1. Band, Altona 1845, S. 332-337. 243 Damit wiederholte Welcker seine Einschätzung der Adelsfrage, die er schon früher in der Einleitung seines Artikels „Adel“ im Band I des „Staatslexikons“ geäußert hatte: „Kaum giebt es für den europäischen Staatsmann ein Verhältniß, welches in Beziehung auf die richtige historische Auffassung, wie in Beziehung auf die praktische Gestaltung der politischen Einrichtungen der Völker zugleich wichtiger und schwieriger sich darstellte, als der Adelstand“. Der gesamte Titel „Adel“ hat den stolzen Umfang von S. 244-314: Adelstheorie (praktische) S. 314-329, Adels- und Ahnenprobe S. 330-332. Hier zitiert nach der Ausgabe von 1845: Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, hrsg. v. Carl v. Rotteck und Carl Welcker, 1. Band, Altona 1845, S. 244. Unmittelbar nach 1815 waren Welckers Verfassungsideale altständisch orientiert: die Erhaltung des Adels, die Schaffung eines Majoratsadels mit Steuerprivilegien. Die britische Verfassung schien ihm vorbildlich. Später löste er sich von seinen streng historischen Verfassungsidealen zugunsten theoretischer-liberalisierender Vorstellungen. Wie Franz Hegewisch stand auch Welcker, seit 1814 Professor der Rechte an der Universität Kiel, mit dem schleswig-holsteiner „Emkendorfer Adelskreis“ in Kontakt, und publizierte seine politischen Ansichten in den „Kieler Blättern“ vgl. Brandt, Geistesleben, S. 380f. 244 Welcker bekannte für seine Person ausdrücklich, dass er „[...] stets mit der innigsten Überzeugung erbliches Königthum und angemessene erbliche oder adeliche Pairierechte als wohlthätig, ja als in dem naturrechtlichen und politischen Ideale kräftiger freier Verfassung begründet hielt.“ Zugleich wies er die Hallerschen Adelstheorien als unlogisch, selbstwidersprüchlich, und durch die historische Forschung und Anschauung in der übrigen Welt nicht gedeckt zurück (Staatslexikon, „Adel (allgemein)“ S. 252-256); legitimierte den Adel jedoch nach dem öffentlichen Recht als aus einer „verfassungsmäßigen Nationalüberzeugung für das Staatswohl politisch nothwendig“ [...], so wie z.B. [...] in Beziehung auf die erbliche Fürstenwürde.“ (Staatslexikon, „Adelstheorie (praktisch)“, S. 317). Vgl. Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, hrsg. v. Carl v. Rotteck und Carl Welcker, 12. Band, Altona 1841, S. 275, Anmerkung.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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die Bildung von „Geheimgesellschaften“, die nichts konstruktives für die Gesellschaft bieten könnten. Bezeichnenderweise erwähnte Welcker in seiner sonst fast vollständigen Auflistung der einzelnen Programmpunkte nicht den deutlich ausgedrückten Integrationswunsch mit bürgerlichen Ritterguts- und patrizischen Fabrikbesitzern. Leidenschaftlich appellierte Welcker dagegen an den Bildungsethos und die „Einsicht“ im Adel, zusammen mit dem Bürgertum an einer neuen Gesellschaftsordnung mit öffentlicher, gemeinnütziger Regierung mitzubauen. Das britische Vorbild war für Welcker sakrosankt: Vor unser Aller Augen aber steht im Gegensatz der dreihunderjährigen traurigen Geschichte des Adels und des Volks unter den aristokratischen Geheimregierungen das erhebende Beispiel des britischen Adels, welcher gerade durch Achtung und Vertheidiung der Volksrechte einer kräftigen, volksfreien Verfassung und durch Verzicht auf jedes Adelsvorrecht, außer dem erblichen Pairsamte, welches aber so oft auch dem bürgerlichen Verdienste zufällt, die Nation mächtig, reich und groß machte, sich gerade hierdurch als den glänzendsten, geachtesten Adel der Welt behauptete.245

Welcker imaginierte die Rolle des Adels, in Aufnahme und eigentümlicher bürgerlicher Wendung des seit Montesquieu etablierten adelsapologetischen Topos eines ausgleichenden „Mittelstandes“, als eines Garanten der Freiheit gegenüber dem Monarchen und seiner Bürokratie – ein offensichtliches Angebot an die im Adel noch immer virulente Bürokratiekritik. In dieser Adelsfreundlichkeit unterschied sich Welcker deutlich von seinem Kollegen und Mitherausgeber des „Staatslexikons“, Carl v. Rotteck, der in seinem eigenen Beitrag „Aristokratie“ die Idee einer Adelsrolle in der modernen Gesellschaft vollkommen verwarf und für die Abschaffung des Adels plädierte.246 Welcker hielt einen Erbadel dagegen für notwendig, damit einerseits „[...] die so ganz entschieden wohlthtätige Erblichkeit des Fürstengeschlechts nicht gänzlich isoliert und ohne organische Vermittlung dem Volk gegenüber stehe [...]“, und vor allem, um in einer neuen Staatsverfassung eine 1. Erb(Pairie)Kammer einrichten zu können. Diese hielt er nicht für geboten, um [„nach einer verbreiteten seichten Theorie“] das „Prinzip der Beweglichkeit“ [repräsentiert in der zweiten Kammer] durch ein Element der Beharrung auszubalancieren, sondern um die in der monarchischen Regierung vorwaltende Tendenz zu „Einheit und Ordnung“ mit der in der Volksversammlung vorherrschenden Tendenz zur „Freiheit“ über eine „Schiedsstelle“ zu vermitteln. Der

245 Ebd., S. 274, Anmerkung. 246 Vgl. Stichwort „Aristokratie“ in: Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, hrsg. v. Carl v. Rotteck und Carl Welcker, 1. Band, Altona 1834, S. 678. Vgl. auch Thomas Zunhammer, Zwischen Adel und Pöbel. Bürgertum und Mittelstandsideal im Staatslexikon von Karl v. Rotteck und Karl Theodor Welcker. Ein Beitrag zur Theorie des Liberalismus im Vormärz, Baden-Baden 1995, hier S. 41, 48.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Adel als „Obmann“ oder „Schiedsrichter“ teile Interessen dieser beiden Partien.247 Der Umstand, dass die „neueren Landesrechte“ und „constitutionellen Verfassungen“ die „Lage des Adels gegen früher und namentlich gegen die Rheinbundsperiode unendlich gehoben und gebessert haben“ sollte nach Welckers Vorstellung Quelle einer neuen Loyalität des Adels gegenüber der „constitutionellen Freiheit“ werden, ihn mit dem Bewusstsein eines faktischen Gewinners an politischer Bedeutung nach Überwindung des Absolutismus als Mitträger einer neuen Verfassung hinzugewinnen.248 Die Problematik von Welckers Funktionszuschreibung für den zeitgenössischen (begüterten) Adel bestand in der ausschließlichen Definition dieser Standesfunktion über den großen Grundbesitz, also einem exklusiven materiellen Kriterium, das viele Fragen zum Selbstverständnis des Adels offen lassen musste. Doch Welcker wies entschieden alle sonstigen ideellen Begründungen für eine Adelsexistenz zurück, seien es historisch-traditionale Vorstellungen über die „Vererblichkeit“ von Dispositionen zu Tugend und besonderen Leistungen, seien es nachaufklärerisch-rationale Ideen von einer besonderen funktionalen Adelseignung durch Herkunftslage, Milieueinfluss und Erziehungsstile.249 Dies mag auch seine schroffe Zurückweisung des Reunionsprogramms erklären – der darin noch einmal exemplarisch durchgeführte Versuch, neue politische Ambitionen des Adels mit bestimmten Sozialwerten und Lebensent-

247 Thomas Zunhammer unterschätzt in seiner Analyse der Adelsfrage im „Staatslexikon“ diesen Aspekt völlig, bzw. erwähnt ihn jenseits einer allgemeinen Nennung der Oberhausidee überhaupt nicht – Recht hat er insofern, als Welcker die Ambivalenz seiner Funktionszuschreibung für den Adel in der zeitgenössischen Gesellschaft nicht völlig auflösen kann. Doch stellt er meines Erachtens Welckers versöhnliches Arbeitsangebot an den Adel zu sehr unter opportunistisch-zeitpolitischen Gesichtspunkten dar. Die Begründung, dass der Adel zu sehr mit dem Staat der Zeit „verwachsen“ gewesen sei, um eine direkte Konfrontation zu wagen, erscheint nicht nur angesichts der Masse und Qualität der übrigen zeitgenössischen adelskritischen Literatur kaum haltbar, sondern auch hinsichtlich der Zeichnung einer vollkommenen Interessenidentität von Adel und Staat, die weder von den zeitgenössischen Regierungen und Bürokratien, noch vom Adel selbst so wahrgenommen wurde, vgl. Ders., Adel und Pöbel, S. 42-48, bes. S. 46. 248 Vgl. Stichwort „Adelstheorie (praktische)“ in: Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, hrsg. v. Carl v. Rotteck und Carl Welcker, 1. Band, Altona 1845, S. 325-328. 249  Ausführlich suchte Welcker alle zeitgenössischen adelslegitimierenden Theorien mit allgemeinhistorisch und soziologisch-anthropologischer Stoßrichtung zu entkräften – was teilweise aus der Perspektive des heutigen soziologischen und kulturhistorischen Wissens zurückgewiesen werden müsste. In Inhalt und Strategie war diese Adelskritik allerdings „die ausführlichste und wohl als prototypisch zu bezeichnende Adelsinterpretation des deutschen Liberalismus“ (Conze), zit. nach Zunhammer, Adel und Pöbel, S. 37. Jedoch lagen in einigen Aspekten die damaligen Adelsapologetiker in der Beschreibung über Herkunft, Auftreten und Verbreitung adliger Selbst- und Fremdzuschreibungen näher am heutigen Wissensstand als die damaligen liberalen Kritiker. Welcker akzeptierte allerdings den Adel als historische Erscheinung, dem zwar nicht mehr die traditionellen Begründungen gutgeschrieben werden könnten, aber dem aus der historischen Faktenlage doch ein nicht einfach zu beseitigender Rechtsbestand erwachsen war, vgl. Stichwort „Adelstheorie (praktische)“ in: Ebd., S. 325-328.



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würfen zu verbinden, blieb Welckers rein materiell-funktionsständisch gedachtem Adelsmodell notwendig fremd. Ein adliger Sympathisant einer Adelsreform Das adlige Pendant zu dem von Welcker repräsentierten Verständigungswunsch bürgerlicher Kreise mit dem Adel bot der schlesische Freiherr (und spätere Graf) Stillfried von Alcantara-Rattonitz (1804-1882), ein weiterer Intimus Friedrich Wilhelms IV. In einer eigenen Schrift reagierte er 1842 direkt auf die „Adelsreunion“.250 In seinem Vorwort würdigte Stillfried zwar das Ziel, nicht aber die im „Reunionsplan“ aufgeführten Mittel als sinnvoll.251 Generell monierte er, dass dieses Programm den Adel

250  Rudolf Maria Bernhard Graf Stillfried von Rattonitz-Alcántara wurde in Hirschberg in Schlesien geboren, besuchte u. a. das Gymnasium Breslau und die Ritterakademie in Liegnitz sowie das katholische Gymnasium zu Koblenz, bevor er 1824 die Universität Breslau bezog. Sein Jurastudium, neben dem er seinen mathematischen, kunstgeschichtlichen und künstlerischen Neigungen nachging, brach er 1830 ohne Examen ab. Er übernahm im selben Jahr nach seiner gleichzeitigen Hochzeit die Verwaltung von Familiengütern im Jauer’schen Bergland. Dort begegnete er in einem Hoflager des Prinzen Wilhelm zugleich dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm. Dieser Kontakt wurde 1833/34 bei einem Aufenthalt Stillfrieds in Berlin intensiviert, und der Kronprinz beauftragte den Grafen mit der Herausgabe von Werken über das preußische Königshaus. 1838 gab Stillfried die „Alterthümer und Kunstdenkmale des Hauses Hohenzollern“ heraus, zwischen 1840 und 1842 die urkundlichen „Monumenta Zollerana“. Aufgrund von Stillfrieds umfassenden genealogischen und heraldischen Kenntnissen zog ihn Friedrich Wilhelm IV. nach der Thronbesteigung aufs engste in die Entwicklung seines „monarchischen Projektes“ ein, beauftragte ihn mit der Gestaltung der preußischen Reichsinsignien, der ganzen monarchischen Symbolsprache und des Hofzeremoniells im Range eine „Zeremonienmeisters“ (1843), bzw. „Oberzeremonienmeisters“ (1853). 1854 wurde Stillfried mit der Leitung des neuen Heroldsamtes betraut, und auch das seit 1852 als eigenständige Behörde agierende königliche Hausarchiv stand bis 1868 unter seiner Führung. Stillfried zeichnete sich auch bei der Restaurierung mehrerer historischer Bauwerke aus, darunter der Burg Hohenzollern. Stillfried hatte zudem diplomatisch die Vereinigung der Fürstentümer Hohenzollern-Sigmaringen und Hohenzollern-Hechingen mit der preußischen Monarchie vorbereitet. Als Ministerkommissar im Auftrage des Fürsten Hohenzollern-Sigmaringen begleitete er 1859 die Prinzessin Stephanie zur Vermählung mit dem portugiesischen König nach Portugal, wo er mit dem Titel eines Grafen v. Alcantara zu einem portugiesischen Granden ernannt wurde. Bis zu seinem Lebensende lebte Stillfried dann auf seinem Schloß Silbitz in Schlesien, während er aufwendig gestaltete Bände zur schlesischen Regional- und Adelsgeschichte und die Drucke historisch wertvoller Manuskripte herausgab, vgl. ADB, Bd. 36, Leipzig 1893, S. 246247. Vgl. zur Rolle Stillfrieds als Mitinitiator und Mitbegründer und erster Leiter des neubegründeten Heroldsamtes Kalm, Heroldsamt, S. 27-31. 251 Stillfried bezog sich in seiner Schrift u.a. auf Welckers kritische Reaktion im „Staatslexikon“, vgl. Anonymus [Rudolf Maria Bernhard Graf Stillfried von Rattonitz-Alcántara], Vorschläge zu einer den alten und neuen Zwiespalt der Stände versöhnenden Reorganisation des Adels: Ein Beitrag zu den Beleuchtungen des Programms der Adelsreunion in Schlesien, Berlin 1842. Eine überarbeitete Fassung von Stillfrieds „Vorschlägen“ erschien noch einmal 1843 ohne den Untertitel „Beitrag zu den Beleuchtungen“. Dieser zweiten Ausgabe war noch eine von unbekannten Verfassern (Stillfried spricht im Vorwort im Plural) zugesandte Reaktion auf Stillfrieds Überlegungen beigefügt: „Drei aus verschiedenen Standpunkten aufgefasste Beleuchtungen der ‚Vorschläge zu einer Reorganisation des Adels‘“.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

einerseits zu sehr als „Kaste isoliert“, und zugleich als Vertreter der wichtigsten Interessen des Volkes an dessen Spitze halten wolle: dabei würde es den Individuen aus dem Volk unmöglich sein, aus eigener Kraft in diesen Stand einzutreten; andererseits solle das Volk diesen Stand als das „erste Glied einer durch das ganze Staatsleben sich hindurchziehenden Kette erkennen“.252 Für Stillfried war das Programm der „Reunion“ also zu sehr involutiv und standesexklusiv. In seinem Vorwort betonte er, dass seine Gegenschrift vor allem zum Ausdruck bringen solle, dass nicht der gesammte schlesische Adel, noch weniger der preußische, oder gar der deutsche, die Ansichten des vielbesprochenen Programms theilt, und daß wir nicht Kampf wollen mit den übrigen Ständen, wie Herr C.C. sich ausdrückt, der das schlesische Programm für eine förmliche Kriegserklärung ansieht.253

Dabei hielt Stillfried die Notwendigkeit einer Reorganisation des Adels grundsätzlich für notwendig, „nicht mehr bloß eine Wohltat, sondern ein politisches Bedürfnis“. Nicht Republikaner gegen Royalisten wollte Stillfried in Gegnerschaft sehen, sondern „unruhige“ und „ruhige“ Köpfe. Die „unruhigen“ Gemüter seien zwar nur eine kleine Minderheit, die besonnenen jedoch in ihrer Mehrheit gegenüber der Monarchie gleichgültig. Deshalb brauche die Monarchie, welche doch „allein die Staatsform ist, welche zum Heile führt“ wie Philosophie und Erfahrung lehre, „eines Standes, welcher aus den Edelsten zusammengesetzt ist, die entweder aus der Geschichte des Volkes ihre Herkunft leiten, oder durch persönliche Verdienste und Besitz Achtung gebieten, folglich auf die Gesammtheit Einfluß üben.“254 Denn der Monarchie stünden zwei Elemente entgegen: die einen, die nichts besäßen und deshalb „frei sein“ wollten, um auf jede Weise Besitz zu erwerben; und das andere Element, das außer materiellen Besitz nichts hat und deshalb allein den Besitz als reell anerkenne. Der Adel muss also ersteren den Besitz, den letzteren die Ehre gegenüberstellen. Sich von der übrigen Gesellschaft zu isolieren sei für den Adel in jedem Falle gefährlich, insbesondere, da der „Geist der Zeit [...] ein vereinender, alle Lebensverhältnisse versöhnender“ sei, wofür die zahlreichen Vereinsgründungen sprächen. Deshalb könne ein adelsständischer Rekurs auf „sogenannte Vornehmheit“ nichts retten. Diese sei vielmehr eine Krankheit, die man im Süden Deutschlands, wo es doch auch Vornehme gibt, weniger antrifft, als im Norden. Diese Vornehmheit, oder vielmehr, dies Benehmen, das vornehm sein soll, aber nur kalt und gemüthlos ist, war nie dem deutschen Stamme eigen, und ist vielleicht im Norden

252 Stillfried monierte vor allem Formulierungen wie „herabziehende Fraternität“ und „Hervortreten des Adels an die Spitze der Nation“ am Programm der „Adelsreunion“, vgl. Anonymus, Vorschläge, S. 30f. 253 Anonymus, Vorschläge, S. VI-VIII. Stillfried zeichnete sein Vorwort mit „Einer vom schlesischen Adel“. 254 Anonymus, Vorschläge, S. 9-10.



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nur durch Nachbarschaften fremdartigen Charakters bekannt geworden. Aber gerade diese Vornehmtuerei ist es ganz eigentlich, weshalb der norddeutsche Adel dem Volke schroffer gegenüber steht, als der süddeutsche, der allerdings auch, durch größeren Besitz und öffentlichen Einfluß ausgezeichnet, jedes kleinliche Mittel, sich geltend zu machen, verschmäht und im stillen Selbstgefühl ruhig einhertritt, durch die Einfachheit seiner Erscheinung schon Achtung gebietend. Daher hat er denn auch weder Demüthigungen vom Volke zu befürchten, noch durch schneidende Kälte oder andere ungehörige Mittel nöthig, sich eine scheinbare Achtung zu erzwingen, wodurch der beabsichtigte Zweck doch nicht erreicht wird.255

Deshalb könne die Lösung nur in einer Annäherung der Stände liegen, durch Zugeständnisse, die den Forderungen der Zeit besser freiwillig erbracht bevor sie wider Willen erzwungen würden. In einer neuen Adelsordnung sei es auch möglich, den historischen Adel zu retten. Stillfrieds eigener Entwurf einer Adelsreform folgte wesentlich den aus der Adelspolitik Friedrich Wilhelms IV. bekannten, bzw. den schon von Möser vorgezeichneten Grundsätzen: der Adel vererbe sich nur auf einen Sohn, entweder in Erstgeburt für diejenigen Fälle, wo Majoratsstiftungen solches vorschreiben; bei Fideikommissstiftungen sollte dagegen dem Vater die Wahl des Erben eingeräumt werden, um Verschwender und Untüchtige zu vermeiden. Die nachgeborenen, bzw. nichterbenden Söhne sollten unter der Bezeichnung „Edelknappen“ oder „Edelherren“ mit dem Prädikat „Hochwohlgeboren“ zwischen Adel und Bürgerstand stehen, „selbst noch als Gentry zum historischen Adel gehörig“, aber ohne Verdienst oder Grundbesitz unfähig, denselben zu vererben. Für diese „Edelinge“ gälten keine Grenzen einer „Mißheirat“, bürgerliche Gewerbe stünden ihnen in vollem Umfange offen, wenn sie auf das Prädikat „Hochwohlgeboren“ verzichteten um ganz in den Bürgerstand überzutreten. Allein die nachgeborenen Söhne des Hochadels sollten mit dem Prädikat „Hochgeboren“ dem Ritterstand gleichgestellt bleiben. Durch Auszeichnung im Staatsdienst, bzw. den Erwerb eines eigenen Rittergutes würden diese nachgeborenen Söhne aber ihrerseits Standschaft und Rangtitel ihres Vaters erwerben. Soziale Herkunft, Erziehung, Bildung und gesellschaftlicher Umgang würden diesen Nachgeborenen auch dank der emotionalen Verpflichtung ihrer Väter genug Vorteile in der Karrierekonkurrenz sichern, ohne dass es dazu eines ausgesprochenen Nepotismus bedürfe.256 Allerdings sollte auch für die nachgeborenen Söhne eine Ehe mit einer adlig geborenen Frau als Bedingung für die Neuverleihung eines Adelstitels gelten, wie die erbenden Söhne zu solchen standesgleichen Ehen verpflichtet werden sollten. Stiftungen zur Versorgung Nachgeborener, wie von der „Adelsreunion“ vorgeschlagen, verwarf Stillfried ausdrücklich (mit Ausnahme für Töchterstiftungen), diese seien nur „Asyl für Müßiggänger“ – „die jüngeren Söhne unsers Standes aber müssen handeln, um zu bleiben, was wir sind.“ Ansonsten empfahl Stillfried ein Lebensstilprogramm, das die Vorschläge der „Adelsreunion“ in mäßigender Form

255 Anonymus, Vorschläge, S. 12-13. 256 Anonymus, Vorschläge, S. 18-20.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

variierte: kein „Wetteifer mit den Geldmännern unserer Zeit“, keine „englische Jokeis und Rennpferde, die jeder Banquier haben kann; nicht kostbare Kleider und äußerer Glanz, wie er auch heißen möge!“ Vielmehr ein distinguierter Lebensstil, der berechnenden Aufwand und Außendarstellung mit „Einfachheit“ verbinde: „Ein goldgestickter Rock, um bei Hofe zu erscheinen, eine geschmackvolle, aber einfache Equipage, wenige, aber gewandte Diener, in einem burg- oder nicht burgähnlichen Stammschlosse, dies sollte auch den Reichsten unseres Standes genügen.“257 Zur Bildung des neuen, zuerst an die Person des Begnadigten gebundenen, „Verdienstadels“ schlug Stillfried vor, diesen in Preußen (ähnlich den Verdienstorden in Bayern und Österreich) mit der Verleihung des roten Adlerordens zu verbinden.258 Im „dritten Grade“, d.h. in der dritten Generation, würde dieser den erblichen Adel verleihen, wenn Sohn und Enkel des ersten Besitzers ebenfalls ausgezeichnet würden. Dieser Vorschlag orientierte sich an den bayerischen Bestimmungen zum Militär- und Zivilverdienstorden und stand ja auch in Übereinstimmung mit den Verhandlungsergebnissen von Adelskommission und Kabinett, bzw. dem Adelspatent von Raumer/ Savigny.259 Eine weitere auffallende Parallele zu Raumers Auffassungen, und in scharfem Gegensatz zu den Intentionen Friedrich Wilhelms, war Stillfrieds Idee, dass nur der über mehrere Generationen erfolgreich vererbte Verdienstadel einen neuen Erbadel begründen könne, nicht aber Majoratsstiftung oder Rittergutsbesitz! Selbst der Sohn eines angesessenen Verdienstadligen sollte nur zum „Besitzadel“ zählen. Zu dieser neuen Kategorie wollte Stillfried alle bürgerlichen Rittergutsbesitzer erklären, wobei der Adelsname vom Besitztum abgeleitet würde: „Herr RR von (Rittergut) X“. Der Verdienstadel solle das „von“ dagegen vor dem eigentlichen Familiennamen tragen: „Herr v. RR auf (Rittergut)X“. Im Unterschied zum Verdienstadel würde der bloße „Besitzadel“ seinen Adel mit dem Grundbesitz verlieren. Selbst durch Majoratsstiftung dürfe der „Besitzadel“ nicht zum sich allgemein vererbenden „historischen Adel“ werden! So hoffte Stillfried eine größere ständische Geschlossenheit des preußischen Rittergutsbesitzerstandes zu erreichen, ohne dem plutokratischen (besitzständischen) Prinzip einen bleibenden Einfluss bei der Neubildung von Erbadel einzuräumen! Für diesen müssten Besitz und Verdienst über mehrere Generationen aufeinandertreffen. Damit erscheint aber Stillfrieds Adelsreformprogramm mindestens genauso, wenn auch anders restriktiv geartet, wie das von ihm kritisierte Programm der „Adelsreunion“. Stillfried wollte zudem einen Mechanismus zum Austritt aus dem Adel schaffen, den Eintritt dagegen weiterhin durch ideelle Hürden erschweren. Allerdings beschränkte sich Stillfried in seinen konkreten Aussagen auf adelsrechtliche Gesichtspunkte. Welche Aufgaben der Adel in der Gesellschaft erfüllen,

257 Anonymus, Vorschläge, S. 22. 258 Bisher war in Preußen nur mit der Verleihung des höchsten Ordens, dem Schwarzen Adlerorden, die Erhebung in den Adelsstand verbunden. 259 Vgl. oben Teil I. Kap. 3.4.5.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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was seine allgemeinen Funktionen sein sollten, das war für Stillfried dagegen kein Gegenstand der Reflektion. In der zweiten Auflage von Stillfrieds Schrift war zudem ein von unbekannten Verfassern eingesandter Kommentar über die Ausführungen Stillfrieds beigefügt.260 Diese „Drei aus verschiedenen Standpunkten aufgefaßte Beleuchtungen der ‚Vorschläge zu einer Reorganisation des Adels’“ summierten ausführlich die ganze Widersprüchlichkeit der preußischen Standes- und Adelsverhältnisse, die sich aus der gleichzeitigen, doch nicht gleichmäßigen territorialen Geltung unterschiedlicher standes- und adelsrechtlicher Bestimmungen seit 1823 ergaben: die nach dem Landrecht Teil II Titel 9 § 1 ursprünglich dem Adel vorbehaltene staatliche Funktion der Unterstützung, Verteidigung und Würdigung von Verfassung und Ansehen des Staates seien auf alle preußischen Untertanen übergegangen. Die genaue ständische Abgrenzung sei zudem durch die Gesetze von 1807 aufgehoben, bzw. durch reine Erwerbsstände ersetzt worden. Diese stünden aber in Widerspruch mit den provinzialständischen Gesetzen seit 1823, die wieder dauerhafte, nicht von Gewerbe abhängige Sozialstände definieren wollten. Doch selbst in dieser politischen Ständedefinition fände der Adel als solcher keine Berücksichtigung, sondern werde nur als Teil der Rittergutsbesitzer aufgefasst! Insofern müsse anstelle von einer Reorganisation des Adels vielmehr von einer „Creirung des Adels“, einer regelrechten Neubegründung gesprochen werden!261 Da aber die Beschneidung der Adelsrechte seit 1806 als Mittel zur Stärkung und Wiedererhebung des Staates eingesetzt wurden sei es fraglich, ob der entgegengesetzte Weg nicht konsequent eine Schwächung zur Folge haben müsse. Daraus folge, dass sich der Adel mit der Wahrung seiner „conventionellen Vorrechte“, die „durch Sitte und Meinung allein festgestellt, erhalten und verloren“ werden könnten, begnügen müsse. Eine Wiederherstellung politischer Vorrechte wäre eine Reprivilegierung, eine Bewegung auf überwundene Rechtszustände hin, die aber nicht mehr aufleben könnten. In dieser Ausgangslage bliebe allein ein Verfahren zu einer politischen Stärkung des Adels: der Anschluss an die Bestrebungen nach einer reichsständischen Verfassung!262 Um das Beamtenregiment zu überwinden, Kenntnisse „en gros“ an den König heranzutragen, seien nur „Reichsstände“ geeignet. Die Provinzialstände seien dagegen unhistorisch (!) und stünden unter der Kontrolle der obersten Beamten! Der Adel müsse deshalb wie einst „Führer im Kriege jetzt Führer in der staatlichen Entwicklung“ werden, um statt „Standesinteressen Volksinteressen zu vertreten“! In dieser Forderung zeigten die Verfasser eine auffallend ähnliche Aufgabenzuschrei-

260 Stillfried spricht im Vorwort von „ungenannten Verfassern“, die über die „Verlagshandlung“ ihre „Drei aus verschiedenen Standpunkten aufgefaßte Beleuchtungen der ‚Vorschläge zu einer Reorganisation des Adels’“ zugesandt hätten, vgl. in: Anonymus, Vorschläge, S. 23-49. 261 Vgl. Anonymus, Vorschläge, S. 25-27. 262 Vgl. Anonymus, Vorschläge, S. 30-31.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

bung, ja selbst Terminologie, wie Welckers Ausführungen im Staatslexikon. Die Einführung einer (reichsständischen) Verfassung könnte dem Adel in Preußen sogar eine Stellung gewinnen, die er – anders als der englische, österreichische, russische, oder auch der Adel der westlichen Reichsterritorien – nie gehabt habe: die preußischen Monarchen hätten „nie die Fesseln“ gefühlt, wie der russische oder österreichische Kaiser, eben weil preußischer Adel und Geistlichkeit „seit fast vierhundert Jahren“ keine bedeutende Macht besessen hätten. Und als Preußen seine Erwerbungen an den Rhein und in Zentraldeutschland ausdehnte, da war dort die Bedeutung von Adel und Geistlichkeit ebenfalls gerade vernichtet worden.263 Die Bildung eines Oberhauses nach britischem Vorbild sei daher nicht möglich, wegen der relativen Bedeutungslosigkeit der Standesherrschaften, dem unaufhörlichen Wechsel des Grundbesitzes und dem Fehlen einer Geistlichkeit. Dagegen fände Preußen seine stärksten Stützen seit jeher in „Waffen“ und „Geist“. In scharf antikapitalistischer Rhetorik erklärten die Verfasser diesen „ideellen“ Gehalt zur eigentlichen gesellschaftlichen Aufgabe des Adels: dem neuen Prinzip des Geldreichtums, dieser „bedrückendsten“ Form der Herrschaft“, entgegenzutreten, dem Geld als Wert aller Dinge die „Ehre“ entgegenzuhalten. Wie aber alternativ die neue politische Rolle und Stellung des Adels dann in Preußen eingerichtet werden solle, darüber schwiegen sich die Verfasser aus. Praktisch plädierten sie abweichend von den Stillfriedschen Vorschlägen lediglich dafür, dass auch der „Grund-Adel“ (also der „Besitz-Adel“ im Sinne Stillfrieds) nach einigen Generationen automatisch in den „Geburts-Adel“ übergehen solle. Dagegen könnten Bestrebungen, wie sie sich in „Adelsreunionen“ und „Adelszeitung“ äußerten, und die auch kriminalrechtlich ahndungswürdig seien, von keinem Feind des Adels besser erfunden werden!264 Fazit: die Ausgangslage für Adelsvereinsprojekte im Vormärz Diese so heterogenen, wie zu einem erheblichen Teil auch differenzierten Reaktionen in der publizistischen Öffentlichkeit auf die veröffentlichten Programmpunkte der „schlesischen Adelsreunion“ sind nicht nur Beleg der stark emotionalisierten politischen Situation des Vormärz. Sie zeigen auch, dass der Adel auch außerhalb seiner Kreise noch keineswegs pauschal als politischer Faktor „abgeschrieben“ war, dass er noch auf politische Ordnungsvorstellungen und gesellschaftliche Leitbilder setzen konnte, die ihm in einer breiteren Öffentlichkeit Handlungsräume eröffneten. Abgesehen von den extremen Positionen des politischen Spektrums war doch ein übergreifender Wunsch nach Verständigung spürbar. Teile des adelsfreundlichen liberalen Bürgertums sahen sich deshalb vor allem durch die rein „introspektiven“

263 Vgl. Anonymus, Vorschläge, S. 42-43. 264 Nach einer Anmerkung waren solche Vereinigungen nach dem Edikt v. 20. Oktober 1798 (Verhütung und Bestrafung geheimer Verbindungen), wie nach der Verordnung vom 6. Januar 1816 durch Festungsstrafe bedroht, Vgl. Anonymus, Vorschläge, S. 33.



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Aspekte der projektierten Adelsvereinigungen provoziert, ja bedroht. Selbst eine grundsätzlich adelsfreundliche Stimme wie die Welckers, der ja ausdrücklich eine erneuerte politische Rolle des Adels in Staat und Gesellschaft wünschte, konnte in Adelsvereinen nur reaktionäre, und damit zukunftslose Intentionen erkennen. Die Forderungen gingen vielmehr auf stärkere Öffnung und vor allem: Kooperation mit dem Bürgertum! Auf diese Stimmungslage suchten einzelne Adelsvertreter wie Stillfried einzugehen, wenn sie forderten, dass eine adlige Reorganisationspolitik keinesfalls als „Kriegserklärung“ an das Bürgertum wirken dürfe; deshalb seien programmatische Forderungen nach einer politischen Beeinflussung der Öffentlichkeit durch adelsexklusive „Standesvertretungen“ zurückzuweisen. Noch war also vieles in der politischen Meinungsbildung über die Stellung und Bedeutung des Adels zwischen Konservativen und Liberalen im Fluss, noch nicht abschließend geklärt, wurden jenseits der Parteigrenzen mögliche Kontaktflächen, Interessenüberschneidungen und Kooperationsfelder gesucht. Dies war keine schlechte Ausgangslage für einen erneuten Anlauf zu einer adligen Verständigung über die eigenen Ziele und Wünsche in der sich wandelnden Gesellschaft – solange sich diese mit Handlungszielen verbinden ließen, die über den eigenen Kreis hinausgingen. Wie aber verhielten sich gegenüber dieser Aufgabe diejenigen Adligen, die persönlich bereit waren, in die Idee einer inner-adligen Kooperation über die vielfältigen Landschaftsgrenzen hinweg zu investieren? Konnte ihnen in dem stark gewandelten Umfeld nun gelingen, was um 1820 noch durch die regionalen traditionsbeharrenden Kräfte und Erinnerungsressourcen konterkariert wurde: eine zukunftsfähige Reorganisation, die materielle und ideelle Eigeninteressen mit verallgemeinerbaren Gesellschaftszielen zu verbinden wusste? Es war die Adelszeitung gewesen, die auf der relativ breiten geographischen wie personalen Basis ihrer adligen Leserschaft den seit der „Adelskette“ ehrgeizigsten Versuch dazu wagte.

4.2.4. Das Projekt eines „Adelsvereins“ durch die „Adelszeitung“ 1841 Dass gegen 1840 eine regelrechte Renaissance adelspolitischer Auseinandersetzungen einsetzte, wie es sie seit der Restauration, so z.B. in Preußen vor allem nach 1823, nicht mehr gegeben hatte, ist nicht nur von Stillfried zur Kenntnis genommen worden: die adelspolitischen Stellungnahmen und Druckschriften seien kaum mehr zu übersehen, hatte er in seinen „Vorschlägen“ konstatiert. Wann also, wenn nicht jetzt konnte der Zeitpunkt für eine adligen Selbstorganisation günstiger sein? Eine solche, wie schon bemerkt, war als Pendant zu einer staatlich initiierten Adelsreorganisationspolitik schier unumgänglich, damit die staatlichen Organe überhaupt über Ansprechpartner verfügen konnten, die in den zerschlagenen, bzw. völlig neudefinierten und umgeformten ständischen Institutionen (z.B. der Rittergutsbesitzer in Preußen) längst nicht mehr bestanden. Auch Adolf v. Rochow hatte eine solche adlige Selbstorganisation in seiner inneradministrativen Denk-

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schrift von 1840/41 als Voraussetzung und Grundlage einer staatlichen Adelspolitik als nötig erachtet. Ein solcher Wille zu einer Adelsorganisation neuen Typs schlug sich schließlich in den Beiträgen und Einsendungen der „Adelszeitung“ nieder. Hier war es nicht mehr der exklusive Kreis des hohen und mediatisierten Adels wie bei der Kettengründung in Wien 1815, der sich zu Wort meldete, sondern der vielfältige Kleinadel aus fast allen deutschen Landschaften.265 Seit dem Winter 1840/41 suchte die Redaktion der „Adelszeitung“ diese heterogenen Vorschläge und Programme in einem sichtenden Vergleich zu ordnen, und für die Vorbereitung einer Vereinsgründung aufzubereiten.266 In ihrem Aufruf vom 5. Dezember 1840, Vorschläge zu einem Versammlungsort und Zeitpunkt für eine „Urversammlung“ einzusenden, konnte die Redaktion ihren Lesern mitteilen, dass sich bisher aus Preußen fünf, aus Sachsen vier, aus Bayern und Hannover jeweils zwei, aus Österreich und Hessen jeweils eine Person zu einem Beitritt in einen solchen Verein bereit erklärt hätten. Schließlich setzte die Redaktion der „Adelszeitung“ das Gründungstreffen für den Adelsverein auf den 27. Juli 1841 in Leipzig fest. Das Protokoll mit samt der Teilnehmerliste dieses Treffens hat sich in gedruckter Form erhalten und gibt so einige Details über dieses sonst völlig unbekannt gebliebene Adelsvereinsprojekt preis. Selbst die „Adelszeitung“ sollte sich in Folge vornehm ausschweigen.267 Die Teilnehmer der „Urversammlung“ des Adelsvereins Zu dieser „Urversammlung“ erschienen schließlich 28 Personen. Ludwig v. Alvensleben war als Vertreter der „Adelszeitung“ der 29. Teilnehmer, der auch das Protokoll verfasste. Außer diesen 28 Gästen hatten sich schriftlich vier Personen „zum Beitritt speziell bereit erklärt“.268 Ausgerechnet Fouqué ließ sich durch eine „ehrerbietige Anzeige“ kurzfristig entschuldigen – seine „nahe bevorstehende Umsiedlung nach

265 Vgl. die Einsendungen und Programme in der „Adelszeitung“, oben Kap. 4.1.5. 266 „Ein Wort der Redaktion an die Leser“, vgl. „Zeitung für den deutschen Adel, Nr. 98, Sonnabend 5. Dezember 1840, S. 389-390. 267 Dieses Protokoll wurde unter dem Titel „Programm der Adelsreunion in Schlesien und Urversammlung und Statuten des Adels-Vereins“ gemeinsam mit dem oben behandelten „Adelsreunionsprogramm“ 1845 in Hamburg (Buchdruckerei Langhoff) abgedruckt. Auf dem Titelblatt des Drucks ist die Anmerkung beigefügt: „Aus den sächsischen Vaterlandsblättern statt handschriftlicher Mittheilung abgedruckt“. Womöglich wurde nicht nur das Programm der Adelsreunion in den „Vaterlandsblättern“ veröffentlicht, sondern auch das Protokoll und die Statuten des Adelsvereins. Das Protokoll der Adelsvereinsgründung, unterzeichnet von L. v. Alvensleben, datiert Ende August 1841, nimmt die Seiten 13-37 dieses Druckes ein. 268 Diese waren Karl v. Oertzen auf Marxhagen in Mecklenburg, der Klostervoigt v. Posern auf Schloß Pulsnitz in Sachsen, der Vizepräsident der ersten sächsischen Kammer Herr v. Carlowitz auf Raundorf bei Dippoldiswalde, und ein Herr v. Prittwitz, preuß. Leutnant und Adjutant in Neisse.



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Berlin“ mache ihm diese Reise von Halle nach Leipzig unmöglich.269 Von diesen 28 Anwesenden kamen mindestens zehn aus Preußen und fünf aus Sachsen. Neben dem fleißigen Beiträger zur „Adelszeitung“ Uso v. Künßberg-Thurnau waren aus Franken noch drei v. Brockdorff anwesend. Diese starke Präsenz des fränkischen Adels ist besonders auffällig und belegt, wie sehr dieser Adel an adelsreformerischen und adelsorganisatorischen Fragen interessiert war.270 Dabei orientierte sich die fränkische Adelslandschaft, seitdem sie Ende des 18. Jahrhunderts für kurz Zeit unter preußische Herrschaft gekommen war, in auffälliger Weise an den dortigen Adelsverhältnissen.271 Schon 1837 hatten die Franken das preußische Autonomiestatut für den

269 In dieser „Anzeige“ trug er zugleich noch einmal sein persönliches Anliegen an dem Verein vor: „Die Befestigung und Neubelebung des Adelsstandes beruht allerdings großentheils mit auf Wiedererwerbung und Sicherung selbständigen Familienvermögens, ganz vornehmlich durch ländlichen Grundbesitz und somit festes Anknüpfen an dne Grundstand aller Stände, den Landbauernstand“. Zugleich legte er der Versammlung „[...] das Fortbestehen der Adelszeitung noch recht dringend ans Herz, nicht etwa, weil er davon Redacteur ist, wohl aber weil das Eingehen dieses Unternehmens unseren Gegnern die unter dem Panier des Zeitgeistes wider alles Bestehende ankämpfen, eine nicht zu verachtende Angriffswaffe in die Hände geben würde“. Diese „Anzeige“ war auf den 24. Juli 1841 datiert, vgl. Ebd., S. 27. 270 Die Künßberg waren zudem mit dem weiteren fränkischen Geschlecht der v. Giech eng verwandt, deren Sproß Carl v. Giech in den 1850er Jahren mit einem familienintern vollzogenen Adelsreformprogramm großes öffentliches Interesse bis nach Preußen erweckte, vgl. unten Kap. 4.3.3. 271 Franken war nach dem Thronverzicht des Markgrafen Carl Alexander 1792 vorübergehend an die preußische Hauptlinie gefallen. Für die fränkische Reichsritterschaft wurde das adelspolitische Programm des sogenannten „Publikandums“ vom 12. Juli 1796 bis 1806 maßgeblich, nach welchem der Adel durch Unterwerfung und Huldigung seine bisher hochgetragene Reichsfreiheit aufgeben musste, seine ständischen Privilegien jedoch bestätigt bekam, diese zugleich aber nach preußischostelbischen Begriffen neu definiert wurden: der fränkische Adel wurde gewissermaßen tendenziell „prussifiziert“. Das Ziel dieser wesentlich durch den damaligen Kabinettsminister und späteren Staatskanzler Hardenberg vorangetriebenen Politik war die Bildung des „geschlossenen Landesstaates“. Das zentrale Werkzeug dieser Politik war ein rechtlich-sprachliches: sie versuchte die neue, oktroyierte Souveränität der Krone in „mühsam verkrampfter Rekonstruktion alter Gerechtsame“ nicht eigentlich durchzusetzen, als vielmehr zu „revindizieren“, also „rechtshistorisch“ einzuklagen. Die Reichsritter wurden ganz nach nord-östlichem Muster zu „Gutsbesitzern“, die fränkische „Reichsritterschaft“ zur einfachen „fränkischen Ritterschaft“ umdefiniert. Die besonderen Voraussetzungen nach der erst kürzlich erfolgten „Übernahme“ der fränkischen Territorien erlaubte es Hardenberg zudem, konsequenter als in den alten Provinzen die ständepolitischen Implikationen des gerade erst eingeführten Allgemeinen Landrechts umzusetzen. Und die generelle Tendenz der monarchischen Politik nach dem Tode Friedrichs II., nicht nur den Zugang Bürgerlicher in den Rittergutsbesitz zu erleichtern, sondern diese auch bei Nobilitierungen stärker zu berücksichtigen, beantwortete Hardenberg mit dem Versuch, die angesessenen Rittergutsbesitzer, gleich ob adlig oder bürgerlich, als eine Körperschaft zu behandeln. Nach 1806 geriet der fränkische Adel unter die bayerische Adelspolitik der Konstitutionen von 1808 und 1818, was eine weitere ständepolitische „Zersprengung“ des Standes nach sich zog, die in Bayern, anders als in Preußen, nicht durch eine gutswirtschaftliche Arrondierungspolitik wettgemacht werden konnte. Stein hatte diese Aufsprengung der alten Reichsritterschaft ausdrücklich begrüßt, vgl. Hanns Hubert Hofmann, Adelige Herrschaft und souveräner Staat. Stu-

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rheinischen Adel zum Anlass genommen, eine ähnliche Organisationsform zu entwerfen.272 Aus Hessen kam Karl Freiherr v. Schlereth, hessischer Kammerherr, vormaliger Regierungsrat und Direktor der kurfürstlichen Leihbank in Fulda, und aus Mecklenburg waren die Reichsfreiherrn Julius und Albrecht Maltzahn sowie Bernhard v. d. Lancken auf Galenbeck zugereist. Aus Thüringen, nahe der bayerischen Grenze, kam Karl Marschall Greiff, Gutsbesitzer in Erlebach. Und aus Österreich war Graf Joseph August Graf v. Seilern und Aspang, k.k. Kämmerer, Oberst-Landküchenmeister in Kärnten, Rat und Lehnrechtsbeisitzer in Ollmütz, sowie Beisitzer mehrerer Komitatstafeln in Wien dazugestoßen. So liest sich die Teilnehmerliste recht eindrucksvoll:273

dien über Staat und Gesellschaft in Franken und Bayern im 18. und 19. Jahrhundert, München 1962, S.  163-209. Das „Publikandum“ von 1796 Ebenda, S. 181f; zur „Umdefinition“ des reichsritterlichen Adels Ebd., S. 207. Siehe auch S. 379, 385-402, bes. S. 402f; S. 473. 272 Entsprechende seit 1837 laufende Bestrebungen unter der fränkischen Reichsritterschaft scheiterten allerdings am Widerstreben König Ludwigs I., vgl. Gollwitzer, Die Standesherren, S. 326. 273 Diese waren im Einzelnen: 1. Freiherr Guretzki Cirnitz, königl. Preuß. Assessor des Kammergerichts und Rat des Stadtgerichtscollegii in Berlin 2. Karl Freiherr von Schlereth, kurfürst. Hess. Kammerherr, vormal. Regierungsrat und Director der kurfürstl. Leihbank und des Leihauses in Fulda 3. Julius Maltzahn, Reichsfreiherr zu Wartenberg und Penzlin, auf Klein-Luckow bei Teterow in Mecklenburg 4. Albrecht Maltzahn, Reichsfreiherr zu Wartenberg und Penzlin, Erbherr auf Pentsch bei Wahren in Mecklenburg 5. Graf Arthur v. Scherr-Thoß in Breslau 6. Baron Uso v. Künßberg-Thurnau, Dr. jur. und Besitzer der Patrimonialgerichte Thurnau, Obersteinbach, Westerbergsreuth, sowie des standschaftsrechtlichen Ritterguts Ermreuth, auf Obersteinbach bei Lengefeld, Mittelfranken 7. Friedrich de la Motte Fouqué, königl. Preuß. Major d. Cavallerie a. D. und Ritter 8. Graf Joseph August Graf v. Seilern und Aspang, k.k. Kämmerer, Oberst-Erb-Landküchenmeister in Kärnthen, Fürst.-erzbischöfl. Ollmützischer Rat und Lehnrechtsbeisitzer, Beisitzer mehrerer Comitatsgerichtstafeln in Wien 9. Graf Carl v. Hülsen, Danzig 10. Graf Görz-Wrisberg, k. preuß. Leutnant und Regimentsadjudant im 31. Inf-Reg. In Erfurt 11. Freiherr Fritz v. Hutten, k. baier. Kämmerer und Major à la suite in Würzburg 12. Graf Wackerbarth auf Wackerbarthsruhe bei Dresden 13. Kammerherr v. Rochow in Dresden 14. Graf Friedrich v. Brockdorff, k. baier. Kämmerer 15. Wilhelm v. Brockdorff auf Schney und Thierstein in Oberfranken 16. Alexander v. Brockdorff auf Schney und Thierstein, kön. Dänischer Kammerjunker und Oberleutnant im Leibregiment der Königin 17. Bernhard v. d. Lancken, Kammerjunker und Erbherr auf Galenbeick 18. A. B. Levin v. Tschirsky und Bögendorff, Kammerherr Sr. Königl. Hoheit des Großherzogs v. Sachsen, in Eisenach 19. Freiherr Wilhelm Grote, Großkreuz vom Danebrog, Großcomthur des großherzgl. Oldenburg. Hausund Verdientsordens, k. preuß. Johanniter-Ritter in Eutin



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viele der Anwesenden waren Kammerherrn, nicht nur die erwähten Schlereth und Graf Seilern, sondern auch ein Freiherr Fritz v. Hutten als bayerischer Kämmerer, ein v. Rochow als Kammerherr aus Dresden; Marschall Greiff war großherzoglich badischer Kammerherr, einer der Brockdorffs (Graf Friedrich) bayerischer Kämmerer, ein anderer (Alexander v. Brockdorff, auf Schney und Thierstein) war königlicher Kammerjunker in dänischen Diensten, dazu kam ein A. B. Levin v. Tschirsky und Bögendorff als Kammerherr des Großherzogs v. Sachsen-Eisenach, und der Mecklenburger Kammerjunker Bernhard v. d. Lancken. Unter denjenigen, die sich ausdrücklich zum Vereinsbeitritt bereit erklärt hatten war zudem der Vizepräsident der ersten sächsischen Kammer, Herr v. Carlowitz auf Raundorf bei Dippoldiswalde. Es war also vor allem hofnaher Adel der hier zusammenkam – was angesichts des Vorhabens nicht verwundert. Es ist anzunehmen, dass diese Kammerherren in ihrer „Scharnierfunktion“ zwischen Hofgesellschaft und landsässigem Adel entweder im Auftrag ihrer Landesherren, oder aufgrund ihrer Stellung für adelsorganisatorische und –institutionelle Fragen besonders sensibilisiert und motiviert, an den Kommunikationsplattformen „Adelszeitung“ und „Adelsverein“ ein herausragendes Interesse entwickelten. Die Verhandlungen der „Urversammlung“ über Ziele und Inhalt des Adelsvereins Im Vorfeld des Treffens hatten verschiedene der Anwesenden bzw. der sich zu einem Vereinsbeitritt bereit erklärenden Personen schon eigene zum Teil sehr ausführliche Eingaben und „Beilagen“ über die genauere Ausgestaltung des Adelsvereins eingereicht.274 Die in diesen Eingaben benutzten Formulierungen, wie z.B. „Altstand“ als Synonym für „Adel“, belegen, wie sehr die historisch-etymologisch „abgeleiteten“ Begriffsbildungen der „Adelszeitung“ in diesem Kreis schon Schule machten. Auf Grundlage dieser Einsendungen verhandelte die Versammlung zunächst über die generellen Aufgaben und Modalitäten des Vereins. Hauptziel des Vereins sei die moralische und geistige, und „in natürlicher Folge“ davon auch die materielle Stärkung des Adels. Die in seiner Eingabe geäußerte Ansicht des Barons Crousaz-Chexbres, der

20. Graf v. Klinkowström, Oberstleutnant a. D. in Korklack bei Gerdauen 21. Karl Marschall Greiff, großherzogl. Bad. Kammerherr und Gutsbesitzer in Erlebach bei Coburg 22. Baron v. Crousaz-Chexbres in Erfurt 23. Adolph v. Wernsdorff auf Salzbach, Ritter d. St. Annenordens 24. August v. Wernsdorff auf Popelke, Ritter des St. Johanniterordens 25. Ludwig v. Wernsdorff auf Truntlack, Rittmeister a. D. u. Ritter d. Eisernen Kreuzes 1. u. 2. Klasse 26. Baron Leo v. Heyking auf Löschken, Ritter des Eisernen Kreuzes und des Schwertordens 27. Oswald v. Schönberg auf Ober-Reinsberg bei Rossen in Sachsen 28. Utz v. Schönberg auf Purschenstein bei Freiberg in Sachsen 274 Diese Eingaben und Beilagen sind in dem genanten Druck als umfangreiche Fußnoten erhalten. So u.a. die Eingabe des Baron Crousaz-Chexbres aus Erfurt (S. 17-20 des Drucks), die des Freiherrn v. Schlereth aus Fulda (S. 20-23 des Drucks), sowie die gemeinsam gezeichnete Eingabe der Mecklenburger, der Reichsfreiherrn zu Wartenberg und Pentzlin Otto Julius Maltzahn auf Klein-Luckow bei Teterow und Albrecht Maltzahn auf Pentsch bei Wahren, sowie Carl v. Oertzen auf Marxhagen.

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Verein solle den Adel als „Corporationsstand“ aufrechterhalten, wurde von der Versammlung verneint.275 Der Adel solle als Stand in der öffentlichen Meinung allein wieder besser zur Geltung gebracht und die allgemeinen Angriffe durch Taten widerlegt werden. Eine „Verwahrung“ der Adelsrechte durch den Verein gegenüber der landesherrlichen Bürokratie und gegenüber Städter und Bauern, wie sie wiederum Crousaz-Chexbres vorschwebte, wurde ebenso abgelehnt, wie die von diesem geforderte Verteidigung der Lehnsverhältnisse als „zu speziell“. Desgleichen gelte für die von Crousaz-Chexbres geforderte Unterstützung von Fideikommiss- und Majoratsstiftungen, die nicht unter persönlichem Zwang, und auch nicht gegen die Landesgesetze erfolgen dürften. Aus demselben Grund wurde dessen Forderung zurückgewiesen, dass nur solche „Unadligen“ Adelsgüter erwerben dürften, die über eine „Ehrenattest“ verfügten und zugleich ihren „Städter- und Dörfereigenschaften“ (d.h. Gewerbe, Geschäft, Dienst) entsagten, sowie einen „Adelsbrief“ kauften, dessen Gebühren wiederum zu 3/4 oder 2/3 an die in den Staaten einzurichtenden Adelskassen fielen. Der Vereinsname solle schlicht „Adelsverein“ lauten und auch offen benutzt werden, doch sei ein „äußeres Zeichen“ wenigstens in der Anfangszeit zu vermeiden, um keine Angriffe zu provozieren. Aus dem gleichen Grund werde auch die Bezeichnung „Orden“ vermieden, da dieser zu leicht der Lächerlichkeit preisgegeben sei. Eine möglichste Geheimhaltung, wie sie Baron Crousaz-Chexbres forderte, wurde ausdrücklich von der Versammlung als kontraproduktiv verworfen. Der Verein sollte sich aber (wie schon sein früher Vorläufer der „Kette“!) entschieden aus politischen (Tages)Fragen heraushalten – die weitergehende Forderung von Crousaz-Chexbres nach einer völligen politischen Enthaltsamkeit der adligen Vereinsmitglieder von allen politischen Gegenständen der Städter/Bürger bzw. Bauern, wurde dagegen von der Versammlung als undurchführbar gehalten. Sein Vorschlag einer ausdrücklichen „Ergebenheit und Anhänglichkeit an den jeweiligen Landesherrn“ wurde von der Versammlung hingegen mit einem „unbedingten Ja“ unterstützt. Das Hauptaugenmerk sei jedoch auf die Erziehung der Jugend und auf die Erhaltung des Grundbesitzes zu richten. Der Ankauf von adligem Grundbesitz durch den Verein nach einer Idee von Crousaz-Chexbres sei zwar wünschenswert, aber nicht durchführbar. Ebensowenig die von diesem geforderte Einrichtung eigener adliger Militärkorps, in welchen der junge Adel „ohne Gefahr der Entsittlichung“ durch „zum Theil dem Pöbel entsprossene Soldateska“ dienen könne.276

275 Bei diesem Baron Crousaz-Chexbres handelt es sich um Julius Karl August Heinrich v. C., dem Sohn eines pensionierten Hauptmanns und westfälischen Forstinspektors. Sein Großvater war 1742 Reichfreiherr und königlich polnischer und kurfürstlich sächsischer Hofrat geworden. Ursprünglich stammte die Familie aus der Region Freiburgs in der Schweiz. Vgl. Leopold v. Zedlitz-Neukirch, Neues preußisches Adelslexikon, S. 477f. 276 Über zwanzig Jahre später tauchte hier also noch einmal in variierter Form die Idee des Grafen Dönhoff-Hohendorff von 1818 auf! Vgl. oben Teil I. Kap. 2.4.3.



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Drei der Teilnehmer aus Mecklenburg, die anwesenden Reichsfreiherrn zu Wartenberg und Pentzlin, Otto Julius Maltzahn auf Klein-Luckow bei Teterow und Albrecht Maltzahn auf Pentsch bei Wahren, sowie der nicht persönlich erschienene Carl v. Oertzen auf Marxhagen hatten eine gemeinsame Eingabe eingereicht, in der sie vor allem um eine praktische Vereinsaufgabe besorgt waren, damit der Verein einen „Mittelpunct habe, der ihm einen Halt gebe“. Dazu brauche der Verein eine Tätigkeit, an der die Mitglieder ihre Gesinnung praktisch prüfen könnten: am besten sei dazu die Sorge um das Wohl Dritter geeignet, denn dies erfordere Opfer und Selbstverleugnung und entspreche der Übung christlicher Nächstenliebe. Stiftungen von Anstalten für Kranke, Waisen, Schwache und vor allem für entlassene Sträflinge wären dazu am besten geeignet. Dann erst dürfe die Gründung von Ritterakademien und die Versorgung unbemittelter Töchter im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen – die Pflege des Geistes habe dem leiblichen Wohl vorzugehen. Dabei war für die Mecklenburger, im Unterschied zu manchen in der „Adelszeitung“ wie von den Anwesenden geäußerten Ansichten, die Zahl der Ahnen als Beitrittskriterium völlig unerheblich, allein die Heirat mit einer Unadligen verwirke das Stimmrecht (jedoch nicht die Teilnahme) im Verein! Dieser Vorschlag einer spezifischen Vereinstätigkeit fand aber in den allgemeinen Erörterungen keine weitere Berücksichtigung. Damit verblieben auch diese Grundlinien eines Adelsvereinsprogramms in einer rein defensiven Position – wie schon in den überwiegenden Beiträgen der Adelszeitung wurde kein Versuch unternommen, auf die tagespolitischen Tendenzen und Bedürfnisse der Zeit einzugehen, ja überhaupt unter Anknüpfung an Angebote gemäßigt liberal-bürgerlicher Vertreter wie Welcker ideelle und handlungspraktische Brücken zu schlagen, die eigene Reorganisation bewusst in ein gesamtgesellschaftliches Konzept einzubinden. Für das weitere konkrete Vorgehen einigte man sich allein auf eine Kostenumlage für die bisher erfolgten Ausgaben; die Mitglieder sollten vorläufig 5 Taler in Gold als Pauschquantum an Alvensleben für Porto, Druckkosten etc. abführen. Desweiteren wurde Alvensleben beauftragt, vorläufig als Sekretär des Vereins die Geschäfte zu führen. In Übereinstimmung mit einer Forderung von Crousaz-Chexbres wurde die Einrichtung eines „Standesarchivs“ zur Führung der Vereinsprotokolle und Matrikeln befürwortet. Einen Vorschlag des Freiherrn v. Schlereth aufgreifend, wurde die „Adelszeitung“ als Vereinsorgan bestimmt. An de la Motte Fouqué erging von der Versammlung der Auftrag, nach seiner Übersiedelung nach Berlin den preußischen König über den Adelsverein zu informieren und dessen Genehmigung zu erwirken. Dass diese Genehmigung erfolgen würde, daran hatte die Versammlung keinen Zweifel. Nach dieser Zulassung in Preußen könnten auch andere „Staatsangehörige“ diesem preußischen Verein beitreten, bzw. um Genehmigung bei ihren Landesherren nachsuchen. Bei der nächsten Generalversammlung solle außerdem entschieden werden, ob eine Genehmigung beim Deutschen Bund beantragt werden solle. Alvensleben sollte die Vereinsstatuten (so kurz als möglich) nach dieser allgemeinen Aussprache entwerfen, sie zur Kenntnisnahme an die Teilnehmer versenden, und

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innerhalb von drei Wochen deren Anmerkungen erwarten dürfen. Nach einer weiteren eventuellen Überarbeitung durch Alvensleben sollten diese dann wieder an die Teilnehmer versandt werden, damit diese über ihre endgültige Mitgliedschaft im Verein entschieden. Die Mitglieder würden mit Namensunterschrift und Wappenhinterlegung beitreten. Dann sollte eine weitere Generalversammlung stattfinden und ein Direktorium gewählt werden. Der Entwurf der Vereinssatzung durch Ludwig v. Alvensleben Nach diesem Treffen vom 27. Juli 1841 arbeitete Ludwig v. Alvensleben auftragsgemäß die vorläufigen Statuten des Adelsvereins aus.277 Als Ziele wurden in Übereinstimmung mit dem erzielten Verhandlungskonsens die moralische und die materielle Kräftigung des Adels, eine Stärkung adliger Positionen in der öffentlichen Meinung, aber keine eigentliche politische Betätigung genannt. Als Eintrittskriterium wurde jede Form einer Adelsprobe zurückgewiesen. Neue Mitglieder würden auf Vorschlag von Vereinsmitgliedern und nach ihrer moralischen Prüfung durch die Vereinsdirektion aufgenommen. Dazu sollte es Ehrenmitgliedschaften für Fürsten regierender Häuser und für Adelsdamen geben, die zwar kein Stimmrecht erhielten, aber von den Beschlüssen in Kenntnis gesetzt würden. Neben dem freiwilligen Austritt würden „Kriminaluntersuchungen“ sofort zu einer ruhenden Vereinsmitgliedschaft führen, Verurteilungen den Ausschluss nach sich ziehen. Darüber hinaus hätte das Vereinsdirektorium das Recht, über ausschließende Konsequenzen von „ehrverletzenden oder kränkenden“ Handlungen der Mitglieder zu befinden. Der Mitgliedsbeitrag wurde auf 12 Taler jährlich festgesetzt. Und die nächste „Generalversammlung“ wurde für den 15. April 1842 in Leipzig avisiert. Doch es kam nicht mehr zu einem weiteren Treffen des „Adelsvereins“. Die sich an die Versendung der Vereinsstatuten anschließenden Korrespondenzen scheinen ernüchternd schwach ausgefallen zu sein, und im Januar 1842, wenige Monate vor dem geplanten Treffen der ersten „Generalversammlung“, musste Ludwig v. Alvensleben in einem Beitrag der „Adelszeitung“ indirekt das Scheitern dieses Projekts eingestehen, wiewohl er das Projekt noch nicht aufgeben wollte.278 Ein Graf Friedrich Hochenegg habe den Erlös eines „größeren Gedichts“ den Zwecken des Adelsvereins gestiftet, teilte er noch mit.279 Doch in den späteren Ausgaben der „Adelszeitung“ findet sich keine weitere Spur des Vereinsprojekts.

277 Diese, datiert auf „Leipzig, Ende August 1841“ sind ebenfalls erhalten in dem Druck: Programm der Adelsreunion, S. 31-37. 278 „Über den beabsichtigten Adelsverein“, in: „Zeitung für den deutschen Adel“, Nr. 1, Sonnabend 1. Januar 1842, S. 2-3. 279 Das gestiftete Gedicht des Grafen Hochenegg trug den Titel: „Elmire und Ferdinand oder der Liebe Heldenmuth“, und erschien laut „Adelszeitung“ in Leipzig bei H. Hunger.



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Das Scheitern des Adelsvereins Die Befürchtungen der Mecklenburger Teilnehmer, dass ohne eine konkrete Aufgabe dem Verein „der innere Halt“ fehle, hatten sich offenbar bewahrheitet. „KorporationsGeist“ alleine, selbst wenn sich ein solcher über die alten binnenadligen ständischen und landschaftlichen Grenzen hinweg seit 1815 ausgebildet haben sollte, reichte für eine solche geographisch übergreifende Reorganisation des Adels nicht aus.280 In den Artikeln der „Adelszeitung“ war aus diesem bitteren Resümee nach 1841 in zunehmendem Maße die entscheidende Rolle des Staates angemahnt worden. Die in den Beiträgen der Adelszeitung deutlich gewordenen Bruchlinien der unterschiedlichen Erinnerungsbestände, Traditionen und gesellschaftlichen Einbettung der verschiedenen Adelslandschaften hatte sich einmal mehr hindernd ausgewirkt. Konsensuales Vorgehen war selbst im beschränkten Rahmen eines landschaftsübergreifenden Vereines noch immer nicht möglich. Was aber bedeutete die Hoffnung auf den Staat, speziell des preußischen? Wie hatte sich das Verhältnis der preußischen staatlichen Organe, der politisch-administrativen Führung und der Verwaltung generell gegenüber den spezifischen Anliegen des Adels bisher entwickelt? Konnte von dort wirklich Rettung kommen? Wie weit trug die in der Historiographie überwiegend als äußerst „adelsfreundlich“ geschilderte Haltung der preußischen Administration tatsächlich? Wo lagen die Grenzen? Konnte von der preußischen Administration – mit ihrem adels- und ständeenthusiastischen König an der Spitze – eine Reorganisation des Adel erwartet werden, die dieser selbst offensichtlich aus eigenem Antrieb und mit den vorhandenen kulturellen, materiellen und sozialen Ressourcen kaum leisten konnte? Und wenn ja, was musste dies für den Adel bedeuten? Im besten Falle konnte das Ergebnis einer solchen staatlich-administrativen Adelsreorganisation doch nur zweideutig ausfallen. Denn schon in den Auseinandersetzungen um die Provinzialständeordnung der 1820er Jahre war deutlich geworden, dass die preußischen Verwaltungsspitzen nicht zögerten, formierend in die Grundlagen nicht nur der bisherigen politischen, sondern auch sozialen Ständeverhältnisse einzugreifen – um historische Überlieferung und Rechtsverhältnisse nur in gebrochener, teilweise artifizieller und hybrider Form zur Geltung kommen zu lassen. Adelsstützungspolitik hatte sich schon einmal als Adelsformierung erwiesen – und bedeutete Adelsformierung nicht schon Adelsreform, selbst wenn sich das politisch-administrative Verwaltungshandeln in Adelssachen

280 Dabei stieß dieses Vorhaben schon auf das Problem, dass die Vereinsstruktur eine „unadlige“ Verkehrs- und Organisationsform war: die darin geforderten „bürgerlichen“ Verfahren der Entscheidungsfindung waren dem adligen Selbstverständnis ebenso fremd, wie die auf Öffentlichkeit abstellende Verkehrsform. Wie in den Beiträgen der „Adelszeitung“ deutlich wurde, bevorzugte der Adel die Organisationsform von Orden oder Bünden, die auf der Idee nicht funktionell stratifizierter, aber exklusiver Bruderschaften aufbauten. Vgl. zu diesem Problem Stefan-Ludwig Hoffmann, Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750-1914, Göttingen 2003, S. 56 u. 86.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

selbst nicht als solches verstand? Wie hatten sich die Dinge aber seither entwickelt? Und auf Grundlage welcher Erwartungen seitens der Administration an eine preußische „Adligkeit“ fand womöglich schon eine „subkutane Adelsreform“ statt?

4.3. Administrativ-politische Adelsformierung: eine Reform des Adels ohne „Adelsreform“? Wie das Beispiel der Adelszeitung und der aus dieser hervorgehenden Initiative zur Bildung eines Adelsvereins gezeigt hatten, stieß eine landschaftsübergreifende adlige Sammlungsbewegung selbst noch um 1840 auf schier unüberwindliche Hindernisse der Verständigungs- und Synchronisierungssmöglichkeiten zwischen den unterschiedlichen historischen, rechtlichen und funktionalen Erfahrungsräumen der Betroffenen, selbst innerhalb des preußischen Staatsverbandes. Trotz der schon eingetretenen Egalisierung zwischen den verschiedenen Adelslandschaften und der dadurch beförderten Deregionalisierung des Standesbewußtseins war dieser Prozess offensichtlich noch nicht weit genug gediehen, um die jeweils widerständigen Elemente der regionalen und selbst familiengebundenen Traditionsbestände einfach überformen zu können. Deshalb richteten sich die Hoffnungen einzelner Adliger verstärkt auf eine staatliche Initiative, vor allem Preußens. Aber gerade die preußische Zentralverwaltung hatte sich ja seit der Reformepoche keineswegs als eine neutral-adelsstützende Agentur erwiesen, sondern immer auch eigene Vorstellungen über die dem Staatszweck angemessenen und dienlichsten Adelsstrukturen entwickelt und eingesetzt – wie nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um die Provinzialständeverfassung gezeigt hatten. Neben Friedrich Wilhelm IV., und nicht erst seit seiner Regierungszeit, zeigten sich verschiedene Interessengruppen in den Regierungsspitzen und der Verwaltung davon überzeugt, die staatlichen Institutionen wie die Gesellschaft nach bestimmten, utilitaristischen Gesichtspunkten formen zu müssen.281 Dabei kam der Adelsproblematik ein zentraler Stellenwert zu. Die inneradministrativen Debatten und Gutachten um eine Adelsreform in den 1840er Jahren hatten schließlich besonders deutlich hervortreten lassen, welche unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Leitbilder bezüglich des Verhältnisses zwischen Adel, Staat und Gesamtgesellschaft bei den überwiegend schon seit den 1820er Jahren aktiven Vertretern der Verwaltungsspitzen und in einem hof- und monarchennahen Kreis ausgesuchter (und historisch-ständegeschichtlich qualifizierter) Berater zur Wirkung kamen. Doch über diese mehr abstrakt-leitbildhaften Stellungnahmen des Monarchen, der Minister, der Verwaltungsbeamten und Berater in der Adelsdebatte hinaus bleibt zu beleuchten, inwiefern sich diese Leitbilder auch in langfristigen Verwal-

281 Vgl. Barclay, Frederick William IV., S. 221ff.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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tungsentscheidungen niederschlugen, und insofern die Adelsreformdiskussion nicht als Aberration, sondern als Spiegel von Handlungsansätzen, aber auch Konflikten innerhalb der zentralstaatlichen Adelspolitik zu verstehen ist. Die Justizminister Schuckmann und Mühler hatten sich z.B. für eine möglichst ausgedehnte staatliche Oberaufsicht, ja sogar systematische Einziehung der Patrimonialgerichtsbarkeit ausgesprochen – Mühler „genoss“ dadurch sogar den Ruf eines ausgesprochenen „Adelsfeindes“.282 Dieses ministerielle Interesse widerspricht der Hypothese von einer bedingungslos den adelspolitischen status quo schützenden preußischen Zentraladministration. Zwar hatte auf Anfrage König Friedrich Wilhelms III. (mit Ausnahme Schuckmanns) fast das gesamte Staatsministerium 1829 die rechtliche Qualität der Patrimonialgerichtsbarkeit als wesentliches Kriterium der Standschaft noch einmal bestätigt. Doch in Verkehrung dieser Argumentation wollte sein Nachfolger, Friedrich Wilhelm IV., schließlich die Berechtigung zur Patrimonialgerichtsbarkeit von der Qualität der politischen Standschaft abhängig machen: sie sollte allein den land- bzw. kreistagsfähigen Rittergütern verbleiben – anderen Gütern, die nicht zur „Klasse der Rittergüter“ gehörten und dennoch über diese Rechte verfügten, z.B. Erbzinsgüter oder Freigüter, sollten diese Rechte zwar nicht aktiv genommen, aber doch bei Gelegenheit (z.B. bei Anerbieten der Besitzer) entzogen werden!283 Ständische Formierung also selbst durch den „romantischen“ Monarchen, der vordergründig das „historisch Gewachsene“ schützen wollte – aber eben nicht alles um seiner selbst willen zu erhalten entschlossen war!284 Überhaupt war in den Adelsdebatten der vierziger Jahre ein ausgesprochen staatsorientiert-utilitaristisches Verständnis von Adelslegitimation seitens der Minister wie der berufenen externen Berater zu Tage getreten. Historische, geschweige denn moralisch-transzendentale Legitimationsmuster der älteren Adelsapologetik waren daraus schon fast völlig verschwunden. Selbst das zum Teil evozierte Familienideal, wie z.B. bei Raumer oder Mühler, bezog sich keineswegs mehr auf charakteristisch „alt-adlige“ Vorstellungsmuster, sondern nahm schon wesentlich das bürgerliche Muster der Kernfamilie zum Maßstab.285 Dass aus Sicht der Administration nicht „der Adel“ in allen seinen historisch überkommenen Ausformungen und Überlieferungsbeständen als schützens- und stützens-

282 Vgl. zu Schuckmanns Haltung Teil I. Kap. 2.5.1.; zu Mühlers Position seine Ausführungen in seinem Adelsgutachten von 1841 sowie die Reaktion einer „Adelsöffentlichkeit“ auf seine Person, vgl. Teil II. Kap. 3.2.1. 283 In derselben Anweisung an die Minister wurde die Administration durch Friedrich Wilhelm IV. damit beauftragt zu prüfen, inwiefern Mitgliedern einer Dorfgemeinde die Patrimonialgerichtsbarkeit, die sie z.B. nach Parzellierung eines Gutes durch Kauf erlangten, entzogen werden könnte, vgl. Schreiben des Königs an Minister v. Bodelschwingh und Uhden, Berlin 25. Februar 1848, in: GSTAPK I. HA Rep. 89, Nr. 14080 (Landtagsfähige Rittergüter allgemein, Rittergutsqualität 1827-1883), Bl. 109. 284 Vgl. zur Auswahl von Erinnerungs- und Traditionsbeständen als Merkmal „romantischen“ Denkens oben Teil I. Kap. 2.5.2. 285 Vgl. hierzu die Gutachten in Teil II. Kap. 3.2.1. und. 3.3.2.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

wert erachtet wurde, ging besonders deutlich aus dem spannungsvoll-abschätzigen Verhältnis zum rheinisch-westfälischen Adel hervor. Die durch General v. Müffling 1836 formulierte Kritik an den westfälischen Adelsverhältnissen war für erhebliche, wenn nicht sogar mehrheitliche Teile der preußischen Administration repräsentativ; insgesamt stießen diese westlichen Adelsstrukturen im ostelbischen Raum auf Unverständnis und Ablehnung.286 Die zentralstaatliche Stände- und Adelspolitik dürfe nicht im Interesse „bestimmter Familien“ arbeiten, sondern allein im Sinne des „Standes der Grundbesitzer“, bzw. des Adels als „Staatsstand“ (diese Unklarheit der begrifflichen wie rechtlichen Abgrenzungen von Adel und Gutsbesitzerstand war – wohlgemerkt – zeitgenössisch!). Diese Überzeugung teilten ansonsten stände- und gesellschaftspolitisch so völlig verschieden abzielende Akteure wie der funktions- und dienstadlig argumentierende Georg Wilhelm v. Raumer, die Spitzen des ostpreußischen „Gutsbesitzerliberalismus“ und der teils sehr standesexklusiv orientierte schlesische Adel!287 Diesen „utilitaristischen“ Ansätzen einer formierenden Standes- und Adelspolitik wohnte eine unterschwellige „soziale Kybernetik“ inne, wie eine bemerkenswerte tabellarische Aufstellung illustriert. Diese undatierte Tabelle wurde im Rahmen der vormärzlichen Adelsdiskussion im Staatsministerium womöglich durch, oder auf Initiative von Innenminister v. Rochow (um 1841?) erstellt:288 Provinzen

Sollten nach der Bevölkerung sein

folglich zu wenig

492

2.173

1.681

342

1.067

725 548

Bevölkerung

Rittergüter

Rhein

2.591.610

Westphalen

1.383.197

folglich zu viel

Sachsen

1.637.221

834

1.382

Preußen

2.310.172

2.237

1.938

Brandenburg

1.857.097

1.559

314

Posen

1.233.850

1.873 1.330

1.034

296

Schlesien

2.858.820

3.276

2.397

873

Pommern

1.056.494

2.052

886

1.166

14.928.461

12.436

12.436

 

299

2.954

2.954

286 Vgl. Müfflings Ausführungen unter Teil I. Kap. 2.4.3. und die polemische, doch inhaltlich in dieselbe Richtung zielende Ablehnung der rheinisch-westfälischen Adelsverhältnisse in Raumers Votum zur Adelkommission 1841, Kap. 3.3.2. 287 Vgl. zu Raumer dessen adelspolitisches Gutachten von 1841 in Teil II. Kap. 3.3.2.; ganz ähnlich die Argumentation der ostpreußischen Ritterschaft von 1837, die allein eine staatliche Stützung des Grundbesitzerstandes und nicht einzelner (adliger) Familien befürwortete, vgl. Teil I. Kap. 2.4.3. Aus denselben Motiven hatte die anonyme Liegnitzer Denkschrift zur Gründung eines Adelsvereins von 1841 das Organisationsmodell der „rheinischen Autonomen“ abgelehnt, vgl. Kap. 4.2.3. 288 Vgl. GSTAPK Rep. 89, Band 1, Nr. 930 (Adel und seine Neubelebung, Erhebung in den Adelsstand und Verlust des Adels 1841-1847), Bl. 4.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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Darin errechnete die Administration auf Grundlage der Gesamtbevölkerungsgröße und der Gesamtanzahl der Rittergüter in der Monarchie einen Durchschnittswert von einem Rittergut pro rund 1200 Einwohnern, und legte diesen Maßstab jeder Provinz an. Die daraus folgende Abweichung nach „oben“ (zuviel Rittergüter) oder „unten“ (zuwenig Rittergüter) in den Provinzen wurde als Problem aufgefasst: das Ost-WestGefälle ist deutlich daraus abzulesen – insbesondere Pommern und Schlesien hatten erheblich zuviele Güter auf „zuwenige“ Einwohner, Preußen, Brandenburg und Posen lagen in ihrem „Zuviel“ immerhin deutlich darunter, wogegen im Westen die Provinz Sachsen, doch vor allem Westfalen und erheblich mehr noch das Rheinland „zuwenige“ Güter gemessen an der Bevölkerung aufwiesen. Diese Darstellung belegt, in welchem Umfang die preußische Administration von der Idee beherrscht war, in langfristiger Perspektive eine gleichmäßigere Verteilung von (bevorrechtetem) Rittergutsbesitz über die verschiedenen Provinzen der Monarchie anzustreben! Vor allem fällt dabei auf, dass dafür die Bevölkerungszahl, und nicht etwa die Flächengröße der jeweiligen Provinzen zum Maßstab genommen wurde! Der Vergleich mit einer modernen Einteilung von bevölkerungsmäßig gleichen Wahlkreisen als Referenzgrundlage für eine gesellschaftliche Repräsentation drängt sich geradezu auf. Dies war alles andere, als ein „rückwärts gewandt“ oder „historischer“ Ansatz rittergutsgebundener Ständevertretung, denn die historische Standschaft hatte ja auf der Bodenbindung beruht, nicht auf der Bevölkerungsbindung von Repräsentationsrechten! Aber was bedeutete ein solcher administrativer Utilitarismus, ein solch unproklamiertes „social engineering“ für den Adel? Was musste er gewärtigen, wenn er tatsächlich seine Hoffnungen bezüglich einer adligen „Sammlungspolitik“ auf eine staatliche Initiative richtete? Von welchen Parametern, welchen Erwartungen bezüglich einer zur formierenden preußischen „Adligkeit“ war das Handeln der Administration seit 1815/23 bestimmt? Dieser Frage soll am Beispiel dreier Problemkomplexe näher nachgegangen werden, die schon Innenminister v. Dohna-Schlobitten 1810 als zentrale Handlungsfelder einer neuen Stände- und Adelspolitik thematisiert hatte:289 die Problematik einer staatlichen Aufsicht und Kontrolle des Adels – mit anderen Worten: die Aufstellung von Adelslisten (Matrikeln) oder gar die Einrichtung eines Heroldsamtes („Heraldie“). Des weiteren die schon von Dohna ins Gespräch gebrachte, in den Adelsreformdiskussionen der 1840er Jahre wiederholt thematisierte, und von Friedrich Wilhelm IV. aufgegriffene Idee neuer, wirtschaftlich flexiblerer Besitzbindungsformen zur ökonomischen wie sozialpolitischen Dynamisierung des (adligen) Großgrundbesitzes (vereinfachtes Fideikommiss und „strict settlement“). Und schließlich die Definition einer neuen „Classe von Landgüterbesitzern“ (Dohna) als „Neuem Adel“. Diese Themen wurden seit den Reformjahren zu unterschiedlichen zeitlichen Schwerpunkten verhandelt – zunächst zwischen 1820 und 1830 die Einführung von

289 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.3.4.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Adelsmatrikeln, dann im Vormärz die neuen Besitzbindungsformen, und schließlich, allerdings erst nach der Revolution 1848, die Neudefinition einer „Classe von Landgüterbesitzern“ im Rahmen der Herrenhausgründung. Welche inneradministrativen Tendenzen, Absichten und Konflikte lassen sich aus den Verwaltungsvorgängen in Betreff dieser ausgesuchten Felder ablesen? Wurden dabei neue Ordnungen, Kriterien und Kategorien aufgestellt? Deuteten sich in diesen neuen Parametern langfristige Tendenzen einer offenen oder verdeckten Formierung des Adels an? Waren diese konsensual zu erreichen oder wo zeigten sich inneradministrative Konflikte, insbesondere zwischen dem Monarchen und seinen Ministern? Letzteres wird insbesondere in der Frage der Herrenhausbildung zu berücksichtigen sein, als sich die Konzepte einer (vom König favorisierten) aristokratisierenden „composite elite“ und einer breiten Repräsentation des ritterschaftlichen Großgrundbesitzes idealtypisch gegenseitig ausschlossen. Und sind die schließlich erfolgten Entscheidungen als eine „Adelsreform ohne (förmliche) Adelsform“ zu werten, aufgrund derer die „Deregionalisierung und Egalisierung“ (Frie) – absichtlich oder unabsichtlich – befördert, und insofern eine Entsubstanzialisierung des preußischen Adels weiter vorangetrieben wurde?290

4.3.1. Eine staatliche Adelskontrolle? Der Streit um eine Adelsmatrikel Eine Adelsmatrikel für den preußischen Gesamtstaat wurde letztlich nie aufgestellt. Selbst dem erst 1855 eingerichteten Heroldsamt blieb der genaue Bestand des preußischen Adels bis zum Ende der Monarchie unbekannt. Zwar finden sich zahlreiche Akten zu Nobilitierungen und Adelsprüfungen in den verschiedenen Archiven der preußischen Provinzen. Diese Archivalien geben Auskunft über die Adelszugehörigkeit einzelner Familien, aber versagen bei der genauen Bestimmung der Adelsqualität bestimmter Individuen. Zwanzig Jahre lang erarbeitete das Heroldsamt die Grundlagen für eine preußische Adelsmatrikel, bevor dieses Vorhaben endgültig aufgegeben wurde. Ein letzter Versuch durch den Heroldsmeister Graf Stillfried von Alcantara scheiterte 1879, wobei zur Begründung angeführt wurde, die staatlichen Behörden könnten sich einer Zusammenarbeit mit dem Heroldsamt verweigern, da eine staatliche Erfassung des Adels als unerwünschte Maßregelung desselben wahrgenommen würde.291 Eine solche Befürchtung zu einem so späten Zeitpunkt muss verwundern, da sich bis zum Vormärz auch innerhalb des preußischen Adels und selbst in den Verwaltungsspitzen konsensfähig die Ansicht durchgesetzt hatte, dass eine matri-

290 Vgl. Ewald Frie, Adel und bürgerliche Werte, in: Hans-Werner Hahn/Dieter Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 393-414, hier S. 408-409. 291 Vgl. Harald v. Kalm, Der Versuch einer Statistik über den preußischen Adel für das Jahr 1880, in: Der Herold NF Bd. 13 Jg. 35, 1992, S. 247-250.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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kelartige Erfassung, ja selbst eine systematische staatliche Oberaufsicht über den Adel diesem nur zum Vorteil gereichen konnten.292 Adelsanmaßungen wie auch eine notwendigen Relegierung von „unstandesgemäß“ lebenden Adelsgenossen schienen auf diese Weise am besten zu steuern. Gleich ob in verschiedenen Memoranden zur Adelsdiskussionen der Verwaltung im Vormärz, in zahlreichen Beiträgen der Adelszeitung, in den Statuten des kurzlebigen Projekts eines gesamtdeutschen Adelsvereins oder in verschiedenen privaten Eingaben seit den Reformjahren – fast überall wurde eine staatliche Erfassung des Adels begrüßt oder sogar gefordert. Daraus ergab sich eine gegenüber dem frühen 18. Jahrhundert völlig veränderte Ausgangslage in den ostelbischen Adelslandschaften.293 Eine Initiative des brandenburgischen Adels setzt sich für eine Matrikel ein Dass keineswegs nur mehr Angehörige der staatlichen Verwaltungsspitzen sich für eine zentrale Adelskontrolle durch das Anlegen von Matrikeln stark machten, belegt u.a. das Beispiel des brandenburgischen Adels. Die Gelegenheit dazu gab der dritte brandenburgische Provinziallandtag von 1829, auf dem sich die versammelten adligen Rittergutsbesitzer dazu verabredeten, die Einführung einer Adelsmatrikel für die Kurund Neumark zu beantragen, und eine solche auch für alle übrigen Provinzen der Monarchie eingeführt wünschten. Ausdrücklich hatten die adligen Rittergutsbesitzer in ihrem Schreiben an den Minister des königlichen Hauses Wittgenstein festgehalten, dass sie dieses Anliegen auf dem Landtag selbst nicht zur Sprache gebracht hätten – vordergründig mit dem Argument, dass diese Angelegenheit ja nur den adligen Teil der versammelten Rittergutsbesitzer beträfe.294

292 Vgl. zur allgemeinen Zustimmung im Staatsministerium zur Einführung von Adelsmatrikeln in der Beratung über das „Adelsgesetz“ im Oktober 1843 oben Kap. 4.3.1. 293 Vgl. dagegen den Boykott des ersten preußischen Oberheraldsamtes unter Friedrich I. durch den brandenburgisch-preußischen Adel, siehe Teil I. Kap. 2.4.1. 294 Über diese wesentlich auf Marwitz zurückgehende Initiative berichtet Ewald Frie in seiner Marwitz-Biographie nichts, obwohl er dem Landespolitiker Marwitz zwischen 1824-1833 ein eigenes Kapitel widmet, vgl. Ders., Marwitz, S. 309-332. Das Schreiben der adligen Rittergutsbesitzer an den Minister des königlichen Hauses Wittgenstein, Berlin 25. Februar 1829, lautete: „Zur Vermeidung ungebührlicher Anmaaßungen des Adels, welche die mit diesem Stande verbundene Ehre herabwürdigen, zur Erhaltung der Ordnung in den adligen Geschlechtern, und Aufbewahrung der Nachrichten über sie, scheint uns diese Maaßregel sehr geeignet, und wir glauben daher daß es eben so sehr in dem Interesse des Landesherrn liegt, als in dem der einzelnen adligen Geschlechter, daß dieselbe auch auf die übrigen Provinzen der Monarchie ausgedehnt werde. Aus diesem Grunde erlauben wir uns Euer Durchlaucht den Wunsch auszusprechen, daß eine solche Matrikel auch für die Kur- und Neumark angelegt werden möchte. Obgleich wir sämmtlich zu den Abgeordneten der Ritterschaft auf den jetzt hier versammelten Landtag gehören, so haben wir, da diese Angelegenheit nicht die sämmtliche Ritterschaft, wie sie gegenwärtig constituiert ist, sondern nur den Adel allein betrifft, es doch nicht für passend geachtet, dieselbe auf dem jetzt hier versammelten Landtag zur Sprache zu bringen. Indem wir gehorsamst bitten, die uns zu ertheilende Resolution dem unterzeichneten GeneralLieutnant von der Marwitz zugehen zu lassen, haben wir die Ehre mit größter Verehrung zu verbleiben.“ Unterzeich-

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Der Anlass hierzu war die Aufforderung König Friedrich Wilhelms III. an den rheinischen Adel, familienhistorische Informationen an die Behörden zu geben, um dessen sozialständische Reprivilegierung vorbereiten zu können. Ausgerechnet also der Adel des Landtages, dem Marwitz als Landtagsmarschall vorstand befürwortete einen erleichterten administrativen Zugriff auf den Adel! Hatte Marwitz vor 1815 entschieden, und seither in gemäßigter Form immer wieder für eine „alternative, nichtbürokratische Staatsentwicklung auf der Grundlage ständischer Selbstverwaltung“ (Frie) gekämpft, gab er nun zusammen mit seinen adligen Standesgenossen die generationenlang heftig verteidigte Autonomie des Adels gegenüber der monarchischen Zentrale bewusst auf.295 Aus einem Mittel der Kontrolle und Unterwerfung des Adels unter die monarchische Autorität war ein erhofftes Instrument einer neuen ständischen Profilierung und Abgrenzung des Adels in der „ständisch entsicherten“ Gesellschaft geworden. Konsequent zielten die Brandenburger über den Inhalt der für das Rheinland projektierten Adelsliste hinaus: denn nicht nur Schutz vor Adelsanmaßung, sondern Grundlage einer neuen inneradligen Organisation sollte das Ziel einer Adelsmatrikel werden („Erhaltung der Ordnung in den adligen Geschlechtern“ sowie „der Aufbewahrung der Nachrichten über sie“)! Diese Initiative des kur- und neumärkischen gutsbesitzenden Adels löste eine ordnungspolitische Kontroverse zwischen dem Ministerium des königlichen Hauses und dem Innenministerium aus, die in ihren Implikationen weit über die vordergründig diskutierte Praktikabilität einer „Adelsmatrikel“ hinausging. Dabei handelte es sich eigentlich um ein Missverständnis. Wie Wittgenstein in seinem Bericht an den König vom 24. März 1829 ausführte, ging es bei der von den Märkern zitierten rheinischen Liste um keine eigentliche Adelsmatrikel, vielmehr um ein „Verzeichnis“, welches aufgrund einer königlichen allerhöchsten Ordre vom 18. Januar 1826 die Titel, Prädikate und Wappen des Adels in den Provinzen am linken Rheinufer aufnehmen sollte. Dieses Verzeichnis der Namen und Wappen der gräflichen, freiherrlichen und adligen Familien sei erst durch einen ursprünglich in der Rheinischen Zeitung veröffentlichten Aufruf des Oberpräsidenten und Staatsministers von Ingersleben allgemein bekannt und in anderen Zeitungen nachgedruckt worden. Ingersleben hatte sich zu dieser Maßnahme veranlasst gesehen, da offenbar eine Anzahl potentieller Berechtigter mit der Anmeldung in Rückstand geblieben war. In diesen Zeitungsveröffentlichungen sei oft der Ausdruck „Matrikel“ zur Bezeichnung dieser Namens- und

net v. d. Marwitz, v. Erxleben, v. Arnim, Graf v. Finckenstein, Graf v. Winterfeld, Graf v. Alvensleben, v. Bredow auf Wagnitz, v. Zychlinsky-Treppeln, v. d. Schulenburg, v. Knebel-Doebenitz, Freiherr Romberg, vgl. GSTAPK Rep. 100 A, Nr. 3757 (Ministerium d. Königl. Hauses, Vorgeschlagene Anlegung von Adelsverzeichnissen für sämtliche preußischen Provinzen, außer Posen und die Rheinprovinz 1829), Bl. 1. 295 Vgl. zur Ablehnung des preußischen Adels sich über Matrikeln und Heroldsämter durch den Staat kontrollieren und dadurch fester in die Staatsinteressen einspannen zu lassen, Kalm, Heroldsamt, S. 46.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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Wappenliste gebraucht worden, so Wittgenstein, und so hätten die adligen Mitglieder des Provinziallandtags davon erfahren und wären von der Anlage einer „Adelsmatrikel“ für die Rheinprovinz ausgegangen.296 Das Hausministerium unterstützt die Initiative des brandenburgischen Adels Wittgenstein übernahm bei Gelegenheit seines Berichts die Argumente der Märker und befürwortete ausdrücklich deren Anliegen, eine Adelsmatrikel für die gesamte Monarchie einzuführen, um Adelsanmaßungen und das missbräuchliche Führen adliger Prädikate besser unterbinden zu können. Wittgenstein erwähnte die diesbezüglichen Absichten des unter Friedrich I. am 21. April 1706 eingerichteten, allerdings nur kurzlebigen ersten brandenburgisch-preußischen Oberheraldsamtes. Zugleich erinnerte Wittgenstein den König, dass dieser selbst schon einmal, nämlich vor 25 Jahren, in einer an den damaligen Staatsminister Freiherrn von der Reck ergangenen allerhöchsten Kabinettsorder vom 5. April 1804 die Notwendigkeit anerkannt habe, „die zum Adelsstand berechtigt Gefundenen“ in „Registern“ verzeichnen zu lassen. Wittgenstein versäumte nicht, seinen Ausführungen sofort die Anfrage beizufügen, ob nicht eine solche Verzeichnung „zu veranlassen sein dürfte“. Allein die Provinz Posen sei von einem solchen Verzeichnis noch auszunehmen, „indem die Anerkennung des dortigen gesammten Adels aus der ehemaligen polnischen Zeit manche Mißverhältnisse herbeiführen dürfte.“ Doch gäbe es für diese Provinz schon ein 1826 angefertigtes Verzeichnis der höheren Adelstitel, welches auf der Grundlage einer 1799 erfolgten Erfassung der Fürsten, Grafen und Freiherrn in den zu Preußen geschlagenen Teilen des vormaligen Königreichs Polen erstellt wurde.297 Tatsächlich

296 „Seitdem EKM. durch die an das StaatsMinisterium ergangenen Allerh. Ordre vom 18. Jan. 1826 die Wiederherstellung der Titel, Prädikate und Wappen des Adels in den Pro­vinzen am linken Rheinufer zu genehmigen geruht und mit der Ausführung dieser Anordnung das Ministerium des Königl. Hauses beauftragt haben, ist in Folge der eingegangenen Anmeldungen und anerkannten Berechtigungen zum Adelsstande, ein Verzeichniß der gräflichen, freiherrlichen und adlichen Familien jenes Landestheils mit Beifügung ihrer Wappen angefertigt worden. So dankbar diese Maaßregel im Allgemeinen von dem Adelsstande anerkannt worden ist, so sind doch viele Mitglieder desselben mit ihrer Anmeldung im Rückstand geblieben und der Oberpräsident Staatsminister von Ingersleben hat sich, um jenem, jetzt im Geheimen StaatsArchiv aufbewahrten Verzeichnisse die möglichste Vollständigkeit zu geben, verschiedentlich veranlaßt gesehen, zur Beschleunigung der Anmeldungen öffentliche Aufforderungen zu erlassen. Aus den Rheinischen Blättern sind solche in anderen Zeitungen übergegangenen und zur Kenntniß des großen Publikums gekommen, und da hierbei oft der Ausdruck Matrikel gebraucht wurde, so haben einige der (beim hiesigen Provinziallandtag anwesenden) Abgeordneten adliche Mitglieder der Ritterschaft in dem anliegenden Schreiben vom 25. vor. M. darum angesucht, daß eine Adelsmatrikel auch für die Chur-und Neumark angelegt werden möchte.“ Vgl. das von Raumer (26.3) und Tzschoppe (24.3 im Namen Wittgenstein unterzeichnete Schreiben in: GSTAPK Rep. 100 A, Nr. 3757, Abschrift des Schreibens von Wittgenstein, angefertigt v. Raumer und Tzschoppe, Bl. 2f. Das Original befindet sich in den Akten des Zivilkabinetts: GSTAPK Rep. 89, Nr. 919, Bl. 11-12v. 297 Auch im russischen Teilungsbereich des ehemaligen Königreichs Polen seien nur die höheren Adelstitel geprüft und erfasst worden: „Zum jetzigen Königreiche Polen, wo in Folge der Kais. Russ.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

erklärte sich der Monarch in seinem Antwortschreiben vom 5. April 1829 nicht grundsätzlich gegen eine Adelsmatrikel. Er überließ es dem Staatsministerium, einen diesbezüglichen Plan zu entwerfen. Unverzüglich empfahl Wittgenstein in einem Bericht vom 24. April dem König und dem Staatsministerium, wie im Falle des linken Rheinufers Verzeichnisse der in den Kreisen lebenden Adligen durch die einzelnen Landräte aufnehmen, und diese Listen über die Regierungspräsidenten und Oberpräsidenten an das Ministerium des königlichen Hauses weiterreichen zu lassen. Zugleich sollten die Adligen aufgefordert werden, sich persönlich beim Oberpräsidenten erforderlichenfalls unter Vorlegung betreffender Dokumente zu melden. Nach der Prüfung der vorgelegten Dokumente und der Begutachtung durch die Oberpräsidenten hätte dann das Ministerium des königlichen Hauses zu entscheiden – nach diesem Verfahren sei für den überrheinischen Adel ein dreigeteiltes Verzeichnis der Grafen, Freiherrn und Adligen entstanden, welches mit den dazugehörigen Wappenzeichnungen im Geheimen Staatsarchiv läge.298 Kontroverse zwischen Innenministerium und Hausministerium über eine Adelsmatrikel Es war nun an Innenminister Schuckmann, gegen diese Pläne des Hausministeriums scharf Front zu machen. Sein im Mai verfasstes ablehnendes Votum für das Staatsministerium übermittelte er am 20. Juli 1829 aus Breslau direkt an Wittgenstein. Darin meldete Schuckmann grundsätzliche Bedenken an.299 Das rheinische Beispiel habe die ganze Schwierigkeit eines solchen Projektes aufgezeigt: viele Familien hätten trotz der wiederholten Bekanntmachungen versäumt, sich zu melden. Auch die Mitglieder der bekanntesten adligen Familien müssten Nachweise liefern, deren Überprüfung keinesfalls den „unteren Behörden“ überlassen werden dürfe. Die Landräte zu befragen würde nicht ausreichen – da der Adel nicht auf ein adliges Besitztum beschränkt sei und über alle Ortsobrigkeiten, in den Städten und auf dem Lande, in den Institutionen von Militär und geistlichen- und Lehrämtern ermittelt werden müsse. Über die Legitimation hätten dann die höheren Behörden zu entscheiden, und wo diese verworfen werde, müsse durch eidliche Zeugenbefragung „auch der Weg Rechtens vorgehalten werden“. Schuckmann führte zwei auswärtige Gesandten „in diesseitigen Provinzen ansässig“ als abschreckendes Beispiel willkürlichen Verfahrens vor: sollten diese wie „Vasallen“ ihren Adel nachweisen müssen, oder würde man ihnen

Verordnung vom 5/17. Jun.1817 eine Prüfung des Adels statt gefunden hat sich solche auch nur auf diese höhere Adelstittel beschränkt und das Verzeichniß der dazu Berechtigten ist demnächst durch die Warschauer Zeitung vom 29. Mai 1824 öffentlich bekannt gemacht worden.“ 298 Vgl. den Bericht in: GSTAPK Rep. 100 A, Nr. 3757. Das Originalschreiben in: GSTAPK Rep. 90, Nr. 2007 (Bestimmungen über die Standeserhöhungen, allg.), Bl. 6-7. 299 Das Votum datierte vom 10. Mai, vgl. GSTAPK Rep. 100 A, Nr. 3757, Bl. 8-10v. Das Original von Schuckmanns Votum befindet sich in: GSTAPK Rep. 90, Nr. 2007, Bl. 12-14.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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allein auf ihre Angaben den Adel anerkennen? Viele, die „in gutem Glauben seit mehreren Generationen Adels-Prädikate geführt“ hätten, ohne zu den landsässigen Familien zu gehören, würden solche Nachweise wohl kaum liefern können, und wenn, dann bedeutete dies „weitläufige und kostspielige Aufstellungen von Stammbäumen, Beschaffung schwieriger vielleicht bei dem besten Rechte nicht möglicher Bescheinigungen, Korrespondenz mit mannigfachen Behörden von deren guten Willen der weitere Erfolg abhinge […]“. Zugleich würde gerade dieser große Aufwand „Unberechtigten“ die Möglichkeiten der Aufnahme in die Verzeichnisse bieten. Schlussendlich würde ein solches Verzeichnis weder vollständig noch glaubwürdig sein, so Schuckmann, die Recherche müsste regelmäßig wiederholt werden, um Neuzugänge zu erfassen. Das Ergebnis wäre eine notorische Überlastung des zuständigen Ministeriums. Die Verfolgung von vermuteter Anmaßung adliger Titel und Namen sollten die Behörden deshalb besser auf kurzem Wege den Gerichten überlassen, „so wie jede Familie das Recht hat wenn jemand ohne Befugniß sich als zu ihr gehörig geriert den Nachweis der Befugnis hierzu zu verlangen, […]“. Schuckmann schloss in seinem Votum mit dem Argument, dass der Adelstitel seit der Öffnung der Zivil- und Militärämter und des adlig privilegierten Grundbesitzes für Nichtadlige sowieso keinen eigentlichen Anreiz für solche Anmaßungen mehr biete. Die bestehenden Gesetze gegen Adelsanmaßungen seien ausreichende Abschreckung, die Anlage einer Matrikel hingegen würde „Erörterungen veranlassen“, welche einen großen Teil der zum Adel berechtigten Personen in Verlegenheit stürzen müssen, im übrigen aber das „ganze Publikum […] zu unbestimmten und phantastischen Besorgnissen über die Absichten der Regierung [...]“ anregten. Sprach aus diesem Votum tatsächlich das Interesse eines pauschalen Adelsschutzes, wie es vordergründig erscheinen mag? Bzw. die Sorge, dass nicht landgesessener, insbesondere Dienstadel langfristig durch eine solche Maßnahme verlieren könnte? War doch das Hausministeriums in seinem Vorgehen gerade durch einen Antrag aus dem landsässigen Adel einer der „alten“ Provinzen veranlasst worden! Und bedenkt man Schuckmanns gleichzeitig verfolgtes Interesse, die Patrimonialgerichtsbarkeit unter staatliche Oberaufsicht zu bringen, ein Anliegen, das im zeitgenössischen Gutsbesitzeradel alles andere als freundlich aufgenommen wurde, dann melden sich Zweifel an einer solchen Interpretation „pauschaler Adelsfreundlichkeit“. War die Ablehnung einer Adelsmatrikel durch den Innenminister womöglich gar umgekehrt von dem Interesse bestimmt, eben genau die von den märkischen adligen Gutsbesitzern erhoffte Reorganisation eines „Adelsstandes“ zu unterbinden und die Möglichkeit einer gesonderten ständischen Neukorporierung des Adels neben dem Stand der Rittergutsbesitzer von vornherein auszuschließen? Die weitere Kontroverse zwischen Innen- und Hausministerium suggeriert in der Tat, dass in dieser Frage grundsätzlichere Meinungsunterschiede im Staatsministerium berührt wurden. Der Konflikt ließe sich zunächst als ein ordnungspolitischer bezeichnen: sollte der Staat steuernd in den Adel eingreifen? Welches Interesse hätte er dabei? Und wenn ja, wer sollte in Zukunft systematisch als Adel erfasst – und damit

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ge­wissermaßen „offiziell“ anerkannt – werden? Und wer definierte die Bedingungen dieser Erfassung? Die Reaktion des Ministeriums des königlichen Hauses auf Schuckmanns Einwände fiel jedenfalls recht scharf aus. Hier war es vor allem ein Mitarbeiter Wittgensteins, Gustav Adolph Tzschoppe, der sich hinsichtlich dieser Problematik als äußerst hartnäckig erwies.300 Ein von ihm verfasstes Schreiben vom 22. August 1829 wies Schuckmanns Einwände Punkt für Punkt zurück.301 Die Schwierigkeiten bei der Aufstellung von Adelsverzeichnissen könnten nicht als relevant erachtet werden, da sonst „die Ausführung einer sonst zweckmäßigen und nützlichen Maaßregel“ verhindert würde. Die Landesteile am Rhein hätten aus historischen Gründen allerdings besondere Herausforderungen geboten, da die alte deutsche ReichsVerfassung [!] mit ihren Kaiserlichen, Vicariats- Erzherzoglich Östreichischen, Pfalzbairischen, Pfalzgräflichen Adels- und Wappen-Briefen […] daselbst einen besondern Einfluß geäußert [hatte]; die Verhältnisse der ReichsRitterschaftlichen Vereine, der früheren landständischen Verfassung, der Patrizier in den Städten, ein oft statt gefundener Amtsadel kam dabei in Erwägung; die Regulierung wurde durch die Verschiedenartigkeit der Theile jener Provinz, durch die wiederholten politischen Umwälzungen, durch den stattgefundenen oftmaligen Regenten Wechsel, die gesetzliche Aufhebung des Adels, ingleichen dadurch erschwert, daß während der Unruhen die Urkunden und Archive zum großen Theile verloren gegangen waren. Hierzu kam noch, daß aus der späteren französischen Gesetzgebung neue Titel und Stände mit ganz besonderen Bestimmungen hervorgingen.

Ungeachtet dieser Schwierigkeiten sei es gelungen, die gegenwärtig 15 gräflichen, 79 freiherrlichen und 121 adligen Familien in das Verzeichnis aufzunehmen. Entschieden wandte sich Tzschoppe zugleich gegen die Absicht Schuckmanns, dem Adel die Beschreitung des Rechtswegs zu einer Titel-Anerkennung offenzuhalten. Tzschoppe hielt entgegen, dass nach den bestehenden Gesetzen Prozeße über StandesErhöhungen nicht statt finden sollen. In der RegierungsInstruction vom J. 1808 ist § 36 ausdrücklich verordnet: daß kein Prozeß über wirkliche Majestät- und Hoheit Rechte statt finden und in dem herbei speziell citierten § 7 des

300 Gustav Adolph (v.) Tzschoppe (1794-1842) wurde im damals kursächsischen Görlitz geboren, studierte in Leipzig und Breslau Jurisprudenz, und gelangte nach Ableistung seines preußischen Wehrdienstes 1818 in den preußischen Staatsdienst. Als Mitarbeiter im Büro Hardenbergs hatte er als „Streber“ und „fanatischer Bürokrat“ erste Erfolge, begleitete den Staatskanzler sogar bei dessen Italienreise 1822. Nach Hardenbergs Tod konnte Tzschoppe als „bestes Werkzeug“ Wittgensteins seine Karriere fortsetzte. Ab 1822 war er in der Archivverwaltung tätig. Berüchtigt wurde er durch die von ihm mit persönlichem Hass betriebene Demagogenverfolgung. Als Oberregierungsrat wurde er 1833 Direktor des Geheimen Staats- und Kabinettsarchivs. Auf Betreiben Wittgensteins wurde er 1836 geadelt, und 1837 zum Direktor der 1. Abteilung des Hausministeriums ernannt, und damit zu dessen faktischem Leiter. Vgl. ADB, Bd. 39, Leipzig 1895, S. 66-68. 301 GSTAPK Rep. 100 A, Nr. 3757, Bl. 11-18v.



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Allg. Landrechts Th.II tit.13, sind unter jenen Majestät Rechten die StandesErhöhungen nahmentlich aufgeführt; in der neuen, gesetzlich publizierten RegierungsInstruktion vom J. 1817 ist gerade vorstehende Anordnung der früheren Instruktion wörtlich wiederholt (Gesetzsammlung 1817, Nr. 441 S. 283), so daß deren fortdauernde Gültigkeit keinem Zweifel unterliegt.

Es galt zunächst also, die königliche Prärogative in Standessachen unbedingt zu verteidigen, um so mehr gegenüber dem erst 1815 endgültig zu Preußen gekommenen Adel des Rheinlandes und Westfalens, der ja in den Ständeauseinandersetzungen 1817/18 bis 1823 wiederholt versucht hatte, gegenüber der Krone ein Reservat ständischer Oberaufsicht über den Zugang zum Adel zu behalten!302 Bezüglich der von Schuckmann genannten Beispiele „auswärtiger (adliger) Gesandter“, die in den preußischen Landesteilen lebten, entgegnete Tzschoppe spitz: Die Beantwortung dieser den Grafen Oriola und den Baron Schüler von Senden berührenden Frage ist sehr leicht. Der Graf Oriola hat ein königliches AnerkennungsDiplom über seinen Grafenstand vom 7. Junius 1822; über den Freiherrnstand des Barons Schüler von Senden werden seine Creditive, die Großherzoglich hessischen Staatskalender p hinreichenden Aufschluß geben und wenn in etwaigen ähnlichen Fällen noch dergleichen Ermittelungen und andere Nachfragen über den Stand eines im Lande angesessenen fremden Gesandten noch Zweifel übrig bleiben und davon sofortige Beseitigung nothwendig scheinen sollte, so möchte es unbedenklich seyn, daß die betreffende Provinzialbehörde den Gesandten, wenn er sich ansässig macht und es sich um Eintragung des Besitztitels handelt, zum Nachweise seines Standes ganz so auffordert, wie dies anderen Vasallen geschieht, deren Stand zweifelhaft ist.303

Zwar könnten die Listen anfänglich nicht vollständig sein, aber weder eine scheiternde Aufnahme „Wohlberechtigter“, noch ein erfolgreiches „Einschleichen“ nichtberechtigter Personen sei wahrscheinlich. Und eine Eintragung der später Geborenen sei gar nicht notwendig, da in solchen Fällen nur die Abstammungsverhältnisse zu klären seien. Allein dass das Ministerium des königlichen Hauses sich erboten habe, diese umfangreiche Arbeit der Verzeichnung zu übernehmen sei Beleg genug, dass „jene Listen dem Ministerium nothwendig erscheinen“. Denn dass der „Adelsstand“ (!) noch immer ein „Gut“ sei, bewiesen nicht zuletzt die zahlreichen Adelsanmaßungen! Damit verwies Tzschoppe die in den zeitgenössischen adligen Klagen, aber auch in den amtlichen und ministeriellen Verlautbarungen beliebte Argumentation kühl ins Reich der Legenden, dass der Adelstitel seit der (offiziellen) Aufhebung des privilegierten Zugangs zu Ämtern und Offiziersstellen nur noch „schmückendes Beiwerk“ sei. Und seit der Aufhebung des „General-Fiskalats“ (der zentralen Justizbehörde bis 1808) hätten sich die Provinzialbehörden nicht als ausreichend kompetent erwiesen, diese Titelanmaßungen zu unterbinden.304 Die Beispiele Schwedens, der Niederlande

302 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.4.3. 303 GSTAPK I. HA Rep. 100 A, Nr. 3757, Bl. 15. Seit Friedrich II. hatte das General-Fiscalat die Oberaufsicht in Adelssachen. 304 Ebd. Bl. 17v.

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und Bayerns bewiesen die Unbedenklichkeit einer zentralen Erfassung des Adels, wie sie ja nicht zuletzt der König in seiner Kabinettsorder vom 5. April 1804 ausdrücklich befürwortet habe. Anders als das Oberheraldsamt König Friedrichs I., das an seiner Erhebung von Eintragungsgebühren gescheitert sei, würden solche Kosten im aktuellen Falle nicht erhoben. Tzschoppe verwies über den aktuellen brandenburgischen Fall hinaus auf die Eingaben verschiedener Adliger, die verdeutlichten, dass die adligen Familien selbst eine Einrichtung „solcher Register“ für vorteilhaft hielten, um „ihre Ansprüche nebst genealogischen Nachrichten für alle Zeiten und Fälle z.b. des Untergangs der Documente, unter öffentlicher Autorität gesichert zu sehen;[...].“ Unruhe in der weiteren Öffentlichkeit sei durch diese Maßnahmen nicht zu erwarten, da ja die Interessen anderer Stände nicht berührt würden. Außerdem könne so der inflationären Gewährung von Standeserhöhungen durch andere souveräne deutsche Fürsten besser gesteuert werden, deren Anzahl sich ja „in Folge der letzten politischen Umwälzungen […] sehr beträchtlich vermehrt hat.“ Die Mehrheit des Staatsministeriums entscheidet gegen eine generelle Adelsmatrikel Auch andere Stimmen des Ministeriums standen der Idee einer Adelsmatrikel wohlwollend gegenüber. Nur wenige Tage nach Schuckmanns ablehnendem Votum hatte Kabinettsminister Lottum betont, dass Adelsverzeichnisse nach dem linksrheinischen Beispiel „in mehrfacher Beziehung von Nutzen seien.“ Es sei auch gar nicht beabsichtigt, wie beim rheinischen Beispiel alle adligen Individuen aufzunehmen, sondern nur die Familien „nach den verschiedenen Abstufungen als Fürsten, Grafen, Freiherrn und Edelleute[n]“, wobei altadlige, nicht zum Briefadel gehörige Familien auch keines Beweises für ihre Standesberechtigung bedürften, solange sie nicht auf höhere Prädikate Anspruch erheben würden, für die allerdings Nachweise zu fordern seien.305 Doch schon am 16. Mai formulierte das Staatsministerium einen ablehnenden Bescheid an den Hausminister. Darauf schaltete sich noch am selben Tag der Kronprinz persönlich ein. In einem Schreiben informierte der Vorsitzende des Staatsministeriums, der Kultusminister v. Altenstein das Staatsministerium, dass der Thronfolger ausdrücklich eine nochmalige Behandlung dieses Gegenstandes im Staatsministerium während seiner Anwesenheit wünsche.306 Durch diese Intervention des Kronprinzen hatte Tzschoppe die Gelegenheit erhalten, in seinem Memorandum vom August die Positionen des Hausministeriums gegen Schuckmann noch einmal aus-

305 Vgl. das Votum Lottums vom 12. Mai 1829, in: GSTAPK Rep. 90, Nr. 2007, Bl. 15. 306 Vgl. das Schreiben Altensteins vom 16. Mai 1829: „Zu diesem Behuf sind die Verhandlungen jetzt dem Herren Minister des Inneren Exzellenz wieder vorzulegen.“, in: Ebd., Bl. 16.



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führlich darzustellen. Doch die abschließende Sitzung des Staatsministeriums, wahrscheinlich im September, änderte an dessen ablehnender Haltung nichts mehr.307 In der Begründung berücksichtigte das Staatsministeriums weder Lottums noch Tzschoppes Einwände, vielmehr folgte es streng der Argumentation Schuckmanns: moniert wurden die „Weitläufigkeit“, das voraussichtlich „Aufsehen erregende“ dieser Maßnahme, die außerdem „viele Wohlberechtigte, wenn sie nicht den bekannten landsässigen Familien gehören“, auszuschließen drohe. Auch das Argument Schuckmanns, dass das Verzeichnis immer wieder ergänzt werden müsste, nicht zuletzt aufgrund des Zuzugs adliger Personen aus dem Ausland, wurde bemüht. Als Kompromiss wurde lediglich die Einführung einer „kleinen Adelsmatrikel“ vorgeschlagen, die sich auf die Feststellung der notorisch bekannten adligen Familien beschränken sollte (und das bedeutet im Wesentlichen: der angesessenen, gutsbesitzenden Familien), wobei das Material hauptsächlich aus dem Archiven gehoben und durch schon bestehende Matrikeln, Vasallentabellen usw. ergänzt werden sollte. Abschließend sprach sich das Staatsministerium noch dafür aus, dass wenn schließlich doch einmal eine umfangreichere Adelsmatrikel eingeführt werden sollte, diese auch das Großherzogtum Posen mit einschließen müsse.308 Das Hausministerium hält an der Idee einer Adelsmatrikel fest Doch Tzschoppe gab nicht auf. Als Antwort auf die Entscheidung des Staatsministeriums entwarf er ein auf den 14. Dezember 1829 datiertes weiteres Memoire. Dieses wurde von Karl Georg v. Raumer, dem Vater des späteren Adelskommissionsmitgliedes Georg Wilhelm v. Raumer, ausdrücklich unterstützt, und am 28. Dezember 1829 an Wittgenstein weitergeleitet.309 Entgegen der Argumentation des Staatsministeriums, dass die Erstellung einer Adelsmatrikel gerade für den unangesessenen Adel kleinen Adel problematisch

307 Das Staatsministerium lehnte in einem Schreiben vom 10. November 1829 den Plan einer allgemeinen Adelsmatrikel endgültig ab. Doch der Entwurf dieser Ablehnung trägt mehrere Datierungen: ursprünglich den 16. Juli 1829, dann den September 1829, um endlich am 10. November an das Ministerium des königlichen Hauses übersandt zu werden. Vgl. GSTAPK Rep. 100 A, Nr. 3757, Bl. 19. Der Originalentwurf des Schreibens befindet sich in Rep. 90 Nr. 2007, Bl. 17-18v. Die „Journale“ (d.h. Inhaltsübersichten) der Protokolle der staatsministeriellen Verhandlungen für das Jahr 1829 geben über diesen Verhandlungsgegenstand allerdings keine Auskunft. Allerdings sind diese Protokolle (beabsichtigt, oder unbeabsichtigt?) nicht vollständig geführt worden, wie sich ja auch z.B. bei der „Adelsdiskussion“ erwies. 308 Unterzeichnet durch den Kronprinzen Friedrich Wilhelm sowie die Minister Altenstein, Schuckmann, Lottum, Bernstorff, Hake, Dankelmann und Motz. 309 Karl Georg v. Raumer (1753-1833) war 1811 vortragender Rat beim Staatskanzleramt geworden (nicht identisch mit Friedrich v. R., der im selben Jahr aus dem Staatskanzleramt ausschied!). Ab 1814 Legationsrat über Angelegenheiten des königlichen Hauses, des deutschen Bundes und der katholischen Kirche wurde er 1818 in den Staatsrat berufen und 1819 Präsident des Oberzensurkollegiums. Seit 1822 bekleidete er das Amt des Direktors des Hausministeriums.

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werden würde, sah Karl Georg v. Raumer, wohl weit realistischer, gerade dieses Adelssegment durch eine ausbleibende formale Erfassung unmittelbar bedroht. Schon in den Reformjahren wurde ja durch die unterschiedlichsten Akteuren, u.a. von Marwitz, Dohna-Schlobitten oder Achim v. Arnim, darauf hingewiesen, dass der grundbesitzlose Adel seine Stellung in der Gesellschaft zukünftig „selbst neu ausmitteln“ müsse – und das konnte in der Regel nur bedeuten: in der übrigen Gesellschaft aufgehen. Raumer hielt die vom Staatsministerium immerhin denkbar gehaltene „kleine Adelsmatrikel“ sogar für eine besonders fatale Einrichtung: eine pauschale, über die Archive und Nachrichten des Auslandes aufgestellte Liste wäre unvollkommen und extrem fehleranfällig. Eine individuelle Abstammung der darin Aufgeführten ließe sich damit kaum nachweisen, weshalb bei Namensgleichheit und identischen Namenswurzeln von bürgerlichen, adligen und freiherrlichen Familien unbegründete Namensanmaßungen um so leichter fielen. Eine wirksame Oberaufsicht über den Adel wäre nicht zu bewerkstelligen, auch könnten die Familien Namensanmaßungen kaum wirkungsvoll unterbinden: Ganz erfolglos würde es seyn, wenn lediglich den einzelnen Familien überlassen werden sollte, über Mißbräuche ihres Namens von Seiten Unberechtigter zu wachen; bei der Ausdehnung des Staats, den verschiedenartigen Theilen desselben, dem Mangel eines CentralPunkts für die Familien, deren Genealogie pp läßt sich davon gar nichts erwarten; hat doch hier zu Berlin die Anmaßung des Namens und Adels einer hiesigen angesehenen Familie von Seiten eines bekannten Individuums statt gefunden, ohne daß die Familie dies bemerkt und angezeigt hätte. Sr.Majestät Allerhöchst.Selbst haben diese Anmaßung zuerst zu bemerken geruht (1807?) und dem Ministerium des Königl.Hauses die Untersuchung übertragen.

Raumer spielte mit dem zitierten Fall offenbar auf den damals einschlägig berüchtigten Arztsohn Varnhagen (v. Ense) an, der sich mindestens seit seiner Zeit als Offizier in österreichischen Diensten 1811 den altadligen Namenszusatz „v. Ense“ mit der Begründung beilegte, er stamme von dieser Familie ab. Es war ausgerechnet Tzschoppe gewesen, der deswegen Varnhagen in intimer Feindschaft „verfolgte“ und in der Öffentlichkeit zu diskreditieren versuchte, denn er verachtete Varnhagens demokratische Neigungen.310 Und einmal mehr berief sich Karl Georg v. Raumer auf die königliche Kabinettsorder vom 5. April 1804 worin der König schon im Sinne einer Adelsmatrikel „entschieden“ habe. Der König zeige sich auch persönlich an Fällen von Adelsusurpation interessiert, und erst vor wenigen Wochen habe der Oberpräsident der Provinz Pommern v. Sack beim Hausministerium Maßnahmen gegen illegitime Adelsannahmen gefordert. Und die neuen souveränen Bundesstaaten würden sogar preußische Untertanen

310 Vgl. zu diesem Fall vermuteter Adelsanmaßung: Carl Misch, Varnhagen v. Ense und sein Adelsprädikat, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge der „Märkischen Forschungen“ des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg, 38. Band 1926, S. 101116. Zu Tzschoppes Intimfeindschaft bes. S. 106. Vgl. auch Martiny, Adelsfrage, S. 75, Anmk. 178.



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adeln, ohne dass dagegen wirkungsvoll vorgegangen werden könne. Die Bedenken des Staatsministeriums wegen des „öffentlichen Aufsehens“ seien dagegen haltlos, ein solches sei auch im Rheinland nicht aufgetreten. Alles in allem habe der Antrag der adligen kur- und neumärkischen Rittergutsbesitzer lediglich dem Hausministerium einen letzten Anstoß gegeben, um in dieser Sache aktiv zu werden. Trotz dieser Vorstöße Tzschoppes und Raumers gelang es nicht mehr, das Staatsministerium zu einer erneuten Behandlung dieser Angelegenheit zu bewegen. Damit war zum zweiten Male seit den Reformjahren die Einführung einer Adelsmatrikel in Preußen gescheitert. Denn schon in der Spätphase von Hardenbergs Kanzlerschaft und in der Frühphase seiner eigenen Karriere hatte sich Tzschoppe für ein solches Adelsverzeichnis stark gemacht. 1822 forderte er in einem ausführlichen historischen Gutachten über die Heroldsämter in England und Frankreich die Einführung eines „allgemeinen Adels- und Wappenregisters für den Preußischen Staat“.311 Daraufhin kollidierte Tzschoppe ausgerechnet mit seinem späteren Verbündeten Karl Georg v. Raumer, der damals vortragender Rat beim Staatskanzler war! Immerhin war es Hardenberg selbst gewesen, der am 9. September 1821 ein Gutachten darüber wünschte, ob nicht zur besseren Kontrolle der höheren Adelstitel dem Adel eine Einschreibungspflicht auferlegt werden solle, ja, ob nicht „nach Art des englischen Heralds Office eine Behörde anzuordnen sei, bei welcher jede erbliche Standeserhöhung zu registrieren sei, den Adel mit eingeschlossen?“312 Karl Georg v. Raumer aber verwarf gegenüber dem Staatskanzler Tzschoppes Vorschlag eines Heroldsamtes und warb für eine eigene Idee: eine nach Provinzen, Regierungsbezirken und Ober-Präsidial-Bezirken geordnete Matrikel beim Geheimen Staatsarchiv.313 Allerdings habe

311 Vgl. P. M. von Tzschoppe, Berlin 2. Mai 1822: „Über die Heroldsämter in England, Frankreich und Preußen. Vorschläge zu einem allgemeinen Adels- und Wappenregister für den Preußischen Staat“, in: GSTAPK Rep. 100 Nr. 3751 (Standesanmaßungen, Errichtung eines Heroldsamtes. Anfertigung einer Adelsmatrikel 1815-1839), Bl. 16-35v. 312 Vgl. das Schreiben des Staatskanzlers an seinen vortragenden Rat Karl Georg v. Rau­mer, Ebd. Bl. 5. 313 Ebd., Bl. 10-12v: Schreiben v. Raumer an Hardenberg, Berlin 10. Sept. 1821, mit Vorschlägen zur Erfassung des Adels (Zusammenfassung): I. Nicht ein Herolds-Amt unter diesem Namen wird bestellt, aber II. bey dem Geheimen Staatsarchiv, bey welchem ohnehin eine Vermehrung des Personals bald erforderlich werden dürfte, wird eine Matricul angelegt von so viel Volio-Bänden als alte und neue Provinzen sind, da hierbey die ProvinzialAbtheilung der Abtheilung nach RegierungsBezirken oder nach Ober-Präsidial-Bezirken, vorzuzeichnen seyn dürfte. III. In diese Matrikeln würden, als Wohltat für die Betheiligten, eingetragen, ohne Präclusiv-Frist, ohne peremtorische Termine, alle fürstliche, gräfliche, freyherrliche, adliche, alte und neue Familien, die es verlangen – und versteht sich – die den Nachweis führen. IV. Dieser Nachweis würde bey den Regierungen geführt. Diese entschieden aber nicht selbst, sondern berichteten an Eure Durchlaucht und Ew.Durchlaucht entschieden auf Eintragung oder NichtEintragung, je nachdem der Nachweis geführt wäre oder nicht.

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deren Umsetzung Zeit, bis „anderweitige wichtige Archivgeschäfte völlig beendigt“ seien.314 Dennoch erteilte Hardenberg dem ihn auf seiner letzten Italienreise begleitenden Tzschoppe den Auftrag, ein Reskript für alle preußischen Oberpräsidenten zu entwerfen, inwiefern nach den Bedürfnissen der verschiedenen Provinzen Adelsverzeichnisse anzulegen wären. Hardenbergs Tod in Genua im November 1822 hatte dieses Vorhaben jedoch endgültig beendet.315

V. Taxmäßig werden Eintragungs-Gebühren festgesetzt, aber nicht zu irgend jemandes Eigennutz, sondern zu der, zu wohltätigen Zwecken bestimmten Bureau-Gebühren Kasse Eurer Durchlaucht. VI. Adelsanmaßungen – denn diese kommen am meisten vor – aber auch Anmaßungen höherer Klassen des Adels, rügte jede Regierung nur durch provisorische Inhibition. Definitive Inhibition könnte keine Regierung ertheilen, auch nicht strafen. Käme es auf eine definitive Inhibition an, so geschehe diese auf der Regierung Bericht von Eurer Durchlaucht. VII. Nachdem aber könnte nur der Richter, durch Untersuchung, Urtheil und Recht auf Rüge des Fiscals, welcher erst dann executiert würde, wenn, wider Eurer Durchlaucht Entscheidung, die Anmaßung fortdauerte. Über die Modalitäten zu VII würde annoch zwischen Eurer Durchlaucht und dem Herrn Justiz-Minister correspondiert. Diese Maßregeln von I zu VII scheinen mir, Milde und Gerechtigkeit zu vereinigen. Ich submittiere sie Eurer Durchlaucht hohem Ermessen.“ 314 Raumer lehnte die Vorschläge Tzschoppes, besonders bezüglich des Freiherrnstandes, als unanwendbar und schädlich ab, denn (Zusammenfassung): 1. würde eine solche Verordnung nicht verlangt noch gewünscht 2. Die Gesetze in Preußen schweigen von persönlichen, wirklichen reelen Vorrechten eines Freiherrn vor einem bloßen Edelmann. In der Meinung steht der alte Adel über dem neuen Freiherrn(Stiftsmäßigkeit hängt allein vom Alter, nicht vom Titel ab). 3. Unterscheidung zwischen altem und neuem Adel unmöglich da Normaljahr nicht konsensfähig 4. es gäbe viele Briefadelsfamilien deren Adel erst seit hundert Jahren festgestellt ist, die früher aber weit älteren Adel hatten. Sind diese nun neu oder alt zu zählen? 5. Viele der ältesten angesessenen adligen Geschlechter möchten den Freiherrnstand gar nicht haben. 6. Eine solche Maßregel beunruhigt hunderte von Familien und verletzt sie in ihren Opinionen, auf die manche sehr hohen Wert legen. 7. Auch ehemalige Reichsunmittelbarkeit begründete nicht gerade den Freiherrnstand Vgl. Raumers „Untertänigster Bericht über des Herrn Regierungsraths Tzschoppe Vorschläge zu einem allgemeinen Adels- und WappenRegister für den Preußischen Staat“, Berlin, 19. September 1822, in: Ebd., Bl. 39-40v. 315 Den Auftrag erhielt Tzschoppe in Verona, wo der Kanzler ihn während seiner Weiterreise nach Genau zurückließ. Während der Abwesenheit Hardenbergs entwarf Tzschoppe im November 1822 das Reskript, das der Kanzler bei der Rückkehr prüfen wollte, mit einer offenen Datierung: „… Dezember 1822“. Der Entwurf berief sich auf die königliche Kabinettsordre von 1804, und erklärte, dass die Schwierigkeiten, die sich aus der Vielfalt der preußischen Landesteile und Adelslandschaften ergäben, nur noch mehr Ansporn zu einer solchen Einrichtung seien, eine solche aber von Jahr zu Jahr schwerer einzurichten sei. Einzelne Oberpräsidenten bekamen noch besondere Anweisungen, die sich auf die Spezifika ihrer Provinzen bezogen: so sollte Ingersleben (Rheinprovinz) sich um das Problem der am Niederrhein häufigen bürgerlichen Namenspräposition „von“ (entspricht dem niederländischen „van“) kümmern, Schön in Preußen den besonderen Hinweis erhalten, dass Friedrich II. bei der Annexion der ehemaligen polnischen Territorien der Anerkennung des westpreußischen Adels besondere Aufmerksamkeit gewidmet habe, und der jetzige König in der Ordre vom 7. April 1799 auf eine frühere von 7. Juni 1776 zurückgekommen sei. Zerboni di Sposetti in Posen sollte hingegen



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1829/30 unterstützte aber Karl Georg v. Raumer Tzschoppes neuerlichen Vorstoß für ein preußisches Heroldsamtes. Doch umsonst: letzterer musste eines zweites Mal die Niederlage seines Anliegens erleben! Daraufhin verlegte er sich mit seinem ehemaligen Widersacher v. Raumer ganz auf dessen alte Idee, innerhalb des Hausministeriums unter Rückgriff auf die Informationen des Geheimen Staatsarchivs eine interne Adelsmatrikel zu schaffen.316 Staatskanzler Hardenberg hatte um 1821/22 also eine systematische Erfassung des Adels als Bestandteil der von ihm beabsichtigten Konstituierung der neuen preußischen Staatsordnung befürwortet. Aber warum den Adel erfassen und kontrollieren, wenn er staats- und gesellschaftspolitisch doch keine spezifische Rolle mehr spielen sollte? Um so greller kontrastiert der hartnäckige Widerstand des Staatsministeriums um 1829/30 gegen ein solches Vorhaben, während die befürwortenden Stimmen aus dem monarchennahen Hausministerium, bzw. dem Kabinett kamen. Wehrte sich das Staatsministerium von 1829 gegen eine „Konstituierung“ der Adelsverhältnisse, gegen eine eindeutigere Definition über Umfang und Rolle des Adels (im Unterschied zu Rittergutsbesitzern) in Staat und Gesellschaft? Es fällt jedenfalls schwer das Votum des Staatsministeriums, das sich auf Schuckmanns Argumente stützte, als Entscheidung zugunsten eines pauschalen Adelsschutzes zu verstehen! Umgekehrt drängt sich der Eindruck eines recht distanzierten Verhältnisses (von Teilen) der Zentralbehörden gegenüber noch bestehenden ständischen „Reservatsrechten“ (Patrimonialgerichtsbarkeit) auf, bzw. gegenüber einer Neubildung potentiell korporativ-“adelsständischer“ Einrichtungen. Die seit den Reformjahren erreichte „rechtliche Egalisierung“ und „Deregionalisierung“ des Adels in der Gesamtgesellschaft sollte offenbar nicht konterkariert werden. Zwar hatte Schuckmann, und ihm folgend das Staatsministerium, die Adelsmatrikel mit Argumenten zurückgewiesen, die der Masse des nichtangesessenen Kleinadels vordergründig entgegenkamen; doch könnte es sich dabei um vorgeschobene Gründe gehandelt haben: denn die vom Staatsministerium ins Spiel gebrachte „kleine Adelsmatrikel“ sollte ausdrücklich nur den „notorischen“, und das hieß: „angesessenen“, rittergutbesitzenden Adel erfassen! Eine solche Maßnahme musste aber, das hatte Karl Georg v. Raumer sofort erkannt, den nichtangesessenen Adel in seiner öffentlichen Bedeutung weiter hinabdrücken, seine Legitimation in langfristiger Perspektive sogar als zweifelhaft, oder zumindest zweitklassig erscheinen lassen. Es war der Mangel einer Adelsmatrikel,

besonders auf die Ordre vom 7. April 1799 achten, welche ein Verzeichnis des dortigen Adels forderte, und die Grundsätze festhielt, nach welchen ein dortiger Edelmann anerkannt werden solle. Vgl. Ebd., Bl. 41-42. 316 Vgl. das Schreiben von Raumer und Tzschoppe vom 21. Februar 1830 an Wittgenstein wegen der Anlage eines Verzeichnisses von Standeserhöhungen, in: Ebd., Bl. 45. Am selben Tag forderten die beiden in einem Schreiben an das Staatsarchiv, eine alphabetische, nach Titeln und Art der Verleihung (Diplom, Anerkennung, Allerhöchste Ordre) geordnetes Verzeichnis über Standeserhöhungen anzulegen.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

und damit das Fehlen einer offiziellen Anerkennung der Masse des kleinen Adels, die in der öffentlichen Wahrnehmung allein dem angesessenen Adel zugute kommen mussten, wie dies ja schon z.B. von Achim v. Arnim erwartet wurde. Damit wurde die Entwicklung zweier klandestiner „Klassen“ oder „Kategorien“ des Adels begünstigt. War dies die tatsächliche – doch unausgesprochene – Motivation für die Entscheidung des Staatsministeriums? Hatte es sich bewusst gegen eine Stützung der gesamten Adelsmasse gewandt, diese Absicht aber in Argumente „verpackt“, die scheinbar die Interessen des nicht „notorischen“, nicht angesessenen kleinen Adels zu wahren suchten? Eine Adelsformierung durch Unterlassung gewissermaßen? Um dieses zu klären wären noch nähere Studien über die adelspolitischen Strömungen innerhalb des Staatsministeriums nötig, die im Rahmen dieser kursorischen Betrachtung nicht geleistet werden konnten. Immerhin suggerieren die späteren staatsministeriellen Debatten um ein Adelsgesetz, dass sich innerhalb des ab 1843 personell veränderten Staatsministeriums die Stimmen zugunsten einer Adelsmatrikel mehrten. Würde es sich aber so verhalten, wofür die Kritik des Hausministeriums an der Argumentationsführung des Innenministers wie die hervortretenden adelspolitischen Positionen der involvierten Akteure spräche, dann waren dies sehr zweifelhafte Voraussetzungen für die in Teilen des Adels gehegten Hoffnungen auf eine staatlich initiierte und geförderte Sammlungsbewegung des Adels.

4.3.2. Fideikommiss und Strict Settlement: neue Formen der Grundbesitzbindung als Basis eines neuen Adels? Bei der Auseinandersetzung um die Einführung einer Adelsmatrikel war es noch allein um die grundlegend ordnungspolitische Frage gegangen, ob der Staat steuernd in den Adel eingreifen, und mit welchen Prioritäten eine eventuelle Adelsstützungspolitik vorgehen sollte: bezogen auf die Masse des gesamten Adels, oder nur bezüglich des „notorisch“ bekannten Grundbesitzeradels? Mehr als zehn Jahre nachdem die Idee einer gesamtpreußischen Adelsmatrikel durch das Staatministerium abgeschmettert worden war, wurde in den Adelsreformdiskussionen des Vormärz schließlich die Einführung neuer Besitzbindungsformen diskutiert, wie sie schon Dohna in den Reformjahren vorgeschlagen hatte. Denn seit der Reformzeit stand die Ablösung der Lehen auf der Tagesordnung, auch wenn sich die Umsetzung schließlich als extrem langwierig erweisen sollte.317 In den Auseinandersetzungen um eine Erleichterung von Fideikommissstiftungen, bzw. die Einführung einer für Preußen völlig neuen Bodenbindungsform (nach dem Muster des englischen strict settlement) wurden zugleich adelspolitische Kategorien und Kriterien diskutiert. Diese sollten

317 Vgl. zur Problematik der Lehnsbindungen, die eine Adelsreform schon in der Reformepoche maßgeblich behinderten, oben, Teil I. Kap. 2.3.3.



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schon entsprechende Parameter bei der Bildung des preußischen Herrenhauses in den 1850er Jahren vorwegnehmen. Daran wird deutlich, wie eng der Komplex der Besitzbindungsformen mit dem Problem der Bildung einer „Classe von Landgüterbesitzern“ verbunden war. Auf diese Verbindung wird unten im Zusammenhang der Herrenhausbildung noch näher eingegangen.318 Schon im 18. Jahrhundert hatte es in Brandenburg-Preußen staatlich initiierte Vorstöße gegeben, das Lehnswesen durch eine Neuordnung der Lehnserbfolge und des Agnatenkonsenses zu reformieren. Generell wurde dabei auf eine Allodifizierung, d.h. „Privatisierung“ des Lehngutes in der Hand des Inhabers abgezielt.319 Eine solche „Allodifizierung“ ist bekanntlich nicht erfolgt, stattdessen wurden die Lehen in lehnrechtlich verfasstes Familieneigentum überführt.320 Und auch in der Reformzeit scheiterte schließlich die Auflösung der alten Lehnsverhältnisse. Damit blieben die Probleme einer notwendigen wirtschaftlichen Dynamisierung der als Familienlehen vinkulierten Güter bestehen. Der äußerst schwer einzuholende Agnatenkonsens machte insbesondere die Kreditaufnahme, aber auch die Veräußerung bzw. Arrondierung von Grundstücksbestandteilen sehr schwierig. Der in seiner wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit stark eingeschränkte adlige Grundbesitz drohte durch die von Reformgesetzgebung und Frühindustrialisierung angefeuerte wirtschaftliche Dynamik immer weiter ins Hintertreffen zu geraten. Eine Lösung dieses Dilemmas boten Fideikommissstiftungen und Majorate. Diese waren privatrechtliche Stiftungen und boten gegenüber dem historischen Lehnrecht die Möglichkeit, den Kreis der Erben und der über den Besitz Entscheidungsberechtigten stark zu beschränken. Im Falle eines Majorats gelangte das gebundene Erbe immer nur in die Hand eines genau definierten Besitzers, während die anderen Erben abgefunden, bzw. ausgezahlt wurden; bei Fideikommissen blieb im Regelfalle dieses zwar im Besitz der Gesamtfamilie, doch war die Zahl der Agnaten (in diesem Falle als „Anwärter“ bezeichnet) deutlich geringer, und der Inhaber hatte größere rechtliche Spielräume selbständiger wirtschaftlicher Entscheidungen. Bei strategischen Entscheidungen über das Gut (z.B. der Kreditaufnahme) war ein engerer Zirkel von zu konsultierenden Mitentscheidern in den Stiftungssatzungen definiert, dieser konnte auch aus familienexternen Kuratoren oder Pflegern bestehen, oder sogar der semistaatlichen Institution der „Hauptritterschaftsdirektion“ übertragen sein.321 Wegen dieser größeren Flexibilität von Fideikommissen gegenüber den Lehen, was bei Garantie der Familienbindung eine dynamischere Bewirtschaftung ermöglichte, wurden sie seit dem 18. Jahrhundert von den preußischen Monarchen offen

318 Vgl. unten Kap. 4.3.3. 319 Vgl. Martiny, Adelsfrage, S. 14-30, bes. S. 23, 25. 320 Vgl. Müller, Umwandlung. 321 Vgl. dazu näher Schiller, Vom Rittergutsbesitz, S. 315-333, zur wirtschaftlichen Dimension bes. S. 228ff.

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propagiert. Doch der Adel akzeptierte dieses Instrument der Besitzbindung erst in nennenswertem Umfang, als die wirtschaftlichen Schäden des Lehnsverbandes immer offensichtlicher wurden, und nach 1807 Nichtadlige legal und in größerer Zahl in den Gutsbesitz gelangten. Erst seit der sukkzessiven Auflösung der Lehen in Preußen nach 1850 fanden Fideikommissstiftungen in deutlich wachsender Zahl statt322 – nicht als Beleg dafür, dass eine sich „in der Moderne“ auflösende „Familiengesinnung“ neu diszipliniert werden musste, wie oft irrtümlich angenommen wird. Sondern als Ersatz für ein schon immer notwendiges familiäres „Disziplinierungsmittel“ in Erbsachen, eben das ältere Lehen.323

Die soziale und wirtschaftliche Dynamisierung des Grundbesitzes durch neue Besitzbindungsformen In den inneradministrativen Diskussionen um eine Adelsreform, bzw. einen „Neuen Adel“ wurde ausführlich über neue, bzw. angepasste Formen der Grundbesitzbindung verhandelt. Dabei zeichnete sich die erleichterte Bildung von Fideikommissstiftungen als konsensfähiges Verhandlungsergebnis zwischen Adelskommission und Staatsministerium ab.324 Wie erinnerlich, hatte schon 1810 der Innenminister der frühen Reformjahre, Dohna-Schlobitten, in der Art und Weise zukünftiger Besitzbindungsformen einen zentralen Punkt einer neuständischen Ordnung erkannt. Schon die diesbezüglichen Ideen Dohna-Schlobittens waren neben wirtschaftspolitischen von ständepolitischen Erwägungen bestimmt.325 Einerseits war seiner Meinung nach eine wirtschaftliche Dynamisierung als Modernisierungsmittel der Landwirtschaft notwendig; zugleich sollten die neuen Besitzbindungsformen auch Ausweis und Garanten einer immer noch „lebendigen ständischen Gesinnung“ sein. Denn im Gegensatz zur überkommenen, und zu überwindenden Besitzbindungsform des Lehens sollte nach Dohnas Vorstellung der zukünftige „vinkulierte“ Grundbesitz nach einer gewissen Dauer durch Familienschluss immer wieder neu bestätigt werden müssen. So würde sich nach einigen Generationen zeigen, in welchen Familien sich die Bereitschaft zu einer kollektiven Erbdisziplin erhalten hätte – wo diese „Gesinnung“ fehlte, würde auch die Neubegründung einer solchen Stiftung scheitern und so die mangelnde „Gesinnung“ in der Familie quasi automatisch sanktioniert. Unübersehbar war dieses Modell von der Praxis des englischen strict settlement inspiriert.326

322 Vgl. Martiny, Adelsfrage, S. 28-30. 323 Siehe dazu unten, Kap. 4.3.2. 324 Vgl. oben Teil II. Kap. 3.4.1. und 3.4.3. 325 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.3.4. 326 Anders aber als beim strict settlement sollte nach den Vorstellungen Dohnas der Stiftungsakt nicht allein zwischen Vater, Sohn und (noch nicht geborenem) Enkel erfolgen, sondern auf „Familienschluss“, der alle drei Generationen erneuert werden müsste – damit würde wie beim Fideikommiss



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Ganz nach dem Muster dieser frühen Überlegungen Dohnas verband sich in den vormärzlichen Adelsreformdebatten das Anliegen einer neuen Adels- und Elitenpolitik mit der Idee neuer Besitzbindungsformen, wurden wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Ziele gemeinsam avisiert. Die ganz gleiche Idee wie Dohna hinsichtlich einer gewissermaßen automatischen Sanktionierung adliger Familiengesinnung hatte auch Bunsen mit ausdrücklichem Verweis auf das englische strict settlement formuliert.327 Friedrich Wilhelm griff diesen Gedanken auf, und ließ ihn ähnlich konsequent wie das ganze Adelsreformvorhaben bis zur Revolution 1848 verfolgen. Bis zur zweiten ministeriellen Beratungsrunde über das geplante Adelsgesetz im Juni 1844 hatten sich deutlich die Grundzüge herausgearbeitet, nach welchen die neuen Adelskategorien mit der in Preußen etablierten Besitzbindungsform des Fideikommisses einerseits, und der neu einzuführenden Form des strict settlement (als auf „zwei Erbfälle beschränkte Sukkzessionsform“ bezeichnet) andererseits in Verbindung stehen sollten.328 Eine gesonderte politische Bevorrechtigung für die Besitzer gebundenen Grundbesitzes (wie es selbst die Provinzialständeordnung latent vorsah) wurde zwar verworfen, doch sollte die Besitzbindung mit darüber entscheiden, ob und vor allem wie der Adel weitervererbt würde – allein primogenital oder als Geschlechtsadel. Gerade unter Verweis auf diese zweite, neu einzuführende Form der Besitzbindung wurde eine Senkung des gesetzlichen Einkommensminimums von 2.500 Talern für Fideikommissstiftungen abgelehnt – denn das avisierte „preußische strict settlement“ würde ein solches Minimum nicht voraussetzen, und damit nun auch „ärmeren“ Grundbesitzerfamilien eine günstige, und zugleich flexiblere Alternative der Besitzsicherung bieten. Das strict settlement als Mittel erleichterter Familienstiftungen Schon kurz nach der zweiten adelspolitischen Beratung vom Juni 1844 hatte der König in einem Schreiben an seinen Justizminister Mühler und an Savigny (als Mitglied der Kommission zur Gesetzesrevision) deutlich gemacht, wie sehr er in dem englischen Vorbild des strict settlement einen Weg erblickte, das komplizierte und

die gesamte Familie, und nicht allein patrilinear mit einander verwandte (männliche) Individuen zu Stiftungsträgern gemacht. 327 Vgl. Bunsens Memorandum von 1844, oben Teil II. Kap. 3.4.2. 328 Adlige und nobilitierte Stifter eines beständigen Fideikommisses, bzw. der neuen Form einer zeitlich beschränkten Erbfolgeordnung, sollten sofort die landständischen Rechte in Anspruch nehmen dürfen, unabhängig von der Besitzdauer; bürgerliche Stifter zumindest einen landesherrlichen Dispens in diesem Punkt erwarten dürfen. Die Stempelgebühren für solche Stiftungen sollten auf ein halbes Prozent ermäßigt werden, wenn die nachgelassene Differenz einer Stiftung für weibliche Familienmitglieder zugute käme. Vgl. oben Teil II. Kap. 3.4.3.

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an harte Stiftungsvoraussetzungen gebundene preußische Fideikommisssrecht zu umgehen:329 Nach englischem Recht ist es bei fideicommissarischen Substitutionen dem zuerst eingesetzten Erben oder Legaten (Fiduciarius) gestattet, dem ihn gesetzten Substituten (Fideicommisarius) einen anderen zu substituieren und dadurch die Dauer der Substitution um einen Fall zu verlängern, welche Verlängerung sodann auf dieselbe Weise wiederholt und dadurch stets fortgesetzt werden kann. Da Ich diese Befugniß, welche den Gutsbesitzern die Möglichkeit gewährt, ihre Güter in ihren Familien zu erhalten, ohne zu der, oft mit großen Schwierigkeiten, für viele Gutsbesitzer auch mit Bedenken wegen der Einwirkung auf eine nicht zu übersehende Zukunft verbundenen Errichtung eines beständigen FamilienFideicommisses gezwungen zu sein, für sehr zweckmäßig erachte: so beauftrage Ich Sie, über das in dieser Beziehung in England geltende Recht nähere Auskunft einzuziehen und Mir anzuzeigen, ob nach den hier geltenden Gesetzen die Anordnung einer fideicommissarischen Substitution, unter Übertragung einer solchen Befugniß an den Zuerst-Eingesetzten (Fiduciarius) zulässig ist, oder ob es, um sie zulässig zu machen, neuer legislativer Bestimmungen bedarf. In dem letzteren Falle sehe ich Ihren Vorschlägen über die deshalb zu treffenden legislativen Bestimmungen entgegen.

Im Anhang dieses Schreibens war zugleich der Auszug eines Gesetzentwurfes erhalten, der die Bedingungen dieser neuen Familienstiftungen genauer bestimmte.330 Zeitgleich ließ der König über Bunsen, dem zwischenzeitlich wieder nach England

329 Vgl. die Abschrift des Schreibens des Königs an die Staatsminister Mühler und Savigny, Sanssouci 8. Juli 1844 in: GSTAPK Rep. 100, Nr. 3787 (Verhandlungen der Immediatkommission 1841,1842,1843,1846,1848, a. in Folge der Allerhöchst. C. O. v. 21.Juli 1841, b. in Folge des ImmediatAuftrages an den Staats-u.Justizminister v.Savigny 1846), Bl. 255. 330 Bei diesem Auszug (Abschrift) handelte es sich um den in den Verhandlungen mehrfach angesprochenen Entwurf eines neuen Fideikommisssgesetzes, und beginnt mit Punkt II: „Bei den Fideicommißstiftungen auf die zwei nächsten Successionsfälle sind folgende Punkte als beachtenswerth anerkannt worden: a. Eine solche Stiftung soll alle Vortheile gewähren, welche gegenwärtig an den zehnjährigen Besitz eines Gutes geknüpft sind. b. Über diese Art der Stiftungen ist ein neues Gesetz vorzubereiten mit Benutzung der dabei im englischen Recht üblichen Bestimmungen. c. Damit nicht der Stifter eine solche Substitution willkührlich widerrufen könne, soll zum Genuß der daran geknüpften, oben erwähnten, Vortheile die landesherrliche Bestätigung erfordert werden; durch Ertheilung dieser Bestätigung aber soll die Substitution unwiderruflich werden. d. Der Genuß jener Vortheile soll bei jeder Fideicommißstiftung an die Bedingung geknüpft sein, daß der Stifter in dem Fideicommisgut einen reinen (schuldfreien) Vermögenswerth nachweise, welcher mindestens den Werth eines matriculationsfähigen Rittergutes gleichkomme. e. Bei dem fideicommissarischen Substitutionen sind die gesetzlichen Vorschriften über den Pflichttheil nicht zu erlassen oder zu modifizieren. f. Bei denselben erscheint eine corporative Verbindung, wie sie früher für die Besitzer beständiger Fideicommisse als wünschenswerth anerkannt wurde, nicht nöthig. g. Es ist durch die Fassung des zu erlassenden Gesetzes anzudeuten, daß in Ansehung solcher Fideicomissarischen Substitutionen kein Unterschied gemacht werde, es möge die Stiftung von einem



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zurückgekehrten preußischen Botschafter, seinem Freund und politischen Vertrauten Ernst Ludwig v. Gerlach den Auftrag zukommen, detaillierte Informationen über „entails“ – „eine Art englischer Fideicommisse“ – einzuholen.331 Gerlach war wenige Wochen zuvor zu einer lange geplanten Englandreise aufgebrochen, während der er genaue Kenntnisse über das dortige Recht und die Gerichtspraxis zu gewinnen hoffte. Gerlach verfasste denn auch tatsächlich eine Abhandlung über „entails“, die er bei Savigny einreichte und ein Jahr später publizierte. Savignys ablehnende Haltung gegenüber den englischen Besitzbindungsformen wurde schon bei dieser Gelegenheit deutlich: Gerlachs Ausführungen seien „interessant, aber auf unsere Verhältnisse nicht anwendbar“.332 Diese Ablehnung schlug sich auch in dem von Savigny und Justizminister Uhden erst einen Monat nach der letzten Verhandlungsrunde des Staatsministeriums über das Adelsgesetz (September 1846) vorgelegten Gesetzentwurf zu „Fidei-Commissarischen Substitutionen“ nieder. Einmal mehr war es die primogenitale Stoßrichtung der königlichen Pläne, die den Ministern widerstrebte: der § 1 sah ausdrücklich die Möglichkeit einer freien Wahl des Deszendenten durch den Fideikommissstifter vor. Der König lehnte dieses Ansinnen mit Verweis auf das englische Original ab – er wolle Fideikommisse zukünftig nur noch als Majorate gestatten, „wie dies der englischen Praxis entspreche“. Insgesamt wünschte sich der König das Gesetz „kürzer“ und „auf den Grundgedanken“ beschränkt. Kabinettsminister Thile verteidigte gegenüber dem König die umfangreiche Arbeit der Minister, „wenn nicht das Prinzip in seiner Ausführung zu den größten Unsicherheiten führen solle“. Doch erklärte der König, die Details mit den Justizministern mündlich verhandeln zu wollen.333 Schon am 27. Dezember 1846 übersandte Thile den Gesetzentwurf dem Staatsministerium mit der Aufforderung, darüber ein Gutachten zu fällen und einen Propositionsentwurf für die Stände zu entwickeln.334 Doch trotz dieser Vorbereitungen und einem Erinnerungsschreiben Thiles vom Mai

Mitglied des älteren Adels ausgehen, oder von einer solchen Person, die bei Gelegenheit der Erhebung in den Adelstand die Substitution vornehme.“ Vgl. Ebd., Bl. 256. 331  Zugleich sollte Gerlach Informationen über „die Formen des Parlaments in Hinblick auf künftige preußische Reichsstände“ einholen, vgl. Hans-Christof Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen, 2 Bd., Erster Teilband, Göttingen 1994, S. 344, Anmk. 4. 332 E. L. v. Gerlach, Über die Rechtsverhältnisse des Grundeigenthums in England, in: Janus 1 (1845), S. 545-593; vgl. Kraus, Gerlach I., S. 347f. Savignys Zitat ebenda. 333 Vgl. zu dieser dritten staatsministeriellen Sitzung oben, Teil II. Kap. 3.4.4. Die Gesetzesvorlage wurde von den Ministern am 7. Oktober 1846 eingereicht. Die Reaktion des Königs wurde Savigny in einem Schreiben Thiles vom 6.1.1847 mitgeteilt. Vgl. GSTAPK Rep. 89, Nr. 930 (Adel und seine Neubelebung, Erhebung in den Adelsstand und Verlust des Adels 1841-1847) Bl. 26-27. 334 Wie ein Jahr später das Raumersche Adelspatent wollte der König auch das geplante Gesetz über neue Besitzbindungsbestimmungen den Ständen zur Begutachtung vorlegen, vgl. oben Teil II. Kap. 3.4.5. Hier GSTAPK Rep. 89, Nr. 930 (Adel und seine Neubelebung, Erhebung in den Adelsstand und Verlust des Adels 1841-1847) Bl. 23.

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1847 an die Justizminister blieb diese Angelegenheit bis Ende August 1847 unentschieden, um dann mitsamt dem ganzen Adelsgesetz von der Revolution überrollt zu werden.335 Worin bestand aber die adelspolitische Relevanz dieser Auseinandersetzungen über die praktikabelste Form einer Grundbesitzbindung für den Adel in Preußen? Offensichtlich stand die Art und Weise einer Grundbesitzbindung mit allgemeinen ordnungspolitischen Fragen des Adelswesens in Verbindung. Den Besitzbindungsformen des Fideikommisses und des strict settlement wohnten jeweils gewisse Grundannahmen über die (gewollte) ökonomische Struktur, die Familien-“Verfassung“, die sozialständische Definition und die „Staatsnähe“ der betreffenden Sozialformationen inne. Aus diesem Grund besitzt die versuchte Anpassung, bzw. Neueinführung dieser Institute in der preußischen Adelsdebatte einen Aussagewert über die sozialpolitischen Vorhaben, aber auch für die möglichen Konsequenzen bezüglich des Adels. Neben dieser ordnungspolitischen Dimension stellten diese Rechtsinstitute jeweils besondere familienstrategische Kategorien und Kriterien auf, wie sie ja in der Adelsdebatte von zentraler Bedeutung waren. Wie also stellte sich das Verhältnis zwischen Fideikommiss und dem englischen strict settlement bezüglich dieser ordnungspolitischen und familienstrategischen Dimensionen dar? Und welche Konsequenzen für den Adel ließen sich aus einer Modifikation der bestehenden, bzw. Einführung völlig neuer Bodenbindungsformen erwarten?

Fideikommiss versus Strict Settlement Soziale Gruppen, die ihr Einkommen entweder aus der Selbstbewirtschaftung von Grundbesitz, oder von Pachteinnahmen aus demselben bezogen, und insbesondere Eliten, deren Status wesentlich von der Höhe ihres Konsums abhing, hatten seit jeher ein starkes Interesse daran, ihr Land vor unbeschränkten Erbteilungen zu schützen. Generationentiefe, durch Familienkontinuität erreichte Besitzakkumulation musste immer vor größeren Besitzteilungen geschützt werden.336 Neben dem ursprünglich landesherrlich verliehenen Lehen waren Majorate, Fideikommisse und in Großbritannien eben das strict settlement etablierte Formen solcher an eine Familie geknüpfter Besitzbindungen, die zugleich Erbordnungen darstellten.337 Anders als das Lehen

335 Vgl. zu dieser Parallelität oben Teil II. Kap. 3.4.5. In einem Schreiben vom 22. Mai 1847 erinnerte Thile Savigny an die Angelegenheit. Und in einer Notiz vom 27.8.1847 bemerkte Thile, dass die Sache in fünf Wochen wieder vorzulegen sei, da der König den Bericht der Justizminister erwarte. Vgl. GSTAPK I. HA Rep. 89, Nr. 930 (Adel und seine Neubelebung, Erhebung in den Adelsstand und Verlust des Adels 1841-1847) Bl. 26-27. 336 Lawrence Stone, Inheritance strategies among the English landed elite 1540-1880, in: Le modèle familiale Européen: normes, déviances, controle du pouvoir; actes des séminaires organisée par l’École Français de Rome et Universitá di Roma (1984), Rom 1986, S. 267-290, hier S. 267f. 337 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.3.3.



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waren weder Majorate, noch Fideikommisse oder das strict settlement landesherrliche Leihen, sondern privatrechtliche Stiftungen. Das darin gebundene Vermögen musste im Unterschied zu Lehen oder einem „Hausgut“ nicht im Falle eines mangelnden männlichen Erben zurückgegeben werden. Während sich Majorate ursprünglich auf Stiftungen des hohen Adels beschränkten, waren unter dem niederen Adel auf dem Kontinent vor allem Fideikommisse üblich, und wurden in einigen Gegenden Deutschlands auch als Stammgut, Familienstammgut, Familienanwartschaft bezeichnet. Im Unterschied zur modernen Stiftung, die als Rechtsperson gilt, war das Fideikommiss ein rechtliches Objekt. Als kontinentaleuropäisches Institut variierte es von Land zu Land, wobei es in einigen Staaten ausdrücklich auch bürgerlichen Grundbesitzern (und als Geldfideikommissum selbst reichen Stadtbürgerfamilien) offenstand.338 Das strict settlement stellte demgegenüber eine englische Sonderentwicklung dar, da andere Rechtsformen der Besitzsicherung dort schon früh verboten worden waren. Fideikommissarische Stiftungen und strict settlement hatten im Unterschied zu Majoraten gemeinsam, dass sie keine exklusiv dem Adel zustehenden inner-familialen Besitz- und Erbordnungen darstellten. Geschichte und Rechtsnatur von Fideikommiss und Strict Settlement Ursprünglich antik-römischer Herkunft verbreitete sich das Fideikommiss seit dem Mittelalter von Spanien ausgehend über ganz Kontinentaleuropa, wo die sogenannten „Majorate“ die rechtlich „moderne“ Version der Fideikommisse begründeten. Über Italien erreichte diese Rechtsform den deutschen Raum im Verlaufe des 17. Jahrhunderts. In Brandenburg-Preußen wurde es erst im 18. Jahrhundert näher bekannt und eingeführt. In Preußen wurde dieses Rechtsinstitut in allgemein verbindlicher Form durch das Allgemeine Landrecht definiert, nachdem es zuvor schon jahrzehntelang praktiziert worden war. Ein Minimaleinkommen des gebundenen Besitzes von 2500 Talern wurde festgeschrieben. In dieser präzisierten Ausgestaltung des preußischen Landrechts wurde nur Grundbesitz und Geldkapital zur Bildung eines Fideikommisses zugelassen (was z.B. Aktien und Beteiligungen ausschloss). Diese Kodifizierung im Landrecht belegt das besondere Interesse des Staates an dieser Stiftungsform. Die besondere „Staatsnähe“ des Fideikommisses in Preußen belegt auch die staatliche Oberaufsicht: der König hatte alle Stiftungen zu genehmigen, und die unter staatlicher Oberaufsicht stehenden, doch durch die Ritterschaften selbstverwalteten Kreditinstitute der sogenannten „Landschaften“ bildeten eine eigene Behörde zur Beaufsichtigung der Fideikommisse. Diese Ritterschaftskollegien in den unterprovinzialen Landschaften und die Hauptritterschaftsdirektion in Berlin überwachten nicht nur die rechtsgemäße Stiftung und die Erbgänge, sondern griffen nötigenfalls auch in

338 Alle diese Informationen aus: Handwörterbuch der Staatswissenschaften (Stichwort Fideikommiss), hrsg. v. Ludwig Elster u.a., Dritter Band, Jena 1926, S. 993ff.

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die Wirtschaftsangelegenheiten der fideikommissarisch gebunden Güter ein.339 Die gesetzliche Regelung, dass im Falle einer Überschuldung des Fideikommisses nur der Profit, nicht die Vermögenssubstanz zu haften hatte, bedeutete in letzter Konsequenz eine staatliche Garantie des wirtschaftlichen Überlebens der Stiftungen. Allerdings gelang es den preußischen Monarchen im 18. Jahrhundert noch kaum, den Adel zu solchen Stiftungen zu bewegen.340 Strittig blieb in Preußen bis 1839 außerdem, ob schon das ALR bürgerliche Rittergutsbesitzer formell zu fideikommissarischen Stiftungen zuließ; in jedem Fall wurde diese Möglichkeit bis weit ins 19. Jahrhundert nicht umgesetzt.341 Adolf v. Rochow bezeichnete noch in seiner Adelsdenkschrift von 1840/41 das Fideikommiss als adliges Privileg. Diesen Standpunkt hatte auch sein Vetter, der Innenminister Gustav v. Rochow bis 1838 vertreten, wobei er sich auf den 2. Teil, 9. Titel, § 40 des Landrechts berief.342 Ein Briefwechsel zwischen dem Innenminister und den Justizministern im folgenden Jahr entschied allerdings, jedoch gegen die Stimme des Justizministers v. Kamptz, zugunsten der bürgerlichen Rittergutsbesitzer.343 Auch in dieser Frage, wie schon in der allgemeinen Adelsdebatte, zeigten sich die gegensätzlichen Positionen der mehr „ritterschaftsadlig“ orientierten Rochow und Kamptz gegenüber dem konsequent am neuen Stand der Rittergutsbesitzer interessierten Justizminister Mühler.344 In England hatte sich in den fünfziger Jahren des 17. Jahrhunderts hingegen die Besitzbindungsform des strict settlement herausgebildet. Es löste ältere Formen von „entails“ ab, war selbst jedoch eine trickreiche Erfindung englischer Anwälte gewesen, kein „feudales“ Institut.345 Der Hintergrund für die Entwicklung dieser neuen Form einer Bodenbindung und Erbordnung war der langfristige Versuch der englischen Krone gewesen, die Zentralmacht gegenüber dem Adel zu stärken. Seit den Regierun-

339 Schiller, Vom Rittergutsbesitz, S. 86f. 340 Vgl. Schieder, Friedrich der Große, S. 28-29 u. Anmk. 59. 341 Handwörterbuch der Staatswissenschaften, S. 997. Dagegen hatte die Kronprinzenkommission im Entwurf der Provinzialständeordnung 1822 ausdrücklich auch bürgerlichen Rittergutsbesitzern das Recht zu fideikommissarischen Stiftungen zuerkannt, vgl. oben Teil I. Kap. 2.5.1. 342  Das Allgemeine Landrecht gestattete allerdings „jedem Einwohner des Staats“, sein freies Eigentum als Fideikommiss zu binden. Jedoch bezüglich der Rittergüter, bzw. „adligen Güter“ statuierte dieser Paragraph eindeutig: „Nur der Adel kann Familien-Fideicommisse aus adlichen Gütern errichten“, vgl. ALR, 2. Teil, 9. Titel,§ 40, in: Allgemeines Landrecht, hrsg. v. Hans Hattenhauer, S. 535. 343 Schiller, „Edelleute …“, S. 276, Anmk. 65. 344 Auf den Bericht des Staatsministeriums stimmte der König der Mehrheit bei, dass Fideikommisse auch von bürgerlichen Rittergutsbesitzern gestiftet werden können, vgl. GSTAPK Rep. 84 II Tit. 4 X (Justizministerium betr. Revision der Gesetzgebung), Nr. 17 über ALR 1826-1842 (unpaginiert): A.C.O. FW III. Berlin, 12. August 1839. 345 Zur Zeit des Commonwealth und der Restauration im 17. Jahrhundert wurde das strict settlement von Juristen entwickelt, vgl. Bush, Aristocracy, S. 58f, auch George C. Brodrick, English Land and English Landlords. An Enquiry into the Origin and Character of the English Land System, with Proposals for its Reform, London/Paris/New York 1881, S. 90.



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gen Edwards VI. und Heinrichs VIII. wurden eine Reihe juristischer Entscheidungen gegen die dauernde Bindung von Grundbesitz gefällt.346 Das endgültige Verbot von „perpetuities“ erging 1614. Auf dieses Verbot antwortete das Institut des strict settlement, indem darin der Erblasser durch einen Vertrag mit seinem direkten Erben dessen Konsens zu einer lebenszeitlich begrenzten Bindung des Besitzes sicherte. Dies wurde in der Regel dadurch erreicht, dass der Stifter eines strict settlement den Erben (regelmäßig der älteste Sohn) durch einen Rechtsakt, z.B. anlässlich einer Testamentsvollstreckung oder dessen Hochzeit, zum „tenant-for-life“ („Leibzüchter“, bzw. Nießbraucher) erklärte, dem das Einkommen des ererbten Besitzes („usufruct“) zustand. Der Besitz als Ganzes wurde jedoch als bedingte Erbanwartschaft mehreren Treuhändern übereignet („contingent remainders“). Dies waren in der Regel die noch ungeborenen Kinder des Erben. So band das strict settlement den Besitz nur für zwei Generationen: den Erben der Stiftergeneration („tenant-for-life“), sowie dessen Sohn (den „tenant-in-tail“) für die Dauer seiner Minderjährigkeit. Bei Volljährigkeit hatte der „tenant-in-tail“, also der Enkel des ursprünglichen Begründers des settlements, das Recht, das strict settlement wieder aufzuheben. Einzige Voraussetzung war die Zustimmung des „protector of the settlement“ der in der Regel mit dem „tenant-forlife“ (also seinem Vater) identisch war. Gegen die Gewährung einer Kompensation, meist in Form einer vorläufigen Rente, gab der „tenant-in-tail“ seine Zustimmung für eine erneute Besitzbindung auf zwei Generationen, wodurch er selbst für seine Person wieder zum Stifter wurde. Um die Kontinuität der Besitzbindung zu sichern war es also notwendig, das settlement alle zwei Generationen zu erneuern.347 Aber der Kontrakt eines strict settlement beinhaltete noch mehr: es sicherte z.B. das Vermögen, das die Braut in die Ehe einbrachte, oder regelte die Unterhaltszahlungen an die Witwe (normalerweise den Jahreszins auf das Vermögen, das sie in die Ehe eingebracht hatte).348 Um ein strict settlement zu gründen und zu bewahren bedurfte es also der Zusammenarbeit dreier Generationen: den Stifter des Fideikommisses in der ersten Generation, dessen Sohn, der als „tenant-for-life“ als Nießbraucher von seinem Erbe

346 Zwar gab es im Mittelalter ein Lehnsystem, das die sogenannten „entail by uses“ hervorgebracht hatte. Diese „entails“ verboten den Verkauf königlicher Kronlehen und legten die Vererbung auf die folgenden Generationen fest. Jedoch wurden diese „entails“ im 15. Jahrhundert „barrable“, d.h. sie konnten durch freien Willensentscheid des Inhabers aufgehoben und das Land verkauft oder verpfändet werden. 347 Zu dieser Praxis des Stiftungsaktes des strict settlement Brodrick, English Land, S. 129-151. 348 Den Töchtern wurde durch das strict settlement ein Geldbetrag garantiert, welcher ihnen in der Regel erlaubte zu heiraten. Die jüngeren Söhne erhielten entweder einen Teil des Grundbesitzes, oder bekamen Jahresrenten und Abfindungen ausgezahlt. Insofern war das strict settlement, wie das Fideikommiss, zugleich ein Instrument welches die Erbangelegenheiten einer ganzen Familie regelte. Es bot zugleich eine gewisse Versicherung, dass der Haupterbe den Besitz nicht veräußerte. Vgl. zur familial-sozialen Funktion des strict settlement Bush, Aristocracy, S. 58-65, bes. S. 59.

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lebte, und einen männlichen Erben der dritten Generation, der als „tenant-in-tail“ in Konsens mit seinem Vater das strict settlement für die nächsten beiden Generationen erneuerte. Diese notwendige intergenerationelle Zusammenarbeit war es, die das strict settlement in den Augen Dohna-Schlobittens wie auch Bunsens so geeignet erscheinen ließ, eine erbdisziplinierende „Familiengesinnung“ regelrecht zu erzwingen. Der alle zwei Generationen stattfindende „Bruch“ des settlement, der eine neue Stiftung erforderte, erwies sich als ökonomisch von Vorteil. Der Wegfall der Besitzbindung erlaubte es, in dieser kurzen Periode zwischen Auflösung und Neugründung, Teile des vormals gebundenen Landes zu verkaufen oder mit Hypotheken zu belasten. Dieser Zufluss von frischem Kapital ermöglichte wichtige Investitionen in die Bewirtschaftung der Güter. Für die Entwicklung eines frühen Agrarkapitalismus in England war dieser Faktor von wesentlicher Bedeutung. Adelsformierende Folgen der „neuen“ Fideikommisse und des projektierten Strict Settlement für den preußischen Adel Typisch für das englische strict settlement war also die Einsetzung eines Haupterben, der zudem durch Primogenitur bestimmt war. Nicht die Familie in ihrer Gesamtheit, sondern männliche Individuen wahrten den Grundbesitz in einer strikt patrilinearen Vererbungslinie. Der Besitz zirkulierte daher ausschließlich zwischen den Generationen innerhalb einer engen Kernfamilie. Ganz anders war dagegen die Ausgangslage im ostelbischen Preußen gewesen. Die Erbschaftsregelungen der alten Lehnrechte variierten nicht nur zwischen den verschiedenen Stammprovinzen, sondern selbst zwischen den einzelnen Adelsfamilien.349 Trotzdem gab es charakteristische Gemeinsamkeiten. So war seit jeher ein weit über die Kernfamilie hinausreichender Kreis von (potentiellen) Gutserben charakteristisch – die Agnaten der Geschlechtsfamilie. Solange erbberechtigte Söhne in der gutsbesitzenden Kernfamilie vorhanden waren erbten zwar diese das Gut, aber noch vor den Töchtern waren eben die zum Teil recht weitläufig verwandten männlichen Agnaten erbberechtigt. Darüber hinaus war Primogenitur im ostelbischen Preußen zwar nicht unbekannt, aber keineswegs die Regel in den Erbgängen gewesen. Üblicherweise wurde ein Haupterbe aus einem Kreis von Brüdern vom Vater bestimmt, der keineswegs der älteste Sohn sein musste; die übrigen wurden ausgezahlt. Nicht ungewöhnlich war auch, dass der Vater einem Sohn den Besitz verkaufte, um seinerseits mit dem Geld die übrigen Kinder abzufinden. Zum Teil wurden auch Losverfahren eingesetzt, um einen Haupterben zu bestimmen. Erbgänge zwischen Brüdern wie zwischen Vettern und verschiedenen Zweigen des adligen Geschlechtes waren häufig. Güter, die sich einige Generationen in der

349 Vgl. dazu die detaillierte rechtshistorische Untersuchung zu den preußischen Provinzen Brandenburg und Pommern von Dirk H. Müller: Adliges Eigentumsrecht und Landesverfassung. Die Auseinandersetzungen um die eigentumsrechtlichen Privilegien des Adels im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel Brandenburgs und Pommerns (Band 11 Elitenwandel in Moderne), Berlin 2011.



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Hand einer Familie befanden folgten deshalb meist nicht sehr lange einer rein patrilinearen Erblinie. Anders als bei der Lehensordnung konnte die Erbfolge bei Familienfideikommissstiftungen durch den Begründer festgelegt und in den Stiftungsurkunden fixiert werden. Wiewohl Fideikommissstiftungen im Besitz der ganzen Familie waren setzte sich in ihnen daher eine vorwiegend primogenitale Erbfolgeordnung durch, obgleich andere Erbfolgeordnungen möglich waren. Allerdings wurden in späterer Zeit, als die aufgelösten Lehen zunehmend in fideikommissarische Stiftungen überführt wurden, dem Lehnrecht entsprechend oft alle Agnaten als Erben eingesetzt. In einigen Fällen war es dem Inhaber des Fideikommisses gestattet, aus einer Anzahl legitimer potentieller Erben seinen Nachfolger zu bestimmen.350 Trotzdem stärkte das Aufkommen der Fideikommissstiftungen in Preußen das Primogeniturprinzip insgesamt. Friedrich Wilhelm IV. suchte durch die geplante Einführung des strict settlement diese primogenitalen Tendenzen gezielt zu fördern und beabsichtigte, wie er ja 1847 geäußert hatte, selbst für fideikommissarische Stiftungen künftig grundsätzlich nur noch primogenitale Vererbungsbestimmungen zu genehmigen. Diese primogenitalen Vorgaben mussten zugleich die patrilineare Erblinie stärken, Erbgänge an Seitenverwandte unwahrscheinlicher machen. Eine solche patrilineare Tendenz wohnte ja schon den Bestimmungen der Provinzialständeordnung inne, die postuliert hatten, dass für den sofortigen Erhalt der Standschaft durch Erbschaft der Grundbesitz ausschließlich in „auf- und absteigender Linie“ erfolgen dürfe: damit konnten z.B. in Fällen, in denen Schwiegervater und Schwiegersohn als Erblasser und Erben auftraten, die Besitzzeiten nicht addiert werden.351 Die ältere gesamthänderische Bodenbindungs- und Erbstruktur, wie sie in den ostelbischen Stammprovinzen Preußens vorherrschte, wurde also immer stärker sanktioniert und aufgegeben. Die patrilinear definierte adlige Kernfamilie, nicht mehr das adlige Geschlecht, stand im Fokus dieser monarchisch-staatlichen Leitbilder und bildete sich zu einem eigenen Kriterium erwünschter „Adligkeit“ aus. Die Einführung eines neuen Bodenbindungsinstrumentes nach dem Modell des strict settlement, wenn es denn erfolgt wäre, hätte diese Tendenz noch verschärft, da nach diesem Modell nicht mehr die Familie in ihrer Gesamtheit durch diese Stiftung angesprochen worden wäre, sondern nur noch ausgesuchte Individuen. Dies hätte eine stärkere Verantwortung der einbezogenen Personen bedeutet, die nicht mehr an ein „abstraktes“ Lehninstitut oder eine staatliche Fideikommissbehörde (Hauptritterschaftsdirektion) hätte delegiert werden können. Zugleich hätte diese „Individualisierung“ des Stiftungsgeschehens von den preußischen Gutsbesitzerfamilien eine neue Dimension innerfamilialer Selbstdisziplinierung eingefordert, da es nicht wie das Fideikommiss auf Dauer begründet war, sondern immer wieder bestätigt werden musste. Während in der jüngeren Forschung behauptet wurde,

350 Vgl. Schiller, Vom Rittergutsbesitz, S. 318. 351 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.5.1.

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dass das verstärkte Aufkommen von Fideikommissen in Preußen-Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Indiz einer nachlassenden „innerfamilialen Solidarität“ (René Schiller), eines „Bedeutungsverlusts traditionellen adligen Familiensinns“ (Monika Wienfort) zu deuten sei, da sich die minder abgefundenen Söhne nicht mehr mit ihrem geringeren Anteil am Erbe zufrieden geben wollten und es deshalb eines neuen Instruments der Grundbesitzsicherung bedurfte, nämlich des Fideikommisses, ist vom genauen Gegenteil auszugehen: gerade die – monarchisch-staatlich gewünschte – Verbreitung der Fideikommisse und die darin geförderte Primogenitur und Patrilinearität löste die alte Vorstellung vom (lehensmäßig verbundenen) Familienverband ab, zwang den Adel, sich in seinen Erbstrategien auf die Kernfamilie zu konzentrieren. Das Problem der „Disziplinierung“ der Erben, d.h. der mindererbenden Kinder, war keineswegs erst ein Problem der nachständischen Zeit und aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft. Erbauseinandersetzungen hatten auch im Adel immer stattgefunden – von früherer „selbstverständlicher Akzeptanz der Konzentration des Erbes auf den männlichen Erstgeborenen“ (Wienfort) kann schwerlich gesprochen werden, schon gar nicht im ostelbischen Preußen.352 Vielmehr hatte gerade der Adel einen scharfen Sinn dafür, wie sehr die Familiensolidarität durch ein auf Grundbesitz basiertes Rechtsinstitut durchgesetzt werden musste, indem es eine dauernde materielle Grundlage eines gemeinsamen Interesses schuf.353 Diesem Zweck hatte nicht zuletzt das Institut der Lehen gedient. Erst mit seiner allmählichen Ablösung, wie oben bemerkt, wurde das Fideikommiss im ostelbischen Adel allgemeiner akzeptiert. Die Auseinandersetzungen um eine Modifikation, bzw. Einführung völlig neuer Bodenbindungsmodelle in den 1840er Jahren führte schließlich sogar, anders als der über zehn Jahre früher ausgefochtene staatsministerielle Konflikt über die Einführung einer Adelsmatrikel, zu wirkmächtigen Entscheidungen über neue Kategorien und Kriterien einer gewollten preußischen „Adligkeit“: die administrativ relativ konsensual befürwortete primogenitale und daraus resultierend zugleich patrilineare Erblinie als Kriterium für herausragenden, besonders „würdigen“ gebundenen adligen Grundbesitz wurde zwar vor 1848 nicht mehr rechtswirksam umgesetzt, präjudizierte jedoch zentrale Elemente der Kategorienbildung, die zehn Jahre später, nach der Revolution, bei der Herrenhausgründung zu Anwendung kommen sollten.

352 Vgl. Monika Wienfort, Adlige Handlungsspielräume und neue Adelstypen in der „Klassischen Moderne“ (1880-1930), in: Geschichte und Gesellschaft, Heft 3, 2007, S. 416-438, hier S. 433. 353 Der oben in Kap. 4.2.3. vorgestellte schlesische Adelsreformvorschlag von 1841 brachte diesen Gedanken z.B. ganz deutlich zum Ausdruck. Im Übrigen war die „Erstgeburt“ – Primogenitur – in Preußen wie in Deutschland (mit Ausnahme einiger Hoch- und Stiftsadelsfamilien) bis ins 19. Jahrhundert nicht die Regel adligen Erbverhaltens. Im ostelbischen Preußen waren Losverfahren und Auswahl des Gutserben durch den Vater noch im 19. Jahrhundert gängige, ja – im zweiten Falle – immer wieder geforderte Verfahren!



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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4.3.3. Ein Ausblick nach 1848: Adelsreform durch „Aristokratisierung“? Die Etablierung des Herrenhauses als Adelsformierung ohne Adelsreform Schon die vormärzlichen inneradministrativen Auseinandersetzungen über die Einführung neuer, wirtschaftlich flexiblerer Besitzbindungsformen zur ökonomischen wie sozialpolitischen Dynamisierung des (adligen) Großgrundbesitzes durch vereinfachte Fideikommissstiftungen und ein preußisches strict settlement implizierten die Definition einer „neuen Classe von Landgüterbesitzern“, einer „composite elite“, wie sie Dohna um 1810 vorgeschwebt hatte. Die über modifizierte bzw. neue Besitzbindungsformen vor 1848 diskursiv schon weitgehend abgeschlossene, aber praktisch nicht umgesetzte Kategorien- und Kriterienbildung bezüglich ständepolitisch herausragender Adelsgruppen erfuhr unter den durch die Revolution völlig veränderten politischen Rahmenbedingungen eine selektive Umsetzung. Dabei verkehrte sich allerdings die politische Zielrichtung dieser Parameter – nicht mehr der ursprünglich projektierte „Neue Adel“ wurde diesen Kriterien vorzüglich unterworfen, sondern der bestehende, „alte“ Adel! Der „Neue Adel“ entpuppte sich insofern als formierter „Alter Adel“! Schon aufgrund dieser vor 1848 unvorhersehbaren Entwicklung verbietet es sich, aus den Resultaten der Herrenhausbildung von 1854 auf die originären Motivationen und Überzeugungen Friedrich Wilhelms IV., sowie auf eine schon im Vormärz zwingend angelegte Entwicklungstendenz zu dieser Form einer „Ersten Kammer“ zurückzuschließen. Bevor auf die politischen Gründe dieser paradoxen Entwicklung und die adelsformierende Wirkung der daraus resultierenden Kategorienbildung näher eingegangen wird, ist noch einmal die Kontinuität der adelspolitischen Anliegen Friedrich Wilhelm IV. auch nach 1848 hervorzuheben. Denn nach der Revolution bildeten deren aristokratisierenden Aspekte die einzig verbliebenen strategischen Mittel einer formierenden Adelspolitik, die einer adelskritischen Öffentlichkeit noch vermittelbar schienen.

Die Kontinuität der adelsreformerischen Ideale Friedrich Wilhelms IV. nach 1848 Denn Friedrich Wilhelm IV. gab unter dem Eindruck der Revolution von 1848/49 seine adelspolitischen Ideale keineswegs auf. Wie schon vor 1848 hielt er trotz aller Widerstände an den Leitlinien seiner Überzeugungen fest, verlagerte allenfalls seine Initiativen auf andere handlungspraktische Schwerpunkte. Allerdings zeigte er sich nun flexibler in seinen ständischen Vorstellungen. Vor allem durch die Bildung neuer Institutionen und mehrere Verfassungsrevisionen suchte er seine Ziele doch noch zu erreichen.354

354 Vgl. Barclay, Frederick William IV., S. 181; 214ff; 246ff.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Anfänglich wollte Friedrich Wilhelm, nachdem sich der durch die Ereignisse von 1848/49 aufgewirbelte Staub etwas gelegt hatte und an eine restaurierende Politik überhaupt zu denken war, sogar direkt an die adelsreformerischen Verhandlungen von 1847/48 anknüpfen. Den Anlass dazu bot der schon 1844 nobilitierte damalige Oberstlieutnant, jetzt Oberst (v.) Kusserow. Auch er war mit einer beschränkten Adelsvererbung „begnadigt“ worden, auch er hatte wie die bei den Huldigungen Begnadigten unmittelbar darum gebeten, ihm im Interesse seiner Kinder keine Beschränkung der Adelsvererblichkeit aufzuerlegen. Damals war seine „Reklamation“ vom Staatsministerium aufgegriffen worden, um dem König die Frage vorzulegen, ob auch den nach den Huldigungen Nobilitierten gestattet sein würde, den Adel zugleich allen ihren Kindern zuteil werden zu lassen, und die Beschränkung der Adelsvererbung erst bei der Enkelgeneration eintreten solle. Diese Anfrage wurde durch die königliche Ordre vom 7. März 1845 dahingehend beschieden, dass in Rücksicht auf die noch „schwebenden“ Adelsverhandlungen eine Entscheidung vorläufig nicht erfolgen könne. So musste (v.) Kusserow, wie die schon 1840 Begnadigten, auf einen endgültigen Bescheid über seine Nobilitierung, bzw. auf ein Adelsdiplom bis nach 1850 warten. Am 28. Januar 1850 wiederholte Kusserow dieserhalb sein Gesuch, worauf der König dem Innenministerium über seinen Flügeladjudanten v. Schöler am 28. Februar 1850 mitteilen ließ, dass die neuen Grundsätze zur Verleihung des Adels nach 1840 sehr wohl „festgestellt“ worden seien, allein eine Veröffentlichung eines entsprechenden Gesetzes unterblieben war.355 Das Staatsministerium bemühte nun seinerseits in seinem Bericht vom 24. November 1850 die erwähnte Ordre vom 7. März 1845, und unterstrich, dass die damaligen Verhandlungen ausdrücklich als nicht abgeschlossen galten.356 Das Staatsministerium vermied jeden Hinweis auf die Verhandlungen der Adelskommission, zitierte alleine die an das Staatsministerium ergangenen Ordres, und erwähnte auch die im November 1846 an die ständische Immediatkommission wie auch an Mitglieder des Staatsministeriums ergangenen Entwürfe eines Adelspatents mit keinem Wort! Vielmehr behauptete das Staatsministerium, dass jetzt, da eine Entscheidung damals nicht ergangen sei, eine entsprechende Entscheidung „nicht an der Zeit“ sei, insbesondere, da die wenigen bisher aufgetretenen Vererbungsfälle des Adels von bei den Huldigungen begnadigten Personen kein solches Bedürfnis ergeben hätten, vielmehr sich „ohne Zurückgehen auf derartige Principien haben entscheiden lassen“. Offenbar spekulierte das nachrevolutionäre Staatsministerium darauf, dass durch solche Einzelfallentscheidungen die vom König immer

355 In derselben Mitteilung unterstrich der König einmal mehr, dass von einer Gesetzesveröffentlichung abzusehen sei, dass ihm vielmehr ein Entwurf über Adelsverleihungen vorzulegen sei, der diese „aufgestellten Grundsätze“ berücksichtigen solle. 356 Vgl. zu diesem Bericht über den Vorgang „Kusserow“ GSTAPK Rep. 89 Nr. 919 (Zivilkabinett, betr. die allgemeinen Bestimmungen in Adelssachen 1824-1874) Bl. 143-148. Unterzeichnet hatten der Ministerpräsident und die Minister der auswärtigen Angelegenheiten Freiherr v. Manteuffel und v. Ladenberg, v. Rabe (Finanzen), Simons (Justiz), v. d. Heydt (Handel, Gewerbe), v. Stockhausen (Krieg).



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noch hartnäckig verfolgten neuen Grundsätze endgültig außer Kraft gesetzt und in Vergessenheit gebracht werden könnten.357 Neue handlungspraktische Felder: statt Regelung der Adelsverleihung nun eine klarere Regelung des Adelsverlustes? Für den Monarchen war diese staatsministerielle Antwort aber vorerst nur Anlass, von seinem Kabinettsrat Illaire im Januar 1851 einen Bericht über die bis 1848 stattgefundenen Verhandlungen des Adelsgesetzes zu verlangen.358 Erst auf den Bericht Illaires lenkte der Monarch mit einer Allerhöchsten Ordre vom 8. Februar 1851 ein, und nahm von den ursprünglich beabsichtigten Bestimmungen, die Erblichkeit des Adels vom Grundbesitz abhängig zu machen, endgültig Abstand.359 Doch in der selben Kabinettsordre kündigte der Monarch sogleich an, dass er nun stattdessen den Adelsverlust konsequenter handhaben wolle: über den Verbleib im „Stande des Adels“ müsse in Zukunft entscheiden, „dass der ihm Angehörende nicht Handlungen vornimmt, welche die Ehre des Standes gefährden“. Dieser Gesichtspunkt sei bei der Aufhebung der Bestimmung des ALR Teil II Tit.9 § 76 durch das Edikt vom 9. Okt. 1807 nicht ausreichend gewürdigt worden. Künftig sollten die Adelsdiplome deshalb einen Passus enthalten, dass der in den Adel Erhobene, bzw. dessen Abkömmlinge den Adel verlieren, sobald sie einen nicht passenden Lebensberuf ergriffen, insbesondere ein Handwerk oder die Schauspielerei betrieben. Das Adelsdiplom für den v. Kusserow sollte von den Ministern des Inneren und der Justiz ent-

357 So beantragte das Staatsministerium für den Fall Kusserow, dass dieser und seine Kinder das adlige Prädikat führen dürften, vorbehaltlich allgemeiner Grundsätze über die Adelsvererbung und ohne eine Präjudiz zu schaffen. Dies käme nur einer Erweiterung der am 15. Oktober 1840 aufgestellten Grundsätze für die bei den Huldigungen Begnadigten auf später Nobilitierte gleich. 358 Dies hatte zur Folge, dass nunmehr die Akten über diese Angelegenheit gesucht und gefunden werden mussten. Vgl. das Schreiben des Geh. Registrators Gude im Zivilkabinett an das Justizministerium am 4.1.1851, indem er die Akten über die Adelsverhandlungen verlangt, damit der Kabinettsrat Illaire diese am folgenden „Montag früh“ zum Vortrag benutzen könne. Doch die Akten blieben vorläufig unauffindbar, auch der zwischenzeitlich ausgeschiedene Justizminister v. Savigny konnte nur vermuten, dass er beim Niederlegen seines Amtes die Akten an seinen Mitarbeiter Raumer abgegeben habe. Tatsächlich konnte der Direktor des Geheimen Staats- und Kabinettsarchivs v. Raumer diesen Vorgang bestätigen. Diese Akten ressortierten jetzt beim Ministerium des Inneren, informierte Raumer das Zivilkabinett kurz darauf; er würde veranlassen, dass diese Akten umgehend zugesandt würden, da er sonst auch nicht wüsste, an welches Ressort diese Aktenvorgänge sonst noch gehen könnten – das Hausministerium sei ja bekanntlich für die Adelssachen nicht mehr zuständig. Tatsächlich konnte Raumer am 13.1. die fraglichen Akten übermitteln, wobei er in seinem Anschreiben darauf aufmerksam machte, dass die „letzten Entwürfe unter spezieller Leitung des Herrn Ministers v. Savigny [...] durch die Ereignisse von 1848 unterbrochen worden“ seien. Vgl. den Austausch der erwähnten Noten in: GSTAPK Rep. 89 Nr. 919, Bl. 152-157. 359 Diese Kabinettsordre befindet sich Ebd., Bl. 158.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

sprechend abgefasst werden.360 Damit wandte sich der König einem Thema zu, das in der Adelskommission vor allem von Lancizolle nachdrücklich verfolgt worden war, von der Mehrheit der Kommissionsmitglieder wie des Staatsministeriums aber abgewiesen wurde, was anschließend den Protest des Kabinettsrats Voß gegen Raumers Adelspatent veranlasste.361 Aber auch gegen diesen königlichen Vorstoß erhob das Staatsministerium seine Einwände: diese vom König intendierten neuen Bestimmungen würden einen Eingriff „in wohlerworbene“ Rechte der seit 1840 Nobilitierten darstellen der nachträglich nicht mehr erfolgen dürfe. Vor allem sprächen „principielle Gründe“ dagegen, da seit der Reformgesetzgebung die ständische Schranke zwischen „Edelmann und Nichtedelmann“ wie auch zwischen „Stadt und Land“, das heißt: idealtypisch städtischen und ländlichen „Beschäftigungen“, „gebrochen“ worden sei. Diese Schranke sei wegen der §§ 185-189 im 8. Titel des zweiten Teiles des Landrechts schon „lange vorher eine äußerst schwankende und unsichere“ geworden, aber passten vor allem deshalb nicht mehr in die Zeit, als sich im Zuge der Industrialisierung die handwerklichen Tätigkeitsbereiche zu sehr ausdifferenziert und gleichzeitig intensiver mit der übrigen Industrie verflochten hätten, so dass diese in den mannigfachsten Verzweigungen mit den Fabriken konkurriert. Die industrielle Ausbeutung des größeren Grundbesitzes greift in das Handwerk über, und es würden sich möglicherweise in dem Wirtschafts- und Geschäftsbetriebe manches adeligen Gutsbesitzers die Kriterien eines Handwerks nachweisen lassen, ohne daß die Standes-Genossen in einem solchen Betriebe etwas Unpassendes fänden.

Außerdem wies das Staatsministerium wie schon in den Diskussionen vor 1848 auf die drohende „Teilung“ des „Adelsstandes“ hin. Der Kabinettsminister v. Costenoble musste während seiner Übermittlung dieses staatsministeriellen Bescheids jedoch verzweifelt feststellen, dass sich der König in keiner Weise vom Inhalt des Berichts beeindrucken ließ, obwohl er ausdrücklich und in wörtlichem Zitat die „principiellen Gründe [des Staatsministeriums, G. H.] gegen die von Seiner Majestät beabsichtigten neuen Bestimmungen“ vorgetragen habe.362 Weder in Bezug auf die seit 1840 ergange-

360 In einem weiteren „eigenhändigen Nachtrag“ (so wörtlich) ergänzte der König, dass er „nicht abgeneigt“ sei, den „Stifter derartiger neuer Adels-Geschlechter“ (sprich: den mit dem Adelsstand neu begnadigten) „zu autorisieren und später dem Geschlechte selbst“, durch „feyerlichen Familienschluß“ zu gestatten, „Praecisierungen und Verschärfungen der Bedingungen festzusetzen unter welchen der Adel einzelner Nachkommen erlöschen soll“. 361 Vgl. oben Teil II. Kap. 3.4.5. Savigny hatte Voß’ Intervention ausdrücklich verworfen, da das Gesetz über Adelsverleihungen nicht mit dem Thema des Adelsverlustes in Verbindung gebracht werden dürfe: sonst käme man zu einer „Kodifizierung“ des Adelsrechts! 362 Vgl. den Report Costenobles vom 25. Januar 1853 an das Staatsministerium, vermutlich an Ministerpräsident v. Manteuffel oder den Minister des Inneren, v. Westphalen. Am 24. Januar 1853 hatte der Kabinettsminister Costenoble den Bericht des Staatsministeriums dem König vorgetragen, vgl.:



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nen Standeserhöhungen, noch in Rücksicht auf künftige wollte der König von seinen Intentionen lassen, sondern nur „eine andere Fassung jener neuen Bestimmung in Erwägung nehmen und darüber mit Ew. Exzellenz zu Rathe gehen.“ Ein Schrei­ben des Königs vom 16. Februar 1853 informierte das Staatsministerium schließlich über die von Costenoble angekündigte neue Fassung der vom König gewünschten Bestimmungen.363 Der König gab sich allein insofern kompromissbereit, als der Adel bei nicht angemessenen Beschäftigungen nicht mehr endgültig erlöschen, sondern wiederbelebt werden könne, sobald die Nachkommen eines „Entadelten“ über zwei Generationen wieder einen angemessenen Beruf ausübten.364 Über die weitere Entwicklung in dieser Angelegenheit geben die Akten keine nähere Auskunft.365 Doch belegen noch andere Indizien, wie sehr Friedrich Wilhelm entschlossen war, an seinen adelsformierenden Idealen festzuhalten wo immer sich die Gelegenheit bot, und sich selbst durch den revolutionären Bruch nicht irritieren ließ. Das englische Adelsmodell bleibt für Friedrich Wilhelm vorbildlich Selbst nachdem Friedrich Wilhelm in seinem Anliegen, die Konditionen des Adelsverlusts zukünftig in warnend-abschreckender Weise direkt in die Adelsdiplome aufnehmen zu lassen, bzw. den Familien eine autonome Definitionsmacht darüber einzuräumen, einmal mehr an seinem Staatsministerium gescheitert war, blieb sein Interesse an einer Adelsreform „nach englischem Muster“ wach. Dies illustriert seine genaue Kenntnisnahme der mit seinen Zielen ganz vergleichbaren politischen Initiative der bayerischen Regierung von 1855. Die versuchte nach den revolutionären Erschütterungen das konservative Element über den Adel in den

GSTAPK I. HA Rep. 89 Nr. 919, Bl. 160-160v. Costenoble empfahl gegenüber seinem Adressaten die Entwicklung einer „allgemein gehaltenen Fassung“ der königlichen Absichten, wodurch sich das „Bedenkliche“ der „beabsichtigten Klausel“ „unschädlich“ machen ließe. Zwar sei der Gedanke, welcher den königlichen Absichten zu Grunde läge, ein „richtiger und gesunder“: „Aber nicht alle richtigen und gesunden Gedanken lassen sich heutzutage praktisch realisieren“. Der Bericht des Staatsministeriums vom 31. Dezember 1852 Ebd., Bl. 161-168. In diesem Bericht vermerkte das Staatsministerium gleich zweifach, dass mit der Kabinettsordre vom 8. Februar 1851 „[...] die an den Grundbesitz geknüpften Bedingungen aufgehoben sind, durch welche Eure Majestät die Vererbung des bei den Erbhuldigungen Allerhöchst verliehenen Adels beschränkt hatten [...]“. 363 Der entscheidende Passus lautete nun: „[...] wenn sie einen Lebensberuf ergreifen, der mit der eigenthümlichen Standesehre des Adels und der aus den Staatsverhältnissen hervorgehenden gesellschaftlichen Beziehungen nicht vereinbar erscheint, auch wenn dieser Beruf an sich ein vollkommen ehrenhafter ist, namentlich aber wenn sie eine Beschäftigung wählen, welche körperliche Arbeit erfordert, oder öffentliche Schaustellungen der Person bedingt“, Ebd., Bl. 173-173v. 364 Diesen Beschluss wiederholte Friedrich Wilhelm in einer Ordre an das Staatsministerium vom 27. November 1853, in der er sich explizit gegen das Bedenken wandte, dass er mit seinen Bestimmungen keinen eigentlichen Adelsverlust meinte, als ein „Ruhen“ des Adels, ohne präjudizierende Wirkung auf eventuell schon geborene Nachkommen. Vgl. Ebd., Bl. 174-175. 365 Eine Aufnahme der vom König gewünschten sanktionierenden Bestimmungen in die Adelsbriefe scheint jedoch nie erfolgt zu sein.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Kammern zu stärken.366 Dazu forderte ein regierungsamtliches Zirkularschreiben des Ministers des Inneren, Graf August v. Reigersberg, den bayerischen Adel zu Einsendung von vertraulichen Vorschlägen und Gutachten darüber auf, wie die Fideikommissstiftung erleichtert, die Ausbildung der Söhne verbessert, die aktive politische Mitwirkung des Adels in Gemeinden und Bezirken besser motiviert werden könne.367 Die Parallelen dieser Regierungsanfrage zur adelsreformerischen Themensetzung in Preußen vor 1848 sind augenfällig. Die größte Resonanz erfolgte aus dem fränkischen Adel. Wie im Falle der Adelszeitung und der (erfolglosen) Adelsvereinsgründung von 1841 erwies sich einmal mehr, wie sehr gerade im fränkischen Adel adelsreformerische Ideen und Bestrebungen verankert waren und dieser sich dabei immer wieder auf Preußen bezog.368 Der seit dem späten 18. Jahrhundert wiederholte staatliche Eingriff in die dortigen reichsritterlichen Adelsverhältnisse, erst durch Preußen, dann durch Bayern mit den Konstitutionen von 1808 und 1818, hatte den fränkischen Adel in seiner ständehistorischen Überlieferung schon mehrfach überformt und gebrochen, was entsprechend intensive ständische Suchbewegungen und Neuorientierungen auslöste.369 Der bemerkenswerteste Adelsreformvorschlag aus Franken stammte von Franz Friedrich Carl Graf v. Giech-Buchau (1795-1863), also dem Angehörigen einer Familie, die mit derjenigen des adelsreformerisch schon in den 1840er Jahren sehr rührigen Uso v. Künßberg-Thurnau seit jeher enge verwandtschaftliche (und über Schloss Thurnau auch örtliche) Verbindungen pflegte.370 Die Tochter des Freiherrn v. Stein, Henriette, hatte 1825 den Bruder von Carl v. Giech-Buchau geheiratet, so dass auch über diese Beziehung das Interesse an, und die Latenz von adelsreformerischen Ideen in dieser

366 1854 hatte der bayerische Ministerpräsident Freiherr v. d. Pfordten einen Gesetzentwurf über die „Bildung der zweiten Kammer“ eingebracht. Die Abgeordneten für diese Kammer sollten wieder nach Ständen gewählt werden. Dieser Vorlage wurde aber die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit versagt. Daraufhin ergriff im Mai 1855 der Minister des Inneren Graf August v. Reigersberg die Initiative zu einer Reorganisation des Adels. Der bayerische König Maximilian II. ordnete sogleich eine Untersuchung über die bestehenden Adelskorporationen in Deutschland an, unter anderem über die preußischrheinländische der „ritterbürtigen Autonomen“, und gab am 26. Mai die Ermächtigung zu einer vertraulichen Rundfrage an hervorragende Mitglieder des bayerischen Adels. 367 Dieses Zirkularschreiben datierte vom 2. Juni 1855. Vgl. zu diesen Vorgängen Drechsel, Ent­ würfe, S. 40f. 368 Vgl. zum politischen Hintergrund und die Beispiele Uso v. Künßberg-Thurnaus in der Adelszeitung oben Kap. 4.1.5., und desselben sowie dreier fränkischer v. Brockdorff anlässlich der Initiierung des Adelsvereins, oben Kap. 4.2.4. 369 Vgl. Hofmann, Herrschaft, S. 379-409. 370 Vgl. Drechsel, Entwürfe, S. 55f. Zur Biographie Franz Friedrich Carls v. Giech vgl. NDB Bd. 6, Berlin 1964, S. 370-371.



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Familie stark angereichert worden sein dürfte.371 Außerdem war Carl v. Giech mit Hermann Rotenhan befreundet, Sohn eines „schriftstellernden Musterlandwirts“, der selbst 1845 eine Denkschrift mit „Ansichten über den Adel in besonderer Beziehung auf Bayern“ veröffentlicht hatte.372 Und zu alledem stand Giech offenkundig unter dem Einfluss einer Denkschrift des Fürsten v. Leiningen, die dieser im Sommer 1846 zu Osborne auf der Insel Wight verfasste, und welche im Dezember 1847 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung veröffentlicht worden war.373 In der Person Carl v. Giechs konzentrierten sich also eine ganze Anzahl von Strängen adelsreformerischer Ideenansätze und Einflüsse einschlägig aktiver Persönlichkeiten. Bemerkenswert an Giechs Initiative war vor allem, dass er es nicht wie alle bisherigen privaten Adelsreformbefürworter bei einem weiteren „Plan“ beließ, sondern tatsächlich am 5. März 1855 ein entsprechendes „Hausgesetz im Geschlecht der Grafen und Herren von Giech“ erlassen hatte. Die darin statuierten Verfügungen: Stiftung von Fideikommissen mit primogenitaler Erbfolge, die Niederlegung der Adelstitel der jüngeren Söhne und Töchter, um die Familie materiell und Heiratsverbindungen mit Angehörigen anderer Stände zu erleichtern – all dies lässt tatsächlich von einer konsequenten „englischen Adelsreform“ für die eigene Familie sprechen! Darüber hinaus plädierte Giech für eine aktive politische und öffentliche Betätigung des Adels, als deren Plattform ihm in Übereinstimmung mit seinem Freund Hermann Rotenhan ein nach preußischem Muster gestaltetes Landratsmodell geeignet schien. Das von Giech erlassene Hausgesetz machte im zeitgenössischen hohen Adel einen großen Eindruck und fand so auch seinen Weg in die einschlägigen preußischen Akten.374 Institutionalisierung und Perpetuierung der adelspolitischen Ideale Friedrich Wilhelms Dass die Idee einer „englischen“ Adelsreform Friedrich Wilhelm IV. selbst nach 1848 nicht los ließ, bezeugen auch seine beiden bemerkenswertesten institutionellen Gründungen in der Restaurationsepoche: die neue Adelsbehörde des Heroldsamts

371 Steins Tochter Henriette heiratete 1825 Friedrich Karl Hermann Reichsgraf v. Giech (1791-1846), Besitzer v. Thurnau bei Bamberg, bayerischer Kammerherr und erblicher Reichsrat. Die Ehe blieb kinderlos. Vgl. Stein, Briefe, Sechster Band, Nr. 656, S. 664. 372 Rotenhahn hatte sich darin für einen starken Grundadel, aber gegen ein „englisches Erbrecht“ ausgesprochen, für Fideikommisse, die eventuelle Ablösung der (grundsätzlich von ihm befürworteten) Patrimonalgerichtsbarkeit, sowie, nach preußischen Vorbild, die Trennung von Gemeinde und Rittergut, und die Einführung einer Landratsinstitution nach preußischem Vorbild, sowie für eine Adelskorporation. Vgl. Hofmann, Herrschaft, S. 474f. 373 Ebd., S. 479f. 374 Sein am 3. Juli 1855 an den bayerischen Innenminister v. Reigersberg übersandter Adelsreformvorschlag wurde von der bayerischen Regierung dem preußischen Monarchen und der Administration zur Kenntnisnahme zugeleitet. Vgl. das Anschreiben von Giech auf Schloss Buchau an Reigersberg 3. Juli 1855 und der eingesandte Adelsreformvorschlag in: GSTAPK I. HA Rep. 89 Nr. 919, Bl. 179-182.

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als ein „Wächteramt“ dieser Ideale, und das aus der ersten preußischen Wahlkammer hervorgegangene „Herrenhaus“ als eines institutionalisierten Stiftungsversuchs einer aristokratisierenden „composite elite“, die vornehmlich über die Definition einer hervorragenden „Classe von Landgüterbesitzern“ gewonnen werden sollte. Das in den Jahren der Restauration nach 1848/49 ernsthaft angegangene – und schließlich 1855 sogar verwirklichte – Projekt eines Heroldsamtes sollte der dauernden Sicherung seiner adelsreformerischen Ideale dienen.375 Damit griff Friedrich Wilhelm auf die Idee einer staatlichen Registrierung des Adel zurück, der er schon als Kronprinz Sympathien entgegengebracht hatte, die aber zwanzig Jahre zuvor am Staatsministerium gescheitert war.376 Das Heroldsamt sollte die von Friedrich Wilhelm immer noch verfolgten neuen Nobilitierungsrichtlinien über seinen Tod hinaus perpetuieren, indem am großen Grundbesitz als entscheidendem Kriterium einer Adelswürdigkeit festgehalten wurde. Diesem „inneren“ Auftrag gemäß suchte das Heroldsamt in den folgenden Jahrzehnten tatsächlich den Intentionen seines Gründers gerecht zu werden. Gegen die abweichenden, aber mächtigen Interessen von Hof- und Dienstadel, die unter dem Nachfolger Friedrich Wilhelms, König Wilhelm I., wieder die Oberhand gewannen, konnte das Heroldsamt das Ideal des „englischen Adelsmodells“ aber immer nur negativ behaupten, d.h. in der Ablehnung bestimmter Nobilitierungsgesuche. Wilhelm I., Bismarck und die Spitzen der Verwaltung setzten andere Maßstäbe.377 Das Heroldsamt sah hingegen weiterhin im „konservativ-staatstreu und patriotisch gesinnte[n], vermögende[n] und gesellschaftlich gewandte[n] und angesehene[n] Großgrundbesitzer mit geordneten Familienverhältnissen, der seinen Besitz durch Fideikommiss für kommende Generationen gebunden hatte“ den idealen Nobilitierungskandidaten.378 Im Regelfall wurde das Erstgeburtsrecht und ein Fideikommiss mit gestuften Mindesterträgen bei der Verleihung höherer Adelstitel gefordert, ebenso wie die Stiftung eines Fideikommisses zwar nicht grundsätzlich, doch häufig als Voraussetzung für Nobilitierungen vorausgesetzt wurde. Außerdem mussten die geforderten Fideikommisse zum größten Teil ihre Einkünfte aus Landbesitz beziehen.379

375 Vgl. hierzu umfassend der schon ausführlich zitierte Kalm, Heroldsamt. 376 Vgl. oben Kap. 4.3.1. 377 Schiller, Nobilitierungen, S. 56. 378 Kalm, Heroldsamt, S. 84. 379 So fasste der Adelsrechtsexperte Stephan Kekulé v. Stradonitz die langfristigen Wirkungen der Friedrich Wilhelmschen Adelspolitik zusammen, vgl. Ders., Gedanken über eine Um- und Ausgestaltung des Adelswesens in Deutschland, in: Deutsche Revue. Eine Monatsschrift, hrsg. v. Richard Fleischer, 35. Jahrgang, Januar 1910, S. 295-305, hier S. 300f. Noch 1903 schlug die Vorlage der preußischen Regierung zu einem Fideikommissgesetz die automatische Nobilitierung bei einem Mindesteinkommen von 10.000 Mark vor – eine späte, unerwartete Renaissance der unter Friedrich Wilhelm IV. diskutierten Neuadelsgedanken! Vgl. Schiller, Rittergut, S. 299f.



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Aber es war die zweite von Friedrich Wilhelm in den 1850er Jahren geschaffene Institution, in welcher die in den adelsreformerischen Auseinandersetzungen des Vormärz vorformulierte Kategorien- und Kriterienbildung bezüglich einer „neuen Classe von Landgüterbesitzern“ am deutlichsten und dauerhaftesten Einfluss gewann: das 1854 aus der ersten preußischen Wahlkammer hervorgehende preußische „Herrenhaus“.

Ein neuer Beruf für den Adel: eine Aristokratie für ein Oberhaus? Neben der Idee, den Adel durch einen formal-rechtlichen, bzw. allmählich faktischen Ausschluss „unqualifizierter“ (d.h. vor allem: nicht angesessener) Adelsangehöriger neu zu formieren und innerlich zu stärken, bildete seit den adelspolitischen Schriften Rehbergs und den adelsreformerischen Suchbewegungen der preußischen Administration in der Reformepoche die Vorstellung von einer ständisch-rechtlichen Hervorhebung adliger Spitzenvertreter einen zweiten, schwächeren Strang adelsreformerischer Überlegungen. Immer wieder wurde neben Fragen der In- bzw. Exklusion auch eine binnenadlige Differenzierung durch die Definition oder Neuformierung einer sozial und politisch hervorgehobenen „Aristokratie“ aus dem Adel mit großem Gutsbesitz und Vermögen thematisiert. Eine solche „Aristokratisierung“, d.h. Abschichtung eines Teils des Adels, der zugleich für hervorgehobene staatspolitische Aufgaben designiert wäre, stellte zugleich eine mögliche Alternative zu einer „Entadelung“ der breiten Masse des Kleinadels dar – letztere Forderung wurde zwar verschiedentlich erhoben, aber schon von den Protagonisten als unwahrscheinlich und kaum durchführbar eingeschätzt, so auch von Rehberg selbst.380 Dagegen schien es einfacher, Spitzenvertreter des Adels zu identifizieren und mit herausgehobenen staatspolitischen Positionen auszustatten, ohne den übrigen Kleinadel formell zu deklassieren. Über die Identifikation bzw. Definition solcher adligen Spitzen, die zusammen mit dem überkommenen hohen Adel eine erweiterte qualifizierte Adelsgruppe bilden sollte, hatte es seit der Reformzeit verschiedene Vorschläge gegeben. Dabei stellte sich für Preußen das besondere Problem, dass es in seinen östlichen Provinzen einen definierten hohen Adel (mit Ausnahme Schlesiens) nie gegeben hatte.381 Das ALR hatte ausdrücklich auf eine solche binnenadlige Differenzierung

380 So forderte z.B. der Adelskritiker Dr. Johann Daniel Ferdinand Neigebaur, der unter dem Pseudonym Dr. N. N. Reaube die „Jahrbücher der Preußischen Provinzial-Stände“ in Leipzig herausbrachte, dass jeder geadelt würde, der etwas aus sich machte, da eine „Adelsreform nach englischem Muster“ unwahrscheinlich sei – denn dies sei leichter zu bewerkstelligen, als dem bestehenden Adel etwas zu nehmen, vgl. Ders., Jahrbücher der Preußischen Provinzial-Stände. Eine Zeitschrift zur Besprechung gemeinsamer Angelegenheiten des Vaterlandes, II. Allgemeine Verwaltungs-Gegenstände, 2. Über die Stellung des Adels in Preußen, Viertes Heft, Leipzig 1833, S. 17-19. 381 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.4.1. zu diesem Merkmal einer geringen Binnendifferenzierung in den ostelbischen Adelslandschaften.

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zwischen hohem und niederem, wie auch „altem“ und „neuem“ Adel – z.B. über die Feststellung der Konditionen einer Ahnenprobe – verzichtet, auch wenn es für private Stiftungen und überkommene Einrichtungen solche Nachweisforderungen tolerierte. Deshalb musste für die überwiegenden Adelslandschaften Preußens die Feststellung einer „Aristokratie“ ein Novum darstellen, eine Entwicklung, die Adolf v. Rochow schon 1823 mit der Einführung der Provinzialständeordnung tendenziell verwirklicht sah und empört zurückwies.382 Einige Entwürfen über eine neue politische Ständegliederung wollten diese aristokratischen Spitzen zudem in einer eigenen Kammer, einem „Ober“- oder „Herrenhaus“ zusammenfassen. Rehdigers 1808 vorgeschlagene „Adelsconstitution“ formulierte als einer der frühesten Verfassungsvorschläge diese Idee aus: er wollte Standesherren, von den adligen Rittergutsbesitzern gewählte „Adelssenioren“, Inhaber von Erbämtern und geistliche Würdenträger in einem „Ersten Kollegium“ vertreten sehen.383 1817/18 kamen aus den „alten“ preußischen Provinzen während der Auseinandersetzungen um neue ständische Vertretungsformen neben der vereinzelten Stimme des ostpreußischen Grafen Dönhoff-Hohendorff vor allem aus der Kurmark eine Reihe von Wünschen und Vorschlägen zu einer Adelskammer. Deren Mitglieder hätten sich über ihren als Majorat gebundenen Grundbesitz zu qualifizieren. Allerdings ist die Möglichkeit einer binnenadligen „Abschichtung“, einer solchen „Aristokratie“ hervorragenden Adels gegenüber der Mehrheit des landgesessenen Adels für Preußen wiederholt in Zweifel gezogen worden. Der damalige Kommissar in ständischen Angelegenheiten Beyme hielt die Behandlung einer Oberhausfrage eben deshalb für verfrüht, da sich in Folge der Reformmaßnahmen erst „die reellen Stoffe von den Scheinbaren getrennt haben, und ein Theil des Adels mit den freyen Eigenthümern rein verschmolzen“ haben müssen, bevor die „dazu geeigneten Elemente“ ein solches dann „wie von selbst bilden“ würden: „Von der Provinz Pommern ist es wenigstens mit Zuverlässigkeit zu behaupten, dass sich diese Elemente jetzt noch nicht darin befinden“.384 Und während der inneradministrativen Verhandlungen um eine provinzialständische Verfassung 1819 nahm wiederum der

382 „Diesem Fehlgriff liegt die Idee zum Grunde den großen Grundbesitz begünstigen zu wollen; dem preußischen Staat kann aber am einzelnen großen bevorrechteten Grundbesitzer nichts gelegen sein, sondern nur an vielen wohlhabenden ritterlich-gesinnten Edelleuten. Diesen äußere Ehre und Einfluß zu entziehen um sie jenen beizulegen ist aber so unpolitisch als ungerecht. Es weiset dies auf Errichtung von Majoraten hin, die der Ruin des niederen Adels, auf Pairschaften, die ohne geschichtliche Grundlage ein theoretischer Unsinn und auf zwei Kammern die für einen Brandenburger und Pommern ein Gegenstand des Lachens sein müssen.“ Siehe die Denkschriften Adolf v. Rochows über „Was kann geschehen um den Adel aufzuhelfen?“ (1. Oktober 1823), in: GSTAPK Rep. 92 Nachlass Gustav v. Rochow, Nr. A III Nr. 10. Wie oben Teil I. Kap. 2.4.3. 383 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.3.1. 384 Vgl. dazu auch oben Teil I. Kap. 2.4.3. Siehe Beymes Gutachten über die ständischen Verhältnisse in: GSTAPK Rep. 77 Tit. 489, Nr. 23 (Die Bereisung der Provinzen der Monarchie durch königliche Commissarien in ständischen Angelegenheiten im Jahre 1817 zur Ermittelung der früheren ständischen Verfassung derselben. 1818-1835), hier Bl. 44.



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Minister für ständische Angelegenheiten Humboldt, der ebenfalls eine Adelskammer befürwortete, eine Minderheitenposition ein.385 Dennoch gab es in den „neuständischen“ und adelspolitischen Verwaltungsentscheidungen immer wieder Ansätze zu einer Hervorhebung bestimmter Adelsgeschlechter und qualifizierter Gutsbesitzer: so in den vergebenen Viril- und Kuriatstimmen und der allerdings im Ansatz steckengebliebenen Bevorrechtigung von Fideikommissbesitzern im Sinne der Provinzialständeordnung.386 Auch die von Friedrich Wilhelm IV. statuierte primogenitale Vererbung höherer Adelstitel ist ohne seinen Willen zu einer staatspolitisch „aristokratisierenden“ Absetzung bestimmter Adelsgruppen nicht verständlich. Popularität einer „Aristokratie“ – Gegengewicht zum Beamtentum und neuer „Beruf“ des Adels Vor dem Hintergrund der relativ homogenen binnenadligen Verhältnisse im ostelbischen Preußen schien also die Einführung einer eigenen Adelskammer ohne die „Aristokratisierung“ von Teilen des Adels, also ohne eine Adelsreform, nicht durchführbar. Der historische hohe Adel hätte in Preußen zahlenmäßig nicht ausgereicht, eine solche Kammer zu besetzen, zudem kam die geographische Ungleichverteilung dieser Standesherren.387 Es mussten also zusätzlich Mitglieder aus dem niederen Adel berufen werden – und diese entsprechend als Teil eines neuen „hohen“ Adels, einer „Pairie“ geformt werden. Diese Ausgangslage erklärt, warum seit der Reformzeit gerade für Preußen die Einführung einer solchen Institution mit einer Adelsreform assoziiert werden musste. Die fortschrittlich-konservierende Ambivalenz eines adelsreformierenden Ansatzes wurde von einer breiteren Öffentlichkeit automatisch mit der projektierten Schaffung eines Herrenhauses in Verbindung gebracht. Daher das scheinbare Paradox, dass gleichermaßen adelsfreundliche wie adelskritische Publizisten nach 1823 sich für die Einrichtung eines adlig dominierten Ober- oder Herrenhauses erwärmen konnten. Dieser relativen Popularität einer „Aristokratie“, bzw. einer „Adelsreform durch Aristokratisierung“ lag nicht nur eine gesellschaftsübergreifende Beamtenkritik zugrunde, sondern es verband sich mit diesem Ziel immer deutlicher die Suche nach einer neuen staatspolitischen Rolle, einem „Beruf“ für den Adel insgesamt. Gerade in Preußen schien die Bildung eines Herrenhauses dazu geeignet, den bürokratischen Absolutismus, das ungeliebte, ja gehasste „Beamtenregiment“ zu überwinden, und endlich zugleich die offene gesamtstaatliche Verfassungsfrage lösen zu können, ohne dass dies notwendig die Einführung eines tatsächlichen „Konstitutionalismus“ nach „westlichem“ Muster bedeuten musste.

385 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.5.1. 386 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.5.1. 387 Pommern wäre dann nur mit einer Stimme in einer so gebildeten „Pairie“ vertreten gewesen, wogegen Westfalen allein 11 Mitglieder gezählt haben würde, vgl. Jordan, Friedrich Wilhelm IV., S. 53.

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Diesen Zusammenhang formulierte schon 1834 der Fürst und Standesherr Hermann v. Pückler- Muskau (1785-1871). Er fand damit gerade in liberal-bürgerlichen Kreisen großen Anklang.388 Im ersten Band seiner gesellschaftlich-politischen Reflektionen „Tutti Frutti“ schlug der Autor als Ich-Erzähler die Einführung neuer Erbregelungen vor, um eine weitere Besitzzersplitterung im Adel zu vermeiden. Der Adelstitel solle nicht mehr den Personen, sondern nur noch einem definierten Landbesitz anhängen, und sich mit diesem vererben.389 Diese radikalisierte Version der schon klassischen Möserschen und Rehbergschen Adelsreformvorstellungen führte er im fünften Band seiner „Tutti Frutti“ näher aus.390 Verfasst hatte er sie schon zwei Jahre früher, und „unseren hochverehrten Prinzen, einigen Ministern und anderen marcanten Männern des Landes“ mitgeteilt: Unsere Prinzen widmeten demselben, da sie Alles, was das Vaterland betrifft, mit so regem Interesse ergreifen, von Allen die meiste Aufmerksamkeit, und ich verdanke ihnen manche geistvolle Belehrung. Auch einige Standesherren billigten meine Ansichten, der kleine hundertköp-

388 Der als Garten- und Parkgestalter berühmt gewordene Herrmann Ludwig Heinrich v. Pückler, Nachfahre eines schlesischen Reichsgrafengeschlechts, geboren in der Standesherrschaft Muskau, in einer Herrenhuther Anstalt und am Pädagogium in Halle erzogen, studierte 1801 an der Universität Leipzig Jura, bevor er das Studium abbracht und bei dem Repräsentationsregiment „Rote Garden“ als Leutnant in den sächsischen Militärdienst trat und zum Rittmeister avancierte. 1804 quittierte er wegen hoher Schulden den Dienst, floh vor seinen Gläubigern nach Wien und machte zahlreiche Wanderreisen durch die Schweiz, Italien und Frankreich, bevor er 1810 nach Muskau zurückkehrte. 1813/14 nahm er als Freiwilliger an den Befreiungskriegen teil. 1817 heiratete er die verwitwete Tochter des Staatskanzlers v. Hardenberg, Lucie Gräfin v. Pappenheim. 1822 wurde Pückler von Friedrich Wilhelm III. als Entschädigung für an den preußischen Staat verlorene Standesrechte in den Fürstenstand erhoben. Nach seiner zwischenzeitlichen Scheidung von seiner Frau Lucie 1826 begann Pückler eine ausgedehnte Reisetätigkeit nach England und Frankreich, ab 1835 auch nach außereuropäischen Zielen in Nordafrika und Vorderasien. Seine von seiner geschiedenen Frau herausgegebenen brieflichen Reiseberichte wurden zu einem internationalen literarischen Erfolg und begründeten seinen Ruhm als Schriftsteller und politischer Kommentator. Sie erschienen unter dem Titel „Briefe eines Verstorbenen“ in 4 Bänden 1830 und 1831 im Verlag Franckh und Hallberger in Stuttgart. Nachgedruckt erschienen sie in seinen versammelten fünfbändigen politisch-gesellschaftlichen Reflexionen „Tutti Frutti“ 1834. Erst 1840 kehrte er dauerhaft nach Deutschland zurück. Schloss Muskau mit den völlig neu gestalteten Parkanlagen musste er 1845 verkaufen, danach gestaltete er das väterliche Stammgut Branitz in der Lausitz in seinem Sinne um. 1863 wurde er zum erblichen Mitglied des preußischen Herrenhauses ernannt. Pückler, der sich in seiner Literatur wie in seinem Lebensstil als Weltmann stilisierte, sympathisierte zeitweise mit dem Saint-Simonismus und hegte allgemein liberal-konservative Ansichten, vgl. ADB, Bd. 26, Leipzig 1888, S. 692-695. 389 Hermann Fürst v. Pückler-Muskau, Tutti Frutti. Aus den Papieren des Verstorbenen. Kapitel I. Aus den Zetteltöpfen eines Unruhigen. Zweite Ziehung, Dritter Band, Stuttgart 1834, S. 126-138. Der Erzähler wies in einer tabellarischen Darstellung nach, wie bei einer nach Dreißigjahresschritten stattfindenden Generationenfolge zwischen 1830 bis 2010 die jeweils vorgenommene Erbteilung zwangsläufig zur völligen Verarmung einer Adelsfamilie führen musste (S. 135). 390 Hermann Fürst v. Pückler-Muskau, Tutti Frutti. Aus den Papieren des Verstorbenen. Kapitel I. Politische Ansichten eines Dilettanten. Einleitung, Fünfter Band, Stuttgart 1834, S. 7-150.



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fige Dienstadel nur tractierte sie, wie man leicht denken kann, als eine eben so abgeschmackte als strafwürdige Tollheit, und der davon Kenntnis nehmende Theil der Beamtenwelt gar mir die Schrift stillschweigend mit vornehmen, wenn gleich etwas bitt’rem Lächeln zurück.

So legte Pückler schon zehn Jahre vor Bunsen dem damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm ein Programm zur „Aristokratisierung“ eines Teils des preußischen Adels vor. Entgegen der Opposition aus den Kreisen des Dienst- und Beamtenadels sah sich Pückler in Übereinstimmung mit bürgerlichen Stimmen, die ebenfalls im zeitgenössischen Publikum Beachtung fanden. Dabei bezog er sich auf eine anonyme Schrift über Fideikommisse, sowie auf den Autor „Baltisch“ (d.i. Franz Hermann Hegewisch), ein Freund Welckers, der sich als Vertrauter und Berater im Kreis des schleswig-holsteinischen Adels bewegte.391 Pückler sprach sich für eine evolutive gesellschaftspolitische Entwicklung auf dem Boden der konstitutionellen Monarchie aus, zu deren Stützung aber eine „starke und gewichtige, den Forderungen der Zeit entsprechende Aristokratie“ notwendig sei.392 Belegt werde dies durch die europaweiten Krise des „konstitutionellen Systems“, die in Frankreich mit dem „ewigen Wechsel“ der Dynastien besonders deutlich hervor-

391 Bei „Baltisch“ handelte es sich um Franz Hermann Hegewisch (1783-1865), einem Arzt aus Holstein, der u.a. in England studiert hatte, und sich seither für die englische Verfassungswirklichkeit begeisterte. Er publizierte zahlreiche Schriften wissenschaftlichen und politischen Inhalts, darunter in den „Kieler Blättern“ von 1815 ein an die englische Verfassung angelehnter Vorschlag zur Bildung eines Zweikammersystems für Schleswig und Holstein. Hegewisch war in die obersten sozialen Kreise dieser Provinzen vernetzt. Verheiratet mit Karoline v. Linstow, einer Nichte der Agnes v. Stolberg, pflegte er über diese familiäre Verbindung eine enge Beziehung zum „Emkendorfer Kreis“ des schleswig-holsteinischen Adels. Diesem stand Hegewisch zudem als ärztlicher wie politischer Berater nahe. Trotzdem war Hegewisch ein Liberaler, der schon 1815 von der schleswig-holsteinischen Ritterschaft verlangte, dass sie sich Teil der bürgerlichen Gesellschaft betrachte, und der die französische Charte von 1814 begrüßte. Zugleich war er überzeugter Malthusianer. 1846 veröffentlichte er die Schrift „Über Eigenthum und Vielkinderei“, in der er sich scharf gegen Kinderreichtum bei nicht ausreichenden materiellen Mitteln aussprach. Er befürwortete eine kontrollierende Bevölkerungspolitik. Unter dem Pseudonym Franz Baltisch veröffentlichte Hegewisch u.a. die Schrift „Politische Freiheit“, Leipzig 1832, auf die sich Pückler in Tutti Frutti bezog. Vgl. zu Hegewisch: Brandt, Geistesleben, S. 223, 381f. Die zweite von Pückler erwähnte, 1833 in Berlin anonym erschienene Schrift trug den Titel: „Über Fideicommisse: eine Bitte an unsere Landstände. Von einem Bürgerlichen.“ Vgl. Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 10. 392 Die „Idee der Freiheit“, die inzwischen in allen Gesellschaften „fest gewurzelt“ habe und, da sie in Amerika den „vortheilhaftesten Boden“ habe, auch in Europa nicht mehr auszurotten sei, müsse aufgrund der „früheren Cultur und Geschichte“ der europäischen Gesellschaften doch „Modifikationen“ erfahren – denn eine zu schnelle Entwicklung würde den europäischen Boden „aussaugen“ und „unfruchtbar“ machen. Daher laute die Frage nicht: was ist das Beste an sich, sondern: welches Beste ist zu erreichen? So lange die alte Aristokratie den Thron selbst „in ihren Horizont aufnehmen konnte“, war auch sie ein Element der Unruhe, im konstitutionellen Staat dagegen ist die Aristokratie auf nichts als auf die Erhaltung des Bestehenden angewiesen, vgl. Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 16, 75, 96.

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trete.393 Eine falsche Adelspolitik habe die französische Situation verschärft, denn anstatt eine gesunde Aristokratie zu schaffen, habe sie sich nach 1814/15 in der Förderung eines zahlreichen Kleinadels verzettelt. Dagegen garantiere die Aristokratie Englands die politische Dauer, wie auch der österreichische Adel das Beispiel einer vorbildlichen „patriotischen Aristokratie“ biete – im antinapoleonischen Kampf sei er selbst gegen Frankreich nicht untergegangen, wogegen Preußen „beim ersten Streich“ fiel.394 Für Preußen gebe es durchaus die Chance, eine vergleichbare „Pairie“ als „volkstümliches Institut“ zu bilden, wozu jedoch weder die adligen „Ultras“ noch überhaupt der gesamte Adel herangezogen werden dürften. Denn der „Blutadel“ sei allerdings verhasst, eine Aristokratie in Deutschland jedoch durchaus „populär“. Die politische Bestimmung einer solchen preußischen Aristokratie sah Pückler darin, ganz der Montesquieuschen Terminologie verpflichtet, ein „Element der Mitte“ zu bilden, um in einer „wohlgeordneten, constitutionellen, repräsentativen Monarchie“ den notwendigen Ausgleich gegen die „Willkür des Herrschers“ und der „Unruhe des Volkes“ zu sein, zugleich aber „Bürge“ für die Bürgerrechte der „Freiheit der Presse“ und der „Unverletzlichkeit der Person“ zu werden.395 Zugleich wollte Pückler, wie schon Stein, diese Aristokratie aber nicht nur als politischen, sondern

393 Zur Charakterisierung seiner eigenen Zielsetzung zitierte Pückler die anonyme Schrift über Fideikommisse: „‚Nunmehr ist aber dringend nothwendig, dass der adelige Stand gleichfalls geordnet werde, weil er der Monarchie um so unentbehrlicher wird, als die Democratie, mit Rechten versehen, auf den Landtagen auch mit Ansprüchen auftreten wird und muß. Wie ist dem Adel zu helfen? wie ihn constituieren? Dem Adel ist nur dadurch zu helfen, dass man ihn abschafft; man erschrecke nicht! wir wollen damit nur sagen, dass er in seiner jetzigen Verfassung abgeschafft werde, und eine neue zeitgemäße Organisation erhalten muß.‘ Wie sehr bin ich hierin mit dem tiefblickenden Autor einverstanden! Weniger mit den Mitteln, die er, um zum Zwecke zu gelangen, vorschlägt.“ Vgl. Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 11f Anmk. 394 Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 31f, 106f. 395 Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 20, 29, 36f. Das Argument von der Bedrohung der „Rechte des Einzelnen“ weniger durch Gesetzgebung und Judikative als durch die verbeamtete Exekutive wurde von Wilhelm Tortilowicz v. Batocki in seiner Eingabe an die preußische Kommission zur Gesetzesrevision vermutlich von Pückler übernommen, vgl. oben Kap. 4.2.2. Das Beamtentum sei für den Staat gefährlicher als „übermächtige Barone“ oder eine „unruhige Deputiertenkammer“ – denn die Beamten wiegelten die Stände in gegenseitiger Konkurrenz auf, um eigene Vorteile zu finden, sas Beamtentum sei teuer, zeichne sich durch eine „Allmacht im Detail“ aus und sei doch durch nichts im Staat „contrebalanciert“. Deshalb müsse ein Pairadel den Beamten im Staat „voranschreiten“, so Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 48, S. 128f, 38f. Dass die Administration ganz allgemein vor 1840 so drückend empfunden wurde war u.a. der fehlenden verfassungsmäßigen Kompetenzregelungen geschuldet, aufgrund dessen die Verwaltungsbehörden selbst gegenüber den Justizorganen dominierten. Die öffentliche Wahrnehmung eines recht unkontrollierbaren „Beamtenregiments“ hatte also einen objektiven Kern, vgl. Holtz, Wider Ostrakismos, hier S. 103. Zu diesem Konflikt zusammenfassend: Christina Rathgeber, Das Staatsministerium und die Regelung der Kompetenzkonflikte zwischen Gerichten und Verwaltung (1825-1828), in: Preußens Weg in die Moderne. Verfassung – Verwaltung – politische Kultur zwischen Reform und Reformblockade, hrsg. v. Bärbel Holtz/Hartwin Spenkuch, Berlin 2001, S. 85-100.



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als kulturellen wie sozialen Repräsentanten der Gesamtgesellschaft verstehen, wie er es bei der englischen Aristokratie beobachtet zu haben glaubte: denn das in Europa allen Engländern entgegengebrachte größere Ansehen hinge mit dem „unwillkürlich Imponierenden ihrer mächtigen Aristocratie, vor deren überwiegenden Reichtum und Größe wir uns beugen“ zusammen.396 Auch der Luxuskonsum der Aristokratie habe seine Berechtigung, denn er sichere den Erwerb der „niederen Klassen“ und biete anderen wohlhabenden Gruppen in der Gesellschaft das Vorbild, den materiellen Überfluss in künstlerische Investitionen und wissenschaftliche Interessen umzulenken und zu sublimieren.397 Pückler forderte allerdings zugleich, dass der Adel seine historische Rollendiversifizierung zugunsten einer Konzentration auf gutswirtschaftliche und ausgesuchte, d.h. wiederum auf das direkte Umfeld des Gutes und Landbesitzes beschränkte, kulturelle Tätigkeiten aufgeben solle. Der Adel habe sich vor allem als Grundbesitzer zu verstehen, sich nicht in einer Vielzahl von Interessen und Tätigkeiten zu verlieren, „vom Hundertsten und Tausendsten ein für allemal zu abstrahieren, nach Göthes (sic!) Rath, Politik und Staat für sich selbst sorgen zu lassen [!], und uns nur der eignen, entweder schon angebornen, oder früh gewählten Bestimmung ganz und allein zu widmen.“ Kurz: Pückler-Muskau forderte eine klare „Berufswahl“ der Adligen! Trotzdem insistierte Pückler weiterhin auf ästhetischer Betätigung des Adels: Nur müssen sie sich nicht wähnen, genug zu thun, wenn sie sich als Gutsbesitzer, bloß potentzierte Landbauern zu seyn bestreben. Damit sollen sie zwar anfangen, aber dann, ihrem höheren Wirkungskreise angemessen, auch weiter gehen, und alles Gute und Schöne des Lebens in ihren Bereich zu ziehen suchen, so weit sie können, doch immer mit Bezug auf einen bleibenden Vortheil für ihren Besitz. Ist also zuerst für die bestmögliche Bewirthschaftung ihrer Güter gesorgt, so wird die ästhetische Ausschmückung derselben folgen müssen. Dieser kann sich dann jeder edlere Luxus, wie er dem Geschmacke des Besitzers am besten zusagt, anschließen, es seyen nun Sammlungen von Gegenständen der Kunst und der Wissenschaft, neue Zweige der Industrie, Musterwirthschaften, oder andere gemeinnützige Anstalten, kurz Alles, was in dem Bereiche der Mittel liegt, um das Familieneigenthum fortwährend nicht nur werthvoller, sonder auch würdiger in seiner Erscheinung für jede Zeit und in jedem Sinne zu machen.398

396 Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 99f. Dieses Beispiel belegt, dass keineswegs nur in und für den deutschen Fall assoziative Verbindungen zwischen dem Charakter der (adligen) Eliten und dem Charakter der Nation insgesamt gezogen wurden, wie dies Tacke für die deutsche Situation um 1900 als Voraussetzung eines „völkischen“ Bewusstseins identifiziert zu haben glaubt: „Adel und Nation sind Differenzbegriffe. Sie sind beide, jedoch auf unterschiedliche Weise, auf Einheit und Begrenzung angewiesen. Gehen beide Begriffe eine semantische Verbindung ein, nehmen sie sich gegenseitig die Fähigkeit ihrer eindeutigen Begrenzung. Sie verlieren sich im Völkischen.“ Vgl. Tacke, Adel und Adeligkeit, S. 122. Die „Differenzbegriffe“ Adel und Nation konnten sehr wohl semantische wie auch allgemein sozial-kulturelle Verbindungen eingehen, ohne im „Völkischen“ enden zu müssen – eine solche Verbindung konnte eben auch einen aristokratischen Parlamentarismus begründen. 397 Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 138f. 398 ‚Trocknere Variation auf ein früher berührtes Thema‘, in: Pückler, Tutti Frutti. Erster Band, 1834, S. 224-237, bes. S. 225, 235f.

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Die Gegenwartsanalyse Pücklers bezüglich des norddeutschen Adels war dagegen ernüchternd: dort herrsche ein ständiges Verwechseln von „volkstümlicher Aristocratie“ und „unpopulären und abgeschmackten Adel“.399 Diese Verwechslung sah Pückler in einer Vermischung von „Adel“ und „Bürokratie“ begründet: die darin herrschenden „kleinlichen Distinktionsbedürfnisse“ gingen auf Ziele und Handlungsweisen des Beamtenwesens zurück, das dem eigentlichen „adligen Beruf“ abträglich sei: nicht „büffeln“ im Büro, sondern wissen, wo „schnelle und feste Partei zu ergreifen“ ist, das sei die eigentliche Rolle der Aristokratie.400 In dieser Beamtenkritik lag Pücklers Verständigungsangebot an das Bürgertum. Zur Sicherung der „bürgerlichen Freiheiten“ im zeitgenössischen Staat sei vordringlich der herausragende Adel berufen: ihm müsse in Form einer Pairie gegenüber der „Exekutive“ der Krone ein Veto-Recht eingeräumt werden. Deshalb dürfe bei der Bildung einer solchen Aristokratie das „Verdienstprinzip“ keinesfalls herangezogen werden – es sei „zu beweglich“ und „relativ“ und provoziere eine „sultanische Verfassung“.401 Zur Bildung einer solchen Aristokratie habe Preußen zwar nie die Voraussetzung eines „formidablen Adel[s]“ gehabt, aber doch eine wohlhabende, durch Stiftungen, Pfründen und Hofgunst unterstützte Klasse, die in der Funktion von Gutsherren nicht nur als titulare Mittelspersonen zwischen König und Untertanen erschienen. Es bräuchte allein den festen und tätigen Willen der Regierung, um eine neue Aristokratie zu bilden: entweder durch einen „Machtspruch“ um den armen Adel zu „entadeln“, oder wie in Österreich „alle“ zu adeln durch das „abgeschmackte, jetzt so sinnlos gewordene ‚von’“.402 Die bessere Alternative wäre jedoch eine Nobilitierungspolitik, die grundsätzlich den Adel für Verdienst und Vorzüge aller Art öffne, dabei aber den Grundbesitz als zwingende Voraussetzung fordere, bzw. durch Dotation dem zu Nobilitierenden verschaffe. Parallel dazu sei eine neue Politik gegenüber den Grundbesitzern nötig, die den Verschuldungskreislauf stoppe, indem der Staat durch Staatsfonds die Schulden übernähme, im Gegenzug aber die Bildung von Majoraten fordere, die einen Amortisationsplan zur Schuldentilgung beinhalten müssten. Wo das nicht mehr möglich sei, müsse der Bankrott in Kauf genommen werden. Eine solche Politik sei unabdingbar um eine neue Aristokratie bilden, denn „verschuldete kleine Gutsbesitzer, Handwerker, die reichsten Kaufleute, Beamte, selbst Bauern mit ihrem jetzt überall möglichst parcellierten kleinen Eigenthume, können nie dasselbe gewaltige Interesse, eben so wenig wie die gewaltigen Mittel für die Erhaltung der Integrität des Vaterlandes haben“. Nur eine Aristokratie interessiere sich für die Erhaltung

399 Diese Klage erinnert an die ähnliche Kritik Stillfrieds von 1842 über das ostentativ distanzierende Verhalten des norddeutschen Adels gegenüber „dem Volk“, das aber nur empörte Ablehnung hervorrufe. Vgl. oben Kap. 4.2.3. 400 Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 31f, S. 110f. 401 Einmal mehr ein Beispiel des Osmanen- oder Türkenmotivs als abschreckendem politischen Modell, Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 55ff. 402 Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 76, 82f, 86ff.



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des Bestehenden.403 Diese Aristokratie sollte allein aus den jeweiligen Majoratsherren der Familien mit gebundenem Grundbesitz bestehen, wobei eine Standesgleichheit zwischen dem alten, ehemals reichsunmittelbaren und dem neuen preußischen Majoratsadel zu gelten hätte. Als finanzielle Grundlage schwebte Pückler für den Fürstentitel ein Reinertrag von 30.000 Talern, für Grafen von 15.000 und Barone 10.000 Talern vor. Dieser Einkommensrahmen lag deutlich über den Vorstellungen, die Oberpräsident Vincke wenige Jahre zuvor geäußert hatte.404 Nicht nur in dieser Zielformulierung, auch mit den von ihm vorgesehenen Umsetzungsschritten nahm Pückler schon manches vorweg, was Friedrich Wilhelm IV. ab 1840 praktisch anging. Pückler schlug vor, dass zur Durchführung einer solchen Adelsreform die Prinzen des königlichen Hauses als Militär- und Zivilgouverneure mit einem „Rat erfahrener Männer“ aus allen Ständen in den Provinzen beraten und handeln sollten. Eine Möglichkeit bestünde auch in der vorübergehenden Zulassung der Standesherren in den Staatsrat, um die zukünftigen Pairs auf ihren Beruf vorzubereiten. Denn die „halbe Maßregel“ der Provinziallandtage mit ihren „timiden Beschränkungen“ genüge nicht zu einer politischen Bildung des designierten Aristokraten-Personals – das „Beamtenparlament“ Staatsrat sollte also zur Vorbereitung einer künftigen Parlaments-Aristokratie dienen.405 Doch eigentlich hoffte Pückler auf eine Initiative der Stände, die sich gegenüber dem „Gouvernement“ ausdrücklich für eine „Adelsreform“ (hier fiel genau dieser Begriff tatsächlich einmal in einer zeitgenössischen Quelle!) aussprechen sollten, „eins der größten Bedürfnisse Preußens!“ – ein gesellschaftspolitisches Manko, das „nur ohne die Hülfe eines bedeutenden Übergewichts der öffentlichen Meinung als unbesiegbar erscheinen dürfte“.406 Inzwischen sei die Zeit dafür wirklich reif, denn die landständischen Versammlungen hätten ihren provisorischen Sinn einer Erziehung zu repräsentativer Verfassung erfüllt, die Bauernemanzipation sei fast abgeschlossen, und die Kommunalordnung schreite ebenso unaufhaltsam voran wie die Revision des Landrechts und der Hypothekengesetze! Die Bildung einer Aristokratie müsse nun alle diese Reformmaßnahmen abschließen, damit eine weitere Verfassungsentwicklung überhaupt möglich würde!407

403 Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 88-96. 404 Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 117ff. Zur Erinnerung: im Vergleich dazu hatte Oberpräsident v. Vincke 1829 im Zuge der Gesetzrevision eine Adelsreform nach französischem Muster vorgeschlagen, wobei die (etwas anders, ohne Fürsten, definierten) Adelsstufen folgende, aus Stiftungen kommende, Einkünfte nachweisen sollten: Ritter zwischen 1.500-1.800, Freiherren zwischen 5.0006.000, und Grafen zwischen 10.000-12.000 Reichstaler, vgl. oben Teil I. Kap. 2.4.2. 405 Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 108f. Wie Bunsen zehn Jahre später wünschte sich Pückler auch das preußische Oberhaus als ein Instrument zur Erziehung einer parlamentarisch-staatsmännischen Aristokratie, vgl. Spenkuch, Herrenhaus, S. 53. 406 Pückler, Tutti Frutti, Fünfter Band, S. 147. 407 Ebd., S. 117f.

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Bürgerliche Sympathien für die Pücklerschen Ideen bis nach 1848 Gerade durch die staatstheoretisierenden Vertreter des liberalen Bürgertum wurde die Idee einer „Aristokratisierung“ als Gegengewicht zum nachabsolutistischen Beamtenstaat und als institutionelle Spitze einer formellen, oder auch nur informellen „Konstituierung“ der preußischen Verfassungsordnung stark rezipiert. Vom Vormärz bis in die Restaurationsepoche nach 1848 blieben diese Gedanken gerade in diesem Kreis lebendig und wurden hier besonders intensiv mit der Frage verknüpft, worin denn die spezifische „Aufgabe“, die gesellschaftspolitische „Leistung“, bzw. der „Beruf“ des Adels in der sich wandelnden Gesellschaft bestehen könnten – eine Problemformulierung, die, wie im Falle von Radowitz, der in seinen Ausführungen von Friedrich August Liebe beeinflusst gewesen sein dürfte, wiederum auf adlige Publizisten zurückwirkte.408 Direkt auf Pücklers Programm antwortete der scharf-satirische Adelskritiker Dr. Johann Daniel Ferdinand Neigebaur. Gerade seine Ausführungen belegen die adligbürgerliche Konsensfähigkeit über ein als bedrückend und sozio-kulturell insuffizient empfundenes Beamtenregiment.409 Dabei hatte Neigebaur ursprünglich eine Satire der Pücklerschen Reiseschriften „Briefe eines Verstorbenen“ veröffentlicht, in welcher er die aristokratische Perspektive seines Vorbildes karikierte, und die Auflösung der ständischen Verhältnisse verschiedener europäischer Länder im Vergleich zu Preußen in sarkastisch-“bedauerndem“ Ton beschrieb.410 In der Fortsetzung dieser karikierenden Schrift von 1837 bekannte Neigebaur jedoch offen seine Sympathie mit dem Pücklerschen „Aristokratisierungsprogramm“.411 Er teilte Pücklers Beamtenaversion – das öffentliche Leben in Deutschland sei durch „Beamten-Gelehrten“ bestimmt, deren Kultur sich in „Pedanterie“ erschöpfe; der in Norddeutschland „so lästige Beamtengeist“ würde jedoch durch die Pücklerschen Reformvorstellungen beseitigt.412 Die „Beamten“ unter Pücklers Leserschaft hätten wohlweislich seine

408 Vgl. oben Teil II. Kap. 3.4.3. 409 Neigebaur gab seit 1832 in Leipzig unter dem Pseudonym Dr. N. N. Reaube die „Jahrbücher der Preußischen Provinzial-Stände. Eine Zeitschrift zur Besprechung gemeinsamer Angelegenheiten des Vaterlandes“ heraus. 410 Diese Karikatur erschien anonym unter dem Titel: Ansichten aus der Cavaliersperspektive im Jahr 1835. Aus den Papieren eines Verstorbenen, Leipzig 1836. 411 Damit hätte Pückler freilich das deutsche Publikum überfordert, da er „Aristokrat“ und „Radikal-Reformer“ in einem sei – einer der Freunde, die schädlicher seien als der schlimmste Feind, denn seine vorgeschlagene Aristokratie käme einer „Vernichtung des Adels“ gleich: die ca. 80.000 Edelleute in Norddeutschland würden auf 600 reduziert – also auf nur rund 300 Adlige „im besten Lebensalter“. Diese würden zwar „einen großen Anhang haben und sehr beliebt sein“ – aber, so Neigebaur ironisch, würden sie ihre Macht für das Beste des kleinen Dienstadels nutzen? Vgl. Anonymus (Johann Daniel Ferdinand Neigebaur), Der Cavalier auf Reisen im Jahr 1837. Vom Verfasser der „Ansichten aus der Cavaliersperspektive im Jahr 1835“, Leipzig 1838, S. 28-41, hier S. 37f. 412 Das „politische Glaubensbekenntnis“ im fünften Teil von „Tutti Frutti“ hätten die Beamten allerdings „überschlagen“, weil es ihnen zu „abstract“ gewesen sei, und sie sich lieber in der „Spiel-



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Absichten ignoriert, die Interessen der „wahren Bürger“ kenne Pückler hingegen nicht – denn nicht allein jene zwei von ihm zitierten, sondern alle (Hervorhebung im Original) „Demagogen“ würden seinen Ansichten Beifall spenden: wie z.B. der Fall der „Zeitschrift für Provinzal-Stände“ eines gewissen Dr. Reaube belege!413 Die liberale Überzeugung von einer notwendigen Abstufung politischer Rechte nach „Besitz und Bildung“, die noch weit über 1848 hinaus wirkenden „plutokratisch-meritokratischen Denkfiguren“ (Hartwin Spenkuch) im gesamten politischen Denken in Deutschland und Europa, eröffneten die Möglichkeit, auch aus dieser politischen Perspektive Teilen des Adels eine herausragende staats-politische Stellung als „Aristokratie“ zuzuerkennen.414 Mochte die jeweils dabei vorgenommene Rollendefinition für Adel und Aristokratie in Details abweichen – gemeinsam war diesen liberalen Programmen die wütende Zurückweisung einer Adelsrolle als Bollwerk vor dem Thron: die Regentenhäuser würden vom Volk geliebt, und bräuchten daher keine „Verteidiger vor dem Volk“ – dies zu leugnen sei allein im Interesse des Adels, um sich unentbehrlich zu machen.415 Dagegen bestünde die wahre Berufung des Adels in der Bildung einer Aristokratie, die konstitutionell zwischen dem Monarchen und dem Volk stünde. Zehn Jahre nach Neigebauer suchte Welcker dies im „Staatslexikon“ mit „materialistischen“, Ernst Theodor Gaupp noch 1852 mit historischen Argumenten zu begründen.416 Hatte Welcker allerdings für eine konstitutionelle Rolle als „Schiedsrichter“ oder „Obmann“ zwischen König und Volk plädiert – eine Idee, die das „monarchische Prinzip“ zumindest theoretisch im Kern bedrohte, aber noch bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg verfochten wurde – so rückte nach der Revolution die spezifische adlige „Soziabilität“ ins Zentrum des bürgerlichen Interesses.417 Hugo Eisenhart und Albert Schäffle versuchten in den 1850er Jahren eine besondere „adlige“ Aufgabe über die besondere soziale und kulturelle Verknüpfung

Ressource“ erholten. Dass sie sich über Pücklers Pläne ausschwiegen sei allein auf ihre „prosaische Lebensauffassung“ zurückzuführen, die an „Nichts Theil nimmt, was nicht mittels des Mechanismus des Actentisches ihnen vorkommt, und verarbeitet werden muß“. Die Minderheit, die Pücklerschen Ansichten wahrnahm, hätte darin allein ein schlechtes Vorzeichen für die Zukunft gesehen – denn viele Verwaltungsstellen müssten bei diesen Reformen wegfallen. Zur deutschen „Beamtenkultur“ vgl. Neigebauer, Cavalier auf Reisen, Kapitel „Doberan“, S. 270-279, S. 39. 413 Damit zitierte sich Neigebaur selbst! Dass sich hingegen die „Standesherren“ nach Pücklers Aussage mit seinen Plänen einverstanden erklärten, so Neigebaur, sei völlig natürlich – diese stünden aus eigener Kraft über jeder Verfassung, und nicht einmal der „größte Demagoge“ hätte etwas gegen einen solchen auf ein großes Besitztum gegründeten ausgezeichneten Stand: „Die Esterhazy’s und Bedford’s werden überall geliebt und geachtet“. Vgl. Ders., Cavalier auf Reisen, S. 33, 31. 414 Vgl. Spenkuch, Herrenhaus, S. 43f. 415 Vgl. Neigebauer, Cavalier auf Reisen, S. 35. 416 Zu Welcker vgl. oben Kap. 4.2.3. Zu Theodor Gaupp siehe unten Kap. 4.3.3. 417 Vgl. zu Welckers Ideen der „Schiedsrichterschaft“: Stichwort „Adelstheorie (praktische)“ in: Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, hrsg. v. Carl v. Rotteck und Carl Wel­ cker, 1. Band, Altona 1845, S. 325-328. Der Hinweis, dass diese „Schiedsrichteridee“ das monarchische

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

verschiedener Lebenswirklichkeiten der Gesellschaft zu definieren – beschrieben als eine vornehmlich innerhalb der Familie vermittelte „Lebensatmosphäre“, die auf „Lebensart“ und „Bildung“ gründe. Vor allem Eisenhart hatte als Renegat der Revolutionserfahrung die noch immer effiziente Kraft dieser „Lebensatmosphäre“ als politischen Faktor zu respektieren gelernt.418 Eine Variante dieser Idee von der besonderen „Soziabilität“ des Adels war das Bild vom Adel als gesellschaftsrepräsentierenden „Mikrokosmos“ (Schäffle).419 Diese früh-soziologischen Deutungsansätze Schäffles und Eisenhart schlossen ältere Legitimationsvorstellungen von „Erbeigenschaften“

Prinzip angriff, weil damit die Letztentscheidung des Monarchen aufgehoben wurde von Spenkuch, Herrenhaus, S. 46. 418 „Soziabilität“ als Adelsaufgabe bei: Hugo Eisenhart, Über den Beruf des Adels im Staate und die Natur der Pärieverfassung. Ein Beitrag zur Revision der Rechtsbegriffe in Deutschland, Stuttgart/ Tübingen 1852, S. 27ff. Eisenhart bekannte darin offen, dass er vor 1848 den Adel nur als zum Untergang geweihtes „Institut“ wahrnehmen konnte, dies hätte sich aufgrund der Revolutionserfahrung grundlegend geändert. Eisenhart (1811-1893) wurde in Wolmirstedt bei Magdeburg geboren. Durch seinen vermögenden Vater war es ihm möglich das Gymnasium in Magdeburg zu besuchen und anschließend in Halle politische Staatswissenschaften, Philosophie und das Recht zu studieren. 1832 wechselte er auf die Universität in Berlin und studierte bei Friedrich v. Raumer Nationalökonomie und Statistik. 1834 wurde er in Halle promoviert. Dennoch wurde seine akademische Laufbahn aufgrund verschiedener ungünstiger akademischer Beurteilungen (u.a. durch Heinrich Leo) immer wieder verzögert, seine Habilitation wiederholt abgelehnt. Er verfasste eine Reihe zeitkritischer Streitschriften, wurde erst 1840 habilitiert und zum Privatdozenten in Halle ernannt. Erst sein zweibändiges Werk „Philosophie des Staates oder Allgemeine Sozialtheorie“ und „Positives System der Volkswirtschaft oder Ökonomische Sozialtheorie“ brachte ihm breitere Aufmerksamkeit. Eisenhart vertrat darin konservativ-freiheitliche Positionen. 1856 wurde er schließlich zum Professor berufen. Er publizierte vor allem zum Geldwesen und zur Steuergesetzgebung und begründete daneben die Geschichte der Nationalökonomie mit. 419 Die Idee des „Mikrokosmos“ und der „Verleiblichung“ von Schäffle, Adelsbegriff. Das Konzept des „Mikrokosmos“ konnte allerdings leicht auch in anti-aristokratisierender Stoßrichtung eingesetzt werden, wie der Gebrauch dieses Begriffs schon in Georg Wilhelm v. Raumers Votum im Rahmen der Adelsdebatte belegte, der damit für einen sozial relativ breiten adligen „Staatsstand“ plädierte, vgl. oben Teil II. Kap. 3.3.2. Albert Eberhard Friedrich Schäffle (1831-1903) wurde in Nürtingen in Württemberg geboren und besuchte nach der Lateinschule in Nürtingen das Theologische Seminar in Schönthal/Jagst. Sein kurzzeitiges Studium der Theologie am Tübinger Stift gab er im Sommer 1849 auf um sich der badischen Revolution als „Freischärler“ anzuschließen. Nach kurzer Tätigkeit als Privatlehrer wurde er von 1850-60 Redakteur des „Schwäbischen Merkur“. Nach autodidaktischen Studien des Staatsrechts und der Nationalökonomie bestand er 1855 die Staatsprüfung für den höheren Verwaltungsdienst und wurde 1856 promoviert. Ab 1860 lehrte er als Ordinarius an der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen und wurde 1861-65 Mitglied des württembergischen Landtags und 1868 des Zollparlaments in Berlin. 1868 nahm er einen Ruf an die Wiener Universität an und wurde 1871 österreichischer Handels- und Ackerbauminister. Nach seinem Rücktritt 1872 kehte er als Privatgelehrter nach Cannstatt und Stuttgart zurück. Schäffle wurde zu einem der bedeutendsten Vertreter einer organischen Staats- und Gesellschaftsauffassung, indem er biologische Naturgesetze in der Entwicklung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Systeme zu entdecken und praktisch anzuwenden versuchte, wobei er wiederum sozialistische Elemente berücksichtigte. In den Jahren 1881/82



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ebenso aus, wie deren nach 1848 aufkommenden modern-radikalisierenden Spielarten von „Rasse-Ideen“ über die Ursprünge und Legitimation des Adels.420 Schäffle stimmte mit Eisenhart darin überein, dass diese Aristokratie ökonomisch unabhängig auf großen Grundbesitz basiert sein müsse, um dem Adligen als eigenständigem „Manager“ seines (teilweise industrialisierten) Gutsbetriebs (Verschränkung von Landwirtschaft und industrieller Veredelung der Agrarprodukte) die Verfolgung zusätzlicher sozialer, politischer und intellektueller Interessen zu erlauben.421 Gegenüber Schäffle betonte Eisenhart jedoch den Aspekt der Muße, weniger die „gemischt“ landwirtschaftlich-industrielle Tätigkeit als Grundlage einer aristokratischen Lebensform, die erst nach „künstlerischer Bearbeitung“ zum „Adel“ werden könne.422 Affin zu dieser „künstlerischen Bearbeitung“ des Lebensstils und in Übereinstimmung mit Pückler bewertete Schäffle den „Luxusverbrauch“ als eine gesellschaftlich relevante Funktion.423 In diesem Konsum müsse die „innere geistige Potenz“ zum Ausdruck kommen, eine „Verleiblichung“ der Ideale, die den anderen Ständen fehle, und die den Adel als „potenzierten Städter und Großbauer“ in Einem erscheinen lasse: avoir –

wirkte Schäffle maßgeblich an Bismarcks Sozialgesetzgebung mit, insbesondere bei der Schaffung einer Arbeiterversicherung. Vgl. NDB, Bd. 22, Berlin 2005, S. 521-522. 420 Letztere mussten laut Schäffle in Konsequenz sogar zu rein individuell argumentierenden Adelslegitimationen führen – „jeder Adlige sei der Beste“. Dies könne aber nicht der Fall sein, und widerspreche auch der eigentlichen Idee vom Adel: nicht das Individuum zähle, sondern der Stand, keine „meterorartigen, doch ebenso einseitigen“ Persönlichkeiten seien entscheidend, sondern die „vermittelnde, allvermittelnde“ Funktion, die keineswegs die „höchste Potenz jeder separaten Richtung“ behauptet. Dagegen schaffe die Kontinuität des Familienbesitzes, die Vielseitigkeit der praktischen Lebensstellung, die Universalität der Standesbildung und Erziehung den adligen Primat im geistigen Gesamtleben, vgl. Schäffle, Adelsbegriff, S. 71f. Die von Schäffle skizzierte „Gefahr“, dass ein „rassisch“ konnotierter Adelsbegriffs letztlich zu einer rein individualisierenden Adelslegitimation führen musste, zeigte sich exemplarisch bei seinem Zeitgenossen Johann Caspar Bluntschli (1808-1881). Dieser liberal-konservative Schweizer Staatsrechtslehrer und Politiker, welcher ab 1861 als Professor in Heidelberg sogar Mitglied der Ersten Kammer in Baden wurde, sah im Geschlechtsadel nur „ruhende“ Eigenschaften, die sich erst durch bestimmte Leistungen oder Auszeichnungen zum „Individualadel“ erheben könnten – hier hatten sich die älteren Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Personal- und Geschlechtsadel also völlig umgekehrt! Vgl. seine Ausführungen zu den Begriffen „Adel“ und „Aristokratie“ in: Ders., Deutsches Staats-Wörterbuch, Erster Band, Stuttgart/ Leipzig 1857, S. 29-64, bes. S. 31; S. 332-342. 421 Dieser „industrialisierte“ Gutsbetrieb repräsentiere entsprechend der „Mittler“- bzw. „Mikro­ kosmos“-Idee zugleich die Verbindung von gebundenem und flüssigem Kapital, körperlicher und geistiger Arbeit. Vgl. Schäffle, Adelsbegriff, S. 64f. 422 Eisenhart, Beruf des Adels, S. 32. 423 „Luxusverbrauch“ nicht als reiner Konsum, sondern als Investition in Gutsverschönerung, Kunst, dauerhafte Familienwerte: vgl. Schäffle, Adelsbegriff, S. 66. Der geistig-sittliche Aspekt davon seien: feine Sitte, Mut, Bildung, sittliche Integrität, Selbständigkeit des Charakters, Mäzenatentum, Patronat geistigen Fortschritts, Ebd., S. 67. Deshalb sei der Adel die „ständische Konzentration des geistigen Gesamtlebens“, vgl. Ebd., S. 70.

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savoir - pouvoir.424 Nicht als „Schiedsrichter“ oder „Obmann“ stehe der Adel zwischen Krone und Volk, oder zwischen den verschiedenen Ständen, sondern als Garant einer „harmonischen Gesamtentfaltung des Gesellschaftslebens“ und der „politischen Mäßigung“, die „Retardation“ wie „Revolution“ verhindere.425 Aus diesem Grund seien Ideen einer „Aristokratie des Geistes oder des Amtes“, also von Personen, die um ihren Lebensunterhalt kämpfen müssten, widersinnig.426 Zur Sicherung dieses adligen Grundbesitzes plädierte Schäffle noch 1856 für neue Formen des vinkulierten Eigentums, nämlich einer Kombination von Fideikommiss und des englischen strict settlement.427

Das Scheitern der „Aristokratisierungsidee“ bei der Herrenhausgründung In seinem Festhalten an „englischen“ Adelsidealen nach 1848 konnte sich Friedrich Wilhelm IV. also durch eine bedeutende zeitgenössische, vornehmlich bürgerliche Publizistik bestätigt fühlen.428 Mochten seine Ziele hinsichtlich einer beschränkten

424 Schäffle, Adelsbegriff, S. 73. Dass sich bisher noch kein zeitgenössisch angemessener neuer Adelsbegriff ausbilden und durchsetzen konnte schob Schäffle auf die Ablösungsstreitereien nach 1815, durch welche der Adel in reiner Abwehr verharrt sei. Seither werde leider jede Idee einer Adelsreform als versuchte Adelsrestauration aufgefasst, Ebd. S. 57. 425 Schäffle, Adelsbegriff, S. 75ff. 426 Eisenhart, Beruf des Adels, S. 37f. Unter Berufung auf Möser, Niebuhr, Malthus, Burke, Stein, Wilhelm v. Humboldt, Vincke, Robert v. Mohl, Friedrich List und der englischen wirtschaftlichen Entwicklung verteidigte Eisenhart den gebundenen Grundbesitzes als natürliche politische Grundlage des Staates, vgl. Ebd. S. 153. Auch Schäffle hielt fest, dass der Adel nicht mehr Mitregent, sondern Repräsentant sei, und deshalb nicht mehr aus Beamten- und Generalen geschnitzt werden dürfe, vgl. Schäffle, Adelsbegriff, S. 79f. 427 Vgl. Schäffle, Adelsbegriff, S. 89f. Überhaupt griff Schäffle mit seinen konkreten Handlungsvorschlägen auf viele Aspekte und Ideen zurück, die in der vormärzlichen Adelsreformdebatte in Preußen ausführlich in der Administration, wie in der Adelszeitung diskutiert worden waren: der Adelsverlust für nachgeborene, nicht begüterte Adelssöhne (S. 93f), wobei sich der Adel „gefahrlos“ auch bei Nichthaupterben auf eine oder mehrere Generationen weitervererben könne – insbesondere wenn deren Angehörigen höhere Stellungen im öffentlichen Leben erwürben (S. 96-99). Schäffle forderte trotz der desillusionierenden Erfahrungen der Adelszeitung und des Adelsvereins die Schaffung einer „Adelsgenossenschaft“ des großen, „familienhaft“ gebundenen adligen Grundbesitzes ohne Ahnenprobe (S. 84ff). Der Adel müsse um Aufnahme neuer Mitglieder besorgt sein (S. 97) und brauche die „Adelsgenossenschaft“ zur „Selbstkontrolle“, zur „ökonomischen Gesamtbürgschaft“, „Kontrolle über die Bewirtschaftung der Güter“, die Sicherung des Bildungsauftrags, der Aufsicht über „Ehrensachen“ und der Führung einer „Matrikel“. Die „Adelskorporation“ solle des weiteren den Adel über „Standesfeste“ in seinem Sozialverhalten beeinflussen (S. 100). 428 Herausragende Bedeutung kam dabei dem Rechtsprofessor und Politiker Heinrich Rudolf Herrmann Friedrich (v.) Gneist (geadelt 1888) zu. Dieser wurde 1816 in Berlin geboren und durch die historische Rechtslehre Savignys, Hegels Philosophie und die Staats- und Kulturlehren Lorenz v. Steins geprägt. Gneist hatte vor 1848 vor allem politisch publiziert. Infolge dessen verlor der Privatdozent und Kammergerichtsassessor in der Reaktionszeit 1849 seine unbezahlte Stelle als „Hilfsarbeiter“



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Vererbung des niederen Adels zur Beförderung einer preußischen „Gentry“ vorerst gescheitert sein, so war das Feld bezüglich des hohen Adels noch offen. Die Bildung einer neuen „Aristokratie“ zur Besetzung eines „Ober“- oder „Herrenhauses“ schien selbst einer adelskritisch eingestellten Öffentlichkeit immer noch vermittelbar.429 Zu einer solchen „Aristokratisierung“ hatte Friedrich Wilhelm ja ebenfalls im Vormärz die ersten Schritte eingeleitet: durch die Beförderung einer stärker primogentitalbeschränkten Erbordnung von Titeln und Vermögen des „höheren“ Adels der Freiherrn und Grafen. Die nach 1848 schrittweise erfolgte, tatsächliche Ausbildung eines preußischen „Oberhauses“, das Herrenhaus, wich von diesem Ziel einer „Aristokratisierung“ jedoch erheblich ab. Wie erklärt sich dies? Verantwortlich dafür war nicht ein Bruch, oder eine völlige Verschiebung der von Friedrich Wilhelm verfolgten adelspolitischen Leitbilder und Ziele. Vielmehr wurde die Herrenhausbildung in bedeutendem Maße von tagespolitischen und kurzfristigen taktischen Überlegungen bestimmt, die einer extrem-konservativen Faktion des niederen, ritterschaftlichen Adels erlaubte, ihre den königlichen Absichten völlig entgegenstehenden Konzeptionen einzubringen, und schließlich sogar in erheblichen Teilen durchzusetzen. Diese veränderte Konzeption bestand darin, dass neben der ursprünglich überwiegend erblich gedachten Kammerqualifikationen in bedeutendem Umfang Wahlkörperschaften eingeführt wurden. Aufgrund dieses veränderten Zuordnungskontextes verkehrten sich die aus der vormärzlichen Adelsdebatte entnommenen Kriterien einer primogenital-patrilinearen Erbfolge und des befestigtes Grundbesitzes in ihrer Wirkung in das völlige Gegenteil der ursprünglichen Konzeption: nicht eine neue Aristokratie wurde Basis und Ziel dieser Herrenhauskategorien, sondern die breite Partizipation des niederen, ritterschaftlichen Adels in der Ersten Kammer. Damit war im Grunde das vom König

beim Obertribunal. Schon 1845 Stadtverordneter von Berlin, wurde Gneist 1859-1893 preußischer Abgeordneter und 1867-1888 Abgeordneter im Reichstag. Wissenschaftliche und politische Tätigkeit bezog er bewusst aufeinander. Mit seiner Schrift „Adel und Ritterschaft in England“ von 1853 und seinen späteren Englandwerken machte er die Öffentlichkeit wie die Staatslehre erstmals ausführlich mit dem kommunalen Unterbau des englischen „self government“ ausführlich vertraut. Seine Motivation bezog er aus einer scharfen Kritik am preußischen Beamtentum und dem preußischen Adel, dem er mit seinen Englandschriften den Spiegel einer „wahren“ Aristokratie entgegenhalten wollte. Die ersten beiden Bände seines ab 1857 erscheinenden Werkes „Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht“ erlebten bis 1883/4 drei Auflagen. Der schon 1860 angekündigte dritte Band erschien jedoch erst 1886. Der Einfluss Gneists auf die populäre Wahrnehmung der englischen Rechts- und Sozialverhältnisse im Deutschland der zweiten Jahrhunderthälfte war bedeutend, vor allem hinsichtlich der Idee einer „Selbstverwaltung“, obwohl Heinrich v. Treitschke in dem Werk eine „schreckliche Ungenießbarkeit“ wahrnahm, die er durch eine lesbarere Zusammenfassung der Kerngedanken zu beheben suchte: Heinrich v. Treitschke, Das Selfgoverment, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 6 (1860), S. 25-53. Vgl. Erich J. Hahn, Rudolf v. Gneist (1816-1895). Ein politischer Jurist der Bismarckzeit, Frankfurt a. M. 1995, S. 57, S. 88; NDB, Bd. 6, Berlin 1964, S. 287-289. 429 Vgl. oben Kap. 4.3.3.

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avisierte Ziel einer „composite elite“ im Rahmen des Herrenhauses schon mit dessen Zusammensetzung gescheitert.430 Wegen der Zufälligkeit dieses Zustandekommens wäre es jedoch verfehlt, die 1854 endgültig erfolgte Definition der Herrenhauskategorien als „logische“, gar „zwingende“ Konsequenz der preußischen Gesellschaftsund Verfassungsentwicklung zu deuten. Stattdessen stellt sich die Frage, wie es dazu kommen konnte, obwohl weder der Monarch, noch die Mehrheit seiner Regierung ein entsprechendes Resultat im Sinne hatten. Das „Aristokratisierungskonzept“ Friedrich Wilhelms IV. Friedrich Wilhelm IV. hatte im Vormärz sein Aristokratisierungskonzept wohl nirgendwo schriftlich konzise niedergelegt. Dennoch lassen sich dessen Grundzüge aus verstreuten Äußerungen und den königlichen adelspolitischen Entscheidungen wesentlich nachvollziehen. Am deutlichsten geschah letzteres in der Bildung der „Herrenkurie“ des Vereinigten Landtages von 1847. Friedrich Wilhelm wollte die sich darin erstmals abzeichnende neue Aristokratie keineswegs in einem eigenen Oberoder Herrenhaus unterbringen – gerade in dieser Frage ging ein langwieriger Konflikt mit seinem Bruder Wilhelm, dem Thronfolger voraus, der eine solche Oberhauslösung präferierte.431 Der Vereinigte Landtag bestand schließlich aus vier Ständen: der Herrenkurie, einer Kurie des niederen Adels, der Bürger und der Bauern. Dabei sollte die Herrenkurie den übrigen Ständen nur in bestimmten Fällen der Entscheidungsfindung gesondert gegenübertreten.432 Da die Zahl der preußischen Standesherren zur Bildung dieser Herrenkurie nicht ausgereicht hatte, was ja zahlreiche Stellungnahmen seit der Reformzeit immer wieder bestätigt hatten, wurden sie durch eine Reihe neuer Mitglieder aus dem niederen Adel und ausgewählter Institutionen ergänzt. Die Hinzutretenden aus dem niederen Adel mussten sich durch Grundbesitzgröße, Einkommen, „Würdigkeit“ und die Bekleidung dekorativer Hofämter qualifizieren, also hervorgehobene, ausgezeichnete Elemente des niederen Adels darstellen, wie es schon Pückler angedeutet und Bunsen vorformuliert hatten. Dabei fand die schon in der Provinzialständeordnung vorgenommene Hervorhebung einzelner Berechtigter durch Viril- und Kollektivstimmen Berücksichtigung, die insofern ständepolitisch dem alten „hohen“ Adel angenähert wurden.433 Diese Beifügung neuer Mitglieder in die projektierte „Pairie“ der

430 Und damit erledigte sich eigentlich auch gleich die Fragestellung, die Hartwin Spenkuch seiner Untersuchung der Geschichte des preußischen Herrenhauses unterlegte, nämlich den Chancen zur Bildung einer solchen „composite elite“ aus dieser Institution: die endgültige Einrichtung dieser Kammer 1854 war nämlich eine klares Aufgeben dieser Zielstellung. Der realisierte Charakter des Herrenhauses ging in eine ganz andere Richtung, vgl. Ders., Herrenhaus. 431 Vgl. zu diesem Konflikt oben Teil II. Kap. 3.4.3. 432 Vgl. Jordan, Friedrich Wilhelm IV., S. 83. 433 Nach dem § 2 des Gesetzes vom 3. Februar 1847 zur Einberufung des Vereinigten Landtages bildeten den Herrenstand neben den königlichen Prinzen „die zu den Provinziallandtagen berufenen vor-



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Herrenkurie widersprach mitnichten dem ständischen Vorstellungen Friedrich Wilhelms IV., die ja keineswegs starr rückwärts orientiert waren, sondern bereitwillig Desiderate aus dem „Fundus“ älterer Überlieferungen und sogar außerpreußische Vorbilder aufgriffen, um neue Formen zu schaffen.434 Doch wurde der Vereinigte Landtag in seinem Bemühen, aus der Provinzialständeordnung „allmählich“ und stufenweise, daher scheinbar „organisch“, eine gesamtstaatliche Repräsentationskörperschaft auszubilden, nicht nur durch die Öffentlichkeit, sondern auch von der Administration als Fehlschlag wahrgenommen. Die Revolution von 1848 verlegte diesen Entwicklungsweg endgültig, auch wenn Friedrich Wilhelm mit der Einberufung eines weiteren „Vereinigten Landtages“ im Revolutionsjahr die Kontinuität zu wahren hoffte. Aufgeben des „Aristokratisierungskonzepts“ zugunsten eines Wahlprinzips Unter dem Eindruck der revolutionären Märzereignisse 1848 ließ der König eine „konstitutionelle Verfassung auf breitester Grundlage“ durch seinen damaligen leitenden Minister Graf v. Arnim-Boitzenburg versprechen. Dessen erster Verfassungsentwurf hielt noch durchaus an einem „Aristokratisierungsprogramm“ fest, indem er an den Vereinigten Landtag von 1847 anzuknüpfen suchte. Eine Herrenkurie wurde beibehalten, die aber durch weitere Vertreter des Adels und Grundbesitzes, durch Abgeordnete der Magistrate und Universitäten erweitert werden sollte. Ende März wurde diese projektierte Erweiterung der Herrenkurie noch einmal um 8 Grafen (für jede Provinz) und die Oberbürgermeister der ehemals freien Reichsstädte ausgedehnt.435 Doch dieser aristokratisierende Ansatz wurde bis zur oktroyierten Verfassung vom Dezember 1848 zunächst aufgegeben. Das neue (revolutionäre) Ministerium Camphausen-Hansemann schlug der preußischen Nationalversammlung ein ZweiKammer-System vor. Zur Ersten Kammer sollten aus allgemeinen aber indirekten Wahlen mit einem harten Zensuswahlrecht 180 Mitglieder gewählt werden, die das 40. Lebensjahr erreicht haben mussten.436 Dazu sollten als erbliche Mitglieder

maligen deutschen Reichsstände (Fürsten und Grafen), die schlesischen Fürsten und Standesherren, und alle mit Virilstimmen begabten oder Kollektivstimmen beteiligten Stifter, Fürsten, Grafen und Herren der acht Provinziallandtage“, vgl. Jordan, Friedrich Wilhelm IV., S. 55. 434 Diese fälschliche Annahme eines Widerspruchs zwischen den historischen Idealen Friedrich Wilhelms und einer notwendigen „Aristokratisierung“ eines Teils des Adels z.B. bei Jordan, vgl. Ders., Friedrich Wilhelm IV., S. 53. Jordan nimmt deshalb z.B. an, dass aus Pommern nur Fürst Putbus berücksichtigt werden sollte – er übersah dabei das „Aristokratisierungskonzept“, das bestimmte Familien des niederen Adels als „Pairfähig“ zu definieren suchte, vgl. Ders., S. 80. Sogar „pairfähige“ Bürgerliche wurden in der Adelsreformdiskussion durch die Beiträge Bunsens und später Radowitz identifiziert, vgl. oben Teil II. Kap. 3.4.2. und 3.4.5. Vgl. dazu oben Kap. 4.3.2. und Teil I. Kap. 2.5.2. 435 Vgl. Jordan, Friedrich Wilhelm IV., S. 57f. 436 Vgl. Spenkuch, Herrenhaus, S. 47.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

die Prinzen aus königlichem Haus hinzutreten, sowie 60 vom König berufene Personen, die ein Mindesteinkommen von 8.000 Talern nachzuweisen hatten und ihre Berechtigung in Primogenitur vererbten. Zum Vergleich: Vincke und Pückler hatten als Einkommensstufe für Freiherrn bzw. Barone, die als unterste Adelsstufe für eine aristokratische Repräsentation qualifizieren mochten, 5.000-6.000, bzw. 10.000 Taler gefordert. Das Hansemannsche, allerdings rein plutokratische Qualifikationskriterium lag also zwischen diesen älteren Vorschlägen.437 Die Nationalversammlung lehnte jedoch die Pairieelemente des Regierungsentwurfes ab und machte den Gegenvorschlag einer durch die Bezirke und Kreise gewählten Ersten Kammer. Nachdem darüber das ganze Jahr keine Verständigung zwischen Nationalversammlung und Regierung erzielt werden konnte, löste der König am 5. Dezember 1848 die Nationalversammlung auf und oktroyierte eine Verfassung, die jedoch die Bestimmungen der Nationalversammlung bezüglich der Ersten Kammer beibehielt. Lediglich ein scharfer Einkommenszensus wurde für die Wählerschaft zur Ersten Kammer festgestellt. Allein in einer „Anmerkung“ kündigte die oktroyierte Verfassung an, dass bei einer Revision dieser Verfassung zu entscheiden wäre, inwiefern einzelne Mitglieder dieser Kammer durch den König ernannt, bzw. den Städten und Universitäten besondere Vertretungsrechte eingeräumt werden sollten.438 Auch die angekündigte Revision dieser oktroyierten Verfassung änderte am Wahlcharakter der Ersten Kammer nichts. Nach der Auflösung der Zweiten Kammer im April und ihrer Neuwahl nach dem neuen Drei-Klassen-Wahlrecht im Sommer 1849 trat sie im August mit der bis dahin vertagten Ersten Kammer zu ersten Revisionsberatungen zusammen. In den bis Oktober dauernden Verhandlungen wurden noch die letzten erblich qualifizierenden Elemente (bezüglich der Standesherren) aufgegeben. Zwar wurde von allen Rednern anerkannt, dass eine erbliche Pairie die ideale Basis für ein Oberhaus sei, aber wie schon in den vergangenen Jahrzehnten wurde die Bildung einer solchen als für Preußen nicht umsetzbar behauptet.439 Einzelanträge, die Erblichkeit, bzw. die Berufung durch den König oder einen Vorrang des großen Grundbesitzes berücksichtigen wollten, wurden zurückgewiesen, darunter der Antrag des konservativen Theoretikers Friedrich Julius Stahl, der aristokratisierende Qualifikati-

437 Vgl. oben Kap. 4.3.3. 438 Vgl. Jordan, Friedrich Wilhelm IV., S. 62f. 439 Neben den königlichen Prinzen sollten 160 durch die Kreise, sowie 80 durch die höchstbesteuerten Grundbesitzer der Provinzen gewählte Abgeordnete in der Kammer vertreten sein. Das Plenum übernahm im Oktober des Jahres diese Vorschläge im Kern, modifizierte allein die Zahl der jeweils durch die Körperschaften gewählten Mitglieder (120 von Provinzial- und Kreistagen, sowie 60 von den höchstbesteuerten Grundbesitzer gewählt), vgl. Günther Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49-1857/58. Preußischer Konstitutionalismus – Parlament und Regierung in der Reaktionsära, Düsseldorf 1982, S. 152f.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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onsmodi einführen wollte.440 Dass der Antrag Stahl noch einem aristokratisierenden Programm folgte geht daraus deutlich hervor, dass, wie der Ministerpräsident v. Manteuffel diesem Antrag im Plenum gleich anfügte, eine Grundbesitzerschicht, die nach Stahls Vorschlägen definiert würde, höchstenfalls aus 490 Wahlberechtigten in ganz Preußen bestanden hätte.441 Nachdem aber selbst in dieser revisionierten Form die Erste Kammer als Wahlkammer mit plutokratischen Elementen erhalten geblieben war, führte der Konflikt über die Vereidigung der Verfassung und die anschließende Kompromisssuche zu einer völligen Neukonzeption. Der Streit über die Vereidigung führt zur Berücksichtigung neuer Kategorienbildung Die hartnäckige Weigerung des Monarchen, die Verfassung zu beeiden lenkte die Verfassungsverhandlungen um die Gestaltung der Ersten Kammer in eine völlig neue

440 Vgl. Jordan, Friedrich Wilhelm IV., S. 66. Stahl wollte neben den Prinzen die volljährigen Häupter der ehemaligen reichsständischen Häuser, 60 vom König auf Lebenszeit ernannte, 40 aus den größten Kaufleuten und Fabrikaten, die jeweils 8 Superintendenten und Bischöfe, und jeweils einen Abgeordneten der Universitäten vertreten sehen. Zu diesen sollten 60 Personen aus dem Kreis der größten Grundbesitzer (8.000 Taler Mindesteinkommen) jeder Provinz hinzukommen, vgl. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen, S. 154. Friedrich Julius Stahl (1802-1861) wurde in München als Sohn konservativer Juden geboren, und wurde von seinem Vater systematisch in die jüdische Orthodoxie eingeführt, aber auch auf das Gymnasium vorbereitet. 1819 begann er ein Studium der Rechtswissenschaft und trat zugleich zum lutherischen Christentum über, das er in Folge in doktrinärer Weise propagierte. Von der historischen Rechtsschule angezogen, wandte er sich doch wieder der Philosophie zu, um aber auf theosophischer Grundlage deren zeitgenössisch dominierenden Strömungen zu überwinden. 1832 als außerordentlicher Professor an die Universität Erlangen berufen, wurde er nach einer Ordinarienzeit in Würzburg ab 1834 ordentlicher Professor in Erlangen für Staatsund Kirchenrecht. 1840 wurde er auf Betreiben Friedrich Wilhelms IV. nach Berlin berufen, mit dem er nicht zuletzt in dem Bestreben übereinstimmte, der evangelischen Kirche gegenüber dem Staat eine unabhängigere Stellung zu geben. Schon im Vormärz war er publizistisch im Flugschriftenkampf auf Seiten der ständisch-legitimistischen Konservativen tätig. Obwohl er den Parlamentarismus und eine Bindung des Monarchen an den Parlamentswillen ablehnte berief sich Stahl vordergründig auf ein englisches Verfassungsideal. 1848 wurde er Vertreter und schließlich Sprecher der nur 13köpfigen äußersten Rechten in der Ersten Kammer. Konsequent lehnte er alle fortschrittlichen Elemente der neuen Gesetzgebung ab, votierte für die Aufhebung des Fideikommissverbots, gegen die Übertragung der westlichen Städteordnung auf die sechs östlichen Provinzen und gegen die Annahme der „Frankfurter“ Kaiserkrone durch den preußischen König etc., ohne jedoch die Verfassung als solche abzulehnen. Die Reaktion der 1850er Jahre wollte er auf gesetzlichem Wege, nicht durch einen Putsch gegen die Verfassung durchsetzen. 1850 Mitglied des Erfurter Unionsparlaments blieb er zeit seines Lebens Mitglied des preußischen Herrenhauses. Als Freund des Innenministers v. Westphalen nahm er bedeutenden Einfluss auf die Ausgestaltung des Herrenhauses nach 1850. Vgl. ADB, Bd. 35, Leipzig, 1893, S. 392-400; Spenkuch, Herrenhaus, S. 378, 381. 441 Vgl. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen, S. 156. Man beachte die auffällig ähnliche Größenordnung dieser „Aristokratie“ zu den Pücklerschen Qualifikationsvorstellungen, die Neigebaur auf „600“ schätzte, und darin die „Vernichtung des Adels“ sah, vgl. oben 4.3.3.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Richtung. Der Konflikt darüber spitzte sich um die Jahreswende 1849/50 zu, während das Ministerium über die Frage der Ersten Kammer selbst gespalten war  – Innenminister v. Westphalen vertrat im Kabinett die ritterschaftliche Partei und lehnte entsprechend eine streng aristokratisierende Auslese hervorragender Adelsspitzen (jenseits der Standesherren) ab, Ministerpräsident v. Manteuffel favorisierte einen Beamten-Senat.442 Die äußerst rechte, den ritterschaftlichen Adelsinteressen verpflichtete Kamarilla um die Brüder Ernst Ludwig und Leopold v. Gerlach bestärkte Friedrich Wilhelm in seiner Ablehnung der Eidesleistung, wogegen die Regierung dem Monarchen den Weg dahin durch Kompromisse mit den Kammern zu ebnen suchte. Denn das Ministerium fürchtete im Falle einer dauernden Weigerung des Königs negative Auswirkungen auf die zeitgleich verfolgte „deutsche Politik“ Preußens, die es sich nicht erlauben konnte, die süddeutschen Verfassungsstaaten abzuschrecken. In dieser politisch-ideologisch blockierten Dreieckskonstellation konnte ein Vorschlag zur Umbildung der Ersten Kammer in die engere Diskussion zwischen Minister und König geraten, der die Intentionen des Monarchen hinsichtlich einer „aristokratischen“ Ersten Kammer völlig konterkarierte.443 Im Januar 1850 brachte ein politischer Anhänger des Gerlach-Kreises, der Landrat Hans Hugo v. Kleist-Retzow (1814-1892) den Vorschlag ein, die Erste Kammer „einheitlich“ – d.h. nicht nach Kurien unterschiedlicher Berechtigungen unterteilt – stattdessen auf den Prinzipien von „Grundbesitz und Bildung“ zu gestalten.444 Inspiriert hatte ihn dazu Alexander v. Below-Hohendorf. Und ein weiterer v. Below hatte Kleist nahegelegt, diese einheitliche Kategorie aus Wahlkörperschaften der Großgrundbesitzer hervorgehen zu lassen.445

442 Vgl. Spenkuch, Herrenhaus, S. 48, Anmk. 21. Unerklärlich bleibt, wieso Spenkuch die gourvernementale Rechte und das Ministerium in diesem Zusammenhang als „kaum aktive, treibende Kräfte“ bezeichnet: der Ablauf der Auseinandersetzungen ist ohne die Vorstöße und Interessen dieser Gruppierungen kaum verständlich. 443 Grünthal setzt einige Male unverständlicher Weise die Interessen der breiten Ritterschaft mit denen der Standesherren gleich, und identifiziert in verkürzender Weise entsprechend die Positionen Gerlachs und des Antrags Stahl als identisch, obwohl letzterer, in Gegensatz zum Umfeld Gerlachs, zumindest 1849 sehr wohl einem Aristokratisierungskonzept anhing. Später näherte sich Stahl allerdings der ritterschaftlichen Partei, vgl. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen, S. 234. 444 Hans Hugo v. Kleist-Retzow, geb. auf Gut Kiekow im pommerschen Kreis Belgard, gehörte zum äußerst strengen Flügel der Neu-Pietisten an, was schließlich sogar seine Karriereaussichten (er war nach 1848 verschiedentlich als Minister im Gespräch) vereitelte. Als Landrat seines Geburts-Landkreises wurde er 1848 Vorsitzender des „Junker-Parlaments“, war einer der Mitbegründer der reaktionärrestaurativen „Kreuzzeitung“ und der nach ihr benannten Partei, sowie ein langjähriger politischer Freund Bismarcks und Wegbereiter des „neuen“ preußischen Konservatismus nach 1848. Vgl. ADB, Bd. 51, Leipzig 1906, S. 191-202. 445 Der Vorschlag von „Wahlkörperschaften“ kam vermutlich aus dem Kreis der Brüder Gustav, Carl und Heinrich v. Below, wichtige Vertreter des radikalen Flügels des pommerschen Neupietismus. Vgl. Jordan, Friedrich Wilhelm IV., S. 79f, und Kraus, Gerlach, 2 Bd., Erster Teilband, Göttingen 1994, S. 97.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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Dieser Außenseitervorschlag konnte nur deshalb im weiteren Verlauf der Aus­ einandersetzungen eine zentrale Rolle übernehmen, weil er aus taktischen Gründen dazu geeignet schien, die Ablehnung durch die Kammern zu provozieren und damit dem König die Verweigerung der Eidesleistung zu ermöglichen – der König opponierte ansonsten heftig gegen die darin enthaltene Widerlegung seiner Überzeugung, den kleinen Adel aus der Ersten Kammer heraushalten zu müssen. Friedrich Wilhelm sah darin nicht zuletzt eine Anmaßung des niederen Adels, der offenbar nicht bereit war, eine ständisch-rechtliche Binnendifferenzierung des Adels zu akzeptieren, und sich dem hohen Adel gleichzustellen suchte.446 Allein die hohe Wahrscheinlichkeit der Ablehnung durch die Kammern ließ den Monarchen schließlich einlenken – und erstmals erklären, bei einer Revision der Kammer zumindest bei größeren Familienverbindungen Mitglieder des niederen Adels berücksichtigen zu wollen.447 Doch entgegen der Hoffnungen des Königs auf ein Scheitern der Verhandlungen kämpfte das Ministerium entschlossen für einen erfolgreichen Kompromiss mit den Kammern, weil die Ablehnung einer einvernehmlichen Verfassungsrevision und die darauf drohende Verweigerung des Verfassungseides durch den Monarchen Preußen dauerhaft außenpolitisch geschwächt hätte.448 Die Minister hatten schließlich Erfolg, indem anstelle der von Kleist geforderten „Wahlkörper großer Landbesitzer“ den 200 höchstbesteuerten Grundbesitzern jeder Provinz das Recht eingeräumt wurde, anteilig die Zahl der 60 vorgesehenen Mitglieder dieser Kategorie zu wählen. Durch diese Definition konnten auch kleinere Grundbesitzer, die jedoch zusätzlich über mobiles Vermögen verfügten, Berücksichtigung finden, was vielen bürgerlichen Grundbesitzern entgegenkam.449 Doch war damit eine entscheidende, für das ursprüngliche Aristokratisierungskonzept fatale Wende eingetreten: als eigenständige Berufungskategorie waren nun Wahlkörperschaften anstelle der bisher fast ausschließlich (mit Ausnahme der vorgesehenen „Vertrauenspairs“) gedachten „Erbkörperschaften“ eingeführt. Zwar wurde im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen um Verfassungsdetails (vor allem die Steuerfrage betreffend) und durch Vermittlung von Radowitz am 24. Januar 1850 ein „Amendement“ unter den Namen der Minister Arnim-Boitzenburg und Graf Schwerin vorgelegt.450 Dieses stärkte den plutokratischen Charakter der Kammer erneut, indem die gewählten „Pairs“ (deren Zahl zudem von 60 auf 90

446 Das Vorhaben eines „aristokratischen“ Herrenhauses entfremdete den König von den meisten seiner konservativen Freunde und Verbündeten, da sie den Ausschluss des kleinen Adels („die Junker“) scharf ablehnten, vgl. Barclay, Frederick William IV., S. 247. 447 Vgl. Jordan, Friedrich Wilhelm IV., S. 83ff, S. 94. 448 Dieser Vorschlag wurde als VIII. Proposition der „Allerhöchsten Botschaft die Verfassungs-Revision betreffend“ am 9.1.1850 den Kammern vorgelegt, vgl. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen, S. 162. 449 Vgl. Jordan, Friedrich Wilhelm IV., S. 83ff, S. 95. 450 Damit war es gelungen, die äußerst rechte Kamarilla um Gerlach zu isolieren und den Liberalen noch weiter entgegenzukommen, vgl. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen, S. 166ff. Radowitz

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

erhöht wurden) nicht länger aus den „Grundbesitzern“ hervorgehen, sondern durch die in den Provinzen jeweils dreißig höchstbesteuerten Urwähler gewählt werden sollten.451 Aber die Idee von Wahlkörperschaften hatte sich damit dauerhaft etabliert. Die endgültige Abkehr vom Konzept einer „Aristokratisierung“ Gelang es unter dieser Kompromissformel den König zur Eidesleistung zu bewegen, so musste dieser im weiteren Ausschuss-Kampf zwischen der gemäßigten Rechten (der sogenannten Wochenblatt-Partei unter Führung Bethmann-Hollwegs) und der ritterschaftlichen Rechten (um die Gruppe Gerlach) feststellen, wie sehr die Wünsche der letzteren seine aristokratisierenden Herrenhausideale unterliefen:452 „Mein niederer Adel will mich beherrschen, wie er es mit dem Kurfürsten Joachim getan“, klagte der König im März 1852.453 Denn die Trennung von Standesherren und Ritterschaft wurde von Friedrich Wilhelm auch nach 1850 konsequent verfolgt. Das Instrument hierzu sollte das Ernennungsrecht der Herrenhausmitglieder durch den König bieten, das der Monarch auch nach dem mühsam errungenen Kompromiss von 1850 wieder voll in die eigenen Hände zu bekommen dachte.454 Tatsächlich überließ ein eigener (vom König inspirierter) Antrag der Wochenblatt-Partei im Januar 1852 (Antrag Heffter) dem König, mit Ausnahme der Standesherren und den sonstigen erblichen, in Primogenitur und Linearabfolge Berechtigten, ein weitgehendes Ernennungsrecht zur Ersten Kammer. Und das sogar ohne Obergrenze!455 Der König wiederum suchte zeitgleich in einem semi-offiziellen Vorstoß für sein Konzept eines neu-aristokratischen Herrenhauses in der Öffentlichkeit zu werben. Er hatte bei dem Breslauer Juristen und Rechtshistoriker Ernst Theodor Gaupp ein historisches Gutachten über die Bildung einer neuen preußischen Pairie bestellt. Dieses bemerkenswerte Dokument gibt in kürzester und wohl vollständigster Form die Vorstellungen und Prämissen der königlichen Adels-, Herrenhaus- und Aristokratisierungskonzepte wider.456

war ja der exponierteste Vertreter der preußischen Deutschlandpolitik, und damit an einer Eidesleistung des Königs dringend interessiert. 451 Vgl. Jordan, Friedrich Wilhelm IV., S. 117f. 452 Vgl. zu den Details dieses Streites Grünthal, Parlamentarismus in Preußen, S. 230-261. 453 Ebd., S. 226, und Gerlach, Denkwürdigkeiten, I., S. 429. 454 Grünthal, Parlamentarismus in Preußen, S. 231. 455 Der sogenannte „Antrag Heffter“ vom 26.1.1852. Dagegen ließ Ministerpräsident Manteuffel noch Ende Januar 1852 im semi-offiziellen Sprachrohr der Regierung „Die Zeit“ seine Lieblings-Idee des Oberhauses als Senat verkünden, und dass „man im Oberhaus keine Wahlpairs wünsche“, aber auch keine solchen, die durch die Krone ernannt würden, vielmehr solle die Pairschaft an Staatsämter gebunden werden, vgl. Ebd., S. 233, 240f. 456 Vgl. Ernst Theodor Gaupp, Über die Bildung der ersten Kammer in Preußen und die Stellung des Adels in der Gegenwart überhaupt. Ein Gutachten, Breslau 1852. Als Vorwort schickte Gaupp das briefliche Anschreiben an seinen Auftraggeber vorweg, woraus die eilige Beauftragung durch den Monarchen hervorgeht. Gaupp (1796-1859) entstammte einer ursprünglich aus Schwaben stammenden Pastoren- und Wissenschaftlerfamilie, von der sich ein Zweig im 18. Jahrhundert in Schlesien an-



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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Historisch hätten die „Waffenehre“, der Grundbesitz und der durch historische Taten hervorragend bekannte Name die Bedeutung des Adels ausgemacht, so Gaupp. Da die „Waffenehre“ mit der allgemeinen Wehrpflicht auf alle Bevölkerungsschichten übergegangen sei, bliebe nur noch der Grundbesitz und der hervorragende Name als Auszeichnungskriterien übrig, die aufgrund der „Substraktion“ der „Waffenehre“ entsprechend „verstärkt“ auftreten müssten, um noch eine „aristokratische Stellung“ zu verleihen.457 Da nach der Auflösung des Alten Reiches die überkommene Teilung des Adels in einen „hohen“ und „niederen“ ihre Grundlage verloren habe, könne und müsse sich eine neue Schicht herausragender Geschlechter als „Pairie“ bilden, indem sich an den eigentlichen Kern der „Aristokratie“, die Standesherren, einzelne Familien aus dem ritterschaftlichen Adel anschlössen. Diese Bewegung nach „oben“ sei auch schon faktisch erfolgt, hier habe die „Geschichte [...] in den letzten Jahrhunderten schon auf höchst merkwürdige Weise vorgearbeitet“, indem sie den mächtigsten und einflussreichsten Familien des niederen Adels die Titel des hohen Adels, bzw. durch den Erwerb größerer Herrschaften einen faktischen Vorrang geschaffen habe. Hier spielte Gaupp zweifellos auf die seit dem späten 18. Jahrhundert in Preußen erfolgte titulare, wenn auch nicht rechtlich wirksame Auszeichnung der älteren und zugleich größeren adligen Grundbesitzerfamilien durch die Standespolitik der Monarchen an.458 Der übrige niedere Adel wurde von Gaupp dagegen deutlich an eine gentry-artige Verbindung mit dem höheren Bürgertum verwiesen. So hätten sich die preußischen Gesellschaftsverhältnisse auf „natürliche“, gewissermaßen „organische“ Weise den englischen Verhältnissen in ihrer Dreiteilung zwischen nobility, gentry und commonalty angenähert.459 Die politisch hervorragende Berech-

gesiedelt hatte. Er wurde in der Nähe von Raudten geboren, besuchte das Gymnasium in Glogau und später die Ritterakademie in Liegnitz. Mit sechzehn Jahren schloss er sich freiwillig dem Kampf gegen Napoleon an und diente mit Unterbrechung bis 1815 in der Armee, wobei er an mehreren Schlachten, u.a. Leipzig, beteiligt war und zum Leutnant befördert wurde. Ab 1816 studierte er in Breslau, Berlin und schließlich Göttingen Jura und kam in Kontakt zu Savigny. Dabei entwickelte er sich zu einem Anhänger und Protagonisten der historischen Rechtsschule. Er spezialisierte sich auf Rechtsgeschichte. Schon 1821 wurde er außerordentlicher Professor in Breslau, 1826 ordentlicher Professor. Einen Namen machte er sich vor allem als Herausgeber von mittelalterlichen Rechtsquellen. Ab 1832 zugleich für das Oberlandesgericht Breslau tätig, suchte Gaupp ausgerechnet das spätaufklärerisch inspirierte preußische Landrecht auf altgermanische Rechtsgrundsätze zurückzuführen! Mit Ausnahme einer Schrift über „Das deutsche Volksthum in den Stammländern der preußischen Monarchie“ (1849) und dem Gutachten über die Einrichtung eines Herrenhauses positionierte sich Gaupp nicht politisch. Vgl. ADB, Bd. 8, Leipzig, 1878, S. 425-430. 457 Vgl. Gaupp, Bildung der ersten Kammer, S. 24f. 458 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.4.1. zur Aufwertung der altadligen, großen Landbesitz haltenden Familien seit Friedrich Wilhelm II., um diese Geschlechter vor den Folgen der adligen Titelinflation zu schützen und einen eigenen staatsintegrierenden preußischen „Reichsadel“ zu bilden. 459 Vgl. Gaupp, Bildung der ersten Kammer, S. 29.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

tigung dieser neuen Aristokratie in einem Herrenhaus erfolge also als natürliche Konsequenz dieser gesellschaftlichen Entwicklung. Im weiteren Verlauf der Verfassungsauseinandersetzungen konnte sich aber diese königliche Konzeption nicht durchsetzen – die grundsätzliche Ablehnung einer Aristokratisierungsidee durch die parlamentarische Linke und die Spaltung der Regierung über die Herrenhausbildung sollten ironischerweise der äußerst rechten ritterschaftlichen Minderheit in die Hände spielen.460 Vorerst führte das Patt zwischen den streitenden konservativen Fraktionen fast zum Bruch der ritterschaftlichen Rechten mit dem König. Der König war über die äußerste Rechte empört: vor allem ihren Initiativen war es zuzuschreiben, dass „noch ehe sein eigenes Programm für die Revision hatte erprobt werden können, [...] es in seiner theoretischen Konzeption durch die Praxis überholt und im Kern – wie die Zukunft erweisen sollte – ad absurdum geführt“ wurde.461 Denn der König wollte vermeiden, die rechten Fraktionen dauerhaft zu spalten, und so kam er der ritterschaftlich-äußersten Rechten entgegen, indem er erstmals zusagte (bzw. sein vages Versprechen von 1850 wiederholte), dass zumindest einige Vertreter der Ritterschaft durch „landsässige Wahlkorporationen“ in das Oberhaus finden sollten (Januar 1852). Trotzdem insistierte er entsprechend der Argumentationslinie von Gaupp, dass die Erste Kammer grundsätzlich „aus einem anderen Guß als die zweite sein müßte, [und er sprach] von der Ritterschaft, die in der letzteren unentbehrlich, aber in die erste nur in ihren Spitzen gehöre.“462 Ausdruck dieser Kompromisssuche war der sogenannte „Antrag Koppe“, der den „Antrag Heffter“ in einigen Punkten zwar modifizierte, dennoch eine verbriefte Berechtigung zur Repräsentation der Ritterschaft im Herrenhaus weiterhin nicht enthielt.463 Dem diametral entgegen formulierte die ritterschaftliche Rechte den eigenen „Antrag Alvensleben“, der eine Kategorie von „Abgeordneten solcher korporativer Verbände des alten und befestigten Grundbesitzes“ vorsah. Zwar zog diese den „Antrag Alvensleben“ schließlich zurück, aber eine Koalition der äußersten Rechten und der Linken in der Zweiten Kammer brachte den königlichen Antrag „Koppe-Heffter“ endgültig zu Fall.464 Aufgrund des Patts der rechten Fraktionen überließen sie schließlich in einer Kompromiss-Formulierung dem König ein freies Ernennungsrecht zum Herrenhaus aus Mitgliedern des größeren Grundbesitzes, den größeren Städten und den LandesUniversitäten – damit war jede zuvor vorgesehene Beschneidung des königlichen

460 Diese Einschätzung des eigentümlichen Zustandekommens der finalen Herrenhauskonzeption schon von Kraus, Gerlach, 2 Bd., Zweiter Teilband, Göttingen 1994, S. 582. 461 Vgl. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen, S. 226. 462 Vgl. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen, S. 240f, und Gerlach, Denkwürdigkeiten, I. S. 730 (30.1.1852). Siehe die ganz gleiche Argumentation durch Gaupp, Bildung der ersten Kammer, S. 27. 463 Vgl. Kraus, Gerlach, 2 Bd., Zweiter Teilband, Göttingen 1994, S. 581. 464 Schon aus diesem Grund verbietet es sich, die später völlig anders erfolgte Kategorienbildung zur Einrichtung des Herrenhauses als „dezidierte Wünsche Friedrich Wilhelms IV.“ zu bezeichnen, vgl. dagegen wiederholt Spenkuch, Herrenhaus, z.B. S. 549.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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Berufungsrechts gefallen: weder eine Mitgliedschaft auf Lebenszeit, noch Amtspairs, noch ein Wahl-Präsentations-Recht durch die Ritterschaften wurden gefordert.465 Die Anwendung und Wirkung selektiver adelsreformerischer Leitgedanken Der König wollte nun jedoch die äußerste Rechte versöhnen, indem er seinerseits erstmals ausdrücklich bekannte, die Ernennungen nur aus Wahlen, bzw. Präsentationen auf Lebenszeit bewirken zu wollen. Damit hatte der König zwar die Berufung durch Wahlkörperschaften akzeptiert, aber die äußerste Rechte wollte sich damit noch nicht zufrieden geben, denn lebenslängliche Pairs seien „das sicherste Mittel, eben diese erhoffte lebendige, organische Verbindung zwischen Grundaristokratie und Oberhaus zu verhindern“ (Februar 1852).466 Dennoch stimmten die Kammern schließlich diesen königlichen Vorgaben zu (Gesetz vom 7. Mai 1853).467 Die Leitlinien für sein weiteres Vorhaben hatte der König schon im Conseil vom 16.11.1852 präzisiert, als er das „Haus der Obrigkeiten“ zusammengesetzt sehen wollte aus erblichen Herren mit „eigenem Recht“ (im wesentlichen dem Herrenstand des Vereinigten Landtags), zweitens aus Vertretern großer, grundbesitzender Geschlechter und Besitzern von mindestens 100 Jahre im Familienbesitz befindlicher, bzw. (als Fideikommiss, Majorat, Lehngut) befestigter Rittergüter, drittens aus Repräsentanten der Städte und Universitäten sowie viertens aus von ihm frei zu ernennenden Mitgliedern.468 Die Idee einer Repräsentanz der großen grundbesitzenden Geschlechter und das Besitzdauerkriterium verweisen einmal mehr auf Konzeptvorschläge aus der preußischen Reformepoche zurück, auf deren Leitgedanken Friedrich Wilhelm ja mit inzwischen vierzigjähriger Verspätung immer wieder zurückgriff.469 Die Verordnung vom 12. Oktober 1854 setzte schließlich das Gesetz v. 7. Mai 1853 um: Neben den großjährigen Prinzen des königlichen Hauses bestand das Herrenhaus aus erblich berechtigten und auf Lebenszeit berufenen Mitgliedern. Zu den Mitgliedern auf Lebenszeit gehörten außer den Inhabern der vier großen Landesämter einzelne, infolge besonderen königlichen Vertrauens berufene Personen und solche, die dem König „prä-

465 Diese Entscheidung fiel im Plenum der Ersten Kammer am 5. März 1852. 466 Vgl. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen, S. 246f. 467 Vgl. Spenkuch, Herrenhaus, S. 48f. 468 Vgl. Spenkuch, Herrenhaus, S. 156. 469 Die Idee, Vertreter nichtstandesherrlicher, adliger Familien als sogenannte „Senioren“ in das Oberhaus einer Gesamtstaatsverfassung zu integrieren brachte in den Reformjahren schon Rehdiger vor, vgl. oben Teil I. Kap. 2.3.1. Siehe auch Alfred Stern, Die preußische Verfassungsfrage im Jahre 1817, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 9. Band, 1893, S. 62-99, S. 85. Und das Kriterium eines hundertjährigen, mindestens aber fünfzigjährigen Grundbesitzes in einer Familie als Voraussetzung für die ständische Wählbarkeit formulierte erstmals Innenminister Dohna-Schlobitten 1810! Vgl. oben Teil I. Kap. 2.3.4. Friedrich Wilhelm IV. schien kaum eine Anregung vergessen zu haben, die er als Kronprinz in den Diskussionen über eine neue preußische Ständeordnung jemals empfangen haben mochte!

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

sentiert“ wurden. Dieses Präsentationsrecht besaßen zum einen die schon zur Herrenkurie des Vereinigten Landtages berufenen drei Stifter (Magdeburg, Merseburg, Naumburg), die Landesuniversitäten und 29 größere Landesstädte. Wirklich neu waren nun aber die von der ritterschaftlichen Fraktion eingeklagten „Wahlkörperschaften“. D.h. der für jede Provinz zu bildende Verband der darin mit Rittergütern angesessenen Grafen (für je einen zu Präsentierenden), die Verbände der durch ausgebreiteten Familienbesitz ausgezeichneten, vom König mit diesem Recht begnadigten Geschlechter (10 im Jahr 1855, 11 im Jahr 1856, 18 im Jahr 1914). Und schließlich die Verbände des alten (mindestens 100 Jahre) oder befestigten Grundbesitzes mit seinen 90 sogenannten „Präsentationsberechtigungen“ aus 55 Landschaftsverbänden.470 Vor allem diese drei, mehr noch die letzten zwei dieser Wahlkörperschaften bedeuteten das definitive Ende des ursprünglichen „Aristokratisierungskonzeptes“.471 Denn problematisch für eine Aristokratisierungsabsicht waren weniger die Bestimmungen hinsichtlich eines präsentationsberechtigten alten und vinkulierten Grundbesitzes an sich: die Ideen zur Beförderung des gebundenen Grundbesitzes durch Fideikommisse und neue Familienstiftungen (und das hieß immer auch: des Grundbesitzes einer Mindestgröße) verfolgte ja schon die Adelsreformabsicht der 1840er Jahre. Abgesehen davon konnte aus der „Dauer“ eines Grundbesitzes innerhalb einer Familie mit Plausibilität auf eine ausreichende Mindestgröße für einen gewissen Lebensstil geschlossen werden. Und in der Kategorie des „alten“ Grundbesitzes schwangen immer auch die Ideale eines Dohna oder Bunsen bezüglich einer durch „Dauer“ erwiesenen ausgezeichneten „Familiengesinnung“ mit. Auch Ernst Theodor Gaupp, als Stimme seines Königs, mochte ein solcher „alter“ (und größerer) Grundbesitz vorgeschwebt haben, wenn er einige Familien des niederen Adels sich durch neue Titel und den Erwerb „größerer Herrschaften“ den alten Standesherren annähern sah. Wirklich problematisch an den Kategorien der Verordnung war vielmehr, dass die darin identifizierten Familien nicht herausgehobene „Familienhäupter“ in das Herrenhaus entsandten, die durch Primogenitur oder andere erbrechtliche Privilegierungen dauerhaft und erblich über dem kleinen Adel stehend zum Bestandteil einer neuen Aristokratie würden – wie es sich Friedrich Wilhelm oder Gaupp vorstellten; sondern dass durch den eingeführten Wahlmodus die Verbände des kleinen Adels beliebige Mitglieder „präsentieren“ konnten. Diese würden sich aber nach aller Wahrscheinlichkeit niemals als Teilhaber einer neuen Aristokratie begreifen lernen, sondern weiterhin als Vertreter eines breiten, auf kleinstem gemeinsamen Nenner

470 Vgl. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen, S. 312 und Spenkuch, Herrenhaus, S. 50. 471 Die Berücksichtigung von jeweils einem Grafen pro Provinz war dagegen ja schon in den ersten Modifikationsvorschlägen zur Bildung eines Oberhauses im Frühjahr 1848 vorgesehen, und stand insofern noch in Verbindung mit der älteren Aristokratisierungsidee; insbesondere da im Grunde alle Grafengeschlechter zum begüterten, wohlhabenden Adel gehörten.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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bewegenden ritterschaftlichen Interesses – in der Berufung abhängig von ihren Wählern konnten sie ihre „Berechtigung“ schließlich nicht vererben: dies bedeutete die Pseudodemokratisierung eines adligen Ritterschaftsverständnisses! Das Herrenhaus als wesentlich erbständische Kammer einer neuen preußischen Aristokratie, wie es schon 1819 Humboldt vorschwebte, war vereitelt. Aber auch als Vertretungskörperschaft einer sozial breit gelagerten, nachreformerisch adlig-bürgerlichen Ritterschaft, wie sie Hardenberg, Dohna, oder auch Dönhoff-Hohendorff dreißig Jahre zuvor imaginierten, war das Herrenhaus blockiert worden.472 Denn die Definitionen der Wahlkörperschaften – alter und befestigter Grundbesitz – die einst zur Identifizierung einer neuen preußischen Aristokratie herangezogen werden sollten, dienten nun – absichtlich-unabsichtlich – nur noch dem konsequenten Ausschluss des in der Regel jüngeren und nicht vinkulierten bürgerlichen Rittergutsbesitzes. So hatten die eigentümlichen Machtkonstellationen der nachrevolutionären Jahre, mit den sich gegenseitig blockierenden konservativen Faktionen und der grundsätzlichen Ablehnung einer „Aristokratisierungspolitik“ durch die parlamentarische Linke dazu geführt, dass die ursprünglich sozial-politisch dynamisierend gedachten Instrumente einer Adelsreformpolitik eine retardierende gesellschaftspolitische Wirkung erzielten.473 Was aber bedeuteten diese Kriterien, bzw. Kategorien zu einer Wahlberechtigung zum Herrenhaus für den Adel? Welche formierenden Wirkungen gingen von diesen auf die Substanz und das Selbstverständnis des ostelbisch-ritterschaftlichen Adels aus?

Die Konstruktion von „Adligkeit“ durch die Kategorien der Herrenhausbildung Die eigentümliche Verschränkung der einst als Bestandteil einer Aristokratisierungskonzeption entwickelten Kriterien zur Besitzbindung und privilegierenden Besitzdauer mit der Einrichtung von Wahlkörperschaften bedeutete im Grunde den Versuch, zwei sich grundsätzlich ausschließende Konzepte mit einander zu verbinden: das Konzept einer (vom König favorisierten) aristokratisierenden „composite elite“ und die Idee einer breiten Repräsentation des ritterschaftlichen Großgrundbesitzes. Dieser durch die Kombination der Zusammensetzung vorgegebene widersprüchliche Charakter bestimmte langfristig entscheidend den extrem-konservativretardierenden politischen Charakter des Herrenhauses, mit negativen Folgen für die

472 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.5.1. 473 An dieser Stelle sei noch einmal auf das Problem verwiesen, dass hier von schließlich erreichten Ergebnissen nicht direkt auf die Absichten, von erfolgten Entscheidungen nicht auf die Motivation und die ursprüngliche Zielsetzung zurückgeschlossen werden kann, wie es meiner Ansicht nach Hartwin Spenkuch besonders hinsichtlich der königlichen Positionen vornimmt, vgl. Ders., Herrenhaus, hier S. 25f.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

preußische Gesellschafts- und Staatsentwicklung, wie Hartwin Spenkuch eindrücklich nachwies.474 Es waren vor allem die drei durch Wahlkörperschaften bestimmten Kategorien, in denen diese Widersprüchlichkeit zum Ausdruck kam. Wogegen sich in der Kategorie der provinzialen Grafenverbände noch Reste des älteren Aristokratisierungskonzeptes erkennen lassen, mussten in den zwei Kategorien der ausgedehnten Geschlechterverbände und des „alten“ bzw. „befestigten“ Grundbesitzes diese Spannungen am deutlichsten zu Tage treten. Diese Friktionen äußerten sich in den nachfolgenden Auseinandersetzungen über die genaue Definition und Auslegung der vom König geforderten Auswahlkriterien. Kategorie der Grafen nach englischem Vorbild Innerhalb des Ministeriums verfocht Innenminister Ferdinand Otto Wilhelm v. Westphalen (1799-1876) am energischsten das „ritterschaftliche“ Interesse.475 Konsequent suchte er z.B. eine besondere Bevorrechtigung der provinzialen Grafenverbände zu verhindern. Er begründete dies mit dem Hinweis, dass die Grafengeschlechter in Preußen jeher „ohne Vorrang“ und „rein titular“ gewesen seien. Ihre besondere Herrenhausberechtigung würde den Adel unnötigerweise spalten und „kränke“ den „spezifisch preußischen Adel“. Friedrich Wilhelm IV. setzte diese Kategorie der „althistorischen, angeseheneren Geschlechtern des Landes“, inspiriert durch das Vorbild der englischen Counties, aber dennoch durch und gab dieser Kategorie sogar ein dreifaches Wahlrecht: in den Landschaftsbezirken, den Grafen- und in den Familienverbänden.476 Damit knüpfte er an die schon 1848 bestehenden Überlegungen einer besonderen Vertretung der provinzialen Grafengeschlechter an.

474 Vgl. Spenkuch, Herrenhaus, Zusammenfassung, S. 549-562. 475 Westphalen wurde in Lübeck als ältester Sohn eines herzoglich braunschweigischen Kammerrats geboren, und war der Enkel des nobilitierten Philipp v. Westphalen, Vertrauter und Privatsekretär mit ministeriellen Vollmachten von Herzog Ferdinand v. Braunschweig, der im siebenjährigen Krieg an der Seite Preußens Heerführer war. Seine Schulbildung erhielt Westphalen zuerst in Salzwedel bei Magdeburg, wo der Vater 1809-13 westfälischer Unterpräfekt war. Otto Wilhelm war der Halbbruder Jenny v. Westphalens, der Frau von Karl Marx. 1816-19 absolvierte W. seine juristischen Universitätsstudien in Halle, Göttingen und Berlin. Er wurde entschiedener Anhänger der historischen Schule und trat 1819 in den preußischen Staatsdienst ein, wo er schnell Karriere machte. Zuerst beim Stadtgericht Berlin wurde er 1826-30 Landrat des Kreises Bitburg, dann Regierungsrat in Erfurt, dann Oberregierungsrat zu Trier und ab 1843 Regierungs-Vizepräsident in Liegnitz. Ein Jahr später in selber Funktion nach Stettin versetzt, kehrte er 1849 als Regierungspräsident nach Liegnitz zurück. Im Zuge des reaktionären Regierungsrevierements in Berlin ab 1850 wurde W. mit Empfehlung Ernst v. Gerlachs Innenminister. Ganz auf der Linie des Königs suchte W. auch durch eigene zahlreiche Initiativen die Gesetzgebung der Revolutionsjahre rückgängig zu machen wo immer er konnte. Darüber geriet er in immer größeren Gegensatz zu Ministerpräsident v. Manteuffel und selbst seinen eigenen Ministeriumsmitarbeitern. Wesphalen wurde u.a. durch Stahl beeinflusst, war aber ein „Überzeugungstäter“. Erst in der Regentenzeit Wilhelms I. schied er aus dem Amt. Vgl. ADB, Bd. 42, Leipzig 1897, S. 221-225. 476 Vgl. Spenkuch, Herrenhaus, S. 171. Vgl. zur homogenen Titulatur, unausgeprägten Binnendifferenzierung und Rechtsgleichheit des preußischen Adels im ancien régime Kap. 2.4.1.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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Geschlechterverbände, alter und befestigter Grundbesitz Wurde die Idee der hervorgehobenen Berechtigung der Grafenverbände vom Ministerium schließlich akzeptiert, so riefen die Auslesekriterien für die Geschlechterverbände und den alten und befestigten Grundbesitz einen schärferen Konflikt zwischen dem König und seinen Ministern, vor allem Innenminister v. Westphalen hervor. Denn diese Auslesekriterien waren ja noch Überbleibsel der älteren Aristokratisierungskonzeption. Dabei widerstrebten dem Innenminister keineswegs die primogenitalen und patrilinearen Tendenzen der Auswahlkriterien für diese Wahlkategorien. Vielmehr ließ er selbst strenge Maßstäbe zu deren Erfüllung anlegen: der „alte“ Grundbesitz musste in dem vom König gewünschten Zeitraum der letzten 100 Jahre konsequent innerhalb der selben Kernfamilie vom Vater auf den Sohn vererbt worden sein, auch eingeheiratete Schwiegersöhne wurden nicht mehr als „zählende“ Erben akzeptiert. Besitzübergänge zwischen „Ästen“ und „Zweigen“ der erweiterten Familie waren damit ebenso ausgeschlossen, wie die bis dahin durchaus üblichen Erbtöchter oder der über Witwen vermittelte Gutsbesitz – die in der Frühneuzeit relativ hohe Güterfluktuation innerhalb der Geschlechter wurde nun mit einem scheinbar „historischen“ Kriterium als unerwünscht sanktioniert! So wurden aus den ursprünglich 1438 identifizierten Familien mit 1183 mindestens hundertjährigen, und 993 befestigten Gütern zunächst die als erbliche Mitglieder des Herrenhauses vorgesehenen Mitglieder der Herrenkurie herausgenommen, zudem noch die ausländischen, minderjährigen und weiblichen Besitzer ausgeschieden. Durch diese straffen Vorgaben wurden aber nicht allein „geringe Besitzkontinuität(en) quasi konstruiert“ (Spenkuch), sondern die überkommenen Vererbungsstrategien des Adels delegitimiert: der Wechsel über Erbtöchter oder erbende Witwen von einem Zweig der Familie in einen anderen durch gezielte Einheiratung, oder auch der Verkauf von Gütern zwischen Vettern war ja gerade eine bewährte Strategie gewesen, den Besitz innerhalb einer Großsippe zu erhalten!477 So blieben von den 12.544 preußischen Rittergütern nur 1.331 Besitzungen übrig, die wegen ihrer Besitzkontinuität in einer Erblinie, oder aufgrund ihres befestigten Charakters die Kriterien der Wählerschaft zum Herrenhaus erfüllen konnten. Von den 1854 geschätzten 4.000 grundbesitzenden Adligen der sechs Ostprovinzen waren damit nur 1.055, also ein Viertel, in den 55 definierten Landschaftsbezirken wahlberechtigt, 75 % der adligen Rittergutsbesitzer aber ausgeschlossen worden!478

477 Vgl. Spenkuch, Herrenhaus, S. 375-404, vor allem S. 385. Dass die Forderung nach einer hundertjährigen Besitzkontinuität nicht erst durch die wirtschaftliche Dynamisierung seit der Reformepoche, sondern aufgrund der Erb- und Wirtschaftsstrategien des angesessenen Adels schon um 1800 „unhistorisch“ gewesen wäre unterstreicht Frie, Marwitz, S. 106. Dass das Marwitzsche Gut Friedersdorf eine solche Besitzkontinuität schon um 1800 aufweisen konnte, hob es aus der Masse der Güter der näheren und weiteren Umgebung hervor. 478 Diese Zahlen nach Spenkuch, Herrenhaus, S. 156.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

Unterstützte Innenminister v. Westphalen diese kernfamiliale, patrilineare Ten­ denz der Bestimmungen, so lehnte er doch diese scharf exkludierende Wirkung in der Zusammensetzung der Wählerverbände ab – der Ausschluss von drei Vierteln der Ritterschaft schien ihm sehr bedenklich und gemahnte noch zu sehr an die Repräsentation einer aristokratischen Gruppe. Die Ritterschaft sollte eben in ihrer Breite, nicht durch wie auch immer definierte „Spitzen“ im Herrenhaus repräsentiert werden. Deshalb wollte er das Zeitkriterium auf dreißig, allerhöchstens 50 Jahre senken, nicht zuletzt, um die teilweise zwar schon im 18. Jahrhundert, aber staatlich anerkannt erst ab 1807 angesessenen bürgerlichen Gutsbesitzer nicht völlig auszuschließen. Doch in diesem Punkt setzte sich Friedrich Wilhelm durch. Diese Ergebnisse verdoppelten die überkommene Spaltung der Ritterschaft in Adel und Nichtadel, wie Bismarck sofort erkannte: bestand seit der Provinzialständeverfassung eine Spaltung zwischen dem sozialen Adelsstand und der ständischen Ritterschaft, so wurde nun die Ritterschaft noch einmal zwischen den für das Herrenhaus potentiell qualifizierenden und nicht qualifizierenden ritterschaftlichen Grundbesitzern geteilt.479 Zugleich trat in der genauen Fassung dieser Kategorien noch einmal der oben schon angesprochene Ost-West-Konflikt hinsichtlich der zu verfolgenden „Leitbilder“ einer preußischen Adligkeit hervor, wie er sich in der äußersten „Reserviertheit“ der preußischen Zentraladministration gegenüber den westfälischen Adelsverhältnissen gezeigt hatte. Denn Auslesekriterien, die sich an Besitzdauer und rechtlicher Besitzbefestigung orientierten, mussten die westlichen Adelslandschaften begünstigen. Minister v. Westphalen insistierte aber darauf, die Vertreterzahlen der Provinzen für das Herrenhaus nach der Gesamtzahl der Güter, nicht aber nach der Zahl der zur Wahl berechtigten Güter zu berechnen! Im letzteren Falle hätten nämlich die Vertreter der westlichen Adelslandschaft weit überproportionale Anteile an den Herrenhaussitzen gewonnen, weil in den westlichen Provinzen verhältnismäßig weit mehr gebundener, und in einer Erblinie kontinuierlich vererbter Rittergutsbesitz auftrat! Nach Westphalen sollten die jeweiligen Ritterschaftsvertreter aber die Rittergüter der gesamten Provinz vertreten und entsprechend anteilig verteilt sein: und an absoluten Zahlen gemessen war die Dominanz der Rittergüter der „alten“, östlichen Provinzen Preußens unstreitig. Schließlich konnte sich der Innenminister mit seiner Position durchsetzen, die Berechnung der Vertreterzahlen der Ritterschaft von der Gesamtzahl der Rittergüter in einer Provinz abhängig zu machen. Dies sicherte endgültig die Dominanz der östlichen Ritterschaftsvertreter im Herrenhaus.480 Diese Konfliktkonstellation birgt einmal mehr den indirekten Hinweis, dass bei den königlichen Qualifikationskriterien der

479 Otto Fürst v. Bismarck, Gesammelte Werke, 14, I, S. 372. Zit. nach Spenkuch, S. 157, Anmk. 16. Erst 1865 wurde durch Verordnung vom 10. November die geforderte Besitzdauer auf 50 Jahre gekürzt, während die allmähliche Zunahme von Majoraten und Fideikommissen die Zahl der wahlberechtigten Besitzungen weiter steigen ließ. 480 Spenkuch, Herrenhaus, S. 158.



4. Formierungswirkungen durch ein Adelsreformparadigma? 

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direkten Erblinie und Besitzbindung – ob mit Absicht oder unbewusst – „westliche“ Muster Pate gestanden haben mochten: ein später Ausfluss der schon in der Reformzeit identifizierbaren Tendenz zu einer gesuchten „Verwestlichung“ der ostelbischen Adelsverhältnisse?481 Fazit Die erzielte Kompromisslösung zwischen dem König und seinem Innenminister führte dazu, dass die in der vormärzlichen Adelsreformdebatte entwickelten Kategorien und Kriterien einer erwünschen „neuen“ preußischen Adligkeit unvollständig und retrospektiv, nämlich auf den „alten“, bestehenden Adel angewandt wurden – und nicht auf zu nobilitierende Geschlechter, bzw. um „adelsfähige“ Familien überhaupt erst zu identifizieren. Die Ideen einer beschränkten Adelsvererbung und neuer Instrumente zur Grundbesitzbindung fanden gar keine Berücksichtigung mehr – damit entfielen nicht nur die dynamisierend-flexibilisierenden Aspekte der ursprünglich vom König beabsichtigten Adelsreformpolitik, sondern überhaupt das Konzept eines „Neuen Adels“. Die Herrenhauskategorien griffen um so entschiedener in den „alten“ Adel formierend ein: zumindest für diejenigen Familien, die in die Wählerverbände Einlass finden wollten wurde es nun unabdingbar, sich selbst einer primogenital-patrilinearen Erbordnung zu unterwerfen, oder den eigenen Grundbesitz als Fideikommiss zu vinkulieren. Ein solches Ergebnis kann aber nur mit Vorbehalt als „Triumph“ des „kleinen“ ostelbischen Adels gelesen werden. Der Preis, um an dieser Form der Berechtigung teilnehmen zu können war das Aufgeben ursprünglich zentraler Charaktermerkmale dieser Adelslandschaften: die gesamthänderische Beteiligung am Grundbesitz, der relativ flexible materielle wie soziale Austausch zwischen angesessenen und nicht angesessenen Teilen der Familie, die Güterfluktuation zwischen den verschiedenen „Ästen“ und „Zweigen“ des Geschlechtes. Die Adels- und Standesauffassungen wurden einmal mehr durch staatlich definierte Interessen und Leistungserwartungen bestimmt und verbindlich festgeschrieben. In Reaktion auf diese neuen Herausforderungen entwickelten sich nicht nur bis dahin unbekannte Formen der „Familienorganisation“, z.B. Geschlechterverbände und „Familientage“; vielmehr diskreditierte dies zugleich die älteren standeseigentümlichen „Leistungen“ der überkommenen Erbstrategien: nämlich angesessene und nicht angesessene Familienteile langzeitlich zu integrieren. Der ostelbische preußische Adel, oder zumindest Teile davon, wurde einmal mehr in seinem ständischen Selbstverständnis „deregionalisiert“ und nach zentralstaatlichen Maßstäben „egalisiert“. Diese Konsequenzen bedeuten zum anderen, dass adelsreformatorische Maßnahmen, die nach der ursprünglichen Konzeption von Friedrich Wilhelm vor 1848 nur eine Minderheit (neu)adliger Familien betroffen hätten, mittelfristig sehr wohl

481 Vgl. oben Teil I. Kap. 2.3.1. und Kap. 2.4.3.

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 Teil III: Entsubstanzialisierung durch Formierung?

eine Vorbildrolle entwickeln und als staatlich vorgegebenes Standesideal weitere adlige (Selbst-)Formierungsinitiativen hätten anregen können. Faktisch mochten die Herrenhauskategorien ab 1854 nur durch wenige Familien erfüllt worden sein; aber Indizien sprechen dafür, dass sie über diesen engen Kreis hinaus breiter in die preußischen Adelformationen wirkten, große Teile des ritterschaftlich-angesessenen Adels dazu anregten, die eigenen Familien- und Besitzverhältnisse in neuer Weise zu ordnen – der preußische (niedere) Adel konnte und musste sich an einem neuen Ideal ausrichten!482 Trotzdem bedeutete die Einrichtung des preußischen Herrenhauses das endgültige Ende einer „echten“ Adelsreform, die – nicht nur eine involutiv-“moralische“ Standeserneuerung anstrebend – konstitutionellen Charakter gehabt hätte, und mit einer umfassenden gesellschaftspolitischen Lösung Hand in Hand gegangen wäre. Denn die Herrenhauskategorien und ihre Kriterien mochten auf Teile des preußischen Adels binnenständisch „formierend“ einwirken und damit sogar auf die Standesideale insgesamt ausstrahlen, aber eine „Reformierung“, d.h. Neustrukturierung des gesamten Adels, schon gar im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft war unterblieben. Ebenso eine wirklich neue politische Berufung für die Gesellschaft. Die letzte Gelegenheit zu einer wirklichen preußischen Adelsreform war versäumt. Und ein Teil des angesessenen preußischen Adels, der weder nach Herkommen, noch eigenem Selbstverständnis, noch nach der Intention des Monarchen dazu eigentlich berufen war, musste voraussehbar an den politischen und sozialkulturellen Herausforderungen einer „Pairie“ scheitern.

482 Dies entgegen dem in der Literatur – aber auch zeitgenössisch – immer wieder anzutreffenden Argument, die von Friedrich Wilhelm angestrebten Maßnahmen einer beschränkten Adelsvererbung hätten sich, da eine kleine Minderheit betreffend, nur extrem langfristig oder gar nicht auf den Habitus des gesamten „Adelsstandes“ auswirken können. Insbesondere durch die Kategorie des „ausgedehnten Geschlechterverbandes“ im Herrenhaus erhielt der niedere ostelbische Adel den Anstoß, sich über Familienverbände und Geschlechtertage neu zu organisieren. Daraus gingen Familienstiftungen und Familiengeschichtsschreibungen hervor. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Familienverbands-Berechtigung durch eine neue adlige „Familien-Bewegung“ (Spenkuch) als Krönung gesellschaftlichen Strebens betrachtet. Darüber, inwiefern eine ähnliche Bewegung bei den durch „alten- oder gebundenen Grundbesitz“ bevorrechteten Familien zu beobachten ist, macht Spenkuch keine Angaben. Ein Beispiel einer solchermaßen zur Verbandsbildung angeregten Familie bieten die v. Kleist, vgl. Petersdorff, Herman v. Kleist-Retzow. Ein Lebensbild, Stuttgart/Berlin 1907, S. 323f. Zum Herrenhaus als „Auslöser“ zur Bildung von Familienverbänden vgl. Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. V., S. 258; und Spenkuch, Herrenhaus, S. 52, 174f.

5.

Schluss: Zusammenfassung und Resümee Die öffentliche Meinung ist nun einmal, mag dies verschuldet haben wer es will, in dem blinden Glauben befangen, bei jeder Adelsreform, bei jeder Regung des Standes überhaupt, könne es sich nur um feudale Restauration handeln. Albert Schäffle, 1856 Preußen trennt „das westliche Europa mit seinem Konstitutionalismus von dem östlichen mit seinem Absolutismus und während die Zeit fortschreitet, schwankt sein Entschluß, wohin es sich neigen soll. Anonyme Denkschrift an Friedrich Wilhelm IV., 18441

In Preußen, wie im Deutschland unter preußischer Führung bestand noch bis weit ins 20. Jahrhundert eine tief internalisierte Identifikation von Adel und Elite. Für diese Vorstellung gab es im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine reiche lebensweltliche Bestätigung.2 Nach der vorliegenden Betrachtung steht für diese Identifikation aber weniger die überdurchschnittliche Besetzung herausragender staatlicher und gesellschaftlicher Positionen durch Angehörige der alten adligen Eliten, oder die allgemein lebensweltlich-kulturelle Orientierung des Bürgertums am Adel in der Verantwortung. Stattdessen kam über die Untersuchung von Adelsreformideen und -vorhaben im preußisch-deutschen Raum eine auffällig starke Verschränkung von Vorstellungen des (zu erneuernden oder reformierenden) „Adligen“ mit Idealen einer allgemeinen Gesellschaftsentwicklung in den Blick, die sich im Leitbild eines „Dritten Weges“ zusammenfassen lassen. Es war dieses Leitbild eines „Dritten Weges“, das der „Idee des Adels“, bzw. der Idee einer verallgemeinerungsfähigen „Adligkeit“ als gesellschaftlichem Leitwert noch lange nach dem Ende der ständischen Gesellschaft eine herausragende Bedeutung zuspielte. Dies konnte nur gelingen, weil sich die Idee einer nachständisch neu zu entwerfenden „Adligkeit“ zunehmend von der bestehenden Sozialformation des Adels ablösen konnte. Dennoch profitierte der „reale“ Adel von dieser lang andauernden Verhandlung einer nachständischen „Adligkeit“ durchaus. Denn über den Umweg neuentworfener „Adligkeit“ blieb die „Idee des Adels“ noch im Niedergang der Sozialformation attraktiv – und allein die Fähigkeit, das

1 Anonyme Denkschrift an König Friedrich Wilhelm IV. aus dem Jahr 1844, vgl. GSTAPK I. HA Rep. 89, Nr. 13929, Bl. 11-20v. zit. nach: Bärbel Holtz, Wider Ostrakismos und moderne Konstitutionstheorien. Die preußische Regierung im Vormärz zur Verfassungsfrage, in: Preußens Weg in die Moderne. Verfassung – Verwaltung – politische Kultur zwischen Reform und Reformblockade, hrsg. v. Bärbel Holtz/Hartwin Spenkuch, Berlin 2001, S. 101-139, hier S. 101, Anmk.1 2 Conze, Adel unter dem Totenkopf, S. 154. Wie sehr diese Identifikation partei- und milieuübergreifend bis 1945 wirksam blieb belegt neuerdings eindrücklich Alexandra Gerstner, Neuer Adel.

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 5. Schluss: Zusammenfassung und Resümee

sozial-kulturelle Begehren nichtadliger Gruppen auf sich zu ziehen, bedeutete für den Adel schon eine Form der Stärke. Adelsreformideen als Teil eines „Dritte-Weg“-Paradigmas Eine überblicksartige Untersuchung von Adelsreformideen um und nach 1806 hinterließ den Eindruck einer besonderen Disposition der preußischen Situation für die Ausbildung von Adelsreformideen. Denn es zeigte sich, wie eng die nachständischen Adelsreformvorstellungen in Preußen mit bestimmten, als Alternative zu Vergleichsgesellschaften formulierten Leitbildern einer erwünschten Gesellschaftsentwicklung korrespondierten. Adelsreformideen traten also nicht isoliert, als Versuche rein standesbezogener, involutiver Restabilisierung der Sozialformation „Adel“ auf. Sondern als Bestandteil allgemeiner Gesellschafts- und Verfassungsvorstellungen. Bestimmte staatshistorische und sozial-rechtliche Struktur- wie ereignisgeschichtliche Ausgangsbedingungen begünstigten gerade im Preußen des frühen 19. Jahrhunderts das Ideologem eines „Dritten Weges“ alternativer Entwicklungsmöglichkeit. Und damit eng verbunden: die Idee einer Adelsreform. Die im europäischen Vergleichsmaßstab „verzögerte“ staatspolitische Entwicklung Preußens, die daraus resultierende Schwäche überregional vermittelter Traditionsbestände, die gering ausgebildeten zentralstaatlichen Institutionen und Rechtsverhältnissen (subsidiär geltendes ALR), wie überhaupt die extreme Heterogenität und Selbständigkeit der verschiedenen Landesteile waren dafür wichtige Faktoren. Nicht zuletzt die Strukturunterschiede zwischen den Adelslandschaften selbst, den Hauptressourcen regionaler Teileliten, widerspiegelten diese Erfahrung. Dieser Hintergrund und die durch die französischen Truppen überstürzt ins Land getragene revolutionäre Herausforderung bildeten die entscheidenden Anstöße, warum unter den reformorientierten Eliten in Preußen nach 1806 ausführlich vergleichende Betrachtungen über die gesellschaftlichen und staatspolitischen Entwicklungen anderer großer europäischer Staaten angestellt wurden. Dabei konnten die preußischen Reformer allerdings auf einen schon bestehenden, reichen Topos eines innereuropäischen Gesellschaftsvergleichs seit der Aufklärung zurückgreifen. In diesem Vergleich wurde der „französische Weg“ in doppelter Weise abgelehnt: zum einen dessen vorrevolutionärer Absolutismus, wie auch die durch die französische Revolution geschaffenen neuen Gesellschaftsverhältnisse – um so mehr, als die Revolution durch die vom französischen Absolutismus geschaffenen sozialen Friktionen überhaupt verursacht schien. War die französische Revolution in ihrer Anfangsphase selbst von vielen Angehörigen der traditionalen Eliten in Europa begrüßt worden, weil sie den verhassten Absolutismus überwand, so schien seit dem französischen Terreur der nachfolgenden revolutionären Phasen dieser französische Weg in einen katastrophischen Zustand dauernder Revolutionierung übergegangen zu sein, wie es politische Beobachter selbst nach 1815 und 1830 festzustellen meinten. Dennoch wurde die Kritik am Absolutismus durch die preußischen Reformer aufrecht erhalten, eine Rückkehr in, bzw. Beibehaltung von vorrevolutionären Verhältnissen



5. Schluss: Zusammenfassung und Resümee 

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für den eigenen Staat stand nicht zur Diskussion: diese vergangene Regierungsform würde sonst unweigerlich in einen „Autokratismus“ enden, der in der preußischen wie deutschen Öffentlichkeit zunehmend mit Russland identifiziert, seit Montesquieu allerdings geläufig mit dem „orientalischen Despotismus“ assoziiert wurde. Als akzeptable Orientierungsfolie für die eigene Gesellschafts- und Staatsentwicklung blieb aus diesem europaübergreifenden Vergleich einzig England übrig. Hier schien das Entwicklungsparadigma einer dritten, weder rückwärtsgewandt-stagnierenden noch revolutionär-katastrophischen Alternative verwirklicht, der Konflikt zwischen Staat und Gesellschaft allmählich und organisch in eine „harmonische“ Balance gebracht worden zu sein – und dies sei eben deshalb gelungen, weil dort „die Gesellschaft“ (d.h. ihre – adlig-landbesitzenden – Eliten) den Staat „besaßen“, d.h. über self-government sich im Wesentlichen selbst regierten, und nicht einer monarchisch-zentralisierten Bürokratie entfremdet gegenüberstanden. Mit dieser Perspektive verband sich in den Adelsreformkonzepten ursprünglich eine grundlegende Staatskritik. Bis in den Vormärz wandte sich diese Kritik gegen eine allgemeine Verstaatlichung der Gesellschaft, verstanden sich Adelsreformvorschläge noch lange als Alternativentwurf einer anderen Vergesellschaftung gegenüber und innerhalb des Staates. Erst gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts, und dann in erheblichem Maße unter dem Einfluss bürgerlicher Befürworter einer neuständischen Privilegierung alter und (projektierter) neuer Adelsgruppen, wurde diese Staatskritik, die sich wesentlich als Bürokratiekritik äußerte, zunehmend aufgegeben, und der Adel sogar als Staatsstand neu zu definieren versucht. Entsprechend der skizzierten Deutung der englischen Geschichte wurden auch die dortigen Adelsverhältnisse gerne als die ursprünglichen, „wahren“ Formen einer europaweit gültigen „Adligkeit“ idealisiert – hatten die Spätaufklärer Möser und Brandes noch die – trotzdem vorbildhaften – Differenzen zum deutschen Adel betont, interpretierten in historisch-teleologischer Herangehensweise u.a. Rehberg und Stein, aber auch Marwitz, die englischen Muster als „authentisch“, die kontinental-europäischen, speziell deutschen und preußischen hingegen als Resultate einer adelsständischen „Korruption“ und des Verfalls. Aus dieser speziellen Perspektive erschien die angepeilte Adelsreform nicht als Neues (also „Revolutionäres“), sondern lediglich als Wiederherstellung einer älteren, ursprünglichen Bedeutung von „Adligkeit“, d.h. eines adelsgemäßen Lebens und Verhältnisses gegenüber anderen sozialen Formationen und „des Staates“, bzw. der Monarchie. Diese historisch projezierte „Wiederherstellung“ ließe sich als eine sozial-kulturelle „Rückgabe“ älterer adliger Bedeutungs- und Positionszusammenhänge in der Gesellschaft bezeichnen; gewissermaßen als eine „Revindizierung“ nicht in einem besitzrechtlichen, sondern sozial-kulturellen Sinne. Nur vereinzelt, bzw. erst viel später distanzierten sich verschiedene (adlige) Vertreter einer Adelsreform vom englischen Vorbild, so schon sehr früh Achim v. Arnim, später Radowitz, weil ihnen die kapitalistische und industrielle Entwicklung Englands, bzw. dessen Parlamentarismus gefährlich erschienen. Doch waren dies vereinzelte Stimmen, der Grundtenor gegenüber „England“ blieb bei den

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 5. Schluss: Zusammenfassung und Resümee

preußisch-deutschen (Adels-)Konservativen bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts positiv gestimmt, selbst bei stark funktionsständisch geprägten Adelsvertretern wie den hochkonservativen Gerlachs, die gerade gegenüber Radowitz die englische Entwicklung inklusive der „glorious revolution“ und ihrer politischen Folgen verteidigten. Adelsreformkonzepte als Teil einer „reflexiven Moderne“ Dieses vergleichende Vorgehen bedeutender Vertreter der Reformkräfte offenbarte schon nach 1800 für Preußen die Thematik einer „reflexiven Moderne“. D.h. eine zeitgenössischen Kulturkritik an den noch kaum selbst erfahrenen, aber schon perhorreszierten Verhältnissen einer sich erst ausbildenden, noch gar nicht in der eigenen Gesellschaft durchgesetzten Moderne!3 Diese eigentümliche intellektuelle Konstellation lässt sich also für Preußen (und Deutschland) schon hundert Jahre früher beobachten als es die bestehenden umfangreichen Untersuchungen zu diesem Komplex für die Zeit um 1900 suggerieren. Es war eben nicht erst die bürgerliche „Kulturkrise“ um 1890, die die Argumente und Deutungsschemata dieses späteren Neuadelsdiskurses hervorbrachte; dieser konnte vielmehr auf schon lange bestehende Ideologeme zurückgreifen. Das, und überhaupt die deutschen Spezifika des Neuadelsdiskurses mit der damit eng verbundenen Sonderwegsideologie legen nahe, dass die Ursachen dieser späteren Kulturkrise nicht in den allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen der hochindustrialisierten deutschen Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts zu suchen sind. Denn solche Verwerfungen gab es auch in anderen europäischen Gesellschaften – ohne entsprechende Neuadelsdiskurse! Vielmehr sind die auslösenden Motive – ganz wie in der Situation nach 1800 – in politischen Erfahrungen begründet. Zweifellos ist die eigentümliche Renaissance des Neudadelsdiskurses im Zweiten Kaiserreich als Reaktion auf die eine Generation zuvor erlittene epochale politische Niederlage des deutschen Liberalismus zu deuten.4 Der aus einer solchen intellektuellen Konfliktsituation „reflexiver Modernisierung“ resultierende Reformansatz strebte in Preußen nach 1800 nicht einfach einen neuen Machtausgleich der verschiedenen Kräfte in Staat und Gesellschaft an, wollte sich nicht damit zufrieden geben, mittels Kompromissformeln die gesellschaftlichen „Parteien“ auf einen neuen Konsens einzuschwören, der nur „auf Zeit“ angelegt sein

3 In der Geschichtswissenschaft wird der Begriff der „reflexiven Moderne“ im Sinne einer „reflektierten Moderne“ verwendet – also anders verstanden als der u.a. von Ullrich Beck in die Soziologie eingeführte gleichlautende Begriff. In Deutschland wird aufgrund der gegenüber den westlichen Nachbarländern verzögerten Entwicklung und Durchsetzung der Modernisierung auch eine eigentümliche Paralelle von „einfacher Moderne“ und „reflexiver Moderne“ angenommen, vgl. dazu: Nadja Thomas, „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt“: Botho Strauß und die „Konservative Revolution“, Würzburg 2004, S. 35. 4 Vgl. dagegen die Ausführungen zur kulturkritischen „reflexiven Moderne“ um 1900 als Auslöser und Grundlage neurechter Strömungen bei Gerstner, Neuer Adel, S. 17f.



5. Schluss: Zusammenfassung und Resümee 

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konnte. Vielmehr war dieser Reformansatz von dem Bestreben geprägt, die tieferen Ursachen der gesellschaftlichen Konflikte grundlegend und dauerhaft zu beseitigen. Geplant war also ein Gesellschaftsentwurf, der idealiter schon künftigen Konflikten vorbauen, und damit auch politischen Entscheidungen der Zukunft vorgreifen wollte. Mit anderen Worten: das Reformbestreben war nicht verfahrensorientiert in dem Sinne, dass neu bestimmt werden sollte, wie und über welche Institutionen die gesellschaftlichen Kräfte eine neue Gesellschaftsordnung aushandeln sollten, oder wie zumindest die aktuellen gesellschaftlichen Konflikte genauer zu identifizieren wären. Sondern es war ergebnisorientiert in dem Sinne, dass aus der Perspektive eines imaginären (harmonischen) Endzustandes die Entwicklungsschritte abgeleitet werden sollten, die zu dessen Erreichung notwendig wären. Um dies vornehmen zu können war aber eine genauere Kenntnis über diesen Idealzustand vonnöten, also der Entwurf einer „Utopie“ dieser zukünftigen Gesellschaft. Diese utopische Struktur des preußischen Reformansatzes und die sich daran anknüpfenden Adelsreformideen nahmen ebenfalls schon wesentliche Elemente des Neuadelsdiskurses im Kaiserreich einhundert Jahre später vorweg. Zwar wurden diese früheren Ideale eines erneuerten Adels noch keineswegs mit Vorstellungen eines „neuen Menschen“ verbunden, doch viele andere Strukturelemente dieses Denkens finden sich schon damals: die Verzeitlichung von Idealvorstellungen, die Idee der planenden „Machbarkeit“ von Gesellschaft, ein „Könnensbewusstsein“, das über die Anwendung von Kulturtechniken Gesellschaft formen wollte.5 Die Formulierung einer solchen „Utopie“ gelang aber vorerst offensichtlich weniger über positive Aussagen über die erwünschte Ausformung der sozialen und politischen Institutionen in der eigenen Gesellschaft, als durch abgrenzende, bzw. affirmative Bezüge auf Vergleichsgesellschaften. Verantwortlich hierfür war vermutlich ein Mangel an Kenntnis und Beschreibungsmöglichkeiten dieser eigenen Konfliktlinien, wofür wiederum die schon angesprochene große Heterogenität der inneren preußischen Verhältnisse verantwortlich zeichnete. Diese intellektuellen Strukturvorgaben eines „Dritte-Weg“-Paradigmas bestimmten in Folge erheblich die Strategien der Reformen, durch welche der preußische Zusammenbruch von 1806 bewältigt werden sollte. Unter Bezug auf das englische Vorbild sollte nach dem Willen einer starken, zeitweise mehrheitlichen Fraktion der Reformer der angestrebte Staatsausbau „von unten“ erfolgen und zugleich in seinen Formen und Institutionen an die Vergangenheit anknüpfen können. Dadurch erhielt der Adel neue Chancen in der avisierten neuen Gesellschafts- und Staatsverfassung. Denn er stellte, als noch immer größter Grundbesitzer, sowohl die stärksten lokalen

5 Zum „Ideologem“ des „Neuen Menschen“ das sich mit den Neuadelsideen um 1900 verband und zur utopischen Struktur des Lebensreformgedankens: Gerstner, Neuer Adel, S. 22-24. Gerstner bezieht sich mit ihrem Utopiebegriff auf Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit (Schriften des historischen Kollegs. Kolloquium 56), München 2003, Einleitung S. 6.

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 5. Schluss: Zusammenfassung und Resümee

und regionalen Kräfte als auch die schon historisch und rechtlich (durch das ALR) zur Repräsentation des Gesamtstaates vorzüglich berufene Sozialformation. Trotzdem mussten die rechtlichen und mentalen Voraussetzungen der bestehenden Adelsformationen der verschiedenen Landschaften mit dem Reformziel einer alle brandenburgisch-preußischen Territorien überspannenden einheitlichen „Staatsverfassung“ kollidieren, denn der Adel war bis 1806 provinzial „verfasst“ – was sich in den ständischen Repräsentationsorganen, aber auch den adelsständischen Kreditinstituten, lehnrechtlichen Verhältnissen und den dadurch bedingten erbrechtlichen Bestimmungen niederschlug. Eine stärkere landschaftsübergreifende Homogenisierung und Synchronisierung des Adels auf womöglich variierter sozialständischer Grundlage schien unabdingbar, um ihn harmonisch in eine neue Staats- und Gesellschaftsverfassung integrieren zu können. Diese Aufgabe wurde von den Zeitgenossen daher nicht einfach als eine „Adelserneuerung“ verstanden, sondern als nichts weniger denn eine erstmalige „Konstituierung“ bzw. „Neukonstituierung“ des preußischen Adels in Bezug auf den Gesamtstaat überhaupt: Rehdiger bezeichnete daher 1808 seine vorgeschlagene Adelsreform als „Ideen über eine Adelsconstitution“. Und als eine Skizze einer solchen „Adelsverfassung“ sind auch die Ausführungen des Innenministers Dohna von 1810 zu betrachten, der eine neue, politisch bevorrechtete „Classe von Landgüterbesitzern“ als den neuen „wirklichen Adel“ definieren wollte. Dieses Problem einer „Konstituierung“ des preußischen Adels wurde aber durch die Reformen nicht gelöst, blieb bis in den Vorabend der Revolution von 1848 erhalten! So sprach noch 1841 Streckfuß in seiner Adelsreformdenkschrift von der Notwendigkeit einer „Reconstituierung“ des Adels – insofern er als „anerkanntes und moralisches Übergewicht“ von der „Gunst der Regierung“ unabhängig sein müsse, um die Gesellschaft notfalls „gegen die Regierung [...] vertheidigen“ zu können! Dieser Gedanke einer Neukonstituierung des Adels bedeutete eine inhaltliche Verschiebung der Adelsreformkonzepte nach 1800 in Vergleich zu älteren Pendants. Er markierte den Übergang altständischer zu nachständischer „Adligkeit“. Im Unterschied zu diesen älteren „Tugendadelsmodellen“, deren Muster allerdings auch noch im 19. Jahrhundert anzutreffen sind, behandelten die nachständischen Adelsreformprogramme nicht mehr allein die Problematik eines adligen Genügens von konsensualen Standesidealen. Vielmehr thematisierten sie Leitbilder und Machtverhältnisse zwischen Adel, Staat und sich verbürgerlichender Gesellschaft – die verstärkte Institutionen- und Funktionsorientierung der nachständischen Programme belegt diese Bedeutungsverschiebung des Adelsreformbegriffs. Doch eine Neudefinition des Adels in seiner Rolle für Staat und Gesellschaft war in den Reformjahren ausgeblieben. Zwar suchte die ab 1823 eingeführte Provinzialständeordnung gegenüber den mit dem Oktoberedikt 1807 eingeführten Erwerbsständen wieder Sozialstände zu definieren. Aber selbst darin fand der Adel als Adel keine Berücksichtigung mehr. In der adligen Sozialformation kreuzten sich seither die konfligierenden Konzepte einer gesellschaftlich erwerbsständisch, politisch jedoch zugleich sozialständisch strukturierten Staats- und Gesellschaftsordnung – der Adel



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war aber Bestandteil beider definierter Gesellschaftsformationen, ohne in seiner Gesamtheit mit diesen jeweils identisch zu sein! Dieses „ständische Paradoxon“ fand in zwei gegenläufigen Tendenzen der preußischen Adelspolitik nach 1815 ihren Ausdruck: einerseits erfolgte weiterhin eine fortschreitende Auflösung der rechtlichen Privilegien des Adels – also seiner Rechte als „ständischer Adel“; andererseits wurde angestrebt, den Adel landschaftsübergreifend sozialständisch klarer zu definieren, oder zumindest zu erfassen, weshalb wiederholt die Idee einer Adelsmatrikel verhandelt wurde. Und Friedrich Wilhelm IV. plante schließlich sogar, Teile des Adels mit aristokratisierender Tendenz politisch neu zu bevorrechten. Durch diese paradoxe Ausgangslage und die daraus resultierenden „gegenläufigen“ Tendenzen einer preußischen Adelspolitik wurde der Adel seit den Reformjahren mit wechselnden Erwartungen und Formierungsansprüchen „von außen“ konfrontiert, die nun nichts weniger als (versuchte) Eingriffe in seine binnenständischen Verhältnisse bedeuteten. Zwar hatte es schon zuvor verschiedene Anläufe preußischer Monarchen gegeben, „ihren“ Adel aus ökonomischen und staatspolitischen Interessen heraus zu formen – doch ging es dabei ausschließlich um das Verhältnis des Adelsstandes gegenüber dem Staat. Nun standen die sozialständischen Verhältnisse des Adels selbst in der Diskussion, wurden Fragen einer möglichen „Entadelung“ von Teilen des Adels, bzw. einer systematischen, nach objektiven Kriterien vorgehenden „Adelung“ bürgerlicher Gruppen erwogen. Diese präsumptive Spaltung des (sozialen) Adelsstandes und die projektierte Ausdehnung mentaler und habitueller Kriterien des Adels auf nichtadlige Gruppen können als die Kerne nachständischer Adelsreformentwürfe bezeichnet werden – nicht mehr moralisch-habituelle Binnenreform, sondern die Neudefinition von „Adligkeit“ im Verhältnis zu Staat und übriger Gesellschaft waren ihre Themen. Damit konnten Adlige wie Bürgerliche gleichermaßen auf ihre potentielle „Adelsfähigkeit“, ihre „Adligkeit“ befragt werden, was sich in den folgenden Jahrzehnten in Begriffen einer Adelslatenz oder Adelspotentialität wie „Edelinge“, „ruhende Junkerschaft“, „Ritterbürtigkeit“ oder auch dem von Friedrich Wilhelm IV. bezeichneten gentry-artigen „Ritterstand“ niederschlug. Doch blieb der Debattenverlauf in der Reformzeit selbst amorph und mehr sporadisch, nicht gebündelt oder gar gesteuert, bzw. moderiert, und in erheblichem Maße abhängig von tagesaktuellen Fragen. Die (neuständischen) Lösungsvorstellungen, die (vorwiegend) aus dem angesessenen Adel hierzu entwickelt wurden, waren in Anlage wie Zielrichtung regional und politisch-kulturell begrenzt. Es fanden nur zurückhaltende Vorschläge zu einer „Adelung“ bürgerlicher Gruppen statt. Dabei zeigte sich eine charakteristische Ost-West-Teilung, die sich für den gesamten Untersuchungszeitraum von Dauer erweisen sollte: in den östlichen Provinzen gab es eine deutliche Bereitschaft, bürgerliche Besitzer von Rittergütern zu akzeptieren, und auf diese die traditionell an den Gütern „klebenden“ politischen und wirtschaftlichen Privilegien zu übertragen – eine prospektive „Adelung“ auf materieller Basis. Dagegen verhielt sich der westfälisch(-katholische) Adel erheblich standesexklusiver. Allerdings ergab sich damit für Vertreter der ostelbischen Adelslandschaften das Dilemma, ob und wie

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zukünftig dann noch zwischen gutsbesitzendem Adel und Nichtadel unterschieden werden solle – in der Provinz Preußen wurde eine solche Unterscheidung gerade durch die prominentesten Adelsvertreter schon weitgehend aufgegeben, was sich z.B. in der Frage einer Erbfolgegesetzgebung auch für breitere Adelskreise bestätigte, wogegen in Brandenburg eine solche Unterscheidung immer noch eingeklagt wurde. Das in den Adelsreformprogrammen teilweise streifend angesprochene Problem der „Adelung“ bestimmter gesellschaftlicher Gruppen war insgesamt aber noch kein beherrschendes Thema – die Frage eines möglichen Ausschlusses aus dem Adelsstand, nicht nach den erwünschten Nobilitierungskriterien beschäftigte vordringlich. Mit wenigen Ausnahmen, vor allem Steins, befassten sich deshalb die damaligen Adelsreformentwürfe in nur geringem Maße mit der sozial-kulturellen Dimension einer möglichen Adelsreform. Die Entwicklung eines kulturellen Programms zur Identifikation von „Adelswürdigkeit“, z.B. nach dem Muster des englischen „Gentleman“Ideals, das über den Adelsstand hinaus verallgemeinerungsfähig gewesen wäre, wurde entweder gar nicht, wie im Falle von Marwitz, oder nur in Bezug auf den eigenen Sozialstand wie in Westfalen thematisiert. Nur dort, unter dem bleibenden Einfluss von Stolberg und Stein, beschäftigten sich einzelne Adelsvertreter intensiv mit den erwünschten Anforderungen an eine Adelspersönlichkeit in der nachständischen Gesellschaft. Die Entwicklung eines gemeinsamen landschaftsübergreifenden Programms in dieser Richtung gelang jedoch nicht. Allein sporadisch wurde der Adel unter die „gebildeten Stände“ subsumiert, die Annäherung zwischen Adel und Bürgertum über das Ideal der Bildung einerseits, wie über die nun allgemeine Kriegsdienstpflicht (Wehrpflicht) konstatiert, ohne zur Frage von Verhaltensparametern und Mentalitätskriterien konkreter zu werden. Drei strategische Formierungsansätze einer nachständischen „Adligkeit“: 1. historisierende Projektion Der erste praktische Versuch zur Definition einer (neuen), grundbesitzbasierten preußischen „Adligkeit“ wurde im Rahmen der Provinzialständeordnung unternommen, die einem erheblich formierenden Eingriff in die Gruppe der adligen Gutsbesitzer gleichkam. Die für die einzelnen Provinzen erfolgte Identifikation und Definition des landständisch bevorrechteten Grundbesitzes erfolgte über eine komplizierte, nur scheinbar historische Vorgehensweise, die aus einer Mischung landschaftlicher Beratung, bürokratisch festgelegter Mindesteinkommenskriterien, einer teils sehr lückenhaften Herleitung gutsherrlicher Rechte aus den Akten, sowie von der Zentralverwaltung eingeforderten Gutachten und Einzelfallüberprüfungen verschiedener Güter bestand. Diese Maßnahmen berücksichtigten zwar die seit 1806 erfolgten besitzständischen Umwälzungen, trachteten aber danach, deren Folgen durch recht willkürlich-bürokratisch festgelegte „Normaljahre“ historischer Bevorrechtigung einzudämmen. Das Ergebnis, das nicht durch eine Aushandelung der betroffenen provinzialen guts- und landbesitzenden Gruppen – wie dies 1808 noch in Ost- und West-



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preußen gelungen war – als vielmehr „von oben“ dezisionistisch vorgegeben wurde, kann in gewissem Sinne als „social engineering“ verstanden werden. Denn dadurch entstand eine erste „hybridisierte“ nach- oder neuständische, über Grundbesitz und Kriterien der Besitzzeit definierte „Adligkeit“, die einerseits historisch argumentierte, doch zugleich die historischen Rechte vieler Güter kassierte, um sie an anderer Stelle auf neue Güter (u.a. ehemaligen Domänenbesitz) auszudehnen. Plausibel konnte Stillfried 1842 monieren, dass die Provinzialstände „unhistorisch“ seien und unter der Kontrolle der obersten Beamten stünden, mithin also keine repräsentativen Einrichtungen, sondern Instrumente eines manipulierenden Beamtenregiments wären. Doch die darin angelegten Potentiale einer stärkeren sozialständischen Vereinheitlichung adliger und bürgerlicher Rittergutsbesitzer – sei es über das Fideikommisskriterium, sei es über eine konsequente Nobiltitierungspolitik gegenüber der bürgerlichen „Ritterschaft“ – wurden bis 1840 nicht zu realisieren gesucht. So fand die immer noch bestehende, weit überproportionale Macht des (gutsbesitzenden) Adels, die in erheblichem Maße über sozial-rechtliche Privilegierung (Hofzugang) und informelle Kanäle (Verwandtschafts- und Bekanntschaftsbeziehungen zu den bedeutendsten staatlichen und administrativen Funktionsstellen) ausgeübt werden konnte, in der politischen Ordnung keinen adäquaten Ausdruck. Umgekehrt wurde der gutsbesitzende Adel, die noch lange materiell wie kulturell dominierende Gruppierung im Staat, durch diese Verschleierung der sozialpolitischen Verhältnisse von der Übernahme direkter politischer Verantwortung abgeschirmt, und war weder über ein Oberhaus noch in dem adlig-bürgerlich gemischten Rittergutsbesitzerstand in seiner politischen Verantwortung öffentlich eindeutig zu greifen. Im Falle der Provinz Preußen, wo die Entwicklung einer sich für das „Landeswohl“ direkt verantwortlich fühlenden adlig-bürgerlichen, von herausragenden Adelsgruppen geführten Großgrundbesitzerschicht am fortgeschrittendsten war, wurde besonders deutlich, wie gerade Eingriffe der Zentrale solche Entwicklungspotentiale konterkarierten – in den späten Reformjahren illustriert durch die Intervention des Innenministers v. Schuckmann, später durch die versuchte königliche Erbfolgegesetzgebung. „Bündnisse“ des landgesessenen Adels mit Adelsfaktionen in der Verwaltung scheinen dagegen allein im „Negativen“ zustande gekommen zu sein – wie sich später deutlich in der Herrenhausfrage zeigte. So entstand und befestigte sich ein sozial-ständisches Paradoxon in der preußischen Gesellschaft, das trotz oder wegen der schon vor 1848 sukzessive erfolgenden „Egalisierung“ des Adels in der preußischen Gesellschaft soziale Friktionen hervorrief. Wie Graf Dönhoff-Hohendorff schon 1817 hellsichtig voraussagte: „Es soll einen Stand in der Staatsgesellschaft geben, den die Geburth begünstigt – diesen Stand soll die Geburth nicht begünstigen.“ Eine Auflösung dieses Paradoxons schien bis in den Vormärz nur durch die ausgebliebene Adelsreform möglich, die idealerweise im Rahmen einer allgemeinen Staatsverfassung erfolgen sollte. So fasste jedenfalls die in der zweiten Auflage von Stillfrieds Adelsreformschrift mitveröffentlichte, vermutlich durch bürgerliche Hand verfasste Denkschrift von 1843 diese Problematik zusammen:

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der Adel bedürfe einer „Neubegründung“, einer regelrechten „Creirung“ im Rahmen einer gesamtpreußischen, „reichsständischen“ Verfassung – wodurch (die gutsbesitzenden) Teile des Adel sogar eine Stellung erringen könnten, die der dortige Adel zuvor nie eingenommen habe. 2. Social engineering Das relative Scheitern dieser „historisierenden Projektion“ zur Definierung eines reformierten, oder neuen Adels sollte in dem später unter Friedrich Wilhelm IV. erneuerten Anlauf zu einer Adelsreform durch ein „social engineering“, d.h. einer teleologisch begründeten Auswahl und Stilisierung von Adligkeitsmerkmalen, wett gemacht werden. Dieses Vorgehen charakterisierte nicht nur die von Friedrich Wilhelm angestoßene inneradministrative Adelsdebatte, sondern parallel dazu die Publikationen und Veröffentlichungen liberaler wie konservativer Protagonisten, sowie die Kommunikations- und Selbstorganisationsplattform der Adelszeitung. Durch Letztere trat der preußisch-deutsche Adel erstmals in einen überregionalen öffentlichen Austausch. In diesen Diskussionen schalteten sich verstärkt Bürgerliche ein, wie sich überhaupt eine deutliche Schwerpunktverlagerung im Inhalt der Adelsformauseinandersetzungen zeigte: gegenüber den Reformjahren nahm nun das Verhältnis zwischen Adel und Bürgertum einen zentralen Raum ein, und zwar gleichermaßen in der inneradministrativen preußischen Debatte wie in der breiteren Öffentlichkeit. Tatsächlich gewannen die einzelnen Beiträge gegenüber der Ausgangssituation von 1806-1823 in Inhalt und Argumentationsführung an logischer Stringenz und Konsequenz. Sie gingen deutlich weniger additiv und ungewichtet vor, sondern organisierten ihre Einzelvorschläge klarer um verfassungshistorische Leitbilder. Dabei half, dass seit der Reformepoche das „Dritte-Weg“-Paradigma konzeptionell klarer aufgefasst wurde. Ursprünglich vor allem negativ, durch Abgrenzung von der französischen politischen Entwicklung, bzw. durch Anlehnung an das englische Beispiel (über dessen sozial-rechtliche und politische Verhältnisse nur Ungefähres bekannt war) deskriptiv formuliert, setzte mit der Rezipierung der Gentzschen Ständeideologie eine zweite Welle theoretisierender Fassungen dieses „Dritte-Weg“-Paradigmas ein. Die von Gentz vorgenommene Kontrastierung landständischer gegenüber repräsentativer Verfassungsmodelle erlaubte, dieses Paradigma inhaltlich greifbarer zu machen, in der „landständischen Verfassung“ eine Alternative zwischen Autokratie und Parlamentsherrshaft zu erkennen. Diesem Deutungsmuster und den „utopischen“ Ansätzen der preußischen Re­formkräfte seit 1806 blieb noch das „monarchische Projekt“ Friedrich Wilhelms IV. verpflichtet. Wie diese strebte er weniger ein Verfahren der Konfliktermittelung und der Kompromissfindung an, sondern suchte von einem imaginierten Ergebnis her den Inhalt der zu praktizierenden Politik abzuleiten: die preußische Gesellschaft sollte in ihrer Entwicklung durch monarchisch-staatliche Eingriffe gelenkt werden – wobei Friedrich Wilhelm gar nicht realisierte, wie sehr dies der von ihm vertreten „romantischen“ Geschichtsideologie widersprach! Ein solches „social engineering“ setzte



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allerdings eine „über den Parteien“ stehende Institution voraus – die Krone – die ein als richtig erkanntes Ziel weder durch die „Parteien“ aushandeln lassen musste, noch eigentlich überhaupt mit diesen verhandelte, sondern aus dem Verlauf des Streits und dem Zusammenstoß der Argumente das „richtige“, d.h. abgewogene Ergebnis deduzierte, um dieses anschließend den streitenden Parteien zu oktroyieren! Zur klareren Erfassung des Ziels des adelspolitischen Verwaltungshandelns musste aber eine „utopische“ Formulierung der Rolle des Adels erfolgen – was in der inneradministrativen Diskussion wesentlich über geschichtsteleologische Strategien zu ermitteln gesucht wurde: aus erfahrener Gegenwart und interpretierter Vergangenheit wurde auf eine zu erwartende Zukunft geschlossen. Die Auseinandersetzungen in den Ministerien und Beraterkreisen drehten sich deshalb weniger um die Frage, ob eine Adelsreform durchgeführt werden solle oder nicht, sondern welche Arenen der Elitenauseinandersetzung zukünftig maßgeblich wären und welche Parameter in diesen wirken sollten. In dieser inneradministrativen Adelsdebatte stießen im Wesentlichen zwei Vergangenheitsinterpretationen aufeinander: der Entwurf einer preußischen Adelsgeschichte als Dekadenz- und Korruptionsgeschichte, und eine positivistische Deutung. Diese unterschiedlichen Bewertungen bezogen sich im Kern auf das Verhältnis des Adels zum Staat, bzw. des adligen Staatsdienstes: war diese für Preußen so charakteristische enge Verbindung Ausdruck unadelsgemäßer Abhängigkeit, wie Bethmann-Hollweg argumentierte, oder als Teil einer „neugebildeten Ministerialität des Beamtenthums“ ein Äquivalent zur „politischen Aristokratie“ Englands, wie Raumer behauptete? Dabei handelte sich um eine Diskussion über Leitwerte, die sich zwar in erster Linie auf den Adel bezogen, doch zugleich den Anspruch von Parametereigenschaften für die ganze Gesellschaft erhoben. Zu dieser Zeit geschah dies allerdings noch nicht über eine stilisierte Abgrenzung vorgeblich adliger „Tatmenschen“ gegenüber einer als „passiv“ stilisierten Bürgerlichkeit; denn konsensual wurde der Adel als selbstverständlicher Teil der „Gebildeten“ betrachtet, zu dem auch das (höhere) Bürgertum gehörte.6 Es handelte sich vielmehr um die Frage, ob und welche spezifisch adligen Qualitäten der Adel dieser Gruppe der „Gebildeten“ zuführen konnte.7 Dabei befanden sich die Diskutanten – wie Friedrich Wilhelm IV.

6 In diesem Punkt ist der Kritik von Charlotte Tacke unbedingt zuzustimmen, dass die von Stefan Malinowski konstatierte „Bildungsfeindschaft“ (vgl. Ders., Vom König zum Führer, S. 41, ausführlich: S. 47-58) des preußisch-deutschen Adels im Kaiserreich ein Ausdruck anti-bürgerlicher Selbststilisierung war, für die es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinerlei Anzeichen gibt, vgl. Dies., Adel und Adeligkeit, S. 96, Anmk. 24. Malinowskis Einschätzung ist deutlich der (unumgänglichen) zeitlichen Zäsur seiner autobiographischen Quellentexte, bzw. deren Entstehungszeitraum geschuldet. Nur 11 der von ihm untersuchten 175 Autobiographien entstanden vor 1918! Überhaupt, und die Gründe hierfür wären schon ein lohnender Untersuchungsgegenstand, wurde die Masse der adligen Autobiographienliteratur erst nach 1870 verfasst bzw. veröffentlicht! 7 Vgl. dagegen die Neuadelsideen um 1900, die den „Tatmensch“ als Gegenmodell dem rationalen, leistungs- und vor allem bildungsorientierten „Bürger“ entgegenstellten, siehe Gerstner, Neuer Adel, S. 530.

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selbst! – unwillkürlich und unwissentlich in einer „katechontischen Position“ (Carl Schmitt). Mit dem königlichen Auftrag versehen, eine Neuformierung des Adels vorzubereiten, um die Erosion traditionaler Lebensordnungen aufzuhalten, legten die Beteiligten unwillkürlich selbst „modernisierende“ Konzepte an, indem sie eine Auswahl, Zuspitzung und Abstrahierung traditioneller Identitäts- und Leistungskriterien des Adels vornahmen. Sie befanden sich weniger in einer Tradition, als dass sie diese Tradition in jeweils ihrem Sinne ideologisierten. In diesen Verschiebungen, Selektionen und Zuspitzungen historischer Standesmerkmale wirkten nicht nur die persönlichen Präferenzen der Diskutanten in Staatsministerium und Adelskommission mit, sondern zugleich die Logik des zugrunde liegenden „Dritte-Weg“-Paradigmas: schon dieses suggerierte in seiner Argumentationsstruktur eine dichotomische Sicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse (und ihrer weiteren Entwicklung), bedeutete also im Zweifelsfall eine erhebliche Wirklichkeitsreduktion. Dazu kam, dass der Utilitarismus eines projektierten „social engineering“ seinerseits solche reduzierenden Tendenzen beförderte: die geforderten funktional-zielgerichteten Maßnahmenkataloge mussten notgedrungen darauf abzielen, gesellschaftliche Teilbereiche „operationalisierbar“, mithin durch vereinfachende Wirklichkeitsbeschreibungen verständlich zu machen, also Komplexität zu reduzieren. Tendenziell wurden dadurch vor dem Hintergrund befürchteter Zukunftsentwicklungen und zuspitzender Problembeschreibungen alternative (und gemäßigte) mittel- bis langfristige Optionsmöglichkeiten zugunsten einer vordergründigen ideologisch-inhaltlichen Stringenz ausgeschlossen. Die solchermaßen reduzierenden Wirklichkeitsbeschreibungen im Rahmen der Adelsdebatten zeichneten in erheblichem Maße eine ideologische Engführung der politischen und lebensweltlichen Entscheidungsalternativen vor, die für den preußischen Adel der kommenden Jahrzehnte an Bedeutung gewinnen sollten. Vorerst verengten diese utilitaristischen Stilisierungen die Erscheinungskriterien einer behaupteten preußischen „Adligkeit“ auf die Bereiche „Dienst“ und „Besitz“. Die Unterschiede zwischen den Diskutanten schlugen sich vorzüglich in der Gewichtung nieder, mit denen Grundbesitz und Dienstkriterium gegeneinander abgewogen wurden. Aber weder innerhalb der Adelskommission noch im Staatsministerium gelang es, diese zum Teil konkurrierend aufgefassten Konzepte in einen konsensual überzeugenden Zusammenhang zu bringen. Vielmehr zeichneten sich zwei Stränge von „Adligkeit“ ab, die relativ autonom voneinander definiert wurden – wie es schließlich in Raumers Adelspatententwurf zum Ausdruck kam, und Stillfried schon 1842 als Lösungsvorschlag propagiert hatte. Die in den Adligkeitsdiskussionen der Reformjahre nicht erreichte Abstimmung und Fusion von „idealistischen“, d.h. sozio-kulturellen, und „materiellen“ Adligkeitskriterien scheiterte erneut. Nur für diese beiden getrennten Bereiche von „Adligkeit“ konnten jeweils spezifische Qualifikationskriterien (für eine Nobilitierung), bzw. Vererbungskriterien relativ konsensual entworfen werden. Die den grundbesitzenden Adel betreffenden Kategorien fanden dann sogar bei der Bildung des Herrenhauses Berücksichtigung.



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3. Semantisierung und Metaphorisierung Außerhalb der administrativen preußischen Adelsdebatten zeigen sich ähnliche Verwerfungen und Verständigungsschwierigkeiten. Im Projekt der Adelszeitung und des allerdings schnell scheiternden Adelsvereins versuchte sich der (Klein-)Adel erstmals selbst zu sammeln und zu organisieren. Schnell wurden erneut die Grenzen der Verständigungs- und Kooperationsmöglichkeiten deutlich, die noch immer durch stark regional geprägte Traditions- und Mentalitätsunterschiede gezogen wurden. In der Denkschriftenliteratur des Vormärz, z.B. den schlesischen Adelsreunionsprogrammen, dominierte jedoch weiterhin das Grundbesitzkriterium als vorzüglicher Ausweis einer adligen Existenz. Dass diese Besitzbindung nicht nur aus vermögenswirksamen Gründen zur Sicherung eines bestimmten Lebensstils auf dem Lande unabdingbar sei, sondern auch aus familienstrategischen Gesichtspunkten, war ebenfalls mehrheitsfähig. Nur ein solcher „Vereinigungspunkt“, der ökonomisch das Interesse der Familienmitglieder zusammenführe, könne deren Zusammenhalt garantieren. Dieser Konservativismus in der Wertschätzung des Grundbesitzkriteriums hatte sein Äquivalent jedoch in einem problematischen Festhalten vieler Beiträger an einer adligen Binnendifferenzierung, d.h. an Zugangskriterien, die sich am Muster der überkommenen Adelsproben orientierten, diese allenfalls modifizieren, aber in den wenigsten Fällen ganz abschaffen wollten. Zugleich offenbarten sich die bekannten Differenzen bezüglich des Besitzkriteriums zwischen den westlichen und östlichen Adelslandschaften. Östlich der Elbe wurde weiterhin eine starke Besitzkonzentration in einer Hand abgelehnt und regelmäßig die Verteilung mehrerer Familiengüter auf die entsprechende Zahl von Besitzern gefordert, während sich in den westlichen Landschaften das Bestreben erhielt, Grundbesitz in primogenitaler Erbfolge zu konzentrieren, um durch eine möglichst exklusive Existenz des Besitzers das Prestige des ganzen Standes zu heben. Diese binnenadligen Verständigungsgrenzen, die Inkommensurabilität der verschiedenen Adelslandschaften suchte Friedrich de la Motte Fouqué im Kommunikationsorgan der Adelszeitung zu überwinden, um einer adligen Sammlungsbewegung den Boden zu bereiten. Die in der preußischen inneradministrativen Adelsdebatte angewandten Methoden der (pseudo-)historischen „Revindizierung“, Auswahl und Zuspitzung von Adligkeitsmerkmalen trieb Motte Fouqué mit dem semantischen Mittel einer sprachlich-poetologischen Ableitung von „Adligkeit“ weiter voran. Dies drückte sich in etymologischen Begriffsherleitungen und metaphernartigen Beschreibungen einer neuen adlig-bürgerlichen Balance von Gleichheit und Ungleichheit (der Adel als „Anders-Gleicher“) aus. Dadurch sollte eine Landschafts- und Binnengrenzen übergreifende Solidar- und Handlungseinheit des Adels hergestellt werden. Weit grundsätzlicher als die Diskutanten der preußischen Administration bewirkte Fouqué aus einer katechontischen Position heraus auf der Sprachebene eine völlige Verschiebung von Bedeutungsinhalten des „Adligen“ – trotz der behaupteten historischen Herleitung. Wie denn er in der Adelszeitung – im Gegensatz zu seinen früheren publizierten Positionen um 1820 – mit der Mehrheit der darin veröffentlichten Beiträge die

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Wichtigkeit des Grundbesitzkriteriums für adelsgemäßes Leben herausstrich, bereitete Fouqué eine ideologische Neupositionierung des Adels in der Gesellschaft vor, die unabhängig von solchen „harten“ Kriterien ein verändertes Verständnis standesinterner Solidarität (nämlich egalisierend und homogenisierend) und der sozialen Beziehungen zum Bürgertum entwarf. Diese halböffentlich und öffentlich verhandelten Verschiebungen, Selektionen und Zuspitzungen, die Semantisierung und Metaphorisierung adliger Zuschreibungen unterstützten eine intellektuell-ideelle Relativierung, und damit Auflösung land­ schaftsspezifischer adliger Traditionalität. Die gegenseitige Kenntnisnahme der je­weils anderen Verhältnisse und Denkweisen, die von den aktivsten Beiträgern immer wieder erhobene Forderung nach einer Überwindung der provinziellen Perspektive und der Gewinnung „objektiver“ Gesichtspunkte zeitgemäßer adliger Existenz, förderten eine innere Distanz zu den überkommenen Verhältnissen, illustriert z.B. in der Übernahme der von Fouqué entwickelten Begrifflichkeiten und historischen Entwicklungsauffassungen. Diese wachsende innere Distanz zu den jeweils eigenen Herkunftsbeständen – ironischerweise besonders deutlich bei Vertretern der stark auf die preußischen Verhältnisse Bezug nehmenden ehemaligen fränkischen Reichsritterschaft – beförderte die (geistige) Vorbereitung einer sektoral erfolgreichen Anpassungsbereitschaft an neue Erwartungen und Leistungsparameter. Außeradlig bestimmte Leistungsparameter einer neuen „Adligkeit“ Neben den administrativen Vorgaben der preußischen Provinzialständeordnung und später der Herrenhausbildung fanden völlig neue Leistungsgesichtspunkte seit dem Vormärz aber vor allem durch bürgerliche Befürworter einer Adelsreform Eingang in die Debatte. Während sich die adligen Beiträger trotz aller Deutungsverschiebungen und Selektionen in ihren Vorschlägen – gleich wie scheinbar willkürlich oder historisch plausibilisiert – immer noch an den bekannten Traditionsbeständen orientierten, nahmen bürgerliche Autoren seit dem Vormärz teilweise völlig neue Aufgaben und Selektionskriterien eines „Adelsberufs“ in den Blick. Denn dieser „Adelsberuf“ wurde von den bürgerlichen Autoren Welcker und Liebe, später Schäffle und Bluntschli ganz auf die Herausforderungen und Strukturvoraussetzungen einer kapitalistischen, sich industrialisierenden Gesellschaft hin entworfen. Die Orientierung an den Gehalten der Adelsgeschichte reichte in ihren Augen für eine solche Aufgabenformulierung nicht mehr aus. Vorerst wehrte der Adel mehrheitlich, wie z.B. Fouqué in der Adelszeitung, eine solche Umdefinition des adligen Erb- zu einem „Berufsstand“ ab: weder seien die historischen Stände mit den „Geschäfts-Personalständen“ des „Wehr-, Lehr- und Nährstandes“ identisch, noch sei der Adel eine Folge und Konsequenz der Monarchie, bzw. staatlicher Machtpositionen und Ämter – und daher auch nicht allein durch und auf den Staat hin definierbar. Doch die gerade von bürgerlichen Adelsapologeten thematisierte spezifische adlige Soziabilität, die in einer besonderen „Lebensatmosphäre“ bestehe, auf „Lebensart“ und „Bildung“ beruhe, und eine Vermittlung und Verknüpfung zwischen den unter-



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schiedlichen Lebenswirklichkeiten, von Landwirtschaft und Industrie, „potenziertem Städter und Großbauer“, ermögliche, stellt die in der heutigen Historiographie beliebte Gegenüberstellung einer „Stratifikationsidee“ zu einer „Funktionsidee“ für die Bestimmung einer nachständischen „Adligkeit“ besonders deutlich in Frage. „Adligkeit“ wurde in diesen Beispielen ausdrücklich als eine Mischung von sozialen Wertorientierungen und einer multifunktionalen Existenz in der Gesellschaft beschrieben. In diesen Adelsreformentwürfen ist das „holistische“ Ideal adliger Existenz, in deutlicher Kontinuität zu der schon in der frühen Neuzeit adelsapologetisch immer wieder betonten „‚Gemeinwohlorientierung‘ des Sozialphänomens Adel“ (Bleeck/Garber), noch zu finden. Dieses zeigte sich auch gegenüber den Notwendigkeiten einer „Spezialisierung“ und „Funktionalisierung“ in bestimmten Teilbereichen adlig-bürgerlicher Betätigungen erstaunlich resistent.8 Der hier betrachtete Untersuchungszeitraum förderte jedenfalls noch ein beeindruckendes biographisches Spektrum von „DichterMilitärs“ (Friedrich de la Motte Fouqué), „Dichter- und Schriftsteller-Gutsbesitzern“ (Achim v. Arnim), „Militär-(Kriegs-)Wissenschaftler-Politikern“ (Joseph v. Radowitz), „Gutsbesitzer-(Rechts-)Wissenschaftlern“ (Karl Friedrich v. Savigny), „AdministratorWissenschaftler-Politikern“ (Georg Wilhelm v. Raumer, Karl Wilhelm v. Lancizolle) zu Tage, sowie von stände-politisch, wie auch mäzenatisch und musisch auf höchstem Niveau tätigen Gutsbesitzern (Karl Finck v. Finckenstein), und militärisch, gutswirtschaftlich, staatspolitisch und privat-schriftstellerisch aktiven „All-Roundern“ (Friedrich August v. d. Marwitz). Die Vorbereitung auf eine Rolle in einer „Mulitfunktionselite“ machte den Adel gerade in den Augen Bürgerlicher noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert attraktiv. Die affirmativen bürgerlichen Zuschreibungen von „Adligkeit“ beförderten jedoch zugleich einen scharfen Antikapitalismus, interpretierten sie doch die traditionelle adlige Distanz zur Geldwirtschaft, ausgedrückt in einer spezifischen „Standesehre“, als Gewähr und entschiedenes Bollwerk gegen die „Geldherschaft“. Dass es sich bei diesem radikalen Antimaterialismus keineswegs um einen originär „adligen“ Topos handelte wird im Vergleich mit der zeitgenössischen und älteren adligen Geldkritik deutlich. Wie die Mehrheit der adligen Kritiker der „neuen Geldmenschen“ in der Adelszeitung betrachtete schon Freiherr vom Stein den materiellen Wohlstand, ja Reichtum als Voraussetzung einer wahren adligen Existenz. Auf dieser Basis gründete nach dieser noch mehrheitsfähigen Ansicht einzig die Möglichkeit zur freien politischen, sozialen und kulturellen Betätigung: als Ausweiß adelsgemäßer Beschäftigung, sowie für die vorausgesetzte Unabhängigkeit vom Staat. Deshalb spielten Ideen und Projekte zur materiellen Stärkung des Adels in der Adelszeitung eine so heraus-

8 Zur frühneuzeitlichen Idee der „Gemeinwohlorientierung“ des „Adels“, vgl. Klaus Bleeck/Jörn Garber, Nobilitas. Standes- und Privilegienlegitimation in deutschen Adelstheorien des 16. und 17.Jahrhunderts, in: Daphnis. Zeitschrift für mittlere deutsche Literatur, Bd.11, 1982, S. 49-114, hier bes. S. 64.

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ragende Rolle. Das adlige Ressentiment richtete sich weniger gegen den materiellen Besitz oder „das Geld“ als solches, als vielmehr gegen die Geschwindigkeit seines Erwerbs, sowie gegen bestimmte Quellen des materiellen Gewinns und sozialen Aufstiegs. Es galt – in den Worten von Batocki-Tortilowitz – durch des Adels „eigenen dauernden Wohlstand und Reichtum“ den Parvenü in die Schranken zu weisen, und Stillfried erkannte in der Verknüpfung von Besitz und Ehre die „Dritte Position“ des Adels – die ihre Front gleichermaßen gegen die politischen und sozialen Anmaßungen der Habenichtse wie der reinen Geldmenschen richte. Der von Radowitz aufgenommene „bürgerliche“ Antimaterialismus mit seiner apodiktischen Idealisierung von „Prinzipien“ konstruierte einen von diesen älteren Auffassungen abweichenden schroffen „Gegensatz“ zwischen „realen“ und „idealen“ Adels- bzw. „Adligkeitsvorstellungen“, die ja nach Steins Adelsprogrammatik durchaus aufeinander angewiesen waren. Bei seiner Entwicklung dieses manichäischen Motivs im Kampf gegen den Liberalismus legte Radowitz ein Bündnis mit nichtadligen anti-kapitalistischen Gruppen nahe, deren Motivation aber ganz anderen Momenten entsprang, als dem adligen Selbstgefühl von Persönlichkeit, Geschlechts- und Traditionsgedanke. Daraus rührt das in den späteren pseudo-konservativen, neurechten Strömungen verbreitete, und bis in der heutigen Historiographie populäre Mißverständnis, dass bürgerlicher und adliger Antikapitalismus der gleichen Wurzel entstamme, und daher Basis eines gemeinsamen politischen Interesses sein könne oder müsse.9 Neben diesem antikapitalistischen Motiv führte noch ein zweiter Strang der bürgerlichen Adligkeitsinterpretationen weg von vornehmlich an historischen Mustern orientierten Adelsreformkonzepten. Während sich nämlich die Charakterisierungen einer spezifischen adligen Soziabilität durch die bürgerlichen Publizisten durchaus auf die älteren, aus dem Adel selbst kommenden Selbstentwürfe beziehen lassen, zeichnete sich bei Johann Caspar Bluntschli eine völlige Verschiebung hinsichtlich der Basis und der Leistungsparameter einer nachständischen „Adligkeit“ ab. Tatsächlich nahmen Bluntschlis Konzeptionen von 1857 schon wesentliche Elemente der späteren neu-rechten, völkischen Adligkeitsentwürfe vorweg. Seine Parameter definierten den Adel als erbliche Leistungselite der „besten“ Individuen, wobei er seine Abstammungsgesichtspunkte überwiegend biologistisch begründete. Die (biologisch definierte) „Rasse“, nicht der soziale Kontext einer spezifischen „Lebensatmosphäre“ garantierten die herausragende Leistungsfähigkeit adliger Individuen. Denn Bluntschli verlangte als Nachweis echter „Adligkeit“ die persönliche Leistungsprobe jedes

9 „Dieses so heterogene Bündnis ist teils ein Produkt der Politik, teils aber auch der Verkennung der Bewusstseinslage gewesen – die berühmte fehlerhafte Annahme, dass gemeinsame Negation in ihrer Position gleich sei oder auch nur derselben Wurzel entspränge.“, vgl. Neumann, Stufen des preußischen Konservatismus, S.16. Dieser Irrtum über die scheinbar gleichen Wurzeln ihres Antikapitalismus bildete der Kern des von Malinowski ausführlich dokumentierten „Missverständnisses“ zwischen Adel und der Neuen Rechten, vgl. Ders., Vom König zum Führer.



5. Schluss: Zusammenfassung und Resümee 

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adligen Individuums – eine Idee, die sein Zeitgenosse Schäffle entschieden zurückwies: dies widerspreche der eigentlichen Idee vom Adel, die eben nicht die „höchste Potenz jeder separaten Richtung“ für die adlige Personlichkeit reklamiere. Bluntschli aber sah im Geschlechtsadel nur „ruhende“ Eigenschaften, eine Adelspotentialität, die sich erst durch bestimmte Leistungen oder Auszeichnungen zum „Individualadel“ erheben könnten – damit kehrte er tatsächlich das überkommene Adelsselbstverständnis um, welches das adlige Individuum als „Nießbraucher“ übergeordneter Familieneigenschaften betrachtete. Der Kontrast wird z.B. in Bezug auf die „Familien-Personen“ des Adels deutlich, die Dohna-Schlobitten 1810 evozierte, indem er die Adelsfamilie gewissermaßen als „Kollektiv-Individuum“ ansprach! Hier zeigt sich eine erhebliche Bedeutungsverschiebung in der Auffassung von „Adligkeit“, indem der von Schäffle beschriebene adlige „Mikrokosmos“ nicht mehr auf die adlige Gruppe bezogen wurde, sondern auf Individuen, und insofern die Entwicklung zum modernen Individualismus nachzeichnete. Damit repräsentiert Bluntschli das Scharnier der älteren Adelsreformideen, die sich noch an den überkommenen Adligkeitselementen der Sozialformation Adel orientierten, und den neurechten, völkischen Neuadelsideen, die aber erst dreißig Jahre nach Bluntschli zu voller Blüte kommen sollten.10 Dieser Bedeutungsübergang in den Adelsreformkonzepten führte dazu, dass um 1900 der historische Adel nur noch als Folie oder Fiktion realitätsenthobener Neudadelsideen diente, und der „Indian Summer der Neuadelsdebatten“ (Malinowski) in der Weimarer Republik und im Dritten Reich die „Kreolisierung“ der adligen Kultur durch Bürgerliche zu einem Gipfelpunkt führte, an dem der „Neue Adel“ endgültig zum „ahistorischen Konstrukt“ (Conze) wurde.11

Resümee Das Phänomen der Adelsreformprogramme wurde in der vorliegenden Arbeit als antizipative, intellektuell vorweggenommene Reaktion auf die sich abzeichnende Auflösung der adligen Lebenswelten gedeutet. Dabei zeigten sich in diesen früheren Deutungsprozessen teilweise schon Tendenzen und Entwicklungen, die in den neurechten Suchbewegungen nach einem „Neuen Adel“ zur vollen Ausbildung kommen sollten. Neben einer Reduktion und Zuspitzung adliger Selbstzuschreibungen beförderte der Adelsreformdiskurs die noch lang anhaltende Identifikation von Adel mit „Elite“ in der weiteren Gesellschaft, und leistete wichtige argumentative

10 Diese eigentümliche Verbindung von biologischer („rassischer“) Auslese von Dispositionen („gezüchtete Auslese begabter Geschlechter“) und individuell nachzuweisender Bewährung wurde für den Neuadelsgedanken auf der Grundlage von „Blut und Boden“ nach Darré im Dritten Reich maßgeblich, vgl. Conze, Adel unter dem Totenkopf, S. 164. Darrés Titelvorschläge für diesen „Neuen Adel“ erinnern besonders deutlich an die Neuadelsvorschläge durch Streckfuß in den 1840er Jahren: „Edelmann“, „Edler“ und „Reichs­edler“ für Hegehofbesitzer, Ebd., S. 172. 11 Malinowski, Vom König zum Führer, S. 17, 119. Conze, Adel unter dem Totenkopf, S. 164, S. 156.

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 5. Schluss: Zusammenfassung und Resümee

Vorleistungen für den (intellektuellen) „Aristokratismus im demokratischen Zeitalter“ um 1900.12 Indem darin Elitenqualifikationen evoziert wurden, die jenseits ökonomischer Potenz und Rationalität angesiedelt waren, blieb in der öffentlichen intellektuellen Debatte über Staats- und Gesellschaftsreformen die Qualität einer „Adligkeit“ als Auslesekriterium lebendig. Ursprünglich exklusiv auf die Sozialformation des Adels bezogene Eigenschaften, die nicht allein funktional und sachbezogen orientiert waren wie z.B. „Ehre“, „Familiensinn“, soziales Auftreten (Habitus), und damit konnotierte kulturell-spirituell-ideelle Qualitäten, ließen sich so als Leitwerte für die ganze Gesellschaft, vor allem die Bildungsschichten propagieren. Außerdem hielt dieser Diskurs die Werthaltigkeit ererbter, überindividueller Eigenschaften in der Gesellschaft wach: die Geburt als ein „Merkzeichen zur Entscheidung über die Vorzüge der Bewerber“ (Batocki-Tortilowitz 1826) führte dazu, dass noch um 1900 gerade durch Intellektuelle den Individuen über lange Ahnenreihen eine herausragende Akkumulation von überindividuellen Merkmalen zugeschrieben werden konnte. Zugleich verband sich mit den Ideen eines „Neuen Adels“ die Vorstellung von Führung als „Herrschaft“ durch eine Wert-, Leistungs-, Funktions-, und Machtelite, für die das Geburtskriterium als legtitimes Rekrutierungskriterium beibehalten wurde (Geburtsauslese). Die ursprünglich mit der Idee einer Adelsreform angestrebte Alternative zur Radikalität (zwischen Beharrung oder Revolution, Konstitutionalisierung oder Absolutismus/Autokratie) hatte schließlich eine Radikalisierbarkeit ganz eigener Art hervorgebracht.

12 Vgl. Gerstner, Neuer Adel, S. 12.

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Periodika Deutsches Adelsblatt Zeitung für den deutschen Adel („Adelszeitung“)

Handbücher und Lexika Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) Conversations-Lexikon der Gegenwart. In vier Bänden. Erster Band, Brockhaus, Leipzig 1838 Deutsche Biographische Enyklopädie (DBE) Genealogisches Handbuch des Adels (GHdA) Gothaisches Genealogisches Taschenbuch (Gotha) Handwörterbuch der Staatswissenschaften (Stichwort Fideikommiss), hrsg. v. Ludwig Elster u.a., Dritter Band, Jena 1926 Lexikon des Konservatismus, hrsg. v. Caspar v. Schrenck-Notzing, Graz 1996 Neue Deutsche Biographie (NDB) Zedlitz-Neukirch, Leopold v.: Neues preußisches Adelslexikon, Leipzig 1836

Personenregister Von inhaltlich begründeten Ausnahmen abgesehen verweist das Personenregister nur auf Nennungen im Haupttext und lässt Fußnoten unberücksichtigt. Ebenfalls wurden nur adelspolitisch relevante Namensbezüge aufgenommen. König Friedrich Wilhelm IV. ist aufgrund seiner regelmäßigen Nennung nicht eigens ausgewiesen. Die Namensliste der Anwesenden bei der Gründungsversammlung des projektierten „Adelsvereins“ von 1841 findet sich auf S. 576, Anmerkung 273. Alvensleben, Albrecht Graf v. 299, 300, 321, 340, 344 Alvensleben, Carl Ludwig Friedrich Wilhelm Gustav v. 25, 59, 464, 467, 468, 469, 473, 474, 523, 579, 580 Amstetter, Ober-Landesgerichtsrat v. 343 Ancillon, Jean Pierre Frédéric 251, 259-262, 267 Arndt, Ernst Moritz 201 Arnim auf Heinrichsdorff und Werbelow, Heinrich Friedrich v. 343 Arnim-Boitzenburg (Geschlecht) 269 Arnim-Boitzenburg, Adolf Heinrich Graf v. 402, 406, 421, 424, 428, 637, 641 Arnim, Achim v. 175, 201-210, 247, 250, 448, 596, 600, 655, 667 Arnim, Bettina v. 208 Arnim, Philipp v. 17, 31, 51 Auer, Ludwig Kasimir v. 542 Auerswald, Alfred v. 224 Auerswald, Hans Jakob v. 164, 220 Babtist v. Pfeilschifter, Johann 472 Bardeleben, Kurt v. 224 Batocki, Wilhelm Tortilowicz v. 542, 543, 545, 548, 549, 668, 670 Baumgarten, Herrmann 12 Below-Hohendorf, Alexander v. 640 Bethmann-Hollweg, Professor Moritz August v. 351, 353, 354, 375-379, 390, 398-402, 642, 663 Beyme, Karl Friedrich v. 143, 225 Bismarck, Landrat und Domherr (Stendal) 194 Bismarck, Otto v. 13, 273, 620, 650 Blum, Robert 551 Blumenthal auf Varzin, Graf v. 305, 306 Bluntschli, Johann Caspar 40, 633, 668, 669 Bodelschwingh, Ernst v. 419, 425, 426, 428, 430 Boyen, Hermann Ludwig v. 278, 279, 300, 344, 402, 424, 428, 430

Brandes, Ernst 85, 86, 100-104, 160, 168, 655 Buchholz, Friedrich 75, 76, 77, 78, 79, 80, 181, 182, 192 Buhl, Ludwig 561, 562, 564 Bülow, Heinrich Freiherr v. 300 Bülow-Cummerow, Ernst v. 526, 562 Bunsen, Christian Karl Josias Freiherr v. 40, 406-421, 432, 603, 610, 625, 636 Burke, Edmund 101, 160-162 Canitz und Dallwitz, Karl Wilhelm Ernst Freiherr v. 300, 425, 426-428, 430 Cölln, Friedrich v. 76 Coubertin, Pierre de Frédy Baron de 541 Crousaz-Chexbres, Julius Karl August Heinrich Baron v. 577-579 d’Ivernois, Francois 167, 169 Dohna-Schlobitten (Geschlecht) 542, 545-548, 555, 585, 596, 602, 610, 613, 658 Dohna-Schlobitten, Friedrich Ferdinand Alexander, Burggraf und Graf zu 88, 89, 106, 119, 121-127, 129, 219, 221, 270 Dönhoff-Hohendorff, Graf v. 175, 225, 226-228, 555, 622, 661 Drechsel, Carl August Graf v. 36 Eichhorn, Karl Friedrich 251, 300, 344 Eickstaedt-Peterswald, Herr v. 304 Einsiedel, Heinrich Alexius Freiherr v. 476 Eisenhart, Hugo 631-633 Engels, Engels 464, 465, 469, 495 Fontane, Theodor 465 Franke, Heinrich 468, 474, 475 Friedrich I. (König) 150 Friedrich II. (König) 72, 148, 151, 153, 277 Friedrich Wilhelm I. (König) 138, 148, 150, 151 Friedrich Wilhelm II. (König) 141, 148, 153, 254

694 

 Personenregister

Friedrich Wilhelm III. (König) 147, 176, 254, 278, 292, 297, 299, 357, 467, 583, 588 Friese, Karl Ferdinand 258 Gallitzin, Amalie Fürstin v. 232 Gaupp, Ernst Theodor 631, 642-644, 646 Gebel, Joseph Bernhard August 108 Gentz, Friedrich (v). 75, 260, 261, 662 Gerlach, Ernst Ludwig v. 605, 640 Gerlach, Leopold v. 308, 309, 319, 427, 640 Giech-Buchau, Franz Friedrich Carl Graf v. 14, 514, 618, 619 Gneisenau, August Wilhelm Antonius Neidhardt (v.) 204, 237, 354, 377 Gneist, Heinrich Rudolf Herrmann Friedrich (v.) 19, 634 Gneist, Rudolf v. 19 Goldbeck auf Blumberg, Präsident v. 195, 201 Göschel, Carl Friedrich 350 Grävell, Maximilian Karl Friedrich Wilhelm 500 Grolmann, Heinrich Dietrich v. 125, 126 Halbwachs, Maurice 189 Haller, Karl Ludwig v. 214, 216, 350 Hardenberg, Karl August Freiherr v. 88-89, 126, 127, 177-180, 249-255, 257, 269, 575, 597-599 Haxthausen, August Franz Ludwig Maria Freiherr v. 536 Haxthausen, Werner Moritz Maria Freiherr v. 175, 230, 231, 233, 534, 535, 536, 537, 538, 540, 555 Hegewisch („Baltisch“), Franz Hermann 625 Helbig, Julius 475, 478 Held, Hans Heinrich Ludwig v. 76 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 350 Hertzberg, Ewald Friedrich Graf v. 112 Hippel, Theodor v. 79, 258 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 465, 550 Hoym, Karl Georg Heinrich v. 67 Hülsen, August Ludwig 211 Hülsen, Carl Graf v. 517, 576 Humboldt, Friedrich Wilhelm Christian Karl v. 251-253, 257, 260, 266, 623 Itzenplitz auf Kunersdorf und Behnitz, Peter Alexander Graf v. 195, 196 Jagow auf Stresow, Herr v. 194

Jahn, Friedrich Ludwig 474 Kamptz, Karl Christoph Albert Heinrich v. 299, 300, 321, 228, 329, 332, 333, 339-341, 343, 344, 346, 608 Ketteler, Friedrich v. 234 Kircheisen, Friedrich Leopold v. 119, 127 Kleist-Retzow, Hans Hugo v. 640, 641 Kleist, Heinrich v. 211 Klewitz, Theodor Anton v. 83, 193 Knigge, Adolph Franz Friedrich Ludwig 11 Knobelsdorf auf Sellin, Landrat v. 194 Königsmarck, Adolf Wilhelm Hans v. 165 Korff, Regierungsrat v. 234 Kröcher auf Vinzelberg, Landrat v. 194 Künßberg auf Thurnau, Uso Baron 514, 515, 575, 576, 618 Lancizolle, Karl Wilhelm v. Deleuze de 350, 351, 381-393, 396-398, 402, 616, 667 Landsberg-Velen, Ignaz v. 234 Laßberg, Joseph Maria Christoph Freiherr v. 532-541, 555 Leiningen, Karl Fürst v. 14, 619 Leo, Heinrich 350 Liebe, Friedrich August 452-455, 666 Luden, Heinrich 187 Manteuffel, Otto Theodor Freiherr v. 640, 642 Marwitz, Friedrich August Ludwig v. d. 175, 177-193; 196-199, 201, 204-206, 208, 211-214, 219, 220, 227, 228, 231, 233, 235, 247, 248, 455, 555, 588, 596, 655, 660, 667 Massenbach, Christian Karl August Ludwig v. 76 Medem, Friedrich Ludwig Karl Freiherr v. 525-527 Merveldt, Graf v. 234 Metternich, Klemens Wenzel Lothar 276, 425 Mirbach-Harff, Johann Wilhelm Freiherr v. 175, 230-234, 237-242, 555 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de 84, 85, 94, 100, 101 Möser, Justus 40, 100, 101, 103, 104, 111, 160, 214, 548, 569, 655 Motte Fouqué, Friedrich de la 25, 37, 59, 60, 175, 201, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 247, 464, 466, 467, 469, 472, 473, 474, 475, 477, 478, 480, 482, 486, 488, 489, 490, 494, 496, 497, 498, 499, 500, 501, 502, 503, 504, 505, 508, 520, 530, 531, 535, 537, 540, 555, 574, 579, 665, 666, 667

Personenregister 

 695

Müffling, Karl Freiherr v. 243-246, 584 Mühler, Heinrich Gottlob v. 321, 324-331, 333-335, 338-346, 583, 608 Müller, Adam 75, 183, 186, 191, 205, 234

Rotenhan, Hermann Ernst Freiherr v. 619 Rother, Christian v. 344, 428 Rotteck, Carl v. 565 Rundstedt auf Schönfeld, Obristlieutnant v. 194

Napoleon Bonaparte 46, 54, 56, 65, 66, 79, 92-96, 128, 172, 205, 244, 332, 372, 464, 483, 540, 546 Neigebauer, Johann Daniel Ferdinand 630 Nesselrode-Reichenstein, Johann Franz Josef Graf v. 240 Niebuhr, Barthold Georg 130, 172 Normann zu Cottbus/Neumark, Landrat v. 194 Novalis (d.i. Georg Friedrich Philipp v. Hardenberg) 281

Sack, Johann August 155, 525, 596 Sauerma auf Zülzendorf, Graf v. 304-306, 318 Savigny, Friedrich Karl v. 205, 300, 351, 353, 379-381, 390, 391, 394, 395, 397, 398, 402-404, 421, 428, 430, 434-446, 456, 605, 667 Schäffle, Albert 236, 631-634, 666, 669 Schele-Schelenburg, Eduard August Friedrich Freiherr v. 510-512 Schierstädt auf Schöningen (Pommern), Rittergutsbesitzer 195 Schlereth, Karl Freiherr v. 576, 577, 579 Schlosser, Dr. Christian Friedrich 233-235, 476 Schlosser, Johann Georg 233-235, 476, 534 Schmalz, Theodor 277-279 Schmitt, Carl 281, 400, 664 Schön, Heinrich Theodor v. 87, 92, 115, 164, 166, 171, 543, 545 Schönberg, Moritz Haubold v. 259 Schroetter, Friedrich Leopold Reichsfreiherr v. 83, 114 Schroetter, Karl Wilhelm v. 114 Schuckmann, Kaspar Friedrich v. 220, 221, 251, 259, 265, 583, 590-592, 599 Schwanenfeldt, Ernst Sartorius v. 223, 521 Skorzewski in Gnesen, Graf v. 305, 306 Smith, Adam 84, 163, 164 Solms-Laubach, Friedrich Ludwig Graf v. 230 Staegemann, Friedrich August v. 83 Stahl, Friedrich Julius 350, 638, 639 Stein, Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum 44, 56, 80, 81, 83, 84-97, 100, 107-112, 149, 167, 168, 171, 176, 204, 230, 232-241, 265, 529, 533, 534, 554, 618, 655, 660 Stein zum Altenstein, Karl Sigmund Franz Freiherr vom 88, 89, 182, 594 Stillfried v. Rattonitz-Alcántara, Rudolf Maria Bernhard Graf 40, 560, 561, 567-573, 586, 661, 664 Stolberg-Wernigerode, Anton Graf zu 297, 321, 340, 344, 346, 348, 349, 350, 353, 355, 356, 396, 398, 419, 430, 433, 532 Stolberg, Friedrich Leopold Graf v. 188, 232, 532, 536, 660

Pareto, Vilfredo 45, 162 Perthes, Christoph Friedrich 214-217 Popper, Karl 392 Pückler-Muskau, Hermann Ludwig Heinrich Fürst v. 279, 411, 549, 624-631, 633, 636, 638 Quast auf Garz, Geheimer Staatsrat 196 Quitzow auf Bertkau, Herr v. 194 Radowitz, Joseph v. 280, 423, 428, 429, 442, 443, 444, 446, 447, 448, 449, 450, 451, 453, 454, 455, 456, 458, 531, 630, 641, 655, 656, 667, 668 Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius v. 99 Raumer, Friedrich Ludwig Georg v. 119-122, 166, 167 Raumer, Georg Wilhelm v. 352, 356, 365-375, 390-393, 395-399, 416, 434-440, 455, 456, 570, 584, 663, 667 Raumer, Karl Georg v. 595, 599 Recke, Eberhard Friedrich Christoph Ludwig Freiherr v. d. 184 Rehberg, August Wilhelm 86, 100, 104, 105, 109, 111, 160, 621, 655 Rehdiger, Karl Nikolaus v. 107-109, 622, 658 Reigersberg, Graf August v. 618 Rochow-Reckahn, Gustav Adolf v. 175, 182, 193, 195 198, 238, 299, 300, 302, 303, 307, 309, 310, 320, 344, 355, 361, 375, 379, 387, 430, 560, 608, 622 Rochow-Stülpe, Adolf Friedrich August v. 175, 195, 198 200, 226, 309, 347-349, 353, 357 361, 390, 392, 395, 396, 471, 524, 555, 573, 608 Rochow, Theodor v. 428

696 

 Personenregister

Streckfuß, Adolf Friedrich Carl 352, 360-365, 390, 392-398, 401, 430, 658 Thadden-Trieglaff, Adolf v. 256 Thaer, Albrecht Daniel 165, 166 Thile, Ludwig Gustav v. 300, 344, 350, 402, 428, 430, 433, 443, 444, 455-457, 605 Tomasi di Lampedusa, Giuseppe V. 30 Treitschke, Heinrich v. 18, 274, 281 Truchseß v. Waldburg, Ferdinand Ludwig Graf 452, 453 Tzschoppe, Gustav Adolph (v.) 592-599 Uhden, Karl Albrecht Alexander 428, 605 Varnhagen von Ense, Karl August 596 Vehse, Eduard 160 Vincke, Friedrich Ludwig Wilhelm Philipp Freiherr v. 107, 167-169, 170-172, 182, 259, 262, 554, 629, 638 Vincke, Ludwig Freiherr v. 107, 167 -172, 182, 259, 262, 554, 629, 638

Voß-Buch, Karl v. 308, 309, 402, 404, 405, 441, 616 Voß-Buch, Otto Karl Friedrich v. 195, 196, 201, 258, 259 Weber, Alfred 17 Weber, Max 23 Welcker, Carl 563, 564, 565, 566, 567, 572, 573, 579, 625, 631, 666 Westerholt, Familie v. 234 Westphalen, Ferdinand Otto Wilhelm v. 640, 648-650 Wilhelm I. (König) 620 Winterfeld-Nieden (Prenzlau), Vater und Sohn 195 Wittgenstein, Wilhelm Fürst zu Sayn- 259, 299, 300, 303, 304, 307, 321, 335, 340, 401, 467, 469, 470, 588-590 Wylich und Lottum, Karl Friedrich Heinrich Graf v. 244, 594 Yorck v. Wartenberg, Hans David Ludwig 160, 228 Young, Arthur 166