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German Pages 599 [600] Year 1996
Adalbert Stifter Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann Neue Zugänge zu seinem Werk Herausgegeben von Hartmut Laufhütte und Karl Möseneder
Adalbert Stifter Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann Neue Zugänge zu seinem Werk
Herausgegeben von Hartmut Laufhütte und Karl Möseneder
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996
Gedruckt mit Unterstützung der Dr. Hans-Karl Fischer-Stiftung Passau. der Emst-PietschStiftung Deggendorf, der Sparkasse Passau und der Innstadt-Brauerei Passau.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Adalbert Stifter : Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann ; neue Zugänge zu seinem Werk / hrsg. von Hartmut Laufhütte und Karl Möseneder. Tübingen : Niemeyer 1996. NE: Laufhütte, Hartmut [Hrsg.] ISBN 3-484-10719-7 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg. Druck: Guide-Druck, Tübingen. Einband: Heinr. Koch, Tübingen.
Inhalt
Vorwort
XI
Teil I. K u n s t t h e o r e t i s c h e s , P o e t o l o g i s c h e s und andere werkübergreifende Konzepte
1
Christian B e g e m a n n (Würzburg) „ R e a l i s m u s " o d e r „ I d e a l i s m u s " ? Über einige S c h w i e r i g k e i t e n bei der R e k o n s t r u k t i o n von Stifters K u n s t b e g r i f f
3
Karl M ö s e n e d e r (Erlangen) S t i m m u n g und E r d l e b e n . Adalbert Stifters Ikonologie der L a n d s c h a f t s m a l e r e i
18
Ferdinand van Ingen (Amsterdam) Band und Kette. Z u einer D e n k f i g u r bei Stifter
58
Sibylle A p p u h n - R a d t k e (München) „Priester des S c h ö n e n " . Adalbert Stifters Künstlerbild z w i s c h e n t h e o r e t i s c h e m A n s p r u c h , literarischer Darstellung und g e s e l l s c h a f t l i c h e r Realität
75
J o h a n n L a c h i n g e r (Linz) A d a l b e r t S t i f t e r - N a t u r - A n s c h a u u n g e n . Z w i s c h e n Faszination und R e f l e x i o n
96
Lothar S c h n e i d e r (Gießen) Das K o m m a im Frack. Adalbert Stifter, von H e b b e l s Kritik aus betrachtet
105
Jörg Kastner (Passau) Die Liebe im Werk Adalbert Stifters
119
J o a c h i m W. S t o r c k Eros bei S t i f t e r
135
(Freiburg)
VI
h,hall
Walter Seifert (Passau) Literaturidee und Literaturdidaktik bei Adalbert Stifter
157
W i l f r i e d Lipp (Linz) A d a l b e r t Stifter als „ C o n s e r v a t o r " ( 1 8 5 3 - 1 8 6 5 ) . Realität und Literatur
185
Teil II. Zu größeren W e r k z u s a m m e n h ä n g e n
205
A l f r e d Doppler (Innsbruck) S t i f t e r im Kontext der B i e d e r m e i e r n o v e l l e
207
M a r t i n Lindner (München) Abgriinde der U n s c h u l d . T r a n s f o r m a t i o n e n des g o e t h e z e i t l i c h e n B i l d u n g s k o n z e p t s in Stifters . S t u d i e n '
220
L u d w i g M. Eichinger (Passau) Beispiele einer Syntax der L a n g s a m k e i t . Aus Adalbert Stifters Erzählungen
246
S t e f a n Schmitt (Passau) Adalbert Stifter als Z e i c h n e r
261
Teil III.
309
Zu einzelnen Werken
M a r i a n n e W ü n s c h (Kiel) N o r m e n k o n f l i k t zwischen „ N a t u r " und „Kultur". Zur Interpretation von Stifters E r z ä h l u n g ,Der H o c h w a l d '
311
Michael Titzmann (Passau) Text und Kryptotext. Zur Interpretation von Stifters E r z ä h l u n g ,Die Narrenburg'
335
W o l f g a n g Lukas (Kiel) G e s c h l e c h t e r r o l l e und Erzählerrolle. Der Entwurf einer n e u e n A n t h r o p o l o g i e in Adalbert Stifters E r z ä h l u n g ,Die M a p p e m e i n e s Urgroßvaters'
374
Wilhelm Kühlmann (Heidelberg) Von Diderot bis Stifter. Das Experiment aufklärerischer Anthropologie in Stifters Novelle . A b d i a s '
395
Inhalt
VII
Christian von Z i m m e r m a n n (Heidelberg) .Brigitta' - seelenkundlich gelesen. Zur Verwendung „kalobiotischer" L e b e n s m a x i m e n F e u c h t e r s l e b e n s in Stifters E r z ä h l u n g
410
Hans-Werner Eroms (Passau) Ansätze zu e i n e r s p r a c h l i c h e n A n a l y s e von Stifters E r z ä h l w e i s e in den . S t u d i e n ' am Beispiel der E r z ä h l u n g .Zwei S c h w e s t e r n '
435
Birgit Ehlbeck (Marburg) Zur p o e t o l o g i s c h e n F u n k t i o n a l i s i e r u n g des E m p i r i s m u s am Beispiel von Stifters . K a l k s t e i n ' und . W i t i k o '
455
Helmut Barak (Wien) „Gute F r e u n d i n " und „ g l ä n z e n d e r Künstler". Die dichterisch gestaltete W i r k l i c h k e i t in Stifters E r z ä h l u n g . T u r m a l i n '
476
Hartmut L a u f h ü t t e (Passau) Der . N a c h s o m m e r ' als Vorklang der literarischen M o d e r n e
486
Hans-Peter Ecker (Passau) „ D a r u m m u ß dieses Bild vernichtet w e r d e n " . Über w i s s e n s c h a f t l i c h e Sinnspiele und poetisch gestaltete M e d i e n k o n k u r r e n z am Beispiel von Stifters . N a c h k o m m e n s c h a f t e n '
508
Teil IV.
525
Rezeption
Václav Maidl (Prag) Stifters R e z e p t i o n in den b ö h m i s c h e n Ländern
527
Emanuel Schmid (Regensburg) Viele Wege f ü h r e n in die Ewigkeit. Adalbert Stifters Einzug in die Walhalla
538
Anhang
567
Register
571
Vorwort
Die s e c h s u n d z w a n z i g hier vorgelegten Aufsätze sind das Ergebnis eines Symposions, das unter dem Titel .Adalbert Stifter interdisziplinär. Das Werk des Dichters, Malers und D e n k m a l p f l e g e r s ' , von den beiden Herausgebern veranstaltet, vom 20. bis zum 24. April 1994 in der Universität Passau stattgefunden hat. Die Zielsetzung jener Veranstaltung und dieser Publikation waren bzw. sind dieselbe; daher scheint es sinnvoll, aus der E r ö f f n u n g s a n s p r a c h e des einen der beiden Veranstalter ein paar Passagen mitzuteilen. Fünf Tage Stifter! Hält man das aus? Es gab und gibt Leute, die, so befragt, mit Inbrunst „Nein!" brüllen würden. Früher hätte ich dazugehört. „Drei starke Bände! Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen", schrieb der „Kunstrichter" Friedrich Hebbel zum frisch erschienenen ,Nachsommer ' und fügte, im Rückblick auf das frühere Schaffen seines Opfers hinzu: „Zuerst begnügte er sich, uns die Familien der Blumen aufzuzählen, die an seinen Lieblingsplätzen gedeihen; dann wurden uns die Exemplare vorgerechnet, und jetzt erhalten wir das Register der Staubfäden."1 So geht das bekanntlich noch eine Weile weiter. Natürlich ist's böse Diffamierung, und der Verdacht liegt so fern nicht, der „Kunstrichter" Hebbel habe selbst nicht ausgelesen. Aber wer, solche Frechheiten hörend oder lesend und sich gewisser Lektüre-Leiden erinnernd, wäre nicht ein wenig zu schadenfroher Bestätigung geneigt? Meine Neigung war besonders groß. Ich habe Stifter viele Jahre lang inständig gehaßt. Ein Schulschaden. Zweite Gymnasialklasse, ein naiver Stifteranbeter als Deutschlehrer und wochenlang nichts als das .Haidedorf', von dem sich uns nichts mitteilte, als daß es unerträglich langweilig sei. Das wirkte weiter und machte aufnahmebereit für jeden billigen Witz in späteren Jahren: .Das Komma im Frack' - .Der sanfte Unmensch':2 ich war lange bereit, solche Flapsigkeiten so treffend wie zutreffend zu finden - bis ich eines beschä-
'
Friedrich Hebbel. Sämmtliche Werke. Historisch kritische Ausgabe. Besorgt von Richard Maria Werner. Abt. 1. Bd. 12. Nachdruck Bern 1970, S. 184f. Ebd., S. 189. - Arno Schmidt. Der sanfte U n m e n s c h . Einhundert Jahre Nachsommer. In: A S. Dya na sore. Gespräche in einer Bibliothek. F r a n k f u r t a.M. 1985 (Reprint der Ausgabe Karlsruhe 1958), S. 194-229.
XII
Vorwort
mend späten Tages zu der Einsicht gelangte, es sei doch allzu billig, ßotte Sprüche besser zu kennen als den Gegenstand, dem sie gelten. Genaues Hinsehen half, wie stets, auch in diesem Fall, und dann wurde es anders. Warum jetzt ein Stifter-Symposion? Und warum gar eines, das nicht nur den Dichter meint? Ein wenig hat es, soweit es mich betrifft, natürlich mit später Wiedergutmachung zu tun. Aber ernstzunehmende Gründe gibt es auch, z.B. diesen: Es ist immer noch nötig, den allzu gekannten, in Wahrheit ziemlich unbekannten Stifter zu entdecken. Von Anfang an ist er Gegenstand einer nahezu tödlichen Verehrungsbereitschaft gewesen, als Dichter einer vermeintlich heilen Welt und heilenden Natur, liebevoll verehrter Heimat, pietätvoll erinnerter näherer und fernerer Geschichtlichkeit, als gemütvoll-gemütlicher Schilderer intakten Lebens, bewahrter Formen, geheiligter Traditionen.3 Ein solcher Stifter bot Anlaß und Gelegenheit, das eigene Ressentiment gegen Entwicklungen der jeweiligen Gegenwart zu bestätigen und zu legitimieren und seine vermeintlich heile Welt als ein Refugium zu betrachten, in welches der Alltag des Lebens nicht hineinreicht. - Eben dies, so lautet, ebenfalls von Anfang an, der Tenor eines anderen Lesemusters, macht das Rückständige, Unehrliche, ja geradezu Gefährliche des Stifterschen Werkes aus. Der Stifter dieser Lesart ist der zwar liebevoll betuliche, aber auch - bestenfalls - entsprechend harmlose, spießbürgerliche, idyllensüchtige Maler der heimatlichen kleinen Welt, die sich nur dadurch als ,heile Welt' habe inszenieren lassen, daß sie an den verdrängten oder ignorierten Realitäten der eigenen Zeit vorbei beschworen worden sei. Stifters gesamtes Schaffen sei ein Anachronismus, der Titel ,Nachsommer' über die Absicht des Autors hinaus symptomatisch. Der Anachronismus eines solchen Werkes aber sei komplementär zu seiner Mißbrauchbarkeit durch allerlei reaktionäre Bewußtseinslagen und ihre Vertreter. Wer sich auf Stifters Texte einläßt, kann beide Rezeptionsmuster nur bestaunen. Das hagiographische Bild blendet nicht unerhebliche Teile des Werkes einfach aus. Die Gegenposition aber setzt ein Verständnis von Dichtung voraus, das keineswegs Anspruch auf allgemeine Gültigkeit behaupten kann. Es ist die - erstmals wohl im ,Vormärz' ausgebildete, seither vielfach aktualisierte - Vorstellung, Dichtung habe auf gesellschaftlich-politische Konstellationen zu reagieren, mit Anderungsabsicht auf sie einzugehen, sei jedenfalls vor allem aus ihnen zu erklären. Beide Einstellungen neigen im übrigen dazu,
1
M e y e r s N e u e s K o n v e r s a t i o n s - L e x i k o n b e u r t e i l t S t i f t e r ( B d . 14 [ 1 8 6 7 . ] , S . 9 4 2 ) s o : „ S . s A r b e i t e n g e h ö r e n zu dem Z a r t e s t e n und S i n n i g s t e n , was die n e u e e r z ä h l e n d e P o e s i e in D e u t s c h l a n d h e r v o r g e b r a c h t hat, und z w a r b e s t e h t ihre B e d e u t u n g v o r n e h m l i c h in e i n e r bis ins F e i n s t e d u r c h g e f ü h r t e n C h a r a k t e r i s t i k . D i e S p r a c h e ist die des g e w ä h l t e s t e n G e s c h m a c k s und der v o l l e n d e t s t e n B i l d u n g und d o c h d u r c h a u s n a t ü r l i c h . O r i g i n e l l sind die N a t u r s c h i l d e r u n g e n , in d e n e n der D i c h t e r a u c h die k l e i n s t e n E i n z e l h e i t e n zu e i n e m e b e n s o h a r m o n i s c h e n als p o e t i s c h e n G e m ä l d e z u s a m m e n z u f ü g e n v e r s t e h t . "
Vorwort
XIII
Stifters vor anderthalb Jahrhunderten entstandenes Werk so zu lesen, als sei es von heute. Das geht bekanntlich auch bei erheblich jüngeren Autoren selten gut. Natürlich soll hier nicht so getan werden, als habe es nur diese verbreiteten, einander gegenseitig verstärkenden Leseweisen gegeben. Doch hat der differenzierende Blick, dem wir aufschlußreiche Beiträge der Wissenschaft verdanken, zu einer Differenzierung des Stifter-Bildes in breiteren Leserkreisen noch kaum geführt. Dazu beizutragen ist eine der Zielsetzungen dieser öffentlichen Veranstaltung. Sie soll demonstrieren, daß dieser Autor erst wirklich interessant wird, wenn die Hinter- und Abgründigkeiten seines Werkes sichtbar werden und deren Zusammenhang mit Erfahrungen und Problemen der Zeit, in der es entstand; daß es uns heute mehr mitzuteilen hat, wenn wir es uns historisch machen, als wenn wir es anachronistisch aktualisieren. Die Wissenschaft kann dazu gegenwärtig viel beitragen. Interessante Dinge sind im Gang. Die Literatur des 19. Jahrhunderts ist neuerdings als eine ,terra incognita' Gegenstand vielfältigen Interesses geworden. Vor allem die Epoche des sogenannten Realismus und dessen, was als seine Vorgeschichte gilt, des ,Biedermeier', steht im Zentrum vielfältigen wissenschaftlichen Bemühens. Und Adalbert Stifter ist zu einem der interessantesten Repräsentanten dieser Periode avanciert. Die Publikationen der jüngsten Zeit - einige ihrer Verfasser sind unter uns - wecken Neugierde und versprechen Aufregendes für die Zukunft.4 Auch in die seit Jahren stagnierende Arbeit an der neuen historischkritischen Stifter-Ausgabe ist neue, wie zu hoffen ist, dauerhafte Bewegung gekommen.5 Jemand, der diese Dinge wahrnimmt, kann leicht auf die Idee verfallen, durch Bündelung derzeitiger Aktivitäten könne man vorhandene Impulse verstärken und neue einbringen. Auch das ist eines unserer Anliegen. Noch etwas anderes ist gemeint. Jeder, der etwas über Adalbert Stifter weiß, kennt auch die Etikettierung ,Mehrfachbegabung', die ihm schon zu Lebzeiten zuteil geworden ist:6 ein bißchen Maler war er auch, Naturwissenschaftler ebenfalls, desgleichen Denkmalpfleger und Schulmann außerdem. Die Aktivitäten der Stifter-Forschung gelten seit je vor allem dem Erzähler. Die anderen
5
6
Das gilt besonders für den größten Teil der Beiträge zu dem Antwerpener Stifter-Sym posion vom Oktober 1993, die seit kurzem auch gedruckt vorliegen: Adalbert Stifters schrecklich schöne Welt. Beiträge des internationalen Kolloquiums zur A. Stifter-Ausstellung (Universität Antwerpen 1993). Hrsg. von Roland Duhamel, Johann Lachinger, Clemens Ruthner, Petra Göllner. Brüssel/Linz 1994 (Acta Austriaca 1 = Germanistische Mitteilungen [Brüssel] 40/1994; Jahrbuch des A.-Stifter-Instituts [Linz] 1/1994). Dazu war anläßlich des Antwerpener Symposions Ermutigendes zu erfahren. Einer der beiden Herausgeber dieses Bandes hatte Gelegenheit, an einer Arbeitsbesprechung des Herausgeberteams im N o v e m b e r 1994 teilzunehmen, das die Planung der weiteren Arbeit betraf. Vgl. hierzu den Beitrag von Stefan Schmitt in diesem Band, insbesondere S. 261 sowie Anm. 4.
XIV
Vorn'ort
Bereiche sind in den literaturwissenschaftlichen Arbeiten meist mehr oder weniger rhetorisch präsent. In den viel weniger zahlreichen Arbeiten zu den anderen Bestandteilen des Lebenswerkes werden die erzählenden Texte Stifters in der Regel als Quellen für die Dokumentation pädagogischer, denkmalpflegerischer, kunsttheoretischer Ansichten Stifters genutzt, wobei die Abhängigkeit entsprechender Verlautbarungen in den Erzählungen von deren fiktionalem Gefüge selten reflektiert wird, was notwendig zu Verzerrungen und Unausgewogenheiten führen mußte. Es ist eine glückliche Konstellation, daß die beiden Veranstalter in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich einander sehr entsprechende Ansichten über ästhetische Strukturen und Probleme in der in Rede stehenden Epoche haben und von daher einander ensprechende Erkenntnisinteressen auch hinsichtlich dieses Autors und der verschiedenen Bestandteile seines Werkes. So ergab sich die Idee zu dieser Veranstaltung fast von selbst. Wir wollen die verschiedenen Bereiche des Stifterschen Lebenswerkes näher aneinander heranbringen und danach fragen, wie sie zusammenhängen und inwiefern sie „gleichzeitig" sind. Schließlich ein letztes Motiv, das uns zu dieser Veranstaltung und zu der offenen Form motiviert hat, in der wir sie abwickeln wollen. Adalbert Stifter ist wirklich ein Dichter dieser Region. Im benachbarten Böhmen ist er geboren, im nahegelegenen Linz hat er nicht den längsten, aber den produktivsten Teil seines Lebens verbracht, die unmittelbare Umgebung, Wald- und Mühlviertel, der Bayerische und der Böhmerwald, sind die Räume, in denen er gelebt hat, tätig war und die meisten seiner Geschichten spielen läßt; auch zur Stadt Passau gibt es Beziehungen. Immer noch ist ein auffälliges Zugehörigkeitsempfinden in der interessierbaren Öffentlichkeit dieser Region vorhanden. Das schien uns ein guter Ansatz zu sein, diese Öffentlichkeit teilhaben zu lassen und ihr zu zeigen, ννα.ϊ wir - auch in ihrem Interesse hier tun. " Die Öffentlichkeit der Region: sie hat ihr Interesse bekundet, in Gestalt unerwartet intensiven Besuchs aller Vorträge und kritischer Erörterung vieler, aber auch in anderer, f ü r die Veranstaltung buchstäblich grundlegender Weise. Das S y m p o s i o n ist ausschließlich aus Spendenmitteln aus Stadt und Region finanziert und mit vielfältiger Unterstützung befreundeter Institutionen durchgeführt worden. Die Spender waren die Stadtsparkasse Passau, die ErnstPietsch-Stiftung Deggendorf, die Innstadt-Brauerei Passau, das Adalbert Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. Bei der D u r c h f ü h r u n g hilfreich waren außer der Universität Passau die Staatliche Bibliothek und das Adalbert Stifter G y m n a s i u m Passau. Allen, Spendern und Helfern, sei anläßlich der Publikation des damals Vorgetragenen und Diskutierten nochmals öffentlich Dank bekundet. Das Interesse der regionalen Öffentlichkeit galt freilich nicht nur d e m S y m p o s i o n ; es erstreckt sich auch auf dieses Buch. Sein Erscheinen wurde ermöglicht durch Druckbeihilfen, die wir von der Dr. Hans-Karl Fischer-Stif-
\ umor!
XV
tung Passau und a b e r m a l s von der Ernst P i e t s c h - S t i f t u n g D e g g e n d o r f , der S p a r k a s s e Passau und der Innstadt-Brauerei Passau erhielten. D a n k gebührt aber auch den K o l l e g i n n e n und Kollegen, die nicht nur u n s e rer E i n l a d u n g zur M i t w i r k u n g an dem S y m p o s i o n e n t s p r a c h e n , s o n d e r n uns ihre Vorträge auch f ü r die V e r ö f f e n t l i c h u n g zur V e r f ü g u n g gestellt h a b e n . N u r bei d r e i e n von s e c h s u n d z w a n z i g war das nicht m ö g l i c h ; 7 d a f ü r k o n n t e n d i e j e nigen von Sibylle A p p u h n - R a d t k e , Martin Lindner und Christian v o n Z i m m e r m a n n f ü r die V e r ö f f e n t l i c h u n g h i n z u g e w o n n e n w e r d e n . S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k a n n ein f ü n f t ä g i g e s S y m p o s i o n und k a n n ein B a n d wie d i e s e r , trotz s e i n e s U m f a n g s , nicht das g e s a m t e m o m e n t a n e S p e k t r u m der w i s s e n s c h a f t l i c h e n S t i f t e r - D i s k u s s i o n r e p r ä s e n t i e r e n . D o c h w i r d d e r Leser an d e r Art d e r B e i t r ä g e b e m e r k e n , d a ß wir d a r u m b e m ü h t w a r e n , m ö g lichst viel und h i n s i c h t l i c h d e r m e t h o d i s c h e n O r i e n t i e r u n g wie d e r b e h a n d e l ten G e g e n s t ä n d e m ö g l i c h s t U n t e r s c h i e d l i c h e s , j a K o n t r o v e r s e s z u s a m m e n z u f ü h r e n und v e r g l e i c h b a r zu m a c h e n . Den R e f e r e n t e n w u r d e n g a r k e i n e , den B e i t r ä g e r n zu d i e s e m B a n d nur r e d a k t i o n e l l e Vorgaben g e m a c h t ; e n t s p r e c h e n d v i e l f ä l t i g , j a t e i l w e i s e k o n t r o v e r s ist, nach V e r f a h r e n , E r g e b n i s s e n und U m f a n g d e r e i n z e l n e n B e s t a n d t e i l e , das Bild, das sich hier d a r b i e t e t . Wir w i d e r s t e h e n der V e r s u c h u n g , es v o r a b als G a n z e s o d e r h i n s i c h t l i c h seiner Teile zu c h a r a k t e r i s i e r e n ; d e r L e s e r m ö g e sich selbst sein Urteil b i l d e n . Was sich w ä h r e n d d e s S y m p o s i o n s a n g e b a h n t hat, ein f r u c h t b a r e r D i a l o g zwischen - scheinbar oder wirklich - kontroversen Positionen, der zur präz i s i e r e n d e n E r k e n n t n i s s o w o h l d e r j e w e i l s e i g e n e n A r b e i t s g r u n d l a g e n als auch d e r b e h a n d e l t e n G e g e n s t ä n d e zu f ü h r e n versprach: das m ö g e sich f o r t setzen. E x e g e t i s c h e M o n o p o l a n s p r ü c h e haben in der S t i f t e r - P h i l o l o g i e zu lange S c h a d e n a n g e r i c h t e t , als daß man sich derzeit allzu viel H a r m o n i e w ü n schen sollte. Die A n o r d n u n g der B e i t r ä g e in diesem Band gibt nicht die von allerlei Term i n z w ä n g e n und I m p r o v i s a t i o n e n b e e i n f l u ß t e Folge der Vorträge wieder. Die vier A b s c h n i t t e , die wir gebildet h a b e n , gruppieren die Beiträge nach t h e m a t i schen S c h w e r p u n k t b i l d u n g e n und G e m e i n s a m k e i t e n des V e r f a h r e n s . M e h r e r e Z u o r d n u n g e n sind e t w a s willkürlich; einige Beiträge könnten a u c h in e i n e r a n d e r e n A b t e i l u n g e r s c h e i n e n , auch dies sei v o r a b e i n g e s t a n d e n . Wir haben darauf verzichtet, die L i t e r a t u r a n g a b e n in den F u ß n o t e n der einzelnen Beiträge zu v e r e i n f a c h e n und auf ein g e m e i n s a m e s L i t e r a t u r v e r zeichnis zu b e z i e h e n . Die - leichte - R e d u n d a n z infolge einiger w i e d e r h o l t e r T i t e l n e n n u n g e n schien uns angesichts der redaktionellen Ö k o n o m i s i e r u n g der
U m e i n e plötzlich - krankheitsbedingt - auftretende Lücke zu s c h l i e ß e n , war einer der b e i d e n Herausgeber mit e i n e m - i n z w i s c h e n veröffentlichten - Vortrag e i n g e s p r u n g e n , der hier nicht abermals abgedruckt, wohl aber genannt werden soll: Hartmut Laufhütte: Von der Modernität e i n e s U n m o d e r n e n . A n l ä ß l i c h der Erzählung . A b d i a s ' v o n Adalbert Stifter. In: Adalbert Stifters schrecklich s c h ö n e Welt (o. A n m . 4), S. 6 5 - 7 5 .
Vorwort
XVI
Anmerkungen-Apparate der einzelnen Beiträge, die wir durchgeführt haben, und gegenüber der Verschlüsselung der einzelnen Apparate und dem Zwang zum ständigen Nachschlagen, zu welchem das andere Verfahren geführt hätte, das kleinere Übel zu sein. Für alle Beiträge gilt freilich dies: Alle Zitate aus Werken Stifters und die entsprechenden Nachweise erfolgen, soweit der Stand dieser Edition das zuläßt, aus der neuen historisch-kritischen Ausgabe: Adalbert Stifter. Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Stuttgart 1978ff. - Für diese Ausgabe wird einheitlich die Sigle WuB verwendet. Solche Werke Stifters, welche in der neuen Edition noch nicht vorliegen, werden nach der Prag-Reichenberger Ausgabe zitiert, und zwar nach dem Nachdruck von 1972, der diejenigen Bände, welche eine zweite Auflage erfahren hatten (Bd. 14, 17, 18, 19), in der neuen Gestalt bietet: Adalbert Stifter. Sämtliche Werke. Hrsg. von August Sauer, Franz Hüller, Kamill Eben, Gustav Wilhelm u.a. Prag 1901 ff., Reichenberg 1927ff., Graz 1958ff. Nachdruck Hildesheim 1972. - Für diese Ausgabe wird einheitlich die Sigle SW verwendet. Nur für die Amtsakten des Schulrats Stifter, die (noch) in beiden Editionen fehlen, wird auf andere Ausgaben zurückgegriffen; diese sind in den einzelnen Beiträgen nachgewiesen. Daß für bekannte Periodika die eingebürgerten Siglen verwendet werden VASILO für die ,Vierteljahrsschrift des Adalbert Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich', D V j s für die .Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte', ZfdPh für die .Zeitschrift für deutsche Philologie', WW für .Wirkendes Wort', EG für ,Etudes Germaniques' usw. - , bedarf eigentlich kaum einer Erwähnung. So wie es bei der Eröffnung des Symposions geschehen ist, so wünschen nun die Herausgeber mit Stifters Worten, daß ihr und aller am Zustandekommen dieses Bandes Beteiligter „wissenschaftliches Bestreben" über den Tag hinaus „Einfachheit, Halt und Bedeutung" haben und folglich nützlich sein möge. H.L.
K.M.
Teil I Kunsttheoretisches, Poetologisches und andere werkübergreifende Konzepte „Priester des Schönen"
Christian B e g e m a n n
„Realismus" oder „Idealismus"? Über einige Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion von Stifters Kunstbegriff
Der Schriftsteller und Maler Adalbert Stifter hat sich zeit seines Lebens um einen Begriff seiner Arbeit bemüht. Er hat jedoch nichts hinterlassen, was Anspruch erheben könnte, als in sich geschlossene oder gar als originelle Kunsttheorie zu gelten. Seine meist situationsbezogenen Überlegungen zu Kunst und Literatur, eigener und fremder, sind über ein eher unübersichtliches Korpus von Texten der verschiedensten Art verstreut: Sie finden sich in Briefen, in Rezensionen, vor allem den Berichten über Ausstellungen des oberösterreichischen Kunstvereins in Linz, in einigen Aufsätzen zur Literaturprogrammatik und Literaturdidaktik, schließlich in den vielzitierten Vorreden zu den literarischen Werken und nicht zuletzt natürlich in diesen selbst, hier freilich in fiktionaler Brechung. Wer sich auf diese vielfältigen Räsonnements einläßt, sieht sich schon bald ebenso vielfältigen Irritationen ausgesetzt. Er wird sich angesichts der augenfälligen Inkonsequenz, ja Widersprüchlichkeit der Stifterschen Äußerungen fragen, ob diese überhaupt als Teile eines rekonstruierbaren Mosaiks betrachtet werden können oder ob sie nicht vielmehr ganz heterogenen theoretischen Konzepten zugehören. Stifter selbst hat diese, zeitgenössische Diskussionen aufgreifend, benannt: „Realismus" und „Idealismus". Die Kunstreflexionen Stifters, die man, ohne genauer abzusehen, was man sich damit einhandelte, immer wieder als Interpretamente seiner Werke herangezogen hat, widersetzen sich dem hermeneutischen Begehren nach einem konsistenten Sinnzusammenhang, in dem sich ihr jeweiliger Ort bestimmen ließe. Dieser Befund ist auch durch den Versuch nicht zu neutralisieren, die argumentativ auseinanderstrebenden Texte verschiedenen Werkphasen zuzuordnen und so als Etappen einer ästhetischen Entwicklung zu verstehen - einer Entwicklung beispielsweise vom Idealismus zum Realismus, der dann die dichterische Entwicklung vom noch romantischjeanpaulisch gefärbten Frühwerk zur ,Dingorientierung' des mittleren und späten Werks parallelgesetzt werden könnte. Aber das ist nicht der Fall. Im Gegensatz zu der sprachlichen und artistischen Radikalisierung, der Stifters literarisches Werk unterliegt, kommt es in seinem ästhetischen Denken zu einer Konsolidierung, um nicht zu sagen: Stereotypisierung bereits in den 1840er Jahren, zumindest was das Spannungsverhältnis von „Realismus" und „Idealismus" betrifft. Die ansonsten so folgenreiche Schockerfahrung der Revolution von 1848 bewirkt hier allenfalls Umakzentuierungen. Diese relative Konstanz erleichtert den im folgenden unternommenen Versuch, das Argumentationsfeld um die Pole von „Realismus" und „Idealismus"
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gewissermaßen von der einen zur anderen Seite hin abzuschreiten, um im Anschluß an diese Bestandsaufnahme einer ästhetischen Aporetik die Frage aufzuwerfen, ob letzterer nicht doch etwas wie eine heimliche Logik innewohnt. Ich beschränke mich dabei auf die Untersuchung der fundamentalen, für Literatur wie Malerei gleichermaßen gültigen Prinzipien von Stifters Kunstbegriff und sehe mich leider auch gezwungen, die literarischen Darstellungen des künstlerischen Prozesses im wesentlichen auszuklammern, die sich etwa im .Condor', den .Feldblumen', im .Nachsommer' oder den .Nachkommenschaften' finden. Das hier verfolgte, eher strukturelle Interesse an Stifters Kunstreflexionen bedingt auch den Verzicht auf deren diskursive Situierung. Es geht nicht um den Nachweis, woher Stifter die durchaus epochentypischen Elemente seines ästhetischen Denkens bezogen hat, sondern um die Rekonstruktion ihres Verhältnisses zueinander.
I In einschlägigen Literaturgeschichten wird Stifter nach wie vor gerne dem Realismus zugerechnet, und für die Stifter-Forschung galt es lange Zeit als ausgemacht, daß die Entwicklung des Autors Stifter in vieler Hinsicht der seiner fiktiven Figuren gleiche und sich mit deren eigenen Worten begreifen lasse: als Entwicklung nämlich zu jener „Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind", von der im .Nachsommer' kaum anders als im ,Witiko' die Rede ist.' Eine Stütze scheint diese Annahme in Stifters kunsttheoretischen Äußerungen zu finden. Außer Frage steht dort der hohe Stellenwert, den die .Wirklichkeit' für die Kunst einnimmt, die bei Stifter dem aristotelischen Gebot der Mimesis unterliegt. „Die Künste ahmen die Natur nach, die menschliche und außermenschliche", heißt es etwa in den .Winterbriefen aus Kirchschlag'. Vom Künstler wird daher „Liebe zur Objectivität" verlangt, „treuestes Studium der Natur" und ein „tiefes Eindringen in die Wirklichkeit und N o t w e n digkeit der Dinge". 2 Diesen Maßstab anlegend, mustert Stifter Gemälde und Zeichnungen „linienweise [...] und gleichsam mit dem Vergrößerungsglase" auf etwaige Verstöße gegen die Naturwahrheit. 3 Der Gegenbegriff zu solcher Realitätsnähe ist der der „Manier", der bei Stifter anders als bei Goethe 4 uneingeschränkt negativ besetzt ist. Denn in der Manier, der eine so fatale wie epochentypische „Selbstsetzung der heutigen Ichs" 5 zugrunde liegt, führen
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SW. Bd. 8.1, S. 83. In der Reihenfolge der Zitate: SW. Bd.15, S. 284; Bd.14, S. 38, S.101, S. 135. SW. Bd. 19, S. 87. Vgl. .Einfache N a c h a h m u n g der Natur, Manier, Stil'. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. M ü n c h e n . 10. Aufl. 1974. Bd. 12, S. 3 0 - 3 4 . SW. Bd. 15, S. 246.
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„Willkühr" und bloße Phantasie das Wort und den Pinsel und entfernen sich von der Wahrheit des Wirklichen. Ihre Kritik entspricht genauestens der generellen Wendung gegen Subjektivismus und Leidenschaft, die Stifters literarisches Werk spätestens seit den mittleren .Studien' durchzieht. Ist die manierierte Darstellung von einer höchst prekären Subjektivität gezeichnet, die den Blick auf sich zieht und damit vom Dargestellten ablenkt, so scheint demgegenüber die höchste Qualität eines Kunstwerks darin zu liegen, daß es sich quasi selbst aufhebt, sich verleugnet und vorgibt, nichts als Realität zu sein. Schon im .Condor' heißt es in diesem Sinne von den Gemälden Gustavs: „Es waren zwey Mondbilder - nein, keine Bilder, sondern wirkliche Mondnächte". 6 Dem Ideal einer solchen .Werkvergessenheit' bleibt Stifter sein Leben lang treu. Die Illusion der Realität wird beispielsweise auch einem Bild des Prager Malers August Piepenhagen bescheinigt, dem Stifter 1859 schreibt, die Gegenstände seien hier „mit solcher Sicherheit hingestellt, als wären sie nicht gemacht, sondern durch sich da, sie sind nicht gesucht, sondern naturnothwendig. Die Farbe ist so wahr, daß sie die Täuschung der Wirklichkeit hervorbringt". 7 Der Künstler, so möchte man aus solchen Sätzen folgern, hat sich im Dienst seiner Sache so weit zurückzunehmen, bis er zur bloßen Durchgangsstation, zum transparenten Medium geworden ist, in dessen vermittelnder Hervorbringung sich der Gegenstand ohne alle Beimischung von Subjektivität als er selber zeigen kann. „Ich habe", schreibt Stifter einmal an Louise von Eichendorff, „wirklich kein Verdienst an meinen Arbeiten, ich habe nichts gemacht, ich habe nur das Vorhandene ausgeplaudert." 8 Die Tendenz also scheint zu einem subjektlosen Schreiben und Malen, zu einer Art Selbstpräsentation der Realität zu gehen. Das freilich ist ein Konzept, das sich in unterschiedlicher Weise füllen läßt, und Stifter tut es. Die Frage ist dabei nicht zuletzt die, was hier unter dem „Vorhandenen", unter Natur und Wirklichkeit zu verstehen sei. In manchen Formulierungen erweckt Stifter den Eindruck, er rede einer geradezu naturalistischen Abbildungsprogrammatik das Wort, so etwa, wenn er an dem jungen Maler Ferdinand Axmann lobt, er male nur, „was er sieht". 9 Daß Stifter andererseits mit einem bloßen Oberflächenrealismus wenig im Sinn hatte, ist vielfältig nachweisbar. Tatsächlich müsse die Kunst, um den ästhetischen Schein lebendiger Wirklichkeit herzustellen, diese nicht einfach abbilden, sondern bearbeiten oder, wenn man will, neukonstituieren. Der Auf-
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WuB. Bd. 1.1, S. 29f. Hervorhebung im Original. Soweit nicht - wie hier - anders angemerkt, stammen kursivierte Hervorhebungen in Zitaten von mir (C.B.). SW. Bd. 19, S. 206. 23.3.1852; SW. Bd. 18, S. 110. An Jacob Mayer, 31.10.1861; SW. Bd. 24, S. 207f.: „Der junge Mann hat ein großes Naturgefühl, er malte alles selbst das lezte Bändchen nach der Natur, und malt nur, was er sieht, wenn er so fortfährt, und wenn er immer mehr sehen lernt, und fern von jeder Manier dem Gesehenen treu bleibt, so steht ihm eine große Zukunft bevor."
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satz ,Theater in Linz' von 1862 unterscheidet in diesem Sinne das ungefilterte „Darstellen der äußern Wirklichkeit" von der „künstlerischen Wahrheit", 1 0 und ein Jahr zuvor hatte Stifter diesen Grundsatz Heckenast gegenüber auf den ,Witiko' angewendet. Stoff und Personen seien hier historisch vorgegeben, „sie sind wirklich gewesen, sind in einer ganz bestimmten Form gewesen, und war jene Form die der Wirklichkeit, so muß die, in welcher ich sie bringe, die der Kunst sein, welche als Wirklichkeit erscheint, ohne es sein zu dürfen; denn die wirklichste Wirklichkeit jener Personen wäre in der Kunst ungenießbar". 1 1 Daß die „wirklichste Wirklichkeit" nicht in ihrem schlichten Dasein Gegenstand der Kunst sein kann, indiziert ein gebrochenes Verhältnis zu ihr. Das bloße Realsein gibt einer Sache noch keineswegs die Dignität eines künstlerischen Sujets. „Kunst", schreibt Stifter im Aufsatz .Die Kunstschule* von 1849, „heißt die Fähigkeit, etwas hervorzubringen, was durch außerordentliche Schönheit das Herz des Menschen ergreift, es emporhebt, veredelt, mildert". 1 2 Die Kunst hat es mit dem Schönen und nur mit ihm zu t u n , " und daran gemessen kann das Faktische zu häßlich und zu brutal sein, um als künstlerisch .genießbar' zu gelten. Von einer Generalaffirmation des Bestehenden kann bei Stifter entgegen anderslautenden Ansichten keine Rede sein. Nichts liegt ihm, selbst wo er das Erhabene zu seinem Gegenstand macht, ferner als eine .Aesthetik des Häßlichen', wie sie fast gleichzeitig Karl Rosenkranz hegelianisch auf den Begriff bringt. 1 4 Das Häßliche, und das impliziert den größten Teil der zeitgenössischen sozialen, politischen und ökonomischen Realität, schließt Stifter programmatisch aus dem Bereich der Künste aus. 1 '' So gesehen steht der mimetische Anspruch quer zur „wirklichsten Wirklichkeit". Er bezieht sich nunmehr nicht auf das, ,was man sieht', sondern auf eine Realität, die mit dem faktisch Vorfindlichen nur teilweise identisch ist, ja diesem geradezu opponiert. Denn Kunst hat nicht lediglich alles Häßliche zu meiden, sie muß vielmehr das „gemeine rohe Leben" transzendieren und „vor uns vergehen" lassen 1 6 und ist damit dessen indirekte Kritik. Kunst hat einen gegenbildlichen Anspruch. In diesem Sinne bemerkt Stifter mit Blick auf den . N a c h s o m m e r ' , er „habe wahrscheinlich das Werk der Schlechtigkeit willen
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S W . B d . 16, S. 3 7 4 . S W . B d . 19, S. 2 6 5 f . S W . B d . 16, S. 175. Vgl. dazu die einläßliche Analyse von Michael J o h a n n e s Böhler: F o r m e n und Wandlung e n d e s S c h ö n e n . U n t e r s u c h u n g e n z u m S c h ö n h e i t s b e g r i f f A d a l b e r t S t i f t e r s . Bern 1 9 6 7 . K a r l R o s e n k r a n z : A e s t h e t i k d e s H ä ß l i c h e n . K ö n i g s b e r g 1853. „ D a m p f b a h n e n u n d F a b r i k e n " h a b e n s e l b s t in e i n e r „ E r z ä h l u n g a u s u n s e r e n T a g e n " , w i e S t i f t e r d e n . N a c h s o m m e r ' im U n t e r t i t e l n e n n e n w o l l t e , k e i n e n P l a t z ( S W . B d . 19, S. 14); schon das b e g r ü n d e t seine s c h a r f e und a f f e k t g e l a d e n e Frontstellung gegen das „ j u n g e D e u t s c h l a n d " , das mit seiner E i n m i s c h u n g von „Tagesfragen, und T a g e s e m p f i n d u n g e n in d i e s c h ö n e L i t t e r a t u r " d e n „ Z w e k " d e r K u n s t als d e s S c h ö n e n g r u n d s ä t z l i c h v e r f e h l t ( S W . B d . 17, S. 138). S W . B d . 16, S. 3 5 8 .
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gemacht, die im Allgemeinen mit einigen Ausnahmen in den Staatsverhältnissen der Welt in dem sittlichen Leben derselben und in der Dichtkunst herrscht. [...] Ich habe ein tieferes und reicheres Leben, als es gewöhnlich vorkömmt, in dem Werke zeichnen wollen und zwar in seiner Vollendung". 1 7 Gewiß wird hier immer eine Vermittlung solcher Bilder des Vollkommenen mit der Welt der Erscheinungen vorausgesetzt, von deren Prinzipien sich die Darstellung niemals entfernen darf. Aber fällt ein solches Konzept noch unter einen Begriff von Naturnachahmung oder von Realismus? Mehrfach hat Stifter in seinen Briefen versucht, die skizzierte Konstellation begrifflich in durchaus zeittypischer Weise als ein Verhältnis von „Realismus" und „Idealismus" zu fassen. Für sich genommen, seien beide unzulänglich und müßten daher vereinigt werden. „Der Realist und der Idealist ist verfehlt, wenn er nicht etwas Höheres ist, nehmlich ein Künstler", heißt es in einem Brief von 1858, 18 und neun Jahre später schreibt Stifter: „Realismus (Gegenständlichkeit) wird so gerne geradehin verdammt. Aber ist nicht Gott in seiner Welt am allerrealsten? Ahmt die Kunst Theile der Welt nach, so muß sie dieselben den wirklichen so ähnlich bringen, als nur möglich ist, d.h. sie muß den höchsten Realismus besitzen. Hat sie über ihn hinaus aber nichts weiter, so ist sie nicht Kunst, der Realismus kann dann noch für die Naturwissenschaft Werth haben, für die Kunst ist er grobe Last. Idealismus ist eben jenes Göttliche, von dem ich oben sagte. Ist es in der Kunst dem größten Realismus als höchste Krone beigegeben, so steht das vollendete Kunstwerk da. Wie bloßer Realismus grobe Last ist, so ist bloßer Idealismus unsichtbarer Dunst oder Narrheit." 1 9 Nun setzt allerdings diese Konstruktion das Programm einer Nachahmung der Natur in der Tat erheblicher Spannung aus. Denn der Begriff des Idealismus oszilliert bei Stifter zwischen objektiver Idee in einem quasi platonischen Sinn und subjektivem Ideal, und allenfalls im ersteren Fall wäre der Idealismus einem mimetischen Konzept integrierbar. Ein Beispiel dafür liefert der ,Nachsommer'. Nach längeren Phasen präzis naturalistischer Wiedergabe von einzelnen Naturgegenständen und Möbeln zum Zwecke der Dokumentation entdeckt der schließlich auch in der Landschaftsmalerei dilettierende Heinrich eines Tages, es gehe eigentlich darum, „die Seele eines Ganzen" zu erfassen: „Es war ein gewaltiger Reiz für das Herz, das Unnennbare, was in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen". 2 0 Ähnliches liest man in den Briefen und Aufsätzen: Die „Seele der Natur", 2 1 das „Gesetz", von dem auch in der Vorrede zu den ,Bunten Steinen' die Rede ist, das „Wesen" der Dinge, 2 2 das „Unnennba17 18 19 20 21 22
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19, S. 93f. 19, S. 115. 14, S. 218f. 7, S. 30. 20, S. 259. 16, S. 7f.
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re" in ihnen - das sind tastende Umschreibungen für eine .Hinterwelt' der Dinge, die die Kunst wiederzugeben hat und die bei Stifter verschiedene begriffliche Anklänge birgt, deren Vereinbarkeit miteinander hier nicht untersucht werden soll: Essenz, Ursprung, Potentialität, Telos, Ordnung. Auch der Begriff des Allgemeinen ließe sich hier anschließen, das für Stifter ja nicht lediglich eine logische Größe ist, sondern einen ontologischen Vorrang vor dem Besonderen zu haben scheint und daher auch für den Künstler den Fluchtpunkt seiner Darstellung wie seines Selbstverständnisses bildet. 2 3 Häufig springt in diesem Zusammenhang der Begriff des „Göttlichen" und seines „Waltens" in der äußeren Welt ein: Kunst sei, so wird Stifter in Erinnerung seiner Schulzeit in Kremsmünster nicht m ü d e zu wiederholen, „die Darstellung des Göttlichen im Kleide des Reizes". 2 4 Man möchte nun meinen, wenn die „Seele der Natur", das „Wesen", die göttliche Spur, oder wie immer die Formeln lauten, „in den Dingen vor mir" liegt, dann werde die Kunst auf den semiotischen Akt einer Lektüre verpflichtet, der in Analogie etwa zur Physiognomik ein .Inneres' im sinnfälligen Äußeren entziffert. Sie müßte dann die Realität in ihrer Gegenständlichkeit exakt abbilden, jedoch ergänzt um die Dimension eines ,je ne sais quoi', die wahrnehmbar macht, was doch eigentlich unsichtbar ist. Dann freilich wäre der „Realismus" selbst schon der „Idealismus", müßte also von diesem gar nicht unterschieden werden, denn er würde nur den Ausdruck des Wesens der Dinge in ihrer Erscheinung zu erfassen und nachzuahmen haben. Vieles deutet in der Tat darauf hin. Auch und gerade in der Natur, bemerkt Stifter einmal, liege jenes Göttliche. „Es kommt nur darauf an, es zufassen und zu bringen."25 Aber das ist nur die eine Seite des idealistischen Komplexes bei Stifter. Wie es oben hieß, ist nämlich der Idealismus dem Realismus „beigegeben", er kommt zu diesem hinzu. Nimmt man diese Formulierung ernst, dann entbirgt die Kunst nicht oder jedenfalls nicht nur den ideellen Kern des sinnfälligen Realen, sondern sie gibt dem Gegenständlichen ein qualitativ andersartiges Ideelles bei - eines mithin, das nicht in den Dingen, sondern im Künstler liegt. In einer solchen Vielzahl von Texten, daß es bei Stifters genereller Tendenz zur Abarbeitung von Subjektivität erstaunen muß, wird unmißverständlich deutlich, daß das Kunstwerk immer Ausdruck der Innerlichkeit seines Schöpfers sei, der seine Seele, sein „Herz", sein Gefühl in ihm „verkörpert". „Die ganze Innerlichkeit eines Menschen ist es zuletzt, welche seinem Werke das Siegel und den Geist aufdrückt", schreibt Stifter 1848 in dem programma-
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SW. Bd. 16, S. 302f.; Bd. 18, S. 261; Bd. 19, S. 39, 52 u.ö. Vgl. SW. Bd. 14, S. 12, S. 33, S. 217 u.ö. Zur Herkunft dieses Grundsatzes aus K r e m s münster vgl. den Brief an Gottlob Christian Friedrich Richter vom 21.6.1866; SW. Bd. 21, S. 236. Vgl. dazu auch das Kapitel .Das S c h ö n e und die K u n s t ' bei Moriz Enzinger: Adalbert Stifters Studienjahre ( 1 8 1 8 - 1 8 3 0 ) . Innsbruck 1950, S. 2 0 4 - 2 0 7 . SW. Bd. 14, S. 217.
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tischen A u f s a t z , U e b e r Stand und W ü r d e des S c h r i f t s t e l l e r s ' 2 6 und steht in der Folge nicht an, g e g e n ü b e r dieser A u s d r u c k s q u a l i t ä t des Werks dessen G e g e n stand in e r s t a u n l i c h e r Weise a b z u w e r t e n . In e i n e m Brief an P i e p e n h a g e n bemerkt Stifter b e i s p i e l s w e i s e , es sei „der M e n s c h , der die L a n d s c h a f t gemalt hat, [...] den wir v e r e h r e n und lieben [...]. Darum ist auch der Stoff so gleichgiltig, wenn nur der Mensch sein großes Innere dadurch zu entfalten vermag".27 Schon v o r h e r hatte S t i f t e r - w i e d e r u m P i e p e n h a g e n g e g e n ü b e r - das „ G ö t t l i c h e " selbst zu einer Qualität des künstlerischen Subjekts g e m a c h t : „Wer es besizt, wen G o t t damit g e s e g n e t hat, der prägt es in allen D i n g e n aus, in allen S t o f f e n , er beseelt sie d a m i t " . 2 8 Der „ I d e a l i s m u s " im Sinne d e r „höchste[n] geistige[n] I d e e " , die „im K u n s t w e r k e h e r r s c h e n " soll, 2 9 wäre in dieser Perspektive die P r ä s e n z einer subjektiven Idee, eines Ideals, das der Künstler sich selbst von seinem Gegenstand entwirft, den er auf diese Weise beseelt. Die Kunst bringt „das Z a u b e r b i l d des Lebens in Verklärung",30 dekretiert Stifter 1856 in einem Brief an G e i g e r , und das heißt in diesem Kontext, daß sie die Dinge in ihrem Sollzustand zeigt, wie diesen das große Subjekt imaginiert. Die S p a n n u n g , in d e r s o l c h e Postulate zu den m i m e t i s c h - d e s u b j e k t i v e n K o m p o n e n t e n seiner K u n s t r e f l e x i o n stehen, scheint Stifter nicht wahrgen o m m e n zu h a b e n . 3 1 O d e r ist sie am Ende gar nicht so gravierend, wie es zunächst scheinen m a g ? M a n c h e s weist in diese R i c h t u n g . Innerlichkeit nämlich ist nicht gleich Innerlichkeit. Stifters ganzes ästhetisches P r o g r a m m setzt die radikale E n t i n d i v i d u a l i s i e r u n g und D e s u b j e k t i v i e r u n g des Ichs v o r a u s und scheint dadurch den G e f a h r e n der „ M a n i e r " entgehen zu wollen. S o wiederholt sich auf dieser E b e n e das P e r s ö n l i c h k e i t s i d e a l , dem Stifter die fiktiven Figuren seiner literarischen Texte auf d e m Wege der E n t w i c k l u n g a n z u n ä h e r n sucht. Die „ I n n e r l i c h k e i t " , die sich im Werk a u s d r ü c k e n soll, ist nicht die eines Ichs, das, in L e i d e n s c h a f t e n b e f a n g e n , irgend „ b e s o n d e r s " sein will, 3 2 sondern nähert sich selbst d e r O r d n u n g der D i n g e an. Sie ist, um eine einschlägige W o r t p r ä g u n g aus der Vorrede der ,Bunten S t e i n e ' a u f z u n e h m e n , „ m e n s c h l i c h v e r a l l g e m e i n e r t " : 3 3 „Der wahre K ü n s t l e r hat ein Herz und einen 26 27 28 29 30 31
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SW. Bd. 16, S. 9. 15.1.1865; SW. Bd. 20, S. 258. 13.12.1859; SW. Bd. 19, S. 200. SW. Bd. 14, S. 114. SW. Bd. 18, S. 353. Auch seine Interpreten nicht. Michael Böhlers zutreffende und anregende A u s f ü h r u n g e n über die mit den Traditionen der Goethezeit brechende Tendenz des späten Stifter zur Beseitigung von Individualität und zur bruchlosen Unterordnung der Kunst unter die Natur etwa übergehen schlichtweg die .idealistische' G e g e n b e w e g u n g und ihre Konsequenzen für Stifters Kunstreflexion. Vgl. Die Individualität in Stifters Spätwerk. Ein ästhetisches Problem. In: D V j s 43 (1969), S. 6 5 2 - 6 8 4 , hier vor allem S. 654ff., S. 678ff. SW. Bd. 17, S. 250. WuB. Bd. 2.2, S. 13. Vgl. in diesem Z u s a m m e n h a n g auch die Forderungen an die moralische, intellektuelle usw. Bildung des Dichters, die Stifter im Aufsatz ,Ueber Stand und Würde des Schriftstellers' erhebt: SW. Bd. 16. S. 5-18.
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Geist e m p f a n g e n , in denen sich die großen und e w i g e n E m p f i n d u n g e n der Menschheit spiegeln", heißt es im A u f s a t z , U e b e r die Behandlung der P o e s i e in G y m n a s i e n ' . 3 4 Nur darum kann der künstlerischen Innerlichkeit das Attribut des „Göttlichen" beigelegt werden. Der „Idealismus" hätte sich dann selbst immer auch als e i n e Art „Realismus" zu verstehen: Das subjektive Ideal gibt sich als transsubjektiv, e s beansprucht selbst einen objektiven Kern, ja konvergiert am Ende mit der objektiven Idee der D i n g e . S o zeichnet sich eine Vermittlung der begrifflich auseinanderstrebenden Positionen v o n „Realismus" und „Idealismus", Wirklichkeitsbindung und Innerlichkeit, Objektivism u s und S u b j e k t i v i s m u s ab: Die S e e l e des Künstlers erhält ihre Dignität gerade dadurch, daß sie sich strikt an der „Wesenheit" der „Dinge" orientiert, während umgekehrt d i e s e s Wesen, das nicht unmittelbar sinnfällig ist, nur in seiner Brechung durch die Innerlichkeit des Künstlers zur Erscheinung komm e n kann, in einer Subjektivität also, die sich gerade über ihren Objektivitätsbezug definiert. Behalten also j e n e Interpreten recht, die die Kunstreflexionen Stifters mit d e s s e n e i g e n e n Worten auf eine . S y n t h e s e ' von „Realismus" und „Idealismus" f e s t l e g e n w o l l e n ? 3 5 Hermeneutisch m a g diese L ö s u n g überaus befriedigend sein, leider trifft sie allenfalls einen Teil des Sachverhalts. Zunächst einmal ist festzuhalten, daß sie eine g e w i s s e Geltung lediglich für den s o z u s a g e n .mittleren B e r e i c h ' der Stifterschen Formulierungen beanspruchen kann, deren .äußerste Enden' nach wie vor schwer vereinbar scheinen. Stifters ästhetisches
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SW. Bd. 16, S. 308. Dementsprechend kann auch das Schöne nichl bloß „subjectiv" sein. „Am subjectivsten, mithin verworrensten wäre es, wenn man als höchsten Satz gelten ließe, daß Jeder sein eigenes Schöne habe, wie es eben sein Gefallen mit sich brin ge. [...] etwas Allgemeines muß das Gefallen, wie es sich in den einzelnen Person lichkeiten darstellt, doch haben, welches der Grundzug des ganzen menschlichen Geschlechtes ist, und welches dann das Kennzeichen des Schönen sein wird. Dieses Allgemeine darf aber nicht ein zufällig Allgemeines sein, [...] sondern es muß ein Allgemeines sein, welches in den Gesetzen der menschlichen Natur liegt" (ebd., S. 302f.). Ganz in diesem Sinne liest man im .Nachsommer', die Dichter seien „die Priester des Schönen und vermitteln als solche bei dem steten Wechsel der Ansichten über Welt, über Menschenbestimmung, über Menschenschicksal und selbst über göttliche Dinge das ewig Dauernde in uns und das allzeit Beglückende" (SW. Bd. 7, S. 35). Auf eine solche „Synthese" ist die Forschung, zumeist alle damit verbundenen Probleme überspringend, immer wieder zielstrebig zugegangen. So etwa das Werk von Kurt Ger hard Fischer: Die Pädagogik des Menschenmöglichen. Adalbert Stifter. Linz 1962, S. 485f.; vgl. dort überhaupt das Kapitel über „Stifters Ästhetik und seine Kunsterziehungslehre", S. 477-515. Zumindest benannt werden die Widersprüche und Inkonsistenzen in Stifters Formulierungen in einem einschlägigen Exkurs zur „Synthese" von Idealismus und Realismus bei Karl Konrad Polheim: Die wirkliche Wirklichkeit. A. Stifters „Nachkommenschaften" und das Problem seiner Kunstanschauung. In: Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese. Hrsg. von Vincent J. Günther, Helmut Koopmann, Peter Pütz, Hans Joachim Schrimpf. Berlin 1973, S. 3 8 5 417, hier S. 412ff. Vgl. auch die den Kern der Problematik anreißenden Bemerkungen bei Walter Weiss: Stifters Reduktion. In: Germanistische Studien. Innsbruck 1969, S. 199-220, hier S. 215.
„Realismus" oder „Idealismus"
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D e n k e n s c h e i n t m i r a n g e m e s s e n b e s c h r e i b b a r n u r als ein p e r m a n e n t e r W i d e r streit, a l s e i n G e g e n e i n a n d e r a r b e i t e n v e r s c h i e d e n e r I m p u l s e , d i e h ä u f i g z u g l e i c h a m W e r k s i n d , a l s o i n t e r f e r i e r e n . Ich f a s s e n o c h e i n m a l z u s a m m e n : Im Z e i c h e n d e r A b s a g e an den S u b j e k t i v i s m u s u n d d e r A u s r i c h t u n g auf d i e W i r k l i c h k e i t d e r D i n g e f o r m u l i e r t S t i f t e r ein m i m e t i s c h e s K u n s t k o n z e p t , d a s e i n e r seits q u a s i n a t u r a l i s t i s c h - a b b i l d l i c h e Z ü g e trägt, w ä h r e n d es sich a n d e r e r s e i t s u n t e r d e m E i n d r u c k g e r a d e d e r U n z u l ä n g l i c h k e i t , j a B e d r o h l i c h k e i t d e r vorf i n d l i c h e n R e a l i t ä t ins G e g e n b i l d l i c h e v e r s c h i e b t . D e m n a h e l i e g e n d e n Verd a c h t , h i e r k o m m e s u b j e k t i v e W i l l k ü r ins S p i e l , s u c h t S t i f t e r z u v o r z u k o m m e n , i n d e m e r j e n e s G e g e n b i l d l i c h e auf e i n e ideelle H i n t e r w e l t d e r D i n g e b e z i e h t , dabei freilich eine Vermittlungsleistung des Künstlers einzuräumen gezwung e n ist. S e l b s t d o r t aber, w o S t i f t e r d e n s u b j e k t i v e n A n t e i l a m K u n s t w e r k a m m a r k a n t e s t e n h e r a u s s t e l l t , w o er a l s o d i e im Werk z u r E r s c h e i n u n g k o m m e n d e Idee als d a s s u b j e k t i v e Ideal d e s K ü n s t l e r - I c h s b e s t i m m t , m ö c h t e er d i e s e s o b j e k t i v i s t i s c h r ü c k b i n d e n . D a s ist d e r s y s t e m a t i s c h e P u n k t d e r s k i z z i e r t e n Synthese. Diese oszillierende Bewegung zwischen objektivistischem Anspruch, Anerkennung des subjektiven Faktors, erneuter objektivierender Verankerung s o l c h e r S u b j e k t i v i t ä t kehrt bei S t i f t e r b e s t ä n d i g w i e d e r . D i e I n t e g r a t i o n d e s Ichs in d a s ä s t h e t i s c h e P r o g r a m m s o z u s a g e n auf d e m W e g e s e i n e r f a k t i s c h e n A u s t r e i b u n g s t e h t n u n a l l e r d i n g s i m m e r auf d e r S c h w e l l e , e i n e n e u e r l i c h e W i e d e r k e h r d e s e s k a m o t i e r t e n S u b j e k t s f r e i z u g e b e n . Ich bin v e r s u c h t , v o n einem , E n t l a u f e n ' des subjektiven Faktors aus dem Bezirk seiner .realistischen' N e u t r a l i s i e r u n g zu s p r e c h e n , u n d d a m i t ist m a n a m a n d e r e n E n d e d e s v o n Stifter bearbeiteten Argumentationsfeldes angekommen. Durchaus bestätigen zahlreiche F o r m u l i e r u n g e n den Eindruck, die Präsenz des Künstler-Ichs gehe nicht im K o n z e p t e i n e r V e r e i n i g u n g v o n „ R e a l i s m u s " u n d „ I d e a l i s m u s " a u f , s o n d e r n b i l d e g e w i s s e r m a ß e n e i n e n Ü b e r h a n g ü b e r d i e s e s . Z u m g u t e n Teil steht d a h i n t e r e i n g r u n d s ä t z l i c h e s P r o b l e m : D e r V e r s u c h n ä m l i c h , s u b j e k t i v e s Ideal u n d o b j e k t i v e Idee als ü b e r e i n s t i m m e n d zu d e n k e n , m u ß s c h o n d e s h a l b im h ö c h s t e n M a ß e labil b l e i b e n , weil sich d a s I d e e l l e im S u b j e k t in s e i n e r o b j e k t i v e n G ü l t i g k e i t ü b e r h a u p t nicht v e r i f i z i e r e n läßt u n d d a h e r i m m e r w i e d e r u n t e r d e n V e r d a c h t fällt, s e l b s t n i c h t s als e i n e S u p p o s i t i o n , e i n e b l o ß e A u s g e burt d e r P h a n t a s i e zu sein. S t i f t e r h a t d a s s e h r w o h l g e s e h e n . „Ich b i n " , s c h r e i b t e r a m 1 4 . 1 . 1 8 6 0 an B a l t h a s a r E l i s c h e r , „seit m e i n e r J u g e n d d e m H o h e n n a c h g e g a n g e n , u n d h a b e e s zu v e r w i r k l i c h e n g e s t r e b t . O b es m e h r o d e r m i n d e r g e l u n g e n , o d e r ob nur ein fantastisches Ding gekommen ist, w u ß t e ich nie v ö l l i g s i c h e r . " 3 6 W a s w a h r h a f t , r e a l ' ist, entzieht sich prinzipiell der K e n n t -
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SW. Bd. 19, S. 216. Es handelt sich hier keineswegs um einen vereinzelten Anfall von Selbstzweifel. Ähnliches liest man auch in einem Brief an den Juwelier und Freund Joseph Tiirck vom 16.7.1852: „Es ist möglich, daß in mir viele Blumen getödtet wurden, es ist aber auch möglich, daß sie vielleicht gar nie da waren. [...] Könnte ich den Umgang meiner Freunde und so manches bedeutenden Mannes [...] genießen, so dürfte viel-
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nis des S u b j e k t s - und so s c h w i n d e t k l a m m h e i m l i c h die behauptete programm a t i s c h e D i f f e r e n z S t i f t e r s zu seinen subjektivistischen Z e i t g e n o s s e n , denen er sich c o n t r e c œ u r z u z u r e c h n e n g e z w u n g e n sieht: „ D e r Wille, vor der Wirklichkeit E h r e r b i e t h u n g zu h a b e n , wäre wohl da; aber uns Neuen mischt das Ich stets e i n e n T h e i l v o n sich unter die Wirklichkeit mit, und tauft ihn Wirklichkeit".37
II Die a u ß e r o r d e n t l i c h e S p a n n u n g , die Stifters ästhetische A r g u m e n t a t i o n e n d u r c h z i e h t , läßt sich schließlich auch auf einem anderen Gebiet b e o b a c h t e n : d e m d e r I m a g i n a t i o n und B e s c h r e i b u n g des künstlerischen A r b e i t s p r o z e s s e s . D a s sei hier zur E r h ä r t u n g m e i n e r T h e s e nur a n g e d e u t e t . Erneut d u r c h k r e u z e n sich die z w e i m i t t l e r w e i l e g e l ä u f i g e n D e n k - und I m a g i n a t i o n s b e w e g u n g e n : die A f f i r m a t i o n von Realität und N a t u r als oberste N o r m d e r Kunst einerseits und die h e i m l i c h e S u b v e r s i o n dieser N o r m durch ein ständig sich durchsetz e n d e s S u b j e k t a n d e r e r s e i t s . D a s Ziel einer g e n a u e n D a r s t e l l u n g d e r Wirklichkeit o h n e alle V e r f ä l s c h u n g durch ein w a h r n e h m e n d e s und w i e d e r g e b e n d e s S u b j e k t r ü c k t die K u n s t selbst in den Bereich der Natur, und zwar sowohl von Seiten des d a r z u s t e l l e n d e n G e g e n s t a n d s wie von Seiten seines N a c h a h m e r s . I n f o l g e d e s s e n a v a n c i e r t das Epitheton „ n a t ü r l i c h " zum m a ß g e b l i c h e n Beurteil u n g s k r i t e r i u m f ü r das G e l i n g e n eines Werks. 3 8 Im K u n s t w e r k soll sich die „ N a t u r d e r S a c h e " d u r c h s e t z e n , 3 9 der der Künstler nichts h i n z u f ü g e n d a r f , da dies j a nur ihre N a t ü r l i c h k e i t v e r f ä l s c h e n würde; j e d e Intention, j e d e s Wollen wäre nur A u s d r u c k s u b j e k t i v e r Willkür. Ich darf noch einmal an den bereits zitierten Satz e r i n n e r n : „Ich h a b e wirklich kein Verdienst an m e i n e n Arbeiten, ich h a b e n i c h t s g e m a c h t , ich habe nur das Vorhandene a u s g e p l a u d e r t . " Solche P l a u d e r e i geriert sich als völlig , s e l b s t - l o s ' , sie quillt u n b e w u ß t , also o h n e allen Anteil e i n e s r e f l e k t i e r e n d e n und d i s p o n i e r e n d e n Ichs, aus d e m Inneren und kann d e s h a l b nur d a s s e l b e sein wie ihr G e g e n s t a n d : Natur. I m m e r w i e d e r
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leicht manches kleine Schöne sprießen, obwohl nicht jenes Große und Begeisternde, mit dem ich mich einst im Übermuthe trug, und das wohl nur eine fata morgana gewesen ist." (SW. Bd. 18, S. 117. Hervorhebung im Original). SW. Bd. 19, S. 224. Unter den vielen Belegen seien nur genannt: SW. Bd. 18, S. 107, S. 137f. Über eine Landschaft des Münchner Malers Robert Zimmermann, der selbst „eine ganz kernhafte, urwüchsige Natur" sei, heißt es lobend, das Bild gehe „den reinen, hellen Weg der Natur" (SW. Bd. 14, S. 94). Vgl. schließlich auch in der letzten .Mappe' die Sätze des Fürsten über seinen Park: „Es ist wie mit einem Kunstwerke, von dem Menschen sagen, es sei gar kein Kunstwerk, sondern nur natürlich, und zu dem sie immer wieder gehen, es anzuschauen. Durch ihre Handlung sprechen sie das größte Lob aus." (SW. Bd. 12. S. 281) SW. Bd. 19, S. 282.
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wird der künstlerische Prozeß bei Stifter darum als ein organisches „Wachsen" geschildert, das von einem intentionalen „Machen" abgehoben wird, das als solches schon in die Nähe der „Manier" rückt. 4 0 Das wahrhafte Kunstwerk, zum Beispiel der eigene .Nachsommer', erscheint als ein völlig naturwüchsiges Gebilde mit Wurzeln, Blüte und Frucht. 4 1 Dieses Postulat steht nun allerdings in einem grotesken Mißverhältnis zu Stifters tatsächlichen Arbeitsprozessen, über die wir aus seinem Briefwechsel mit Heckenast und aus dem Tagebuch seiner Malerarbeiten gut informiert sind. Daraus geht bekanntlich klar hervor, daß der Autor nicht nur nach genauen Plänen gearbeitet, 4 2 sondern die „Feile" auch so oft anzulegen pflegte, bis das Manuskript oder gar die Druckfahnen für den Setzer kaum mehr lesbar waren. 4 3 Das hat seinen Grund in einer prinzipiellen Schwierigkeit: im Problem nämlich der Umsetzung dessen, was Stifter, der hier die imaginative Leistung des Künstlersubjekts wieder ins Spiel bringt, als ein inneres VorBild, ein unerreichbares „Ideal" des Werks betrachtet, in eine ihm äußerliche und widerständige Materialität: Schrift und Farbe. 4 4 So pocht Stifter denn auch immer wieder auf die Unabdingbarkeit von „Handwerk" und „Mache", die er doch andererseits gerade zu leugnen scheint. Uber die .Studien' etwa heißt es Heckenast gegenüber, die Metaphorik des Organischen aufgreifend und doch charakteristisch umstürzend: „Was an wahrhaft künstlerischem Werthe daran ist [...], das ist die Frucht des Nachdenkens und der Feile."45 So gut wie jeder andere weiß und formuliert Stifter, daß nicht das „was", sondern das „wie" die Kunst ausmacht, 4 6 doch gehört es gerade zu den Raffinessen der Faktur, daß sie sich selbst zum Verschwinden bringt und verleugnet. Zum Bei-
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Vgl. u.a. SW. Bd. 18, S. 103, S. 186, S. 303; Bd. 20, S. 48 u.ö. Vgl. den Brief an Heckenast vom 29.2.1856; SW. Bd. 18, S. 313: „Die Gliederung soll organisch sein [...]. Der l' c Band rundet die Lage ab, und säet das Samenkorn, das bereits sproßt, und zwar mit den Blättern vorwärts in die Zukunft [...] und mit der Wurzel rükwärts in die Vergangenheit [...]. Daß in beiden Richtungen in den folgenden Bänden wärmere Gefühle und tiefere Handlungen kommen müssen, liegt im Haushalte des Buches, welches wie ein Organismus, erst das schlanke Blättergerüste aufbauen muß, ehe die Blüthe und die Frucht erfolgen kann." Vgl. z.B. SW. Bd. 19, S. 93ff. Vgl. z.B. SW. Bd. 21, S. 82. Vgl. den Brief an Friedrich Culemann vom 3.2.1854, SW. Bd. 18, S. 205: „Ich glaube das freundliche Urtheil der Welt nur in so ferne zu verdienen, als die Menschen aus meinen Schriften doch gleichsam zwischen den Zeilen das Gewollte heraus lesen, und mir dasselbe als ein Gut anrechnen; ich selber kann nicht so denken, und bin nicht mit dem Gewirkten zufrieden; denn so lange eine Dichtung nur erst in meinem Kopfe und in meinem Herzen schwebt, ist sie unsäglich lieb und hold und fast feenartig schön, wird sie dann fertig, und steht auf dem Papier, so ist der Duft hin, und das Gewordene ist so unersprießlich unzulänglich dürftig, daß ich immer die große Kluft zwischen Fühlen und Ausdrüken inne werde. Ich suche wohl zu verbessern; aber die Kluft ist nie ganz auszufüllen". 9.9.1847; SW. Bd. 24, S. 183. Hervorhebung im Original. SW. Bd. 18, S. 209.
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spiel in den . B u n t e n S t e i n e n ' : „Was dem Leser das E i n f a c h s t e und Natürlichste scheint, ist das Werk der größten Kunst und Sorgfalt, wer es a n d e r s meint, der versteht von Kunst und ihren H e r v o r b r i n g u n g e n n i c h t s . " 4 7 Entsteht Kunst dem von Stifter g e p f l e g t e n . M y t h o s ' z u f o l g e auf d e m W e g e o r g a n i s c h e n Wachsens, so zeigen sich Organik und W a c h s t u m a n d e r e r s e i t s als S i m u l a t i o n s e f f e k t e , g e s c h a f f e n von einer elaborierten Artifizialität, die ihre Spuren hinter sich a u s l ö s c h t . 4 8 Das K u n s t l o s e erweist sich als K u n s t , das Intentionslose als Intention, d a s Wachsen als M a c h e n , das U n b e w u ß t e als B e w u ß t s e i n . Die Natur, die das K u n s t w e r k g l e i c h e r m a ß e n zeigt und selbst sein soll, ist in Wahrheit ein Produkt des Ichs.
III Man würde d i e s e m d u r c h g ä n g i g e n ästhetischen Widerstreit z w e i f e l l o s nicht gerecht, n ä h m e m a n ihn lediglich als Beleg f ü r die m a n g e l n d e theoretische B e g a b u n g Stifters. Ich m ö c h t e v i e l m e h r b e h a u p t e n , d a ß er a u f s e n g s t e mit Stifters s e m i o t i s c h e m D e n k e n z u s a m m e n h ä n g t , mit der B e t r a c h t u n g also nicht nur des K u n s t w e r k s , sondern der Welt schlechthin als Z e i c h e n k o m p l e x e n . Diese T h e s e kann hier nicht so ausgiebig entfaltet w e r d e n , wie es w ü n s c h e n s wert wäre, 4 9 doch m ö c h t e ich a b s c h l i e ß e n d v e r s u c h e n , w e n i g s t e n s in groben U m r i s s e n die b i s h e r v e r f o l g t e A r g u m e n t a t i o n s b e w e g u n g noch einmal unter dieser neuen P e r s p e k t i v e n a c h z u z e i c h n e n . Stifters m o n o t o n e F o r m e l , Kunst sei „die Darstellung des G ö t t l i c h e n im Kleide des R e i z e s " , besagt unter a n d e r e m , Kunst habe es letztlich mit e t w a s zu tun, das als solches w e d e r sinnfällig noch darstellbar ist. S o sehr Stifter immer wieder am W u n s c h b i l d einer unvermittelten E r s c h e i n u n g des Göttlichen festhält, 5 0 so klar artikuliert er zugleich, daß dieses uns nur durch ein M e d i u m hindurch zugänglich sein k a n n . Nur eines sei noch h ö h e r als die Kunst: „die R e l i g i o n , das G ö t t l i c h e an sich; aber es ist dies kein Irdisches mehr, und k ö n n t e von uns auch gar nicht g e f a ß t w e r d e n , w e n n es sich nicht
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SW. Bd. 18, S. 134. A u c h das hat S t i f t e r zuzeiten e r k a n n t . An H e c k e n a s t schreibt er ü b e r P i e p e n h a g e n : „ U n d f ü r ein K u n s t w e r k allerersten R a n g e s halte ich d i e s e s Bild. Es hat alle D i c h t u n g s f ü l l e der K u n s t und gar keine Mittel des H a n d w e r k e s . [...] Aber a u c h d a s H a n d w e r k ist in d e m v o r l i e g e n d e n Bilde bis zu s e i n e r S p i z e v o l l e n d e t . Wie sind d i e L i c h t e r [...) a u f g e sezt, und wie sind die T ö n e a b g e s t u f t , o h n e d a ß man eine M a c h e s i e h t ! Es scheint eben alles gewachsen." ( 3 . 1 . 1 8 6 2 , SW. Bd. 20, S. 48) Vgl. dazu d a s Kapitel ,Die Welt der Z e i c h e n . S t i f t e r s s e m i o t i s c h e r Blick* in m e i n e m B u c h : Die Welt der Z e i c h e n . S t i f t e r - L e k t ü r e n . Stuttgart 1995. B e i s p i e l s w e i s e im Text ü b e r . D i e S o n n e n f i n s t e r n i ß am 8. Juli 1 8 4 2 ' ; SW. Bd. 15, S. 5 - 1 6 .
„Realismus" oder
„Idealismus'
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auch wieder eines Kleides bediente". 5 1 Dieses Kleid ist zunächst einmal die äußere Wirklichkeit, und das begründet den mimetischen Impuls der Kunst bei Stifter. Da „die Gottheit in der Welt unsichtbar ist und dennoch in jedem Grashalme wohnt", sei es Aufgabe der Kunst, „ein Stück wahrer Welt [zu] geben" 5 2 und in dieser die göttliche Spur aufzudecken oder, was nur begriffliche Varianten dieses Anliegens sind, die „Seele der Natur", ihre „Wesenheit" oder Ordnung. Im Gefolge des alten Topos vom Buch der Natur erscheint die Welt so in der Struktur des Zeichens; sie zerfällt in zwei Sphären, einerseits eine sichtbare Oberfläche, ein irdisches Kleid, den Signifikanten mithin und andererseits eine verborgene Hinterwelt, einen metaphysischen Kern: das Signifikat. Das ist die Basis von Stifters .objektivem Idealismus' und seiner Abkehr von einer .naturalistischen' Abbildungsprogrammatik, zu der er dort zu neigen scheint, wo er gegen seine semiotische Einsicht an einer unmittelbaren Präsenz der göttlichen Ordnung in der Welt festhält. Nun erscheint allerdings das Zeichen bei Stifter in einem zutiefst zweideutigen Licht: In ihm nämlich durchdringen sich eine Absenz und eine Präsenz; ein Unsichtbares wird dem Bewußtsein vergegenwärtigt, jedoch nur in einem Anderen, das es vertritt. Solche Re-Präsentation birgt aber zugleich die Gefahr, daß sich der Signifikant gewissermaßen von dem losreißt, dem er nur zu dienen hätte, und ein irreführendes Eigenleben beginnt. Er kann seine Bedeutung nicht nur darbieten, sondern gerade auch unkenntlich machen. Zeichen können, wie etwa der .Hochwald' ausdrücklich unterstreicht, „trügen". 5 3 Ja, der Verdacht ist nie ganz auszuräumen, daß das vermeintliche Zeichen am Ende überhaupt keines sei. Diese Ambivalenz überträgt sich insbesondere auf das Naturbild Stifters. Sosehr dieser sich bemüht, die Natur als freundlich und gut darzustellen, sosehr ist sie ihm die Quelle ständiger Bedrohung, die einen Prozeß permanenter Kulturation in Gang setzt. Gut und freundlich ist Stifters Natur immer nur dort, wo sie transparent scheint auf ein zugrunde liegendes „sanftes Gesetz", doch wird dieser Durchblick von der faktischen Unlesbarkeit der Natur vor allem in ihren bedrohlichen und vernichtenden Erscheinungen und in der Folge von einem kaum verhohlenen Zweifel am guten Sinn des Realen in Frage gestellt. Auf knappstem Raum tritt die ganze Problematik in einer Passage der .Zwei Schwestern' zutage, die einerseits auf der metaphysischen Designation der Natur insistiert, andererseits die völlige Opazität eben dieser Natur herausstellt und damit ihre Lesbarkeit und ihren Zeichencharakter wieder in Frage stellt: Die Natur, sagt Alfred Mussar, „ist das Kleid Gottes, den wir anders als in ihr nicht zu sehen vermögen, sie ist die Sprache, wodurch er einzig zu uns spricht, sie ist der Ausdruk der Majestät und der Ordnung: aber sie geht in ihren großen eigenen Gesezen fort, die uns in tiefen Fernen liegen, sie nimmt
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SW. Bd. 18, S. 77; ursprünglich Bd. 14 (1. Aufl.), S. 12. SW. Bd. 16, S. 344. Vgl. WuB. Bd. 1.1. S. 212f.. S. 276. S. 298 u.ö.
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keine Riiksicht, sie steigt nicht zu uns herab [...]". 54 Der Natur in ihrem materiellen Dasein gilt letztlich Stifters tiefes, nur mühsam vor sich und anderen kaschiertes Mißtrauen. Das Göttliche in der Erscheinungswelt „zu fassen und zu bringen", 5 5 ist somit alles andere als ein leichtes Unterfangen, zumal hier noch ein weiterer Aspekt der Problemkonstellation zu berücksichtigen ist. Das „Göttliche" zeigt ja nicht einfach sich in den Dingen, sondern es muß , g e f a ß t \ gelesen, interpretiert werden. Der Künstler wird zum Detektiv auf den Spuren Gottes, und darin kommt eine Leistung des Subjekts notwendig ins Spiel. 5 6 In dem wichtigen Ausstellungsbericht von 1867 schreibt Stifter: „Das höchste Werk, worin dieses Göttliche ausgedrückt wird, ist die Welt, die Gott erschaffen hat. Und wenn der Mensch das Göttliche durch die Kunst darstellen will, so ahmt er Theile der Welt nach" - um kurz darauf hinzuzufügen, der Künstler bringe „ohne Wissen das Göttliche, wie es sich in seiner Seele spiegell, in sein Werk". 57 Insofern drückt sich in diesem nicht nur, wie Stifter mancherorts glauben machen will, das Göttliche in der äußeren Welt aus, sondern immer auch die subjektive Auffassung, die Reflexion dieses Göttlichen im Inneren, wie Stifter optimistisch den Rezeptionsakt umschreibt, der die Dinge allererst als Zeichen und Ausdruck eines Unsichtbaren begreift. Sosehr er sich an der zitierten Stelle bemüht, das Verhältnis von Innerlichkeit und Außenwelt als eine Ubereinkunft darzustellen, indem er das innere Vor-Bild des Kunstwerks als Abbildung des äußeren Göttlichen ausgibt, sosehr macht die Schwierigkeit, dieses zu „finden" und zu „fassen", deutlich, daß hier der strukturelle Ort des Verdachts ist, die Rede vom Göttlichen, vom „sanften Gesetz", vom Wesen und Ziel der Natur sei vielleicht nichts als eine Unterstellung - ein „fantastisches Ding" eben. Nach einer ersten Vermittlung - der des Göttlichen in den Dingen - und einer zweiten, nämlich subjektiven Vermittlungsstufe kommt im Kunstprozeß nun auch noch eine dritte hinzu: Denn die vorgebliche Spiegelung des Göttlichen in der Seele muß im nächsten Schritt wieder nach außen gewendet und materialisiert werden. Hier setzt die Arbeit der künstlerischen Umsetzung ein. Dem Wunschbild eines unmittelbaren Erscheinens des Signifikats der Natur korrespondiert dabei die Idee eines organischen Wachsens, einer vermittlungsfreien und unverfälschten Selbstpräsentation des Inneren also. Der Semiotiker in Stifter weiß es anders. „Die höchste geistige Idee soll im Kunstwerke herr-
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WuB. Bd. 1.6, S. 357. SW. Bd. 14, S. 218. Ausgerechnet in dem Objektbereich, den Stifter bevorzugt - dem Kleinen gegenüber dem Großen - , stellt sich dieses Problem besonders nachdrücklich: „Kleine Gegenstände [...] bedürfen eines besonders innigen, tiefen [...] G e m ü t h e s , weil das Ideal in der Kleinheit des Gegenstandes so schwierig zu finden ist " (ebd., S. 218f.) Ebd., S. 217, S. 219.
,,Realismus " oder ,.Idealismus "
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sehen, aber ihr Träger kann in d e m s e l b e n nur das Sinnliche sein." 5 8 Wie das u n s i c h t b a r e Göttliche bedarf auch das unsichtbare Innere, um „ g e f a ß t " w e r d e n zu k ö n n e n , eines „ K l e i d e s " . E b e n s o aber wie in der Natur der Z e i c h e n k ö r p e r nicht b l o ß e r Abdruck seines S i g n i f i k a t s ist, sondern dieses verstellen k a n n , setzt auch hier die Materie der Z e i c h e n dem A u s d r u c k s w i l l e n e n t s c h i e d e n e n W i d e r s t a n d e n t g e g e n . Stifters A u f s p a l t u n g des Werks in Seele und Körper, G e d a n k e und A u s f ü h r u n g , Innen und A u ß e n begründet das D a u e r l a m e n t o ü b e r den u n b e f r i e d i g e n d e n Verlauf seiner Arbeitsprozesse, in denen eine u n a u f h e b bare D i f f e r e n z z w i s c h e n G e w o l l t e m und tatsächlich E n t s t a n d e n e m herrscht und in i m m e r neuen Arbeitsschritten m i n i m i e r t werden soll. So sind es zu einem guten Teil Probleme des Zeichenprozesses selbst, die die Widersprüche in Stifters ästhetischem Denken hervortreiben. In diesem streitet nicht nur das rousseauistische Wunschbild einer unmittelbaren Präsenz des G e m e i n t e n mit der Einsicht des Semiotikers in die Unhintergehbarkeit von Vermittlung, die das Ich immer wieder in den Kunstprozeß zurückholt. H ä u f i g reicht die Rolle des Ichs in Stifters Kunstreflexion deutlich über die unvermeidlichen vermittelnden Funktionen von Subjektivität im Dienst des Realen hinaus. Und auch das ist, auf seiner Kehrseite gewissermaßen, ein Effekt des Z e i c h e n charakters der Welt. Stifters Ä u ß e r u n g e n zur Kunst sind punktuell, situationsbezogen und perspektivisch. Wo der G e d a n k e auf das göttliche Signifikat der Dinge geht, wo der Welt mithin eine sinnfällige oder lesbare Ordnung unterstellt wird, da vertritt Stifter aufs strengste das Prinzip der Mimesis. Tritt h i n g e g e n das nackte Dasein der Dinge in seiner potentiellen Bedrohlichkeit und semiotischen Undurchdringlichkeit ins Gesichtsfeld, so wächst Zweifel an derart f r o m men Postulaten. Vielleicht verweisen die Dinge ja gar nicht als Zeichen auf eine O r d n u n g , sondern indizieren lediglich eine „letzte U n v e r n u n f t des Seins", wie im , H o c h w a l d ' und in der , A b d i a s ' - V o r r e d e geargwöhnt wird. 5 9 Dann schlägt die Stunde des subjektiven Ideals, in dem die schlechte Welt zu j e n e m utopischen Schein gelangt, der ihr in Wahrheit fehlt. Stifter kann dann an seine A m a lia schreiben - und dieser Satz hätte eigentlich f ü r eine Sensation in der StifterForschung sorgen müssen: „Lasse uns so unsere Herzen bewahren, und Alles Alles ist f ü r uns auf der Erde ein Paradies; denn das Paradies liegt alle Mal in uns, nicht draußen in dem Bau der Welt, der nur durch unser Auge schön wird".b0 Im Ensemble von Stifters ästhetischen Reflexionen wiederholt sich damit aufs genaueste ein Widerspruch, der auch sein literarisches Werk strukturiert: der Widerspruch zwischen einem nachgerade verzweifelten Festhalten an tradierten metaphysischen Sicherheiten und dem trockenen Konstatieren ihres Z u s a m m e n b r u c h s , der das zutiefst beargwöhnte Subjekt als den letzten G a r a n ten einer erträglichen Welt hinterläßt.
58 59 60
Ebd., S. 114. WuB. Bd. 1.1, S. 289; Bd. 1.5, S. 237f. 1 0.8.1866; SW. Bd. 21, S. 266.
Karl M ö s e n e d e r
Stimmung und Erdleben Adalbert Stifters Ikonologie der Landschaftsmalerei
I Von 1854 bis 1867, also ein J a h r vor s e i n e m Tod, f ü h r t e Stifter zum persönlichen G e b r a u c h ein M a l e r t a g e b u c h . Darin n o t i e r t e er auf 43 Seiten akribisch j e d e f ü r L a n d s c h a f t s g e m ä l d e a u f g e w a n d t e S t u n d e und Minute. Eine tabellarische Ü b e r s i c h t auf d e m Vorsatzblatt nennt und erläutert mit knappen Worten die Titel d e r b e g o n n e n e n und g e p l a n t e n Bilder: „ A m 5 l F e b r u a r 1854 war in A r b e i t . Landschaften 1. Die V e r g a n g e n h e i t , römische Ruinen 2. Die Heiterkeit, griechische Tempelruinen
Bis auf den Vordergrund gez e i c h n e t . Die L u f t gemalt. M i t t e l g r u n d gezeichnet Luft und H i n t e r g r u n d gemalt.
3. Die S e h n s u c h t . 4. Die B e w e g u n g , strömendes Wasser
M o n d s t ü c k . Die Luft gemalt. Bis auf die L u f t und Theile des V o r d e r g r u n d e s gezeichnet
( W u r d e später v e r w o r f e n
neu g e z e i c h n e t . )
Im K o p f e e n t w o r f e n a b e r noch nicht b e g o n n e n 5. 6. 7. 8.
Die Die Die Die
R u h e . See mit S c h n e e b e r g E i n s a m k e i t , R u i n e n mit M o n d a u f g a n g Schwermuth. Mondstück. Feierlichkeit (Großglockner.)"1
L a n g e Zeit hielt m a n die d u r c h w e g s u n v o l l e n d e t g e b l i e b e n e n oder - wie im Fall der F e i e r l i c h k e i t ' - erst gar nicht in A n g r i f f g e n o m m e n e n Bilder f ü r verloren. L e d i g l i c h in der S t u d i e n f a s s u n g eines N a c h t s t ü c k s mit römischen Ruinen ( A b b . 1) w u r d e die Vorlage f ü r das u n t e r g e g a n g e n e G e m ä l d e ,Vergangen-
,Aus dem Tagebuch über M a l e r a r b e i t e n ' ; SW. Bd. 14. S. 358.
Stimmung
19
und Erdleben
h e i l ' vermutet. 2 Diese Einschätzung änderte sich erst im Z u g e der Vorbereitungen für die Stifterausstellung der Graphischen S a m m l u n g A l b e r t i n a
1938.
Damals identifizierte Franz G l ü c k z w e i ehedem zumeist . A t h e n mit der A k r o p o l i s ' benannte G e m ä l d e ( A b b . 4, 5 ) als unterschiedliche Fassungen der . H e i terkeit'. 3 W e n i g später wurden d i v e r s e W i e d e r g a b e n eines G e b i r g s b a c h e s als Darstellungen
der . B e w e g u n g '
( A b b . 7, 9,
10) bekannt gemacht. 4
Wissen-
schaftliche Begründung schließlich erfuhren die drei unterschiedlich verläßlichen Zuordnungen in der M o n o g r a p h i e , die Fritz N o v o t n y d e m M a l e r
1941
w i d m e t e . N o v o t n y war es auch, der, ältere B e g r i f f l i c h k e i t rezipierend, 5 Stifters W e r k g r u p p e d e f i n i t i v den Titel „ s y m b o l i s c h e L a n d s c h a f t e n " gab. 6 Dieser problematische Terminus hat sich behauptet und wirkte bislang
interpretati-
onslenkend. Frägt man weiter nach der „fortuna c r i t i c a " der späten Bilder, so ist festzustellen, daß sich die kunsthistorische und literaturwissenschaftliche Forschung bislang im wesentlichen von z w e i Fragestellungen leiten ließ. Z u m einen suchte man w e c h s e l s e i t i g e Entsprechungen im Œuvre des M a lers und Dichters a u f z u z e i g e n . So wurde verschiedentlich auf die Ä h n l i c h k e i t der G e m ä l d e t i t e l mit den Kapitelüberschriften des 1857 erschienenen
.Nach-
s o m m e r s ' h i n g e w i e s e n : A u c h sie seien meist mit A r t i k e l versehene Abstrakta und benennten a l l g e m e i n e Dispositionen des natürlichen und humanen Seins ( , D i e E i n k e h r ' , . D i e B e h e r b e r g u n g ' etc.). 7 E r g i e b i g e r waren die Bemühungen, synchrone
Stiltendenzen
offenzulegen. Novotny
meinte, daß der
„Schwere
und d e m rätselvoll grüblerischen Gehalt der späten L a n d s c h a f t s k o m p o s i t i o n e n seit M i t t e der F ü n f z i g e r j a h r e " Diktion und Realitätsbezug des . N a c h s o m m e r s '
2
Verzeichnis der Adalbert Stifter-Sammlung in der Albertina. W i e n 1932, S. 43.
1
Franz Glück: Der Maler Adalbert Stifter. In: W i e n e r Zeitung. 28. Jänner 1938, S. 7. V g l . Fritz N o v o t n y . Adalbert Stifter als Maler. W i e n 1941, S. 30f., S. l O l f . - D a g e g e n stellte Margret Dell in ihrer 1939 erschienenen Frankfurter Dissertation nur die Frage, ob die „ A t h e n " oder „ A t h e n und A k r o p o l i s " genannten G e m ä l d e mit der .Heiterkeit' in Zusammenhang gebracht werden könnten: Adalbert Stifter als bildender Künstler. W ü r z burg 1939, S. 43f.
4
W i l h e l m Hausenstein: A d a l b e r t Stifter als Maler. In: Frankfurter Zeitung, 1. D e z e m b e r 1940, S. 8. - Ders: Adalbert Stifter als Maler. G e l e g e n t l i c h der E r ö f f n u n g einer dauernden Ausstellung seiner Bilder, Studien und Zeichnungen in der Albertina zu W i e n 1940. In: M e i s s e l , Feder und Palette. München 1949, S. 356. - W i e aus Hausensteins Z e i tungsartikel hervorgeht, hatte N o v o t n y dem Autor Einblick in seine erst 1941 publizierten Forschungen gewährt.
5
N o v o t n y (o. A n m . 3), S. 99, S. l O l f f . - Adalbert Horcicka: Einleitung; SW. Bd. 14 (Prag. 1. A u n . 1901), S. X L V I I I : „ A l l e g o r i e n " . - Verzeichnis ( o . A n m . 2), S. 10: „symbolische G e m ä l d e " . - Glück (o. A n m . 3), S. 7: „Steigerung des Ausdrucks ins S y m b o l i s c h e " .
6
N o v o t n y (o. A n m . 3), S. 30f.
7
Hausenstein 1940 (o. A n m . 4). - Ders.: 1949 ( o . A n m . 4 ) S. 356. - Waither Rehm: Nachsommer. Zur Deutung v o n Stifters Dichtung. München 1951, S. 105. - Donat de Chapeaurouge: „ D a s A u g e ist der Herr, das Ohr ein K n e c h t " . Der W e g von der mittelalterlichen zur abstrakten M a l e r e i . W i e s b a d e n 1983, S. 127.
20
Karl
Möseneder
und des .Witiko' entsprächen. 8 Das „Verhältnis z w i s c h e n Gedanke und Anschaulichkeit, das Gewicht des Gedanklichen und das Gegengewicht der naturnah gebildeten Einzelform" rücke die Landschaften an die späten Dichtungen ebenso heran wie „die verhaltene Feierlichkeit und die g e w i s s e Sachlichkeit, die dem Abstraktions- und Typisierungsdrang Einhalt gebieten". 9 Eine Konvergenz von Stifters Mal- und Dichtkunst in Richtung Abstraktion und Reduktion auf Elementarkategorien konstatierte auch Walter Weiss. Danach seien die symbolisch-allegorischen Landschaftsgemälde als kühner Schritt auf die Abstraktionskunst der Moderne hin zu bewerten. 1 0 Mit dieser Interpretation ist der Übergang zu einem zweiten Forschungsfeld angezeigt. Anliegen seiner Vertreter war es, zu demonstrieren, daß Stifters Schaffen als Maler „in der Intention und in dem Geist, der es beseelt [...], durch das Vorstoßen in bisher unbekanntes Gelände so ziemlich über alles hinausgeht, was in seiner Umgebung zu seiner Zeit geschaffen wurde". 11 Avantgardismus verrate nicht allein die Verwandtschaft der Bilder mit Werken des Impressionismus oder von Cézanne, 1 2 sondern auch die intentionale Nähe zu den Zielsetzungen des „Blauen Reiters" und des Kubismus. Die .Heiterkeit' (Abb. 4, 5) weise auf die Farbentheorie Kandinskys, die . B e w e g u n g ' (Abb. 7, 9) auf Duchamps .Akt, die Treppe herabsteigend' (1911/12) voraus etc. 1 3 Das Atomzeitalter gewissermaßen antizipierend, hätte Stifter in seinem zuletzt genannten Landschaftsgemälde sogar die verborgenen kinetischen Energien der Materie zu visualisieren gesucht. 1 4
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N o v o t n y (o. A n m . 3), S. 48. - Ä h n l i c h : R e n a t e W a g n e r - R i e g e r : A d a l b e r t Stifter und die b i l d e n d e K u n s t . In: Neue Beiträge zum G r i l l p a r z e r - und S t i f t e r - B i l d . G r a z / W i e n / K ö l n 1965, S. 139. Fritz N o v o t n y : S t i f t e r und P i e p e n h a g e n . In: Ü b e r das „ E l e m e n t a r e " in der K u n s t g e schichte und a n d e r e A u f s ä t z e . Wien 1968, S. 103. - Vgl. d a z u d i e kritischen A n m e r k u n gen von Ursula N a u m a n n : A d a l b e r t Stifter. Stuttgart 1979, S. 91 f. Walter Weiss: S t i f t e r s R e d u k t i o n . In: G e r m a n i s t i s c h e S t u d i e n . I n n s b r u c k e r B e i t r ä g e zur K u l t u r w i s s e n s c h a f t 15 ( 1 9 6 9 ) , S. 214. - Ders.: Zu A d a l b e r t S t i f t e r s D o p p e l b e g a b u n g . In: B i l d e n d e Kunst und Literatur. Beiträge z u m P r o b l e m ihrer W e c h s e l b e z i e h u n g e n im n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t . Hrsg. von W o l f d i e t r i c h R a s c h . F r a n k f u r t a. M. 1970, S. 115. Vgl. W e m e r T h o m a s : S t i f t e r s L a n d s c h a f t s k u n s t in S p r a c h e und M a l e r e i . Versuch e i n e r w e c h s e l s e i t i g e n Interpretation in der Novelle . B r i g i t t a ' . In: D U 8 ( 1 9 5 6 ) , S. 16f. - J a n n e t j e E n k l a a r - L a g e n d i j k : A d a l b e r t Stifter. L a n d s c h a f t und R a u m . A l p h e n aan d e n R i j n 1984, S. 10. G l ü c k (o. A n m . 3). N o v o t n y (o. A n m . 9), S. 104. - Donald C. R i e c h e l : A d a l b e r t S t i f t e r as L a n d s c a p e Painter: A View f r o m C é z a n n e ' s M o n t S a i n t e - V i c t o i r e . In: M o d e m Austrian L i t e r a t u r e 2 0 ( 1 9 8 7 ) , S. I f f . F r a n z B a u m e r : „ M u s i k für das A u g e " . P r o g e s s i v e E l e m e n t e bei A d a l b e r t Stifter als M a ler und Zeichner. In: V A S I L O 31 (1982), S. 124. - U r s u l a R. M a h l e n d o r f : S t i f t e r s A b s a ge an die K u n s t ? In: G o e t h e z e i t . Studien zur E r k e n n t n i s u n d R e z e p t i o n G o e t h e s u n d seiner Z e i t g e n o s s e n . Festschrift f ü r Stuart A t k i n s . Hrsg. von G e r h a r t H o f f m e i s t e r . B e r n / M ü n c h e n 1981, S. 374. B a u m e r (o. A n m . 13), S. 134f.
Stimmung und
Erdleben
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So u n t e r s c h i e d l i c h die F o r s c h u n g s a n s ä t z e im Hinblick auf Schlüssigkeit und B r a u c h b a r k e i t d e r E r g e b n i s s e auch sein m ö g e n - der w e r k i m m a n e n t e n S p i e g e l u n g von Malerei und D i c h t u n g wie der S u c h e nach fortschrittlichen, auf die a b s t r a k t e K u n s t h i n f ü h r e n d e n T e n d e n z e n ist eines g e m e i n : Beide nähern sich den L a n d s c h a f t s g e m ä l d e n o h n e R ü c k s i c h t auf den historischen K o n text ihrer E n t s t e h u n g . Da beide F r a g e s t e l l u n g e n Stifters Leistung nicht vor d e m H i n t e r g r u n d seiner k ü n s t l e r i s c h e n und k u n s t t h e o r e t i s c h e n Voraussetzungen zu w ü r d i g e n bestrebt sind, g e r a t e n sie in G e f a h r , den Maler und seine Werke d e r G e s c h i c h t l i c h k e i t zu b e r a u b e n . Die massive Überinterpretation Stifters als A h n e der M o d e r n e g r ü n d e t in diesem m e t h o d i s c h e n Defizit.
II Wie es s c h e i n t , ist d i e tabellarische A u f s t e l l u n g des M a l e r b u c h e s a u f g r u n d ihrer G l i e d e r u n g nach Haupt- und Nebentitel und der daraus resultierenden ikon o l o g i s c h e n D e u t l i c h k e i t in d e r K u n s t g e s c h i c h t e des 19. J a h r h u n d e r t s o h n e rechte P a r a l l e l e . Nicht allein d e s h a l b sollte der Notiz g e b ü h r e n d e A u f m e r k samkeit g e s c h e n k t w e r d e n . W i s s e n s c h a f t l i c h e Z u w e n d u n g darf sie auch fordern, weil sich in S t i f t e r s Zeilen - und das ist kein Widerspruch zur eben konstatierten Singularität - in e x e m p l a r i s c h e r Weise eine verbreitete Konzeption von L a n d s c h a f t s m a l e r e i m a n i f e s t i e r t : Die ü b e r r a s c h e n d e Klarheit ihrer Form u l i e r u n g ist es, w e l c h e die E i n t r a g u n g des M a l e r t a g e b u c h e s zu einer hochr a n g i g e n , b i s l a n g u n t e r s c h ä t z t e n k u n s t h i s t o r i s c h e n Quelle m a c h t . Das von Stifter k ü r z e l h a f t artikulierte Verständnis von L a n d s c h a f t s m a l e r e i gründet in e i n e r letztlich p h y s i o g n o m i s c h - e m o t i o n a l i s t i s c h e n A u f f a s s u n g von Natur und K u n s t . D i e s e Art e i n e s u n m i t t e l b a r e n , f r e i e n A u s d r u c k s v e r s t e h e n s hatte sich, von E n g l a n d h e r k o m m e n d , seit etwa 1770 auch im d e u t s c h s p r a c h i gen R a u m d u r c h g e s e t z t und die h o c h k o n v e n t i o n a l i s i e r t e Bildsprache des Barock a b g e l ö s t . Die W i r k m ä c h t i g k e i t d e r neuen Ästhetik zeigt nichts deutlicher als das F a k t u m , daß n u n selbst die A r c h i t e k t u r unter dem Vorzeichen von Anm u t u n g s q u a l i t ä t e n betrachtet und k o n z i p i e r t werden konnte. 1 5 Der t i e f g r e i f e n d e Wandel ließ im Bereich der G a r t e n k u n s t , die bezeichn e n d e r w e i s e d a m a l s zur F ü h r u n g s m a c h t unter den Künsten aufstieg, m a n n i g f a l t i g e S t i m m u n g s l a n d s c h a f t e n j e n s e i t s der klassischen Paarung heroisch
15
Isa L o h m a n n - S i e m s : Der universale Formbegriff in der Physiognomik des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der gegenwärtigen Kunsttheorie. In: Jahrbuch der H a m b u r g e r K u n s t s a m m l u n g e n 9 (1964), S. 4 9 - 7 4 . - Norbert Borrmann: Kunst und Physiognomik. M e n s c h e n d e u t u n g und Menschendarstellung im Abendland. Köln 1994, S. 8 8 - 1 4 7 . - Hanno-Walter Kruft: Revolutionsarchitektur für Deutschland? In: Jahrbuch des Zentralinstituts für Kunstgeschichte München 3 (1987), S. 2 7 7 - 2 8 9 . - Ulrich Schütte: A u f k l ä r u n g , E m p f i n d s a m k e i t und die Krise der Architektur um 1800. Zu den „Untersuchungen über den Charakter der G e b ä u d e " von 1785. In: Idea 8 (1989), S. 5 7 - 7 4 .
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Karl
Möseneder
und idyllisch e n t s t e h e n . In s e i n e m 1779/85 e r s c h i e n e n e n m e h r b ä n d i g e n Landschaftstraktat schilderte Christian Cay Lorenz Hirschfeld a u s f ü h r l i c h die unterschiedlichen „ C h a r a k t e r e " und e m o t i o n a l e n W i r k u n g e n von G e g e n d e n , die in der N a t u r v o r g e f u n d e n o d e r von M e n s c h e n h a n d mit künstlichen Mitteln als G ä r t e n g e s c h a f f e n w e r d e n . Den a u f g e w i e s e n e n vier K a t e g o r i e n entsprächen vier E m p f i n d u n g s m o d i : a n g e n e h m - h e i t e r , r o m a n t i s c h , feierlich und sanft mel a n c h o l i s c h . 1 6 Z u r V e r a n s c h a u l i c h u n g einer „sanft m e l a n c h o l i s c h e n " Natur, um nur dieses Beispiel h e r a u s z u g r e i f e n , hat Hirschfeld dem Gartentraktat einen K u p f e r s t i c h b e i g e g e b e n ( A b b . 2), d e r eine nächtliche Szenerie mit Tempelruine zeigt. 1 7 D i e s e G r a p h i k läßt sich u n s c h w e r zu Stifters im Ersttitel genannten S t i m m u n g s f e l d e r n , V e r g a n g e n h e i t ' (Abb. 1), . S e h n s u c h t ' , . E i n s a m keit' o d e r . S c h w e r m u t ' bzw. zu ihren bildlichen E n t s p r e c h u n g e n als Mondstücke in B e z i e h u n g setzen. Damit d ü r f t e also dem Verständnis von Stifters T a g e b u c h n o t i z die R i c h t u n g g e w i e s e n sein. Um den Charakter von Landschaften zu bezeichnen, wurden also von Hirschfeld A d j e k t i v e ( „ a n g e n e h m - h e i t e r " , „ f e i e r l i c h " etc.) v e r w e n d e t , die im weitesten Sinn g e s p r o c h e n - sittliche A s s o z i a t i o n e n w e c k e n . Diese Art d e r Naturw a h r n e h m u n g ist nach Kant E l e m e n t eines allen M e n s c h e n g e m e i n s a m e n „habituellen m o r a l i s c h e n I n t e r e s s e s " . In der .Kritik der U r t e i l s k r a f t ' schreibt er (§ 59): „Wir n e n n e n G e b ä u d e und B ä u m e m a j e s t ä t i s c h und prächtig, o d e r Gefilde lachend und f r ö h l i c h ; selbst Farben werden unschuldig, b e s c h e i d e n , zärtlich genannt, weil sie E m p f i n d u n g e n erregen, die e t w a s mit d e m B e w u ß t s e i n eines durch m o r a l i s c h e Urteile b e w i r k t e n G e m ü t s z u s t a n d e s A n a l o g i s c h e s enthalten. Der G e s c h m a c k m a c h t g l e i c h s a m den Ü b e r g a n g vom S i n n e n r e i z zum habituellen m o r a l i s c h e n Interesse o h n e einen zu g e w a l t s a m e n S p r u n g m ö g lich, indem er die E i n b i l d u n g s k r a f t auch in ihrer Freiheit als z w e c k m ä ß i g f ü r den Verstand b e s t i m m b a r vorstellt und sogar an G e g e n s t ä n d e n der S i n n e auch o h n e S i n n e n r e i z ein f r e i e s W o h l g e f a l l e n f i n d e n lehrt." Kant f o r m u l i e r t e diese Zeilen im Kontext seiner A u s f ü h r u n g e n über die „ S c h ö n h e i t als S y m b o l der Sittlichkeit". Dieser Z u s a m m e n h a n g d ü r f t e f ü r Stifter, der Kant d u r c h a u s rezipiert hatte, 1 8 von e r h e b l i c h e m Interesse gew e s e n sein, denn auch ihm stellte sich, wie er nicht m ü d e wird zu wiederholen, „das schlichte Sittliche als letzte G r u n d l a g e j e d e s S c h ö n e n " dar. 1 9
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Christian Cay L o r e n z H i r s c h f e l d . T h e o r i e der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig 1779, S. 186ff. - Vgl. W o l f g a n g S c h e p e r s : H i r s c h f e l d T h e o r i e der G a r t e n k u n s t 1 7 7 9 - 1 7 8 5 . W o r m s 1980, S. 3 0 f f . H i r s c h f e l d (o. A n m . 16). Bd. 4. L e i p z i g 1782, S. 3 8 f f . , S. 86. S e p p D o m a n d i : W i e d e r h o l t e S p i e g e l u n g e n . Von Kanl und G o e t h e zu Stifter. Ein Beitrag zur ö s t e r r e i c h i s c h e n G e i s t e s g e s c h i c h t e . L i n z 1982. ,An das V i c e d i r e k t o r a t d e r p h i l o s o p h i s c h e n S t u d i e n an der U n i v e r s i t ä t W i e n ' ; SW. Bd. 14, S. 303, vgl. S. 305. - W e i t e r e B e l e g s t e l l e n n e n n e n f o l g e n d e A r b e i t e n : M a r g a r e t e G u m p : S t i f t e r s K u n s t a n s c h a u u n g . Berlin 1927, S. 9 - 1 9 . - Kurt G e r h a r d F i s c h e r : Die P ä d a g o g i k d e s M e n s c h e n m ö g l i c h e n . A d a l b e r t Stifter. Linz 1962, S. 4 7 7 , S. 5 0 4 - 5 0 7 . -
Stimmung
und
Gleichwohl
23
Erdleben
ist m a n
nicht
genötigt, gezielte philosophische
Lektüre
voraus-
zusetzen. Derartige A n s i c h t e n über die moralisch-sittliche Wirkung von Natur waren quasi Teil der o p i n i o c o m u n i s über L a n d s c h a f t , j a sie bildeten geradezu den H a u p t s t r a n g im ä s t h e t i s c h e n D i s k u r s von J o h a n n G e o r g e S u l z e r bis F r i e d rich T h e o d o r Vischer. So
wie die Betrachtung
der Natur „Empfindungen
s i t t l i c h e r und
leiden-
s c h a f t l i c h e r A r t " w e c k e , h e i ß t e s e t w a in S u l z e r s . T h e o r i e d e r S c h ö n e n
Kün-
ste", s o m ü s s e der L a n d s c h a f t s m a l e r „ G e d a n k e n , N e i g u n g e n r e g e m a c h e n und E m p f i n d u n g e n h e r v o r l o c k e n " . „ B a l d m u ß e r u n s zu b e t r a c h t e n d e m E r n s t e i n l a d e n , b a l d z u r F r ö h l i c h k e i t e r m u n t e r n ; izt a u s d e m G e t ü m m e l d e r W e l t in d i e Einsamkeit
loken".20
S u l z e r regt an, zur F o r t e n t w i c k l u n g
der Vernunft
A u s b i l d u n g des G e m ü t s e i n e n „ O r b i s p i c t u s " von L a n d s c h a f t s g e m ä l d e n l e g e n , w e l c h e r „der J u g e n d und d e m r e i f e r e n A l t e r alle n ü t z l i c h e [ n ] griffe
geben
und j e d e
S a y t e des G e m ü t h s
und anzu-
Grundbe-
zu i h r e m r i c h t i g e n T o n
stimmen
könnte".21 O b Stifter mit der geplanten B i l d e r f o l g e ähnlich unmittelbar
pädagogische
Z w e c k e verfolgte, bleibe dahingestellt. D o c h dürfte auch er der M e i n u n g wesen
sein, daß Landschaftsgemälde
eine
„sittliche
Illusion"
vor A u g e n
gezu
s t e l l e n h ä t t e n , u m e s m i t e i n e r F o r m u l i e r u n g z u s a g e n , d i e P h i l i p p H a c k e r t in seinem von Goethe edierten Malereitraktat
gebrauchte.22
W i e d i e s e s i t t l i c h e W i r k u n g zu e r z e u g e n s e i , d a r ü b e r h a t , n e b e n Friedrich
Schiller nachgedacht:
Er verglich -
anderen,
n i c h t a l s e r s t e r und s c h o n
nicht als letzter - den L a n d s c h a f t s m a l e r mit dem Musiker. B e i d e seien
gar
„See-
l e n m a l e r " und hätten b e z ü g l i c h des A u s d r u c k s von E m p f i n d u n g e n die A n a l o gien
zu
studieren,
phänomenen
die
zwischen
den
Gemütsbewegungen
und
Natur-
bestünden.23
Beispielhaft
thematisiert
Entsprechungsverhältnis
wurden
von
die
Stimmung
musikalische und
Natur,
Komponente von
und
Unsichtbarem
S i c h t b a r e m , in e i n e r 1 8 1 0 e n t s t a n d e n e n L i t h o g r a p h i e K a r l F r i e d r i c h
Schinkels
( A b b . 3 ) . S i e wird hier d e s h a l b e r w ä h n t , weil sie als ein rares B e i s p i e l Z w e i f e l ü b e r die i k o n o l o g i s c h e Z i e l s e t z u n g , d.h. hier also den halt, a u f k o m m e n
läßt. D i e
in A b b i l d u n g e n
oft unterdrückte
das und
keinen
StimmungsgeBildunterschrift
S c h i n k e l s lautet n ä m l i c h : „Versuch die lieblich s e h n s u c h t s v o l l e W e h m u t h ausz u d r ü c k e n , w e l c h e das H e r z b e i m K l a n g e des G o t t e s d i e n s t e s aus der
20
21 22
23
Kirche
Michael Johannes Böhler: Formen und Wandlungen des Schönen. Untersuchungen zum Schönheitsbegriff A. Stifters. Bern 1967. Johann George Sulzer. Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Dritter Theil. Leipzig 1779, S . 11 Vf. Ebd. Johann Wolfgang von Goethe. Philipp Hackert. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. I. Abt., Bd. 46. Weimar 1891, S. 375. Friedrich Schiller. Über Matthissons Gedichte. Nationalausgabe. Bd. 22: Vermischte Schriften. Hrsg. von Herbert Meyer. Weimar 1958, S. 272.
24
KarI
Möseneder
herschallend erfüllt". 2 4 In die abbreviaturhafte Sprache von Stifters Malertagebuch transponiert, könnte der entsprechende Eintrag etwa folgendermaßen lauten: „Wehmuth. Gothische Kirche hinter Bäumen". In dieselbe Perspektive lassen sich im übrigen auch programmatische Ausführungen aus dem Kreis der Düsseldorfer Malerschule rücken. 2 5 Mit der sittlichen, also letztlich moralisch-didaktischen Zielsetzung der Landschaftsmalerei vor und nach 1800 eng verwoben war eine sensualistischassoziative Komponente. Spezielle Erörterung fand sie in der Theorie Christian August Semlers. Er legte dar, daß das Spiel der Einbildungskraft („Rêverie"), das ein Landschaftsgemälde zu evozieren vermag, von seinem „Charakter" bestimmt ist, also etwa dem Charakter des Melancholischen, des Freundlichen oder Erhabenen. D i e s e Charaktere werden ihrerseits jeweils durch den „Totaleindruck", „den die Formen aller einzelnen Objekte in Verbindung miteinander hervorbringen", vermittelt. 2 6 Es komme somit alles darauf an, so Fernow, der Semlers zentralen Begriff des „Totaleindrucks" übernommen hatte, daß sich der „Karakter des Heiteren oder Ernsten, des Sanften oder Wilden, des Anmuthigen oder Schauerlichen, des Reizenden oder Erhabenen etc. [...] in der Komposizion der Landschaft selbst" gänzlich ausdrücke. „Wo jene Wirkung mangelt, w o nicht ein bestimmter Gesamteindruck, w o z u die Landschaft selbst den Grundton angibt, das Gefühl in Anspruch nimt, da mangelt das Wesentliche, die Poesie der Er-
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25
26
E v a B ö r s c h - S u p a n : Die B e d e u t u n g der M u s i k im Werke Karl Friedrich S c h i n k e l s . In: Z e i t s c h r i f t f ü r K u n s t g e s c h i c h t e 34 ( 1 9 7 1 ) , S. 2 5 8 f f . - Zur B e z i e h u n g L a n d s c h a f t - M u sik vgl. a u c h Karl S c h a w e l k a : Q u a s i una m u s i c a . U n t e r s u c h u n g e n zum Ideal des Musik a l i s c h e n in der M a l e r e i a b 1800. M ü n c h e n 1993, S. 120ff. H e r m a n n P ü t t m a n n : Die D ü s s e l d o r f e r M a l e r s c h u l e und ihre Leistungen seit d e r Erricht u n g d e s K u n s t v e r e i n s im J a h r e 1829. Ein Beitrag zur m o d e r n e n K u n s t g e s c h i c h t e . Leipzig 1839, S. 30: „In der L a n d s c h a f t s u c h e n wir das D u r c h b l i c k e n einer m e n s c h l i c h e n I d e e , w e l c h e d e m p h y s i s c h e n M o t i v e L e b e n e r t h e i l t . " - Friedrich von U e c h t r i t z : B l i c k e in das D ü s s e l d o r f e r K u n s t - u n d K ü n s t l e r l e b e n . D ü s s e l d o r f 1839. Bd. 1, S. 2 5 f . : „ D e r L a n d s c h a f t s m a l e r soll aber, w e n n er s e i n e m B e r u f e g a n z g e n ü g e n will, i m m e r e t w a s B e ß r e s als ein b l o ß e r A b s c h r e i b e r seyn. A u c h g e n ü g t es nicht, so gut und l o b e n s w e r t h es an sich seyn m a g , d a ß er den v o n der N a t u r g e g e b n e n Stoff in e i n e k u n s t m ä ß i g e F o r m b r i n g t , ihn g l e i c h s a m in d e m S p i e g e l e i n e s h a r m o n i s c h e n , e f f e c t v o l l e n B i l d e s a u f f ä n g t . W e n i g s t e n s auf der h ö c h s t e n S t u f e d i e s e r Kunst v e r l a n g e n wir, die O f f e n b a r u n g einer M e n s c h e n s e e l e , d e r uns v e r w a n d t e n S t i m m u n g e i n e s tiefen G e m ü t h e s in d e m Bilde des K ü n s t l e r s zu f i n d e n . " - Vgl. Irene M a r k o w i t z : R h e i n i s c h e Malerei im 19. J a h r h u n d e r t . In: E d u a r d Trier und Willy W e y r e s ( H r s g . ) : Die K u n s t d e s 19. J a h r h u n d e r t s im R h e i n land. Bd. 3: M a l e r e i . D ü s s e l d o r f 1979, S. 11 Of. C h r i s t i a n A u g u s t Semler. U n t e r s u c h u n g e n über die höchste V o l l k o m m e n h e i t in d e n Werk e n der L a n d s c h a f t s m a l e r e y . L e i p z i g 1800. Bd. 1, S. 8ff., S. 7 0 f f , S. 99, S. 2 8 8 f f . - Z u r „ R ê v e r i e " vgl. H i l m a r F r a n k : L a n d s c h a f t „ a p r è s la lettre". In: Bild und Text im D i a l o g . H r s g . von K l a u s D i r s c h e r l ( P I N K 3). P a s s a u 1993, S. 194. - Z u m „ T o t a l e i n d r u c k " v g l . G e r h a r d H a r d : D e r „ T o t a l c h a r a k t e r der L a n d s c h a f t " . R e - I n t e r p r e t a t i o n e i n i g e r T e x t s t e l len bei A l e x a n d e r von H u m b o l d t . In: A l e x a n d e r von H u m b o l d t . E i g e n e und neue Wert u n g e n der R e i s e n , Arbeit und G e d a n k e n w e l t . W i e s b a d e n 1970, S. 4 9 - 7 3 .
Stimmung und
Erdleben
25
f i n d u n g . " 2 7 O b S t i f t e r d i e s e Texte kannte oder nicht, sie d ü r f t e n , wie noch zu zeigen sein wird, seine Z u s t i m m u n g g e f u n d e n haben. Auf w e i t e r e B e l e g e , e t w a von S o l g e r oder Hegel, kann hier verzichtet werden. 2 8 Ihrer K ü r z e und P r ä g n a n z w e g e n nicht u n e r w ä h n t bleiben soll h i n g e g e n die D e f i n i t i o n , d i e Carl G u s t a v C a r u s in seinen Briefen über L a n d s c h a f t s m a lerei v o r l e g t e . D a n a c h besteht die H a u p t a u f g a b e dieses K u n s t z w e i g e s in d e r „ D a r s t e l l u n g e i n e r g e w i s s e n S t i m m u n g des G e m ü t h i e b e n s (Sinn) durch die N a c h b i l d u n g e i n e r e n t s p r e c h e n d e n S t i m m u n g des N a t u r l e b e n s (Wahrheit)". Man w i d e r s t e h t k a u m d e r Verlokung, Stifters G l i e d e r u n g nach Haupt- und Nebentitel d u r c h C a r u s ' U n t e r s c h e i d u n g von „ S i n n " und „ W a h r h e i t " e i n i g e r m a ßen v o r g e f o r m t zu s e h e n . 2 9 B e s c h l o s s e n w e r d e n soll dieser A b r i ß mit H i n w e i s e n auf zwei Texte, die Stifter, gleich C a r u s ' B r i e f e n , v e r m u t l i c h bekannt waren. 1843 v e r ö f f e n t l i c h t e Wilhelm H e b e n s t r e i t in Wien eine , E n z y k l o p ä d i e der Ä s t h e t i k ' . Der Artikel „ L a n d s c h a f t " e r k l ä r t im A n s c h l u ß an eine k n a p p e G e s c h i c h t e der B i l d g a t t u n g , w o r u m es g e h t : d a r u m , d a ß die L a n d s c h a f t auf das G e f ü h l zu wirken habe: „je m ä c h t i g e r dies g e s c h i e h t , u m s o h ö h e r steht die L a n d s c h a f t " . In ihrer spezifischen Qualität sei d i e s e Kunst „der Musik und Lyrik zu vergleichen, weil in ihr d e r K ü n s t l e r sich d e r N a t u r g e g e n s t ä n d e bedient, um sein inneres G e f ü h l zu v e r a n s c h a u l i c h e n , w o b e i j e d o c h er die einzelnen Partien so zu o r d n e n und zu v e r b i n d e n hat, d a ß d u r c h sie eine h e r r s c h e n d e S t i m m u n g klar und b e s t i m m t ausgesprochen wird".30 D a s z w e i t e Zitat f i n d e t sich in d e r einstmals aktuellsten, n ä m l i c h der 1854, also im Jahr d e r N i e d e r s c h r i f t des Vorsatzblattes, v e r ö f f e n t l i c h t e n Ästhetik von Friedrich T h e o d o r Vischer: „Die L a n d s c h a f t s m a l e r e i idealisiert eine g e g e bene Einheit v o n E r s c h e i n u n g e n der unorganischen und v e g e t a b i l i s c h e n N a t u r zum A u s d r u c k e i n e r g e a h n t e n S e e l e n s t i m m u n g " . Sollte es einem M a l e r nicht g e l i n g e n , d a ß d e m B e t r a c h t e r einer L a n d s c h a f t „ i r g e n d w i e zu M u t e w i r d " , so habe er nichts geleistet. 3 1 27
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29
30
31
L u d w i g von F e m o w . R ö m i s c h e Studien. Zweiter Theil. Zürich 1806, S. 21 f., S. 24, S. 33f. Karl Wilhelm Ferdinand Solger. Vorlesungen über Ästhetik. Hrsg. von Karl Wilhelm L u d w i g Heyse. Darmstadt 1980, S. 331 f. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Ästhetik. Berlin/Weimar 1976. Bd. 2, S. 206f. Carl Gustav Carus. Briefe über Landschaftsmalerei, geschrieben in den Jahren 1815— 1835. Leipzig 1835, S . 4 1 . - Die Stifterforschung hat die möglichen Beziehungen zu C a r u s bislang nicht gewürdigt. Einzig Dell (o. Anm. 3), S. 13, S. 33, S. 41, gab knappe, nicht weiter verfolgte Hinweise. Wilhelm Hebenstreit. Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik. Wien 1843, S. 411. Friedrich T h e o d o r Vischer. Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zweite Auflage. Hrsg. von Robert Vischer. München 1923. Bd. 4, § 698, S. 359f. - Eine Geschichte des S t i m m u n g s b e g r i f f s in der Landschaftsmalerei liegt bislang nicht vor. Vgl. Bodo Lecke: Das S t i m m u n g s b i l d : Musikmetaphorik und Naturgefühl in der dichterischen Prosaskizze 1 7 2 1 - 1 7 8 0 . Göttingen 1967. - Gabriele Hammel-Haider: Über den Begriff „ S t i m m u n g "
26
Kar! Möseneder
Vor dem Hintergrund der Theorie der Landschaftsmalerei des späten 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt sich also, daß Stifters letzte Gemälde mit den Adjektiven „symbolisch" oder „allegorisch" nur oberflächlich, vielleicht sogar irreführend bezeichnet wurden. Sie sind - die .Bewegung' (Abb. 7, 9, 10), von der noch zu reden sein wird, vorerst ausgenommen - assoziationenträchtige Stimmungsbilder, 3 2 von denen sittliche Wirkung ausgehen soll. Mit dem Haupttitel benannte Stifter die intendierte Stimmung bzw. den „Charakter" oder „Totaleindruck" eine Landschaft; mit dem Nebentitel das Medium zur Evozierung dieser Stimmung und adäquater Assoziationsketten oder „Rêverien". Ein solches Verständnis vermag sich nicht allein auf die Theoreme oder den Sprachgebrauch der zeitgenössischen Kunstliteratur zu stützen, sondern auch auf Aussagen von Stifter selbst. Sie lassen unmißverständlich erkennen, daß sich für den Dichter, Kritiker und Maler das Eigenste, das „Grundwesen" oder die „Seele" eines Bildwerkes in seiner physiognomischen Qualität offenbart. Die für Stifter fundamentale Bedeutung von „Anmutungsqualitäten" oder „anschaulichen Charakteren", so heißen die von der modernen Gestaltpsychologie gebrauchten Begriffe für „Charakter", und „Totaleindruck", 3 3 dokumentiert u.a. auf sehr bezeichnende Weise die aus dem Nachlaß überkommene autobiographische Skizze, in welcher der bejahrte Dichter vorbewußte Empfindungen der ersten Lebensjahre in Worte zu fassen sucht. Signifikant ist die Vorliebe für Substantivierungen: „Dann war Jammervolles, Unleidliches, dann Süsses, Stillendes. Ich erinnere mich an Strebungen, die nichts erreichten, und an das Aufhören von Entsezlichem und zu Zugrunderichtendem. Ich erinnere mich an Glanz und Farben, die in meinen Augen, an Töne, die in meinen Ohren, und an Holdseligkeiten, die in meinem Wesen waren." 3 4 Ähnliche Substantivierungen gebraucht Stifter, und damit wiederum zurück zur bildenden Kunst, bemerkenswert häufig für die abschließende Charakterisierung der sinnlich-sittlichen Qualität von Gemälden. Im ,Nachsom-
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anhand einiger Landschaftsbilder. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 41 (1988). S. 139-148. - Hilmar Frank: Idealbegriff und Landschaftsmalerei zwischen 1750 und 1850. Abgrenzungen, Anregungen, Paradigmenwechsel. In: Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch. Hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius und Wolfgang Thierse. Berlin 1990, S. 3 1 2 - 3 4 4 , bes. S. 333-336. Alois Raimund Hein (Adalbert Stifter. Sein Leben und seine Werke. Prag 1904, hier zitiert nach der 2. Auflage [Wien/Bad Bocklet/Zürich 1952], Bd. 2, S. 650f.) hatte das Stimmungshafte als erster betont. - Vgl. auch Wagner-Rieger (o. Anm. 8), S. 143. Ohne auf die hier besprochenen Bilder einzugehen, erörterte auch Dell (o. Anm. 3), S. 27-33, das Stimmungsmäßige der Dichtung und Malerei Stifters. Albert Wellek: Anmutung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. Bd. 1. Darmstadt 1971, Sp. 3 2 7 - 3 2 9 . - Otto Stelzer: Die Vorgeschichte der abstrakten Kunst. Denkmodelle und Vor-Bilder. München 1966, S. 83. ,Mein Leben'; SW. Bd. 25, S. 178. - Vgl. dazu zuletzt: Helmut Pfotenhauer: „Einfach [...] wie ein Halm". Stifters komplizierte kleine Selbstbiographie. In: DVjs 64 (1990), S. 135-148.
Stimmung
und
Erdleben
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m e r ' m ö c h t e R o l a n d mit seinem ü b e r d i m e n s i o n i e r t e n Felsenbild „ G e w a l t i g e s und F e u r i g e s " zur A n s c h a u u n g bringen; 3 5 in den . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' scheitert der L a n d s c h a f t s m a l e r Roderer, weil er „die Düsterheit, die E i n f a c h h e i t und E r h a b e n h e i t " d e s M o o r e s nicht d a r z u s t e l l e n v e r m a g . 3 6 A u c h in den ab 1851 e r s c h e i n e n d e n A u s s t e l l u n g s b e r i c h t e n zielt Stifter bem e r k e n s w e r t k o n s e q u e n t auf den S t i m m u n g s g e h a l t als Mitte des K u n s t w e r k e s . S o schätzt er an S p i t z w e g s . S p a z i e r g a n g ' die „ A n m u t h , Stille, E i n f a c h h e i t und L i e b l i c h k e i t " und f ü g t hinzu: „ D i e ß ist das G r u n d w e s e n des Bildes, das in j e d e m Tone, in j e d e r Farbe, in j e d e r Linie e r s c h e i n t . " Eine S e e l a n d s c h a f t Bürkels sei „ T r ä g e r e i n e r Innigkeit, einer T i e f e , R e i n h e i t und A n m u t h , die sich als Seele d e s Bildes in u n s e r e Seele senkt und ihr eine s a n f t e R u h e und B e f r i e d i gung schenkt".37 K e n n z e i c h n e n d f ü r den K u n s t k r i t i k e r S t i f t e r ist weiter, d a ß er in aller Regel v o m Licht, von a t m o s p h ä r i s c h e n Z u s t ä n d e n im G e m ä l d e ausgeht und es mit d e m H i m m e l b e g i n n e n d beschreibt. S o heißt es e t w a über Albert Z i m m e r m a n n s . M o r g e n d ä m m e r u n g am G r o ß e n V e n e d i g e r ' : „ D a s Bild ist [...] von der v o l l e n d e t s t e n H a l t u n g und S t i m m u n g . In der hellen M o r g e n l u f t s c h w e b t die e r b l a s s e n d e M o n d e s s i c h e l . D e r G l e t s c h e r und alles A n d e r e ist noch im Morg e n g r a u e n . J e n e e r h a b e n e Ruhe, wir m ö c h t e n s a g e n , Starrheit, in welcher die G e b i r g s w e l t des ersten Lichtes harrt, um von i h m a n g e h a u c h t zu w e r d e n , sieht uns aus d e m g a n z e n Bilde e n t g e g e n . Die tiefste Einheit des G a n z e n und doch die r e i c h s t e M a n n i g f a l t i g k e i t in F a r b e und Z e i c h n u n g herrscht in d e m Bild e . " 3 8 Ü b e r eine , V i e h e r d e ' von Friedrich Voltz liest man: „Die Sonne läßt hie und da ihr Licht d u r c h die B ä u m e auf das G r ü n der Weide fallen, belebt es mit ihren L i c h t b l i c k e n und gibt den T h i e r g r u p p e n etwas Fcierlichcs, das das G e m ü t h mit R u h e und Heiterkeit e r f ü l l t . " 3 9 Z i e h t man ein R e s ü m e e aus den z a h l r e i c h e n B i l d b e s c h r e i b u n g e n , so wird m a n s a g e n k ö n n e n : Stifter v e r g e g e n w ä r t i g t d e m Leser L a n d s c h a f t s g e m ä l d e über ihre b l o ß e G e g e n s t ä n d l i c h k e i t h i n a u s k o n s e q u e n t nach den j e w e i l s G a n z heit s t i f t e n d e n a t m o s p h ä r i s c h e n S t i m m u n g s q u a l i t ä t e n und g e d e n k t dabei wied e r h o l t d e r e n t s p r e c h e n d e n G e f ü h l s w i r k u n g e n b e i m R e z i p i e n t e n . Dies ist, zu z e i t g e n ö s s i s c h e n Verfassern von B i l d b e s c h r e i b u n g e n in Relation gesetzt, neu und ü b e r a u s b e m e r k e n s w e r t . Noch b e m e r k e n s w e r t e r ist freilich, d a ß Stifter seine p h y s i o g n o m i s c h e R e z e p t i o n s w e i s e nicht allein a n g e s i c h t s von Land-
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SW. Bd. 8.1, S. 53. S W . Bd. 13, S. 300. . O b e r ö s t e r r e i c h i s c h e K u n s t a u s s t e l l u n g . ( 1 8 6 3 . ) ' ; SW. Bd. 14, S. 212, S. 228. - Vgl. K n u t E. P f e i f f e r : K u n s t t h e o r i e und K u n s t k r i t i k im n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t . D a s Beispiel A d a l b e r t Stifter. B o c h u m 1977. - Ders.: A d a l b e r t S t i f t e r als Kritiker z e i t g e n ö s s i s c h e r L a n d s c h a f t s m a l e r e i . In: VAS1LO 77 ( 1 9 7 8 ) S. 9 5 - 1 2 3 . - P f e i f f e r geht auf diesen A s p e k t a l l e r d i n g s n i c h t ein. . A u s s t e l l u n g d e s o b e r ö s t e r r e i c h i s c h e n K u n s t v e r e i n e s . ( 1 8 6 1 . ) ' ; SW. Bd. 14, S. 185. . O b d e r e n n s i s c h e K u n s t a u s s t e l l u n g . ( 1 8 5 6 . ) ' ; SW. Bd. 14, S. 80.
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schaftsbildern pflegt - dort war es durch die theoretische Tradition gewissermaßen vorgezeichnet - , sondern vor K u n s t w e r k e n generell. Zugrunde liegt eine Ä s t h e t k , die Stifters Haltung noch f ü r die k u n s t w i s s e n s c h a f t l i c h e S t r u k t u r a n a lyse des 20. J a h r h u n d e r t s 4 0 interessant w e r d e n ließ: „Das M e r k m a l eines K u n s t w e r k e s aber ist einzig das, daß es im Leser [oder im Betrachter, A n m . des Verf.] j e d e S t i m m u n g a u f h e b t , und seine h e r v o r b r i n g t . " 4 1 Welch zentrale B e d e u t u n g Stifter der s t i m m u n g s m ä ß i g e n K o m p o n e n t e z u m i ß t , o f f e n bart auch die n ä h e r u n g s w e i s e D e f i n i t i o n d e s s e n , was den w a h r h a f t i g e n Künstler als rares I n d i v i d u u m vom H a n d w e r k e r u n t e r s c h e i d e t . „Was ist denn nun das, was der noch haben soll", f r a g t er in e i n e m Brief August P i e p e n h a g e n 1859 und antwortet selbst: „Der K ü n s t l e r hat j e n e s Ding in seiner Seele, das alle f ü h l e n d e n M e n s c h e n in ihrer Tiefe e r g r e i f t , das alle entzükt, und das keiner nennen k a n n . " Stifter „ m ö c h t e es wohl das G ö t t l i c h e nennen, [...] das der K ü n s t l e r in dem darstellt, was er hat, in r e i z e n d e n G e w a n d u n g e n . (...) Es liegt nie in einer Einzelheit, i m m e r im G a n z e n , wie die Seele nicht in der H a n d im F u ß e im H a u p t e sondern im g a n z e n K ö r p e r w o h n t . M a n c h e nennen dies Stimm u n g des K u n s t w e r k e s " . Um die G e m ä l d e des verehrten, ja ü b e r s c h ä t z t e n P i e p e n h a g e n zu c h a r a k t e r i s i e r e n , b e v o r z u g t Stifter im folgenden a l l e r d i n g s den h ö h e r r a n g i g e n Begriff „Geist": „Der Geist, der aus Ihren Bildern spricht, wendet sich mit Innigkeit an den unsern, und hebt ihn in ein b e s e l i g e n d e s G e f ü h l . Ö f t e r ist es wohl der Geist b e g l ü k e n d e r Heiterkeit, wie z.B. in dem Bilde, welches ich von Ihnen g e k a u f t habe; noch ö f t e r aber scheint es der Geist der S e h n s u c h t der S c h w e r m u t h der tiefen B e t r a c h t u n g oder der Düsterheit zu sein, der in Ihren Werken sich o f f e n b a r t [,..)." 4 2 Dieses B e k e n n t n i s verdeutlicht zweierlei: erstens, d a ß das M o m e n t der S t i m m u n g ins Z e n t r u m der ästhetischen A n s c h a u u n g Stifters führt, und zweitens, daß Stifter im Werke des Prager M a l e r s so etwas wie eine E r f ü l l u n g des eigenen Ideals erblickte. Denn i m m e r h i n drei der g e r ü h m t e n Verbildlichungen von „ S t i m m u n g " o d e r „Geist" hatte sich S t i f t e r selbst, wie das M a l e r t a g e b u c h ausweist, als P r o g r a m m v o r g e n o m m e n , nämlich ,Heiterkeit' (Abb. 4, 5), S e h n sucht' und . S c h w e r m u t h ' . U m s o b e d a u e r l i c h e r ist es, daß die a p o s t r o p h i e r t e n Bilder P i e p e n h a g e n s bislang u n b e k a n n t g e b l i e b e n sind. 4 3
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H a n s S e d l m a y r hat S t i f t e r w i e d e r h o l t als Z e u g e n f ü r die b e s o n d e r e Fähigkeit zu p h y s i o g n o m i s c h e r W a h r n e h m u n g g e n a n n t , z.B. in: K u n s t und Wahrheit. Z u r T h e o r i e und M e thode der K u n s t g e s c h i c h t e . H a m b u r g 1958, S. 106f. Dabei berief sich S e d l m a y r auf die späte a u t o b i o g r a p h i s c h e Skizze d e s D i c h t e r s (vgl. o. A n m . 34), nicht h i n g e g e n auf die viel e r g i e b i g e r e n A u s s t e l l u n g s b e r i c h t e oder d e n Brief an P i e p e n h a g e n v o m 1 3 . - 2 5 . D e z e m b e r 1859 (SW. Bd. 19, S. 1 9 7 - 2 0 8 ) . Brief an G u s t a v H e c k e n a s t , 29. O k t o b e r 1853; SW. Bd. 18, S. 187. Brief an A u g u s t P i e p e n h a g e n , 1 3 . - 2 5 . D e z e m b e r 1859; SW. Bd. 19, S. 1 9 9 - 2 0 1 . - A m 11. A u g u s t 1859 hatte Stifter P i e p e n h a g e n b e k a n n t : „Ihre G e m ä l d e sind u n v e r g l e i c h l i c h an S t i m m u n g " (SW. Bd. 19, S. 166). - Zur Ü b e r s c h ä t z u n g m a n c h e r K ü n s t l e r d u r c h S t i f ter vgl. W a g n e r - R i e g e r (o. A n m . 8), S. 1 3 6 - 1 4 4 . Vgl. N o v o t n y (o. A n m . 9), S. 1 1 5 - 1 2 3 .
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III Die B i l d b e s c h r e i b u n g e n geben auch d a v o n Z e u g n i s , welch a u s s c h l a g g e b e n d e Rolle Stifter H i m m e l und Licht f ü r die F e s t l e g u n g des S t i m m u n g s g e h a l t s speziell von L a n d s c h a f t s g e m ä l d e n z u m a ß . Die A u f m e r k s a m k e i t a t m o s p h ä r i s c h e n P h ä n o m e n e n g e g e n ü b e r entspricht d e m R a n g , den so m a n c h e r T h e o r e t i k e r des 19. J a h r h u n d e r t s d i e s e m Faktor e i n r ä u m t e . Bei d e r L a n d s c h a f t s m a l e r e i b e r u h e alles „auf den W u n d e r k ü n s t e n der L u f t p e r s p e c t i v " f a n d August W i l h e l m S c h l e g e l , und S c h e l l i n g m e i n t e , d a ß in dieser G a t t u n g „außer d e m G e g e n stand, d e m Körper, das Licht selbst als s o l c h e s z u m G e g e n s t a n d " w e r d e . 4 4 S t i f t e r wußte dies v o r r a n g i g a u s d e r e i g e n e n praktischen E r f a h r u n g . Sein S c h ü l e r R a n z o n i ü b e r l i e f e r t , wie sich der A u t o d i d a k t m e h r e r e S o m m e r hindurch abquälte, „die d u r c h s i c h t i g e , g l a n z v o l l e Bläue des w o l k e n l o s e n H i m mels mit seinen Farben n a c h z u b i l d e n " . 4 5 N a c h r i c h t vom letztendlichen Scheitern dieser B e m ü h u n g e n Stifters gibt B a r o n i n H a n d e l : „Ich habe einen Vollm o n d g e s e h e n , den er u n z ä h l i g e M a l e w i e d e r h o l t e , e h e er ihn g e n ü g e n d strahlend f a n d . Als nun der Mond v o l l e n d e t war, e r h o b sich erst die e i g e n t l i c h e S c h w i e r i g k e i t : wie sollten die G e g e n s t ä n d e g e h a l t e n w e r d e n , die der M o n d zu bestrahlen hatte? Stifters S i n n e nach m u ß t e j e d e r Stein deutlich w e r d e n , j e d e r B a u m seine Familie n e n n e n . D a s h o b aber w i e d e r die Illusion der Nacht, den Z a u b e r des U n b e s t i m m t e n auf [...]: i m m e r k l a f f t e eine L ü c k e z w i s c h e n weitester K o m p r e h e n s i o n und p e i n l i c h s t e r G e n a u i g k e i t . " 4 6 D i e s e Zeilen lesen sich als E r k l ä r u n g des N o n - f i n i t o bei S t i f t e r , als B e g r ü n d u n g , w e s h a l b in so a u f f a l lend vielen G e m ä l d e n z w a r d e r H i m m e l , d e r den G r u n d t o n a n z u g e b e n hatte, s o r g s a m zu Ende gemalt ist, d e r Vordergrund - in seiner detailierten D u r c h b i l dung eine E r r u n g e n s c h a f t d e r B i e d e r m e i e r m a l e r e i 4 7 - h i n g e g e n u n v o l l e n d e t blieb. D i e s e s M a n k o charakterisiert a u c h die b e i d e n ü b e r k o m m e n e n F a s s u n g e n der . H e i t e r k e i t ' ( A b b . 4, 5): U n t e r e i n e m s o n n i g - k l a r e n , penibel a u s g e m a l t e n F i r m a m e n t breitet sich, erst m e h r o d e r w e n i g e r s k i z z e n h a f t v o r g e z e i c h n e t , eine g r i e c h i s c h e L a n d s c h a f t . Sie k u l m i n i e r t im r u i n ö s e n Tempel einer A k r o p o -
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August Wilhelm Schlegel. Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts. Bd. 17. Heilbronn 1884, S. 203. - Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Philosophie der Kunst. Darmstadt 1959, S. 188. - Vgl. auch bereits Christian Ludwig von H a g e d o r n . Betrachtungen über die Mahlerey. Leipzig 1762. Bd. 1, S. 343f.: Die Luft gibt die „mehrere oder mindere Heiterkeit des G e m ä h l des". Emerich Ranzoni: Adalbert Stifter als Maler. In: Neue Freie Presse. Wien, 29. 7. 1880, Feuilleton. Hein (o. Anm. 32). Bd. 2, S. 659. Peter Pötschner: Genesis der Wiener Biedermeierlandschaft. Wien 1964, S. 5 8 f f „ S. 119. - Klaus Albrecht Schröder: Ferdinand Georg Waldmüller. München 1990, S. 24f. - Ein ähnliches Phänomen ist bei dem Malerdichter Gottfried Keller festzustellen: vgl. Walter Baumann: Gottfried Keller. M ü n c h e n / Z ü r i c h 1986, Abb. S. 54, S. 64, S. 87.
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lis, von deren f e l s i g e m Absturz R u i n e n b l ö c k e den Blick in die R a u m t i e f e hinein auf eine M e e r e s b u c h t f ü h r e n . In der zweiten e r h a l t e n e n , wohl 1858 e n t s t a n d e n e n und gestalterisch deutlich f o r t g e s c h r i t t e n e n F a s s u n g ( A b b . 5 ) 4 8 wurden der F e l s e n r ü c k e n plastischer in S z e n e gesetzt und die T e r r a i n s t u f e n in der rechten B i l d h ä l f t e m a r k a n t e r und r a u m h a l t i g e r f o r m u l i e r t . Hinter d e m M e e r e s h o r i z o n t versinkt die S o n n e vor e i n e m bläßlich violetten H i m m e l . Der f ü r Stifter b e z e i c h n e n d e elegische Ton - m a n v e r g e g e n w ä r t i g e sich die a n d e r e n Bildtitel - ist auch in seiner .Heiterkeit' g e g e n w ä r t i g . O h n e j e ins e i n z e l n e zu g e h e n , haben m a n c h e Autoren auf die N ä h e b e i d e r F a s s u n g e n zur Kunst Carl R o t t m a n n s h i n g e w i e s e n , 4 9 also j e nes M ü n c h n e r Malers, den Stifter als den größten L a n d s c h a f t e r seiner Zeit erkannt hatte. 5 0 Diese E i n s c h ä t z u n g notierte er anläßlich einer A u s s t e l l u n g in Linz, bei der ihm unter d e m Titel . S o n n e n u n t e r g a n g ' eine Variante der Darstellung Ä g i n a s mit dem A p h a i a t e m p e l (Abb. 6) b e g e g n e t e , die er wohl sieben Jahre f r ü h e r w ä h r e n d seines M ü n c h e n b e s u c h e s b e w u n d e r n konnte. 5 1 Die N ä h e der . H e i t e r k e i t ' zu diesem Bild ist u n v e r k e n n b a r : G l e i c h s a m im Spiegel kehren die H a u p t m o t i v e wieder, allerdings unter e i n e m deutlich h ö h e r e n H i m m e l - ein für Stifters B e s t r e b u n g e n sehr b e z e i c h n e n d e r Zug. R o t t m a n n s L e i s t u n g hatte u.a. darin b e s t a n d e n , die G a t t u n g e n .topographisch getreue Vedute' und . h e r o i s c h e K o m p o s i t i o n ' als M a n i f e s t a t i o n e n eines realistischen bzw. idealistischen K u n s t p r i n z i p s in e i n e r neuartigen historischen L a n d s c h a f t s k o n z e p t i o n a u f g e h o b e n zu haben. Für den G r i e c h e n l a n d z y klus L u d w i g s I. entstanden G e m ä l d e , in denen g e s c h i c h t l i c h e Ereignisse, e t w a die Schlacht von M a r a t h o n , an ihren j e w e i l i g e n , durch die S t ü r m e der Zeit gealterten S c h a u p l ä t z e n mit Hilfe a t m o s p h ä r i s c h e r E r s c h e i n u n g e n s t i m m u n g s mäßige Vergegenwärtigung erfuhren.52 48 49
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N o v o t n y (o. A n m . 3), S. l O l f . H a u s e n s t e i n 1949 (o. A n m . 4), S. 356. - R e h m (o. A n m . 7), S. 104. - Fritz. F e i c h t i n g e r : Primat von M a l e r e i oder D i c h t u n g ? Z u r F r a g e der s c h ö p f e r i s c h e n A n f ä n g e bei A d a l b e r t Stifter. In: R h e i n i s c h e A d a l b e r t - S t i f t e r - G e m e i n s c h a f t . N a c h r i c h t e n b l a t t Nr. 7 9 / 8 0 ( 1 9 8 8 ) , S. 12, vertritt die f r a g w ü r d i g e T h e s e , . H e i t e r k e i t II' s t a m m e von Carl R o t t m a n n , .Heiterkeit Γ sei e i n e „ N a c h a h m u n g " S t i f t e r s . . A u s s t e l l u n g des o b e r ö s t e r r e i c h i s c h e n Vereins f ü r b i l d e n d e K u n s t . ( 1 8 5 3 . ) ' ; SW. Bd. 14, S. 39. - Vgl. G u m p (o. A n m . 19), S. 6 0 . Erika B i e r h a u s - R ö d i g e r : Carl R o t t m a n n . M o n o g r a p h i e und k r i t i s c h e r W e r k k a t a l o g . M ü n chen 1978, Nr. 578; vgl. Nr. 4 4 4 , Nr. 6 3 8 . - P f e i f f e r (o. A n m . 37), S. 86. - Zu S t i f t e r s M ü n c h e n - A u f e n t h a l t : U r b a n R o e d l : A d a l b e r t Stifter. L e b e n s w e g in B i l d e r n . M ü n c h e n / Berlin 1955, S. 25. L u d w i g L a n g e : D i e G r i e c h i s c h e n L a n d s c h a f t s g e m ä l d e von Karl R o t t m a n n in der n e u e n königlichen Pinakothek zu M ü n c h e n . M ü n c h e n 1854, S. 7f.: „Wenn bei einem historischen Bilde d u r c h die Freiheit d e r C o m p o s i t i o n und des A u s d r u c k s der e i n z e l n e n C h a r a k t e r e dem K ü n s t l e r es leicht g e m a c h t ist, die S e e l e des g e s c h i c h t l i c h e n M o m e n t s a u s z u s p r e c h e n , so ist h i n g e g e n der L a n d s c h a f t s m a l e r darauf b e s c h r ä n k t , uns d u r c h e i n e v e r w a n d t e S t i m m u n g d e s N a t u r m o m e n t s die B e d e u t u n g d e s g e s c h i c h t l i c h e n M o m e n t s in u n s e r e r S e e l e z u m A n s c h l a g zu b r i n g e n " . - W e r n e r B u s c h : Die n o t w e n d i g e A r a b e s k e . Wirkl i c h k e i t s a n e i g n u n g und S t i l i s i e r u n g in d e r d e u t s c h e n Kunst d e s 19. J a h r u n d e r t s . Berlin
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Stifter f o l g t e R o t t m a n n w e n i g e r in der a u f f ä l l i g e n R e d u k t i o n der Erdoberfläche auf ihre g e o l o g i s c h e S u b s t a n z als bei der M e d i a t i s i e r u n g des A t m o s p h ä r i s c h e n , h i e r o f f e n b a r mit d e m Ziel, eine d e m eigenen G r i e c h e n l a n d b i l d a d ä q u a t e a s s o z i a t i o n e n t r ä c h t i g e G e s t i m m t h e i t zu e v o z i e r e n . Vermittler der tit e l g e b e n d e n , H e i t e r k e i t ' ist z u m e i n e n d e r h o h e , sonnig klare und nahezu wolk e n l o s e H i m m e l , der sich zwar, d e m s c h e i d e n d e n Tag a n g e m e s s e n , gegen rechts leicht violett v e r f ä r b t , in d e r linken B i l d h ä l f t e j e d o c h von z u n e h m e n d satten, l e u c h t e n d gelben T o n w e r t e n b e s t i m m t ist. Dort, wo das b e h e r r s c h e n d e H i m m e l s g e l b seine g r ö ß t e Intensität erlangt, dort tritt die m i m e t i s c h e Funktion des G e l b b e i n a h e hinter seine A u s d r u c k s q u a l i t ä t zurück. Man erinnert sich, d a ß G o e t h e d i e s e r Farbe „eine heitere, m u n t e r e , sanft r e i z e n d e E i g e n s c h a f t " attestiert und ihr somit eine d e m B i l d t h e m a , H e i t e r k e i t ' ä q u i v a l e n t e sinnlichsittliche W i r k u n g z u e r k e n n t . 5 3 Z u m a n d e r e n w u r d e von Stifter die L a n d s c h a f t des klassischen S ü d e n s o f f e n b a r als e i n e m heiteren G e m ü t s z u s t a n d a n a l o g betrachtet. Die U r s p r ü n g e dieser K o n n o t a t i o n d ü r f t e n bei W i n c k e l m a n n liegen, der über das Kulturvolk der G r i e c h e n e t w a meinte: „Vieles, w a s wir uns als Idealisch vorstellen, war die Natur bei i h n e n . " 5 4 Speziell das attische G e b i e t , also j e n e G e g e n d , die wohl Stifter zu v e r g e g e n w ä r t i g e n s u c h t e , sei d u r c h einen „reinen und heiteren H i m m e l " a u s g e z e i c h n e t g e w e s e n , d e r den g l ü c k l i c h s t e n E i n f l u ß auf die Menschen und ihre K ü n s t e a u s g e ü b t h a b e . 5 5 Weitere B e l e g e f ü r die t o p i s c h e E i n s c h ä t z u n g G r i e c h e n l a n d s und des G e bietes um A t h e n als eines „ h e i t e r e n " L a n d s t r i c h e s b e i z u b r i n g e n , ist m ü ß i g . Der H i n w e i s auf eine zentrale P a s s a g e des . N a c h s o m m e r s ' soll g e n ü g e n : Als Risach über den E r w e r b der antiken M a r m o r s t a t u e f ü r das „ R o s e n h a u s " berichtet, stellt er die G r i e c h e n w e l t , d e r sein und Stifters ästhetisches Idealbild e n t s t a m m t , explizit als eine „ h e i t e r e " vor A u g e n . 5 6
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1985, S. 298ff. - Erika Rödiger-Diruf: Landschaft als Abbild der Geschichte. Carl Rott manns Landschaftskunst 1820-1850. In: M ü n c h n e r Jahrbuch der bildenden Kunst 40 (1989), S. 1 5 3 - 2 2 4 . Johann Wolfgang Goethe. Zur Farbenlehre. Hrsg. von Manfred Wenzel. In: Sämtliche Werke. I. Abteilung. Bd. 23. I. Frankfurt a. M. 1991, S. 249. - Vgl. auch Ludwig Rieh ter. Lebenserinnerungen eines deutschen Malers. Leipzig 1909, S. 575: „Z.B. daß das Braungolden und Violett des Herbstes eine w e h m ü t i g e Stimmung, das Hellgoldige und sanft Blaue des Morgens eine süße, s a n f t e Heiterkeit hervorruft, e m p f i n d e t ein jeder". Johann Joachim Winckelmann. Geschichte der Kunst des Altertums. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Joseph Eiselein. Donaueschingen 1825. Bd. 4, S. 9. Ders. Erläuterung der G e d a n k e n von der N a c h a h m u n g der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. In: SW. Bd. 1, S. 132. SW. Bd. 7, S. 85. - Daß „der Charakter des griechischen Himmels ein vorzugsweiser heiterer ist", meinte auch Ludwig Lange in seiner Beschreibung der Rottmanngemälde (o. Anm. 52), S. 8. - Zur Marmorstatue des „ R o s e n h a u s e s " vgl. Christine Oertel Sjögren: The Marble Statue as Idea. Collected Essays on Adalbert Stifter's ,Der Nachsomm e r ' . Chapel Hill 1972.
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Kar!
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D a r a u s ist zu e r s c h l i e ß e n , d a ß Stifter auf m e h r zielte als allein auf die E v o k a t i o n des S t i m m u n g s w e r t e s „ H e i t e r k e i t " . S o wie es die K u n s t t h e o r i e nahelegte, sollten wohl auch heiter lichtvolle G e d a n k e n , „ R e v e r i e n " , ü b e r die u n t e r g e g a n g e n e und d e n n o c h v o r b i l d h a f t a n t i k e Welt und ihr Ethos e r w e c k t w e r d e n . - N o t a b e n e : N u r wenig später wird der S t i f t e r l e s e r Friedrich Nietzsche a u s d r ü c k l i c h d e r „Heiterkeit der G r i e c h e n " die e k s t a t i s c h e , R a u s c h und H ä ß l i c h k e i t g e b ä r e n d e Welt des D i o n y s i s c h e n e n t g e g e n s e t z e n . 5 7
IV Mit dem G e m ä l d e p r o j e k t . B e w e g u n g , s t r ö m e n d e s Wasser' können drei Arbeiten v e r b u n d e n w e r d e n . 5 8 Ein u n v o l l e n d e t e s Ö l b i l d - . B e w e g u n g Γ (Abb. 7) zeigt unter d e m g l e i c h f a l l s zu Ende g e f ü h r t e n W o l k e n h i m m e l auf dem rosafarbenen G r u n d d e r U n t e r m a l u n g die V o r z e i c h n u n g f ü r ein von links nach rechts m ä ß i g a b f a l l e n d e s B a c h b e t t , in das v o m H ö h e n z u g eines F e l s e n g e b i r g e s h e r a b verzweigte Steinrinnen führen. Diese A n o r d n u n g d e r B i l d e l e m e n t e distanziert die F a s s u n g e n der . B e w e g u n g ' d e u t l i c h von f r ü h e r e n t s t a n d e n e n W i e d e r g a b e n S t i f t e r s , etwa von Fluße n g e n , 5 9 bei d e n e n d a s Wasser, z w i s c h e n F e l s w ä n d e n und über K a s k a d e n aus der R a u m t i e f e s t r ö m e n d , auf den B e t r a c h t e r z u l ä u f t ( A b b . 8). Mit d e m Verzicht auf eine d r a m a t i s c h pointierte R a u m - und Z e i t p e r s p e k t i v e und die Vergeg e n w ä r t i g u n g e i n e s z w a r potentiell g e f a h r v o l l e n , nun aber friedlichen Wassers am Fuße eines B e r g m a s s i v s v e r s c h w a n d e n j e n e r o m a n t i s c h - p i t t o r e s k e n Elem e n t e , w e l c h e D a r s t e l l u n g e n von S c h l u c h t e n und Flüssen in aller Regel zu „ E f f e k t s t ü c k e n " w e r d e n ließen. 6 0 Die n a h e z u r a h m e n p a r a l l e l e F ü h r u n g des B a c h l a u f s , die nur w e n i g a b f a l l e n d e G i p f e l l i n i e und die b e r u h i g e n d e M ü n dung in der G l ä t t e eines S e e s p i e g e l s v e r l e i h e n Stifters K o n z e p t i o n einen beinahe d e m o n s t r a t i v l e h r h a f t e n Charakter. D a die f a r b l i c h e U m s e t z u n g unterblieb, gilt d i e s e A u s s a g e freilich nur mit Vorbehalt. I m m e r h i n kann v o m m ö g lichen A u s s e h e n d e r R i n n e n , S t e i n b l ö c k e , G e r ö l l s t r ö m e und S t u r z b ä c h e durch den Blick auf die linke B i l d h ä l f t e d e r , T e u f e l s m a u e r ' ( A b b . 8) eine Vorstellung g e w o n n e n w e r d e n . 6 1 Eine z w e i t e , 1858 e n t s t a n d e n e F a s s u n g - . B e w e g u n g I I ' ( A b b . 9) - liegt in einer viergeteilten T u s c h e z e i c h n u n g vor. 6 2 W e g e n d e r gesteigerten N a h s i c h t des V o r d e r g r u n d e s ist m a n a u f g e f o r d e r t , d a s seichte B a c h b e t t , die von W a s s e r 57
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Friedrich Nietzsche. Die Geburt der Tragödie. In: Werke. Hrsg. von Giorgio Colli und M a z z i n o Montinari. Berlin/New York 1972, Bd. 3.1, S. 5f. Novotny (o. A n m . 3), S. l O l f f . Ebd., S. 93, S. 97ff. F e m o w (o. Anm. 27), S. 62ff. - Pötschner (o. A n m . 47), S. 105. Vgl. N o v o t n y (o. A n m . 3), S. 97f. Ebd., S. 102f.
Stimmung
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u m s p ü l t e n Steine und den m e h r f a c h inschriftlich b e z e i c h n e t e n S a n d als die p r i m ä r e n B i l d g e g e n s t ä n d e zu b e t r a c h t e n . Unterstützt wird s o l c h e s Verständnis d u r c h das F r a g m e n t eines e h e d e m g r ö ß e r e n , u n v o l l e n d e t g e b l i e b e n e n Ölbildes ( A b b . 10), d e s s e n H a u p t m o t i v - ein a b g e s c h l i f f e n e r F e l s b l o c k - nach Gestalt und A b m e s s u n g e n d e m Stein in d e r linken unteren H ä l f t e der o b e n g e n a n n t e n Pauszeichnung entspricht.63 Das A m b i e n t e dieser „ P o r t r ä t a n s i c h t " 6 4 verrät, d a ß W a s s e r in . B e w e g u n g ΙΓ noch d e u t l i c h e r als ruhig fließendes und d u r c h s i c h t i g klares E l e m e n t , nicht als g r ü n l i c h w e i ß a u f s c h ä u m e n d e Flut vorgestellt w e r d e n m u ß . Eben dieses S p e z i f i k u m u n t e r s c h e i d e t Stifters . B e w e g u n g ' a u c h von j e n e m G e m ä l d e (Abb. 11), das ihm aus d e r G a t t u n g d e r W a s s e r s t u d i e n a m ehesten an die Seite gerückt werden k a n n : Franz S t e i n f e l d s . W i l d b a c h ' von 1824. 6 5 D e n n noch auffälliger als d e r N e u e r e r der ö s t e r r e i c h i s c h e n B i e d e r m e i e r m a l e r e i verzichtete Stifter auf die A u s b i l d u n g eines M o t i v s , das dank seines pittoresken Zuschnitts die A u f m e r k s a m k e i t hätte auf sich ziehen k ö n n e n , also e t w a auf die h ö h l e n f ö r m i g e A u s w a s c h u n g o d e r die Hütte auf d e m Felsen links. A n g e s i c h t s d e r m i n i m i e r t e n Bildattraktion u m s o b e a c h t l i c h e r sind die A u s m a ß e des projektierten G e m ä l d e s : Mit etwa 70 χ 90 cm wäre Stifters . B e w e g u n g ' etwa doppelt so groß wie S t e i n f e l d s Studie a u s g e f a l l e n und hätte somit die g e w o h n t e n D i m e n s i o n e n e i n e s K a b i n e t t b i l d e s e h e r über- als u n t e r s c h r i t t e n . Noch m a r k a n t e r als zu S t e i n f e l d s B a c h l a n d s c h a f t ist der A b s t a n d zu j e n e r K a t e g o r i e von G e m ä l d e n , w e l c h e die Furcht und S c h r e c k e n a u s l ö s e n d e Überm ä c h t i g k e i t d e r A l p e n w e l t t h e m a t i s i e r t e n , also ihre vielzitierte E r h a b e n h e i t zu vergegenwärtigen suchten, etwa Joseph Anton Kochs ,Schmadribachfall' ( 1 8 2 1 / 2 2 ) . 6 6 In A n t i t h e s e steht S t i f t e r s . B e w e g u n g ' erst recht zu Darstellungen, die e x t r e m e N a t u r e r e i g n i s s e wie W a s s e r f ä l l e o d e r V u l k a n a u s b r ü c h e als politische M e t a p h e r n f ü r r e v o l u t i o n ä r e U m w ä l z u n g e n v e r s t a n d e n wissen wollt e n . 6 7 Nicht im r e i ß e n d e n S t r o m , s o n d e r n im ruhig f l i e ß e n d e n B a c h einer Heid e l a n d s c h a f t e r k a n n t e Stifter sein Ideal, n ä m l i c h die W i e d e r g a b e e i n e s „einfachen T h e m a s " . Uber J a k o b van R u i s d a e l s . G r o ß e n W a l d ' ( A b b . 12) schrieb er:
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Ebd., S. 103. M a h l e n d o r f (o. A n m . 13), S. 3 7 5 f . : „ D e n g r o ß e n Stein in der M i t t e d e s G e m ä l d e f r a g m e n t s kann m a n als b e m ü t z t e n , b ä r t i g e n , q u e r l i e g e n d e n in Stein g e h a u e n e n Kopf oder als f u t u r i s t i s c h e S k u l p t u r s e h e n . " Vgl. P ö t s c h n e r (o. A n m . 47), S. 121, S. 166, A b b . 31. - D e r s . : W i e n und die Wiener L a n d s c h a f t . S p ä t b a r o c k e und b i e d e r m e i e r l i c h e L a n d s c h a f t s k u n s t in W i e n . Salzburg 1978, S. 3 2 f f . , S. 7 4 f f . - Z u m Verhältnis S t i f t e r / S t e i n f e l d vgl. Dell (o. A n m . 3), S. 66, A n m . 37. - P f e i f f e r 1977 (o. A n m . 37), S. 1 1 4 - 1 1 6 . B a r b a r a E s c h e n b u r g : L a n d s c h a f t in d e r d e u t s c h e n M a l e r e i . Vom späten Mittelalter bis heute. M ü n c h e n 1987, S. 11 I f f . - O t t o R. von L u t t e r o t t i : J o s e p h A n t o n K o c h 1768— 1839. L e b e n u n d Werk. Mit e i n e m v o l l s t ä n d i g e n W e r k v e r z e i c h n i s . W i e n / M ü n c h e n 1985, S. 6 3 f f . M a r t i n W a r n k e : P o l i t i s c h e L a n d s c h a f t . Z u r K u n s t g e s c h i c h t e der Natur. M ü n c h e n 1992, S. 116ff.
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„Vorne geht ü b e r L e h m g r u n d ein klares Wasser, dann sind Bäume, ein W ä l d c h e n , z w i s c h e n dessen S t ä m m e n man wieder in freie L u f t sieht. Der H i m m e l hat ein e i n f a c h e s W o l k e n g e b ä u d e . Das ist m e h r e r e h u n d e r t Millionen Male auf der Welt g e w e s e n , und d o c h ist die L a n d s c h a f t die gewaltigste und ers c h ü t t e r n d s t e , d i e es geben k a n n . " 6 8 D i e s e Z e i l e n über die n i e d e r l ä n d i s c h e L a n d s c h a f t in W i e n 6 9 e r l a u b e n , speziell die e n t w i c k e l t e r e F a s s u n g der . B e w e g u n g ' ins G e d a n k e n f e l d d e r ber ü h m t e n Vorrede zu den , B u n t e n S t e i n e n ' zu r ü c k e n . Sie erteilt b e k a n n t l i c h den s p e k t a k u l ä r e n und d e s h a l b vereinzelt a u f t r e t e n d e n N a t u r p h ä n o m e n e n zug u n s t e n von M a n i f e s t a t i o n e n der stetig w i r k s a m e n und damit w e l t e r h a l t e n d e n G e s e t z l i c h k e i t e n eine A b s a g e . 7 0 In seiner E i n s c h ä t z u n g des B e s o n d e r e n und d e s A l l g e m e i n e n sah sich S t i f t e r im übrigen mit den alten Griechen v e r b u n d e n . Sie h ä t t e n , neben den g r o ß e n S t o f f e n ihrer T r a g ö d i e n , b e s o n d e r s in der b i l d e n d e n K u n s t das E i n f a c h s t e zum T h e m a gewählt und d e s h a l b das M e e r als d a s E i n f a c h s t e in der N a t u r h o c h g e s c h ä t z t . 7 ' D i e s e A u s s a g e gestattet r ü c k b l i k k e n d , das r u h i g e weite Meer d e r . H e i t e r k e i t ' (Abb. 4, 5) als V e r w i r k l i c h u n g eben dieser ä s t h e t i s c h e n M a x i m e zu interpretieren. W i e der N e b e n t i t e l . s t r ö m e n d e s Wasser' verrät, sah Stifter B e w e g u n g zuallererst d u r c h d a s unstete E l e m e n t dargestellt: „das b e w e g t e Leben des E r d k ö r p e r s " n e n n t er es im . N a c h s o m m e r ' . 7 2 Dies entspricht a l l g e m e i n s t e r m e n s c h l i c h e r E r f a h r u n g , und so ü b e r r a s c h t es auch nicht, daß Wasser von v e r s c h i e d e n sten K u n s t v e r s t ä n d i g e n als p r i m ä r e s M e d i u m zur W i e d e r g a b e von B e w e g u n g v e r s t a n d e n w u r d e , so etwa v o n H i r s c h f e l d , der es als die „Seele d e r N a t u r " a p o s t r o p h i e r t e . 7 3 Von g r ö ß e r e r Relevanz f ü r Stifter war, wenn er d e n n überh a u p t eine A n r e g u n g nötig hatte, vielleicht die Interpretation, w e l c h e G o e t h e im A u f s a t z , R u y s d a e l als D i c h t e r ' dem „ a l l b e l e b e n d e n E l e m e n t " gab. D e n n er o r d n e t e d e m F l u ß eines der b e s p r o c h e n e n D r e s d n e r L a n d s c h a f t s g e m ä l d e die Qualität d e r B e w e g u n g , der übrigen S z e n e r i e h i n g e g e n die Qualität der R u h e
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. N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' ; SW. Bd. 13, S. 272. - Vgl. Fritz Novotny: Stifters „ N a c h k o m m e n s c h a f t e n " als Malernovelle. In: Ders.: Über das „Elementare" in der Kunstgeschichte und andere Aufsätze. Wien 1968, S. 91. - Karl Konrad Polheim: Die wirkliche Wirklichkeit. A. Stifters . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' und das Problem seiner Kunstanschauung. In: U n t e r s u c h u n g e n zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese. Berlin 1973, S. 392f., S. 396. Vincenz O b e r h a m m e r : Die Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums in Wien. W i e n / M ü n c h e n 1959, Bd. 1, Taf. 51. - Wolfgang Stechow: Dutch Landscape Paintings of the Seventeenth Century. London. 2. Aufl. 1966, S. 74, Abb. 145. WuB. Bd. 2.2, S. 9 - 1 6 . .Ausstellung des oberösterreichischen Kunstvereines. ( I 8 6 0 . ) ' ; SW. Bd. 14, S. 166. SW. Bd. 7, S. 279. Christian Cay Lorenz Hirschfeld. Ueber die Verwandschaft der Gartenkunst und der Malerey. In: G o t h a i s c h e s Magazin der Künstler und Wissenschaftler 1.1 (1776), S. 53. Johann W o l f g a n g von Goethe. Ruysdael als Dichter. In: Goethes Werke. H a m b u r g e r Ausgabe in 14 Bänden. Hamburg 1953. Bd. 12, S. 139.
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Ruhe und Bewegung sind zentrale Begriffe der Kunstanschauung Stifters: „Bewegung regt an, Ruhe erfüllt, und so entsteht jener Abschluß in der Seele, den wir Schönheit nennen", liest man im .Nachsommer'. 7 5 Von B e w e g u n g als einer ästhetischen Kategorie und notwendigem Element jedes Kunstwerks ist Bewegung als eigentliches Bildsujet zu trennen, also etwa die Wiedergabe ziehender Wolken oder herabstürzenden Wassers. Den Erörterungen von damit verbundenen gestalterischen Problemen widmete Stifter auffallend breiten Raum, 7 6 vermutlich auch deshalb, weil er sich selbst mit den Schwierigkeiten konfrontiert sah. Die signifikanten theoretischen Ausführungen sowie die einstmals zahlreichen Wolkenstudien und Flußbilder erweisen Stifters Teilhabe an der europaweit faßbaren Tendenz jener Jahrzehnte, dem Bewegten, Flüchtigen und Wandelbaren in der Natur Gestalt zu verleihen. 7 7 Eigenes Profil gewann Stifter über die Wiedergabe ruhig strömenden Wassers hinaus 7 8 besonders durch den hier zu erörternden Versuch, g e o l o g i s c h e Bewegung darzustellen, also das transitorische Moment auch im scheinbar Starren und Festen zu erblicken. Denn die Taleinschnitte, Rinnen und Furchen der Felsabhänge, die durch Sonne, Niederschläge, Frost und Wind abgesprengten Blöcke und die Geröllströme - sind sie nicht ebenso Resultate einer fortwährenden B e w e g u n g wie die durch Wasserkraft transportierten und dabei abgeschliffenen Steine und der fein rieselnde Sand? Man möchte hinzufügen: einer vom Größeren zum Kleineren und Kleinsten fortschreitenden prozeßhaften und unumkehrbaren B e w e gung? 7 9
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SW. Bd. 7, S. 9 4 : vgl. S. 9 0 f f . , Bd. 6, S. 9. - Stifter d ü r f t e sich b e i s e i n e r F e s t l e g u n g auf G o e t h e s L a o k o o n - A u f s a t z gestützt h a b e n , in d e m die S t a t u e n g r u p p e als M u s t e r von Ruhe und B e w e g u n g b e z e i c h n e t w i r d : J o h a n n W o l f g a n g von G o e t h e . Ü b e r L a o k o o n . In: Werke. Bd. 12. (o. A n m . 74), S. 58. G o e t h e s A u f s a t z w o l l t e S t i f t e r a u c h in sein Lesebuch a u f g e n o m m e n w i s s e n . Vgl. S e p p D o m a n d i : Adalbert S t i f t e r s L e s e b u c h und die geistigen S t r ö m u n g e n zur J a h r h u n d e r t s m i t t e . L i n z 1976, S. 32, vgl. S. 44. . N a c h s o m m e r ' ; SW. Bd. 7, S. 91 ff. Vgl. Kurt Badt: W o l k e n b i l d e r und W o l k e n g e d i c h t e der R o m a n t i k . B e r l i n 1960. - O s k a r B ä t s c h m a n n : E n t f e r n u n g der Natur. L a n d s c h a f t s m a l e r e i 1 7 5 0 - 1 9 2 0 . K ö l n 1989, S. 117ff. Z u r Darstellung von B e w e g u n g in der M a l e r e i vgl. L u d w i g V o l k m a n n : D a s B e w e g u n g s problem in der bildenden Kunst. E s s l i n g e n 1908. - Carla Gottlieb: M o v e m e n t in Painting. In: The Journal of Aesthetics and art criticism 7 (1958), S. 2 2 - 3 3 . - Ernst H. G o m b r i c h : M o m e n t and M o v e m e n t in Art. In: J o u r n a l of the Warburg and C o u r t a u l d Institutes 27 (1964), S. 2 9 3 - 3 0 6 . - R o s e m a r i e S c h ö n b a c h : Form und Gehalt d e r B e w e g u n g s d a r s t e l l u n g in der europäischen Bildkunst um 1900. Diss. Frankfurt a. M. 1973, mit Literatur. - G u d u la O v e r m e y e r : Studien zur Zeitgestalt in der Malerei des 20. J a h r h u n d e r t s . Robert Delaunay - Paul Klee. H i l d e s h e i m / Z ü r i c h / N e w York 1982, mit Literatur. Die Interpretation einer g e o l o g i s c h e n B e w e g u n g von S t i f t e r s . B e w e g u n g ' w u r d e z w a r a n g e d e u t e t , n i e m a l s a b e r e i n g e h e n d e r e r ö r t e r t o d e r belegt: H a u s e n s t e i n 1940 (o. A n m . 4), S. 356. - Weiss (o. A n m . 10), S. 112. - M a h l e n d o r f (o. A n m . 13), S. 376. S t i f t e r s W i e d e r g a b e e i n e s u n u m k e h r b a r e n P r o z e s s e s u n t e r s c h e i d e t sich m a r k a n t von älteren Versuchen, den K r e i s l a u f d e s N a t u r g e s c h e h e n s zu v e r a n s c h a u l i c h e n , a l s o e t w a von
Karl
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U n t e r m a u e r u n g e r f ä h r t eine solche Interpretation durch T e x t p a s s a g e n des . N a c h s o m m e r s ' . B e k a n n t l i c h betreibt der Held der Erzählung als „ S c h l u ß s t e i n o d e r Z u s a m m e n f a s s u n g " aller v o r a n g e g a n g e n e n Studien die d a m a l s noch j u n ge W i s s e n s c h a f t von der E r d b i l d u n g . 8 0 Über Seiten h i n w e g f o r m u l i e r t e G e d a n k e n v e r r a t e n , d a ß er d e r „ E r h e b u n g s t h e o r i e " zuneigt. 8 1 Sie lehrt, d a ß die B i l d u n g d e r A l p e n vertikal a u f w ä r t s gerichteten m a g m a t i s c h e n K r ä f t e n zu d a n k e n ist. A n h ä n g e r d i e s e r M e i n u n g , die sich gegen den N e p t u n i s m u s eines Werner o d e r G o e t h e b e h a u p t e t hatten, waren u.a. Leopold von B u c h , A l e x a n der v o n H u m b o l d t und Carl G u s t a v Carus. 8 2 S t i f t e r interessierte vor allen D i n g e n , daß d e r E r h e b u n g d e r G e b i r g e eine T e n d e n z zur A b f l a c h u n g e n t g e g e n w i r k t e . Sie bedient sich der K r ä f t e von Verw i t t e r u n g und E r o s i o n : „Wenn durch das Wirken des H i m m e l s und seiner G e wässer das G e b i r g e b e s t ä n d i g zerbröckelt wird, wenn die T r ü m m e r h e r a b fallen, w e n n sie w e i t e r z e r k l ü f t e t w e r d e n , und d e r Strom sie endlich als Sand und G e s c h i e b e in die N i e d e r u n g e n hinaus führt, wie weit wird Das k o m m e n ? Hat es s c h o n lange g e d a u e r t ? U n e r m e ß l i c h e Schichten von G e s c h i e b e n in e b e nen L ä n d e r n b e j a h e n es. Wird es noch lange d a u e r n ? So lange L u f t , Licht, W ä r m e und W a s s e r d i e s e l b e n bleiben, so lange es Höhen gibt, so lange wird es d a u e r n . " 8 3 G r ö ß t e A u f m e r k s a m k e i t widmet Heinrich dem d u r c h Erosion bew e g b a r g e w o r d e n e n G e s c h i e b e und Geröll. „Wir gingen die T h ä l e r e n t l a n g und spähten nach S p u r e n ihrer Z u s a m m e n s e t z u n g e n , und wir begleiteten die Wasser, die in den T i e f e n g i n g e n , und untersuchten die G e b i l d e , w e l c h e von ihnen aus e n t l e g e n e n Stellen hergetragen und i m m e r weiter und weiter ges c h o b e n w u r d e n . " G e r a d e z u e h r f ü r c h t i g - f e i e r l i c h e G e d a n k e n steigen Heinrich bei der B e t r a c h t u n g von S t e i n g e b i l d e n auf, die man einem Flußbett e n t n o m men hatte: „Ich e r k a n n t e in den rothen, weißen, grauen, s c h w a r z g e l b e n und g e s p r e n k e l t e n S t e i n e n , w e l c h e lauter plattgerundete Gestalten hatten, die Bo-
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P o u s s i n s . O r i o n ' o d e r J o s e p h A n t o n K o c h s . G l e t s c h e r mit Berggeist u n d Q u e l l g o t t h e i t ' . Vgl. Ernst H e i n r i c h G o m b r i c h : T h e Subject of P o u s s i n ' s „ O r i o n " . In: S y m b o l i c I m a g e s . O x f o r d und N e w York 1972, S. 1 1 9 - 1 2 2 . - C h r i s t i a n von Holst: J o s e p h A n t o n K o c h . A n s i c h t e n d e r Natur. S t u t t g a r t 1989, S. 150f. SW. Bd. 6, S. 40. - D a ß der G e o l o g i e im R o m a n e i n e zentrale B e d e u t u n g z u e r k a n n t w i r d , hat d i e e i n s c h l ä g i g e F o r s c h u n g b i s l a n g nur w e n i g g e w ü r d i g t . - Vgl. Martin S e l g e : A d a l b e r t S t i f t e r . P o e s i e aus d e m Geist der N a t u r w i s s e n s c h a f t . B e r l i n / K ö l n / M a i n z 1976, S. 8. - D a r a n ä n d e r t e a u c h n i c h t s der A u f s a t z von E r h a r d Banitz: D a s G e o l o g e n b i l d A d a l b e r t S t i f t e r s . In: G e s t a l t u n g , U m g e s t a l t u n g . F e s t s c h r i f t zum 75. G e b u r t s t a g von H e r m a n n A u g u s t K o r f f . H r s g . v o n J o a c h i m Müller. L e i p z i g 1957, S. 2 0 6 - 2 3 8 . SW. Bd. 6, S. 2 5 l f . ; Bd. 7, S. 2 6 . A n d r e a s P i l g e r : D i e t e k t o n i s c h e E r f o r s c h u n g der A l p e n zwischen 1787 und 1915. C l a u s t h a l / Z e l l e r f e l d 1978 ( C l a u s t h a l e r G e o l o g i s c h e A b h a n d l u n g e n 32), S. 7f. - Vgl. a l l g e m e i ner: Wolf von E n g e l h a r d t : W a n d l u n g e n des N a t u r b i l d e s der G e o l o g i e v o n der G o e t h e z e i t bis zur G e g e n w a r t . In: D a s N a t u r b i l d d e s M e n s c h e n . H r s g . von Jörg Z i m m e r m a n n . M ü n c h e n 1982, S. 4 5 - 7 3 . - C a r l G u s t a v C a r u s : Zwölf Briefe ü b e r d a s E r d l e b e n . Stuttgart 1841; h i e r zit. n a c h der A u s g a b e von E k k e h a r d M e f f e r t . Stuttgart 1986, S. 147. SW. B d . 7, S. 2 6 f . ( N a c h s o m m e r ) .
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ten von unserem G e b i r g e , ich e r k a n n t e j e d e n aus seiner F e l s e n s t a d t , von der er sich los getrennt hatte und von d e r er a u s g e s e n d e t w o r d e n war. Hier lag er unter K a m e r a d e n , d e r e n G e b u r t s s t ä t t e oft viele M e i l e n v o n d e r seinigen entfernt ist, alle waren sie an Gestalt gleich g e w o r d e n [...]. B e s o n d e r s k a m e n mir die G e d a n k e n , w o z u dann Alles da sei, wie es e n t s t a n d e n sei, wie es zus a m m e n hänge, und wie es zu u n s e r e m Herzen s p r e c h e . " 8 4 „Wenn die B e s t a n d t h e i l e eines ganzen G e s t e i n s z u g e s e r g r ü n d e t waren, w e n n alle Wässer, die der G e s t e i n z u g in die T h ä l e r sendet, u n t e r s u c h t waren, um j e d e s G e s c h i e b e , das der Bach führt, zu b e t r a c h t e n und zu v e r z e i c h n e n , wenn nun nichts N e u e s nach m e h r f a c h e r und g e n a u e r U n t e r s u c h u n g sich m e h r ergab, so w u r d e v e r s u c h t , sich des Z u g e s selbst zu b e m ä c h t i g e n [...]." 8 5 „Woher ist die Berggestalt im G r o ß e n g e k o m m e n ? Ist sie noch in ihrer Reinheit da, oder hat sie V e r ä n d e r u n g e n erlitten, und e r l e i d e t sie d i e s e l b e n noch imm e r ? Wie ist die Gestalt der Erde selber g e w o r d e n , wie hat sich ihr Antlitz gefurcht [,..)?" 8 6 Heinrichs E r f o r s c h u n g der E r d o b e r f l ä c h e wird von intensiven zeichnerischen Aktivitäten begleitet. Sie m ü n d e n schließlich in der f a r b l i c h e n G e staltung eines L a n d s c h a f t s b i l d e s . 8 7 Diese k ü n s t l e r i s c h e A n n ä h e r u n g erweist Drendorf als Vertreter j e n e r „ ä s t h e t i s c h e n G e o g r a p h i e " d e r ersten J a h r h u n d e r t hälfte, für die W i s s e n s c h a f t und Kunst keine G e g e n s ä t z e bilden, s o n d e r n einander als E r k e n n t n i s - bzw. D a r s t e l l u n g s w e i s e n e r g ä n z e n . 8 8 D a s Wissen von ihren Z i e l s e t z u n g e n hatte Stifter u.a. durch die n a t u r k u n d l i c h e n und gestalterischen Aktivitäten des A l p e n f o r s c h e r s Friedrich S i m o n y - partielles Vorbild f ü r Heinrich D r e n d o r f - e r w o r b e n . 8 9 Beiden w a r die L a n d s c h a f t s d a r s t e l l u n g nicht bloße Illustration, also Mittel z u m Z w e c k , s o n d e r n E n d z i e l , in dem sich e m p i r i s c h e B e o b a c h t u n g o b j e k t i v i e r t e . 9 0 N a c h d r ü c k l i c h hat sich Simony, der erste Vertreter des F a c h s G e o g r a p h i e an der U n i v e r s i t ä t W i e n , in d i e s e m Sinn über die Wichtigkeit der Malerei und L a n d s c h a f t s z e i c h n u n g f ü r seine Wissens c h a f t geäußert. 9 1
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Ebd.. S. 2, S. 22. Ebd.. S. 198. Ebd., S. 25. SW. Bd. 6, S. 3 7 f f „ S. 249; Bd. 7, S. 2 4 f f „ S. 252. L u d w i g Kriegk. S c h r i f t e n zur a l l g e m e i n e n E r d k u n d e . L e i p z i g 1840, S. 2 2 1 f f . : „ Ü b e r ästhetische G e o g r a p h i e " . - Vgl. G e r h a r d H a r d : G e o g r a p h i e als K u n s t . Z u r H e r k u n f t und Kritik eines G e d a n k e n s . In: E r d k u n d e 18 ( 1 9 6 4 ) , S. 3 3 6 - 3 4 1 . Fritz Krökel: S t i f t e r s F r e u n d s c h a f t mit d e m A l p e n f o r s c h e r F r i e d r i c h S i m o n y . In: VASIL O 4 (1955), S. 9 7 - 1 1 7 . Albrecht Penck: F r i e d r i c h S i m o n y . L e b e n und W i r k e n e i n e s A l p e n f o r s c h e r s ( G e o g r a p h i sche A b h a n d l u n g e n V I / 3 ) . Wien 1898, S. 34. - Vgl. die Z u s a m m e n s t e l l u n g der G r a p h i ken S i m o n y s bei: W o l f g a n g K a i n r a t h : Friedrich S i m o n y und seine B e i t r ä g e zur Erfors c h u n g der A l p e n . D i p l . Arbeit ( M a s c h . ) Wien 1993, S. 1 3 8 - 1 7 0 . Friedrich S i m o n y . Die B e d e u t u n g l a n d s c h a f t l i c h e r D a r s t e l l u n g e n in d e n N a t u r w i s s e n s c h a f t e n . In: S i t z u n g s b e r i c h t e d e r k. A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n , M a t h e m - n a t u r w i s s . C l a s s e 9. Wien 1852, S. 2 0 0 - 2 0 7 .
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S i m o n y war w i e d e r u m u.a. A l e x a n d e r von H u m b o l d t verpflichtet, der sein e m , auch von Stifter h o c h g e s c h ä t z t e n H a u p t w e r k . K o s m o s ' als „ A n r e g u n g s mittel zum N a t u r s t u d i u m " eine G e s c h i c h t e der L a n d s c h a f t s m a l e r e i e i n f ü g t e und Bilder f ü r die V e r a n s c h a u l i c h u n g von g e o g r a p h i s c h e n E i n d r ü c k e n e m p f o h l e n hatte. 9 2 Z u r B e z e i c h n u n g seines synergistisch-holistischen Lands c h a f t s b e g r i f f b e d i e n t e sich H u m b o l d t Termini, welche die K u n s t t h e o r e t i k e r Sulzer, Semler, F e r n o w und C a r u s bereithielten, nämlich „ p h y s i o g n o m i s c h e r C h a r a k t e r " und „ T o t a l e i n d r u c k " . S i m o n y selbst nannte seine G e b i r g s a n s i c h t e n abgewandelt „geographische Charakterbilder".93 A n g e s i c h t s dieser Position v e r w u n d e r t es nicht, daß Simony auch den S t i m m u n g s g e h a l t von L a n d s c h a f t e n explizit h e r v o r z u h e b e n wußte. Ü b e r einen A l p e n s e e (vgl. A b b . 13) s c h r i e b er 1860: „In der Tat ist der Zauber, den die herrlichen Wasserspiegel des G e b i r g e s auf Sinn und G e m ü t des M e n s c h e n üben, so e i g e n t ü m l i c h und m ä c h t i g , d a ß j e d e r Besucher des A l p e n l a n d e s die von den Seen m i t g e n o m m e n e n E i n d r ü c k e mit besonderer Vorliebe in seiner E r i n n e r u n g b e w a h r t . G l e i c h d e m G l e t s c h e r ist auch der See ein Bild d e r Ruhe; aber hier herrscht nicht die R u h e einer scheinbar toten Natur, die dort d e m B e s c h a u e r entgegenstarrt, hier ladet uns die behagliche Ruhe eines lebensvollen E l e m e n t e s z u m M i t g e n u s s e e i n " . 9 4 Diese Zeilen rufen nicht zufällig einen Eintrag in Stifters M a l e r t a g e b u c h ins G e d ä c h t n i s : „Die Ruhe. See mit S c h n e e berg". Vermutlich h a n d e l t e es sich dabei um die noch 1867 in Arbeit befindliche, heute v e r s c h o l l e n e A n s i c h t . 9 5 Das Interesse f ü r die E n t s t e h u n g und Verwandlung der G e b i r g e , kurz f ü r ihre g e s c h i c h t l i c h e D i m e n s i o n , rückt Stifter auch ganz nahe an die Bes t r e b u n g e n h e r a n , die Carl G u s t a v C a r u s in seinen .Briefen über die Lands c h a f t s m a l e r e i ' v e r f o l g t e . Sie waren 1835 in z w e i t e r A u f l a g e mit e i n e m G o e thebrief zur E i n l e i t u n g erschienen und hatten u.a. auch in Hebenstreits , E n c y k l o p ä d i e der A e s t h e t i k ' (Wien 1843) beachtliche Resonanz g e f u n d e n . 9 6 C a rus erörterte nicht allein die oben a n g e s p r o c h e n e n K o r r e s p o n d e n z e n z w i s c h e n Natur- und G e m ü t s z u s t ä n d e n , sondern f o r m u l i e r t e , sich auf G o e t h e , H u m b o l d t
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SW. Bd. 23, S. 28. - Alexander von Humboldt. Kosmos. Stuttgart und Tübingen 1 8 5 9 1862. Bd. 2, S. 4 6 f f . , S. 9 2 f f . , S. 103. - Vgl. Alias zu Alex. v. Humboldt's K o s m o s in zweiundvierzig Tafeln mit erläuternden Texten. Hrsg. von Traugott Bromme. Stuttgart 1851, S. 121 ff.. Taf. 35ff. Hard (o. Anm. 26), S. 54f. - Penck (o. Anm. 90), S. 34. Friedrich Simony. Die Seen der Alpen. In: Österreichischer Volks- und Wirtschaftskalender 9 ( 1 8 6 0 ) , S. 36. - Krökel (o. Anm. 89), S. 115. - Simonys Darstellung des Hinteren G o s a u s e e s ( 1 8 5 0 ) entstammt seinem Buch: Das Dachsteingebiet. Ein geographisches Charakterbild aus den österreichischen Nordalpen. Wien und Ölmütz 1889, Taf. 127. Novotny (o. A n m . 3), S. 110, S. 116. Carus (o. Anm. 29). - Hebenstreit (o. Anm. 30), S. 411. - Eine Besprechung von Carus' .Briefen über Landschaftsmalerei' brachte auch das .Morgenblatt für gebildete Stände, Kunstblatt' Nr. 101, am 17. Dezember 1835, S. 4 2 2 ^ 2 4 . - Stifter besaß Carus' Goethebuch (1843): Domandi (o. Anm. 18), S. 69.
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und Jean Paul b e r u f e n d , die Prinzipien einer n e u e n , auf W i s s e n s c h a f t g e g r ü n deten L a n d s c h a f t s m a l e r e i . Sie sollte die bisherige rohe und in Routine verk o m m e n e e r s e t z e n . 9 7 D a m i t vertrat C a r u s g l e i c h s a m eine zu H u m b o l d t k o m p l e m e n t ä r e Position: E m p f a h l dieser die A n n ä h e r u n g der G e o l o g i e und G e o graphie an die k ü n s t l e r i s c h e N a t u r d a r s t e l l u n g , so j e n e r u m g e k e h r t die B e r ü c k sichtigung n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e r E i n s i c h t e n in der L a n d s c h a f t s m a l e r e i : Kunst und W i s s e n s c h a f t e n k o n v e r g i e r t e n . 9 8 Die a n g e s t r e b t e „ H e r v o r h e b u n g neuer K u n s t aus W i s s e n s c h a f t " zielt auf „ E r d l e b e n b i l d e r " o d e r „ E r d l e b e n k u n s t " und d a m i t auf die G e s c h i c h t l i c h k e i t von L a n d s c h a f t e n , g a n z b e s o n d e r s aber von G e b i r g e n . „Wie redend und m ä c h tig spricht [...] sich d i e s e G e s c h i c h t e in g e w i s s e n L a g e r u n g e n und B e r g f o r m e n aus, d a ß selbst d e m N i c h t w i s s e n d e n d a d u r c h die A h n u n g einer solchen G e schichte a u f g e h e n m u ß , und steht es nun d e m Künstler nicht frei, solche P u n k t e h e r v o r z u h e b e n und im höheren Sinne historische L a n d s c h a f t e n zu geb e n ? " 9 9 Voraussetzung d a f ü r ist, wie bei Stifter, die H o c h a c h t u n g eines stillen, g l e i c h f ö r m i g e n N a t u r l e b e n s : „das l a n g s a m e aber u n a u f h a l t s a m f o r t s c h r e i t e n d e Verwandeln der E r d o b e r f l ä c h e , das Verwittern n a c k t e r F e l s g i p f e l , deren Körner, alsbald h e r a b g e s c h w e m m t , allmälig f r u c h t b a r e s Land e r z e u g e n , das Entstehen der Q u e l l e n , nach den Richtungen der G e b i r g s z ü g e sich zu Bächen und endlich zu S t r ö m e n z u s a m m e n f i n d e n d , Alles folgt stillen und e w i g e n G e s e t zen". Sie habe d e r K ü n s t l e r in einer „ w a h r h a f t g e o g n o s t i s c h e n L a n d s c h a f t " zu v e r g e g e n w ä r t i g e n , heißt es bei C a r u s . 1 0 0 Der M a l e r m ü s s e auf die „ B e a c h t u n g des Z u s a m m e n h a n g e s h i n g e f ü h r t " w e r d e n , „ w e l c h e n o t w e n d i g e r w e i s e g e w i s s e G e b i r g s f o r m e n mit d e r inneren Structur ihrer M a s s e n in Ü b e r e i n s t i m m u n g setzt, und auf die N o t w e n d i g k e i t , mit d e r w i e d e r diese innere Structur aus der G e s c h i c h t e dieser G e b i r g e folgt." 1 0 1 Vor d i e s e m H i n t e r g r u n d bestätigt sich o f f e n b a r , d a ß Stifters Projekt, B e w e gung d a r z u s t e l l e n , nicht allein auf s t r ö m e n d e s Wasser, sondern auch auf die Erosion des G e b i r g e s und B e w e g u n g der Steine zu beziehen ist. Es darf deshalb s o w o h l als „ g e o g r a p h i s c h e s C h a r a k t e r b i l d " ( S i m o n y ) wie als „ E r d l e b e n bild" o d e r „ g e o g n o s t i s c h e L a n d s c h a f t " ( C a r u s ) b e z e i c h n e t w e r d e n .
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C a r u s (o. A n m . 29), S. 140. - Ü b e r C a r u s e i g e n e „ g e o g n o s t i s c h e L a n d s c h a f t " vgl. Maria n n e Prause: Carl G u s t a v C a r u s . Leben und W e r k . Berlin 1968, S. 4 3 f f . - T i m o t h y F. M i t c h e l l : Art and S c i e n c e in G e r m a n L a n d s c a p e P a i n t i n g 1 7 7 0 - 1 8 4 0 . O x f o r d 1993, S. 166ff. Vgl. Pia M ü l l e r - T a m m : R u m o h r s „ H a u s h a l t der K u n s t " . Zu e i n e m k u n s t t h e o r e t i s c h e n Werk der G o e t h e - Z e i t ( S t u d i e n zur K u n s t g e s c h i c h t e 6 0 ) . H i l d e s h e i m / Z ü r i c h / N e w York 1991, S. 9 5 f f . C a r u s (o. A n m . 29), S. 109f. E b d . , S. 28f., S. 176. E b d . , S. 142.
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MöseneJer
V Wie verhält sich die e i n d e u t i g e S t i m m u n g s l a n d s c h a f t . H e i t e r k e i t ' ( A b b . 4, 5) zur Darstellung d e s N a t u r p r i n z i p s B e w e g u n g (Abb. 7, 9, 10)? F r u c h t b r i n g e n der, als die G e m ä l d e diversen K a t e g o r i e n z u z u o r d n e n , e t w a „ideale Lands c h a f t " hier und „ N a t u r s t u d i e " dort, ist es, nach G e m e i n s a m k e i t e n zu suchen, und zwar nicht allein d e s h a l b , weil beide zur „ R ê v e r i e " , zu a s s o z i a t i v e r Betrachtung, a n r e g e n . Man hat auch zu b e d e n k e n , daß nach Ansicht v o n Humboldt, C a r u s und a n d e r e n n a m h a f t e n Vertretern der „ ä s t h e t i s c h e n G e o g r a p h i e " z w i s c h e n Vernunft und G e m ü t s o w i e z w i s c h e n e m p i r i s c h - r a t i o n a l e r Darstellung und S t i m m u n g s b i l d keine D i s k r e p a n z bestehen m ü s s e , j a solle. Die Ans c h a u u n g von N a t u r p h ä n o m e n e n in ihrer Ganzheit ist nach H u m b o l d t erst m ö g l i c h , wenn zur „reinen O b j e k t i v i t ä t w i s s e n s c h a f t l i c h e r N a t u r b e s c h r e i b u n g " die „innere Welt" h i n z u g e f ü g t wird. Sie bilde sich als „ R e f l e x des durch die ä u ß e r e n Sinne e m p f a n g e n e n Bildes auf das G e f ü h l und die dichterisch g e s t i m m t e E i n b i l d u n g s k r a f t " . „Die Natur m u ß g e f ü h l t w e r d e n " , heißt es bei H u m b o l d t weiter; „wer nur sieht und abstrahiert, kann ein M e n s c h e n a l t e r [...] P f l a n z e n und Tiere zergliedern, er wird die Natur zu b e s c h r e i b e n glauben, ihr selbst aber e w i g f r e m d s e i n . " 1 0 2 Erst wenn die auf W i s s e n s c h a f t g e g r ü n d e te L a n d s c h a f t „einen b e s o n d e r e n Charakter, eine neue e i g e n t h ü m l i c h e Wirk u n g auf das G e m ü t h " o f f e r i e r e , k ö n n e „ein u n m i t t e l b a r e s H e r a u f h e b e n des B e t r a c h t e n d e n in die S p h ä r e e i n e r h ö h e r e n Welt- und E r d a n s c h a u u n g " gelingen, meint in e n t s p r e c h e n d e r Weise Carl Gustav C a r u s . 1 0 3 Und auch S t i f t e r folgt dieser historisch u.a. wohl auf G o e t h e s Stilbegriff r ü c k f ü h r b a r e n Position, e t w a wenn er vom Künstler bei der W i e d e r g a b e von N a t u r neben der a n g e m e s s e n e n G e n a u i g k e i t „ G e f ü h l s w ä r m e " v e r l a n g t . ' 0 4 Vor d i e s e m Hintergrund erscheint es auch k o n s e q u e n t , d a ß S t i f t e r Heinrich Drend o r f s g e o g n o s t i s c h e n Studien sich zuallerletzt ästhetisch, d.h. hier s t i m m u n g s m ä ß i g vermitteln läßt. F o l g e n d e r m a ß e n verläuft sein E n t w i c k l u n g s g a n g : In einem f r ü h e n S t a d i u m des B i l d u n g s w e g e s lernt Heinrich mit U n t e r s t ü t z u n g Risachs, daß das k ü n s t l e r i s c h e E l e m e n t seiner Z e i c h n u n g e n hinter d e m naturw i s s e n s c h a f t l i c h e n Interesse z u r ü c k b l e i b t . Danach, w ä h r e n d des S t u d i u m s der K u n s t s a m m l u n g des „ R o s e n h a u s e s " , e r k e n n t er die G e f a h r , daß ein G e m ä l d e , „statt einen ruhigen G e s a m t e i n d r u c k zu erzielen", w e g e n der Detailtreue seine Einheit verlieren könne. Als d e m j u n g e n G e o l o g e n schließlich d a n k der Be-
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Humboldt (o. Anm. 92). Bd. 2, S. 3. - Vgl. Müller-Tamm (o. Anm. 98), S. 98f. - Hard (o. Anm. 88). Carus (o. Anm. 29), S. 115. .Gemälde Ausstellung des oberösterreichischen Kunstvereines. (1862.)'; SW. Bd. 14, S. 198, vgl. S. XXXIII. - Johann Wolfgang von Goethe. Einfache N a c h a h m u n g der Natur, Manier, Stil. In: Werke (o. Anm. 74). Bd. 12, S. 3 0 - 3 4 . - Stifter hat diesen Goethetext im . L e s e b u c h ' empfohlen, vgl. o. A n m . 75. - Vgl. auch Fischer (o. Anm. 19), S. 4 8 2 - 4 8 6 .
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g e g n u n g mit der antiken M a r m o r s t a t u e und den alten Meistern die N o t w e n digkeit a u f g e g a n g e n ist, daß ein Inneres zum S p r e c h e n gebracht, ein A u s d r u c k erzielt w e r d e n m ü s s e , gelingt es ihm, das g e o g n o s t i s c h e Bild des „ L a u t e r s e e s " zu v o l l e n d e n . Seinen a n s c h a u l i c h e n C h a r a k t e r benennt Stifter abschließend mit „ s c h w e r m ü t h i g e r D ü s t e r h e i t " 1 0 5 und bestätigt damit nicht allein die Verm ä h l u n g von w i s s e n s c h a f t l i c h e m und ä s t h e t i s c h - e m o t i o n a l e m Interesse, sondern indirekt auch die N ä h e von . H e i t e r k e i t ' und . B e w e g u n g ' . Der R o m a n f i g u r Heinrich gelang j e n e V e r s ö h n u n g von N a t u r w i s s e n s c h a f t und e m o t i o n a l o r i e n t i e r t e r L a n d s c h a f t s k u n s t , die ihrem A u t o r in seiner Praxis als M a l e r letztlich v o r e n t h a l t e n blieb. Ein Blick auf das F r a g m e n t des Ölbildes ( A b b . 10), das d e r Fassung . B e w e g u n g ΙΓ z u z u o r d n e n ist, o f f e n b a r t , daß S t i f t e r e i n e r G e f a h r z u m i n d e s t ansichtig w u r d e , die H u m b o l d t im Hinblick auf die Literatur früh diagnostiziert hatte: „ D i e s e ä s t h e t i s c h e B e h a n d l u n g naturhistorischer G e g e n s t ä n d e hat, trotz der h e r r l i c h e n Kraft und der B i e g s a m k e i t u n s e r e r v a t e r l ä n d i s c h e n Sprache, g r o ß e S c h w i e r i g k e i t e n der C o m p o s i t i o n . R e i c h t h u m der N a t u r veranlaßt A n h ä u f u n g e i n z e l n e r Bilder, und A n h ä u f u n g stört die R u h e und den Totaleindruck des G e m ä l d e s . D a s G e f ü h l und die P h a n t a s i e a n s p r e c h e n d , artet der Styl leicht in eine d i c h t e r i s c h e Prosa a u s . " 1 0 6 Durch ein e x t r e m e s Detailinteresse, g e n a u e r : den Versuch einer m i n u z i ö s e n A b s c h i l d e r u n g auch kleinster O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r e n , hat Stifter die B e w e g u n g s k o m p o n e n t e d e r Vorzeichnungen n a h e z u vollständig eliminiert. Die fortw ä h r e n d e n Ü b e r m a l u n g e n und K o r r e k t u r e n 1 0 7 mit d e m Ziel einer möglichst g e t r e u e n V e r g e g e n w ä r t i g u n g des F l u ß s a n d e s und der teils vom Wasser bed e c k t e n , teils in s o n n i g e m Licht liegenden b u n t f a r b e n e n Steine f ü h r t e dazu, daß s t r ö m e n d e B e w e g u n g kaum m e h r a b l e s b a r ist. W ä r e Stifter zu einem E n d e g e k o m m e n , so hätte die fast h y p e r r e a l i s t i s c h e G e g e n s t ä n d l i c h k e i t zud e m , so darf man b e f ü r c h t e n , die Einheit des Bildes zerfallen lassen. A n g e sichts d e r forcierten O b j e k t w a h r n e h m u n g m i ß l a n g o f f e n b a r die von Lands c h a f t s t h e o r e t i k e r n und Stifter selbst a n g e s t r e b t e p h y s i o g n o m i s c h e W i e d e r g a be d e r F l u ß l a n d s c h a f t . Stifter erlag d a m i t als M a l e r der G e f a h r , vor der H u m boldt im Z u s a m m e n h a n g mit der ästhetischen B e h a n d l u n g von naturhistorischen G e g e n s t ä n d e n gewarnt hatte: Der D e t a i l r e i c h t u m widerstrebte d e m „Totaleindruck".
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SW. Bd. 7, S. 31, S. 100, S. 178, S. 252. Alexander von Humboldt. Ansichten der Natur. Tübingen/Stuttgart 1808. Vorrede. Vgl. Novotny (o. Anm. 3), S. 38, S. 133.
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VI A b s c h l i e ß e n d ist die nicht leicht zu b e a n t w o r t e n d e Frage zu erörtern, w e s h a l b unter allen Malern des 19. J a h r h u n d e r t s gerade Stifter die T h e o r e m e der K u n s t t h e o r i e b e z ü g l i c h des S t i m m u n g s g e h a l t s von L a n d s c h a f t s m a l e r e i so einzigartig konkret zu fassen s u c h t e . Einen ersten Hinweis m a g die F o r m der Notiz im M a l e r t a g e b u c h g e b e n : Die k a t a l o g m ä ß i g e A u f l i s t u n g der G e f ü h l e korrespondiert in g e w i s s e r H i n s i c h t mit den diversen S a m m l u n g e n e n z y k l o p ä dischen und m u s e a l e n Z u s c h n i t t s im „ R o s e n h a u s " des . N a c h s o m m e r s ' , besonders mit j e n e n , in denen sich - nach Stifters M e i n u n g - diverse G e f ü h l e objektiviert h a b e n , die also die e m o t i o n a l e Sphäre des M e n s c h e n a n s p r e c h e n . S o vermitteln e t w a die in der Bibliothek v e r s a m m e l t e n B ü c h e r u.a. „ G e f ü h l e in s c h ö n e r S i t t e n k r a f t " . 1 0 8 Selbst das z u s a m m e n g e t r a g e n e „alte G e r ä t " erschließt sich d e m B e t r a c h t e r durch seine e m o t i o n a l e Aura, haben doch die E r z e u g e r „so sehr einen e i g e n t h ü m l i c h e n Geist in ihre Dinge - es war der Geist ihres G e m ü t h e s und ihres a l l g e m e i n e n G e f ü h l s l e b e n s " gelegt, „daß sie d i e s e m Geiste sogar den Z w e c k o p f e r t e n " . 1 0 9 Erst recht auf das m e n s c h l i c h e G e f ü h l bezogen sind die O b j e k t e der G e m ä l d e g a l e r i e , denn es gilt: „Wir haben ein innigeres und s ü ß e r e s G e f ü h l in unserem Wesen, wenn wir eine durch Kunst gebildete L a n d s c h a f t , B l u m e n o d e r einen M e n s c h e n sehen, als wenn diese G e g e n s t ä n d e in W i r k l i c h k e i t vor uns s i n d . " ' 1 0 Da Kunst eine h ö h e r e , e m o t i o n a l g e f ä r b t e Realität vor A u g e n stellt, k o m m t ihr quasi t h e r a p e u t i s c h e K r a f t zu. I m m e r wenn Risach, der K o n z e p t o r der Kunstwelt des „ R o s e n h a u s e s " , in seiner von S t a a t s g e s c h ä f t e n belasteten Leb e n s p h a s e vor einem G e m ä l d e o d e r einer Bildsäule g e s t a n d e n war, verbreitete sich R u h e und W o h l b e h a g e n ü b e r sein Inneres, „als wäre es in seine O r d n u n g gerückt w o r d e n " . 1 1 1 Eine derart h e i l e n d e K u n s t ist w i r k m ä c h t i g genug, auch die L e b e n s g e staltung i n s g e s a m t n a c h h a l t i g zu b e e i n f l u s s e n . " 2 Der j u g e n d l i c h e Risach liebte nicht b l o ß Gestalten, er liebte s c h ö n e Gestalten „wie sie als K ö r p e r aus der Bildhauerei und B a u k u n s t h e r v o r g e h e n , als Flächen, Linien und Farben aus der Malerei [...]. Ich g a b m i c h diesen Gestalten mit W ä r m e hin und v e r l a n g t e G e b i l d e , die ihnen ähnlich sind, im L e b e n . Felsen, Berge, Wolken, B ä u m e , die ihnen glichen, liebte ich, d i e e n t g e g e n g e s e t z t e n verachtete ich. M e n s c h e n ,
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SW. Bd. 7, S. 28. SW. Bd. 6, S. 325. SW. Bd. 7, S. 153. Ebd., Bd. 8.1, S. 84. ,Die Kunstschule'; SW. Bd. 16, S. 175: „Kunst heißt (...) die Fähigkeit, etwas hervorzubringen, was durch außerordentliche Schönheit das Herz des Menschen ergreift, es emporhebt, veredelt, mildert, zu allem Guten, ja zur Andacht und Gottesverehrung stimmt." - .Zur dramatischen Kunst'; SW. Bd. 16, S. 361: „Die sittliche Folge bleibt nicht aus, und gerade D i e ß gibt dem Werk das Merkmal des Kunstwerkes."
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m e n s c h l i c h e H a n d l u n g e n und Verhältnisse, die ihnen e n t s p r a c h e n , zogen mich an, die a n d e r n stießen mich ab. Es war, ich e r k a n n t e es spät, im G r u n d e die Wesenheit eines K ü n s t l e r s , die sich in mir o f f e n b a r t e und ihre E r f ü l l u n g heischte.""- 1 D e n n o c h bildete sich Risach nicht zum Künstler, sondern, dank seines V e r m ö g e n s , „Gestalten a u f z u n e h m e n " , zum Diener und Vermittler von Kunst: „Wenn m a n die E r s c h a f f e n d e n G ö t t e r nennt, so sind J e n e die Priester dieser G ö t t e r . " 1 1 4 Läßt man diese e x e m p l a r i s c h e n Sätze des . N a c h s o m m e r s ' berechtigterweise als A n s i c h t e n ihres A u t o r s gelten, so kann gefolgert w e r d e n , d a ß Stifter in der Kunst einen e m i n e n t erzieherisch w i r k s a m e n Faktor erblickte und den Anteil der e m o t i o n a l e n S p h ä r e f ü r die M e n s c h e n b i l d u n g hoch veranschlagte. Diese p ä d a g o g i s c h e G r u n d h a l t u n g " 5 gibt, wie es scheint, auch eine gewisse Erklärung f ü r S t i f t e r s u n g e w ö h n l i c h u m f a s s e n d e Rezeption und Konkretion von L a n d s c h a f t s m a l e r e i als S t i m m u n g s k u n s t . Wenngleich eine u n m i t t e l b a r e N u t z a n w e n d u n g der p r o j e k t i e r t e n L a n d s c h a f t s g e m ä l d e im Sinne der von Sulzer g e f o r d e r t e n B i l d e r s a m m l u n g zur E n t w i c k l u n g der Vernunft und der G e m ü t s b i l d u n g a u s g e s c h l o s s e n ist, so darf doch auch im Falle Stifters eine erzieherische Intention unterstellt w e r d e n . Sie ist wohl Teil der Basis f ü r den ungewöhnlich konkreten und t h e o r i e k o n f o r m e n Entwurf einer Ikonologie der Landschaftsmalerei. Vorausgesetzt, es besteht tatsächlich eine strukturelle Ähnlichkeit z w i s c h e n der geplanten F o l g e von S t i m m u n g s l a n d s c h a f t e n und der Konzeption des „Ros e n h a u s e s " mit seinen S a m m l u n g e n , so stellt sich weiter die F r a g e nach dem Sinn derartiger K o l l e k t i o n e n i n s g e s a m t . Im v o r l i e g e n d e n Z u s a m m e n h a n g m u ß es bei einem k n a p p e n H i n w e i s sein B e w e n d e n h a b e n . R i c h t u n g s w e i s e n d f ü r ein integrales Verständnis k ö n n t e sein, w a s S t i f t e r über den F u ß b o d e n im großen Saal des „ S t e r n e n h o f e s " äußert, denn auch er verdankt sich intensiver S a m m e l t ä t i g k e i t . S e i n e M a r m o r e „sind aller O r t e n e r w o r b e n , g e s c h l i f f e n , geglättet, und nach e i n e r a l t e r t h ü m l i c h e n Z e i c h n u n g vieler K i r c h e n f e n s t e r eingesetzt w o r d e n " . " 6 Die A n o r d n u n g der M a r m o r s o r t e n e r f o l g t e also nach einem älteren, der S a k r a l s p h ä r e e n t s t a m m e n d e n Muster. Damit e r w e i s t sich z u m i n dest diese n a t u r k u n d l i c h e S a m m l u n g in ihrer künstlerischen Präsentation, vielleicht aber auch d e r e m i n e n t ästhetische L e b e n s e n t w u r f des „ R o s e n h a u ses" und des „ S t e r n e n h o f e s " insgesamt, als s ä k u l a r e r N a c h f o l g e r eines älteren, religiös f u n d i e r t e n O r i e n t i e r u n g s - und G e s t a l t u n g s p r i n z i p s . 1 1 7
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.Nachsommer'; SW. Bd. 8.1, S. 82. Ebd., S. 85. - Vgl. dazu den Beitrag von Sibylle Appuhn-Radtke in diesem Band. Vgl. Fischer (o. Anm. 19). SW. Bd. 6, S. 324f. Vgl. Hannelore und Heinz Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt a. M. 1975, S. 1 1 2 - 1 2 0 . - Hans Joachim Piechotta: Ordnung als mythologisches Zitat. Adalbert Stifter und der Mythos. In: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Hrsg. von Karl Heinz Bohrer. Frankfurt a.M. 1985, S. 8 3 - 1 1 0 .
Abb. 3:
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Erdleben
Abbildungsnachweise Berlin. Staatliche Museen - Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett: 3 Linz. Adalbert-Stifter-Institut: 4. 5. 7, 8 Linz. Oberösterreichisches Landesmuseum: 11 München. Bayer. Staatsbibliothek: 13 München, Bayer. Staatsgemäldesammlungen: 6 Passau, Archiv des Verfassers: 2 Wien. Adalbert-Stifter-Gesellschaft: 1.9. 10 Wien, Kunsthistorisches Museum: 12
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Band und Kette Zu einer D e n k f i g u r bei Stifter
Band und Kette
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S t i f t e r s E r z ä h l w e r k , d e s s e n O r d n u n g s s t r u k t u r s o o f t v o r d e r g r ü n d i g als b i e dermeierlicher Hang nach dem Idyllisch-Schönen oder nach dem HarmonischG a n z e n m i ß v e r s t a n d e n w i r d , w i r f t h ö c h s t b e u n r u h i g e n d e S t r e i f l i c h t e r auf d a s Menschenschicksal. Die postulierte Einheit von Mensch und Natur macht nicht v e r g e s s e n , d a ß es sich u m v e r s c h i e d e n e G r ö ß e n h a n d e l t u n d d a ß d i e N a tur, ihr W e s e n s e l t e n p r e i s g e b e n d , sich g e g e n d e n M e n s c h e n u n e m p f i n d l i c h zeigt. 1 D e m M e n s c h e n , d e r d u r c h s e i n e H a n d l u n g e n u n d V e r f e h l u n g e n w ä h rend s e i n e s z e i t l i c h b e f r i s t e t e n G a n g s d u r c h d i e Welt nicht selten e i g e n e s u n d f r e m d e s U n g l ü c k v e r s c h u l d e t , tritt d i e N a t u r in i h r e r m a j e s t ä t i s c h e n , e w i g e n G r o ß a r t i g k e i t e n t g e g e n . F r e i l i c h ist d i e s e f ü r S t i f t e r A u s d r u c k d e r g ö t t l i c h e n O r d n u n g u n d läßt d i e H i e r a r c h i s i e r u n g d a s r e l i g i ö s e G r u n d m u s t e r von K r e m s m ü n s t e r e r k e n n e n . A b e r m e n t a l i t ä t s g e s c h i c h t l i c h läßt sich d o c h d e r E i n b r u c h naturwissenschaftlicher Erklärungsversuche mit ihrer einhergehenden säkularen S k e p s i s n i c h t r e s t l o s e i n e b n e n . D a s ist, w i e ich m e i n e , a u c h bei S t i f t e r nicht d e r Fall, u n d s o l c h e I n t e r p r e t a t i o n s b e m ü h u n g e n , d i e s t ä n d i g auf d i e unv e r r ü c k b a r e O r d n u n g s m a c h t d e r N a t u r v e r w e i s e n , g e r a t e n leicht in d i e G e f a h r , d a s g e d a n k l i c h e G e f ü g e d e r e r z ä h l e r i s c h e n Welt u m e i n e g e w i c h t i g e D i m e n sion zu v e r k ü r z e n . D a s ü b e r d i e M e n s c h e n h e r e i n b r e c h e n d e U n g l ü c k w i r d bei S t i f t e r h ä u f i g mit e i n e m N a t u r b i l d k o n t r a s t i e r t , d a s als „ l i e b l i c h " o d e r „ h e i t e r " e i n e G e g e n p o s i t i o n a u f l e u c h t e n läßt. In d e r E r z ä h l u n g , D e r H o c h w a l d ' legt sich d i e W a l d n a t u r ü b e r d i e R e s t e m e n s c h l i c h e n U n g l ü c k s . Sie w u c h e r t u n d g e d e i h t , sie s c h e i n t n u r P o s i t i v e s zu b e w i r k e n , i n d e m sie d e n S c h a u p l a t z d e s G e s c h e h e n s w i e d e r in d e n S t a n d d e r U n s c h u l d h e b t : „ W e s t l i c h l i e g e n u n d s c h w e i g e n d i e u n e r m c ß l i c h e n W ä l d e r , l i e b l i c h wild wie e h e d e m . G r e g o r h a t t e d a s W a l d haus a n g e z ü n d e t , und Waldsamen auf die Stelle gestreut; die Ahornen, die Buc h e n , d i e F i c h t e n u n d a n d e r e , die a u f d e r W a l d w i e s e s t a n d e n , h a t t e n z a h l r e i che N a c h k o m m e n s c h a f t und ü b e r w u c h s e n die g a n z e Stelle, so daß wieder die t i e f e j u n g f r ä u l i c h e W i l d n i ß e n t s t a n d , w i e s o n s t , u n d w i e sie n o c h h e u t e ist." 2 D a s G e g e n b i l d zu d e n B ä u m e n , d e r e n „ z a h l r e i c h e N a c h k o m m e n s c h a f t " d i e Stelle b e w ä c h s t , s t e h t u n m i t t e l b a r d a v o r , e r g r e i f e n d in s e i n e r l a k o n i s c h e n K ü r z e : „ D i e B u r g h a t t e n a c h i h n e n [den b e i d e n S c h w e s t e r n ] k e i n e n B e w o h n e r m e h r . " 3 K o n t i n u i t ä t w i r d hier l e d i g l i c h d e r N a t u r z u g e s t a n d e n , w ä h r e n d die G e s c h i c h t e d e s G e s c h l e c h t s a b r e i ß t . Stellt m a n d i e F r a g e n a c h m e n s c h l i c h e m V e r s c h u l d e n , k o m p l i z i e r e n sich die D i n g e . S o l l t e e s d i e in d i e R e i n h e i t d e r W ä l d e r e i n d r i n g e n d e L i e b e d e r M e n s c h e n s e i n ? D i e s o g a n z p r i v a t e Verlob u n g e r e i g n e t s i c h j e d o c h auf e i n e r W a l d w i e s e , „ u m w e h t v o n d e n W ä l d e r n
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Viele Beispiele findet man bei Kurt Mautz: Das antagonistische Naturbild in Stifters „Studien". In: Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Hrsg. von Lothar Stiehm. Heidelberg 1968, S. 2 3 - 5 6 . WuB. Bd. 1.4, S. 318. Ebd.
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G o t t e s " . 4 Der Leser wird dann eher aufs Kollektiv der Menschen verwiesen, die mit dem Krieg die zerstörerischen L e i d e n s c h a f t e n entbunden h a b e n , in deren G e f o l g e sich die U n g l ü c k s s e r i e u n a u f h a l t s a m abspult. Das Naturbild fängt den über das tragische G e s c h e h e n b e u n r u h i g t e n Leser f ü r den ersten A u g e n blick auf, entläßt ihn dann aber doch mit der Frage, was anderes er aus ihm e n t n e h m e n k ö n n t e als eine K o n t r a s t f o l i e , auf der - im allgemeinen Sinn - die O r d n u n g der N a t u r m e n s c h l i c h Verfehltes zudeckt. Dann m u ß auch die Kehrseite sichtbar w e r d e n , die alles a n d e r e als Heiteres o d e r Liebliches anspricht: die Natur - die göttliche, e w i g e - zeigt sich unberührt vom Einzelschicksal j e n e r M e n s c h e n , die in ihrer U n z u l ä n g l i c h k e i t die Tragödie nicht hatten aufhalten k ö n n e n und d e n e n ein u n v e r s t a n d e n e s Leid z u g e f ü g t wurde. D e n n o c h ist die a b s c h l i e ß e n d e S z e n e , w o der Wald o f f e n b a r w i e d e r in seine Rechte eintritt, der E c k p o s t e n einer kunstvollen R a h m u n g , der den S c h l u ß wieder an den A n f a n g der E r z ä h l u n g r ü c k b i n d e t . Über mehrere Seiten h i n w e g hatte der Erzähler, b e v o r er den Leser in die Zeit z u r ü c k f ü h r t , sich b e m ü h t , „jenes s c h w e r m ü t h i g schöne Bild dieser Waldthale" 5 vor seinen A u g e n erstehen zu lassen. „Es wohnet u n s ä g l i c h viel Liebes und W e h m ü t h i g e s in diesem A n b l i c k e " 6 - an dieser Stelle erfolgt endlich der Ubergang zu der G e s c h i c h t e der Burg und ihrer B e w o h n e r . U m so b e d e u t u n g s t r ä c h t i g e r m u ß die Schlußszene e r s c h e i n e n : ist doch neben d e m „ W e h m ü t i g e n " v o m „ L i e b e n " und „ S c h ö n e n " die Rede. Folgt m a n der Spur, die G r e g o r zu legen scheint, so ist seine H a n d l u n g am S c h l u ß die K o n s e q u e n z der Worte, die er vorher zu Ronald g e s p r o c h e n hatte: das H o l z h a u s solle er nach g e s c h e h e n e r R e t t u n g anz ü n d e n und S a m e n streuen, damit die Stelle „ w i e d e r so lieblich und schön werde, wie sie es war seit A n b e g i n n und der Wald über euer Dasein nicht s e u f z e n m ü s s e " . 7 Es drängt sich das Bild einer K u l t h a n d l u n g auf. Der Kultgegenstand selber, der Wald bzw. die Natur, beschwört ein „ t r e m e n d u m " h e r a u f , indem er Z ü g e des N u m i n o s e n a n n i m m t . ,Das alte S i e g e l ' klingt mit einer ähnlichen Schlußpartie aus. W i e d e r u m ist die M e n s c h e n w e l t v e r f a l l e n , w ä h r e n d die N a t u r in zeitloser U n b e r ü h r t h e i t erscheint: „ D a s F r ü h g l ö c k l e i n tönt noch, wie sonst, der Bach rauscht, wie sonst aber auf dem alten H a u s e ist es heut zu Tage ein trauriger betrübter Anblick unter den T r ü m m e r n der v e r k o m m e n d e n Reste. Nur die Berge stehen noch in alter Pracht und Herrlichkeit - ihre Häupter w e r d e n g l ä n z e n , w e n n wir und a n d e r e G e s c h l e c h t e r dahin sind [...]. — Wie viele w e r d e n noch nach uns k o m m e n , denen sie Freude und s a n f t e Trauer in das b e t r a c h t e n d e Herz s e n k e n , bis auch sie dahin sind, und vielleicht auch die
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293. 211. 217. 295.
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schöne freundliche Erde, die uns doch jetzt so fest gegründet, und für Ewigkeiten gebaut scheint." 8 Für die fehlende Kontinuität auf der Seite der beiden Menschen, deren erstaunliche Geschichte erzählt wird, ist man in der Regel mit einer Schuldzuweisung schnell fertig. Hätte Hugo Coleste verzeihen können, statt bei seinem Ehrbegriff zu beharren ... Aber was wirklich als „agens" der Geschehnisse anzusehen ist, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Es wäre etwa auch Cölestes Verhalten einzubeziehen, das sich seltsamerweise vom Schicksal her versteht („Was das Schicksal will, das muß geschehen"), 9 und es wäre Dionis zu nennen, der für sie Schicksal spielt. Es geht hier nicht um eine müßige Frage, denn die Erzählung selber macht den Leser darauf aufmerksam, daß auch wichtige Geschehnisse auf einen oft geringfügigen Anlaß zurückzuführen sind. Wirkmomente im menschlichen Schicksal werden nicht als blinde Zufallsmomente angesehen, sondern werden mit Hilfe eines Naturvergleichs als unabänderliche Folgen eines tatsächlichen Urmoments bestimmt, das den weiteren Gang der Dinge auslöst. Darüber belehrt der Eingang des Kapitels ,Das Lindenhäuschen': „Es geht die Sage, daß, wenn in der Schweiz ein thauiger sonnenheller lauer Wintertag über der weichen, klafterdicken Schneehülle der Berge steht, und nun oben ein Glöckchen tönt, ein Maulthier schnauft, oder ein Bröselein fällt - sich ein zartes Flöckchen von der Schneehülle löset, und um einen Zoll tiefer rieselt. Der weiche, nasse Flaum, den es unterwegs küsset, legt sich um dasselbe an, es wird ein Knöllchen und muß nun tiefer nieder, als einen Zoll. Das Knöllchen hüpft einige Handbreit weiter auf der Dachsenkung des Berges hinab. Ehe man dreimal die Augen schließen und öffnen kann, springt schon ein riesenhaftes Haupt über die Bergesstufen hinab, von unzähligen Knöllchen umhüpft, die es schleudert, und wieder zu springenden Häuptern macht. Dann schießt's in großen Bögen. Längs der ganzen Bergwand wird es lebendig, und dröhnt. Das Krachen, welches man sodann herauf hört, als ob viele tausend Späne zerbrochen würden, ist der zerschmetterte Wald, das leise Aechzen sind die geschobenen Felsen - dann kommt ein wehendes Sausen, dann ein dumpfer Knall und Schlag dann Todtenstille - nur daß ein feiner weißer Staub in der Entfernung gegen das reine Himmelsblau empor zieht, ein kühles Lüftchen vom Thal aus gegen die Wange des Wanderers schlägt, der hoch oben auf dem Saumwege zieht, und daß das Echo einen tiefen Donner durch alle fernen Berge rollt. Dann ist es aus, die Sonne glänzt, der blaue Himmel lächelt freundlich, der Wanderer aber schlägt ein Kreuz und denkt schauernd an das Geheimniß, das jetzt tief unten in dem Thale begraben ist." 1 0
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Die hochpoetische Schilderung vom Entstehen einer Lawine und von ihren furchtbaren Auswirkungen leitet mit einem lakonischen „So" zur Erzählung über, auf deren tragische Wendung der Naturvergleich vorausdeutet: „So wie die Sage das Beginnen des Schneesturzes erzählt, ist es oft mit den Anfängen eines ganzen Geschickes der Menschen." Der Sinn solchen vergleichenden Verweisens erhellt aus Stifters philosophischer Weltanschauung, an deren Problematisierung sein erzählerisches Werk nachdrücklich teilhat: Es herrscht kein Fatum, und der Unglücksschlag erfolgt nicht ohne Vorbereitung und nicht ohne innere Notwendigkeit, er ist im Gegenteil in einer Reihe von Handlungen begründet, die sich ursächlich verketten. Das führt zu dem Schluß, daß dem Menschen, sofern er an eine sinnvolle Lenkung der göttlichen Natur glaubt, angesichts der Verkettung von bislang unbekannten Ursachen und Wirkungen grundsätzlich zwei Wege offenstehen. Er kann das, was gemeinhin Schicksal genannt wird, gläubig hinnehmen, und zwar in der Annahme einer weise lenkenden, wenn auch unergründlichen höheren Macht, die als die Natur mit ihrer Gesetzmäßigkeit oder als die Gottheit gedacht wird. Er kann andererseits die Hoffnung hegen, daß eine Erforschung der Naturgesetze dereinst die Möglichkeit bieten wird, das Wesen der Natur zu erkennen, in ihren geheimen Kern einzudringen und eventuell in den erkannten Kausalnexus einzugreifen, um das Geschehen auf ein gewünschtes Ziel zu lenken. Wie aus dem einleitenden Passus der Erzählung ,Brigitta' hervorgeht, hält Stifter eine progressive Naturerkenntnis prinzipiell für möglich, weist aber der Dichtung einstweilen die Funktion einer bescheidenen Aushilfe zu: „Wir glauben daher, daß es nicht zu viel ist, wenn wir sagen, es sei für uns noch ein heiterer unermeßlicher Abgrund, in dem Gott und die Geister wandeln. Die Seele in Augenblicken der Entzükkung überfliegt ihn oft, die Dichtkunst in kindlicher Unbewußtheit lüftet ihn zuweilen; aber die Wissenschaft mit ihrem Hammer und Richtscheite steht häufig erst an dem Rande, und mag in vielen Fällen noch gar nicht einmal Hand angelegt haben." 1 1 Ähnlich heißt es von der ,,wundervolle[n] Begebenheit" in , A b d i a s \ sie werde so lange „wundervoll" bleiben, „bis man nicht jene großen verbreiteten Kräfte der Natur wird ergründet haben". Und auch hier wird eine Enthüllung der Rätsel als zukünftig postuliert: „Bisher sind sie uns kaum noch mehr als blos wunderlich, und ihr Wesen ist uns fast noch nicht einmal in Ahnungen bekannt." 1 2 Die Erforschung der Natur wird solcherart als sittliche Aufklärung verstanden, weil sie dem Menschen die Angst vor dem Unheimlichen nimmt. Die Annahme einer progressiven Erkenntnis der strengen Naturgesetzlichkeit verbindet sich mit einem transzendentalen Begründungsdenken. Stifters weltanschaulicher Ausgangspunkt ist ebenso von den naturwissenschaftlichen 11 12
Ebd., S. 411 f. Ebd., S. 318.
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Fortschritten seiner Zeit her zu verstehen wie von seiner Vertrautheit mit der Idee des kosmologischen Zusammenhangs von Welt und Mensch, wie sie Arthur O. Lovejoy von der Antike bis zur Romantik dargestellt hat. 1 3 Wie sehr Stifter jedoch von Zweifel und Skepsis befallen wurde, verrät das Erzählwerk nahezu überall dort, wo er sich um eine Beschreibung der .Dinge' in ihrer Transparenz auf die höhere Welt bemüht. Das gilt unbeschadet der communis opinio, daß er - um Friedrich Sengle zu zitieren - „in dem alteuropäischen, Wissen und Glauben verbindenden Denksystem wurzelt, das von der Scholastik über Keplers Harmonía mundi und Leibniz bis zu Herder, Jean Paul und Bolzano reicht, daß er also die Trennung von reiner und praktischer Vernunft (Kant), die den Idealismus und, im dialektischen Gegenschlag, den Realismus begründete, nicht mitvollzogen hat". 1 4 Damit läßt sich die .Naturfrömmigkeit' in den Erzählungen genauer fassen. Wird die Natur als Ausdruck göttlichen Wesens und umfassenden Seins verstanden, so erhofft sich der Mensch Aufschluß über ihre Geheimnisse durch ihre andächtig-analytische Betrachtung: Erforschung der Natur zum Zwecke der Gotteserkenntnis. Längst konnte es im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts - , in ungebrochener Tradition, nicht mehr um die schwärmerische Haltung gehen, die noch Schillers ,Theosophie des Julius' beseeligte: „Ich bespreche mich mit dem Unendlichen durch das Instrument der Natur |...)." , i Dennoch mutet es als fernes Echo solcher Naturmystik an, wenn bei Stifter die Natur sich einem Menschen durch „Worte" offenbart und das „Geheimnis der Natur" lesbar wird: „[...] sehet, da fing ich an, allgemach die Reden des Waldes zu hören, und ich horchte ihnen auch, und der Sinn ward mir aufgcthan, seine Anzeichen zu verstehen, und das war lauter Prachtvolles und Geheimnißreiches und Liebevolles von dem großen Gärtner, von dem es mir oft war, als müsse ich ihn jetzt und jetzt irgendwo zwischen den Bäumen wandeln sehen. [...] In Allem hier ist Sinn und Empfindung; der Stein selber legt sich um seinen Schwesterstein, und hält ihn fest, Alles schiebt und drängt sich, Alles spricht. Alles erzählt und nur der Mensch erschaudert, wenn ihm einmal ein Wort vernehmlich wird. Aber er soll nur warten, und da wird er sehen, wie es doch nur lauter liebe gute Worte sind." 1 6 Der alte Gregor ist eine von den vielen Figuren, die in Stifters Erzählungen Blumen und Pflanzen sammeln oder die Sterne beobachten, um die Geheimnisse der göttlichen Natur zu enträtseln:
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Arthur O. Lovejoy: The great Chain of Being [1936). Harvard University Press. 4. Aufl. 1950. Deutsch: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines G e d a n k e n s . Frankfurt a.M. 1985. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im S p a n n u n g s f e l d zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. 3: Die Dichter. Stuttgart 1980, S. 984. Friedrich Schiller. Sämtliche Werke. Bd. 5: Philosophische Schriften/Vermischte Schriften. Mit A n m e r k u n g e n von Helmut Koopmann. München 1972, S. 116f. WuB. Bd. 1.4, S. 243 (Der Hochwald).
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„.Siehe, das ist so: Wie du in deinen Büchern liesest, so bin ich bestimmt, im Buche Gottes zu lesen und die Steine, und die Blumen, und die Lüfte und die Sterne sind seine Buchstaben - wenn du einmal mein Weib bist, wirst du es b e g r e i f e n , und ich werde es dich lehren.' ,Oh, ich b e g r e i f ' es schon, und begriff es immer; das muß wunderbar sein!'"17 Das Zeitkolorit b e s t i m m t solch andächtiges Hinhören und die Überzeugung einer r e d e n d e n Natur - mit J a c o b Böhme und Paracelsus ist die Tradition markiert. In , D e r H o c h w a l d ' wird eine Geschichte aus dem Dreißigjährigen Krieg erzählt, in ,Die Narrenburg' ist Heinrich ein Sonderling aus anderen Zeiten: „Diese Leidenschaft ihres Herrn, meinen die Fichtauer, sei doch auch eine Narrheit, wie sie Alle seine Ahnen hatten [..,]." 1 8 Eine Rückw e n d u n g in j e n e Zeit, die noch ungebrochen der Tradition der .Naturausleg u n g ' zu folgen schien, ist symptomatisch und gibt solchen Worten einen altf r ä n k i s c h e n Anstrich. Stifter muß sich des Abstands bewußt gewesen sein, denn sobald die Welt der Vergangenheit verlassen wird, schweigt die Natur und hüllt sich in m a j e s t ä t i s c h e s Schweigen. Durch H a n s B l u m e n b e r g s Studie .Die Lesbarkeit der Welt' (1983) wurde eine breitere Ö f f e n t l i c h k e i t über die alte Vorstellung der auf Deutung angelegten Natur informiert. Schon bei Cusanus wird der menschliche Sprechakt auf Gottes Handeln b e z o g e n , seitdem entwickelte man verschiedene Konzeptionen, welche die Relationen zwischen Mensch und Kosmos mit Hilfe von sprachlicher K o m m u n i k a t i o n zu erfassen suchten. Die Natur wurde als S c h a t z k a m m e r a n g e s e h e n , in der alles zeichenhafte Bedeutung hatte und auf Gott verwies. Das „Buch der Natur" trat gleichwertig neben die Bibel, die S c h ö p f u n g wartete gleichsam auf ihre Dekodierung durch den Menschen. Zugrunde lag die M a k r o k o s m o s - M i k r o k o s m o s - I d e e sowie die A n s c h a u u n g des durch das göttliche Wort (das „Verbum Fiat") entstandenen bzw. entstehenden Weltganzen. Der Renaissance-Platonismus erfuhr durch die Signaturenlehre des Paracelsus erheblichen Auftrieb. 1 9 Wer die „Semiotik der Natur" beherrsche, k ö n n e unter der Anleitung des heiligen Geistes im Buch der Natur die , H a n d s c h r i f t ' des S c h ö p f e r s erkennen. So heißt es bei Johann Arndt mit charakteristischen Worten: „Dz ist ein Lebendiges Buch/ nicht wie man die Kräuter in Büchern beschreibt/ und als einen todten Schatten abmahlet/ sondern in Gottes Buch sind lebendige Buchstaben/ welche allen Menschen/ groß unnd klein/ gelert und ungelert f ü r Augen gestellet werden/ allein das sie nicht von Jederman recht gelesen können/ d a r u m b dz sie die schöne herliche Signatur der Kräuter nicht k e n n e n . Dieselbe muß man zuvor wissen. So kann man die-
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Ebd., S. 350 (Die Narrenburg). Ebd., S. 435 (Die Narrenburg). Wolf Peter Klein: Am A n f a n g war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche E l e m e n t e frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins. Berlin 1992, S. 121 ff.
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se herrliche s c h ö n e l e b e n d i g e B u c h s t a b e n lesen und z u s a m m e n setzen. B e d e n cke allhie die Weißheit und gütigkeit Gottes. Du wirst an e i n e m K r a u t und B l ü m l e i n s o n d e r l i c h e zeichen f i n d e n / welche sind die L e b e n d i g e H a n d t s c h r i f f t und u b e r s c h r i f f t G o t t e s [...]." 2 ° Nun v e r f ü g t die S i g n a t u r e n l e h r e freilich nicht über ein A l p h a b e t , a b e r d e r s e m i o t i s c h e C h a r a k t e r d e r S i g n a t u r e n erlaubt doch ein L e s e n ,im G l e i c h n i s ' , wie es d e r P a r a c e l s u s - A d e p t O s w a l d Croll f e s t h ä l t : Sie g e b e n d e m M e n s c h e n „ihre innerliche G e h e y m n u s s e n / so in dem S t i l l s c h w e i g e n d e r N a t u r verborg e n / also d u r c h eine G l e i c h n u ß z u e r k e n n e n " . 2 1 Wenn die D i n g e d e r N a t u r auch s t u m m b l e i b e n , so ist d e m K u n d i g e n - so f o r m u l i e r t P a r a c e l s u s - „als spreche der u b e r n a t ü r l i c h h i m e l " . 2 2 D e r Vorstellung e i n e s einheitlichen G e f ü g e s , das O b e n und Unten fest verk l a m m e r t , entspricht j e n e , d a ß alles Seiende in Gott seinen U r s p r u n g f i n d e t und im Kreislauf in ihn z u r ü c k k e h r t . 2 3 Valentin Weigel ist d a s Bild v o n G o t t als „Circkell aller C r e a t u r e n " g e l ä u f i g , das m a n aus der M y s t i k k e n n t . Daran schließt sich J a c o b B ö h m e an. Für ihn ist das R a d , die K u g e l o d e r das A u g e also die in sich z u r ü c k l a u f e n d e Kreisstruktur - s y m b o l i s c h e r A u s d r u c k einer Einheit, die A n f a n g und Ende in sich v e r s c h l u n g e n hält: das „ e w i g e B a n d " . Faßt m a n die D e n k f i g u r des alles v e r k n ü p f e n d e n Bands und der in der Kreisstruktur a u s g e d r ü c k t e n B e w e g u n g des I n e i n a n d e r f l i e ß e n s v o n k o s m i s c h e n und w e l t l i c h e n O r d n u n g e n als m e t a p h y s i s c h e s E n t s t e h u n g s m o d e l l a u f , so e n t s t e h t das Bild einer Kette, die vom göttlichen Wesen bis zu den m e n s c h l i c h - a n i m a lischen V e r k ö r p e r u n g e n herunterreicht. Noch e i n m a l sei Croll zitiert, d e r hier e x e m p l a r i s c h f ü r seine Zeit zu gelten hat: „Alle Dinge f l i e s s e n von a u s s e n zu den vntern vnnd a u ß w e n d i g e n . Dann an Gott h a n g e n die E n g l i s c h e S u b s t a n t zen/ v o n d e n s e l b i g e n k o m m e n die Astra, das ist/ die u n s i c h t b a h r e K r ä f f t e aller D i n g e : Vnd von den Astris d i e sichtbahre F o r m e n / das ist/ d i e C ö r p e r . " 2 4 Croll versteht das Kettenbild nun auch als ein u n g e f ä h r e s E r k e n n t n i s m o d e l l , das den M e n s c h e n dazu b e f ä h i g t , a u f g r u n d einer s y s t e m a t i s c h e n Erf o r s c h u n g der a n g e d e u t e t e n S c h i c h t e n s t u f e n w e i s e die B a h n a u f w ä r t s zu gehen und wie auf e i n e r Art von Seelenleiter den H i m m e l zu e r k l i m m e n : „ D u r c h
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Johann Arndt: Vier Bücher vom Wahren Christenthumb. Braunschweig 1 6 0 6 - 1 6 1 0 . IV. Teil, S. 41 f. zitiert nach Klein (o. Anm. 19), S. 128, Anm. 29. Oswald Crollii [...] Tractat Von den jnnerlichen Signaturn/ oder Zeichen aller Dinge. Angebunden an: Basilica Chymica. Frankfurt 1629, S. 4f. Vgl. dazu Wilhelm Kühlmann: Oswald Crollius und seine Signaturenlehre. Zum Profil hermetischer Naturphilosophie in der Ära Rudolphs II. In: Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance. Hrsg. von August Buck. Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Renaissanceforschung 12), S. 103-123. Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus. Sämtliche Werke. Hrsg. von Karl Sudhoff. Bd. 12. München/Berlin 1929, S. 344 (.Astronomia m a g n a ' ) . Vgl. Dieter M a h n k e : Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik. Halle 1937. Croll. Signaturn (o. Anm. 21), S. 15.
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ein güldene Ketten oder Band/ welches vnserer verderbten Natur von oben herab auff die Erde gelassen/ steygt vnser Gemüth oder verständige Seele durch Göttliche Hülff durch der Creaturen Ordnung/ von den nidrigsten zu den mitlem vnd diese ausserhalb der Welt zu dem Werck vnd Bawmeister aller Dinge/ zu einem Ersten vnd Höchsten/ zu welchem/ als zu einem erwiindschten Ziel vnnd Zweck alle Creaturen mit vielem Seufftzen freyes Willens trachten." 2 5 Es ist aber nicht nur die Bahn vorgezeichnet, die Vernunft und Seele aufwärts führen. Zugleich wird, wie im Vorgriff auf das kausal-mechanische Weltbild der Aufklärung, in jener Kette ein Erklärungsmodell für die kosmisch-irdischen Wirkungen gefunden: Die Sonne könne „keinen Apffel oder Birn auff einen Baum hangen machen", es müsse alles „auß dem innerlichen Astro oder Firmament herauß wachsen". 2 6 So sei es ein Zusammenwirken der Kräfte oben und unten, die „in einem gemeinen Nutz zusammen stimmen/ als Burger einer eintzigen Anatomi". Dazu heißt es dann: „Dieses ist die offt vnd weitberümbte güldene Kette/ die sichtbahre vnd unsichtbahre Gesellschafft der Natur/ die ehliche Vermählung des Himmels oder Firmaments vnnd aller Reichthumb [,..]." 27 In einer Anmerkung am Rand wird die Kette mit den Platonischen Ringen identifiziert und genauer erklärt: „Die Platonische Ring vnd Homerische Kette sind anders nichts als die Ordnung der Dinge/ welche der Göttlichen Providentz zu Dienst erschaffen/ ein ordentliche vnd gleichsamb Kettenförmig an einander hangende Sympathia." 2 8 Das Ineins sämtlicher Schöpfungskräfte soll den Menschen zu dauernder Ehrfurcht vor der Weisheit des Schöpfers anhalten. Denn daraus sei zu verstehen „die wunderbahre vnd vnaußsprechliche Gewalt vnd vnbegreiffliche Weißheit deß Schöpffers [...]/ vnd die vnerschätzliche Güte desselbigen gegen seine Creaturn/ zusampt der vnaußsprechlichen Tieffe der Geheimnussen/ vber welche wir vns nicht gnugsamb können verwundern." 2 9 Damit ist in Umrissen schon das Weltbild nachgezeichnet, das einem Stifter-Leser vertraut anmutet. Die Schöpfung als streng gefügter Bau, dessen Baumeister in seiner unendlichen Providenz alle Dinge, Lebendiges und Lebloses, nach Maß und Zahl geschaffen und ihnen einen wohldurchdachten Platz angewiesen hatte, an dem jedes, dem intelligiblen System gemäß, zu wirken hatte. Hier hatte alles in der universalen „concatenatio" seine vorbedachte Funktion. Man erkennt unschwer Stifters nahezu penible Herstellung von Proportion und Ordnung unter Anleitung der Natur. Geschehnisse sind immer, wie noch im Roman ,Der Nachsommer', eine Fügung der Vorsehung. Auch in
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Ebd., S. 15f. Croll. Basilica (o. Anm. 21), S. 15. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd.
Band und Kette . D i e M a p p e m e i n e s U r g r o ß v a t e r s ' ist d a s A u f f i n d e n j e n e r M a p p e fast ein fall - „ A b e r f a s t s o l l t e m a n g l a u b e n , d a ß e s k e i n e n Z u f a l l g ä b e . " D e r schließende Satz steigert das Gefühl zur Gewißheit: „Daß das Bildniß s t a n d , d a ß es h e u t e r e g n e t e , d a ß ich h e r a u f s t i e g u n d es w e g n a h m - d a s lauter Glieder derselben Kette, damit das werde, was da ward."30
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S t i f t e r hat d i e t r a d i t i o n s r e i c h e M e t a p h e r v o n d e r K e t t e v o n U r s a c h e u n d W i r k u n g z w e i f e l l o s g e k a n n t , u n d z w a r m i t s a m t ihren I m p l i k a t i o n e n . S i e g e h t g e d a n k l i c h a u f H o m e r z u r ü c k (,Ilias* 8 , 1 8 f . ) , sie w a r i n s b e s o n d e r e im 17. J a h r h u n d e r t ein e i n p r ä g s a m e s Bild f ü r d a s t h e o l o g i s c h e W e l t v e r s t ä n d n i s . T h o m a s L e i n k a u f n e n n t d i e „ c a t e n a r e r u m " ein „ G r u n d m o t i v b a r o c k e r K o s m o l o g i e " . 3 1 V i e l l e i c h t hat d i e P r ä f e r e n z d e r V o r s t e l l u n g ihren G r u n d in d e m Versuch, die infolge des kopernikanischen ,Weltschocks' unsicher g e w o r d e n e S t e l l u n g d e s M e n s c h e n im All neu zu f e s t i g e n . J e d e n f a l l s v e r m o c h t e d a s K e t t e n b i l d e i n e m s c h w a n k e n d e n B e w u ß t s e i n e i n e n Halt zu g e b e n : „ D a s u n m i t t e l b a r e G e g r ü n d e t s e i n j e d e s e i n z e l n e n S e i e n d e n [...] wirkt s i c h / ü r dieses a u s als S t e h e n in e i n e m u n v e r b r ü c h l i c h e n Z u s a m m e n h a n g , d u r c h d e n es mittelbar r ü c k b e z o g e n ist auf s e i n e n G r u n d . " 3 2 D e r Z u s a m m e n h a n g s o v e r k e t t e t e r D i n g e u n d ihre R ü c k f ü h r u n g auf „ o m n i um c a u s a m , a q u a p e n d e n t o m n i a " ( A g r i p p a v o n N e t t e s h e i m ) k o n n t e leicht an d i e c h r i s t l i c h e V o r s t e l l u n g v o n G o t t als „ o m n i a in o m n i b u s " (1 Kor. 15, 28) a n g e s c h l o s s e n w e r d e n . D i e S e i n s k e t t e läßt n i c h t s aus, sie u m f a ß t K l e i n e s w i e G r o ß e s , sie m a c h t k e i n e A u s n a h m e f ü r G e r i n g f ü g i g e s : „ D i e k o n t i n u i e r l i c h e V e r k n ü p f u n g d e r D i n g e ist d e r S t r u k t u r n a c h in j e d e m E i n z e l s e i e n d e n u n d in a l l e n z u g l e i c h a u f g l e i c h e W e i s e g e g e b e n ( o m n i a in o m n i b u s ) . " 3 3 Hier lag a u c h d i e A t t r a k t i v i t ä t f ü r e i n e auf R a t i o n a l i t ä t f u ß e n d e W e l t b e t r a c h t u n g . D e r s y s t e m a t i s c h o r d n e n d e G e i s t d e s 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s hat sich a u s g i e b i g d e r M ö g l i c h k e i t e n d e r K e t t e n - M e t a p h e r b e d i e n t u n d hat sie f ü r sein W i s s e n s s y s t e m u n t e r Z u h i l f e n a h m e d e r v o n d e r K e t t e n - V o r s t e l l u n g p o t e n z i e r t e n Vern e t z u n g s m ö g l i c h k e i t e n voll a u s g e n u t z t . S i e w a r f ü r L e i b n i z mit s e i n e r o p t i m i s t i s c h e n Idee e i n e r r a t i o n a l e n W e l t o r d n u n g n o c h h ö c h s t a k t u e l l . T h o m a s L e i n k a u f h e b t bei s e i n e r A n a l y s e v o n A t h a n a s i u s K i r c h e r s b a r o c k e r U n i v e r s a l w i s s e n s c h a f t die B e d e u t u n g d e r h u m a n i s t i s c h e n T r a d i t i o n d e r m e n s c h l i c h e n D i g n i t ä t h e r v o r , d e n n es ist e i n z i g d e m M e n s c h e n v o r b e h a l t e n , d a s W e l t g a n z e r a t i o n a l zu e r s c h l i e ß e n . Die „ D o m i n a n z der anthropologischen Finalität" (Leinkauf) verleiht dem M e n s c h e n e i n e a u s g e z e i c h n e t e o n t o l o g i s c h e P o s i t i o n . Er steht in d e r W e l t m i t te, als „ c o p u l a " o d e r „ n o d u s m u n d i " , als s p i e g e l b i l d l i c h e r „ M i k r o k o s m o s " , e i n e s c h o n z u m T o p o s v e r f e s t i g t e A n s c h a u u n g , d i e „zu e i n e r k o n f e s s i o n s ü b e r 30 31
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WuB. Bd. 1.5, S. 23. Thomas Leinkauf: Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universal Wissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers S.J. (1602-1680). Berlin 1993, S. 110-123. Leinkauf (o. Anm. 31), S. 111. Ebd., S. 113.
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g r e i f e n d e n , universal verbreiteten a n t h r o p o l o g i s c h e n K o n s t a n t e " und damit zu e i n e r der „zentralen geistesgeschichtlichen Integrations-Signaturen der Epoc h e d e s 16. und 17. J a h r h u n d e r t s " wird. 3 4 Sie läßt sich vorzüglich mit dem so e r f o l g r e i c h e n I m a g o - d e i - V e r s t ä n d n i s v e r b i n d e n , hat d a f ü r aber den Vorteil der s y s t e m a t i s c h e n S i g n i f i k a n z . Denn es liegt auf der H a n d , d a ß der Ketten-Ged a n k e , der j a in die Welt führt und den M e n s c h e n als „ c o m p e n d i u m " der Welt versteht, 3 5 das Verhältnis des M e n s c h e n zur Welt neu und k o n s e q u e n t von ihm aus b e s t i m m t : Die Welt ist ihm z u m N u t z e n g e s c h a f f e n , er soll die Welt als S c h ö p f u n g Gottes betrachten und e r k e n n e n . H i e r erweisen sich Fernrohr, Mik r o s k o p und v e r s c h i e d e n a r t i g e n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e E x p e r i m e n t e als vorr a n g i g theologisch f u n k t i o n a l e I n s t r u m e n t e und O p e r a t i o n e n . Stellt man Stifter in diese e i g e n t ü m l i c h g e s c h l o s s e n e und hierarchisch geo r d n e t e D e n k w e l t hinein, ist im G r u n d e w e n i g e r wichtig, was er tatsächlich von L e i b n i z hat lesen k ö n n e n . 3 6 D a ß er in d e m von ihm verkörperten Denken w u r z e l t e , steht j e d o c h wohl außer Z w e i f e l , 3 7 und es ist nicht a u s g e s c h l o s s e n , d a ß er in der B e n e d i k t i n i s c h e n S c h u l e in K r e m s m ü n s t e r auch mit den Schriften des Jesuiten A t h a n a s i u s Kircher und mit g e i s t e s v e r w a n d t e n Autoren in B e r ü h r u n g g e k o m m e n ist. 3 8 M e h r als auf einzelne N a c h w e i s e ist auf den komp l e x e n I m p l i k a t i o n s r a d i u s der . b a r o c k e n ' K e t t e n - M e t a p h e r a b z u h e b e n . Vielleicht sollte m a n sagen: es ist d e r p r ä g e n d e Geist von K r e m s m ü n s t e r . Wenn f ü r Stifter das Sittengesetz den C h a r a k t e r eines Naturgesetzes a n n i m m t , ist a u c h das die K o n s e q u e n z der Ketten-Vorstellung. E b e n s o ist der auf die Natur gerichtete f o r s c h e n d e Blick in ihr b e g r ü n d e t - Intelligibilität bildet das trag e n d e F u n d a m e n t j e n e s S y s t e m s und bildet auch die G r u n d v o r a u s s e t z u n g f ü r d i e rationale E r k e n n b a r k e i t der W e l t s c h ö p f u n g . Die Stellung des M e n s c h e n in d e r Seinskette und deren finale B e w e g u n g auf ihn hin b e d i n g e n eine A u f w e r tung seines geistigen Vermögens, schon früh vorbereitet im Diktum des C u s a nus: „sola m e n s est Dei i m a g o . " 3 9 Stifters b e k a n n t e Worte von der Vernunftw ü r d e als dem Inbegriff des L e b e n s können aus diesen Z u s a m m e n h ä n g e n verstanden w e r d e n , gerade auch w e g e n der a u f f ä l l i g e n Verbindung mit der Heilsb o t s c h a f t des G o t t e s r e i c h s : „die V e r n u n f t w ü r d e des M e n s c h e n in seiner Sitte 34 35 36
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Ebd., S. 384. Ebd., S. 115. Rudolf Jansen: Die Quelle des „Abdias" in den Entwürfen zur „Scientia Generalis" von G.W. Leibniz. In: VAS1LO 13 (1964), S. 5 7 - 6 9 . Moriz Enzinger: Adalbert Stifters Studienjahre ( 1 8 1 8 - 1 8 3 0 ) . Innsbruck 1950, S. 59 ff. Die Ketten-Allegorie schmückt das Titelkupfer von Kirchers Kompendium zum Magnetismus ,Magnes sive de arte magnetica opus tripartitum' (Rom 1641); vgl. Abb. S. 58. Die Kette der Wissenschaften, die vom Himmel zur Erde hinabreicht, wird von zwei aus den Wolken reichenden Händen gehalten. Die Kremsmünsterer Bibliothek besitzt das Werk. Der Hinweis findet sich bei Johannes Lachinger: Mesmerismus und Magnetismus in Stifters Werk. In: Stifter-Symposion Linz 1978. Vorträge und Lesungen. Wiss. Redaktion J. Lachinger, S. 16-23, Anm. 3. Hier auch die Formulierung: „Die Parallele dieser bildhaften Darstellung zu Stifters Ketten-Allegorie in .Abdias' ist unverkennbar." De mente cap. 4: Leinkauf (o. Anm. 31), S. 380.
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in seiner W i s s e n s c h a f t in seiner K u n s t , soll d a u e r n soll verehrt w e r d e n , und soll die reinste H e r r s c h a f t f ü h r e n . [...] die V e r n u n f t w ü r d e ist f ü r uns M e n schen das irdische R e i c h G o t t e s die irdische E w i g k e i t . " 4 0 Schließlich ist von hier aus die S t i f t e r i m m e r b e w e g e n d e Frage d e r K o n t i nuität neu zu d u r c h d e n k e n . Es liegt nach der „ c a t e n a - r e r u m " - M e t a p h e r mit ihrer Vorstellung des „ o m n i a in o m n i b u s " im S t r u k t u r p r i n z i p alles i n n e r w e l t l i chen Seins b e g r ü n d e t , d a ß die V e r k l a m m e r u n g d e r e i n z e l n e n S t u f e n j e w e i l s kontinuierlich v e r l ä u f t und j e d e d e s w e g e n - in L e i n k a u f s Worten - eine „ a n a logische, ein i d e n t i s c h e s Verhältnis auf allen S e i n s s t u f e n r e p e t i e r e n d e G r u n d f o r m " a u f w e i s t . 4 1 S t i f t e r s Vorliebe f ü r F a m i l i e n g e s c h i c h t e n läßt sich aus d e m e r h a b e n e n G e f ü h l e r k l ä r e n , d a ß der einzelne M e n s c h , wie b e d e u t u n g s l o s und einsam er sich i m m e r v o r k o m m e n m ö g e , als Glied in der Kette e i n e s G e schlechts am w e l t e r h a l t e n d e n P r i n z i p der L i e b e teilhat: „der große g o l d e n e Strom der L i e b e , der in den J a h r t a u s e n d e n bis zu uns h e r a b g e r o n n e n , d u r c h die u n z ä h l b a r e n M u t t e r h e r z e n , d u r c h Bräute, Väter, G e s c h w i s t e r , F r e u n d e , ist die Regel [.,.]." 4 2 Sinn und B e d e u t u n g erhält eine E r z ä h l u n g der H e r k u n f t aus der P e r s p e k t i v e d e r Kontuität, die im Bild d e r Kette versinnbildlicht wird: „ D a s b l o n d g e l o c k t e K i n d und die n e u g e b o r n e Fliege, die d a n e b e n im S o n n e n golde spielt, sind die letzten G l i e d e r einer l a n g e n u n b e k a n n t e n Kette, aber auch die ersten einer vielleicht n o c h längern, noch u n b e k a n n t e r e n ; und doch ist diese R e i h e e i n e r d e r V e r w a n d t s c h a f t und L i e b e , und wie einsam steht d e r Einzelne mitten in d i e s e r Reihe! Wenn ihm also ein blassend Bild, eine T r ü m mer, ein S t ä u b c h e n von denen erzählt, die vor ihm g e w e s e n , dann ist er um viel w e n i g e r e i n s a m . " 4 3 In , D c r H a g e s t o l z ' erscheint d a s G e g e n b i l d des e i n s a m e n M a n n e s o h n e N a c h k o m m e n s c h a f t . A u f ihn, den O h e i m , lenkt der Erzähler den k o m m e n t i e renden Blick, n a c h d e m d a s g l ü c k l i c h e j u n g e P a a r v e r a b s c h i e d e t w u r d e : „ D a n n scheint i m m e r und i m m e r die S o n n e wieder, d e r blaue H i m m e l lächelt aus einem J a h r t a u s e n d in das a n d e r e , die E r d e kleidet sich in ihr altes G r ü n , und die G e s c h l e c h t e r steigen an der l a n g e n Kette bis zu d e m j ü n g s t e n K i n d e nieder: aber er ist aus allen d e n s e l b e n ausgetilgt, weil sein Dasein kein Bild g e p r ä g t hat, seine S p r o s s e n nicht mit h i n u n t e r gehen in d e m S t r o m e der Z e i t . " 4 4 Im Vorspann der E r z ä h l u n g , A b d i a s ' wird die K e t t e n - M e t a p h e r als b i l d h a f te Vorstellung v o m K a u s a l n e x u s m e n s c h l i c h e n H a n d e l n s und V e r f e h l e n s eingesetzt und wird die Frage v o n S c h u l d und S c h i c k s a l diskutiert. M a n k e n n t die Stelle, sie b r a u c h t nur noch kurz ins G e d ä c h t n i s g e r u f e n zu w e r d e n . D e m „ F a t u m " der A n t i k e stellt der E r z ä h l e r das „ S c h i c k s a l " e n t g e g e n . D a n n f o l g t
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SW. Bd. 19, S. 129 (Brief an G u s t a v H e c k e n a s t v o m 29. Juli 1858). L e i n k a u f (o. A n m . 31), S. 113. W u B . Bd. 1.5, S. 17 ( M a p p e ) . Ebd. W u B . Bd. 1.6, S. 142.
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die poetische B e s c h r e i b u n g , an d e r w i e d e r u m der Begriff „ h e i t e r " auffällt: „ A b e r eigentlich m a g es weder ein F a t u m geben, als letzte U n v e r n u n f t des Seins, noch auch wird das E i n z e l n e auf uns gesendet; sondern eine heitre Blum e n k e t t e hängt durch die U n e n d l i c h k e i t d e s Alls und sendet ihren S c h i m m e r in die H e r z e n - die Kette der U r s a c h e n und W i r k u n g e n - und in das Haupt des M e n s c h e n ward die s c h ö n s t e dieser B l u m e n g e w o r f e n , die Vernunft, das A u g e der Seele, die Kette daran a n z u k n ü p f e n , und an ihr B l u m e um B l u m e , Glied um Glied h i n a b zu zählen bis zuletzt zu j e n e r Hand, in d e r das E n d e ruht. U n d h a b e n wir d e r e i n s t e n s recht gezählt, und können wir die Z ä h l u n g ü b e r s c h a u e n : dann wird f ü r uns kein Zufall mehr e r s c h e i n e n , s o n d e r n Folgen, kein U n g l ü c k mehr, sondern nur Verschulden; denn die L ü c k e n , die jetzt sind, erzeugen das U n e r w a r t e t e , und d e r M i ß b r a u c h das U n g l ü c k s e l i g e . Wohl zählt nun das m e n s c h l i c h e G e s c h l e c h t schon aus einem J a h r t a u s e n d e in das andere, aber von d e r großen Kette der B l u m e n sind nur erst einzelne Blätter a u f g e deckt, noch fließt das G e s c h e h e n wie ein heiliges Räthsel an uns vorbei, noch zieht der S c h m e r z im M e n s c h e n h e r z e n aus und ein — ob er aber nicht zuletzt selber eine B l u m e in j e n e r Kette ist? wer kann das e r g r ü n d e n ? " 4 5 Kunstvoll bricht der Erzähler die p h i l o s o p h i s c h e S p e k u l a t i o n ab: „Wir wollen nicht weiter grübeln, wie es sei in diesen D i n g e n , s o n d e r n schlechthin von e i n e m M a n n e erzählen [...]." 4 6 Das „ G r ü b e l n " wird dann geschickt auf den Leser g e s c h o b e n , quasi als L e s e a n l e i t u n g : „man wird in ein d ü s t e r e s G r ü beln hinein gelockt über Vorsicht, Schicksal und letzten G r u n d aller D i n g e " . 4 7 Im Z e n t r u m steht die Frage, o b der Mensch an seinem S c h i c k s a l selber schuld sei, - „ob sein Schicksal ein seltsameres D i n g sei, o d e r sein H e r z " . 4 8 N i m m t man das Kettenbild in seiner Tragweite ernst, läßt die Frage in erk e n n t n i s t h e o r e t i s c h e r Hinsicht natürlich keine L ö s u n g zu. Es bleibt trotz d e r „ B l u m e " der „Vernunft" doch „ein heiliges Rätsel". Nur die Dichtung, die nicht mit „ H a m m e r und R i c h t s c h e i t e " verfährt und den „heiteren A b g r u n d " in „kindlicher U n b e f a n g e n h e i t " zu ü b e r s p r i n g e n v e r m a g , k ö n n t e vielleicht in Teilaspekten w e s e n t l i c h e Z ü g e d e r G r u n d s t r u k t u r d e s G e s c h e h e n s o f f e n l e g e n . Wie i m m e r die Urteile ausfallen m ö g e n , ist hier wie an a n d e r e n Stellen in Stifters Werk m e n s c h l i c h e s H a n d e l n m a ß g e b l i c h f ü r den K a u s a l n e x u s . Zu erinnern ist an die Worte aus den P ä d a g o g i s c h e n S c h r i f t e n : „ K e i n Weltgeist, kein D ä m o n regirt die Welt: Was j e G u t e s oder B ö s e s über die M e n s c h e n gek o m m e n ist, h a b e n die M e n s c h e n g e m a c h t . Gott hat ihnen den f r e i e n Willen und die Vernunft g e g e b e n und hat ihr Schicksal in ihre Hand g e l e g t . " 4 9
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WuB. Bd. 1.5, S. 238. Ebd., S. 239. Ebd. Ebd. Adalbert Stifter. Pädagogische Schriften. Hrsg. von Theodor Rutt. Paderborn S. 89.
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S c h o n eine erste Musterung der zahlreichen Interpretationen zu diesem Text läßt erkennen, daß wirklich viel „gegrübelt" worden ist. 5 0 Das grausame S c h i c k s a l des Juden Abdias und das nicht weniger grausame seiner Tochter Ditah - eine herzzerreißende T r a g i k . Es bieten sich verschiedene Erklärungsversuche an, die fast alle Abdias b e l a s t e n . " Daneben wird auch auf den Vater Aron verwiesen - ganz im S i n n e der Erzählung - , der zwar den Gedanken gefaßt hatte, aus dem Sohn einen Weisen zu machen, „wie es die alten Propheten und Führer seines G e s c h l e c h t e s
g e w e s e n " , aber nichts zu dessen
Re-
alisierung unternommen hatte, „weil es in Vergessenheit gerathen w a r " . 5 2 Es macht alles das Rätsel der G e s c h e h e n s f o l g e um nichts kleiner. Freilich sind es bei Stifter oft geringfügige D i n g e , die später schwer ins Gewicht fallen und einen L e b e n s l a u f beeinflussen. Dennoch entzieht sich die Erzählung unserem Zugriff. Sie ist mit A b s i c h t so angelegt, daß das G e s c h e h e n sich schaudervoll und unbegreiflich entrollt. Stifters Poetisierung war eine bewußte Wahl seines Kunstverstands, die zahlreichen Leerstellen verhindern rasche Sinnzuweisungen und bedeuten auch für den geübten L e s e r eine Maximalanforderung. Zu ihnen dürfte auch die Frage zählen, ob A b d i a s ' Herkunft ihn nicht für sein S c h i c k s a l prädisponierte und ihn zu demjenigen machte, der er geworden ist. Das K e t t e n - B i l d führt zu einer anderen als der meist üblichen Annäherung an die rätselhaften Ereignisse. Die Stifter so geläufige Vorstellung der G e s c h l e c h terkette scheint hier mit der „ K e t t e der Ursachen und W i r k u n g e n " verbunden zu sein - „ob er aber nicht zuletzt selber eine B l u m e in j e n e r Kette ist? wer kann das e r g r ü n d e n ? " Die Kontinuitätsvorstellung konnte leicht das „tertium c o m p a r a t i o n i s " abgeben. Im philosophischen Vorspann ist die „catena-rerum"-Metapher mit ihrer kausalen
Gesetzmäßigkeit
das
Leitbild,
das
vom
optimistischen
Aufklä-
rungsdenken getragen wird und eine Emanzipation vom irrationalen S c h i c k s a l bewirken soll. Zugleich wird die hoffnungsfrohe Stimmung bei Betrachtung j e n e r „heitren B l u m e n k e t t e " aber durch den Zeitfaktor gedämpft - es wird mit Jahrtausenden gerechnet, es sind noch „erst einzelne Blätter a u f g e d e c k t " . Da
5Ü
E i n e kritische Ü b e r s i c h t bietet J o h a n n e s L a c h i n g e r : Adalbert Stifters „ A b d i a s " . E i n e Interpretation. In: V A S I L O 18 ( 1 9 6 9 ) , S . 9 7 - 1 1 4 , bes. S . 9 8 . V g l . ferner: K l a u s N e u g e b a u er: S e l b s t e n t w u r f und V e r h ä n g n i s . Ein B e i t r a g zu Adalbert Stifters Verständnis von S c h i c k s a l und G e s c h i c h t e . T ü b i n g e n 1 9 8 2 , S . 17ff.
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K e r n i g wird das von L a c h i n g e r ( o . A n m . 5 0 ) formuliert ( S . 1 0 1 ) : „Was Abdias zustößt, ist insgesamt K o n s e q u e n z m e n s c h l i c h e n Irrens, und dies wiederum ist nur m ö g l i c h als K o n s e q u e n z einer (in der G e s c h i c h t e nicht weiter b e g r ü n d e t e n ) G e s i n n u n g , die es verlernt hat, dem gerecht zu w e r d e n , was die Natur und hier auch die Ü b e m a t u r fordern. A b d i a s erkennt nicht, was ihm zum H e i l e dient; sein Heil aber hätte in der Erfüllung der religiösen S e n d u n g g e l e g e n , die ihm s e i n e A h n u n g e n und die wunderhaften Vorgänge um ihn und seine T o c h t e r n a h e l e g t e n . " L a c h i n g e r sieht die Erzählung als Verans c h a u l i c h u n g der T h e o r i e von d e r K a u s a l i t ä t : „die G e s c h i c h t e fungiert g e w i s s e r m a ß e n als ihr v e r s c h l ü s s e l t e s E x e m p e l " .
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W u B . Bd. 1.5, S . 2 4 3 .
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Ferdinand van Ingen
liegt eine Zuhilfenahme der Geschlechterkette in doppelter Hinsicht näher. Sollte diese jedoch in ihrer konstitutiven Bedeutung ernst genommen werden, entstehen dem Menschen neue Abhängigkeiten. Sie erstreckt sich über das einzelne Individuum hinaus und tangiert dessen freien Willen. Solche Problematik scheint bei Stifter verschiedentlich durch - „Man redete über Zusammenhang der Dinge, sittliche Weltordnung, Emancipation vom Zufalle, Freiheit des Willens". 5 3 Die .Abdias'-Einleitung drängt philosophische Stringenz bewußt ab, aus der traditionsreichen Metapher .naturwissenschaftlichen' Denkens ist Poesie geworden. Dieser Umsetzung ist Rechnung zu tragen, d.h. es ist mit kalkulierten Grauzonen zu rechnen, in denen sich die Phantasie einnistet. Nach wie vor irritiert die Frage, warum der Erzähler bei der Schilderung von Abdias' Jugend einen Kontrast herstellt, der den Vater in ein ungünstigeres Licht rückt. Abdias, als Kind „eine weiche Blume", die der Leser sowohl mit der Blumenkette wie mit der Vernunft (der „schönsten dieser Blumen") assoziiert, wird in „einen zerrissenen Kaftan" gesteckt und in die Welt des Erwerbs hinausgeschickt. 5 4 Wo doch das Motivierungsproblem so anzulegen war, daß das von innen wie von außen Kommende in eine das Fatum ausschließende Beziehung gesetzt werden sollte, legt Stifter das Hauptgewicht auf Aron. Die Weisen und Propheten seines Geschlechts werden nur gestreift, das Herz des Vaters ist deutlich anderen Dingen zugeneigt. 5 5 Sollte das eine positive Willensentfaltung des Sohns verhindert und seinen Zug zum Guten gelähmt haben? Wäre Abdias so zu wesentlichen Teilen das Opfer solcher ,Altlast', kaum zur Verwirklichung der Idee von der Gottebenbildlichkeit fähig? Einen befriedigenden Kausalnexus herauszupräparieren, ist um vieles komplizierter als bei den Grafen Scharnast auf der Narrenburg oder bei den Roderers in .Nachkommenschaften'. Die Väter spielen bei Stifter bekanntlich eine sehr bedeutende Rolle, sie sind auch bei personaler Abwesenheit stets präsent. Die Frage, weshalb die lakonisch berichtete Unachtsamkeit Arons an den Anfang von Abdias' Lebensgeschichte gestellt wurde, ist aus dieser Perspektive anzugehen. Sie berücksichtigt die Tragweite der Kontinuität in der Geschlechterkette. Es ist bei Stifter häufiger festzustellen, daß sich der Gang der Ereignisse irgendwann, früher oder später, am Vater festhakt. Solche Rückbindung geschieht nicht selten im Verborgenen, unterhalb der Oberflächenschicht, auf der das Handlungsgeschehen stattfindet und auf der es begründet wird. Ein letztes Beispiel möge
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S o in der Erzählung ,Die drei Schmiede ihres Schicksals': SW. Bd. 13, S. 3. W u B . Bd. 1.5, S. 242 („eine weiche Blume"), S. 243 („Kaftan"). Lachinger (o. Anm. 50), S. 105: „Eine entscheidende Ursache für den Irrweg des Abdias liegt (...) in dem von einer starren patriarchalischen Ordnung geforderten blinden Gehorsam gegenüber der väterlichen Autorität. Das Gesetz des Gehorsams gilt selbst dann, wenn das Widersinnige verlangt wird."
Band und Kelle
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das verdeutlichen. Das verbindende Element, das dabei anvisiert wird, ist die behutsame innere Motivierung einer Geschehensfolge, die jedoch eine Antwort auf die Warum-Frage (im Vorspann des .Abdias': „Warum nun dieses?") in auffälliger Weise suspendiert. In .Der Hochwald' haben vor diesem Hintergrund Clarissas Worte auf der Waldwiese - „Ronald, wird es gut sein, was wir thaten - ach, ich dachte nicht an meinen Vater!" 5 6 - eine Schlüsselfunktion. Der weitere Verlauf ist von diesem Punkt her zu rekonstruieren: Ronalds Versuch, den Vater und die Burg zu retten - Mißverständnis und Angriff - Vater, Bruder und Bräutigam kommen um, die Burg wird in Schutt und Asche gelegt. Im Funktionszusammenhang sind die Worte das auslösende Moment - Ronald: „Ich gehe fort, und zwar augenblicklich." 5 7 Daß es dann alles so gekommen ist, läßt sich handlungsanalytisch erklären, nicht aber, warum es solchen Verlauf nahm. „,Und ich', rief Clarissa zurücksinkend, ,war es, ich, die Vater und Bruder erschlagen'". 5 8 Das ist Ausdruck eines gepeinigten Gewissens, aber keine Begründung des Schicksals. Die Warum-Frage führt nur in die Aporie. - Nicht anders ist es in der Erzählung von Abdias, in der schließlich ein noch traurigeres Geschick die Tochter Ditah trifft und jeder Versuch des Verstehenwollens am seltsamen Naturphänomen (vom Erzähler „wundervolle Begebenheit" genannt) scheitern muß. Aber wenigstens die Geschlechterkette läßt ihre Wirkung erkennen. Durch den ambivalenten Blitz ist Ditah auf den Vater und auf dessen ,Gewitterfreudigkeit' rückbezogen, - sie ist in mehrfacher Hinsicht „ein ehrwürdig Räthsel, aus seinem eigenen Wesen aufgeblüht". 5 9 Die Erzählung bringt angesichts des Kausalitätsprinzips, das doch den Erzählanlaß bildete, eine Dauerverstörung zuwege. Kurt Mautz meint sogar, die philosophische Einleitung sei „zur Ablenkung und Beschwichtigung weniger des Lesers als der österreichischen Zensur geschrieben" worden. 6 0 Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß Stifter immer wieder an die menschliche Vernunft appellierte, um den Lauf der Dinge zu ergründen. Vor diesem Hintergrund betrachtet Lachinger die Einleitung als ein gegen den romantischen Irrationalismus gerichtetes ideelles Konzept: „Es geht ihm um das PRINZIP der Entschlüsselungsmöglichkeit .schicksalhaften' Geschehens durch die menschliche Vernunft und damit um die prinzipielle Legitimierung seiner These von der Vernünftigkeit des Weltlaufs. [...] An dem konkreten Fall soll die Gültigkeit der These beispielhaft demonstriert werden." 6 1 Die Aufforderung an den Leser, „Evidenz zu bringen in scheinbar Unerklärbares" (Lachinger), stößt auf
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WuB. Bd. 1.4, S. 294. Ebd. Ebd., S. 315. WuB. Bd. 1.2, S. 129 (Abdias: J o u m a l f a s s u n g [„Urfassung"]). Mautz (o. A n m . 1), S. 35. Lachinger (o. A n m . 38), S. 16.
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Ferdinand van Ingen
Schwierigkeiten, die der Erzähler bewußt eingebaut hat. In der Buchfassung werden im Zuge einer angestrebten Objektivierung die Zusammenhänge erheblich mehr verrätselt, 6 2 und das Verhältnis von Einleitung und erzählter Geschichte wird zusehends deutlicher vom Kontrast bestimmt. Die Ketten-Metapher, ehemals Ausdruck eines selbstverständlichen christlichen Weltverständnisses, führt nun vielmehr von der gläubigen Deutung weg, während die naturwissenschaftliche Erforschung keine echte Alternative bildet. So erweist sich die Möglichkeit der Kausalitätserkenntnis mit den Mitteln der Naturwissenschaft als utopisch, und die Kunst erscheint als das einzig geeignete Instrument der Sinndeutung. Hatte die Tradition der Ketten-Metapher die implizierte Vorstellung einer .vernünftigen' Lenkung von Weltlauf und Lebensschicksal zur Voraussetzung, führt sie hier, als übernommenes gedankliches Leitbild, eher zu gegenteiligen Gedanken. Nur die Natur geht, unbeirrt und gleichgültig, ihren Gang. Das ist Stifters eigene Fassung des Tragischen und markiert seine literarhistorische Stellung. „Heiter" ist der Abgrund zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt, „heiter" wird auch die Blumenkette genannt. Solche Heiterkeit ist dem Düster-Unheimlichen abgetrotzt, und sie trägt die Spuren davon. Was sich in Wahrheit hinter solchen Begriffen verbirgt, ist eine Wunschvorstellung, an die zu glauben Stifter sich und seine Leser überreden möchte. Stifters Position im josefinisch aufgeklärten Katholizismus bewahrte ihn vor letzter Verzweiflung. Aber die Skepsis ist unüberhörbar. Schon die auffällige Montage aus traditionell christlichem Emblem von der Hand Gottes aus der Wolke und dem Naturgesetz macht die Spannung bewußt: „Aber es liegt auch wirklich etwas Schauderndes in der gelassenen Unschuld, womit die Naturgesetze wirken, daß uns ist, als lange ein unsichtbarer Arm aus der Wolke, und thue vor unsern Augen das Unbegreifliche." 6 3 Wenn die Möglichkeit einer verborgenen Kausalität auch grundsätzlich offen gehalten wird, ist doch das „Schaudernde" und „Unbegreifliche" die Erfahrung in der Welt. Da Stifter diese in ihrem Recht beläßt, auch dort, wo er in einem Gegenbild scheinbar harmonisiert, entsteht eine Spannung, die den Leser fasziniert und die über den Abschluß der Erzählung hinaus andauert.
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Vgl. d i e N a c h w e i s e bei L a c h i n g e r (o. A n m . 50), S. 102ff. Z u s a m m e n f a s s e n d (S. 102): „ W ä h r e n d d i e U r f a s s u n g n o c h von e r k l ä r e n d e n Hilfen f ü r das Verständnis g e r a d e z u s t r o t z t , treten in d e r s p ä t e r e n . S t u d i e n ' - F a s s u n g die u n m i t t e l b a r e n E r l ä u t e r u n g e n z u g u n sten d e s p u r e n T a t s a c h e n b e r i c h t s b e i n a h e ganz z u r ü c k " . W u B . Bd. 1.5, S. 2 3 7 . D a s e m b l e m a t i c h e Bild bei Jean Paul: Werke. Hrsg. v o n N o r b e r t Miller. M ü n c h e n 1963. Bd. 5, S. 9 2 1 : „ A l l e r d i n g s greift vielleicht ein A r m a u s der Wolke h e r a b [...]" ( . Ü b e r d e n G o t t in der G e s c h i c h t e und im L e b e n ' , in: . D ä m m e r u n g e n f ü r D e u t s c h l a n d ' , 1809). Für d i e E m b l e m a t i k vgl. im Bildregister z u m H a n d b u c h , E m b l e m a t a ' , hrsg. von A r t h u r H e n k e l und A l b r e c h t S c h ö n e , Stuttgart 1967, S. 1971: „ H a n d aus Wolken", „Hand Gottes".
Sibylle A p p u h n - R a d t k e
„Priester des Schönen" Adalbert Stifters Künstlerbild zwischen theoretischem Anspruch, literarischer Darstellung und gesellschaftlicher Realität
Adalbert Stifters vielfältige B e z i e h u n g e n zur b i l d e n d e n K u n s t sind weitaus seltener zum G e g e n s t a n d der F o r s c h u n g g e w o r d e n als sein d i c h t e r i s c h e s Werk. D a s ist z u n ä c h s t nicht e r s t a u n l i c h , d e n n e i n e m g r o ß e n l i t e r a r i s c h e n Œ u v r e steht eine relativ g e r i n g e A n z a h l von e r h a l t e n e n G e m ä l d e n und Z e i c h n u n g e n 1 g e g e n ü b e r . Die auf d i e s e m Material b a s i e r e n d e und d a h e r u n g l e i c h g e w i c h t i g e F o r s c h u n g s g e s c h i c h t e , die zum g e r i n g s t e n Teil beide Facetten von Stifters Tätigkeit w i d e r s p i e g e l t , 2 beurteilte den D i c h t e r - K ü n s t l e r wesentlich anders als Stifter selbst: Für ihn g e n o ß die b i l d e n d e K u n s t den Vorrang. 3 Stifters k ü n s t l e r i s c h e s Œ u v r e w u r d e z u n ä c h s t von Margret D e l l 4 und Fritz N o v o t n y 5 vorgestellt; seine t h e o r e t i s c h e n S c h r i f t e n , K u n s t k r i t i k e n und B r i e f e - eine B a s i s zum Verständnis von S t i f t e r s K ü n s t l e r t u m und d e s s e n theoretis c h e m A n s a t z - blieben j e d o c h w e i t g e h e n d a u s g e k l a m m e r t . 6 D e r T h e o r i e war h i n g e g e n eine M ü n c h n e r D i s s e r t a t i o n von 1927 g e w i d m e t : 7 M a r g a r e t e G u m p stellte A n s i c h t e n Stifters über K u n s t s o w i e e i n i g e h i e r m i t v e r b u n d e n e A u s s a gen über den K ü n s t l e r z u s a m m e n und wies auf B e z i e h u n g e n z u r k l a s s i s c h e n und r o m a n t i s c h e n K u n s t t h e o r i e hin. Fast ein h a l b e s J a h r h u n d e r t später gab Philipp H. Z o l d c s t c r im R a h m e n e i n e r U n t e r s u c h u n g ü b e r S t i f t e r s Weltans c h a u u n g einen k n a p p e n A b r i ß von K u n s t und K ü n s t l e r t u m im Verständnis Stifters. 8 D i e s e T h e m a t i k griff K n u t E. P f e i f f e r 9 w i e d e r a u f , w e n n auch der
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Margrel Dell: Adalbert Stifter als bildender Künstler. Diss. Würzburg 1939; Fritz Novotny: Adalbert Stifter als Maler. Wien. 3. Aufl. 1948; vgl. a u ß e r d e m die Beiträge von Karl Möseneder und Stefan Schmitt in diesem Band. Hermann Sternath: Adalbert Stifter. Hin Einzelgänger, ein Dichter und Maler. In: Weltkunst 51 (1981), S. 3204f.; Sepp D o m a n d i : Wiederholte S p i e g e l u n g e n . Linz 1982. Arthur Roessler: Der unbekannte Stifter. Wien 1946, S. 5f.; Ursula N a u m a n n : Adalbert Stifter. Stuttgart 1979, S. 89f.; Sternath (o. Anm. 2); J a n n e t j e E n k l a a r - L a g e n d i j k : Adalbert Stifter. Landschaft und Raum. Alphen aan den Rijn 1984, S. 9. O. Anm. 1. O. Anm. 1 (4. Aufl. in: K u n s t j a h r b u c h der Stadt Linz 1978, S. 1 - 1 7 6 , mit weiteren Abbildungen). Bestes Abbildungsmaterial bei Franz B a u m e r : Adalbert Stifter, der Zeichner und Maler. Passau 1979. Novotny (o. Anm. 1), S. 42. Margarete Gump: Stifters K u n s t a n s c h a u u n g . Diss. M ü n c h e n 1927. Berlin 1927. Philipp H. Zoldester: Adalbert Stifters Weltanschauung. Bern 1970 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I. Bd. 19). Knut E. Pfeiffer: Kunsttheorie und Kunstkritik im 19. Jahrhundert. Das Beispiel A. Stifter. Bochum 1977 (Bochumer Studien zur Publizistik und Kommunikationswissenschaft 11).
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Sibylle
Appuhn-Radlke
Schwerpunkt seiner Arbeit auf den Kunstkritiken Stifters lag. Pfeiffers Methode ergab einen Beitrag zur Geschmacksgeschichte, aussagekräftig nicht nur für Stifter selbst, sondern auch für dessen Epoche. Die ästhetischen Quellen Stifters wurden nach 1960 Untersuchungsgegenstand einer Reihe von Arbeiten, 1 0 die in Spezialabhandlungen" mündeten. A m ausführlichsten ging Kurt Gerhard Fischer auf die hier relevanten Fragen ein: In einem Kapitel seiner ,Pädagogik des M e n s c h e n m ö g l i c h e n ' 1 2 diskutierte Fischer Stifters Ästhetik und streifte verschiedene Aspekte von Stifters Künstlerbild. Da jedoch nicht dieses, sondern Stifters Kunsterziehungslehre im Zentrum seines Interesses stand, erscheint eine konzise Zusammenschau der überlieferten Quellen nach wie vor als Desiderat. Methodisch bietet sich ein dreifacher Zugang an: über Stifters theoretische Schriften zur Kunst, über seine Beschreibungen von Künstlern in der Dichtung und über Stifters eigene Realitätserfahrung, soweit sie aus den Schriftzeugnissen erschließbar ist. Da Stifter selbst den Dichter und den bildenden Künstler in sich vereinte 1 3 und diese Berufe - zumindest idealiter - als Einheit betrachtete, 1 4 erscheint es zulässig, Stifters Aussagen über den Dichter auch auf den Künstler im allgemeinen zu beziehen. Die so gewonnenen Aspekte lassen sich drei Komplexen zuordnen: der Künstlerpersönlichkeit, dem Künstler im Schaffensprozeß und dem Künstler als Teil der Gesellschaft. Da Stifters Erkenntnisse - wie die jedes Menschen - zum Teil aus dem Bildungsgut seiner Zeit erwuchsen, schließt sich daran ein Vergleich mit einer in
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Z . B . M i c h a e l J o h a n n e s B ö h l e r : D a s Wesen des S c h ö n e n bei Adalbert Stifter. D i s s . Zürich 1967 (= Ders.: F o r m e n u n d W a n d l u n g e n des S c h ö n e n . U n t e r s u c h u n g e n z u m S c h ö n h e i t s b e g r i f f A. S t i f t e r s . Bern 1967); M a t t h i a s K u h l e : F o r m e n ä s t h e t i s c h e r I d e a l i t ä t in S t i f t e r s „ S t u d i e n I". G ö t t i n g e n 1974; Hubert Henz: Z u r B e d e u t u n g des N a t u r s c h ö n e n für die ä s t h e t i s c h e E r z i e h u n g . Ein n a c h r o m a n t i s c h e r Beitrag: Adalbert Stifter. In: G e s c h i c h te der P ä d a g o g i k und s y s t e m a t i s c h e n E r z i e h u n g s w i s s e n s c h a f t . Hrsg. von W i n f r i e d B ö h m und J ü r g e n S c h r i e w e r . Stuttgart 1975, S. 2 0 4 - 2 1 4 .
"
Z . B . S i e g r u n H e i n e c k e F o l t e r : S t i f t e r s A n s i c h t e n ü b e r das Wesen und die G r e n z e n der M u s i k , M a l e r e i und D i c h t k u n s t im Vergleich zu L e s s i n g s T h e o r i e n im „ L a o k o o n " . P h . D . T h e s i s U n i v e r s i t y of K a n s a s 1969. A n n A r b o r 1969; Karl K o n r a d P o l h e i m : D i e wirklic h e W i r k l i c h k e i t . Α. S t i f t e r s . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' und das P r o b l e m s e i n e r K u n s t a n s c h a u u n g . In: d e r s . : Kleine S c h r i f t e n zur Textkritik und I n t e r p r e t a t i o n . Bern u.a. 1992, S. 2 4 5 - 2 9 6 . Kurt Gerhard Fischer: Die Pädagogik des Menschenmöglichen. Adalbert Stifter. Linz 1962 ( S c h r i f t e n r e i h e d e s A d a l b e r t S t i f t e r - I n s t i t u t e s des L a n d e s Ö b e r ö s t e r r e i c h 17), bes. S. 4 7 7 - 5 1 5 . Walter W e i s s : Zu A d a l b e r t S t i f t e r s D o p p e l b e g a b u n g . In: B i l d e n d e Kunst u n d Literatur. B e i t r ä g e z u m P r o b l e m ihrer W e c h s e l b e z i e h u n g e n im n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t . H r s g . v o n W o l f d i e t r i c h R a s c h . F r a n k f u r t a . M . 1970, S. 1 0 3 - 1 2 0 . In s e i n e m Brief v o m 1 3 . 1 2 . 1 8 5 9 an den M a l e r A u g u s t P i e p e n h a g e n verlangt S t i f t e r von d e n M a l e r n , d a ß sie g l e i c h z e i t i g D i c h t e r sein m ü ß t e n (SW. Bd. 19, S. 201): „ W e r es gar n i c h t ist, d e s s e n Pinsel ist e i n e f e h l g e g r i f f n e W a f f e , sie führt zu k e i n e m S i e g e . " In sein e m z w e i t e n B e r i c h t ü b e r d e n O b e r ö s t e r r e i c h i s c h e n K u n s t v e r e i n , 1851, b e z e i c h n e t Stifter ein L a n d s c h a f t s b i l d als „ D i c h t u n g " (SW. Bd. 14, S. 9). Diese B e l e g e w ä r e n zu vermehren.
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Schönen"
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diesem Zusammenhang bisher kaum ausgewerteten Quelle. Sie ermöglicht Rückschlüsse auf Stifters eigenen Anteil an der von ihm vorgetragenen Theorie des Künstlertums.
Der M e n s c h als Künstler Stifters Vorstellung vom Künstler beruht auf seiner Anthropologie. 1 5 D i e s e ist im wesentlichen christlich geprägt: 1 6 Der Mensch hat durch die S e e l e Anteil an der Existenz Gottes und durch das „Geschenk seiner moralischen Freiheit" 17 Fähigkeit und Pflicht zu sittlicher Weiterentwicklung. 1 8 Ist diese Forderung an jedes Individuum gerichtet, so gilt sie in besonderem Maße für den Künstler, soll er doch Göttliches in sein Werk einbringen, das wahr, 1 9 schön und sittlich zugleich 2 0 ist. Kunst an sich ist „nach der Religion das Höchste, was der Mensch auf Erden hat", 21 denn das Schöne ist - wie Stifter schon in Kremsmünster lernte - „das Göttliche in dem Kleide des Reizes". 2 2 Da sie „durch außerordentliche Schönheit das Herz des Menschen ergreift, es emporhebt, veredelt, mildert, zu allem Guten, ja zur Andacht und Gottesverehrung stimmt", 23 gilt ihm die Kunst als „Wohlthäterin der Menschheit". 2 4 Am Beginn allen Künstlertums steht für Stifter die Prädisposition des Künstlers. 2 5 Nach einer Schilderung verschiedener menschlicher Begabungen
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Vgl. Victor E. von Gebsattel: Anthropologie und Dichtung. Betrachtungen z u m Wesensbild des Menschen bei Adalbert Stifter. In: Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie 4 (1957), S. 11-23; Fischer (o. Anm. 12), S. Iff. Vgl. u. a. Hermann Augustin: Adalbert Stifter und das christliche Weltbild. Basel/Stuttgart 1959. SW. Bd. 15, S. 48 (Ein Gang durch die Katakomben. In: Wien und die Wiener). Dazu Fischer (o. A n m . 12), S. 7f. Zu Stifters Quellen vgl. G u m p (o. Anm. 7), S. 14. „Höchster Z w e c k : Realisirung der objectiven Menschheit (Sittlichkeit)". SW. Bd. 14, S. 307 (An das Vicedirektorat der philosophischen Studien an der Universität Wien, 1847). Vgl. dazu Johann Michael Sailer: Handbuch der christlichen Moral, zunächst f ü r künftige katholische Seelsorger und dann für jeden gebildeten Christen. M ü n c h e n 1817. Bd. 2, S. 109ff. Zu Sailer und dessen Bedeutung für Stifter vgl. u. Anm. 78. Vgl. u. S. 83, S. 92. „Sittlichkeit ist [...] das erste Merkmal des Schönen." SW. Bd. 14, S. 307 (An das Vicedirektorat [o. A n m . 18]). Vgl. auch Fischer (o. Anm. 12), S. 479; Zoldester (o. Anm. 8), S. 61 f. SW. Bd. 16, S. 177 (Die Kunstschule); ähnlich: SW. Bd. 14, S. 13 (Bericht über den oberösterreichischen Kunstverein 1852). Vgl. Fischer (o. Anm. 12), S. 477. SW. Bd. 21, S. 236 (Brief an Gottlob Christian Friedrich Richter, 21.6.1866); vgl. SW. Bd. 12, S. 26 (Über Kunst); dazu auch G u m p (o. Anm. 7), S. lOf. Zu Stifters Gymnasialzeit in Kremsmünster vgl. Moriz Enzinger: Adalbert Stifters Studienjahre ( 1 8 1 8 - 1 8 3 0 ) . Innsbruck 1950, S. 24ff. SW. Bd. 16, S. 175 (Die Kunstschule). Ebd., S. 177. SW. Bd. 16, S. 6ff. (Über Stand und Würde des Schriftstellers). Zur Tradition dieses Kriteriums von Künstlertum und der Charakteristik des Künstlers im 18. Jahrhundert
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Sibylle
Appuhn-Radtke
im .Nachsommer' heißt es: „So hat Gott es auch Manchen gegeben, daß sie dem Schönen nachgehen müssen und sich zu ihm, wie zu einer Sonne, wenden, von der sie nicht lassen können. Es ist aber immer nur eine bestimmte Zahl von Solchen, deren einzelne Anlage zu einer besonderen großen Wirksamkeit ausgeprägt ist." 26 Im Gebrauch des Topos von der Wendung zur Sonne, einer Metapher für die Hinwendung der Seele zu Gott oder zu Christus, 2 7 drückt Stifter seine Vorstellung von der Identität des absoluten Schönen mit Gott aus. Der Künstler ist folgerichtig „Priester des Schönen". 2 8 Daß nur wenigen Menschen die Anlage zu diesem Dienst verliehen ist, betont den Auser-
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v g l . J o h a n n G e o r g e S u l z e r : A l l g e m e i n e T h e o r i e d e r S c h ö n e n K ü n s t e . Teil III. L e i p z i g 1 7 9 3 . S. lOOff.: S u l z e r f ü h r t e b e n f a l l s e i n e T r i a s aus B e g a b u n g . B i l d u n g u n d G e l e g e n h e i t z u r A n w e n d u n g als B a s i s f ü r die E x i s t e n z allen K ü n s t l e n u m s a u f . SW. Bd. 7. S. 351 ( N a c h s o m m e r ) . Vgl. a u c h SW. Bd. 19. S. 199f. (Brief v o m 1 3 . 1 2 . 1 8 5 9 an A u g u s t P i e p e n h a g e n ) . Vor d e m H i n t e r g r u n d d e r L i c h t m e t a p h o r i k B o n a v e n t u r a s d i e n t e d a s F a k t u m , d a ß sich B l ü t e n p f l a n z e n n a c h d e r S o n n e a u s r i c h t e n , den E m b l e m a t i k e r n d e s B a r o c k als „ L o c u s " f ü r d i e A l l e g o r i s i e r u n g d i e s e r V o r s t e l l u n g ( d i v e r s e B e i s p i e l e bei A r t h u r H e n k e l / A l b r e c h t S c h ö n e : E m b l e m a t a . S t u t t g a r t 1967, z . B . S p . 311 f.). O b w o h l S t i f t e r die E p o c h e d e s S p ä t b a r o c k a l s Z e i t e i n e s k u l t u r e l l e n N i e d e r g a n g s e m p f a n d , b e r u h t sein B i l d r e s e r v o i r n o c h in v i e l e n P u n k t e n auf v o r a u f k l ä r e r i s c h e n F o r m e l n . V g l . d a z u I n g e b o r g A c k e r m a n n : „ G e i s t i g e C o p i e d e r W e l t " und „ W i r k l i c h e W i r k l i c h k e i t " . Z u B a r t h o l d H i n r i c h B r o c k e s u n d A d a l b e r t S t i f t e r . In: E m b l e m u n d E m b l e m a t i k r e z e p t i o n . V e r g l e i c h e n d e S t u d i e n zur W i r k u n g s g e s c h i c h t e v o m 16. bis 20. J a h r h u n d e r t . Hrsg. v o n S i b y l l e P e n k e r t . D a r m s t a d t 1978, S. 4 3 6 - 5 0 1 . D i e W e n d u n g z u m L i c h t b e z o g a u c h P h i l i p p O t t o R u n g e , d e r s e i n e r s e i t s auf J a k o b B ö h m e f u ß t e , in D i c h t u n g u n d B i l d g e d a n k e n ein ( K a r l M ö s e n e d e r : Phili p p O t t o R u n g e u n d J a k o b B ö h m e . M a r b u r g 1981 ( M a r b u r g e r O s t f o r s c h u n g e n 38], S. 2 3 f f . ) . U . a . SW. B d . 7, S. 35 ( N a c h s o m m e r ) . D i e s e M e t a p h e r n a h m die S c h r i f t s t e l l e r i n Betty P a o l i ( E l i s a b e t h G l ü c k , 1 8 1 5 - 1 8 9 4 ) in e i n e m o f f e n e n Brief an S t i f t e r p a r a p h r a s i e r e n d auf ( D i e P r e s s e Nr. 8 4 , 4 . 1 0 . 1 8 4 8 , S. 341 f.; zit. n a c h M o r i z E n z i n g e r : A d a l b e r t S t i f t e r im U r t e i l s e i n e r Zeit. W i e n 1968, S. 134): „ S i e m e i n F r e u n d , g l a u b e n an die G ö t t l i c h k e i t d e r K u n s t u n d in d e m T e m p e l , d a r i n Sie p r i e s t e r l i c h w a l t e n , d i e n e ich in f r e u d e n v o l l e r D e m u t . " Z u r T r a d i t i o n d e s K ü n s t l e r s als P r i e s t e r vgl. F r i e d r i c h S c h i l l e r : . D i e K ü n s t l e r ' : Die ihrem keuschen Dienste leben, v e r s u c h t kein n i e d r e r T r i e b , b l e i c h t kein G e s c h i c k ; wie unter heilige Gewalt gegeben e m p f a n g e n sie d a s r e i n e G e i s t e r l e b e n , der Freyheit süßes Recht, zurück. G l ü c k s e l i g e , d i e sie - a u s M i l l i o n e n die reinsten - ihrem Dienst geweiht, in d e r e n B r u s t sie w ü r d i g t e zu t h r o n e n , durch deren Mund die Mächtige gebeut, die sie auf e w i g f l a m m e n d e n A l t ä r e n e r k o h r , d a s h e i l ' g e F e u e r ihr zu n ä h r e n ( S c h i l l e r s W e r k e . N a t i o n a l a u s g a b e . Bd. 1. W e i m a r 1943, S. 2 0 3 ) . J a c o b B u r c k h a r d t v e r s t a n d e n t s p r e c h e n d d e n K u n s t h i s t o r i k e r als p r i e s t e r l i c h e n M i t t l e r ; s i e h e d a z u : H e i n z S c h l a f f e r : Die R e s t a u r a t i o n d e r K u n s t in S t i f t e r s . N a c h s o m m e r ' . In: Hannelore und Heinz Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt a.M. 1975, S. 117.
..Priester des
Schönen"
79
wähltheitsstatus d e s Künstlers; der Begriff „ G e n i e " wird hier j e d o c h
vermie-
den.29 Die „Anlage", eine dem Künstler innewohnende göttliche Gabe, eine nation des Göttlichen
ü b e r h a u p t , 1 0 ist a l s o V o r a u s s e t z u n g f ü r a l l e s
tum. Sie bedarf j e d o c h -
Ema-
Künstler-
und hier zeigt sich Stifters k u n s t p ä d a g o g i s c h e r
An-
spruch31 - der Förderung, der Vermittlung e i n e s T ä t i g k e i t s f e l d e s ; „der rechten der rechte G e g e n s t a n d
zugeführt" werden.32
Anlage
[muß]
diesem
„Gegenstand" kann zwar von dem
„innern Drang"33
Die
Suche
nach
im S i n n e
eines
u n b e w u ß t e n W i s s e n s und blinden W o l l e n s a u s g e h e n , aber sie erfordert ein bewußtes,
mühevolles
Streben
des
Individuums,
das
sich
über
„verschieden
h o h e und v e r s c h i e d e n geartete S t u f e n " e n t w i c k e l t . 3 4 A u c h w e n n der W e g nicht ü b e r d i e S u c h e h i n a u s f ü h r t , ist s e i n Z i e l e r r e i c h t , d e n n a l l e i n i m
Beschreiten
d e s W e g e s z e i g t sich e i n e „ s c h ö n e r e und reichere B l u m e [...], die Freiheit der
29
Stifter ging mit d i e s e m Begriff s p a r s a m um; im S i n n e Jean P a u l s v e r s t a n d er d a s „ G e n i e " j e d o c h als m e n s c h l i c h e G a n z h e i t , die v o m b l o ß e n „ T a l e n t " zu u n t e r s c h e i d e n sei: „Das ist das G e n i e , w e l c h e s nicht Verstand, Vernunft, Wille. T h a t k r a f t ist. s o n d e r n d a s Alles z u s a m m e n , d e r g a n z e g r o ß e M e n s c h , so weit er sich in der d a r s t e l l e n d e n K u n s t ä u ß e r n k a n n . " (SW. Bd. 16, S. 357 (Das G a s t s p i e l der Frau Lucile Y o u n g - G r a h n im J a h re 1856]); vgl. Jean P a u l : Vorschule der Ä s t h e t i k , II. und III. P r o g r a m m . In: d e r s . : Werke. Bd. 5. M ü n c h e n 1967, S. 5 0 f f . An a n d e r e r Stelle setzt S t i f t e r das G e n i e mit d e s s e n s c h ö p f e r i s c h e r K r a f t g l e i c h (Fischer (o. A n m . 12], S. 496f ). Vgl. auch u. A n m . 38.
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Vgl. SW. Bd. 19, S. I 9 9 f . (Brief an A u g u s t P i e p e n h a g e n , I 3 . 1 2 . 1 8 5 9 ) : „ D e r K ü n s t l e r hat j e n e s Ding in seiner S e e l e , das alle f ü h l e n d e n M e n s c h e n in ihrer T i e f e e r g r e i f t , d a s alle e n t z ü k t . und d a s k e i n e r nennen kann. M a n c h e heißen es S c h ö n h e i t P o e s i e F a n t a s i e G e fühl l i e f e etc. [...] - ich m ö c h t e es wohl d a s G ö t t l i c h e n e n n e n , das g r o ß e und l e u c h t e n de M e n s c h e n ü b e r h a u p t o f f e n b a r e n , theils als C h a r a k t e r , theils in H a n d l u n g e n , und d a s der Künstler in d e m darstellt, w a s er hat, in r e i z e n d e n G e w a n d u n g e n . [...] Wer e s nicht hat, der fühlt d e s s e n M a n g e l nicht, er sucht die W i r k u n g im S t o f f e , er h ä u f t den S t o f f , und erzielt n i c h t s . (...) Wer d i e s e s u n g e n a n n t e Ding nicht hat, kann es n i c h t lernen, w e r es hat, der wirkt d a m i t " . In d i e s e r D e f i n i t i o n v e r s c h m i l z t die F ä h i g k e i t ( d i e B e g a b u n g ) des Künstlers mit d e m G e h a l t seines W e r k s , denn b e i d e s speist sich aus der g l e i c h e n ( g ö t t l i c h e n ) S u b s t a n z . Vgl. F i s c h e r (o. A n m . 12), S. 4 7 7 .
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Vgl. u. S. 8 6 - 9 0 . SW. Bd. 7, S. 3 5 2 ( N a c h s o m m e r ) . SW. Bd. 6, S. 12 ( N a c h s o m m e r ) : „ D i e ß [der Z w e c k , zu d e m ein M e n s c h e r s c h a f f e n sei] zeige sich i m m e r d u r c h einen innern D r a n g an, der Einen zu e i n e m D i n g e f ü h r t , und dem man f o l g e n soll. Wie k ö n n t e man d e n n sonst a u c h w i s s e n , w o z u man auf der E r d e b e s t i m m t ist, o b z u m K ü n s t l e r , zum F e l d h e r r n , zum Richter, w e n n nicht ein Geist da wäre, der es s a g t , und der zu d e n D i n g e n f ü h r t , in d e n e n m a n sein G l ü c k und seine Bef r i e d i g u n g f i n d e t . " H i e r wirkt vielleicht d e r .Prolog im H i m m e l ' aus G o e t h e s . F a u s t ' nach (v. 328f ): „Ein g u t e r M e n s c h in s e i n e m d u n k l e n D r a n g e I Ist sich d e s rechten Weges wohl b e w u ß t . "
32 33
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SW. Bd. 7, S. 352 ( N a c h s o m m e r ) . A u s g a n g s p u n k t ist wohl P i a t o n s S t u f e n w e g der Erkenntnis ( S y m p o s i o n . Ders.: Werke. B e a r b . von D i e t r i c h K u r z , übers, von F r i e d r i c h S c h l e i e r m a c h e r . D a r m s t a d t 1971. Bd. 3, S. 348f ), d e r bei Plotin zur B e f r e i u n g von d e r Negativität d e r S i n n e f ü h r t und den M e n s c h e n s c h l i e ß l i c h d e r h ö c h s t e n S c h ö n h e i t teilh a f t i g w e r d e n läßt. S t i f t e r d ü r f t e a u ß e r d e m die c h r i s t l i c h e T r a d i t i o n der „ H i m m e l s l e i t e r " vertraut g e w e s e n sein.
80
Sibylle
Appuhn-Radtke
Seele, die ihre Anlage einem Gegenstande zuwenden kann oder sich von ihm fern halten", 3 5 also die Willensfreiheit des Menschen. 3 6 Die Vorstellung vom Charakter des idealen Künstlers macht in Stifters dichterischer Darstellung offenbar eine Wandlung durch; 37 Parallelen zu Stifters Biographie sind wahrscheinlich: In den früheren Werken ist es die schwärmerische Gestalt eines jungen, fast noch kindlichen Mannes, die zu enthusiastischem Schaffen befähigt erscheint, 3 8 später wandelt sie sich zur besonnenen, kontemplativen, universale Gelehrsamkeit und Kunst verbindenden Persönlichkeit, 3 9 die ihren „Charakter zu der größtmöglichsten Reinheit und Vollkommenheit" gebildet hat. 4 0 Nur bei ihr ist denkbar, was Stifter vielfach als Forderung erhob: Der Künstler solle hinter sein Werk zurücktreten, jedem Ding, auch dem geringsten, die ihm gemäße Aufmerksamkeit zuwenden, 4 1 jedoch nichts um des eigenen Ruhmes willen tun. 42 Je größer die Begabung des Künstlers, desto größer ist seine Bescheidenheit: „In Bezug auf geistige Begabung ist es ein in der Natur liegender Umstand, daß ihr Besitzer stets bescheiden ist; denn das Wesen der Begabung liegt ja eben darin, daß ihr alles menschlich Große und Herrliche, wenn auch nicht klar vorliegt, doch als unendlicher Stoff dämmernd vorschwebt, und daß sie noch außer demselben gleichsam instinktartig ungeheure geistige Gebiete ahnt, welche zu bewältigen und darzustellen sie nicht genug Kraft und Mächtigkeit zu haben meint, daher die Begabung gegenüber ihrem Ideale immer demüthig ist, und je größer die Begabung, also auch größer das Reich der Ideale, um so größer diese Demuth." 4 3 35 36
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S W . B d . 7, S. 3 5 2 ( N a c h s o m m e r ) . D i e s e A n s i c h t m a g S t i f t e r s c h o n in s e i n e r G y m n a s i a l z e i t v e r m i t t e l t w o r d e n s e i n ; vgl. d a s in d e n ö s t e r r e i c h i s c h e n G y m n a s i e n v e r w e n d e t e R e l i g i o n s b u c h von J o h a n n M i c h a e l L e o n h a r d : V e r s u c h e i n e s L e i t f a d e n s bey d e m k a t h o l i s c h e n R e l i g i o n s - U n t e r r i c h t e f ü r die u n t e m G r a m m a t i c a l - C l a s s e n an den K . K . G y m n a s i e n . W i e n . 2. A u f l . 1819, S. 10. Z u s a m m e n s t e l l u n g d e r v o r g e s c h r i e b e n e n S c h u l l i t e r a t u r z u m R e l i g i o n s u n t e r r i c h t bei E n z i n g e r (o. A n m . 2 2 ) . - Z u K a n t s F r e i h e i t s b e g r i f f und d e s s e n W i r k u n g auf S t i f t e r v g l . S e p p D o m a n d i : D i e p h i l o s o p h i s c h e T r a d i t i o n v o n A d a l b e r t S t i f t e r s „ S a n f t e m G e s e t z " . In: VAS I L O 21 ( 1 9 7 2 ) , S. 7 9 - 1 0 3 , h i e r S. 87. G u m p 1927, ( o . A n m . 7), S. 37. Z . B . G u s t a v im . C o n d o r ' , A l b r e c h t in d e n . F e l d b l u m e n ' . D i e s e G e s t a l t e n s c h e i n e n n o c h d e m r o m a n t i s c h e n „ G e n i e " v e r p f l i c h t e t zu sein. V g l . J o c h e n S c h m i d t : Die G e s c h i c h t e d e s G e n i e - G e d a n k e n s in d e r d e u t s c h e n Literatur, P h i l o s o p h i e und Politik 1 7 5 0 - 1 9 4 5 . B d . 2. D a r m s t a d t 1985; z u r A b k e h r S t i f t e r s v o m r o m a n t i s c h e n G e n i e - B e g r i f f e b d . , S. 8 3 f f . Z . B . H e i n r i c h im . N a c h s o m m e r ' . V g l . d a z u R e i n h a r d L o w : D i e S e l b s t b i l d u n g d e s M e n s c h e n im K ü n s t l e r i s c h e n . P h i l o s o p h i s c h e B e m e r k u n g e n zu A d a l b e r t S t i f t e r s . N a c h s o m m e r ' . In: S c h e i d e w e g e 21 ( 1 9 9 1 / 9 2 ) , S. 1 7 7 - 1 8 9 . S W . B d . 16, S . 9 ( Ü b e r S t a n d u n d W ü r d e d e s S c h r i f t s t e l l e r s ) . V g l . d i e V o r r e d e zu d e n . B u n t e n S t e i n e n ' ; zu d e r e n I n t e r p r e t a t i o n vgl. E u g e n T h u m h e r : S t i f t e r s „ S a n f t e s G e s e t z " . In: U n t e r s c h e i d u n g und B e w a h r u n g . F e s t s c h r i f t f ü r H e r m a n n K u n i s c h z u m 6 0 . G e b u r t s t a g . B e r l i n 1961, S. 3 8 1 - 3 9 7 ; D o m a n d i (o. A n m . 36). V g l . G u m p ( o . A n m . 7), S. 3 2 , S. 36f. S W . B d . 16, S. 12 ( Ü b e r S t a n d und W ü r d e des S c h r i f s t e l l e r s ) .
..Priester
des
Schönen"
81
Die Vorstellung von der sittlichen E n t w i c k l u n g des E i n z e l m e n s c h e n übertrug Stifter auf die E n t w i c k l u n g der (allerdings in Wellen v e r l a u f e n d e n ) M e n s c h h e i t s g e s c h i c h t e 4 4 und leitete daraus - eine G e n e r a t i o n vor d e r Entstehung von N i e t z s c h e s Z a r a t h u s t r a 4 5 - die Prophetie von e i n e m D i c h t e r - Ü b e r m e n s c h e n ab, als d e s s e n Vorläufer e r sich f ü h l t e : „ein M a n n , der mit m i r die E i n f a c h h e i t und das sittliche B e w u ß t s e i n g e m e i n hätte, mir aber an D i c h t e r b e g a b u n g weit ü b e r l e g e n wäre, sollte a u f s t e h e n , er w ü r d e der E r n e u e r e r u n s e r e r g e s u n k e n e n Kunst sein, und die E h r e des J a h r h u n d e r t s retten. [...] Ein neuer g e w a l t i g e r M e n s c h sollte a u f s t e h e n , und mit e i n f a c h e n aber a l l m ä c h t i g e n Schlägen den Flitter die G e s p r e i z t h e i t und die S e l b s t s u c h t und e n d l i c h , ich kann es w o h l sagen, die S c h l e c h t i g k e i t z e r s c h l a g e n , w o m i t j e z t das G ö t t e r b i l d der Kunst b e h ä n g t wird [...]. Er wird k o m m e n , ihm wird sich ein K r e i s zuscharen, und d a s Leben und alles, w a s mit ihm z u s a m m e n h ä n g t , also auch d e r Staat wird sich h e b e n . Dann w e r d e ich vielleicht im G r a b e die G e n u g t h u u n g haben, daß g e s a g t wird, er hat mit seinen a n s p r u c h l o s e n S c h r i f t e n a n g e d e u t e t , was eine spätere Zeit und große M e n s c h e n mit h i n r e i c h e n d e r K r a f t a u s g e f ü h r t haben."46 Die hier b e s c h w o r e n e , alles b e z w i n g e n d e K r a f t des Ü b e r m e n s c h e n , „der G ö t h e s und Schillers Geist v e r e i n t e " , 4 7 steht in s i c h t l i c h e m W i d e r s p r u c h zum U n g e n ü g e n Stifters an seinem e i g e n e n Werk: „ D a s E n t w e r f e n das F i n d e n das Z u s a m m e n r ü k e n das M e i n e n , man w e r d e nun d a s Vollendetste a u f b a u e n , hat sein E n t z ü k e n , es ist, als e r s c h ü f f e m a n M e n s c h e n ; aber w e n n der Sak fertig ist, und die Wichte da stehen, e r b a r m e n sie e i n e m , und m a n m u ß das M e n s c h e n e r s c h a f f e n doch d e m lieben G o t t überlassen, d e m ein S c h u h k n e c h t m e h r gelingt als uns ein Held. [...] Das ist das Elend, d a ß m a n nicht k a n n , w a s man m ö c h t e . Und doch ist dieses h ö l l i s c h e H a n d w e r k s ü s s e r und v e r f ü h r e r i s c h e r als das A c t e n k a u e n und das G r a b e n und S c h l a g e n und H a u e n im L e b e n . " 4 8 B e s t r e b u n g und E r f o l g d i v e r g i e r e n , und das ist a n g e s i c h t s v o n S t i f t e r s Anspruch an das Werk des Künstlers u n a u s w e i c h l i c h .
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Vgl. z.B. SW. Bd. 16, S. 177f. (Die K u n s t s c h u l e ) ; SW. Bd. 12, S. 2 7 f f . ( Ü b e r K u n s t ) . Vgl. F i s c h e r (o. A n m . 12), S. 4 9 2 f f . N i e t z s c h e s c h ä t z t e S t i f t e r so sehr, d a ß er dessen . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' als e i n e s von vier B e i s p i e l e n d e u t s c h e r Prosa n a n n t e , die es n e b e n G o e t h e s S c h r i f t e n v e r d i e n t e n , „ w i e d e r und w i e d e r g e l e s e n zu w e r d e n " (Der W a n d e r e r und sein S c h a t t e n , Nr. 109. In: M e n s c h l i c h e s , A l l z u m e n s c h l i c h e s . Bd. 2, 2. A b t l g . M ü n c h e n 1981, S. 4 8 1 ) . SW. Bd. 18, S. 295f. (Brief an G u s t a v H e c k e n a s t , 1 3 . 1 2 . 1 8 5 5 ) . H e l g a B l e c k w e n n versteht diese Stelle so, „ d a ß sich S t i f t e r in die Tradition d e r K l a s s i k e r e i n o r d n e t , g e w i s s e r m a ß e n selbst k a n o n i s i e r t " : H e l g a B l e c k w e n n : Stifter und G o e t h e . U n t e r s u c h u n g e n zur B e g r ü n d u n g u n d Tradition einer A u t o r e n z u o r d n u n g . B e r n 1977 ( R e g e n s b u r g e r B e i t r ä g e zur d e u t s c h e n S p r a c h - u n d L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t . R e i h e B. Bd. 8), S. 20. SW. Bd. 18, S. 267 (Brief an G u s t a v H e c k e n a s t , 2 1 . 6 . 1 8 5 5 ) . Vgl. Z o l d e s t e r (o. A n m . 8), S. 48. SW. Bd. 19, S. 284 (Brief an G u s t a v H e c k e n a s t . 8 . 6 . 1 8 6 1 ) .
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Sibylle
Appuhn-Radtke
Der Künstler und sein Werk S t i f t e r d e f i n i e r t , schildert und erlebt die Beziehung des Künstlers zu seinem Werk in u n t e r s c h i e d l i c h e r Weise. M e n s c h l i c h e K u n s t ü b u n g ist grundsätzlich eine N a c h a h m u n g d e s göttlichen S c h ö p f u n g s a k t e s , 4 9 o b w o h l - und hier ist das Mißlingen p r o g r a m m i e r t - d e s s e n „ d i c h t e r i s c h e Fülle und [...] herzergreifendste G e w a l t " , die sich in d e r Welt s p i e g e l n , nie zu erreichen sind. 5 0 A u s diesem A n s p r u c h e i n e s N a c h S c h ö p f e r t u m s leitet S t i f t e r die Verpflichtung zum „ R e a l i s m u s " , einer ü b e r h ö h ten, aber nicht e i g e n t l i c h ideologisch geprägten Wirklichkeitstreue, 5 1 ab. Ents c h i e d e n verteidigt er die D a r s t e l l u n g des „ W i r k l i c h e n " gegen seine Kritiker: „Freilich sagt m a n , es sei ein großer Fehler, wenn man zu wirklich d a s Wirkliche darstelle: m a n w e r d e da trocken, h a n d w e r k s m ä ß i g , und zerstöre allen d i c h t e r i s c h e n D u f t der A r b e i t . Freier S c h w u n g , freies E r m e s s e n , f r e i e r Flug d e s K ü n s t l e r s m ü s s e da sein, dann entstehe ein freies, leichtes, d i c h t e r i s c h e s W e r k . Sonst sei A l l e s v e r g e b l i c h und am Ende - das sagen die, w e l c h e die W i r k l i c h k e i t nicht darstellen k ö n n e n . Ich aber sage: w a r u m hat denn Gott das W i r k l i c h e g a r so wirklich und am wirklichsten in seinem K u n s t w e r k e gem a c h t , und in d e m s e l b e n d o c h den höchsten S c h w u n g erreicht, den ihr auch mit all euren S c h w i n g e n nicht recht s c h w i n g e n könnt? In der Welt und in ihren T h e i l e n ist d i e g r ö ß t e d i c h t e r i s c h e Fülle und die h e r z e r g r e i f e n d s t e G e w a l t . M a c h t nur d i e W i r k l i c h k e i t so wirklich, wie sie ist, und verändert nicht den S c h w u n g , d e r o h n e h i n in ihr ist, und ihr werdet w u n d e r b a r e r e Werke h e r v o r b r i n g e n , als ihr g l a u b t " . 5 2 O h n e d i e s kann auch bei g r ö ß t m ö g l i c h e r Darstell u n g s t r e u e d a s A b b i l d nie d a s Urbild ersetzen; auch wenn „ein g r o ß e r L a n d s c h a f t e r eine h e r r l i c h e B l u m e n w i e s e malt", zeigt sie „bei n ä h e r e r Besichtig u n g w e d e r eine B l u m e noch ein[en] G r a s h a l m [...], sondern nur F a r b e n k l e c k -
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52 53
SW. Bd. 14, S. 8 (An d a s V i c e d i r e k t o r a l ) . SW. Bd. 13, S. 2 7 1 f. K o n t r o v e r s e A n s i c h t e n ü b e r S t i f t e r s Verhältnis z u m literarischen R e a l i s m u s : E d i t h Z e n k e r : W a r S t i f t e r R e a l i s t ? In: N e u e d e u t s c h e Literatur 4 (1956) H. 10, S. 9 7 - 1 0 9 ; H a n s H e i n r i c h R e u t e r : S t i f t e r w a r Realist! In: Neue d e u t s c h e Literatur 5 ( 1 9 5 7 ) H. 9, S. 1 2 0 129; E d i t h Z e n k e r : E r w i d e r u n g . E b d . , S. 1 2 9 - 1 3 6 . D a r ü b e r hinaus: W i l h e l m D e h n : D i n g u n d V e r n u n f t . B o n n 1969 ( L i t e r a t u r und Wirklichkeit 3), S. 117ff.; C h r i s t o p h B u g g e r t : F i g u r und E r z ä h l e r . S t u d i e z u m Wandel der W i r k l i c h k e i t s a u f f a s s u n g im Werk A d a l b e r t S t i f t e r s . D i s s . M ü n c h e n 1970 ( W i s s e n s c h a f t l i c h e M a t e r i a l i e n und B e i t r ä g e z u r Ges c h i c h t e und L a n d e s k u n d e d e r b ö h m i s c h e n L ä n d e r 12); H a n s Dietrich I r m s c h e r : A d a l bert S t i f t e r . W i r k l i c h k e i t s e r f a h r u n g und g e g e n s t ä n d l i c h e D a r s t e l l u n g . M ü n c h e n 1971; P f e i f f e r (o. A n m . 9), S. 5 4 f f . Vgl. auch u. Anm. 5 9 und den Beitrag von C h r i s t i a n B e g e m a n n in d i e s e m B a n d . SW. Bd. 13, S. 2 7 1 f. Zit. n a c h G u m p (o. A n m . 7), S. 30.
..Priester des
Schönen"
Das darzustellende
83
„Wirkliche",
wie Stifter es begreift, geht
tatsächlich
w e i t über b l o ß e G e g e n s t ä n d l i c h k e i t h i n a u s ; 5 4 Z i e l d e s K ü n s t l e r s m u ß e s s e i n , d e n D i n g e n „ihr W e s e n a b [ z u ] r i n g e n " , u m zu ihrer „ W a h r h e i t " 5 5 v o r z u s t o ß e n . D i e s e s Z i e l , d a s in d e n . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' a m B e i s p i e l d e r L a n d s c h a f t s m a l e r e i v o r g e t r a g e n w i r d , g i l t im L e b e n s b e r i c h t d e s P e t e r R o d e r e r e b e n s o für d i e D i c h t u n g . 5 6 D i e p o s t u l i e r t e „ W a h r h e i t " ist für d e n i r d i s c h e n M e n s c h e n u n erreichbar, d e n n S t i f t e r v e r a r b e i t e t o f f e n b a r e b e n s o d i e p l a t o n i s c h e I d e e n l e h r e w i e d e n G e h a l t d e s B i b e l w o r t e s „ V i d e m u s n u n c per s p e c u l u m " , 5 7 w e n n er d e n T a g e b u c h a u t o r der . F e l d b l u m e n ' s c h r e i b e n läßt: „Vor d e m H o h l s p i e g e l
unsrer
S i n n e h ä n g t nur d a s L u f t b i l d e i n e r W e l t , d i e w a h r e hat G o t t a l l e i n . " 5 8 In d i e ser E r k e n n t n i s , d i e - trotz S t i f t e r s I n t e r e s s e an r e a l i s t i s c h e r D a r s t e l l u n g -
sei-
ne w e l t a n s c h a u l i c h e V e r a n k e r u n g im I d e a l i s m u s 5 9 verrät, l i e g t d e r G r u n d für d i e r e s i g n a t i v e E i n s i c h t b e i d e r R o d e r e r und der A n l a ß zur Z e r s t ö r u n g
ihrer
Werke. D e n n o c h w i d m e t Stifter der handwerklichen Vorbereitung von
Gemälden,
d e m W e g zu e i n e r s u k z e s s i v s i c h v e r v o l l k o m m n e n d e n D a r s t e l l u n g v o n „ W i r k lichkeit", idyllisch a n m u t e n d e Schilderungen. Viele seiner dichterischen stalten s i n d M a l e r 6 0 o d e r z e i c h n e n d e D i l e t t a n t e n , 6 1
Ge-
und S t i f t e r z e i g t s i e m i t
der i h m e i g e n e n b e d ä c h t i g e n A k r i b i e bei ihrer A r b e i t . D i e e r s t e n S e i t e n d e r , N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' b e s c h r e i b e n d e n K ü n s t l e r bei der P l e i n a i r m a l e r e i : D e n w o h l g e f ü l l t e n M a l e r k a s t e n auf d e m R ü c k e n , S t a f f e -
54 55
56 57 58 59
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Vgl. P f e i f f e r (o. A n m . 9), S. 5 6 f f . SW. Bd. 13, S. 256. Die „ W a h r h e i t " e i n e s K u n s t w e r k s ist auch in S t i f t e r s K u n s t k r i t i k e n das wichtigste Q u a l i t ä t s k r i t c r i u m (vgl. z.B. SW. Bd. 14, S. 8. S. 17). Z u r „ W a h r h e i t " als der h ö c h s t e n v o m K ü n s t l e r zu e r r e i c h e n d e n E n t w i c k l u n g s s t u f e vgl. S c h i l l e r (o. A n m . 28), S. 202, S. 213. D i e s e r A n s p r u c h wird von diversen K ü n s t l e r n d e s 18. und 19. J a h r h u n d e r t s v e r t r e t e n , u.a. von S t i f t e r s Z e i t g e n o s s e n F e r d i n a n d G e o r g W a l d m ü l l e r : „Im L e b e n (im geistigen und p h y s i s c h e n ) wie in d e m Abbild d e s s e l b e n , der K u n s t , ist die Wahrheit d a s h ö c h s t e , o b e r s t e G e s e t z [...]." (F.G. W a l d m ü l l e r : D a s B e d ü r f n i s e i n e s z w e c k m ä ß i g e n U n t e r r i c h t s in der M a l e r e i und plastischen Kunst. W i e n 1846, S. 4.) SW. Bd. 13, S. 264. 1. Kor 13,12. W u B . Bd. 1.4, S. 61. Es ist m e h r f a c h darauf h i n g e w i e s e n w o r d e n , d a ß Stifter sich der Z u o r d n u n g zu n u r e i n e r der g r o ß e n D e n k - und S t i l r i c h t u n g e n w i d e r s e t z t e : „Wie bloßer R e a l i s m u s g r o b e Last ist, so ist bloßer I d e a l i s m u s u n s i c h t b a r e r D u n s t oder N a r r h e i t . " (SW. B d . 14, S. 2 1 9 [ A u s stellung des o b e r ö s t e r r e i c h i s c h e n K u n s t v e r e i n s 1867]); „ D e r Realist und d e r Idealist ist v e r f e h l t , w e n n er nicht e t w a s H ö h e r e s ist, n e h m l i c h ein Künstler; d a n n ist er b e i d e s zugleich freilich in e i n e m a n d e r n S i n n e als in dem der Z u n f t . " (SW. Bd. 19, S. 115 [Brief an G u s t a v H e c k e n a s t , 1 2 . 5 . 1 8 5 8 ] ) . Zu S t i f t e r als Dichter der „ S y n t h e s e " vgl. F i s c h e r (o. A n m . 12), S. 4 8 3 f f . ; zu S t i f t e r s A b l e h n u n g des „ b l o ß e n R e a l i s m u s " G u s t a v F r e y t a g s vgl. Z o l d e s t e r (o. A n m . 8), S. 45, A n m . 3. Z.B. G u s t a v im . C o n d o r ' , A l b r e c h t in d e n . F e l d b l u m e n ' . Z.B. T i b u r i u s K n e i g t im . W a l d s t e i g ' , F r i e d r i c h R o d e r e r in den . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' . Z u m P h ä n o m e n des z e i c h n e n d e n D i l e t t a n t e n im 18. und 19. J a h r h u n d e r t vgl. W o l f g a n g K e m p : ..... einen w a h r h a f t b i l d e n d e n Z e i c h e n u n t e r r i c h t überall e i n z u f ü h r e n " . Z e i c h n e n und Z e i c h e n u n t e r r i c h t der L a i e n 1 5 0 0 - 1 8 7 0 . F r a n k f u r t a . M . 1979, S. 81 ff.
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lei, F e l d s t u h l und S o n n e n s c h i r m unter dem Arm tragend, zieht er ins Freie, um hier die N a t u r s t u d i e n a u f z u n e h m e n , aus denen im Atelier das L a n d s c h a f t s bild k o m p o n i e r t w i r d . Mit f ü h l b a r e r Ironie - die m a n c h e n G e n r e b i l d e r n Spitzw e g s v e r w a n d t zu sein scheint - werden die vielen K ü n s t l e r k o l l e g e n persifliert, die am R a n d eines G l e t s c h e r s oder Wasserfalls unter S o n n e n s c h i r m e n wie unter d e m „ S c h i l d k r ö t e n d a c h der R ö m e r bei B e l a g e r u n g e n [...] sitzen und v e r s u c h e n , den h e r a b w a l l e n d e n Schleier des Wassers n a c h z u a h m e n " . Der Erf o l g d i e s e s T u n s e r s c h e i n t z w e i f e l h a f t , zumindest f ü r die Schüler der „Staatsm a l e r a n s t a l t " , d e n n diese w e r d e n von ihrem Lehrer a n g e w i e s e n , „daß sie nun im Freien die D i n g e g e r a d e so m a l e n , wie sie sonst in der Stube nach seinen Vorlagen g e m a l t h a b e n " . 6 2 Ein p o s i t i v e s G e g e n b i l d zeigt Stifter u.a. im . N a c h s o m m e r ' : 6 3 Hier betätigt sich d e r j u n g e H e i n r i c h D r e n d o r f als L a n d s c h a f t s m a l e r ; seine ersten Studien w e r d e n in g e s e l l s c h a f t l i c h e r U n t e r h a l t u n g k o m m e n t i e r t . Man k o m m t z u r Ansicht, d a ß der b i s h e r i g e N a t u r k u n d l e r sich noch nicht a u s r e i c h e n d von seiner t e c h n i s c h e n Z e i c h e n w e i s e gelöst habe, daß er die „ihnen e i g e n t h ü m l i c h e n M e r k m a l e " s e i n e r S t u d i e n o b j e k t e anstatt ihrer o p t i s c h e n Wirkung dargestellt h a b e ; d a d u r c h sei die P e r s p e k t i v e mißlungen. Drendorf erhält den Rat, eine a u f g e r a u h t e G l a s p l a t t e zu v e r w e n d e n , um den g e w ü n s c h t e n L a n d s c h a f t s a u s schnitt darauf zu s k i z z i e r e n . Er lernt weiter, d a ß die a t m o s p h ä r i s c h e W i r k u n g von L a n d s c h a f t nicht der S u m m e ihrer E i n z e l m o t i v e e n t s p r ä c h e : „ D u r c h L u f t , Licht, D ü n s t e , W o l k e n , d u r c h n a h e stehende andere K ö r p e r gewinnen die Geg e n s t ä n d e ein a n d e r e s A u s s e h e n , dieses müsse ich e r g r ü n d e n , und die veranl a s s e n d e n D i n g e m ü s s e ich, w e n n es mir m ö g l i c h w ä r e , so sehr zum G e g e n s t a n d e m e i n e r W i s s e n s c h a f t m a c h e n , wie ich f r ü h e r die u n m i t t e l b a r in die Augen s p r i n g e n d e n M e r k m a l e g e m a c h t hatte." 6 4 O b w o h l f ü r Stifter die B e d e u -
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SW. Bd. 13, S. 2 3 0 f . Mit d i e s e r in Ironie v e r p a c k t e n Kritik a m A k a d e m i e w e s e n stand S t i f t e r nicht a l l e i n : S c h o n W i l h e l m S c h a d o w warnte 1828 in seinen . G e d a n k e n ü b e r eine f o l g e r i c h t i g e A u s b i l d u n g d e s M a l e r s ' vor allzu intensiven K o r r e k t u r e n des L e h r e r s , da sie die O r i g i n a l i t ä t d e s S c h ü l e r s verletzten und nur „leere M a n i e r " e r z e u g t e n (zit. nach: K u n s t t h e o r i e u n d K u n s t g e s c h i c h t e des 19. J a h r h u n d e r t s in D e u t s c h l a n d . Bd. 1: K u n s t t h e o r i e u n d M a l e r e i , K u n s t w i s s e n s c h a f t . Hrsg. von W e r n e r B u s c h und W o l f g a n g B e y r o d e S t u t t g a r t 1982, S. 164f ). Von K u g l e r wird das A k a d e m i e w e s e n 1837 d a g e g e n verteidigt - s o l a n g e e s nicht d e n A n s p r u c h e r h e b e , G e n i e s h e r v o r z u b r i n g e n , s o n d e r n sich d a r a u f b e s c h r ä n k e , die h a n d w e r k l i c h e n G r u n d l a g e n zu v e r m i t t e l n (Franz K u g l e r : K l e i n e S c h r i f t e n u n d S t u d i e n zur K u n s t g e s c h i c h t e . Bd. 3. Stuttgart 1854, S. 2 1 4 f f . [ Ü b e r die g e g e n w ä r t i g e n V e r h ä l t n i s s e d e r K u n s t zum L e b e n ( 1 8 3 7 ] ) . F e r d i n a n d G e o r g W a l d m ü l l e r w a r w i e d e r u m b e s t r e b t , d u r c h seine 1846 e r s c h i e n e n e S c h r i f t . D a s B e d ü r f n i s e i n e s z w e c k m ä ß i g e n U n t e r r i c h t e s in d e r Malerei und p l a s t i s c h e n K u n s t ' die W i e n e r A k a d e m i e zu r e f o r m i e r e n . Er f o r d e r t e , s e h r ä h n l i c h wie S c h a d o w , „ d e r I n d i v i d u a l i t ä t des S c h ü l e r s die v o l l s t ä n d i g s t e U n a b h ä n g i g k e i t in der G e i s t e s e n t w i c k l u n g zu b e l a s s e n " (S. 13). Von d e r E r f o l g l o s i g k e i t d i e s e s V o r h a b e n s berichtet ein Brief um 1860 an den F i n a n z m i n i s t e r C a r l F r e i h e r r n v o n B r u c k ( K u n s t t h e o r i e und M a l e r e i , S. 1 6 8 f f ) .
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SW. Bd. 7, S. 3 I f f . E b d . , S. 3 3 f . H i e r d r ä n g t sich die A s s o z i a t i o n zu m a n c h e n L a n d s c h a f t s b i l d e r n
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Caspar
.. Priester des Schönen "
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t u n g v o n N a t u r s t u d i e n u n s t r e i t i g ist, rät er d o c h v o n d e r B e s c h r ä n k u n g a u f ihre b l o ß e W i e d e r g a b e a b : „ W e n n ü b e r h a u p t e i n F e h l e r g e g e n d i e G e n a u i g k e i t g e m a c h t w e r d e n m ü s s e - u n d kein M e n s c h k ö n n e D i n g e , n a m e n t l i c h L a n d s c h a f t e n , in i h r e r v ö l l i g e n W e s e n h e i t g e b e n - s o sei es b e s s e r , d i e G e g e n s t ä n d e g r o ß a r t i g e r u n d ü b e r s i c h t l i c h e r zu g e b e n , als in zu v i e l e e i n z e l n e M e r k m a le z e r s t r e u t . D a s E r s t e sei d a s K ü n s t l e r i s c h e r e u n d W i r k s a m e r e . " 6 5 E i n e n ä h n l i c h e n W e g g e h t T i b u r i u s K n e i g t im . W a l d s t e i g ' : N a c h d e m e r d i e „ G e s c h i c h t s m a l e r e i in O e h l " a u f g e g e b e n h a t , 6 6 v e r f ä l l t er a u f d a s Z e i c h n e n , „ u m sich mit d e m s e l b e n m a n c h e a n g e n e h m e S t u n d e zu m a c h e n " . A u s d e m Z e i t v e r t r e i b d e s r e i c h e n M a n n e s wird P a s s i o n , a u s d e m S k i z z i e r e n e i n z e l n e r G e g e n s t ä n d e d i e D a r s t e l l u n g e i n e s L a n d s c h a f t s a u s s c h n i t t e s : „ E r f u h r a l s o mit e i n e m [ S k i z z e n - J B u c h e h i n a u s , u n d s a ß an d e r s o n n i g e n W a n d u n d z e i c h n e t e . D i e s that er ö f t e r , d i e G e g e n s t ä n d e , die er n a c h b i l d e t e , g e f i e l e n i h m , u n d e n d lich f u h r er u n a u f h ö r l i c h h i n a u s . E r g i n g n a c h u n d n a c h v o n d e n S t e i n e n u n d S t ä m m e n , die er anfänglich machte, auf ganze A b t h e i l u n g e n über, rükte endlich w e i t e r in d e n W a l d h i n e i n u n d v e r s u c h t e d i e H e l l d u n k e l . B e s o n d e r s g e f i e l es ihm, w e n n d i e S o n n e f e u r i g a u f den s c h w a r z e n P f a d s c h i e n u n d ihn d u r c h ihr L i c h t in ein F a h l g r a u v e r w a n d e l t e , a u f d e m d i e S t r e i f s c h a t t e n d e r B ä u m e w i e s c h a r f e s c h w a r z e B ä n d e r l a g e n . S o b e k a m e r s c h i e r alle T h e i l e d e s d u n keln P f a d e s in sein Z e i c h e n b u c h . " 6 7 D a s B i e d e r m e i e r l i c h e e i n e r s o l c h e n S i t u a t i o n - d i e a l l e r d i n g s z u g l e i c h ein e n w e s e n t l i c h e n S c h r i t t a u f d e m p s y c h i s c h e n G e n e s u n g s w e g d e s „ H e r r n Tib u r i u s " b e s c h r e i b t - ist n o c h w e i t v o n d e m A b s o l u t h e i t s a n s p r u c h , d e n d a s W e r k des e c h t e n K ü n s t l e r s bei S t i f t e r k e n n z e i c h n e t , e n t f e r n t . D e n e i g e n t l i c h e n K ü n s t l e r t y p vertritt F r i e d r i c h R o d e r e r in d e n . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' : 6 8 Mit H i l f e v i e l e r S k i z z e n k o m p o n i e r t R o d e r e r ein e i n z i g e s G e m ä l d e , 6 9 f ü r d e s s e n
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Μ
D a v i d F r i e d r i c h s a u f , v o r a l l e m zu d e s s e n A n s i c h t e n a u s d e m R i e s e n g e b i r g e . V g l . s c h o n N o v o t n y (o. A n m . 1), S. 6 8 . S W . B d . 7, S. 3 3 ( N a c h s o m m e r ) . W u B . B d . 1.6, S. 186, S. 151. E b d . , S. 186f. Fritz N o v o t n y (o. A n m . 1, S. 7) hat b e r e i t s a u f die a u t o b i o g r a p h i s c h e n Z ü g e d i e s e r F i g u r Stifters hingewiesen. D a s Ideal d e r K o n z e n t r a t i o n a u f ein e i n z i g e s ( L e b e n s - ) W e r k v e r f r a t a u c h P h i l i p p O t t o R u n g e ; er s c h r e i b t a m 2 6 . 6 . 1 8 0 7 in e i n e m Brief a n J o h a n n G o t t f r i e d Q u i s t o r p : „ E s ist u n m ö g l i c h , d a ß in e i n e r Z e i t , w o s o w e n i g zu m a c h e n m ö g l i c h ist w i e in u n s e r e r u n d w o d i e G e w a l t d e r I d e e n s o g r o ß ist, es n i c h t u n g l e i c h g r ö ß e r e W i r k u n g t u n s o l l t e , w e n n w i r ein Werk d u r c h u n s e r L e b e n d u r c h a r b e i t e t e n , w e l c h e s mit e i n e r K l a r h e i t u n d F ü l l e n e u e u n d b e f r i e d i g e n d e A n s i c h t e n ü b e r d i e N a t u r k r ä f t e v e r b r e i t e t e , als w e n n w i r v i e l e B i l d e r zu m a c h e n u n s b e s t r e b t e n [ . . . ] . " ( B r i e f e u n d S c h r i f t e n . H r s g . v o n P e t e r B e t t h a u s e n . M ü n c h e n 1982, S. 2 0 0 f . ) A b 1 8 4 0 / 4 1 l a g e n R u n g e s . H i n t e r l a s s e n e S c h r i f t e n ' im D r u c k v o r ; S t i f t e r k a n n sie a l s o g r u n d s ä t z l i c h g e k a n n t h a b e n . V g l . J ö r g T r a e g e r : P h i l i p p O t t o R u n g e u n d s e i n W e r k . M ü n c h e n 1975, S. 2 2 f . , S. 174. - E i n e w e i t e r e l i t e r a r i s c h e S p i e g e l u n g e r f u h r d i e I d e e v o n e i n e m e i n z i g e n g r o ß e n G e m ä l d e a l s L e b e n s w e r k in B a l z a c s . C h e f d ' o e u v r e i n c o n n u ' . V g l . O t h m a r M e t z g e r : K u n s t g e s c h i c h t l i c h e B e m e r k u n g e n zu
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riesige L e i n w a n d ein e i g e n e s A t e l i e r h a u s errichtet wird. W ä h r e n d d e r Arbeit an s e i n e m Bild schließt sich d e r K ü n s t l e r völlig von der A u ß e n w e l t ab, abgelenkt allein v o n d e r noch u n e r f ü l l t e n Liebe. Nach der Verlobung mit S u s a n n a naht auch die Vollendung seines Werks: „Des frühen Morgens schon malte ich, und m a l t e d e n g r ö ß t e n T h e i l des Tages mit e i n e m Eifer und mit einem Feuer, die ich f r ü h e r gar nicht g e k a n n t hatte, Alles gelang besser, und o f t , oft w a r es m i r schon d e u t l i c h , als m ü s s e ich es erfassen k ö n n e n , daß d e r u n n a c h a h m l i c h e D u f t und die u n e r r e i c h b a r e Farbe der Natur auf meine L e i n w a n d k ä m e . " 7 0 D i e s e H o f f n u n g trügt j e d o c h ; es gelingt dem Maler nicht, die postulierte „ W a h r h e i t " zu e r r e i c h e n , und so kündigt er seiner Braut die Z e r s t ö r u n g d e s u n v o l l k o m m e n e n G e m ä l d e s und die A u f g a b e seines Berufes an: „Mein g r o ß e s Bild, w e l c h e s bis auf K l e i n i g k e i t e n fertig ist, kann die D ü s t e r h e i t , die E i n f a c h h e i t und E r h a b e n h e i t d e s M o o r e s nicht darstellen. Ich habe mit der Inbrunst g e m a l t , d i e mir d e i n e L i e b e eingab, und werde nie mehr so m a l e n können. D a r u m m u ß dieses Bild vernichtet werden, und keines kann m e h r aus m e i n e r H a n d h e r v o r g e h e n . " 7 1 In dieser zerstörerischen K o n s e q u e n z , die sich nicht allein auf das u n v o l l k o m m e n e Werk erstreckt, 7 2 sondern sogar den Verlust d e r Braut in Kauf n i m m t , zeigt sich das B e w u ß t s e i n S t i f t e r - R o d e r e r s vom existentiellen Anspruch echten Künstlertums.
Künstler und Gesellschaft Der A u s e r w ä h l t h e i t s c h a r a k t e r des Künstlers verleiht diesem eine S o n d e r stellung in d e r G e s e l l s c h a f t . Hieraus e r g e b e n sich Verpflichtungen d e s Künstlers g e g e n ü b e r seinen M i t m e n s c h e n und, u m g e k e h r t , Verpflichtungen der Ges e l l s c h a f t g e g e n ü b e r ihren K ü n s t l e r n . Vor allem in seinen p ä d a g o g i s c h e n S c h r i f t e n 7 1 - deren Existenz schon allein von S t i f t e r s B e w u ß t s e i n seiner g e s e l l s c h a f t l i c h e n A u f g a b e zeugt - be-
Stifters . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' . In: VASILO 26 (1977), S. 36. - Die von Curt Hohoff und anderen Autoren vertretene Auffassung, daß Stifter in dieser Beschreibung das Bemühen des Malers karikiere (Curt Hohoff: Adalbert Stifter. Seine dichterischen Mittel und die Prosa des neunzehnten Jahrhunderts. Düsseldorf 1949, S. 58), erscheint trotz der satirischen Partien in den . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' der Figur des jungen Roderer nicht a n g e m e s s e n . Sehr viel sinnvoller wird sie von Karl Konrad Polheim (o. Anm. 11), aus dem Kontext von Stifters Kunstanschauung interpretiert. 70 71 72
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SW. Bd. 13, S. 2 9 6 . Ebd., S. 300f. Stifters erster Biograph, Heinrich Reitzenbeck, berichtet, daß Stifter ebenfalls einen großen Teil seiner Bilder vernichtet hat: Libussa. Jahrbuch für 1853, S. 325: zit. nach N o v o t n y (o. A n m . 1), S. 7. D o c u m e n t a Paedagogica Austriaca. Adalbert Stifter. Zusammengestellt und mit einer Einleitung versehen von Kurt Gerhard Fischer. 2 Bde. Linz 1961 (Schriftenreihe des Adalbert Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich 15).
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n e n n t S t i f t e r die Z i e l e , a u f d i e e i n e s t a a t l i c h e K u n s t f ö r d e r u n g g e r i c h t e t s e i n müsse: So fordert er die Einrichtung von K u n s t s c h u l e n , die für j e d e n gleicherm a ß e n z u g ä n g l i c h sein s o l l t e n . K ü n s t l e r m ü ß t e n als „ G u t t h ä t e r d e r M e n s c h h e i t " v o m Staat „ g e e h r t , g e a c h t e t , g e f e i e r t " u n d im A l t e r u n t e r s t ü t z t w e r d e n . 7 4 In b e i d e n F o r d e r u n g e n s p i e g e l n sich S t i f t e r s b i o g r a p h i s c h e V e r l e t z u n g e n ; g l e i c h z e i t i g e n t h ü l l e n sie e i n e von a l l e r E r f a h r u n g a b g e h o b e n e , i d e a l i s t i s c h e , letztlich auf P i a t o n s . P o l i t e i a ' b a s i e r e n d e S t a a t s a u f f a s s u n g : 7 5 I n n e r h a l b d e r ordnenden Gerechtigkeit des Staates k o m m t dem Künstler (insbesondere dem D i c h t e r ) ein b e d e u t e n d e r , w e i l f ü r d i e E r z i e h u n g m a ß g e b l i c h e r R a n g z u . D e r Staat hat n e b e n s e i n e r V e r p f l i c h t u n g f ü r d e n U n t e r h a l t d e s K ü n s t l e r s d i e A u f g a b e , W a h r h e i t s g e h a l t u n d T h e m e n s e i n e s W e r k e s zu ü b e r w a c h e n , d e n n d i e Vermittlung unsittlicher Inhalte kann böse Folgen - vor allem für die Bildung der Jugend - haben.76 Entsprechend warnt auch der P ä d a g o g e Stifter77 i m m e r w i e d e r vor d e m E i n f l u ß v o n „ s c h l e c h t e r " D i c h t u n g . 7 8 S t i f t e r s c h e i n t e i n e n Teil d i e s e r A n s i c h t e n v o n s e i n e m M a l e r f r e u n d J o h a n n F i s c h b a c h ( 1 7 9 7 1 8 7 1 ) 7 9 ü b e r n o m m e n o d e r z u s a m m e n mit d i e s e m e n t w i c k e l t zu h a b e n , d e n n b e i d e M ä n n e r s t a n d e n o f f e n b a r in v i e l f ä l t i g e m A u s t a u s c h . Stifter kopierte Z e i c h n u n g e n Fischbachs und legte ihm seine eigenen Studien zur B e g u t a c h t u n g v o r ; g e m e i n s a m p l a n t e n S t i f t e r u n d F i s c h b a c h e i n e n A r t i k e l g e g e n „ e i n s e i t i g r e l i g i ö s e M a l e r e i " . 8 0 Vor a l l e m F i s c h b a c h s M a n i f e s t „ D i e K u n s t im S t a a t e " 8 1 s c h e i n t w e i t g e h e n d m i t S t i f t e r s k u l t u r p o l i t i s c h e n u n d p ä d a g o g i s c h e n A n s ä t z e n ü b e r e i n z u s t i m m e n : Für F i s c h b a c h ist K u n s t e i n „ G e s c h e n k d e s H i m m e l s " u n d z u g l e i c h „ n a t i o n a l e s I n t e r e s s e " , d e n n sie gilt i h m
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S W . Bd. 16, S. 178 ( D i e K u n s t s c h u l e ) ; vgl. a u c h S W . B d . 7, S. 35 ( N a c h s o m m e r ) . V g l . f e r n e r F r a n z K u g l e r (o. A n m . 6 2 ) , S. 2 1 5 . D a ß S t i f t e r j e d e r i h m b e k a n n t e n S t a a t s f o r m in p r a x i k r i t i s c h g e g e n ü b e r s t a n d , e n t h ü l l t sein A u f s a t z . D e r S t a a t ' ( S W . Bd. 16, S. 19ff ). P i a t o n : P o l i t e i a , B u c h II, III. In: d e r s . : W e r k e (o. A n m . 3 4 ) , B d . 4, S. 1 5 7 f f . , S. 2 2 7 f f . T h e o d o r R u i t : A d a l b e r t S t i f t e r - d e r E r z i e h e r . D i s s . K ö l n 1939. 3. A u f l . St. A u g u s t i n 1989; F i s c h e r (o. A n m . 12); H e n z (o. A n m . 10). Z . B . im . N a c h s o m m e r ' ( S W . B d . 7, S. 3 7 f . ) : „ D a s S c h l e c h t e , d a s s i c h D i c h t k u n s t n e n n t , ist d e r J u g e n d s e h r g e f ä h r l i c h . [...] W o es in R e i z e v e r h ü l l t ist u n d m i t R e i n e m g e m i s c h t , d o r t ist es a m b e d e n k l i c h s t e n , u n d d a m ü s s e n R a t h g e b e r u n d v ä t e r l i c h e F r e u n d e zu H i l f e s t e h e n , d a ß sie t h e i l s a u f k l ä r e n , theils v o n v o r n h e r e i n d i e A n n ä h e r u n g d e s U e b e l s a u f h a l t e n . " H i e r k ö n n t e e i n B u c h a u s S t i f t e r s S c h u l z e i t in K r e m s m ü n s t e r p r ä g e n d g e w i r k t h a b e n , J o h a n n M i c h a e l S a i l e r s . G l ü c k s e l i g k e i t s l e h r e ' ( M ü n c h e n . 2. A u f l . 1793; zit. bei E n z i n g e r [o. A n m . 2 2 ] , S. 2 8 3 ) . S a i l e r w a r n t e e i n d r i n g l i c h d a v o r , „ d e n M e n s c h e n o h n e W e h r u n d W a f f e n ( o h n e R a t u n d L e i t u n g ) d e m w i l d e n L e s e n zu ü b e r a n t w o r t e n " ( A u s g . F r a n k f u r t a . M . 1926, S. 2 4 1 ) . Z u r K a n t - R e z e p t i o n S a i l e r s v g l . R o g e r B a u e r : D e r I d e a l i s m u s u n d s e i n e G e g n e r in Ö s t e r r e i c h . H e i d e l b e r g 1966, S. 17f. Nikolaus Schaffer: J o h a n n Fischbach. Salzburg 1989 ( M o n o g r a p h i s c h e Reihe zur Salzb u r g e r K u n s t 11). V g l . a u c h P f e i f f e r (o. A n m . 9), S. 116f. N o v o t n y (o. A n m . 1), S. 2 2 . J o h a n n F i s c h b a c h : D i e K u n s t im S t a a t e . E i n e D e n k s c h r i f t , d e m h o h e n k a i s . k ö n . M i n i s t e r i u m d e s U n t e r r i c h t s e h r f u r c h t s v o l l ü b e r r e i c h t . [ W i e n 1849]. - F ü r s e i n e n H i n w e i s auf d i e s e S c h r i f t d a n k e ich S t e f a n S c h m i t t .
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als „wichtiges Bildungsmittel aller Menschen", sie bringe „ein schöneres Maß in unsere Gesittung". 8 2 Er beschreibt die auch von Stifter vertretene Wechselwirkung von Kiinstlertum und Staat 8 3 und leitet ebenfalls die Forderung nach dezentralen Zeichenschulen, Akademien mit individueller Betreuung der einzelnen „Talente" und staatlicher Alterssicherung von Künstlern daraus ab. 8 4 Dazu tritt ein weiterer Aufgabenbereich, der sich in Stifters Linzer Tätigkeit als Denkmalpfleger 3 5 niederschlagen und in seiner Dichtung spiegeln sollte: 8 6 Erhaltung und Pflege alter Kunstwerke. 8 7 Deren Wert wird nicht allein abstrakt beurteilt, 8 8 sondern als Mittel zur Geschmacksbildung, d. h. als Basis neuer Kunstschöpfungen, begriffen. 8 9 Hier formuliert Fischbach ein Anliegen seiner Zeit, das zur Öffnung ehemals fürstlicher Sammlungen und zur Einrichtung der großen Kunstgewerbemuseen im 19. Jahrhundert führte. 9 0 Für Stifter ist es noch die Privatsammlung des ästhetisch Gebildeten, die in seinen Erzählungen eine wesentliche Rolle spielt. 91 Sie dient jedoch dem gleichen Zweck wie die geforderten Museen: der Erziehung des Betrachters durch Kontemplation des Schönen und zugleich Sittlichen. In dieser Zielsetzung dürften auch die Wurzeln von Stifters Engagement für den Oberösterreichischen Kunstverein und dessen Ausstellungen zu suchen sein.
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F i s c h b a c h (o. A n m . 81), S. 5 f . E b d . , S. 2 6 : „ A b e r s o n o t h w e n d i g es ist, d a ß d e r S t a a t die v o r h a n d e n e n T a l e n t e in T h ä t i g k e i t setzt, e b e n so n o t h w e n d i g ist es a u c h , d a ß er d e m K ü n s t l e r e i n e S t e l l u n g im S t a a te g e b e , w e l c h e ihn ö f f e n t l i c h e h r t , u n d ihn in V e r b i n d u n g mit d e n A u s g e z e i c h n e t s t e n s e i n e r N a t i o n b r i n g t . - D a d u r c h w i r d er e i n e r s e i t s e i n e m m o r a l i s c h e n u n d e i n e m g e i s t i g e n H i n f l u s s e a u s g e s e t z t , w e l c h e w o h l t h ä t i g auf s e i n e T h a t k r a f t und W e l t a n s c h a u u n g w i r k e n w e r d e n , o h n e w e l c h e ihm d i e n ö t i g e E n e r g i e und E i n s i c h t f ü r g r ö ß e r e W e r k e f e h l e n . A n d e r e r s e i t s wird d e r K ü n s t l e r in o b e n b e s p r o c h e n e r S t e l l u n g w i e d e r w o h l t h ä t i g auf s e i n e U m g e b u n g z u r ü c k w i r k e n . I D e n n d e r w a h r e K ü n s t l e r e r w i r b t sich d u r c h s e i n e e r n s t e n , stillen S t u d i e n , d u r c h die A n s c h a u u n g d e r N a t u r u n d i h r e r e w i g e n G e s e t z e , e i n e I n n i g k e i t , e i n e E i n f a c h h e i t u n d M i l d e , d i e w o h l t h u e n d w i r k e n , w o er e r s c h e i n t ; u n d hat er e i n i g e r m a ß e n die M a c h t d e r S p r a c h e , so w e r d e n seine W o r t e m a n c h e n g u t e n S a m e n in d i e G e s e l l s c h a f t s t r e u e n , u n d m a n w i r d ihn u n d sein W i r k e n b e s s e r v e r s t e h e n . I N u r d u r c h d i e s e s g e g e n s e i t i g e E m p f a n g e n u n d G e b e n k ö n n e n d i e K ü n s t l e r u n d die K u n s t im S t a a t e d a s w e r d e n , w a s sie sein s o l l e n . " E b d . , S. 7 f f . , S. 2 5 f f . V g l . d a z u O t t o J u n g m a i r : A d a l b e r t S t i f t e r als D e n k m a l p f l e g e r . L i n z 1973 ( S c h r i f t e n r e i h e d e s A d a l b e r t S t i f t e r - I n s t i t u t e s d e s L a n d e s O b e r ö s t e r r e i c h 2 8 ) . A u c h auf den B e i t r a g v o n W i l f r i e d L i p p in d i e s e m B a n d sei v e r w i e s e n . V g l . u.a. d i e v i e l z i t i e r t e n E p i s o d e n im . N a c h s o m m e r ' ( S W . B d . 6, S. 3 0 9 f f . ; B d . 7, S. 3 4 4 f f . ) , in d e n e n S t i f t e r sein E n g a g e m e n t f ü r die R e s t a u r i e r u n g d e s K e f e r m a r k t e r A l tars v e r a r b e i t e t e . Z u r g e i s t e s g e s c h i c h t l i c h e n E i n b i n d u n g d i e s e r T ä t i g k e i t s i e h e S c h l a f f e r (o. A n m . 2 8 ) , S. 113f. F i s c h b a c h (o. A n m . 8 1 ) , S. 6, S. 16ff., S. 2 6 f f . V g l . s c h o n K u g l e r (o. A n m . 6 2 ) , S. 2 2 5 f f . Zu S t i f t e r s B e w e r t u n g d e r e i n z e l n e n S t i l e p o c h e n v g l . P f e i f f e r (o. A n m . 9). F i s c h b a c h (o. A n m . 8 1 ) , S. 16. V g l . d a z u SW. Bd. 6 , S. 9 7 f f . ( N a c h s o m m e r ) . D a z u a u s f ü h r l i c h K u g l e r (o. A n m . 6 2 ) , S. 211 ff. V g l . : D a s k u n s t - u n d k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e M u s e u m im 19. J a h r h u n d e r t . H r s g . v o n B e m w a r d D e n e k e u n d R a i n e r K a h s n i t z . M ü n c h e n 1977. Z . B . . N a c h s o m m e r ' (SW. B d . 6, S. 6 f f . u.a.).
.. Priester des Schönen "
89
Kunstbetrachtung und Kunstübung, zumindest deren Konzeption, sind für Stifter ideell verbunden. Im Vorfeld der eigentlichen Kunstübung liegen zwei weitere T ä t i g k e i t s b e r e i c h e , die Stifters künstlerischen Menschen mit Welt und G e s e l l s c h a f t verbinden: naturwissenschaftliche Studien und Kultivierung von Natur. Mehrere Künstlergestalten Stifters betätigen sich auch als Botaniker, G e o l o g e n und M e t e r e o l o g e n 9 2 und gelangen über die Betrachtung von Naturphänomenen zur Kunst. Von der B o t a n i k führt ein Weg über den Gartenbau, dem Stifter eingehende B e s c h r e i b u n g e n widmete, bis zur Landwirtschaft als B a s i s einer (agrarisch geprägten) Volkswirtschaft. Die Aufzucht von Pflanzen und die Entwicklung des M e n s c h e n sah Stifter als Parallelphänomene
an;93
beide folgen der gleichen G e s e t z m ä ß i g k e i t und dienen der gesellschaftlichen Entwicklung, deren kulturelle
Höhe am Verständnis des Schönen
sichtbar
wird. 9 4 Dieser E r z i e h u n g s m ö g l i c h k e i t
einen
öffentlichen
Rahmen
zu
verleihen,
war offenbar Stifters Anliegen in der geplanten, aber immer wieder verhinderten Vortragsreihe „über die Natur und Wesenheit des S c h ö n e n " . Er stieß hier an die Grenzen seiner g e s e l l s c h a f t l i c h e n Wirkungsmöglichkeit; sein Idealbild vom Künstler als bildendem „Wohlthäter der M e n s c h h e i t " war nicht in die Realität zu überführen. Das Unverstandensein des Künstlers durch seine Zeitgenossen ist im . N a c h s o m m e r ' Gegenstand eines längeren Gesprächs zwischen Heinrich und R i s a c h . 9 5 A u f die Frage Heinrichs, ob ein Künstler auch ein Werk schaffen solle, von dem er annehmen müsse, daß es unverstanden sei und bleibe, antwortet sein Mentor: „der Künstler macht sein Werk, wie die B l u m e blüht, sie blüht, wenn sie auch in der W ü s t e ist, und nie ein Auge auf sie fällt. Der wahre Künstler stellt sich die F r a g e gar nicht, o b sein Werk verstanden werden wird oder nicht. [...] E s sind D i e ß die Größten, welche ihrem Volke voran gehen, und auf einer Höhe der G e f ü h l e und Gedanken stehen, zu der sie ihre Welt erst durch ihre Werke führen müssen. Nach Jahrzehenden denkt und fühlt man, wie j e n e Künstler, und man begreift nicht, wie sie konnten mißverstanden werden. A b e r man hat durch diese Künstler erst so denken und fühlen gelernt. [...] Wenn nun der früher angegebene Fall möglich wäre, wenn es einen wahren Künstler gäbe, der zugleich wüßte, daß sein beabsichtigtes Werk nie verstanden werden würde, so würde er es doch machen, und wenn er es unterläßt, so ist er schon gar kein Künstler mehr, sondern ein M e n s c h , der an Dingen hängt, die außer der Kunst liegen. Hieher gehört auch j e n e rührende E r s c h e i n u n g , die von manchen
Menschen
so bitter getadelt
wird, daß Einer, dem recht leicht gangbare W e g e zur Verfügung ständen, sich
92
Z . B . die P r o t a g o n i s t e n in der . N a r r e n b u r g ' und im
93
D a z u H a n s I. U t z : D a s B i l d in der D i c h t u n g A d a l b e r t S t i f t e r s ( R e s u m é der u n g e d r u c k t e n Dissertation). In: V A S I L O 5 ( 1 9 5 6 ) , S. 8 0 - 8 8 .
94
V g l . o. A n m . 4 4 .
95
S W . Bd. 7, S. 3 5 2 f f .
.Nachsommer'.
90
Sibylle
Appuhn-Radtke
reichlich und a n g e n e h m zu n ä h r e n , j a zu Wohlstand zu g e l a n g e n , lieber in Arm u t h , N o t h , E n t b e h r u n g , H u n g e r und Elend lebt und immer Kunstbestreb u n g e n m a c h t , d i e ihm k e i n e n ä u ß e r e n Erfolg bringen und oft auch wirklich kein E r z e u g n i ß v o n nur e i n i g e m K u n s t w e r t h e sind. Er stirbt dann im Arm e n h a u s e o d e r als Bettler o d e r in einem Hause, wo er aus G n a d e n gehalten wurde."96 Die soziale V e r e i n z e l u n g des Künstlers wird hier geradezu zur Determ i n a n t e des S t i f t e r s c h e n K ü n s t l e r b i l d e s . Dieses n i m m t M ä r t y r e r - Z ü g e an, w e n n S t i f t e r an H e c k e n a s t schreibt: „Mein Gott, ich gäbe gerne mein Blut her, w e n n ich die M e n s c h h e i t mit e i n e m R u k e auf die Stufe sittlicher Schönheit h e b e n k ö n n t e , auf d e r ich sie w ü n s c h t e ! " 9 7 Der Priester ist also O p f e r seines A m t e s ; die l e i d e n s c h a f t s l o s „zu der g r ö ß t m ö g l i c h s t e n Reinheit und Vollkomm e n h e i t " 9 8 h e r a n g e b i l d e t e K ü n s t l e r p e r s ö n l i c h k e i t ist dem Verderben geweiht. Hier e r s c h e i n t b e d e n k e n s w e r t - zumindest in Bezug auf die D i s k r e p a n z von i d e a l e m A u f t r a g und realer B e s t i m m u n g - , was T h o m a s Mann von Stifters Erz ä h l w e i s e s c h r i e b , „ d a ß h i n t e r der stillen, innigen G e n a u i g k e i t [...] eine Neig u n g z u m E x z e s s i v e n , E l e m e n t a r - K a t a s t r o p h a l e n , P a t h o l o g i s c h e n wirksam ist". 9 9 S t i f t e r s K ü n s t l e r b i l d enthält o f f e n b a r beides: eine durch romantische I n n e r l i c h k e i t g e m i l d e r t e , „ m e n s c h l i c h e " Vernunft, die dem „ S a n f t e n G e s e t z " u n t e r w o r f e n ist, und eine d u r c h Kontakt mit der Wirklichkeit a u f b r e c h e n d e R a d i k a l i t ä t , die z u r Z e r s t ö r u n g des Werks und zum Ende aller künstlerischen T ä t i g k e i t f ü h r e n k a n n . Die scheinbare G e g e n s ä t z l i c h k e i t dieser Aspekte erscheint aber f o l g e r i c h t i g , w e n n m a n den A b s o l u t h e i t s a n s p r u c h , die Priesterrolle, des S t i f t e r s c h e n K ü n s t l e r s in Betracht zieht: Der Künstler dient dem Gott des S c h ö n e n , um d e s s e n S c h ö p f u n g s w e r k in „ W a h r h e i t " und „ W i r k l i c h k e i t " n a c h z u v o l l z i e h e n . D i e s e ins Ü b e r m e n s c h l i c h e zielende A u f g a b e trägt den K e i m des M i ß l i n g e n s in sich. Wenn der Künstler e r k e n n e n m u ß , daß seine S c h ö p f e r k r a f t zu g e r i n g ist, o p f e r t er Werk und Identität bis zur S e l b s t a u f g a be. Letztlich v e r m a g er nur so seinem hohen A u f t r a g zu g e n ü g e n .
Voraussetzungen von Stifters Künstlerbild Mit vielen d e r d a r g e l e g t e n A n s i c h t e n stand Stifter nicht allein; sie scheinen ein z e i t t y p i s c h e s Substrat zu bilden. 1 0 0 D e n n o c h lassen sich einzelne Zeit-
96
E b d . , S. 3 5 4 f . SW. Bd. 17, S. 3 2 3 (Brief v o m 6 . 3 . 1 8 4 9 ) . SW. B d . 16, S. 9 ( Ü b e r S t a n d u n d W ü r d e des S c h r i f t s t e l l e r s ) . 99 T h o m a s M a n n . R e d e n und A u f s ä t z e 3 ( G e s a m m e l t e W e r k e Bd. 11). F r a n k f u r t a . M . 1960, S. 2 3 7 . V g l . d a z u a u c h H a n s D i e t r i c h I r m s c h e r : A d a l b e r t Stifter. Stuttgart 1979, S. 18ff. 100 v g l . d i e o b e n z i t i e r t e n B e r ü h r u n g s p u n k t e mit R u n g e und W a l d m ü l l e r , Sulzer und K u g ler, d i e s i c h e r n u r e i n e n A u s s c h n i t t der m ö g l i c h e n B e z u g s p u n k t e S t i f t e r s bilden. W ü n s c h e n s w e r t w ä r e ein i n t e n s i v e r Vergleich mit d e n A k a d e m i e - L e h r b ü c h e r n bzw. den hier 97
98
„ Priester des Schönen "
91
genossen benennen, deren Schriften denjenigen Stifters in Bezug auf die genannten Aspekte besonders nahestehen. Wie oben dargelegt, stimmten Stifters Vorstellungen von den wechselseitigen Beziehungen zwischen Künstler und Gesellschaft im wesentlichen mit denen Johann Fischbachs überein; dagegen sind Stifters Ansichten über Kunst und Künstler offenbar von einem Mann geprägt, dessen universelle Bildung Stifters Künstlerideal nahekam: Carl Gustav Carus ( 1 7 8 9 - 1 8 6 9 ) . 1 0 1 Der Mediziner, Philosoph und Maler begann etwa zehn Jahre vor Stifter, auf geisteswissenschaftlichem Gebiet zu publizieren. Die ,Zehn Briefe über Landschaftsmalerei', 1 0 2 an denen Carus seit 1815 arbeitete, erschienen in gesammelter Form erstmals 1835; sie enthalten nicht nur eine Theorie der Landschaftmalerei (der „Erdlebenbilderkunst"), sondern auch allgemeinere kunsttheoretische Aussagen; diese werden allerdings nicht systematisch dargeboten, sondern sie sind über die einzelnen Briefe verstreut. Carus bezog in ihnen philosophisches Gedankengut des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ein, basierte in seiner Verschmelzung von Naturwissenschaft und Philosophie jedoch vor allem auf Schellings Naturphilosophie; 1 0 3 für den kunsttheoretischen Gehalt holte er sich Rat bei Goethe, mit dem er in Briefwechsel stand. 1 0 4 Auch wenn eine g e w i s s e Vergleichbarkeit von Carus' und Stifters Kunstanschauung zeitbedingt und durch eine g e m e i n s a m e Interessenlage bestimmt sein könnte, sind die Übereinstimmungen z.T. so frappierend, daß eine von
101
102
103 104
empfohlenen ästhetischen Schriften sowie der bürgerlichen Kunstliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; diese Werke könnten ein sehr viel u m f a s s e n d e r e s Bild vom Spektrum des allgemeinen ästhetischen Bildungsniveaus vermitteln als - mangels einer entsprechenden Untersuchung - derzeit zu gewinnen ist. Als (zufällige) Beispiele für die in Frage k o m m e n d e n Literaturgattungen seien genannt: Manasse Unger: Das Wesen der Malerei. [...] Ein Leitfaden für denkende Künstler und gebildete K u n s t f r e u n d e . Leipzig 1851; Friedrich Dittes: Das Aesthetische nach seinem e i g e n t h ü m l i c h e n G r u n d w e s e n und seiner pädagogischen Bedeutung dargestellt. Leipzig 1854; Adolf Zeising: Aesthetische Forschungen. F r a n k f u r t 1855. - Zur grundsätzlichen Problematik von „Originalität" vgl. das ausführliche Dilthey-Zitat bei Fischer (o. Anm. 12), S. 480f., A n m . 24. Bernhard Knauß: C. G. Carus. In: Neue deutsche Biographie Bd. 3. Berlin 1957, S. 1 6 1 163. Zu C a r u s ' Einfluß auf Stifters L a n d s c h a f t s m a l e r e i vgl. Karl M ö s e n e d e r s Beitrag in diesem Band, bes. S. 25, S. 38f. Carl Gustav Carus: Briefe und Aufsätze über L a n d s c h a f t s m a l e r e i . Hrsg. und mit einem Nachwort von Gertrud Heider. Leipzig/Weimar 1982 (Gustav K i e p e n h e u e r Bücherei 34). Dazu vgl. Elisabeth Stopp: Carus .Neun Briefe über die L a n d s c h a f t s m a l e r e i ' (1831). In: dies.: German romantics in context: selected essays 1971-86. London 1992, S. 1 4 0 - 1 6 2 . O b Stifter die . B r i e f e ' besaß, ist nicht mehr nachweisbar; C a r u s ' Buch über Goethe befand sich jedoch in seiner Bibliothek (Erwin Streitfeld: Aus Adalbert Stifters Bibliothek. Nach den Bücher- und Handschriften-Verzeichnissen in den Verlassenschaften von Adalbert und Amalie Stifter. In: Jahrbuch der R a a b e - G e s e l l s c h a f t 1977, S. I l l , Nr. 13). Heider (o. Anm. 102), S. 187f. Vgl. Goethes Brief an Carus vom 20.4.1822. In: Carus (o. Anm. 102), S. 9f. Nicht zugänglich war die Edition von Frank Kroschinsky/Matthias Schreiber: Der B r i e f w e c h s e l zwischen Carl Gustav Carus und Johann Wolfgang von Goethe in den Jahren von 1818 bis 1831. Eine erstmalige Vorstellung der G e s a m t k o r r s p o n d e n z . Diss. Med. Akad. Dresden 1992.
92
Sibylle Appuhn-Radlke
C a r u s u n a b h ä n g i g e A u s b i l d u n g v o n S t i f t e r s A n s ä t z e n nicht sehr w a h r s c h e i n lich ist. D a ß S t i f t e r C a r u s a n s c h e i n e n d nie e r w ä h n t hat ( w e s h a l b a u c h die Fors c h u n g e i n e s o l c h e B e z i e h u n g k a u m in B e t r a c h t z o g ) , 1 0 5 ist nicht e r s t a u n l i c h - e r s c h l i e ß t sich S t i f t e r s K u n s t t h e o r i e d o c h a u s l i t e r a r i s c h e n Q u e l l e n , auf die k e i n w i s s e n s c h a f t l i c h e s Z i t i e r s y s t e m A n w e n d u n g f a n d . N u r Text- u n d M o t i v vergleiche können nähere A u f s c h l ü s s e bringen: Ä h n l i c h w i e bei S t i f t e r ist d i e K u n s t f ü r C a r u s „Vermittlerin d e r R e l i g i o n " u n d N a c h s c h ö p f e r i n d e s K o s m o s : „[...] d i e Welt, wie sie g e f o r m t v o r u n s e r e n S i n n e n d a l i e g t , e r s t e h t u n t e r ihren H ä n d e n a u f s n e u e " . 1 0 6 S c h ö p f e r k r a f t k o m m t n u r d e r K u n s t z u , n i c h t d e r W i s s e n s c h a f t , 1 0 7 o b w o h l b e i d e n i c h t einz e l n zu d e n k e n s i n d : „ D i e D a r s t e l l u n g d e r W i s s e n s c h a f t k a n n (...) nie o h n e K u n s t ( o h n e k u n s t g e m ä ß e O r d n u n g d e r G e d a n k e n und W o r t e ) g e l i n g e n , und d i e E r z e u g u n g d e s K u n s t w e r k s h i n w i e d e r u m w i r d o h n e W i s s e n s c h a f t (das K ö n n e n ohne Kenntnis) u n m ö g l i c h bleiben."108 Hieraus folgt die Forderung n a c h d e r „ W a h r h e i t d e r D a r s t e l l u n g " , 1 0 9 die n i c h t i d e n t i s c h ist mit e i n e r bloßen Wiedergabe von Natur; C a r u s fordert seinen Leser auf, einen Lands c h a f t s a u s s c h n i t t im S p i e g e l zu b e t r a c h t e n und d a m i t ein g u t e s L a n d s c h a f t s g e m ä l d e zu v e r g l e i c h e n : L e t z t e r e s ist g e g e n ü b e r d e r o p t i s c h e n W i e d e r g a b e von N a t u r „ein G a n z e s , [...] e i n e k l e i n e Welt (ein M i k r o k o s m o s ) f ü r sich u n d in s i c h ; d a s S p i e g e l b i l d h i n g e g e n e r s c h e i n t e w i g n u r als ein S t ü c k , als ein Teil d e r u n e n d l i c h e n N a t u r , h e r a u s g e r i s s e n aus s e i n e n o r g a n i s c h e n V e r b i n d u n g e n u n d in w i d e r n a t ü r l i c h e S c h r a n k e n g e e n g t , und n i c h t , g l e i c h d e m K u n s t w e r k e als d i e in sich b e s c h l o s s e n e S c h ö p f u n g einer uns v e r w a n d t e n , v o n u n s zu u m f a s s e n d e n d e n g e i s t i g e n K r a f t , v i e l m e h r als ein T o n aus e i n e r u n e r m e ß l i c h e n H a r m o n i e " . 1 1 0 D i e s e r g l e i c h z e i t i g e i n g e s c h r ä n k t e 1 " und ü b e r h ö h t e B e g r i f f von der „Wahrheit" des K u n s t w e r k s kommt demjenigen Stifters112 außerordentlich nahe.
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112
D e r e r s t e ( u n d a n s c h e i n e n d e i n z i g e ) H i n w e i s auf V e r g l e i c h b a r k e i t e n in d e r K u n s t t h e o r i e S t i f t e r s u n d C a r u s ' f i n d e t s i c h bei Dell (o. A n m . 1), S. 33. F ü r die f r e u n d l i c h e M i t t e i l u n g d i e s e r S t e l l e d a n k e ich K a r l M ö s e n e d e r . C a r u s (o. A n m . 102), S. 19. V g l . d a z u J a c o b B ö h m e s A u f f a s s u n g v o n K u n s t als „ W e r k z e u g G o t t e s " ( M ö s e n e d e r [o. A n m . 27], S. 33ff.). C a r u s (o. A n m . 102), S. 14. E b d . , S. 25. Ebd. E b d . , S. 2 6 f . V g l . d a z u d e n v o n G ö t z M ü l l e r r e f e r i e r t e n S t a n d p u n k t J e a n P a u l s , „ d a ß die K u n s t die P a r t i k u l a r i t ä t d e s n a c h g e a h m t e n N a t u r a u s s c h n i t t s t o t a l i s i e r e n d ü b e r w i n d e t u n d d a m i t im K l e i n e n d e n G e i s t d e r g a n z e n N a t u r d a r s t e l l t " . ( G ö t z M ü l l e r : J e a n P a u l s Ä s thetik u n d N a t u r p h i l o s o p h i e . T ü b i n g e n 1983 [ S t u d i e n zur d e u t s c h e n L i t e r a t u r 7 3 ] , S. 5 9 ) . Ä h n l i c h w i e S t i f t e r v e r w e i s t C a r u s (o. A n m . 102, S. 2 6 ) d a r a u f , d a ß die M a t e r i a l i t ä t d e s K u n s t w e r k s d e s s e n „ W a h r h e i t " v o n s e l b s t b e s c h r ä n k e : „die f a r b i g e n S t r i c h e d e s P i n s e l s , bei w e l c h e n v o n N a t u r w a h r h e i t i m m e r n u r bis auf e i n e n g e w i s s e n G r a d d i e R e d e sein kann". V g l . o. S. 8 3 .
..Priester des
Schönen"
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Neben der „ W a h r h e i t " sind bei C a r u s „ S c h ö n h e i t und R e c h t " die Kriterien f ü r die „Klassizität e i n e s K u n s t w e r k e s " . " 3 Die D e f i n i t i o n von „ S c h ö n h e i t " , der er einen l ä n g e r e n Abschnitt w i d m e t , steht S t i f t e r s oft zitierter M a x i m e von Kunst als d e m „ G ö t t l i c h e n im G e w ä n d e des R e i z e s " " 4 nahe: C a r u s meint, „daß Schönheit nichts a n d e r e s sei als das, w o d u r c h die E m p f i n d u n g göttlichen Wesens in d e r Natur, das ist in der Welt s i n n l i c h e r E r s c h e i n u n g e n , erregt wird"."5 Dem K ü n s t l e r k o m m t daher eine ähnlich h i e r a t i s c h e Rolle zu wie bei Stifter: Er soll „in sich ein geheiligtes G e f ä ß e r b l i c k e n , w e l c h e s von allem Unreinen, G e m e i n e n und F r e c h e n frei und u n b e f l e c k t bleiben m u ß " ; " 6 zwar fällt der Ausdruck „ P r i e s t e r " nicht, a b e r „ E h r f u r c h t und A n d a c h t " werden sogar von einem K ü n s t l e r g e f o r d e r t , d e m ein „ e r s c h ö p f e n d e s E i n g e h e n in diese Mysterien" (der N a t u r g e s e t z e ) nicht g e g e b e n i s t . " 7 Aus der Vorstellung einer kulturellen E n t w i c k l u n g der M e n s c h h e i t von ant h r o p o z e n t r i s c h e r K u n s t e r f i n d u n g bis hin zu e i n e m idealen, von der Erkenntnis der W e s e n h a f t i g k e i t der D i n g e g e t r a g e n e n K u n s t v e r s t ä n d n i s " 8 folgt f ü r Carus e b e n s o wie f ü r Stifter die P r o p h e z e i u n g eines v o l l k o m m e n e n Künstlers, eines L a n d s c h a f t s m a l e r s , „von d e m ich n u r e r w a r t e , d a ß er einst k o m m e n wird; aber k o m m e n wird er sicher! E s werden einst L a n d s c h a f t e n höherer, bed e u t u n g s v o l l e r e r S c h ö n h e i t e n t s t e h e n , als sie C l a u d e und R u y s d a e l gemalt haben, und doch w e r d e n es reine N a t u r b i l d e r sein, aber es wird in ihnen die Natur, mit g e i s t i g e m A u g e e r s c h a u t , in h ö h e r e r W a h r h e i t e r s c h e i n e n , und die steigende Vollendung des T e c h n i s c h e n wird ihnen einen G l a n z verleihen, den f r ü h e r e Werke nicht h a b e n k o n n t e n . " " 9 Trotz dieser Z u k u n f t s g l ä u b i g k e i t , in der sich w e n i g e r eine m e s s i a n i s c h e E r w a r t u n g s h a l t u n g wie bei Stifter als v i e l m e h r der A n b r u c h des technischen Zeitalters zu d o k u m e n t i e r e n scheint, sieht auch C a r u s den W i d e r s p r u c h zwischen A n s p r u c h und W i r k l i c h k e i t d e s k ü n s t l e r i s c h e n D a s e i n s , das U n v e r s t a n densein des echten K ü n s t l e r s durch seine Z e i t g e n o s s e n : „[...] es ist wohl nicht zu leugnen, d a ß der Künstler, d e m es rechter Ernst ist, in A n s c h a u u n g des g r o ß e n , g e h e i m n i s v o l l e n E r d l e b e n s sich zu v e r s e n k e n und d i e s e A n s c h a u u n gen künstlerisch w i e d e r d a r z u b i l d e n , d a ß dieser gleich j e d e m , der sich mit höhern, dem Volke nicht z u g ä n g l i c h e n Dingen b e s c h ä f t i g t , g e w i s s e r m a ß e n sich absondert von der Welt, auf irdische Ehren und G ü t e r z u n ä c h s t Verzicht leisten müsse [...]. Wohl aber geht mit u n w i d e r l e g l i c h e r Wahrheit daraus hervor: E n t s a g u n g habe der K ü n s t l e r zu ü b e n , d e m L a n d s c h a f t s k u n s t im höhern Sinne
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Carus (o. Anm. 102), S. 13f. Vgl. o. S. 77. Carus (o. Anm. 102), S. 35. Ebd., S. 19. Ebd., S. 81. Ebd., S. 47ff. Ebd., S. 64.
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Sibylle
Appuhn-Raätke
am Herzen liegt, der, indem er sich u n b e k ü m m e r t hält um alles, was die unerz o g e n e große M e h r h e i t der M e n s c h e n will, nur vom H i n s t r e b e n nach göttlichen Ideen b e w e g t wird, dessen Reich, indem er eben die Welt als N a t u r mit liebevollen Blicken anschaut, doch nicht von dieser Welt sein k a n n . " 1 2 0 Die aus der „ E n t s a g u n g " ( g e g e n ü b e r weltlichen Gütern, nicht, wie bei Stifter, geg e n ü b e r der B e r u f u n g selbst) und „der Reizbarkeit des poetischen G e m ü t e s " resultierenden p s y c h i s c h e n „ W u n d e n " des Künstlers k ö n n e n zum M o v e n s von dessen K u n s t ä u ß e r u n g w e r d e n . 1 2 1 C a r u s hält die h i e r a u s e n t s t e h e n d e n „subj e k t i v e n " Werke, die vorrangig den A u s d r u c k von „ S e h n s u c h t " t r ü g e n , j e d o c h nicht f ü r gut; 1 2 2 hier hebt er sich v o n den R o m a n t i k e r n a b 1 2 1 und ist schon zu sehr Realist, um nicht das O b j e k t als „Kern der S a c h e " 1 2 4 zu fordern. Stimmt C a r u s in dieser Haltung mit Stifter überein, so weichen die K o n s e q u e n z e n , die der Künstler aus dem Zwiespalt z w i s c h e n A u f t r a g und Realität ziehen m u ß , deutlich von Stifters d e s p e r a t e r Folgerichtigkeit ab. C a r u s e m p fiehlt dem (noch) u n v e r s t a n d e n e n K ü n s t l e r g e d u l d i g e s A u s h a r r e n : „ M a g er so e i n f a c h und e n t s a g e n d auf r e i n e m , f r e i e m G e i s t e s w e g e nur eine Z e i t l a n g seiner Zeit v o r a u s s c h r e i t e n , er wird nicht i m m e r u n e r k a n n t bleiben, die Bessern werden ihn a u s z u f i n d e n wissen, sie werden ihm da das L e b e n e r l e i c h t e r n , w o er Erleichterung nur von andern erwarten k a n n . " 1 2 5 Mit e i n e m P r a g m a t i s m u s , der wohl aus seiner eigenen B i o g r a p h i e herrührt, legt C a r u s j u n g e n K ü n s t l e r n , die um ihre Existenz b a n g e n , Jean Paul zitierend, einen D o p p e l b e r u f nahe: Sie sollten neben ihrer Kunst noch eine W i s s e n s c h a f t b e t r e i b e n , denn „ d a s , was als Erzeugnis höchster, f r e i e r Geistestätigkeit erscheint, [müsse nicht] zugleich das Mittel sein [...], dem Künstler den Rock auf die Schultern und den Braten auf den Tisch zu e r w e r b e n " . 1 2 6 Bei aller (sozialerzieherisch motivierten) Praxisorientiertheit und der Verbindung von k ü n s t l e r i s c h e r und w i s s e n schaftlicher Tätigkeit, wie sie Stifter fordert, erscheint eine solche T r e n n u n g der L e b e n s b e r e i c h e in einen p r o f a n e n und einen p s e u d o s a k r a l e n R a u m f ü r Stifters K ü n s t l e r kaum vorstellbar; allein ein K u n s t l i e b h a b e r und S a m m l e r (wie z.B. Heinrich D r e n d o r f s Vater) kann neben seinen a n t i q u a r i s c h - k u n s t g e schichtlichen Interessen zugleich einen bürgerlichen Beruf a u s ü b e n . S t i f t e r s
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E b d . , S. 9 0 f . E b d . , S. 128. D i e v o n C a r u s a u f g e f ü h r t e n B e i s p i e l e ( „ L e i c h e n s t e i n e und A b e n d r ö t e n , e i n g e s t ü r z t e A b t e i e n u n d M o n d s c h e i n e , d i e N e b e l u n d W i n t e r b i l d e r " ) lassen v e r m u t e n , d a ß e r s i c h h i e r a u f r o m a n t i s c h e L a n d s c h a f t e n in d e r Art d e s C a s p a r D a v i d F r i e d r i c h b e z o g . Von F r i e d r i c h s K u n s t a u f f a s s u n g t r e n n t C a r u s - trotz, s e i n e r F r e u n d s c h a f t mit F r i e d r i c h u n d d e r A n n ä h e r u n g s e i n e r M a l w e i s e an d e s s e n Stil - das I n t e r e s s e an d e r „ O b j e k t i v i t ä t " . V g l . d a z u H e i d e r (o. A n m . 102), S. 195f. Z u r L a n d s c h a f t als S t i m m u n g s b i l d d e s K ü n s t l e r s bei T i e c k vgl. T r a e g e r (o. A n m . 6 9 ) , S. 38f. C a r u s (o. A n m . 102), S. 129. E b d . , S. 9 1 . E b d . , S. 95.
..Priester des Schönen "
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Künstlern im e i g e n t l i c h e n S i n n e k o m m t dieser Weg nicht zu; materielle Sorgen sollen ihnen von der G e s e l l s c h a f t , deren kulturelle F ü h r u n g s s c h i c h t sie bilden, a b g e n o m m e n w e r d e n . Hier w e i c h e n Stifters und C a r u s ' Künstlerbild bei aller sonstigen V e r g l e i c h b a r k e i t - v o n e i n a n d e r ab. F o l g e n d e r S c h l u ß drängt sich auf: Auf der Basis von C a r u s ' K u n s t t h e o r i e errichtete S t i f t e r ein von ü b e r m e n s c h l i c h e m A n s p r u c h g e p r ä g t e s Idealbild des Künstlers. In d e r t h e o r e t i s c h e n K o n f r o n t a t i o n dieses Bildes mit der Realität zeigte sich S t i f t e r - a n d e r s als in seiner B i o g r a p h i e - nicht zu p r a g m a t i s c h e n Lösungen bereit. S t i f t e r s „ P r i e s t e r des S c h ö n e n " sind zum Mißlingen verurteilt, so d a ß S t i f t e r s c h e s K ü n s t l e r t u m letztlich zu dessen Negation f ü h r e n mußte. O b v e r g l e i c h b a r k o m p r o m i ß l o s d e n k e n d e und h a n d e l n d e Künstler des 19. und 20. J a h r h u n d e r t s , wie z.B. Vincent van G o g h 1 2 7 und Wassilij K a n d i n sky. Stifters T h e o r i e a u f n a h m e n o d e r o b sie aus e i g e n e m Erleben zu ähnlichen Ergebnissen gelangten, wäre G e g e n s t a n d einer rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung.
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Vgl. den H i n w e i s bei N o v o t n y (o. A n m . 1), S. 44.
Johann Lachinger
Adalbert Stifter - Natur-Anschauungen Zwischen Faszination und Reflexion
Es wirkt wie eine Z u s a m m e n f a s s u n g von Stifters N a t u r a n s c h a u u n g e n , w e n n er seiner E r z ä h l u n g s s a m m l u n g , B u n t e Steine' 1852 zwei verschiedene Vorworte voranstellt: die b e r ü h m t e .Vorrede' mit ihrem n a t u r p h i l o s o p h i s c h e n Inhalt und eine . E i n l e i t u n g ' , die den u r s p r ü n g l i c h e n , k i n d h a f t e n Z u g a n g zur E r l e b n i s w e l t der Natur vorstellt. Faszination und R e f l e x i o n e r w e i s e n sich als die leitenden Impulse d e r Stifterschen N a t u r b e g e g n u n g - sie sind die erlebnis- und b i l d u n g s m ä ß i g e n Ausg a n g s b e d i n g u n g e n seiner künstlerischen N a t u r b i l d e r in den E r z ä h l u n g e n der . S t u d i e n ' und .Bunten Steine' bis zum . N a c h s o m m e r ' , die ihn zum D i c h t e r der Natur par e x c e l l e n c e werden ließen. Die u r s p r ü n g l i c h e Absicht S t i f t e r s , die .Bunten Steine' als E r z ä h l u n g e n f ü r K i n d e r zu k o n z i p i e r e n , spiegelt sich in der a u t o b i o g r a p h i s c h e n K i n d h e i t s e r i n nerung der . E i n l e i t u n g ' wider, w o d e r naive A n s c h a u u n g s t r i e b , die Faszination des scheinbar U n b e d e u t e n d e n , allenthalben Vorfindlichen, wie P f l a n z e n , Z w e i g e , Steine, Erden, zum H a u p t s ä c h l i c h e n der kindlichen Psyche wird. Beispielhaft d a f ü r seien einige Sätze dieser . E i n l e i t u n g ' zitiert: „Als K n a b e trug ich außer R u t h e n , G e s t r ä u c h e n und Blüthen, die m i c h ergözten, auch noch andere Dinge nach Hause, die mich fast noch m e h r f r e u t e n , weil sie nicht so schnell Farbe und Bestand verloren wie die P f l a n z e n , n e h m lich allerlei Steine und E r d d i n g e . " 1 Er schreibt dann, daß er von d i e s e n Dingen regelrechte S a m m l u n g e n a n l e g t e und daß er ganz in „ V e r w u n d e r u n g " geriet, „wenn es auf einem Steine so g e h e i m n i ß v o l l glänzte und leuchtete und äugelte, daß m a n es gar nicht e r g r ü n d e n k o n n t e , w o h e r denn das k ä m e " . 2 A b e r schon die n a c h f o l g e n d e n E r z ä h l u n g e n der , B u n t e n Steine' zeigen ein a n d e r e s Verwundertsein über das . G e h e i m n i s v o l l e ' der N a t u r d i n g e : die K i n d e r e r l e b e n in diesen E r z ä h l u n g e n die s c h r e c k l i c h e Seite der schönen Natur in l e b e n s b e d r o h e n d e n A u s b r ü c h e n des K a t a s t r o p h a l e n : in . K a l k s t e i n ' G e w i t t e r und Übers c h w e m m u n g , in , K a t z e n s i l b e r ' v e r n i c h t e n d e s H a g e l u n w e t t e r und z e r s t ö r e n d e F e u e r s b r u n s t , in ,Bergkristall' die S c h n e e h ö l l e des Hochgebirges, j a selbst das
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WuB. Bd. 2.2, S. 17. Ebd., S. 18.
Adalbert Stifter -
Natur-Anschauungen
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kindliche S a m m e l n der h a r m l o s e n N a t u r d i n g e kann fatale, s c h m e r z l i c h e Folgen haben wie in der E r z ä h l u n g . G r a n i t ' , w o die Mutter das unschuldig den Boden mit Pechöl b e s c h m u t z e n d e Kind mit just den Ruten und Z w e i g e n züchtigt, die der K n a b e in seiner naiven S a m m e l l e i d e n s c h a f t nach Hause getragen hat. Nur die E r z ä h l u n g des G r o ß v a t e r s von einem noch viel v e r h e e r e n d e r e n Unglück - der Pest - mildert den tiefen k i n d l i c h e n S c h m e r z . Schon dem Kind also erscheint bei Stifter die Natur als a m b i v a l e n t und rätselhaft, sie ist keine Idylle. D e m kindlichen Verwundertsein o b der u n e r g r ü n d l i c h e n G e h e i m n i s s e des kindlich A n g e s c h a u t e n in der . E i n l e i t u n g ' steht in der .Vorrede' zu den .Bunten S t e i n e n ' das Staunen des N a t u r w i s s e n s c h a f t l e r s vor der rational erkannten G e s e t z m ä ß i g k e i t der mikro- und m a k r o k o s m i s c h e n Natur g e g e n ü b e r : D a s Kleine erweist sich im Lichte der W i s s e n s c h a f t als e b e n s o wesentlich wie das a u f f ä l l i g e G r o ß e in den N a t u r p h ä n o m e n e n , j a das auffällige G r o ß e von Elem e n t a r k a t a s t r o p h e n , wie „das prächtig e i n h e r z i e h e n d e Gewitter, de[r] Bliz, welcher H ä u s e r spaltet, de[r] Sturm, der die B r a n d u n g treibt, de[r] f e u e r s p e i ende Berg, das E r d b e b e n , w e l c h e s L ä n d e r v e r s c h ü t t e t " , 3 sind global gesehen nur E i n z e l e r s c h e i n u n g e n u m f a s s e n d w i r k e n d e r N a t u r k r ä f t e , deren stetiges Wirken Stifter das „ W e l t e r h a l t e n d e " n e n n t , in d e m sich das „ s a n f t e G e s e t z " manifestiert. Die kindliche V e r w u n d e r u n g über das U n e r k l ä r l i c h e weicht im naturwiss e n s c h a f t l i c h e n Erkenntnis- und V e r s t ä n d n i s p r o z e ß einem neuen, anders gearteten Staunen vor der u n e r m e ß l i c h e n O r d n u n g und K o m p l e x i t ä t des naturgesetzlichen W e l t z u s a m m e n h a n g e s . Kindheit und die M e n s c h h c i t s p c r i o d e n vor der n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n A u f k l ä r u n g m i t e i n a n d e r in B e z i e h u n g s e t z e n d , sagt Stifter: „ D a die M e n s c h e n in der Kindheit waren, ihr geistiges A u g e von d e r W i s s e n s c h a f t noch nicht berührt war, w u r d e n sie von d e m N a h e s t e h e n d e n und A u f f ä l l i g e n e r g r i f f e n , und zu Furcht und B e w u n d e r u n g h i n g e r i s s e n : aber als ihr Sinn g e ö f f n e t wurde, da der Blik sich auf den Z u s a m m e n h a n g zu richten b e g a n n , so sanken die einzelnen E r s c h e i n u n g e n immer tiefer, und es e r h o b sich das G e s e z i m m e r höher, die W u n d e r b a r k e i t e n hörten auf, das W u n d e r n a h m zu." 4 Weil aber a u c h in Stifters Sicht d i e Natur trotz der s y s t e m a t i s c h e n Erf o r s c h u n g ihrer G e s e t z m ä ß i g k e i t e n in vielem r ä t s e l h a f t bleibt - denn nur einzelne Z u s a m m e n h ä n g e sind durch die erst im A n f a n g stehende W i s s e n s c h a f t e r k l ä r b a r - , e r g e b e n sich S p i e l r ä u m e f ü r A h n u n g e n und f ü r p h i l o s o p h i s c h e und poetische S i n n k o n s t r u k t i o n e n . Im g a n z e n aber sieht Stifter im Sinne einer christlich und zugleich a u f k l ä r e r i s c h interpretierten K o s m o l o g i e trotz aller
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Ebd., S. 10. Ebd., S. 11 f.
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Johann
Lachinger
Rätsel, j a W i d e r s p r ü c h e , die sich d e m m e n s c h l i c h e n Verstand darstellen, die Welt als v e r n ü n f t i g e S c h ö p f u n g und das irdische Dasein als ethische A u f g a b e des M e n s c h e n , L e b e n und U m w e l t h u m a n zu gestalten. An diesem christlicha u f k l ä r e r i s c h e n W e l t e r k l ä r u n g s m o d e l l hat S t i f t e r festgehalten auch a n g e s i c h t s der seit der A u f k l ä r u n g a u f s t r e b e n d e n areligiösen W e l t e r k l ä r u n g s m o d e l l e des M a t e r i a l i s m u s und des s k e p t i z i s t i s c h - p e s s i m i s t i s c h e n N i h i l i s m u s und angesichts einer N a t u r w i s s e n s c h a f t , d i e sich m e h r und m e h r von der M e t a p h y s i k v e r a b s c h i e d e t e und sich in den reinen P o s i t i v i s m u s z u r ü c k z o g . Trotz dieser optimistischen w e l t a n s c h a u l i c h e n G e s a m t p e r s p e k t i v e bleibt die Natur ein f a s z i n i e r e n d e s Rätsel - in ihrer i m m e n s e n Schönheit und zugleich in dem W i d e r s p r u c h , d a ß sie als v e r n i c h t e n d e , katastrophale G e w a l t wirken kann, die d e m M e n s c h e n i n k o m m e n s u r a b e l ist. Angst und S c h r e c k e n m i s c h e n sich in die B e w u n d e r u n g d e r N a t u r k r ä f t e , die auf dem u n g e h e u r e n Schauplatz gelassen wirken und denen der M e n s c h fast o h n m ä c h t i g ausgeliefert ist. Stifter thematisiert diese D o p p e l p e r s p e k t i v e und A m b i v a l e n z der N a t u r als heil- und u n h e i l b r i n g e n d e Macht in seinen E r z ä h l u n g e n wiederholt. Die beiden Vorworte zu den . B u n t e n S t e i n e n ' u m s p a n n e n den Weg, den Stifter vom n a t u r h a f t e n zum n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Weltbild in s e i n e m Werd e · und B i l d u n g s g a n g selbst b e s c h r i t t e n hat: Wesentliche E l e m e n t e zur Form u n g von Stifters N a t u r d e n k e n und N a t u r a n s c h a u u n g wurden die k i n d l i c h e Erlebniswelt im B ö h m e r w a l d , die - auch n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h a k z e n t u i e r t e B i l d u n g im G y m n a s i u m der B e n e d i k t i n e r in K r e m s m ü n s t e r , seine n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Studien an der Universität W i e n , an die sich seine H a u s l e h r e r tätigkeit in Wiener A d e l s f a m i l i e n a n s c h l o ß . A u s g a n g s p u n k t war das Erleben d e r h e i m a t l i c h e n B ö h m e r w a l d l a n d s c h a f t , wo sich dem Kind die Natur in ihrer u n m i t t e l b a r e n A n s c h a u l i c h k e i t , Vielfalt und Lebendigkeit als s e l b s t v e r s t ä n d l i c h e r L e b e n s r a u m darbot. Als K i n d aber schon stellte er an die Eltern die Frage nach dem „Grund aller Dinge, die uns u m g a b e n " , 5 so d a ß seine Eltern g a r m a n c h m a l um die A n t w o r t in Verlegenheit gerieten, und eines seiner L i e b l i n g s b ü c h e r war das N a t u r g e s c h i c h t e - B u c h in der Volksschule. Vertraut wurde er mit den v o l k s t ü m l i c h e n m y t h i s c h e n Naturbildern, die ihm seine G r o ß m u t t e r U r s u l a Kary e i n p f l a n z t e und die er sich bew a h r t e als Gut seiner poetischen P h a n t a s i e . Angst in der Natur erlebte er intensiv, vor allem vor G e w i t t e r n , und wie er selbst sagte, b e s c h r i e b er in seinen ersten kindlichen , , S c h r i f t s t e l l e r v e r s u c h e [ n ] [...] stets D o n n e r w e t t e r " . 6 Den h e i m a t l i c h e n R a u m und die n a t u r b e l a s s e n e U m w e l t seiner Kindheit, b e s c h r i e ben aus der P e r s p e k t i v e der k i n d l i c h e n P h a n t a s i e , v e r g e g e n w ä r t i g t e S t i f t e r aus
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SW. Bd. 22, S. 179. Ebd.
Adalbert
Stifter -
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der Distanz . e n t f r e m d e t e n ' städtischen Daseins in Erzählungen wie .Das Haided o r f ' und später in . G r a n i t ' und . K a t z e n s i l b e r ' und in S c h i l d e r u n g e n wie in der B e s c h r e i b u n g der K a r w o c h e im h e i m a t l i c h e n O b e r p l a n in .Wien und die W i e n e r ' , die den Horizont der kindlichen N a t u r b e g e g n u n g in fast autobiographischer Authentizität n a c h v o l l z i e h e n . Der Wechsel nach K r e m s m ü n s t e r , zum G y m n a s i a l s t u d i u m , bedeutete kein e s w e g s einen abrupten Bruch in der E n t w i c k l u n g s l i n i e seiner Naturans c h a u u n g , vielmehr schien sich dort das g e h e i m e B e d ü r f n i s einer rationalen S y s t e m a t i s i e r u n g des bisher naiv A n g e s c h a u t e n der Natur zu e r f ü l l e n . Insgesamt bedeutete das Leben im g e h o b e n e n kulturellen und w i s s e n s c h a f t l i c h e n Bereich des ländlichen Klosters eine S t e i g e r u n g der primären Lebenswelt der Kindheit. Das in der b e s c h e i d e n e n h e i m a t l i c h e n Sphäre Erlebte fand er hier wieder in einer eindrucksvoll vergrößerten D i m e n s i o n . Die im großartigen Stift mit seinen künstlerischen und w i s s e n s c h a f t l i c h e n Einrichtungen repräsentierte Universalität der christlichen W e l t a n s c h a u u n g , die sich auch auf den Bereich der N a t u r w i s s e n s c h a f t e n erstreckte, übte eine existentielle Ü b e r z e u g u n g s k r a f t aus, so daß ihre G r u n d l e g u n g e n auch später in Stifters D e n k e n und Schreiben relevant blieben. Der n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e Unterricht, der die Err u n g e n s c h a f t e n der A u f k l ä r u n g nach der L e i b n i z - W o l f f s c h e n Philosophie einbezog, 7 bot mit der Verbindung von Rationalismus und christlicher S c h ö p f u n g s lehre eine K o s m o l o g i e , die als s u m m a r i s c h e s W e l t e r k l ä r u n g s m o d e l l - theoretisch z u m i n d e s t e n s - die p r o b l e m a t i s c h e A n t i n o m i e von Vernunft und G l a u b e n noch zu versöhnen verstand. S i c h t b a r e s D e m o n s t r a t i o n s m o d e l l dieser K o s m o logie war in K r e m s m ü n s t e r d e r „ M a t h e m a t i s c h e T u r m " , die Sternwarte, in dem der Stufenbau der S c h ö p f u n g s y m b o l i s c h und zugleich empirisch in Erscheinung trat. Wenn Stifter die K r e m s m ü n s t e r e r Jahre später wiederholt als seine glücklichsten Jahre bezeichnet hat und die dort vermittelten Kultur- und Naturans c h a u u n g e n zum F u n d a m e n t seiner B i l d u n g s i d e e n wurden, wie sie speziell im B i l d u n g s r o m a n ,Der N a c h s o m m e r ' gestaltet e r s c h e i n e n , wird deutlich, daß hier wesentliche Z ü g e seines W e l t v e r s t ä n d n i s s e s p r ä f o r m i e r t w u r d e n . Die f o l g e n d e n z w e i u n d z w a n z i g J a h r e in Wien sind g e k e n n z e i c h n e t von einem k r i s e n h a f t e n R e i f u n g s p r o z e ß , der als m a r k a n t e O r i e n t i e r u n g s l o s i g k e i t im geistigen Freiraum des G r o ß s t a d t l e b e n s einsetzt. U n s c h l ü s s i g , was sein Lebensziel sein könnte, studierte er z u n ä c h s t R e c h t s w i s s e n s c h a f t e n . In der Überz e u g u n g , daß seinem k ü n s t l e r i s c h e n Naturell mit d e m starken Hang zur Natur der Beruf eines B e a m t e n nicht g e m ä ß sei, w e c h s e l t e er - im eigentlichen g a n z Künstler - über zum S t u d i u m der N a t u r w i s s e n s c h a f t e n . Die S i c h e r u n g e n aber,
7
Vgl. Moriz E n z i n g e r : A d a l b e r t S. 6 4 f .
S t i f t e r s S t u d i e n j a h r e . Innsbruck
1950, S. 5 4 f f . , bes.
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die K r e m s m ü n s t e r g e g e b e n h a t t e n , scheinen in dem neuen intellektuellen Milieu auf die P r o b e , w e n n nicht in Frage gestellt worden zu sein. Z w a r hatte er in den n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Studien gute Fortschritte gemacht - die Aussichten auf eine P r o f e s s u r f ü r Physik gar in Prag belegen dies - , doch hatte die w e l t a n s c h a u l i c h e S i c h e r u n g d u r c h die I n d i f f e r e n z der W i s s e n s c h a f t wahrs c h e i n l i c h d o c h e i n e g e w i s s e Relativierung e r f a h r e n . Die W i d e r s p r ü c h e von T h e o r i e und E r f a h r u n g im H i n b l i c k auf die Gültigkeit des h a r m o n i s i e r e n d e n Weltbildes d e r L e i b n i z - W o l f f s c h e n A u f k l ä r u n g s p h i l o s o p h i e scheinen sich gem e l d e t zu h a b e n . A u s dieser Situation h e r a u s entstanden die ersten literarischen Werke, in d e n e n e l e m e n t a r e B e d r o h u n g e n durch die N a t u r thematisiert werden, Bedroh u n g e n , die E r d e und M e n s c h als der U n e n d l i c h k e i t ausgesetzte oder durch u n v e r f ü g b a r e irdische N a t u r k r ä f t e determinierte Wesen erscheinen lassen: Das „ k o s m i s c h e E r s c h r e c k e n " 8 ist eines der H a u p t p h ä n o m e n e in der E r z ä h l u n g , D e r C o n d o r ' , die von e i n e r Expedition hinaus an die Grenzen des irdischen R a u m e s h a n d e l t , und in der S c h i l d e r u n g der S o n n e n f i n s t e r n i s (,Die S o n n e n f i n s t e r n i ß am 8. Juli 1 8 4 2 ' ) , deren E r l e b e n s g e w a l t das Kalkül der rationalen B e r e c h e n b a r k e i t a u ß e r K r a f t setzt. Die Machtlosigkeit angesichts der Unverf ü g b a r k e i t des u n v o r s t e l l b a r weiten Weltraums und der Zeit im Hinblick auf E n d l i c h k e i t und Tod (in ,Ein G a n g durch die K a t a k o m b e n ' in .Wien und die W i e n e r ' ) sind G r e n z e r f a h r u n g e n , auf die der M e n s c h keine rationale A n t w o r t w e i ß als die des G l a u b e n s o d e r der Absurdität. Im b e k l e m m e n d e n Text über die Totenstadt in d e n K a t a k o m b e n unter St. Stephan stehen die b e d r ä n g e n d e n Sätze: „ A c h ! w e l c h eine f u r c h t b a r e , eine u n g e h e u r e Gewalt m u ß es sein, der wir dahin g e g e b e n sind, d a ß sie über uns v e r f ü g e — und wie r i e s e n h a f t , all unser D e n k e n v e r n i c h t e n d , m u ß Plan und Z w e c k dieser Gewalt sein, d a ß vor ihr m i l l i o n e n f a c h ein K u n s t w e r k zu G r u n d e geht, das sie selber mit solcher L i e b e baute, und z w a r g l e i c h g ü l t i g zu G r u n d e geht, als wäre es eben nichts! O d e r gefällt sich j e n e M a c h t darin, im öden K r e i s l a u f e immer dasselbe zu erz e u g e n , und zu z e r s t ö r e n ? - es wäre gräßlich absurd! - Mitten im R e i c h e der ü p p i g s t e n Z e r s t ö r u n g d u r c h f l o g mich ein Funke der innigsten Unsterblichkeitsüberzeugung."9 Die A b g r ü n d e sind o f f e n b a r , denen der M e n s c h ausgeliefert ist und die er mit s e i n e m g e i s t i g e n V e r m ö g e n irgendwie zu bestehen hat. Stifter rettet sich a u s den W i d e r s p r ü c h e n und A b g r ü n d e n mit den I n s t r u m e n t e n der Vernunft und d e r aus ihr h e r g e l e i t e t e n Praxis der B e w ä l t i g u n g in der Kultivierung der v e r f ü g b a r e n N a t u r und d e r E r k e n n t n i s der G e s e t z e des U n v e r f ü g b a r e n .
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W i l l i a m H. R e y : d a s k o s m i s c h e E r s c h r e c k e n in S t i f t e r s F r ü h w e r k . In: Die S a m m l u n g 8 ( 1 9 5 2 ) , S. 6 - 1 3 . SW. Bd. 15, S. 6 0 f .
Adalbert Stifter -
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Die w i s s e n s c h a f t l i c h e A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit d e r N a t u r v e r m i t t e l t e also zwar ein v e r t i e f t e s Wissen um die O r d n u n g d e r „ D i n g e , die uns u m g a b e n " , und leitete an zu s e l b s t ä n d i g e m f o r s c h e n d e m B e o b a c h t e n - F ä h i g k e i t e n und E r r u n g e n s c h a f t e n , die Stifter dann in seinen D i c h t u n g e n ä s t h e t i s c h genial umzusetzen v e r m o c h t e - ; die W i s s e n s c h a f t ließ aber w e s e n t l i c h e p h i l o s o p h i s c h e und existentielle S i n n f r a g e n o f f e n . S o war z w a r das E r k e n n t n i s i n t e r e s s e geschärft, v e r s c h ä r f t aber wurden z u g l e i c h die P r o b l e m s t e l l u n g e n h i n s i c h t l i c h der rationalen Verstehbarkeit der Natur. Die E r f a h r u n g , d a ß e l e m e n t a r e N a t u r k r ä f t e s c h i c k s a l h a f t e i n g r e i f e n - f ö r d e r n d und z e r s t ö r e n d - , die o f f e n b a r e o d e r scheinbare I n d i f f e r e n z der Natur dem M e n s c h e n g e g e n ü b e r w u r d e n für S t i f t e r zu b o h r e n d e n S i n n f r a g e n . In den E r z ä h l u n g e n der . S t u d i e n ' hat Stifter diese Problematik m i t t h e m a t i s i e r t und in e i n e m Fall, in . A b d i a s ' , explizit erörtert. In den Werken der Linzer Jahre folgte dann eine K l ä r u n g und A b k l ä r u n g wie wir g e s e h e n h a b e n , in der .Vorrede' zu den . B u n t e n S t e i n e n ' und im R o man von der g e o r d n e t e n , g e z ä h m t e n Natur, im . N a c h s o m m e r ' , in d e m nicht so sehr eine Rolle spielt, wie die Natur in das L e b e n des M e n s c h e n b e s t i m m e n d eingreift, s o n d e r n wie der Mensch b e h u t s a m k u l t i v i e r e n d , aber somit e b e n s o b e s t i m m e n d in die N a t u r e i n g r e i f t . Am Beispiel der . G e w i t t e r - T h e m a t i k ' bei Stifter seien e i n i g e A s p e k t e der erörterten P r o b l e m s t e l l u n g skizziert. Von der e r h a b e n e n und s c h r e c k l i c h - s c h a u r i g e n S c h ö n h e i t und Urgewalt des G e w i t t e r s war S t i f t e r fasziniert - wie schon g e s a g t , b e s c h r i e b er als s c h r i f t stellerischer A n f ä n g e r „stets D o n n e r w e t t e r " , und G e w i t t e r s z e n e n spielen in den E r z ä h l u n g e n . A b d i a s ' , ,Die N a r r e n b u r g ' , . D e r H a g e s t o l z ' , in . K a l k s t e i n ' , , K a t z e n s i l b e r ' und im R o m a n ,Der N a c h s o m m e r ' und auch in m a n c h e n Briefen eine w i c h t i g e Rolle. In der E r z ä h l u n g , A b d i a s ' , in der Stifter in der E i n l e i t u n g v o m v e r n u n f t o p t i m i s t i s c h e n P r i n z i p der einstigen E r k e n n b a r k e i t aller Z u s a m m e n h ä n g e in der E r k e n n t n i s d e r ,heitre[n] B l u m e n k e t t e " , der „ K e t t e d e r U r s a c h e n und Wirk u n g e n " 1 0 spricht, spielt die N a t u r k r a f t des G e w i t t e r s im S c h i c k s a l des J u d e n A b d i a s eine s c h e i n b a r fatale Rolle. N ä m l i c h : ein B l i t z s c h l a g stiftet das Leb e n s g l ü c k des v o m U n g l ü c k v e r f o l g t e n Vaters, i n d e m er seiner blinden Tochter das A u g e n l i c h t gibt; einige Jahre später aber wird das M ä d c h e n d u r c h einen Blitzschlag getötet, das L e b e n s g l ü c k des alten Vaters ist e n d g ü l t i g vernichtet, er verfällt in W a h n s i n n . Die u n b e g r e i f l i c h e n S c h i c k s a l s s c h l ä g e b l e i b e n den M e n s c h e n r ä t s e l h a f t , die I n d i f f e r e n z der N a t u r g e g e n ü b e r d e m M e n s c h e n scheint in . A b d i a s ' demonstrativ b e w i e s e n . Die W i r k u n g e n d e s Blitzes stellt S t i f t e r als a m b i v a l e n t
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WuB. Bd. 1.5, S. 238.
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dar, auch f ü r die U m g e b u n g des Abdias: Vom ersten Blitzschlag, der dem Kind das A u g e n l i c h t geschenkt hat, heißt es: „ D a s s e l b e Gewitter, w e l c h e s Ditha s e h e n d g e m a c h t hatte, hatte ihm mit Hagel das H a u s d a c h und seinen N a c h b a r n die Ernte z e r s c h l a g e n " . " Beim tödlichen zweiten Blitzschlag sind die W i r k u n g e n auf die U m g e b u n g u m g e k e h r t : „Das Gewitter, w e l c h e s dem K i n d e mit seiner w e i c h e n F l a m m e das Leben von d e m Haupte g e k ü ß t hatte, s c h ü t t e t e an d e m Tage noch auf alle Wesen reichlichen Segen h e r a b , und hatte, wie j e n e s , d a s ihr das A u g e n l i c h t g e g e b e n , mit einem schönen R e g e n b o g e n im weiten M o r g e n g e s c h l o s s e n . " 1 2 Stifter stellt die W i r k u n g der Naturereignisse auf die B e t r o f f e n e n als unerklärliche Rätsel dar. Am Beispiel eines weiteren, kleinen „ B l i t z w u n d e r s " in , A b d i a s ' , n ä m l i c h d a ß beim Blitzschlag der im K ä f i g s i t z e n d e Vogel heil bleibt - die W i r k u n g des „ F a r a d a y - K ä f i g s " , die A b d i a s noch u n b e k a n n t ist - , weist Stifter auf die z u k ü n f t i g e n Erkenntnism ö g l i c h k e i t e n d e r N a t u r w i s s e n s c h a f t e n hin, die endlich alle Z u s a m m e n h ä n g e in ihren K a u s a l i t ä t e n enthüllen w ü r d e n . Die Vorstellung von einer göttlich d u r c h w i r k t e n u n i v e r s a l e n Kausalität, die sich im Bild der heiteren B l u m e n k e t te d e r U r s a c h e n und W i r k u n g e n , deren Ende in der H a n d Gottes liegt, m a n i f e stiert, w ü r d e d a n n auch die K o r r e s p o n d e n z von N a t u r e r e i g n i s und Einzelschicksal e r w e i s e n . U n d d e n n o c h : Stifter sieht im Prinzip des rationalen D e n k e n s und der Nat u r w i s s e n s c h a f t nicht die einzige und einzig m a ß g e b l i c h e Instanz des Erk e n n e n s . V i e l m e h r deutet er in einigen E r z ä h l u n g e n in der p h y s i k a l i s c h e n eine m y t h i s c h - t h e o l o g i s c h e E r k e n n t n i s p e r s p e k t i v e an, die einen g e h e i m e n Z u s a m m e n h a n g von Physik und M e t a p h y s i k erweist. M y t h i s c h e s m a n i f e s t i e r t sich in d e r E r z ä h l u n g , D a s H a i d e d o r f ' neben E m p i r i s c h e m : Die D ü r r e k a t a s t r o p h e , die die Ernte b e d r o h t , wird durch den Regen beendet, der am P f i n g s t s o n n t a g , dem Fest des H e i l i g e n G e i s t e s , einsetzt. Vorausgesagt wird das E n d e der Dürre d u r c h den j u n g e n Dichter Felix, der von Stifter mit dem religiösen N i m b u s eines „Vates" v e r s e h e n ist - er war h e i m g e k e h r t ins Heidedorf nach langen W a n d e r j a h r e n im Orient, im Heiligen Land, s o z u s a g e n mit göttlicher Beruf u n g a u s g e s t a t t e t . S o kann er in der äußersten Notsituation der Dürre s e i n e m Vater e i n e n Tag vor dem P f i n g s t f e s t p r o p h e z e i e n : „ A b e r tröstet Euch und tröstet das D o r f : alle Hilfe von M e n s c h e n w e r d e t Ihr nicht b r a u c h e n ; ich h a b e den H i m m e l und seine Z e i c h e n auf meinen W a n d e r u n g e n kennen gelernt, und er zeigt, d a ß es m o r g e n r e g n e n werde. - Gott macht j a i m m e r Alles, Alles gut, und es wird a u c h dort gut sein, w o er S c h m e r z und E n t s a g u n g s e n d e t . " 1 3 D a s E m p i r i s c h e - d e s D i c h t e r s Felix K e n n t n i s s e d e r K l i m a e r s c h e i n u n g e n - zeigt
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Ebd., S. 322. Ebd., S. 341. WuB. Bd. 1.4, S. 205.
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sich mit d e m R e l i g i ö s e n v e r s c h w i s t e r t . Deutlicher noch erscheint die K o m b i nation von R a t i o n a l e m und R e l i g i ö s e m in , A b d i a s ' : Die E r z ä h l u n g vom J u d e n Abdias ist von p h y s i k a l i s c h e n E r s c h e i n u n g e n durchsetzt, die religös d e u t b a r sind: die „ G e w i t t e r f r e u d i g k e i t " , die im L e u c h t e n über den H ä u p t e r n des A b dias und Dithas sichtbar ist, wird nicht n u r empirisch als eine Art von E l m s feuer, s o n d e r n auch als Schein des N u m i n o s e n deutbar. Die in der E i n l e i t u n g zu . A b d i a s ' p o s t u l i e r t e Kausalität alles G e s c h e h e n s wird also in e i n e m religiö s - m y t h i s c h e n Vorgang vorexerziert. D a ß schließlich Dithas Blitztod eine H e i m k e h r des K i n d e s ins G ö t t l i c h e sei, in einer „ m y t h i s c h e n H o c h z e i t " , wird von Abdias nicht e r k a n n t , und er wird über d i e s e m „ S c h i c k s a l s s c h l a g " w a h n sinnig: In d e r E r s t f a s s u n g der E r z ä h l u n g spricht der Erzähler v o m „ k ü n f t i g e n u n b e k a n n t e n B r ä u t i g a m [...], den ihr das Schicksal v o r b e h a l t e n h a t t e " , und er kündigt an, „zu e r z ä h l e n , wie dieser Bräutigam k a m , und wie d a r n a c h Alles endete".14 Eine ä h n l i c h e K o n v e r g e n z von Physik und Metaphysik ist wohl auch in . B e r g k r i s t a l P a n g e l e g t : in der „Heiligen N a c h t " geschieht das E r e i g n i s , d a ß die Kinder vor d e m Tod im Gletschereis bewahrt werden - d a s W e i h n a c h t s w u n d e r beruht auf dem Z u s a m m e n t r e f f e n physikalisch e r k l ä r b a r e r Vorgänge: Das Krachen des G l e t s c h e r s und die E r s c h e i n u n g des N o r d l i c h t e s , das v o m M ä d c h e n als E r s c h e i n e n des „Heiligen C h r i s t " gedeutet wird, b e w a h r t die K i n d e r vor d e m t ö d l i c h e n Schlaf in der G e b i r g s h ö h l e . Stifter deutet in der p o e t i s c h e n Welt Z u s a m m e n h ä n g e z w i s c h e n N a t u r und Ü b e r n a t u r an, die letztlich noch eine B r ü c k e darstellen z u r ü c k z u m k o s m o l o gischen Weltbild v o n K r e m s m ü n s t e r . Nur nach d e m g e g e n w ä r t i g e n Erkenntnisstand - so will uns S t i f t e r bed e u t e n - muten die u n b e g r e i f l i c h e n katastrophalen N a t u r e i n w i r k u n g e n paradox und w i d e r s i n n i g an, und das G e s c h e h e n als ein „heiliges R ä t s e l " . A b e r eine f u n d a m e n t a l e U n e r k e n n b a r k e i t der Z u s a m m e n h ä n g e o d e r die A n n a h m e a b s o l u t e r S i n n l o s i g k e i t will Stifter trotz d e r ungelösten, a n g s t m a c h e n d e n Wid e r s p r ü c h e aus s e i n e m E r k e n n t n i s h o r i z o n t a u s s c h l i e ß e n , wie die zuletzt a n g e f ü h r t e n , R a t i o und M y t h o s z u s a m m e n f ü h r e n d e n S i n n k o n s t r u k t i o n e n zeigen. Der p o s t u l i e r t e n S i n n h a f t i g k e i t entspricht bei Stifter die s i n n s t i f t e n d e Arbeit des M e n s c h e n an d e r N a t u r auf eine h u m a n i s i e r t e Natur- und M e n s c h e n welt hin. Die Mittel dazu bieten die E r f o r s c h u n g ihrer G e s e t z m ä ß i g k e i t e n und ihre N u t z b a r m a c h u n g in der kultivierenden Praxis. Der . N a c h s o m m e r ' wird f ü r diese Idee zum u t o p i s c h e n M o d e l l . Das d r o h e n d e G e w i t t e r im . N a c h s o m m e r ' , vor d e m der j u n g e , n a t u r w i s s e n schaftlich forschende Bildungsmensch Heinrich Drendorf im Rosenhaus Risachs Z u f l u c h t sucht, bricht e n t g e g e n allen A n z e i c h e n und A n z e i g e n d e r m e t e o r o l o -
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WuB. Bd. 1.2, S. 154.
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Johann
Lachinger
gischen I n s t r u m e n t e nicht aus. Der Besitzer des Rosenhauses, der aite Risach, w e i ß es, sein n a t u r k u n d l i c h e s Wissen geht über die durch die w i s s e n s c h a f t l i c h e n I n s t r u m e n t e vermittelte e i n d e u t i g e Prognose hinaus; er hat die f e i n e r e K e n n t n i s d e r N a t u r e r w o r b e n d u r c h die noch intimere B e o b a c h t u n g . Er ist im Besitz d e r richtigen Prognose. Er hat die Natur in sanftem G r i f f , die B e d r o h u n g e n sind n a c h M e n s c h e n m ö g l i c h k e i t bewältigt bzw. im Sinne der Konstruktion e i n e r reinen U t o p i e v o m A u t o r systematisch ausgeblendet. Die N a t u r im R o s e n h a u s b e z i r k ist g e o r d n e t , reguliert, alle A b l ä u f e sind kontrolliert, alles v e r l ä u f t f o l g e r i c h t i g nach den w e i s e n A n o r d n u n g e n des alten Risach: ein kleiner K o s m o s ist hier kunstvoll g e s c h a f f e n . Sollte man nicht m e i n e n , d a ß es sich bei der R o s e n h a u s w e l t um ein M o d e l l handelt, konstruiert in A n a l o g i e zu d e m Stifter in K r e m s m ü n s t e r vermittelten philosophischen Weltbild von der „besten aller m ö g l i c h e n Welten"? S o zeigt sich bei Stifter die A m b i v a l e n z der Natur in der Kunst a u f g e h o b e n und b e w ä l t i g t , in der M e n s c h e n w e l t aber m u ß sie der Mensch nach seinen M ö g l i c h k e i t e n a u s h a l t e n und b e s t e h e n - als seine ihm a u f g e g e b e n e f a s z i n i e r e n d e „ s c h r e c k l i c h s c h ö n e Welt".
Lothar
Schneider
Das Komma im Frack Adalbert Stifter, von Hebbels Kritik aus betrachtet D e n F r e u n d e n in L ó d z D i e T a t s a c h e ist b e k a n n t : F r i e d r i c h H e b b e l h a t t e s e i n e n Z w e i h ä n d e r und auf Adalbert
Stifters .Nachsommer'
eingeschlagen.
Schon
gezückt
vorher
hatte
H e b b e l in e i n e r R e z e n s i o n S t i f t e r e i n e n , , M a n i e r i s t [ e n ] " g e s c h o l t e n u n d s e i n e r „Beschreibungsnatur"
Maßlosigkeit
unterstellt.1
Jetzt w a r d e m
Recken
end-
gültig der K r a g e n g e p l a t z t : Er holt z u m R u n d u m s c h l a g g e g e n die D e t a i l m a l e rei d e s B i e d e r m e i e r g e n r e a u s , s i e h t in S t i f t e r d e s s e n e x p o n i e r t e s t e n
Vertreter
und k o m m t zu v e r n i c h t e n d e m Urteil. Bemerkenswert als
metaphorische
ist n i c h t , d a ß d e r m e t a p h y s i s c h e P a n t r a g i k e r d i e Folie
benutzte,
um
Literatur
zu
Malerei
beschreiben.
Bemer-
kenswert auf den ersten Blick eher, daß Stifter, der Dichter und Maler, diese M ö g l i c h k e i t in s e i n e r S e l b s t r e c h t f e r t i g u n g u n g e n u t z t g e l a s s e n h a t t e . E s s t e l l t sich die Frage, o b der D o p p e l b e g a b u n g beide M e d i e n als a l t e r n a t i v e r u n g s f o r m e n mit g l e i c h e n - oder z u m i n d e s t ä h n l i c h e n - ä s t h e t i s c h e n en e r s c h i e n e n o d e r o b e i n e k o n s t i t u t i v e D i f f e r e n z b e i d e r M e d i e n
Äuße-
Prinzipikünstleri-
s c h e r D a r s t e l l u n g f ü r S t i f t e r d e n V e r g l e i c h v e r b o t . J e d e n f a l l s n i m m t e r in d e r . V o r r e d e ' zu den , B u n t e n S t e i n e n ' die n a h e l i e g e n d e M ö g l i c h k e i t n i c h t auf u n d b r i c h t l i e b e r m i t d e r k o n v e n t i o n e l l e n M e t a p h o r i k , in d e r s i c h e i n s p r a c h ä s t h e tisches Werk hätte a u s w e i s e n können. H e b b e l bindet d a s v o n ihm als G e n r e V e r s t a n d e n e p o l e m i s c h ans
Rokoko
z u r ü c k , v e r o r t e t d i e S t i f t e r s c h e P r o s a in V o r - L e s s i n g s c h e r , in G e ß n e r s c h e r pictura-poesis-Ästhetik,
die allerdings ihrerseits nicht Genre, sondern
ut-
Roko-
koidylle meint. Freilich scheint ihm beim Biedermeiergenre dessen Grazie abhanden g e k o m m e n zu sein, denn „ G e ß n e r malte aber doch n o c h
wenigstens,
was w ü r d e Lessing w o h l zu Leuten sagen, die unter d e m prahlerischen
Aus-
hängeschild der .Ursprünglichkeit' und des .gesunden Realismus' nur Farben reiben, ja oft sogar nur Farbstoffe z u s a m m e n t r a g e n ? " 2 Die A n t w o r t liefert er
'
2
Friedrich Hebbel. Der Nachsommer. Eine Erzählung von Adalbert Stifter. In: F H . Sämmtliche Werke. Historisch kritische Ausgabe. Besorgt von Richard Maria Werner (zitiert als: Hebbel. SW). Abt. I. Bd. 12 (Nachdruck Bern 1970), S. 184f. Im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen und in meinem Namen danke ich Herrn Prof. Laufhütte für sein ausdauerndes Engagement für die Institutspartnerschaft der Germanistiken in Passau und L ò d i - nicht zuletzt dafür, daß er zwei Kolleginnen die Teilnahme am Symposium ermöglichte. Hebbel. SW. Bd. 1.12, S. 185.
106
Lothar
Schneider
gleich mit: „Man braucht die Ideen nur zu erlassen, wenn man den Z u s t a n d h e r b e i f ü h r e n will, in dem die Palette selbst f ü r ein Bild a u s g e g e b e n w i r d . " 3 D a s w ü r d e im Zeitalter d e r Materialästhetik n i e m a n d e n m e h r a u f r e g e n ; und auch die literaturästhetische Invektive H e b b e l s geht als s o l c h e ästhetikgeschichtlich nach hinten los, denn wenn er klagt: „es fehlt nur n o c h die B e t r a c h t u n g der Wörter, womit m a n schildert, und die S c h i l d e r u n g d e r Hand, w o m i t m a n diese B e t r a c h t u n g n i e d e r s c h r e i b t " , 4 so erinnert das als D e n u n z i a t i on G e d a c h t e an A r n o H o l z e n s K u n s t g e s e t z , d a ß die K u n s t in ihrer Tendenz, w i e d e r N a t u r zu sein, dies nur „nach M a ß g a b e ihrer j e d w e i l i g e n R e p r o d u k t i o n s b e d i n g u n g e n und deren H a n d h a b u n g " 5 sein k ö n n e . Vielleicht k ö n n t e dies d a n n d o c h als Hellsichtigkeit des H a s s e s e r s c h e i n e n , die Stifter a m Wendep u n k t z w i s c h e n A u f k l ä r u n g s ä s t h e t i k und einer . T r a n s f i g u r a t i o n of the C o m m o n p l a c e ' 6 ansiedelt, wenn H e b b e l schließt: „Ein Inventar ist eben so interessant, und wenn die G e r i c h t s p e r s o n , die es a b f a ß t , ihr S i g n a l e m e n t h i n z u f ü g t , so sind auch alle E l e m e n t e dieser s o g e n a n n t e n E r z ä h l u n g b e i s a m m e n . " 7 Fast zuviel d e r Ehre, m ö c h t e m a n m e i n e n . Und d e n n o c h klingt H e b b e l aus h e u t i g e r Sicht so, als rede ein B a n a u s e über m o d e r n e Kunst. Endlich ist sein M o d e l l , das Historienbild, schon z u m Z e i t p u n k t der E n t s t e h u n g der R e z e n s i o n recht altväterlich und entspricht nicht einmal den P r o b l e m e n der e i g e n e n poetischen P r o d u k t i o n mehr. Z w a r fordert H e b b e l s o u v e r ä n , „ d a ß j e d e s Bild ohne A u s n a h m e ein h i e r o g l y p h i s c h e s E l e m e n t in sich a u f n e h m e n [müsse], w e l c h e s nach allen Seiten die G r ä n z e n zieht". 8 A b e r wenn er diesen B e f u n d ins Literarische überstellt, wird eine K r ä n k u n g sichtbar: „ D e m Maler, der die p e r s p e c t i vischen G e s e t z e beobachtet und Vordergrund und H i n t e r g r u n d d u r c h Z e i c h n u n g und Colorit gehörig aus e i n a n d e r hält, wird nicht v o r g e w o r f e n , d a ß ihm bei F i g u r e n , die nicht in greller B e l e u c h t u n g d a s t e h e n , die Linien m i ß r a t h e n und die Farben a u s g e g a n g e n seien; aber der Dichter, der nicht im G e n r e stekken b l e i b t " - wie H e b b e l , meint Hebbel - , „ m u ß diesen Vorwurf alle Tage hör e n . " 9 H e b b e l wehrt sich hier gegen Vorwürfe, daß seine P e r s o n e n allzu schem a t i s c h und blutleer a u s f i e l e n . Dabei hatte er doch sechs Jahre vorher anläßlich seiner Arbeit an .Maria M a g d a l e n e ' stolz v e r k ü n d e t : „Jetzt sind alle M a u s l ö c h e r a u s g e s t o p f t und ich bin z u f r i e d e n , b e s o n d e r s damit, d a ß sie ei-
3 4 5
6
7 8
9
Ebd. Ebd. A m o Holz. Werke. Hrsg. von Wilhelm Emrich und Anita Holz. Berlin 1961-1964. Bd. 5. Abi. .Kunsttheoretische S c h r i f t e n ' , S. 16. Vgl. Arthur Coleman Danto: The Transfiguration of the C o m m o n p l a c e . A Philosophy of Art. Cambridge, Mass. 1981. Hebbel. SW. Bd. 1.12, S. 185. Friedrich Hebbel. Das K o m m a im Frack. In: Hebbel. SW. Bd. 1.12, S. 189-193; hier S. 191. Ebd., S. 191f.
Das Komma im Frack
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gentlich Alle Recht haben", 1 0 und hatte, gleichfalls im Tagebuch, zuvor geklagt: „Es kam darauf an, durch das einfache Lebensbild selbst zu wirken und alle Seitenblicke des Gedankens und der Reflexion zu vermeiden, da sie mit den dargestellten Characteren sich nicht vertragen. Das ist aber schwerer, als man denkt, wenn man es gewohnt ist, die Erscheinungen und Gestalten, die man erschafft, immer auf die Ideen, die sie repräsentiren, überhaupt auf das Ganze und die Tiefe des Lebens und der Welt zurück zu beziehen. Ich hatte mich also sorgfältig zu hüten, mich bei der Arbeit zu erhitzen, um nicht über den beschränkten Rahmen des Gemäldes hinweg zu sehen und Dinge hinein zu bringen, die nicht hinein g e h ö r e n . " " Hebbels Restauration des bürgerlichen Trauerspiels erscheint ihrerseits als Apologie des Genres; und auch hier wird die Malerei zur metaphorischen Folie. In der Stifter-Kritik redet Hebbel freilich nicht vom Genre im Allgemeinen, sondern von dessen negativer Form: „Der ausartende Genre reißt sich mehr und mehr vom Alles bedingenden, aber auch Alles zusammenhaltenden Centrum los und zerfällt in demselben Moment in sich selbst, wo er sich ganz befreit zu haben glaubt. Und das überschätzte Diminutiv-Talent kommt eben so natürlich vom Aufdröseln der Form zum Zerbröckeln und Zerkrümeln der Materie, schließt damit aber auch den ganzen Kreis vollständig ab." 1 2 Hebbel bestreitet damit den Werkcharakter des Stifterschen Romans, unterstellt diesem, daß sein eigenwilliges .Material' das gedankliche Zentrum überwuchere und damit die Kontur des Werkes verwische. Das ,Bild' würde also ideell rahmenlos, und seine faktische Rahmung könnte nichts mehr sein als eine gewaltsam gesetzte und beliebige Schranke, die den Inhalt nicht schlösse, sondern nur abschnitte. Doch auch Hebbels Verwendung der Bild-Metapher ist problematisch. Im Anschluß an die Rahmen-Bild-Metaphorik des Tagebuchzitats führt er aus: das Haupt-Vergnügen des Dichtens besteht für mich darin, einen Character bis zu seinem im Anfang von mir selbst durchaus nicht zu berechnenden Höhepunct zu führen und von da aus die Welt zu überschauen." 1 3 Dies ist mehr als surreal, denn Hebbel identifiziert den Rahmen seines Bildes mit dem Gesichtsfeld des dargestellten Charakters, durch dessen Kopf der Autor blickt. Das „Rahmen" Genannte wäre damit reine Grenze: das Gesichtsfeld des Charakters; und diese Grenze wäre aus der Logik des Bildaufbaus selbst zu erschließen. Vielleicht verzichtet er deshalb in der Stifter-Rezension seinerseits auf diesen Vergleich und bescheidet sich mit dem Hinweis auf das „hieroglyphische Element", das jedoch wiederum der Perspektive assoziiert wurde, bevor Hebbel sich diesmal mit einer lux ex machina behalf. 10
11 12 13
Aus Hebbels Tagebüchern wird zitiert unter der Sigle Tb nach der Zählung in: Hebbel. SW. Bd. II. 1-3; hier: 2926. Tb 2910. Hebbel. SW. Bd. 1.12. S. 193. Tb 2910.
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Man mag einwenden, daß Hebbels unglückliche Liebe zur Bild-Metapher nur Tribut an eine Konvention sei, aber im Grunde keine Ausagekraft habe, da das ut-picutra-poesis-Modell der Literatur ja nicht nur von Lessing verabschiedet worden sei, sondern sich Hebbel dezidiert auf Lessing berufe; daß mithin von der Metaphorik nicht verlangt werden dürfe, was ihr zu leisten gar nicht aufgegeben sein könne. 1 4 Doch steht die Bild-Rahmen-Metapher bei Hebbel nicht für das poetische Gebilde allein, sondern für den Produktionsprozeß und dort f ü r die qualitative Bestimmung der Werkinhalte nach dem Maß ihrer Bedeutsamkeit. Hebbel vertritt hier einen substanzialistischen Idealismus, der von den einzelnen Aspekten des ästhetischen Produkts nicht nur Notwendigkeit fordert, sondern diese Notwendigkeit nach einem hierarchischen Prinzip ordnet, das von dem gedanklichen Zentrum bis hin zur Peripherie eine fallende Skalierung ästhetischer Aufmerksamkeit postuliert. Was beim Bild als Perspektive sich anbietet, soll sich im literarischen Werk in einer .Dekadenz' der Beschreibungsintensität zeigen. Am vermeintlichen Genre irritierte Hebbel die Verweigerung einer qualitativen Hierarchisierung der behandelten Gegenstände. Er sieht hier einen Substanzverlust durch die Verschwendung künstlerischer Kompetenz an die Peripherie, die den Betrachter verwirrt und vom telos der Betrachtung, dem zentralen Gedanken selbst, ablenkt - wenn je ein solcher vorhanden war, was Hebbel anscheinend bezweifelt. Und dennoch könnte es sein, daß nicht nur die von mir karikaturesk überzeichnete Umwertung der Negativa Hebbelscher Kritik an Stifter Indizien benennt, die das Beunruhigende Stifterscher Werke und möglicherweise damit ihre Ambivalenz zwischen Tradition und Modernität markieren, sondern daß auch - entgegen Stifterscher Intention, wenngleich nicht entgegen Stifterscher Intuition - das Zentrum dieser Kritik, der Verlust des ordo, in Stifters Bemühen um seine Rekonstruktion eine Bestätigung erfährt, die die Gewaltsamkeit der Konstruktion zur Erscheinung bringt und damit das Werk als gewollte und willkürliche Formation einer widerständigen Wirklichkeit entdeckt. 1 5 Dem metaphysischen Totschläger mußte das florierende „Nebenbei" 1 6 Stifterscher Prosa unerträglich sein. Mehr als seine Diagnose verwundert, daß der 14
"
16
Zur Tradition der Vorwürfe, Stifter falle quasi hinter Lessing zurück, vgl. Dieter Borchmeyer: Adalbert Stifter im Urteil Gundolfs. In: Euphorion 75 (1981), S. 1 4 2 - 1 5 8 . Dazu auch: Jannetje E n k l a a r - L a g e n d i j k : Adalbert Stifter. Landschaft und Raum. Alphen aan den Rijn 1984, S. 15ff. Vgl. Hans J o a c h i m Piechotta: Aleatorische Ordnung. Untersuchungen zu e x t r e m e n literarischen Positionen in den Erzählungen und dem R o m a n .Witiko' von Adalbert Stifter. Gießen 1981; ders.: O r d n u n g als mythologisches Zitat. Adalbert Stifter und der Mythos. In: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. F r a n k f u r t a.M. 1983, S. 8 3 - 1 1 0 ; Albrecht Koschorke/Andreas A m m e r : Der Text ohne B e d e u t u n g oder die Erstarrung der Angst. Zu Stifters letzter Erzählung .Der f r o m m e S p r u c h ' . In: D V j s 61 (1987), S. 6 7 6 - 7 1 9 . Hebbel. SW. Bd. 1.12, S. 191.
Das Komma im Frack
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versierte Maler Stifter die a n g e b o t e n e n Metaphorik zu m e i d e n scheint.
Und
d i e s ist u m s o v e r b l ü f f e n d e r , a l s e r i m . N a c h s o m m e r ' H e b b e l s e l b s t d i e M u n i tion liefern wird, da P r o b l e m e d e s B i l d a u f b a u s und der R a h m u n g hier e i n e v i e l g e s t a l t i g e und w i c h t i g e R o l l e s p i e l e n : a l s P r o b l e m der Intarsie, als
Pro-
b l e m s t i l i s t i s c h e r S t i m m i g k e i t in d e r P r ä s e n t a t i o n w i e in d e r E r g ä n z u n g
von
Objekten, als P r o b l e m d e s M a l e n s , als P r o b l e m der F a s s u n g v o n S t e i n e n und d e r . F a s s u n g ' d u r c h S c h m u c k . G a n z a b g e s e h e n d a v o n , d a ß d i e s e s P r o b l e m lit e r a r i s c h in F o r m d e s V e r h ä l t n i s s e s v o n R a h m e n u n d B i n n e n e r z ä h l u n g in d e n E r z ä h l u n g e n n i c h t n u r S t i f t e r s , s o n d e r n d e r Z e i t v i e l f a c h p r ä s e n t ist u n d S t i f ter s e i n e e i g e n e P o e t i k u m d a s P r o b l e m o p t i s c h e r W a h r n e h m u n g z e n t r i e r t , s o im k o m p l e x e n R a h m e n d e s . H o c h w a l d e s ' , der L a n d s c h a f t , R u i n e n ä s t h e t i k und S h a k e s p e a r e - L e k t ü r e n i c h t n u r i n e i n a n d e r b l e n d e t , s o n d e r n i m A u s g a n g d e r Erz ä h l u n g a u c h k u n s t v o l l v e r f l i c h t , 1 7 o d e r e t w a in d e r , N a r r e n b u r g ' , w o S t i f t e r die
Bild-Rahmen-Metapher
selbst
in e i n e r
im
Kollektivplural
formulierten
Erzählereinrede gebraucht.18 In d e r V o r r e d e z u d e n . B u n t e n S t e i n e n ' h i n g e g e n w i r d d i e e r s t e N ä h e r u n g an e i n S u j e t d e s G e n r e s - i m B i l d d e s M i l c h t ö p f c h e n s - s o f o r t m i t d e r K ä l t e äußerster Abstraktion, mit e i n e m
17 18
naturwissenschaftlichen
Beispiel
und
dem
WuB. Bd. 1.4, S. 2 1 1 - 2 1 7 , S. 317f. Ebd., S. 362. Dieser Text ist streng g e n o m m e n keine A b h a n d l u n g über das Verhältnis von bildender Kunst und Literatur, sondern thematisiert die Funktion von Metaphern aus dem Bereich bildender Kunst in den Werken Stifters. Seine poetologische Leitmetapher, Arabeske, die freilich in der Poetologie Stifters nur eine implizite, Stifters poetologischer Intention z u w i d e r l a u f e n d e Bedeutung besitzt, ist zwar eine Übertragung aus der Malerei, doch blendet die Arabeske als flächige Gattung wesentliche Probleme der Malerei aus: Das Problem der Tiefe und der Zerstörung der natürlichen O r d n u n g der Wahrn e h m u n g durch den teleskopischen Blick muß ihr e b e n s o außer Betracht bleiben wie seine poetologische Bewältigung in der Form der Wegeerzählung. (Vgl. Martin Selge: Adalbert Stifter. Poesie aus dem Geist der N a t u r w i s s e n s c h a f t . Stuttgart. Berlin u.a. 1976) Wenn Selge freilich zwischen einer „ m e t h o d i s c h e n " und einer „gegenständlichen Orientierung" (S. 45) differenziert, verweist er auf eine A m b i v a l e n z , die in der für die Arabeske konstitutiven Verbindung von ornamentalen und pikturalen Elementen e b e n s o eine Entsprechung fände wie die abstrakten Kompositionsprinzipien der Stifterschen Zyklen, die sich inhaltlicher Symbolisierong entziehen (S. 58; vgl. K o s c h o r k e / A m m e r [o. A n m . 15]. S. 690f.; Piechotta 1981 [o. Anm. 15], S. IX, und ders. 1983 [o. Anm. 15], S. 107). Wie Selge insbesondere für das Spätwerk konstatiert, „schlägt im ästhetischen Vollzug der Reihe als Folge die paradigmatische I n d i v i d u a l b e d e u t u n g in die syntagmatische Merkmalbedeutung um. Die Bedeutung verschiebt sich gleichsam teilweise von den Räumen auf die Z w i s c h e n r ä u m e , und die ins Leere verschobene Energie konstituiert daraus das Ganze, indem sie das Einzelne zum bloßen Teil degradiert, oder richtiger: befördert" (S. 88). Zur Arabeske vgl. Günter Oesterle: „Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente". Kontroverse F o r m p r o b l e m e zwischen A u f k l ä r u n g , Klassizismus und Romantik am Beispiel der Arabeske. In: Ideal und Wirlichkeit in der Bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert. Hrsg. von Herbert Beck u.a. Berlin 1984, S. 119-139; sowie die Artikel .Arabeske' und .Groteske' im ersten, 1995 erscheinenden Band des .Reallexikon[s] der deutschen Literaturwissenschaft. N e u b e a r b e i t u n g des Reallexikon[s] der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus W e i m a r ' .
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Schneider
Modell wissenschaftlicher Tabellen konterkariert. 1 9 Unauffällig positiviert Stifter jedoch dabei jenes von Hebbel später als .Inventarliste' negativ notierte Modell tabellarischer Darstellung, das auch im .Nachsommer', bei den meteorologischen Beobachtungen Risachs, eine Rolle spielt. 2 0 Ein zweites Mal nähert sich Stifter in diesem Text dem Thema hierarchischer Strukturierung des Bildraumes, wenn er den Menschen als „Kleinod" bezeichnet. 2 1 Doch tritt hier eine wechselseitige Beziehung an die Stelle einer Deszendenz vom allgemeinen Gesetz des Kosmos zum Individuum. 2 2 Denn Stifter fordert für den Menschen, „daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle andern Menschen ist. Dieses Gesez liegt überall, wo Menschen neben Menschen wohnen, und es zeigt sich, wenn Menschen gegen Menschen wirken." 2 3 Der ordo des idealen Raumes zeigt sich im Gegenstandsfeld als funktionale Beziehung gleichwertiger Elemente. Diese funktionale Äquivalenz bewirkt nicht nur, daß die Exposition eines dieser Elemente - eines Sujets, eines Individuums - zum beliebigen Akt wird, sondern hat außerdem zur Folge, daß in der Alternation und Iteration der Fokussierungen ein ständiger Umschlag zwischen Zentrum und Peripherie stattfindet. Jeder Mensch ist jedem anderen .Umgebung', .Fassung' und als solche Bedingung und Möglichkeit dafür, daß dieser „geachtet geehrt ungefährdet neben dem Andern bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe" 2 4 - daß er eben zum wertvollen Subjekt werden und als solches geschätzt werden könne wie jeder andere auch. Jeder Mensch ist nicht nur Individuum, sondern zugleich Bedingung anderer individueller Existenzen, jeder soll dem Anderen eigene, emphatische Existenz und Individualität ermöglichen. Eine derartige Un-Ordnung, wie sie dem bürgerlichen Verständnis sozialer Ordnung zugrunde liegt, muß dem Pantragiker gleichermaßen philosophisch trivial wie ästhetisch absurd erscheinen. Dennoch fungiert die invertierbare Bild-Rahmen-Metapher zugleich als ästhetische und als soziale Metaphorik, sobald man konzediert, daß Schmuck ein Rahmen des Menschen ist, was im .Nachsommer' dezidiert behauptet wird. 2 5
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23 24 25
WuB. Bd. 2.2, S. lOf. SW. Bd. 6, S. 123ff. WuB. Bd. 2.2, S. 13. Daß Stifter auch den alten Gregor im .Hochwald' als „Kleinod" bezeichnen läßt (WuB. Bd. 1.4, S. 244), beweist, daß er dabei nicht das Verständnis der Frau als .Schmuckstück' im Blick hat. Damit ist eine Bedingung jener Einschließung der Sprache im „hortus conclusus der Zeichen" (Koschorke/Ammer [o. Anm. 15], S. 704) erfüllt, die für das Spätwerk Stifters konstitutiv ist: „An die Stelle des natürlichen Prospekts [...] tritt das von der Sprechweise der Figuren selbst generierte Zeremoniell." (S. 695) WuB. Bd. 2.2, S. 13; vgl. SW. Bd. 8.1, S. 216; WuB. Bd. 1.4, S. 350. Ebd. SW. Bd. 8.1, S. 223.
Das Komma im Frack
III
Nur ist Schmuck zunächst eigentlich kein Kunstwerk, sondern lediglich Kunsthandwerk. Doch werden einerseits im .Nachsommer' gerade über diesen Sachverhalt ausgiebige Erörterungen geführt, die sich sowohl mit der Frage, wie das Handwerk zur Kunst entwickelt werden könne, als auch mit den Hinderungsgründen, die dem im Wege stehen, befassen; andererseits nimmt j a Stifter - wie ernsthaft immer man dies auch auffassen mag - selbst seine Prosa programmatisch aus dem Bereich der .hohen Kunst' heraus und verortet sie in der Nähe handwerklicher rechne, die sich als heteronomes Element eine sozial dienende Funktion zuschreibt. 2 6 Wenn Stifter schließlich den Juwelier sich wünschen läßt, „daß die geistige Arbeit auch einen Preis habe, wie die Steine und das G o l d " , 2 7 so klingt die Klage des Almanachschreibers durch. Der behauptete pädagogische, also funktionale, dem Menschen dienende Charakter eines poetischen Werkes nähert dieses einem kunsthandwerklichen Produkt, das zwar prinzipiell kunstfähig sein kann, aber durch pragmatische Rücksichten - weil es dem Kunsthandwerker zum Erwerb dienen muß und weil die Zeit künstlerische Leistung nicht adäquat honoriert - Verzicht zu leisten gezwungen ist. Stifter läßt Risach zwar kategorisch behaupten: „der Künstler macht sein Werk, wie die Blume blüht, sie blüht, wenn sie auch in der Wüste ist, und nie ein Auge auf sie fällt. Der wahre Künstler stellt sich die Frage gar nicht, ob sein Werk verstanden werden wird oder nicht", 2 8 und verortet dabei das poetische Genie in einem Naturhaft-Unbewußten, 2 9 das den Künstler zum Naiven stilisiert; aber gerade bei dieser Stelle ist der nähere und weitere Kontext bedeutend, denn die Frage nach dem .wahren Künstler' leitet von einer Betrachtung von Restaurierungsarbeiten über zu einer Erörterung der richtigen - es wird sich zeigen; gotischem Stil angemessenen - Fassung von Edelsteinen. Nachdem Eustach und Heinrich den zitierten Ausführungen Risachs zugestimmt haben - wobei Eustach eine quasi-scholastische, doch schon voluntaristisch gebrochene Parallelisierung des bonum und pulchrum zugeschrieben wird, die Risach dann mit einem absoluten Liebesbegriff fideistisch-mystischer Tradition überbietet - , fährt der Erzähler fort: „Von einem Streben, das gewisser Maßen sein eigener Zweck sei, vom Vertiefen des Menschen in einen Gegenstand, dem scheinbar kein äußerer Erfolg entspricht, und dem der damit Behaftete doch alles Andere opfert, kamen wir überhaupt auf Verschiedenes, an das der Mensch sein Herz hängt, das ihn erfüllt, und das sein Dasein oder Theile seines Daseins" - nun kommt es auf die Betonung an - : „umschreibt" oder „umschreibt." 3 0
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S o b e z e i c h n e ! S t i f t e r den . N a c h s o m m e r ' , o b w o h l e r s i c h der A m b i t i o n und des W e r t s d e s W e r k e s d u r c h a u s b e w u ß t war, als . E r z ä h l u n g ' und d e g r a d i e r t ihn d a m i t zum p o p u l ä ren G e n r e .
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S W . B d . 8 . 1 , S . 2 3 3 ; v g l . a u c h W u B . B d . 1.4, S . 2 1 7 . SW. Bd. 7. S. 354.
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Vgl. ebd., S. 3 5 3 . S W . B d . 7 , S . 3 5 5 ; H e r v o r h e b u n g von m i r . Z u m T o p o s d e s S i c h - s e l b s t - S c h r e i b e n s b z w .
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Lothur
Schneider
Die I n t e r p r e t a t i o n dieser , Ä q u i l i t e r a t i o n ' mag auf den ersten Blick als bloße Spielerei e r s c h e i n e n , sie ist aber nicht nur durch die g e g e n l ä u f i g e F ü g u n g , d a ß d e r M e n s c h sein Herz an e t w a s hängen und dieses ihn e r f ü l l e n k ö n n e , v o r b e r e i t e t ; sie b e z e i c h n e t auch a u f s Präziseste - weil nicht einmal d u r c h das Wort g e t r e n n t - die W e c h s e l w i r k u n g zwischen R a h m e n und Bild, Praxis und S u b j e k t , die im Z e n t r u m - so m e i n e T h e s e - nicht nur der S t i f t e r s c h e n Päda g o g i k , s o n d e r n a u c h seiner Poetik steht. Ä n l ä ß l i c h der R e s t a u r i e r u n g d e s M a d o n n e n b i l d e s hatte Risach gesagt und dabei die B i l d - R a h m e n - M e t a p h e r mit d e r S c h m u c k - M e t a p h e r z u s a m m e n g e f ü h r t : „Es ist nicht wahr, wie m a n ö f t e r sagt, daß eine schöne Frau ohne S c h m u c k s c h ö n e r sei, als in d e m s e l b e n : und eben so ist es nicht wahr, daß ein G e m ä l d e zu seiner G e l t u n g nicht des R a h m e n s b e d ü r f e . " 3 1 Z w a r scheint die F o r m u l i e r u n g „zu seiner G e l t u n g " auf ein h e t e r o n o m e s , r e z e p t i o n s ä s t h e t i s c h e s M o m e n t zu v e r w e i s e n , aber k u r z darauf wird deutlich, daß die E i n s c h l i e ß u n g im R a h m e n A b s c h l i e ß u n g , A u t o n o m i s i e r u n g des Werkes selbst m e i n t , da das Werk d u r c h diesen E i n s c h l u ß eine Selbständigkeit erlangt, die auf seine innere Struktur, auf sein B e d e u t u n g s g e f ü g e rückwirkt, und weil - wie m a n weiterf ü h r e n d und mit B e z u g auf R i s a c h s Kritik am , r a h m e n s p r e n g e n d e n ' Blick seiner M a d o n n a s c h l i e ß e n kann - der äußeren Beziehungslosigkeit eine innere G e s c h l o s s e n h e i t k o r r e s p o n d i e r e n m u ß : „Bei neuen Bildern zeigt f r e i l i c h der R a h m e n erst, d a ß noch M a n c h e s hinzu zu f ü g e n und zu ändern ist, und Vieles m u ß an s o l c h e n Bildern erst g e m a c h t w e r d e n , wenn man sie bereits in einem Rahmen gesehen hat."32 Der R a h m e n a k z e n t u i e r t den Inhalt nicht nur - er formiert ihn; er schattet nicht n u r ab - und w ä r e damit eine Funktion der Präsentation und, n i m m t m a n die P r ä s e n t a t i o n als j e p e r s ö n l i c h e , der Perspektive der B e t r a c h t u n g - , sondern d e r R a h m e n ist ein konstitutiver Bestandteil des Werkes selbst und m u ß , w e n n er, wie im b e h a n d e l t e n Fall, verloren gegangen ist, sinngemäß ergänzt w e r d e n : „ O b w o h l d e r R a h m e n e r h a b e n d e Arbeit in B l u m e n , Verzierungen und sogar in T h e i l e n der m e n s c h l i c h e n Gestalt enthielt, und auf d e m s e l b e n G l a n z lichter von starker W i r k u n g a n g e b r a c h t waren, so erschien das Bild d o c h nicht u n r u h i g , j a es b e h e r r s c h t e den R a h m e n und machte seinen R e i c h t h u m zu einer a n m u t h i g e n M a n n i g f a l t i g k e i t , w ä h r e n d es selber durch seine G e w a l t sich geltend m a c h t e und in den e r h e b e n d e n F a r b e n , von w ü r d i g e m S c h m u c k e u m g e ben, t h r o n t e . " 3 3 , S c h m u c k ' ist hier - darauf weist nicht nur das Verb .thron e n ' , d a s traditionell eher bei d e r C h a r a k t e r i s i e r u n g des Werkinhalts, d e r M u t ter G o t t e s , d e n n als E i g e n s c h a f t des K u n s t w e r k selbst zu v e r m u t e n w ä r e .
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-Verschreibens vgl. Eva Geulen: Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters. München 1992, S. 12f.: dies.: Adalbert Stifters Kinder-Kunst. Drei Fallstudien. In: D V j s 67 (1993), S. 6 4 8 - 6 6 8 . SW. Bd. 7, S. 112. Ebd., S. 113. Ebd., S. 113f.
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e b e n s o hin, wie die m i t s c h w i n g e n d e D o p p e l d e u t i g k e i t . e r h a b e n e r A r b e i t ' und . e r h e b e n d e r F a r b e n ' und die V e r w e i s e auf . R e i c h t u m ' und . G l a n z ' es tun - : . S c h m u c k ' ist hier Begriff und keine v e r g e s s e n e M e t a p h e r wie im g e l ä u f i g e n G e b r a u c h des Wortes; . S c h m u c k ' ist Ornat. D o c h nicht d e r ornatus des kosmos oder die E r h a b e n h e i t einer T r a n s z e n d e n z , s o n d e r n der Ornat des Individ u u m s ist gemeint. R i s a c h f o r d e r t A u t o n o m i e und Integrität der d a r g e s t e l l t e n Person: „ D a ß die Mutter, deren M u n d so schön ist, die A u g e n gegen H i m m e l wendet, sagt mir nicht ganz zu. Die W i r k u n g , scheint mir, ist hierin ein w e n i g ü b e r b o t e n , und der K ü n s t l e r legt in eine H a n d l u n g , die er seine Gestalt vor uns v o r n e h m e n läßt, eine B e d e u t u n g , von der er nicht m a c h e n k a n n , d a ß wir sie in d e r bloßen Gestalt sehen. Wer durch e i n f a c h e r e Mittel wirkt, wirkt besser." 3 4 Der Blick fällt aus dem R a h m e n . D o c h w e n n g l e i c h eine Dialektik von Bild und R a h m e n das K u n s t w e r k schließt, ist es d a m i t nicht g ä n z l i c h a u t o n o misiert und in seiner A u r a v e r s i e g e l t , sondern es bleibt ein M o m e n t der A b hängigkeit von seiner P r ä s e n t a t i o n , w e n n g l e i c h diese m i n d e s t e n s e b e n s o wie auf das Werk selbst auf die P e r s o n des P r ä s e n t i e r e n d e n und G e n i e ß e n d e n verweist. Wenn Risachs A n o r d n u n g die Bilder nicht n u r in B e z i e h u n g z u m Unterg r u n d , s o n d e r n auch in K o r r e s p o n d e n z z u e i n a n d e r setzt, f u n k t i o n a l i s i e r t er die Werke im Rahmen seines Interieurs, das letztlich nichts a n d e r e s als ein Exterieur seiner Person, nichts a n d e r e s als sein R a h m e n ist. In dieser P r ä s e n t a t i o n sind die Bilder M o m e n t e a r a b e s k e r R a h m u n g d e r e i g e n e n E x i s t e n z und Zeichen der Biographie: „Die j e t z i g e Lage der B i l d e r ist m i r zu einer G e w o h n heit und ist mir lieb g e w o r d e n , und ich m ö c h t e o h n e Übeln E i n d r u c k die Sache nicht anders sehen. Sie ist m i r eine F r e u d e und eine B l u m e m e i n e s Alters g e w o r d e n . Die E r w e r b u n g der B i l d e r [...] stellt eine e i g e n e Linie in d e m G a n ge m e i n e s Lebens d a r [...]. Wir sind in m a n c h e Verhältnisse g e r a t h e n , h a b e n m a n c h e M e n s c h e n k e n n e n gelernt und haben m a n c h e Zeit mit der W i e d e r h e r stellung d e r Bilder, mit V e r w i n d u n g von T ä u s c h u n g e n , mit H i n e i n l e b e n in S c h ö n h e i t e n z u g e b r a c h t , wir h a b e n auch m a n c h e zu Z e i c h n u n g e n und E n t w ü r fen von R a h m e n v e r w e n d e t ; d e n n alle G e m ä l d e h a b e n wir nach und nach in neue, von uns e n t w o r f e n e R a h m e n gethan, und so stehen n u n die W e r k e um mich, wie alte h o c h v e r e h r u n g s w ü r d i g e F r e u n d e , d i e es täglich m e h r werd e n " . 3 5 D a ß Bild und R a h m e n in W e c h s e l w i r k u n g s t e h e n , d a ß sie a u f e i n a n d e r
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Ebd., S. 115f. Vgl. auch WuB. Bd. 1.4, S. 242: Die beiden Schwestern der Erzählung .Der H o c h w a l d ' schauen aus der S ä n f t e „wie zwei Engelsbilder aus einem R a h m e n " . SW. Bd. 7, S. 116f. Eine komplexe Argumentationslinie bietet sich an zwischen 1. dem Umschlag zwischen Bild und R a h m u n g als Verhältnis von Existenziellem und O r n a m e n talem, 2. der arabesken R a h m u n g als Form, die ihrerseits wiederum bildhafte Elemente integriert, 3. der poetischen K o n j u n k t u r der Arabeske in der Romantik als literarische Form wie als metaphorisches D e f i n i e n s des R o m a n s und 4. der Tatsache, daß bereits die Romantik der pragmatischen Geltung der Arabeske die Hieroglyphe als Ideal entgegensetzt. Vgl. Günther Oesterle: A r a b e s k e und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Friedrich Schlegels „Brief über den R o m a n " . In: Studien zur Ästhetik und
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a n g e w i e s e n s i n d , b e d e u t e t a l s o n i c h t , d a ß b e i d e u n t r e n n b a r v e r b u n d e n sein m ü ß t e n . W ä h r e n d d a s B i l d i d e n t i s c h bleibt und d a r u m n u r r e s t a u r i e r b a r ist, g i b t d e r R a h m e n d i e M ö g l i c h k e i t zu - w e n n auch d u r c h das Bild g e b u n d e n e r - V a r i a t i o n , d i e s i c h a l s H i s t o r i s i e r u n g u n d S u b j e k t i v i e r u n g : als I n t e r p r e t a t i o n äußert. D e u t l i c h e r als bei d e r M a l e r e i w i r d d i e s , w e n n H e i n r i c h die S c h n i t z e r e i d e r V e r t ä f e l u n g e n z e i c h n e t u n d m a l t . D i e auf d e n T a f e l n in H o l z , d e m a u f N a t u r seite d e m H u m a n e n e n s t p r e c h e n d e n M e d i u m , d a r g e s t e l l t e n S z e n e n , d i e zun ä c h s t in Z e i c h n u n g t r a n s p o n i e r t w u r d e n , g e w i n n e n d u r c h die F a r b r e f l e x e d e r U m g e b u n g z w a r a n „ R e i c h t h u m u n d R e i z " , v e r l i e r e n j e d o c h an „ V e r s t ä n d l i c h k e i t " . 3 6 D e r . R a h m e n ' d r o h t d a s D a r g e s t e l l t e zu ü b e r l a g e r n . A l s o w i r d „alles Z u f ä l l i g e u n d s t a r k E i n w i r k e n d e " 3 7 e n t f e r n t . G r u n d s ä t z l i c h a b e r ist d i e E i n wirkung der U m g e b u n g ein notwendiger Bestandteil, wenn vermieden werden s o l l , „ e t w a s g e r a d e z u U n m ö g l i c h e s an ihre S t e l l e zu s e t z e n u n d d e n G e g e n s t a n d s e i n e s L e b e n s zu b e r a u b e n , weil e r d a d u r c h a u s j e d e r U m g e b u n g ger ü c k t w ü r d e , k e i n e n P l a t z s e i n e s D a s e i n s u n d also ü b e r h a u p t kein D a s e i n hätt e " . 3 8 D i e R a h m u n g m u ß a n g e m e s s e n sein - und k a n n d i e s n u r in d e r g a n z e n b e g r i f f l i c h e n U n s c h ä r f e d e s aptum, d a ihre A n g e m e s s e n h e i t relativ z u m j e w e i ligen I n h a l t u n d z u r R e z e p t i o n s s i t u a t i o n ist. In B e z u g auf S c h m u c k , d e s s e n Edelsteine nur eine a l l g e m e i n e Qualität vorgeben und damit inhaltlich weit e s t g e h e n d i n d e t e r m i n i e r t b l e i b e n , w i r d e i n e F a s s u n g g e f o r d e r t , „ w e l c h e richt i g e n K u n s t g e s e t z e n e n t s p r i c h t , u n d [...] an d e r S t e l l e , w o sie ist, e i n e n Z w e c k e r f ü l l t , a l s o n o t h w e n d i g e r s c h e i n t " . 3 9 W i e d e r u m e r g ä n z e n sich ein M o m e n t a u t o n o m e r G e s t a l t u n g u n d ein M o m e n t h e t e r o n o m e r T e r m i n i e r u n g . I m F a l l e d e r M a l e r e i s p e z i f i z i e r t d a s B i l d d i e . K u n s t g e s e t z e ' ; bei d e r S c h n i t z e r e i , d i e in d i e s e r H i n s i c h t als m i t t l e r e D a r s t e l l u n g s f o r m g e l t e n k a n n , wird e i n e q u a l i t a t i v e M i t t e z w i s c h e n ä s t h e t i s c h e r I l l u m i n i e r u n g und - a l l g e m e i n f o r m u l i e r t s e m a n t i s c h e r Deutlichkeit g e f o r d e r t . O h n e diese Illuminierung negierte die D a r s t e l l u n g d i e W e l t h a l t i g k e i t d e s D a r g e s t e l l t e n , u n d d i e s e s w ü r d e zu e i n e m weltlosen Objekt reiner Konstruktion, war die Zeichnung doch „nach mathem a t i s c h e n W e i s u n g e n " 4 0 a n g e f e r t i g t w o r d e n und e n t s p r a c h a l s o m i t w i s s e n s c h a f t l i c h e r G e n a u i g k e i t d e n L i n i e n d e s O r g i n a l s . M a n m a g hier a u c h d i e m e t e o r o l o g i s c h e n M e s s u n g e n R i s a c h s im A u g e b e h a l t e n , d i e g l e i c h f a l l s e i n e r Erg ä n z u n g b e d ü r f t i g s i n d , u m z u r W i r k l i c h k e i t ihrer A u s s a g e k r a f t zu g e l a n g e n . G e g e n b i l d d e r W e l t l o s i g k e i t d e r Z e i c h n u n g , d i e F a r b e als E r g ä n z u n g f o r d e r t , ist d i e r e i n e , q u a l i t a t i v e W e l t h a f t i g k e i t des E d e l s t e i n s , d e r , V e r g e i s t i -
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Literaturgeschichte der Kunstperiode. Hrsg. von Dirk Grathoff. Frankfurt a.M./Bern/ New York 1985, S. 2 3 3 - 2 9 2 . SW. Bd. 7, S. 261. Ebd. Ebd. Ebd., S. 278. Ebd., S. 262.
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g u n g ' der Form seiner F a s s u n g als K o m p l e m e n t und E r g ä n z u n g e r h e i s c h t . Und auch hier gilt es, ein Mittleres z w i s c h e n a u t o n o m e r F o r m g e b u n g und het e r o n o m e r Funktion zu f i n d e n , d a m i t „die S c h ö n h e i t des S t e i n e s d u r c h die Schönheit der G e s t a l t g e b u n g vergrößert w e r d e , w o d u r c h es sich m ö g l i c h m a che, daß der an sich so k o s t b a r e Stoff das K o s t b a r s t e w ü r d e , n ä m l i c h ein K u n s t w e r k " . 4 1 Ä h n l i c h e s gilt f ü r die D i c h t u n g . In B e z u g auf d a s Ideal a n t i k e r Prosa b e m e r k t Heinrich: „Die M ä n n e r g e f i e l e n mir, w e l c h e die D i n g e und die B e g e b e n h e i t e n mit klaren A u g e n a n g e s c h a u t hatten und sie in e i n e m s i c h e r e n M a ß e in dem R a h m e n ihrer e i g e n e n inneren G r ö ß e v o r f ü h r t e n . " 4 2 Später wird seine H o m e r - L e k t ü r e in N a t a l i e - N a u s i k a a zu ihrer e i g e n e n Welthaftigkeit finden - , w o d u r c h die Realität ihm „ f e e n h a f t " 4 1 e r s c h e i n t , wodurch aber auch „die Worte H o m e r s [...] die G e w a l t über [s]ein Herz v e r l o r e n hatten". 4 4 Und Natalie wird bei d e r H o c h z e i t d u r c h den S m a r a g d s c h m u c k einerseits, durch den S c h m u c k aus D i a m a n t e n und R u b i n e n a n d e r e r s e i t s zwiefach abgeschattet und in ihrer D o p p e l f u n k t i o n als E h e f r a u und als L i e b e n d e initiiert und inszeniert w e r d e n . 4 5 S c h l i e ß l i c h wird a u c h das G e m e i n w e s e n in gleicher Metaphorik charakterisiert, w o b e i d e m Staat a u s d r ü c k l i c h die Funktion der Fassung und nicht eigene Gestalt z u g e s c h r i e b e n w i r d . 4 6 Man mag sich nun f r a g e n , w a r u m diese R a h m e n - I n h a l t - R e l a t i o n e n hier nicht als Widerspiel von Stoff und F o r m , d e s s e n sich S t i f t e r d o c h auch bedient, beschrieben w u r d e n ; denn z u m i n d e s t im Fall der S c h n i t z e r e i e n und besonders im Falle des S c h m u c k s scheint sich eine d e r a r t i g e Interpretation anzubieten. Doch gibt es bei Stifter keine k a t e g o r i a l e T r e n n u n g , die f o r m a l e Elemente von inhaltlichen prinzipiell sondern w ü r d e , s o n d e r n j e d e Welthaltigkeit läßt lediglich eine f u n k t i o n a l e T r e n n u n g der b e i d e n i n t e r d e p e n d e n t e n und im G e g e n s t a n d identischen K a t e g o r i e n zu. Was zur F o r m , w a s z u m Inhalt wird, ist eine Funktion der P e r s p e k t i v e : Alles ist an sich S t o f f und g l e i c h z e i t i g - an uns und für uns - f o r m a l e B e d i n g u n g d e r Existenz. F o r m kann s o w o h l im hum a n e n wie auch in j e d e m a n d e r e n Bereich nur als - g e l i n g e n d e o d e r scheiternde - Exposition und A m p l i f i k a t i o n s t o f f l i c h e r Qualität: als Gestalt erscheinen. Selbst die F a s s u n g des S c h m u c k s bleibt g e b u n d e n an die M ö g l i c h keiten ihres Materials; d e s h a l b w ä r e eine plane Ü b e r t r a g u n g g e s t a l t e r i s c h e r Prinzipien aus der A r c h i t e k t u r v e r f e h l t . Bei k o m p l e x e n G e b i l d e n wird die G e staltung durch die f o r m a l e n M ö g l i c h k e i t e n ihrer E l e m e n t e und d a m i t letztlich
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Ebd., S. 180. Ebd., S. 28. Von den Schwestern der Erzählung .Der H o c h w a l d ' bemerkt der Erzähler: „Und wenn wir so die zwei schönen Angesichte g e g e n ü b e r s e h e n , ihre Worte hören, jedes ein durchsichtiger Demant, gefaßt in das Silberklar der Blicke" (WuB. Bd. 1.4, S. 224). SW. Bd. 7, S. 295. Ebd., S. 291. SW. Bd. 8.1, S. 223; zur geschmückten ,,hohe[n] Frau" vgl. WuB. Bd. 1.4, S. 283f. Vgl. SW. Bd. 8.1, S. 82.
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Lothar
Schneider
von d e r e n K o n t i g u i t ä t b e s t i m m t : D e s h a l b Stifters rigide A u s g r e n z u n g e n und U m f r i e d u n g e n , d e s h a l b die s ä u b e r l i c h e n T r e n n u n g e n und die m a n i s c h e Sucht nach R e i n h e i t . D e n n N ä h e signalisiert - g e r a d e im m e n s c h l i c h e n Bereich die G e f a h r von A n s t e c k u n g , da, wie Risach f o r m u l i e r t , „jede K r a f t , selbst die e i g e n s t e e i n e s M e n s c h e n , nicht in ihm verschlossen bleiben kann, s o n d e r n auf a n d e r e über g e h t " . 4 7 Was S t i f t e r in d e r . V o r r e d e ' zu den .Bunten S t e i n e n ' geschrieben hatte, gilt nicht n u r f ü r das S i t t e n g e s e t z , sondern auch f ü r dessen Negation, die Begierde: „wie [ n ä m l i c h ] in d e r N a t u r die a l l g e m e i n e n G e s e z e still und u n a u f h ö r l i c h w i r k e n , und d a s A u f f ä l l i g e n u r eine einzelne Ä u ß e r u n g dieser G e s e z e ist, so wirkt [auch die B e g i e r d e ] still und s e e l e n b e l e b e n d durch den u n e n d l i c h e n Verk e h r der M e n s c h e n mit den M e n s c h e n , und die W u n d e r des A u g e n b l i k e s bei v o r g e f a l l e n e n T h a t e n sind n u r kleine M e r k m a l e dieser a l l g e m e i n e n K r a f t " . 4 8 D e s h a l b m u ß m a n sich i m m u n i s i e r e n und aus Indizien e r k e n n e n , m u ß das „leibliche A u g e " z u w e i l e n d u r c h das „geistige der W i s s e n s c h a f t " 4 9 e r s e t z e n , m u ß sich g e g e n B l i c k e s c h ü t z e n , auch wenn dies, wie im , H o c h w a l d ' o d e r in R i s a c h s J u g e n d und ö f t e r s n o c h , nicht immer gelingen mag. D e s h a l b braucht m a n auch eine E r z i e h u n g d e r W a h r n e h m u n g als Erziehung des Blicks, um V e r z e r r u n g e n zu v e r m e i d e n und projektive U n t e r s t e l l u n g - auch w e n n sie aus Wissen e r f o l g t - zu v e r h i n d e r n . D a m i t j e d o c h stößt m a n an die Grenzen der poetologischen L e i s t u n g s f ä h i g k e i t des ä s t h e t i s c h e n P a r a d i g m a s der M a l e r e i , denn diese bleibt in der F a r b g e b u n g ihrem G e g e n s t a n d qualitativ v e r h a f t e t und damit in g e w i s s e r Weise lokal g e b u n d e n . Erst d e r K u p f e r s t i c h , der Qualitäten nicht t r a n s p o n i e r t , s o n d e r n z e i c h e n h a f t , d u r c h S c h r a f f u r , bedeutet, ist ähnlich . w o h l f e i l ' diskursiv i e r b a r wie die Tabellen w i s s e n s c h a f t l i c h e r M e s s u n g e n , die ja ihrerseits nichts a n d e r e s sind als Z e i c h e n z u g r u n d e liegender G e s e t z m ä ß i g k e i t e n ; im G e g e n satz zu j e n e n j e d o c h kann d e r K u p f e r s t e c h e r auch „die Seele des M e i s t e r s , wie sie sich in d e m Bilde darstellt", 5 0 w i e d e r g e b e n , wenn er die Q u a l i t ä t e n des B i l d e s , die F a r b e n , in Linien . ü b e r s e t z t ' . Z w a r wird damit w e d e r die ideale G l e i c h w e r t i g k e i t von Malerei und Dichtung suspendiert noch die p r i n z i p i e l le Vorrangigkeit d e r M a l e r e i vor dem Stich in F r a g e gestellt. A b e r d u r c h die breitere D i s t r i b u t i o n k a n n d e r Stich an „KunstWirkung" 5 1 E b e n b ü r t i g k e i t bea n s p r u c h e n . Ä h n l i c h leistet Stifter, dessen P r o t a g o n i s t auf dem m a l e r i s c h e n Feld bei S t u d i e n stehen bleibt, 5 2 f ü r seine . S t u d i e n ' auf den Titel des D i c h t e r s
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Ebd., S. 84. WuB. Bd. 2.2, S. 14f. Ebd., S. 11. Z u m geistigen Auge vgl. Marcel Oswald: Das dritte Auge. Zur gegenständlichen Gestaltung der W a h r n e h m u n g in A. Stifters Wegeerzählungen. Bern/Frankfurt a.M. u.a. 1988, S. 34ff. SW. Bd. 8.1, S. 67. Ebd., S. 68. Vgl. SW. Bd. 7, S. 179.
Das Komma im Frack
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Verzicht und b e a n s p r u c h t d e n n o c h G l e i c h w e r t i g k e i t - und von einer Bes c h l e u n i g u n g der Distribution e r h o f f t sich Risach in gut a u f k l ä r e r i s c h e r Tradition einen qualitativen U m s c h l a g , d e r schließlich die M e n s c h h e i t zu n e u e n H ö h e n f ü h r e n soll. 5 3 D e n n o c h erscheint der Vergleich e t w a s s c h i e f , denn .Stud i e n ' m a n g e l t es z w a r an ä s t h e t i s c h e r G e s c h l o s s e n h e i t , sie sind aber medial dem Werk g l e i c h w e r t i g , w ä h r e n d der Stich z w a r die G e s c h l o s s e n h e i t des Werkes w i e d e r z u g e b e n in der Lage ist, d a f ü r aber an e i n e r m e d i a l e n I n s u f f i z i e n z leidet, die durch b e s c h l e u n i g t e D i s k u r s i v i e r u n g quantitativ a u s g e g l i c h e n werden soll. Der Stich kann die Qualität, die F a r b g e b u n g des Bildes z w a r bez e i c h n e n , aber nicht p r ä s e n t i e r e n . Die erste D e f i z i e n z ist also p r a g m a t i s c h e r , allenfalls individueller, die zweite h i n g e g e n p r i n z i p i e l l e r Natur. Was aber im optischen M e d i u m der b i l d e n d e n K ü n s t e I n s u f f i z i e n z war, wird im literalen M e d i u m d e r poetischen zum Vorzug, wie Risach betont: „die D i c h t k u n s t hat b e i n a h e g a r keinen Stoff mehr, ihr Stoff ist der G e d a n k e in seiner weitesten B e d e u t u n g , das Wort ist nicht der S t o f f , es ist nur der T r ä g e r des G e d a n k e n s , wie e t w a die L u f t den K l a n g an unser O h r f ü h r t . Die D i c h t k u n s t ist d a h e r die reinste und höchste unter den K ü n s t e n . " 5 4 Das Wort als reines M e d i u m charakterisiert die D i c h t u n g als K u n s t w e r k in einer A t m o s p h ä r e quasi n a z a r e n i s c h e n Lichts. D a m i t ist das o p t i s c h e P a r a d i g ma z u g l e i c h überstiegen und z u r ü c k g e n o m m e n in die a u f k l ä r e r i s c h e U t o p i e des t r a n s p a r e n t e n M e d i u m s . L e d i g l i c h der K l a n g - und d a m i t die Ä u ß e r u n g reiner Innerlichkeit - verbleibt ihm als materiale Q u a l i t ä t , o h n e d a ß d i e s e einen p o e t o l o g i s c h e n E i g e n w e r t geltend m a c h e n k ö n n t e , denn d e r Ton und die M e l o d i e besitzen, wie S t i f t e r am Spiel des nicht d o m e s t i z i e r b a r e n Z i t h e r s p i e Icrs e x e m p l i f i z i e r t , keine E r k e n n t n i s f u n k t i o n , s o n d e r n sind z u g l e i c h allgem e i n s t e Ä u ß e r u n g e n des ,,lebendige[n] W e s e n [ s ] " 5 5 und g ä n z l i c h autistisch. Wenn Risach sagt, man k e n n e „doch alle A b s c h a t t u n g e n s e i n e s W e s e n s nicht, in wie f e r n e sie gegen A n d e r e gerichtet sind, m a n k e n n [ e ] sie nur in d e r R i c h tung g e g e n sich selbst, und beide R i c h t u n g e n [seien] sehr v e r s c h i e d e n " , 5 6 so f o r m u l i e r t er mehr, als die S t i f t e r s c h e Poetik e i n h o l e n will; sie bleibt in der U t o p i e k o n t r o l l i e r b a r e r K o m m u n i k a t i o n stecken. D o c h die Poetik des W e r k e s entzieht sich der Poetik des A u t o r s , denn auch j e n s e i t s aller v o k a l e n und graphischen Materialität besitzt das s p r a c h l i c h e Z e i c h e n physis und v e r w e i g e r t die R e d u k t i o n auf ein k o n t r o l l i e r b a r e s p n e u m a t i s c h e s S u b s t r a t . Die D i n g e , die sprachlich bedeutet w e r d e n , sind d e m Subjekt nicht v e r f ü g b a r - und w o diese U t o p i e inszeniert wird, v e r s t u m m t , wie Walter B e n j a m i n b e m e r k t e , die Welt. 5 7 E i n g e s c h l o s s e n in die e i n d i m e n s i o n a l e O r d n u n g d e s Textes, zeigen die Inhalte 51 54 55 56 57
Vgl. ebd., S. 245f. Ebd., S. 35. SW. Bd. 8.1, S. 227. Ebd., S. 179. Walter Benjamin. G e s a m m e l t e Schriften. Hrsg. von Rolf T i e d e m a n n und S c h w e p p e n h a u s e n Frankfurt a.M. 1977ff. Bd. II.2, S. 6 0 8 - 6 1 0 , hier: S. 609.
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dessen . u n s i c h t b a r e n K ä f i g ' 5 8 an, schreien anstatt zu singen, blicken mit „den s c h w a r z e n b e f r e m d e t e n A e u g l e i n eines brütenden R o t h k e h l c h e n s " 5 9 und erheischen vom Leser, was ihnen der A u t o r versagen wollte: ein E i g e n l e b e n , das freilich nur als K o m p l e m e n t der G e w a l t ihres E i n s c h l u s s e s e r s c h e i n e n k a n n . 6 0 Sie fordern j e n e Unreinheit, die zu ihnen gehört und nicht zu ihnen gehören durfte. Wenn der Text zum O r n a m e n t d e r Reinheit g e s c h l o s s e n werden soll, leistet seine Welt W i d e r s t a n d und wird zum Indiz eines Verdachts, der die Signatur seines A u t o r s trägt. Der Inhalt wird zum R a h m e n , in den sich der Verdacht einen neuen Inhalt schreibt. Selbst das b e r ü h m t e M i l c h t ö p f c h e n ist nur dann h a r m l o s e s G e n r e , w e n n man der Intention seiner Verbildlichung: d e r Einfrierung im Tableau folgt. Solche Sistierung j e d o c h widerspricht der k o n s e k u t i ven O r d n u n g des Textes. Die Situation selbst ist d r a m a t i s c h und fordert Handlung: Wer die S z e n e sieht und nicht der m a g i s c h e n Suggestion e i n e s nunc slans erliegt, der spürt schon einen u n a n g e n e h m e n G e r u c h in der N a s e .
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S W . B d . 6, S. 1 7 2 . W u B . B d . 1.4, S. 2 1 6 . I m K o n t e x t l a u t e l d a s Z i t a t : „ k e i n e J u w e l e n g l ä n z e n a u s d e r S c h m u c k n i s c h e , als die s c h w a r z e n b e f r e m d e t e n A e u g l e i n eines brütenden R o t h k e h l chens". Wolfgang Matz (Gewalt des Gewordenen. Adalbert Stifters Werk zwischen Idylle und A n g s t . I n : D V j s 6 3 ( 1 9 8 9 ) , S . 7 1 5 - 7 5 0 ) s i e h t im . N a c h s o m m e r ' e i n e „ I d o l a t r i e d e r D i n g e u n d D e t a i l s " ( S . 7 4 1 ) u n d d i a g n o s t i z i e r t im S t i f t e r s c h e n W e r k e i n e f o r t s c h r e i t e n d e Dialektik von Angst und z w a n g h a f t e r O r d n u n g . Er resümiert: „Die erstarrte S p r a c h e spricht von n i c h t s a n d e r e m m e h r , als d e n jetzt w a h n h a f t z i t t e r n d e n O b s e s s i o n e n , die d e r a l t e S t i f t e r n i c h t m e h r zu k o n t r o l l i e r e n w e i ß . " ( S . 7 4 3 ) P o e t o l o g i s c h e n t s c h e i d e n d j e d o c h ist, „ d a ß [ . . . ] d a s W e s e n t l i c h e d e s G e h a l t e s s e i n e n A u s d r u c k n i c h t m e h r im m a n i f e s t e n V o r d e r g r u n d d e s E r z ä h l t e n , v i e l m e h r in d e n k o n s t r u k t i v e n K o n f i g u r a t i o n e n d e s S p r a c h l i c h e n f i n d e t " (S. 740).
Jörg Kastner
Die Liebe im Werk Adalbert Stifters
Seit J a h r z e h n t e n wird über die S p r i n g f l u t der Stifter-Literatur geklagt, es ist der P a p i e r s c h n e e mit s c h w a r z e n F l e c k e n , d e r da j e d e s m i k r o l o g i s c h e Härchen an B e d e u t u n g zurieselt und zugräbt und f ü r den gerade nicht der Bayerische Wald verantwortlich zu m a c h e n ist. Das S t i f t e r i s c h e P a r a d o x o n von der „weißen Finsternis" ist hier wahrlich in die Wirklichkeit geraten. Stifter selbst reflektiert das P h ä n o m e n eines m a s s e n h a f t e n W i e d e r k ä u e n s des G e g e b e n e n . Sein Maler R o d e r e r , der sich vor das ö d e M o o r setzt und in einem selbstverleugnenden Willensakt o h n e g l e i c h e n versucht, die „wirkliche Wirklichkeit" 1 darzustellen und nichts anderes, erschrickt von A n f a n g an vor dem eigenen Tun: „Es ist e n t s e t z l i c h . Wenn man in eine S a m m l u n g neuer Bilder geräth, welch eine M e n g e von L a n d s c h a f t e n gibt es da; wenn man in eine G e m ä l d e ausstellung geht, welch eine noch g r ö ß e r e M e n g e von L a n d s c h a f t e n trifft man da an, und wenn man alle L a n d s c h a f t e n , w e l c h e von allen L a n d s c h a f t s m a l e r n unserer Zeit g e m a l t w e r d e n , von s o l c h e n L a n d s c h a f t s m a l e r n , die ihre Bilder v e r k a u f e n w o l l e n , und von solchen, die ihre Bilder nicht v e r k a u f e n wollen, ausstellte, welch allergrößte M e n g e von L a n d s c h a f t e n würde man da f i n d e n ! " 2 R o d e r e r b e r e c h n e t , d a ß er allein, malte er nur i m m e r ein Leben fort, „ f ü n f zehn z w e i s p ä n n i g e W ä g e n mit guten R o s s e n " 3 benötigte, um nur das eigene Œ u v r e d a v o n z u k a r r e n . A n a l o g ist ihm das ständige N e u v e r f e r t i g e n von Büchern bei der bereits v o r h a n d e n e n Flut ein U n b e g r e i f l i c h e s , wenn es die Literatur auch leichter h a b e als die Malerei. „Ein B u c h " , so meint er, „ist an sich klein, kann in e i n e m W i n k e l liegen, die Blätter können heraus gerissen werden, und die T h e i l e des E i n b a n d e s k ö n n e n als Deckel auf M i l c h t ö p f c h e n dienen".4 Schon allein diese und ä h n l i c h e i r o n i s c h e B r e c h u n g e n des eigenen verständnisses v e r b i e t e n es, im Werk S t i f t e r s die blanke Idylle, das m e i e r b e h a g e n , d a s S t a u b f ä d e n o r d n e n und j e n e s K ä f e r g l ü c k in den k ü h l e n G r ü n d e n , u m s ä u s e l t v o m W a l d e s r a u s c h e n , zu sehen, kurz, all
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SelbstBiedermoosig die In-
Z u r „ w i r k l i c h e n W i r k l i c h k e i t " : K n u t E. P f e i f f e r : K u n s t t h e o r i e u n d K u n s t k r i t i k im n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t . D a s B e i s p i e l A d a l b e r t S t i f t e r . B o c h u m 1977 ( B o c h u m e r S t u d i e n zur P u b l i z i s t i k - u. K o m m u n i k a t i o n s w i s s e n s c h a f t 11), S. 6 4 - 7 0 . SW. B d . 13, S. 2 2 9 ( N a c h k o m m e n s c h a f t e n ) . E b d . , S. 230. E b d . , S. 231.
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g r e d i e n z i e n d e r b e r ü h m t e n „ r ü c k w ä r t s gewandten Utopie". Sieht man s c h ä r f e r hin, fallen ständig s t ö r e n d e T ö n e auf: Stifters Welt 5 ist eine Welt der räumlic h e n F e r n e , die P r o t a g o n i s t e n vergraben sich, hausen in abgelegenen Winkeln o d e r ziehen sich d o r t h i n zurück vor d e m Getobe der Welt, vor ihren g e b r o c h e nen H e r z e n , vor ihrem Ekel vor d e m sinnlosen Kreislauf des m e n s c h l i c h e n T u n s , vor der e w i g u n b e r ü h r t e n , j a zynischen Heiterkeit der Natur, den gleichgültig l a c h e n d e n H i m m e l n . 6 Ein s o n d e r b a r m e n s c h e n l e e r e r R a u m umgibt sie, selbst w e n n sie sich mitten im G r o ß s t a d t g e t ü m m e l b e w e g e n , und sie h a n d e l n meist mit t r a u m w a n d l e r i s c h e r Sicherheit, nicht i m m e r j e d o c h tun sie das R e c h t e . Es ist d a s M a ß , d a s sie verlieren im Guten wie im Bösen. Ihr H a n d e l n scheint a u f s äußerste, j a s c h m e r z h a f t e s t e ritualisiert. Die Kind e r und die G r o ß m u t t e r im , K a t z e n s i l b e r ' gehen j a h r e l a n g mit n e r v t ö t e n d e r M o n o t o n i e mit ihren mit H a k e n versehenen H a s e l n u ß s t e c k e n , alles wird dabei j e d e s m a l a u f s n e u e b e s c h r i e b e n und a u f s neue seiner Z w e c k b e s t i m m u n g z u g e o r d n e t , auf den N u ß b e r g . Die G e s c h w i s t e r Dietwin und Gerlint im , F r o m m e n S p r u c h ' sitzen e i n a n d e r g e g e n ü b e r wie auf T h r o n e n und reden die F o r m e l s p r a c h e des H o h e n p r i e s t e r s in der Meßliturgie, man besucht sich w e c h s e l s e i tig unter B e o b a c h t u n g eines starren Zeremoniells in den Z i m m e r n , und m a n ist e i n g e h a u s t , wie die D i n g e in F ä c h e r n liegen und geordnet sind, e i n g e g r e n z t und a u s g e g r e n z t z u g l e i c h , vor der unendlich reglosen Natur. D e r . N a c h s o m m e r ' wird vollends zum nahezu liturgischen Ritus des Ind e n - G a r t e n - G e h e n s , des Vogel-Fütterns, des B e s c h a u e n s der Rosen, der P f l a n zen und i m m e r d e r s e l b e n Pläne, bis hin zum Einseifen von B ä u m e n und d e m von der u n v e r s t ä n d i g e n Kritik mit höhnischer Begeisterung a u f g e n o m m e n e n s t ä n d i g e n A u s - und A n z i e h e n von Filzpantoffeln, um irgendwelchen Verfall der D i n g e h i n t a n z u h a l t e n . S t i f t e r k o m p o n i e r t , i n d e m er kontrastreich scharf gezeichnete, ja b a n n e n d m a g i s c h e Bilder a n e i n a n d e r setzt wie die Flächen von K o n d e n s a t o r e n , so d a ß d a z w i s c h e n ein u n g e h e u r e r m a g n e t i s c h e r Strom knistert, der eine s c h m e r z h a f te S p a n n u n g e r z e u g t . Im . N a c h s o m m e r ' schwebt diese zwischen den G e g e n p o l e n d e r m i ß g l ü c k t e n L i e b e z w i s c h e n Risach und Mathilde und der v o l l e n d e ten z w i s c h e n H e i n r i c h und Natalie, den G e s c h w i s t e r p a a r e n Heinrich und K l o tilde und G u s t a v und N a t a l i e und den beiden Vätern Risach und D r e n d o r f , und im M i t t e l p o l die h e r m e t i s c h e Welt des R o s e n h a u s e s , in der, wie in e i n e m A l e m b i k , die W a n d l u n g und V e r v o l l k o m m n u n g unter den katalytisch w i r k e n den Blitzen sich vollzieht. In diese Pole e i n g e r ä u m t sind die v e r s c h i e d e n e n L e b e n s b e z i r k e , die Z e i t e b e n e n und das immer gleiche, ritualisierte H a n d e l n . Es ist e i n e statische Welt in klarer kristalliner Struktur; es sind S p a n n u n g s -
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M a r g a r e t W a l t e r - S c h n e i d e r : D a s U n r e c h t d e s W ä h l e n s . B e m e r k u n g e n zu S t i f t e r s s p ä t e m Stil. In: W W 4 ( 1 9 8 2 ) , S. 2 6 7 - 2 7 5 . W a l t e r H ö l l e r e r : Z w i s c h e n K l a s s i k u n d M o d e r n e . L a c h e n und W e i n e n in der D i c h t u n g e i n e r Ü b e r g a n g s z e i t . S t u t t g a r t 1958, S. 3 5 7 - 3 7 7 .
Die Liebe im Werk Adalbert
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k r ä f t e von w a n d e l l o s e r G l e i c h g e r i c h t e t h e i t in a u f g e h o b e n e r Z e i t e b e n e , die g l e i c h e r m a ß e n e i n g e f r o r e n ist, e i n e Welt, die konstruiert ist wie ein Kristall, mit v o n e i n a n d e r sich ab- und z u n e i g e n d e n Flächen, den r e t a r d i e r e n d e n , bildh a f t e n B e s c h r e i b u n g e n , den S p a n n u n g s - und H a n d l u n g s l i n i e n , die v o n e i n a n der w e g f ü h r e n und i n e i n a n d e r m ü n d e n ; und die Liebe, um die es uns hier gehen soll, ist dabei stets d e r zentrale S c h ü r z u n g s - und K n o t e n p u n k t . Blicken wir S t i f t e r s A n s c h a u u n g e n einmal von der V e r g a n g e n h e i t h e r an und nicht von e i n e m m o d e r n e n K o o r d i n a t e n s y s t e m aus. Kein G e r i n g e r e r als I m m a n u e l Kant b e h a u p t e t in den 1764 e r s c h i e n e n e n . B e o b a c h t u n g e n ü b e r das G e f ü h l des S c h ö n e n u n d E r h a b e n e n ' , man d ü r f e A u f o p f e r u n g e n und g r o ß m ü t i gen S e l b s t z w a n g von Frauen nicht f o r d e r n , und m ü h s a m e s N a c h s i n n e n und Lernen schicke sich nicht f ü r sie, weil es ihre Reize s c h w ä c h e , und d a s L e s e n der Bücher und die E r w e i t e r u n g d e r Einsicht soll unter d e r L e i t u n g d e s Ehem a n n e s erst dann e i n s e t z e n , w e n n „die A n s p r ü c h e auf R e i z u n g e n n a c h l a s s e n " und die V o l l k o m m e n h e i t der J u g e n d b l ü t e s c h w i n d e t , s o z u s a g e n als N o t b e h e l f und Ersatz f ü r die v e r l o r e n e n , im eigentlichen Sinn w e i b l i c h e n R e i z u n g e n . 7 Die Ehe definiert K a n t als „ V e r b i n d u n g zweier P e r s o n e n v e r s c h i e d e n e n G e schlechts zum l e b e n s w i e r i g e n w e c h s e l s e i t i g e n Besitz ihrer G e s c h l e c h t s e i g e n s c h a f t e n " . Im G e s c h l e c h t s a k t sieht er einen G e n u ß , in w e l c h e m sich beide P e r s o n e n , i m m e r h i n g l e i c h g e s t e l l t , e i n a n d e r „als S a c h e " e r w e r b e n . „Es ist aber der E r w e r b e i n e s G l i e d m a ß e n am M e n s c h e n " , so m e i n t K a n t weiter, „zugleich E r w e r b u n g d e r g a n z e n P e r s o n . " Für Kant folgt aus a l l e d e m , d a ß die „ H i n g e b u n g und d i e A n n e h m u n g eines G e s c h l e c h t s zum G e n u ß des a n d e r e n nicht allein unter d e r B e d i n g u n g d e r Ehe zulässig, s o n d e r n auch allein unter d e r s e l b e n m ö g l i c h " sei. 8 Kant g e h t dabei so weit, den G e s c h l e c h t s g e n u ß o h n e die v o r h e r g e h e n d e B e d i n g u n g d e r E h e „ c a n n i b a l i s c h " zu n e n n e n . 9 Vor dieser d ü s t e r e n Folie klingt Stifters F r a u e n - und L i e b e s v e r s t ä n d n i s erheblich moderner. Es ist nicht a u s g e s c h l o s s e n , d a ß Stifter u n m i t t e l b a r auf Kant antwortet. „Was sagten sie da oft f ü r ein a l b e r n e s M ä h r l e i n : die wiss e n s c h a f t l i c h e B i l d u n g zerstöre d i e s c h ö n e zarte J u n g f r ä u l i c h k e i t , und die Naivetät und die H e r z i n n i g k e i t und so weiter?", so läßt er v o n seiner A n g e l a in den . F e l d b l u m e n ' r e d e n , „ - H i e r ist doch eine W i s s e n s f ü l l e , an die w e n i g M ä n n e r reichen, und d o c h steht eine strahlenreiche J u n g f r a u da - j a , erst die rechte, ernste J u n g f r a u , auf d e r e n Stirne das V o l l e n d u n g s s i e g e l leuchtet, eine
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Immanuel Kant. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764). cap. 4; zit. nach Paul Kluckhohn: Die A u f f a s s u n g der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der Romantik. Tübingen. 3. Aufl. 1966, S. 322. In den .Erläuternden A n m e r k u n g e n zu den metaphysischen Anfangsgriinden der Rechtslehre' (1798) rechtfertigt Kant den hinter diesen Vorstellungen stehenden „Begriff von einem auf dingliche Art persönlichen Recht" ausführlich. Zitiert nach Kluckhohn (o. Anm. 7), S. 323. Die konziseste Darstellung Kants findet sich in: Die Metaphysik der Sitten. In: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 4. Darmstadt 1963, § § 2 3 - 2 7 , S. 3 8 9 - 3 9 3 .
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erblühte, s e l b s t b e w u ß t e , eine w ü r d e v o l l e J u n g f r a u , vor der z a g h a f t j e d e r S c h m u t z g e d a n k e v e r s t u m m e n m u ß . " 1 0 Neben einer blühenden Phantasie, die ihre Wurzeln im K i n d e r g e m ü t und im M ä r c h e n hat, beherrscht sie Latein und Griechisch, Französisch und E n g l i s c h , sie hat M a t h e m a t i k k e n n t n i s s e , die zum S t u d i u m d e r N a t u r nötig sind, j a sie setzt sich mit Psychologie und Naturrecht auseinander, „nur gegen P h y s i o l o g i e wehrte sie sich hartnäckig; sie f ü r c h t e t e Z e r s t ö r u n g d e r s c h ö n e n innern Welt". 1 1 Hier ist o f f e n s i c h t l i c h ein j u g e n d l i c h e s Traumideal gemalt. Hört m a n Stifters leise T ö n e , kehrt I m m a n u e l K a n t durch die Hintertür d e n n o c h wieder zurück. Seine Margarita der letzten . M a p p e ' , an der Stifter noch kurz vor sein e m Tod arbeitet, ist freilich nur unter der A n l e i t u n g Augustins eine eifrige S a m m l e r i n von Mineralien und K r ä u t e r n , deren N a m e n sie auch bei den Besuchen des Arztes stets eifrigst m e m o r i e r t , und natürlich steht auch die feine Bildung von Stifters am weitesten idealisierter T r a u m f i g u r , der Natalie des , N a c h s o m m e r s ' , unter der M e n t o r s c h a f t des greisen H o f m e i s t e r s Risach. Stifters Frauen sind d a f ü r e x z e l l e n t e Haushälterinnen. Sie halten, wie man im N i e d e r b a y r i s c h e n sagen würde, „die Sach z u s a m m e n " , und ziehen daraus nicht wenig ihres S e l b s t w e r t g e f ü h l s . Stifter rät am 1. Februar 1847 in einem Brief seinem B r u d e r A n t o n , der o f f e n s i c h t l i c h Schwierigkeiten mit Frauen hat, unbedingt darauf zu achten, „ob ein M ä d c h e n stille, e i n f a c h , sich selbst treu, d.h. nicht in Dich e i n g e h e n d , s o n d e r n ihre Art und Wesenheit stets fort b e h a u p t e n d , w e n n sie Dich sogar auch tadeln sollte, o b sie reinlich und wirthschaftlich ist. Wer die größte Reinheit und Einfachheit in seinem K ö r p e r hat, hat sie meist auch in der Seele, und wer seine H a b e rechtlich z u s a m m e n h ä l t , hält auch seine Sitten z u s a m m e n , und wer sich selber endlich immer treu ist, der hat e n t w e d e r G r u n d s ä z e , oder a n g e b o r n e n Karakter, und in beiden Fällen rechnet m a n sich auf ihn, w ä h r e n d der, der stets in Dich eingeht und Dir zu S i n n e ist, es eben so gut e i n e m A n d e r n thun kann, daher Du nie weißt, wie er m o r g e n oder ü b e r m o r g e n sein w i r d . " 1 2 Wieder sehen wir, daß Stifters Frauenbild A u t o n o m i e der Persönlichkeit bedingt und daß die Sittlichkeit korreliert ist - hier b e w e g e n wir uns in einem inneren L e b e n s t r a u m a Stifters - mit der ö k o n o m i s c h e n U m s i c h t und Fähigkeit. U m g e k e h r t kann hier auch W i l d w u c h s einreißen, und unter der H a n d verm a g das A u s w u c h e r n der O r d n u n g s l i e b e und E r w e r b s f r e u d e auf ein t i e f e r e s , seelisches U n g l e i c h g e w i c h t zu v e r w e i s e n . A b g e s e h e n v o m stets präsenten S c h l e i e r des Verhängnisses, d e r kalten Vere i n s a m u n g , der u n g l ü c k l i c h e n A n l a g e der J u g e n d , der von A n f a n g an im , W a l d g ä n g e r ' ü b e r den H a u p t f i g u r e n G e o r g und C o r i n n a s c h w e b t , wird sofort d e r Z w i e s p a l t in der L i e b e d e r b e i d e n , der tief innen verborgene W u r m , spür10 11 12
WuB. Bd. 1.4, S. 115. Ebd., S. 117. SW. Bd. 17, S. 205.
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bar, in der Entartung von Reinlichkeit und Ordnung zu Ersatzfetischismen: „Dafür empfing sie ihn immer, wenn er von seinen Reisen zurück kam, mit einer Reinlichkeit seines Hauses, mit einem Schimmer und Glanz desselben, daß er sich sagen mußte, wenn manche Menschen prachtvoller wohnen, so sei doch kein Haus so unbedingt rein und klar und Alles ordnungsgemäß umfangend wie das seine. Kein Stäubchen, kein Flecken, kein Hauch einer Unordnung war durch alle Zimmer zu sehen. Sie ordnete immer, und die schönen Geräthe oder Kunstsachen wie etwa Geschirre, Gemälde, und dergleichen, reinigte sie stets selbst; denn sie hegte zum Beispiele ihre Tische so, daß die Schönheit der Platte auch nicht einmal durch die kleinste Ritzung geschändet werden durfte." 1 3 Wobei die ganze Banalität dieses Sorgens die schwere Derangierung des seelischen Gleichgewichts nur um so bitterer fühlbar macht. In der unerbittlichsten, von kalter Angst und nachtmahrhafter Verschollenheit am düstersten eingefärbten Erzählung Stifters, im ,Turmalin', 1 4 degeneriert der Fetischismus vollends: die Frau des Rentherrn ist nichts anderes als eine auf knappste Formel gebrachte und deshalb nur um so erdrückendere Ibsensche Nora, eingekerkert in einen goldenen Käfig voller kostbarer Möbel und prachtvoller Kleider, die zu ordnen und umherzuräumen nahezu ihren gesamten Lebensinhalt ausmacht, neben der Leitung des Haushaltes und der Sorge für die Wohlfahrt ihres Rentherrn, einer schreckenerregenden Drohne, dessen Daseinssinn sich in Spielereien und im möglichst bequemen Betrachten seiner Porträtgalerie erschöpft. Das Ausbrechen der Frau aus ihrem Käfig bezahlt die Tochter, ein gespenstisches Grottenwesen mit Wasserkopf, lebendig verschollen in einer finsteren, abgeschiedenen Kellerwohnung in einer Hausruine, so mitten im städtisch-brausenden Leben vergraben wie die Leichen in den Katakomben unter St. Stephan, eines der im 19. Jahrhundert durch die Sensationsartikel der Journale immer wieder einmal geisternden, wilden Wolfskinder. 1 5 Wiederum eine gescheiterte Liebesbeziehung setzt Stifter um in dem harten Symbol des auf einer Insel im abgelegenen Bergsee, in der „finsteren Hui", sich lebendig in der burgartig verrammelten, ehemaligen Klosteranlage vergrabenden „Hagestolz", 1 6 in eine pervertierte Ordnungssymbolik, nur diesmal transponiert und invertiert auf den männlichen Part, der ja auch in der gescheiterten Liebe den passiven Teil übernommen hatte. Der Hagestolz, der trockene biblische Feigenbaum, der aus dem Garten gereutet wird, sortiert Objekte ohne System in Fächer und sortiert sie wieder um und um, um des 13 14
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SW. Bd. 13, S. 128. Vgl. hierzu die treffende Interpretation v. Wolfgang Matz: Gewalt des Gewordenen. Adalbert Stifters Werk zwischen Idylle und Angst. In: DVjs 63 (1989), S. 715-750. Dieter E. Zimmer: Experimente des Lebens. Wissenschaftsreporte über wilde Kinder, Zwillinge, Kibbuzniks und andere aufschluBreiche Wesen. Zürich 1989. Wilhelm Look: Adalbert Stifter: Der Hagestolz. München 1962 (Interpretationen zum Deutschunterricht an den höheren Schulen).
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Sortierens willen und des S c h e i n s der Geordnetheit seines wirren L e b e n s , und er b e s c h ä f t i g t sich mit Vorliebe mit d e m Abstauben a u s g e s t o p f t e r Vögel, wied e r u m ein S y m b o l der Perversion ausgerechnet des heiteren, b e w e g l i c h e n und a u f s t e i g e n d e n L e b e n s , das d e m der Liebe und der M e n s c h e n l i e b e abgedorrten I n d i v i d u u m längst a b h a n d e n g e k o m m e n ist. Wie es ein G r u n d g e s e t z seines E r z ä h l e n s ist, baut Stifter auch hier eine s p a n n u n g s g e l a d e n e Polarität auf z w i s c h e n a b g e d o r r t e m , v e r l o r e n e m Leben und der gescheiterten L i e b e des alten O h e i m s und dem frisch a u f b l ü h e n d e n L e b e n s p f l ä n z c h e n Victor, der vergeblich vom Alten in sein G e f ä n g n i s gez w u n g e n wird und d e r am Ende seine Hanna gewinnt, was k a u m zu a h n e n ist, auch nicht von der P f l e g e m u t t e r L u d m i l l a , die ihn i m m e r wieder zu freundlic h e m B e n e h m e n gegen letztere a u f f o r d e r n muß. H i e r g e l a n g e n wir zur inneren P h y s i k der L i e b e , die S t i f t e r s e i n e n Prota g o n i s t e n a n d i c h t e t . Sie bricht über die a h n u n g s l o s e n Partner h e r e i n wie ein u n v o r h e r s e h b a r e s N a t u r e r e i g n i s , m e i s t e n s ist das z e n t r a l e A g e n s d e r Blick, wie ü b e r h a u p t d a s A u g e das w i c h t i g s t e d i c h t e r i s c h e Organ S t i f t e r s ist und bleibt. Die P a r t n e r e r b l i c k e n sich p l ö t z l i c h , e r s t a r r e n , e r r ö t e n , sind wie vom D o n n e r g e r ü h r t , d e r M a n n b e n i m m t sich in der R e g e l t ä p p i s c h und h ö l z e r n ; und d a n n g e h e n beide meist w i e d e r a u s e i n a n d e r , als sei n i c h t s g e w e s e n . Nicht ihr t a g h e l l e r Verstand, die k a l k u l i e r e n d e Ratio, w e i ß um d i e D i n g e , s o n d e r n d a s H e r z , und d i e s e s steht in u n l ö s b a r e m K o n n e x mit h ö h e r e n M ä c h t e n . S o k o m m t es vor, d a ß die L i e b e n d e n h ä u f i g und lange n a c h a u ß e n hin a h n u n g s l o s sind - es w a r b e r e i t s von Victor und H a n n a im . H a g e s t o l z ' die Rede - ; noch d e u t l i c h e r spielt S t i f t e r dies d u r c h in seiner noch a b s t r a k ter als d e r . N a c h s o m m e r ' k o n s t r u i e r t e n N o v e l l e , im . F r o m m e n S p r u c h ' , die, fast e t w a s zu weit g e h e n d , j e n e s Wort von den E h e n , die im H i m m e l ges c h l o s s e n w e r d e n , d u r c h e x e r z i e r t . G e r l i n t und D i e t w i n , sie sind mit ihren Eltern bzw. P f l e g e e l t e r n g l e i c h n a m i g , werden von diesen f ü r e i n a n d e r bes t i m m t , nicht zuletzt aus ö k o n o m i s c h e n B e w e g g r ü n d e n . A b e r das f u n k t i o niert z u n ä c h s t nicht, die E h e k a n d i d a t e n k ö n n e n sich sogar nicht leiden und streiten f o r t w ä h r e n d , j a die P f l e g e e l t e r n halten sich p l ö t z l i c h selbst f ü r den G e g e n s t a n d der B e g i e r d e d e r b e i d e n , sie werden O p f e r der e m p f i n d e l n d e n S p r a c h e , d i e hier zelebriert wird, und d e r voreiligen S c h l ü s s e aus d e r B e o b a c h t u n g , d a ß d i e K i n d e r im B e t r a c h t e n ihrer P o r t r ä t s v e r s u n k e n sind. Hier k o m m t es d a n n w i e d e r aus h e i t e r e m H i m m e l zu e i n e m d e r b e z e i c h n e n d e n Stifterschen Liebesgespräche: „ , G e r l i n t , ' rief D i e t w i n , ,ich kann es nicht ertragen, w e n n dein A u g e auf irgend einen M a n n blickt.' Gerlint w e n d e t e sich um, und rief: .Dietwin, ich kann es nicht e r t r a g e n , wenn dein A u g e auf ein Weib blickt.' .Gerlint,' rief Dietwin. . D i e t w i n , ' rief Gerlint.
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Und p l ö t z l i c h faßten sie sich in die A r m e , u m s c h l a n g e n sich, und küßten sich auf den M u n d . .Dein A u g e blickt auf mich als Gattin, G e r l i n t , ' sagte Dietwin. .Dein A u g e blickt auf mich als Gatte, D i e t w i n , ' sprach Gerlint. .Ich will dich auf den Händen tragen, G e r l i n t , ' sagte Dietwin. .Ich w e r d e dir ein treues, g e h o r s a m e s Weib sein,' antwortete Gerlint. .Wir w e r d e n g e m e i n s a m schalten und w i r k e n , ' sagte Dietwin. ,Und nur in der Liebe w e t t e i f e r n , ' e r w i e d e r t e Gerlint." 1 7 Jeder, d e r diese Zeilen hört o d e r liest, weiß, daß lebende M e n s c h e n so nicht reden, und es ist ein leichtes, d a r z u t u n , daß wir es, wie bereits e r w ä h n t , mit der S p r a c h e d e r Liturgie, mit magischer, ritualisierender B e s c h w ö r u n g zu tun h a b e n , und die b e r ü h m t e n S t i f t e r s c h e n Küsse sind die liturgischen Fried e n s k ü s s e , die sich Priester reichen. I m m e r h i n erweist sich in den g e f ü h l v o l leren K ü s s e n des F r ü h w e r k s noch ein H a u c h von H u m o r und gelegentlich gar eine Spur v e r t r a c k t e r Erotik: „sie k o n n t e nichts thun, als das unsäglich gute Antlitz g e g e n ihn e m p o r h e b e n , und den M u n d e m p f a n g e n , der sich gegen ihren d r ü c k t e , und so süß war dieser K u ß , d a ß sie mit der einen Hand den sich u n g e s t ü m e m p o r d r ä n g e n d e n Hund w e g s t e m m t e , w ä h r e n d sie h i n ü b e r g e b e u g t , e m p o r g e h o b e n e n H a u p t e s die Seligkeit von den Lippen des theuren M a n n e s saugte. Er hielt sie mit beiden A r m e n k r a m p f h a f t u m s c h l u n g e n , und fühlte ihren Busen an s e i n e m k l o p f e n d e n H e r z e n w a l l e n . " 1 8 So b e n i m m t sich A n n a in der J o u r n a l f a s s u n g der , N a r r e n b u r g ' . A u c h in der J o u r n a l f a s s u n g der . M a p p e ' handeln M a r g a r i t a und Augustin noch l e i d e n s c h a f t s b e w e g t e r : „Sie f u h r plötzlich mit d e m T u c h e gegen die A u g e n , und zuckte an m e i n e r H a n d - eine Sec u n d e war n o c h , und dann wie ein Blitz lagen wir uns in den A r m e n , Herz an Herz, A r m in A r m , Lippe auf L i p p e , so heiß, so a n g e p r e ß t , so überirdisch, wie nie in der g a n z e n Vergangenheit - ein M o m e n t war es, ein Einziger, aber die g a n z e Z u k u n f t lag in ihm, und z u g l e i c h eine G e g e n w a r t voll Seligkeit, g r ö ß e r als das g a n z e U n i v e r s u m , - wir sagten nichts, sondern hielten uns und zitterten".19 Stifter n i m m t f r e i l i c h in seinen S p ä t f a s s u n g e n derartiges zurück. A u c h w e n n es in d e r . M a p p e ' zu o b i g e m V e r s ö h n u n g s k u ß nicht m e h r k o m m t , herrscht doch s c h o n von A n f a n g an ein u n t e r k ü h l t e r Ton. Die L e i d e n s c h a f t ist z u r ü c k g e d r ä n g t , und im G e g e n s a t z zu allen a n d e r e n A n g e b e t e t e n hört Margarita z u n ä c h s t auf die L i e b e s e r ö f f n u n g A u g u s t i n s gar nicht erst so recht hin: „ D a wir so g i n g e n , f r a g t e ich: . M a r g a r i t a , habt ihr mich doch auch ein wenig lieb?'
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SW. Bd. 13, S. 468. Vgl. dazu: Albrechl Koschorke und Andreas Ammer: Der Text ohne Bedeutung oder die Erstarrung der Angst. Zu Stifters letzter Erzählung „Der f r o m m e Spruch". In: D V J s 61 (1987), S. 6 7 6 - 7 1 9 . WuB. Bd. 1.1, S. 329f. WuB. Bd. 1.2, S. 101.
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Sie antwortete auf diese Frage nicht, und wir gingen langsam u n s e r e s Weges weiter. Sie schlug die Lider über ihre großen A u g e n nieder, sah in die feinen H a l m e , die an unserem Wege w u c h s e n , und allerlei graues und silbernes Flinselwerk trugen, w u r d e g a n z glüh im A n g e s i c h t e , und schüttelte dann unmerklich das H a u p t . Den A r m aber, w e l c h e n ich in den m e i n i g e n gelegt hatte, ließ sie mir." 2 0 Nach m e h r e r e n Tagen einer f ü r m o d e r n e Verhältnisse u n e r t r ä g l i c h e n G e d u l d s p r o b e , a n g e f ü l l t mit B e t r a c h t u n g und Benennen von M i n e r a l i e n , Kräutern und B l u m e n , Besichtigen von H ü h n e r n , G e f l ü g e l und Ställen, wagt A u g u stin die Frage zu erneuern und b e k o m m t die seiner u n b e d i n g t e n Liebe u n b e f r i e d i g e n d e A n t w o r t : „Doctor, ich liebe euch nach m e i n e m Vater unter allen M e n s c h e n am m e i s t e n . " D e m insistierenden Liebenden antwortet sie: „ihr müßt Eure A n g e h ö r i g e n m e h r lieben, und Gott in j e n e r Welt m e h r lieben." 2 1 Diese vollendete Selbstlosigkeit und E n t p e r s ö n l i c h u n g der Liebe wird A u g u stin d a r ü b e r h i n a u s von der eigenen S c h w e s t e r in geradezu ü b e r m e n s c h l i c h e r Weise vorexerziert: sie verzichtet v e r m e i n t l i c h v o r ü b e r g e h e n d und, wie es d a s Schicksal will, letztendlich vollständig auf die Ehe, da sie den B r u d e r noch unversorgt und u n b e w e i b t weiß. Vergleicht man die J o u r n a l f a s s u n g des ,Alten S i e g e l s ' mit der S t u d i e n f a s s u n g , so erscheint letztere wie mit einem Waschmittel nahezu von j e d e r S c h m u t z s p u r der L e i d e n s c h a f t gesäubert, so weit es die Konstruktion des Plot überhaupt zuläßt: In der J o u r n a l f a s s u n g herrscht eine s c h w ü l - d r ü c k e n d e Atmosphäre von f ü r Stifter geradezu obsessiver Erotik, von einer G e w a l t s a m k e i t , die den von ihr B e f a l l e n e n geradezu a u ß e r sich geraten und seinen L e b e n s p l a n völlig vergessen läßt. Um dies zu v e r d e u t l i c h e n , greift Stifter in einer f e i n e n stilistischen W e n d u n g auf das Motiv der relativen B e w e g u n g z u r ü c k : „Sie wurde [...] mit S c h a r l a c h r ö t h e Übergossen, aber d e n n o c h k o n n t e sie die s c h ö nen Augen nicht von ihm w e n d e n , als wäre sie in der That irrsinnig, und nur gebannt von der Süßigkeit seines Antlitzes. - Es war nur eine S e c u n d e H u g o sagte kein Wort, und als er sich g e f a ß t , war die S e c u n d e vorbei, u n d e r fand sich bereits auf d e m R ü c k w e g e . Die Häuser gingen m e c h a n i s c h an ihm vorüber, und das Rasseln d e r W ä g e n erschien ihm, als k ä m e es aus g r o ß e r F e r n e " . 2 2 Hier ist m e h r e r e s in das s c h a r f e Sprachbild Stifters gesetzt: d e r v o n der L i e b e s l e i d e n s c h a f t B e s e s s e n e ist nicht mehr h a n d e l n d e s Subjekt, und d i e Welt ist es, die sich von ihm z u r ü c k b e w e g t , die er verliert. Im A u g e n b l i c k d e r Peripetie heißt es in der J o u r n a l f a s s u n g noch: „Eines A b e n d s e n d l i c h , da sie an ihm zitterte, glühte, heiße T h r ä n e n auf seine Wangen weinte und d o c h nicht das l i e b e n d e , traute Weib war - sondern an allen Pulsen bebte, wie e i n e g l ü h e n d e Verbrecherin, als auch ihm schwindelte, und eine Bergeslast v o n
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SW. Bd. 12, S. 181. Ebd., S. 182. WuB. Bd. 1.2, S. 182f.
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Wonne um seine ü b e r s c h a t t e t e n S i n n e hing: d a m a l s , als er spät in der Nacht unter einem g e w i t t e r z e r r i s s e n e n H i m m e l nach Hause ging, d a m a l s schrie es s c h m e r z l i c h in ihm auf: ,das ist die Liebe nicht, das ist nicht ihr reiner, goldener, seliger Strahl, wie er dir i m m e r v o r g e s c h w e b t , daß er aus einem schönen E n g e l s h e r z e n b r e c h e n w e r d e , und das deinige verklären - nein - nein nein, das ist er n i c h t . " 2 3 A u s d e r S t u d i e n f a s s u n g v e r s c h w i n d e n alle Tränen, alle Glut, alle b e b e n d e n Pulse, die g l ü h e n d e Verbrecherin, und alle Bergeslasten von W o n n e n , d e r g a n z e ü b e r h i t z t e Apparat der Sexual- und G e f ü h l s s p r a che, hier heißt es n ü c h t e r n : „ E i n e s A b e n d s , da er zu lange geblieben war, und spät in der Nacht unter e i n e m g e w i t t e r z e r r i s s e n e n Himmel nach Hause ging schrie es in ihm auf: , D a s ist die Liebe nicht, das ist nicht ihr reiner, goldner, seliger Strahl [ . . , ] . ' " 2 4 Als letzte R e m i n i s z e n z des a u f g e w ü h l t e n G e m ü t e s ist hier lediglich noch d e r „ g e w i t t e r z e r r i s s e n e H i m m e l " und i m m e r h i n der innerliche Schrei übrig g e b l i e b e n . Im . N a c h s o m m e r ' stellt Stifter die ideale und die i c h - v e r s u n k e n e Liebe k o n t r a p u n k t i s c h g e g e n ü b e r . In der Liebe G u s t a v s von Risach zu Mathilde erleben wir nicht nur e i n e n N a c h k l a n g der G e f ü h l s - und L e i d e n s c h a f t s s p r a c h e des F r ü h w e r k s , das A u f e i n a n d e r z u f l i e g e n , das Zittern, die u n v e r m e i d l i c h e n Tränen, die Röte: „ D a flog sie auf mich zu, drückte die s a n f t e n Lippen auf meinen M u n d und s c h l a n g die j u n g e n A r m e um meinen N a c k e n . Ich u m f a ß t e sie auch und d r ü c k t e die s c h l a n k e Gestalt so h e f t i g an mich, daß ich meinte, sie nicht los lassen zu k ö n n e n . Sie zitterte in m e i n e n A r m e n und s e u f z t e . " 2 5 Hier arbeitet S t i f t e r w i e d e r e i n m a l sein eigenes L e b e n s t r a u m a auf. Die Liebeskasuistik, die er G u s t a v seiner M a t h i l d e g e g e n ü b e r e n t w i c k e l n läßt, s t a m m t direkt aus S t i f t e r s Brief an die J u g e n d g c l i e b t e Fanny Greipl vom 15. N o v e m b e r 1829, n u r mit verteilten Rollen: Mathilde ist die unbedingt, „ e g o i s t i s c h " im S t i f t e r s c h e n Sinn L i e b e n d e , während sich Gustav letztendlich der elterlichen R a t i o beugt und so in den A u g e n der l e i d e n s c h a f t s v e r b l e n d e t e n Mathilde die L i e b e verrät. D i e s e , einmal a u s g e s p r o c h e n , ist e w i g bindend, auch w e n n der L i e b e s b u n d durch den E i n s p r u c h der Eltern oder durch sonstige U m s t ä n d e nicht z u s t a n d e k o m m e n sollte, eine f ü r Stifter selbst, und dies ist wohl d e r Kern s e i n e s L e b e n s t r a u m a s , u n e r f ü l l b a r e I d e a l f o r d e r u n g . Heinrich D r e n d o r f und N a t a l i e T a r o n a sind diesem P r o b l e m gar nicht erst u n t e r w o r f e n : H e i n r i c h ist v o n A n f a n g an der Richtige, und Risach weiß dies bereits im A u g e n b l i c k , da H e i n r i c h z u m ersten Mal am G a r t e n t o r des Rosenhauses steht. 2 6 A l l e s s t i m m t , Ö k o n o m i e , S c h ö n h e i t , B i l d u n g , und alles wird in den fest g e o r d n e t e n B a h n e n des Vertragsrechts a b g e w i c k e l t und w i e d e r u m in 23 24 25 26
Ebd., S. 194f. WuB. Bd. 1.5, S. 387. SW. Bd. 8.1, S. 130. „Als ihr zum e r s t e n M a l e a n d e m G i t t e r m e i n e s H a u s e s s t a n d e t , " so gesteht Risach Heinrich im G e s p r ä c h , „und ich E u c h sah, d a c h t e ich: . D a s ist vielleicht der Gatte für N a t a l i e n . ' " (SW. Bd. 8.1. S. 173).
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d e r b e s c h w ö r e n d - b a n n e n d e n S p r a c h e der Liturgie, aber auch die L i e b e s k a s u i stik S t i f t e r s wird v o m g l ü c k l i c h e n Paar noch einmal rekapituliert: „Ihr habt g e s a g t , N a t a l i e , d a ß wir das G l ü c k , das uns vom H i m m e l gefallen ist, ewig a u f b e w a h r e n sollen. Wir sollen es auch e w i g a u f b e w a h r e n . Schließen wir den B u n d , d a ß wir u n s lieben w o l l e n , so lange das Leben währt, und d a ß wir treu sein w o l l e n , w a s a u c h i m m e r k o m m e , und was die Z u k u n f t bringe, o b es uns a u f b e w a h r t ist, d a ß w i r in V e r e i n i g u n g die Sonne und den H i m m e l g e n i e ß e n , o d e r o b J e d e s allein zu b e i d e n e m p o r blickt und nur des Andern mit S c h m e r zen g e d e n k e n k a n n . " 2 7 Wie alle idealen L i e b h a b e r S t i f t e r s , der Maler R o d e r e r etwa o d e r Viktor, d e r es g a r auf vier J a h r e bringt, begibt sich auch Heinrich nach Erhalt des JaWortes s e e l e n r u h i g und m u t t e r s e e l e n a l l e i n auf eine m e h r j ä h r i g e R e i s e , alles ist b e h e r r s c h t , d e r a m o r p h e , b l u t i g e G r u n d des Herzens, die „ t i g e r h a f t e Anlag e " auskristallisiert in die g l a s k l a r e Welt v o l l k o m m e n e r L e i d e n s c h a f t s l o s i g keit. G e h e n wir n o c h e i n m a l ins Reich der L e i d e n s c h a f t e n , zu den g e s c h e i t e r t e n und u n g l ü c k l i c h e n B e z i e h u n g e n z u r ü c k ! Im . B e s c h r i e b e n e n T ä n n l i n g ' , j e n e r E r z ä h l u n g v o n d e r m i ß b r a u c h t e n und g e s c h ä n d e t e n Natur - in die R i n d e des t i t e l g e b e n d e n B a u m e s sind S y m b o l e d e r Verliebtheit eingeschnitten - geht es um eine v i e l s c h i c h t i g e r e S t ö r u n g der „ N a t u r " , des „ W e s e n t l i c h - S e i n s " , die weit ü b e r eine b l o ß e „ N a r r e n l i e b e " des langen H a n n s zur armen H ä u s l e r s t o c h ter H a n n a h i n a u s g r e i f t , deren Wesen sich völlig in Flitterkram und Ä u ß e r l i c h keiten verliert. B e z e i c h n e n d e r w e i s e wird wieder ihre übergroße Reinlichkeit h e r v o r g e h o b e n , d i e in ihrer sozialen L a g e den B e i g e s c h m a c k des A b s o n d e r l i chen a n n i m m t . A b e r auch der lange H a n n s ist sozial a b g e h o b e n , w e n n auch d u r c h P o s i t i v e s z u n ä c h s t , d u r c h ü b e r a u s große K ö r p e r k r a f t , b e s o n d e r e Leistung und e r n s t e r e s Wesen als seine H o l z h a u e r g e f ä h r t e n . Er sieht freilich nicht, d a ß er die ü b l e A n l a g e seiner H a n n a nur fördert, und er benutzt den Pop a n z , den er aus ihr m a c h t , im G r u n d e nicht anders als die J a g d g e s e l l s c h a f t die g e m a r t e r t e T i e r w e l t , und b e i d e M o t i v s t r ä n g e sind j a bewußt k o n t r a p u n k tisch i n e i n a n d e r g e s e t z t , n ä m l i c h rein i n s t r u m e n t e n . „Wenn er mit ihr bei ein e m T a n z e o d e r bei sonst e i n e r G e l e g e n h e i t war, wo sie Viele sehen k o n n t e n , und w e n n n u n d e r eine o d e r a n d e r e j u n g e Mann mit seinen Augen schier nicht von ihr lassen k o n n t e , und s t u n d e n l a n g sie mit denselben g l e i c h s a m vers c h l a n g , so hatte H a n n s seine a u ß e r o r d e n t l i c h e Freude darüber und t r i u m p h i r te."28 In die n u r s c h e i n b a r g e o r d n e t e , stille Waldwelt bricht nun eine p e r v e r t i e r t e g r o ß b ü r g e r l i c h - a d e l i g e G e s e l l s c h a f t zu Festivitäten und vor allem zu J a g d v e r g n ü g u n g e n von a u ß e r g e w ö h n l i c h e r Bestialität herein. G u n t e r H. H e r t l i n g hat
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in seiner Interpretation z u t r e f f e n d die M o t i v e d e r „ v e r k e h r t e n Welt", d e r M a s kerade und Verriickung h e r a u s g e a r b e i t e t . 2 9 G e r a d e das Volk wird d u r c h diese G e s e l l s c h a f t korrumpiert, wenn es dies nicht s c h o n im Innersten längst g e w e sen ist. Schon die Vorfreude auf das N e t z j a g e n , das p e r v e r s e , g n a d e n l o s e A b schlachten der hilflosen K r e a t u r um des b l a n k e n V e r g n ü g e n s willen, verrät dies. Das Nichtwissen schaltet S t i f t e r b e w u ß t aus, i n d e m er den alten S c h m i e d aus der Vorderstift, nicht zuletzt, um das G r a u e n zu p o t e n z i e r e n , bei j e d e r G e legenheit erzählen läßt, was sich bei einer f r ü h e r a b g e h a l t e n e n N e t z j a g d a b g e spielt habe. Er erzählt vor allem von e i n e m B ä r e n , „der mit den a n d e r n in's Nez getrieben worden war, und d e r bald zum a l l g e m e i n e n E r g ö z e n d i e n t e , indem Jeder so schnell als m ö g l i c h sein G e s c h i k an ihm v e r s u c h e n wollte. D a nun die Hirsche oft h i m m e l h o h e S p r ü n g e w a g t e n , o b sie die L e i n w a n d ü b e r s e zen könnten, ohne daß es ihnen g e l a n g , so f u h r d e r Bär, der bereits v e r w u n d e t war, in seiner Verzweiflung g e g e n das G e w e b e , pakte es mit seinen Tazen, und riß von dem f u r c h t b a r starken G e f l e c h t e e i n e g a n z e Streke heraus, so d a ß Tuch und Nez weg waren [...]. Der Bär und der g a n z e g e h e z t e S c h w a n n , d e r noch übrig war, f u h r nun mit g r o ß e m G e t ö s e d u r c h das Loch h i n a u s , und Alle, die z u g e g e n waren, m u ß t e n in ein G e l ä c h t e r a u s b r e c h e n . " 3 0 D a s G e l ä c h t e r über die gequälte Kreatur gehört zu den s c h l i m m s t e n V e r z e r r u n g e n , d i e s m a l des oben bereits a n g e d e u t e t e n k a r n e v a l e s k e n F a s c h i n g s - und V e r g n ü g u n g s e l e m e n t e s . Zunächst parallelisiert S t i f t e r u n e r b i t t l i c h das brutale, i n h u m a n e G e s c h e h e n , indem er das n u n m e h r in der G e g e n w a r t s t a t t f i n d e n d e N e t z j a g e n schildert mit der unerträglichen K ü h l e seines v o n j e d e m S e n t i m e n t e n t l e e r t e n D e t a i l r e a l i s m u s von K l e i s t i s c h e r H ä r t e des E r z ä h l e n s . Der l ä c h e r l i c h e A u f z u g der Herren mit D i e n e r s c h a f t , G e r ä t und in v o l l e m Putz: „ J e d e r hatte auch zwei Diener hinter sich, die b e s t ä n d i g laden und die G e w e h r e d a r r e i c h e n sollten. Heute waren die Herren alle in v o l l e m Puze [...]. An den Westen und R ö k e n hatten sie goldene B o r d e n , und Alle hatten k l e i n e mit G o l d a u s g e l e g t e H i r s c h f ä n g e r an den Schößen, sie trugen s ä m m t l i c h g e p u d e r t e H a a r e und d a r a u f einen dreieckigen Hut. Die m e i s t e n waren in T a n n e n g r ü n g e k l e i d e t , und n u r einige hatten Kleidertheile von h o c h g e l b e m L e d e r s t o f f e . Wo nicht B o r d e n waren, war h ä u f i g schöne Stikerei auf den G e w ä n d e r n , und die T r o d d e l n des auf die Weste herab g e h e n d e n H a l s t u c h e s hatten g o l d e n e F r a n s e n . " 3 1 Es verrät die ganze, z w i e s p ä l t i g e H e u c h e l e i d i e s e r G e s e l l s c h a f t , d a ß m a n die Frauen immerhin von d i e s e m r ü d e n Vergnügen f e r n h ä l t . D e r S c h u l m e i s t e r von O b e r p l a n weiß zu berichten: „die F r a u e n d ü r f t e n wohl J ä g e r k l e i d e r a n h a b e n " - man ist stets willig bei der H a n d , um M u m m e n s c h a n z zu treiben - , „aber nicht jagen; die Sitte e r l a u b e nicht e i n m a l , d a ß die F r a u e n bei d e m T ö d -
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G u n t e r H. H e u l i n g : A d a l b e r t S t i f t e r s J a g d a l l e g o r i e „ D e r b e s c h r i e b e n e T ä n n l i n g " : S c h a n -
de durch Schändung. In: VASILO 29 (1980), S. 4 1 - 6 5 . WuB. Bd. 1.6, S. 406f. Ebd., S . 4 1 0 f .
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ten d e r Thiere z u g e g e n seien, weil sie zu zart und zu fein sind, so d a ß sich nur das S c h ä f e r s p i e l f ü r sie schike [...]." 3 2 D a s grobklotzige Volk b r a u c h t sich von derlei B e d e n k l i c h k e i t e n nicht stören zu lassen: hier genießen M ä n n l e i n und Weiblein mit k l o p f e n d e n Herzen, wie es heißt, das blutige G e m e t z e l , und auch hier der pervertierte, k a r n e v a l e s k e M u m m e n s c h a n z : „Sie waren sonntäglich gekleidet, trugen zum T h e i l e R e i f r ö k e , zum Theile das kurze, f a l t e n r e i c h e R ö k c h e n und m e i s t e n s auch Z w i k e l s t r ü m p f e und Stökelschuhe. M a n c h e Vorn e h m e r e hatten w e i ß b e s t ä u b t e s Haar." 3 3 Dieses ä f f i s c h e Imitieren e i n e r verk o m m e n e n h ö f i s c h e n Welt deutet bereits die verkehrte Welt in der Verwischung der S t a n d e s g r e n z e n voraus, die in der trunkenen A u f g i p f e l u n g der g r a u e n h a f t e n Festivitäten, in s c h a m l o s e r Verbrüderung über den L e i c h e n der Natur, vollzogen werden wird. Man schießt endlich die zwischen Netzen z u s a m m e n g e t r i e b e n e n Tiere über den H a u f e n , und Stifter protokolliert mit e i s i g e m Blut das g r a u e n h a f t e Geschehen: „Ein Hirsch sezte über alle G e b ü s c h e , sprang endlich gegen das Linnen so hoch auf, als wollte er eine H i m m e l s l e i t e r überspringen, w u r d e im S p r u n g e g e t r o f f e n , überstürzte sich und fiel hernieder. Eine wilde K a z e schoß j ä h an einem B a u m e empor, um sich von ihm aus über die Neze h i n a u s zu w e r f e n , aber sie wurde von einer Kugel auf ihrem B a u m e erreicht, schnellte in einem Bogen hoch über den Wipfel und fiel auf die Erde." 3 4 W ä h r e n d dieser blutrünstigen Ergötzlichkeiten vollzieht sich, was die ganze Zeit bereits symbolisch vorausgedeutet war: H a n n a , geputzt in ihren Flitterkram, den sie zumeist von ihrem langen H a n n s bezogen hat, k o m m t wie zufällig neben Graf Guido, der an R e i c h t u m und Schönheit alle a n d e r e n übertrifft, zu stehen. Und gleich zu gleich gesellt sich gern. Das blinde Volk erkennt w e n i g s t e n s dies, und allüberall wird der Ruf laut: „Das ist das s c h ö n s t e Paar, das ist das schönste P a a r ! " 3 5 Stifter liefert hier eine böse Parodie des in der R e v o l u t i o n s z e i t b e s o n d e r s gern kolportierten Schlagwortes von d e r „Vox populi, vox D e i " , das noch heute gut ist, j e d e n U n f u g zu rechtfertigen. S o wie sich Volk und S t ä n d e über d e m bösen Schauspiel der N a t u r s c h ä n d u n g v e r m i schen, k o m m t es jetzt zur völligen Verrückung d e r Grenzen durch d i e s e Verb i n d u n g : „ U n d die alte M u t t e r " , so heißt es, „war wie blödsinnig, und m a c h t e Knixe, w e n n der schöne Herr oder sein Diener in das Häuschen t r a t e n . " A l l e s gerät aus den F u g e n , die Welt wird verrückt: „Weil jezt Alles nach g a n z a n d e rem M a ß s t a b e in O b e r p l a n g e s c h a h , als zu sonstigen Zeiten, so w a r e n auch alle K ö p f e verrükt, und hatten nur s c h ö n e K l e i d e r und H o f f a h r t und g n ä d i g e Frauen und g n ä d i g e Herren vor A u g e n . " 3 6
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Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 411. S. 412. S. 413. S.. 419.
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D i e i n n e r e V e r r ü c k u n g u n d Z e r s t ö r u n g treibt S t i f t e r a b e r e r h e b l i c h w e i t e r , g e g e n s e i n e s o n s t i g e G e w o h n h e i t in d e n i n n e r s t e n B e z i r k d e s R e l i g i ö s e n hine i n . N i c h t nur, d a ß d a s S c h l a c h t f e s t mit e i n e r H e i l i g e n M e s s e e i n g e l e i t e t w i r d - w e l c h e i n e z y n i s c h e P a r a l l e l s e t z u n g d e r H i n s c h l a c h t u n g d e r T i e r w e l t mit C h r i s t i O p f e r t o d - , d i e M e s s e w i r d a u s g e r e c h n e t in d e r G u t w a s s e r - K a p e l l e u n t e r d e m Bild d e r s c h m e r z h a f t e n M u t t e r g o t t e s g e h a l t e n , d e m S i n n b i l d d e s H e i l e n d e n u n d d e s m ü t t e r l i c h e n M i t l e i d e n s . Mit d i e s e m Bild hat es e i n e bes o n d e r e B e w a n d t n i s : e s ist e i n H e i l t u m , d a s i n m i t t e n e i n e r von e i n e m b l i n d e n Bettler aufgrund einer Traumvision freigelegten Quelle a u f g e f u n d e n wurde. I n d e m sich d e r B e t t l e r m i t d e m W a s s e r d i e A u g e n b e s t r i c h , w u r d e er w i e d e r s e h e n d . Die G e s e l l s c h a f t , d i e S t i f t e r hier s o hart kritisiert, v e r h a r r t d a g e g e n s e h e n d vor d e m G n a d e n b i l d in v o l l s t ä n d i g e r B l i n d h e i t . D i e s gilt a u c h u n d ger a d e f ü r die h e r z e n s b l i n d e H a n n a . S i e w ü n s c h t sich bei ihrer e r s t e n B e i c h t e vor d e m G n a d e n b i l d n i c h t wie ihre A l t e r s g e n o s s i n n e n d e m B r a u c h e n t s p r e c h e n d ein g u t e s L e b e n , s o n d e r n d e n Flitter, in d e n m a n , d e r t ö r i c h t e n G e p f l o g e n h e i t der Zeit e n t s p r e c h e n d , d a s G n a d e n b i l d e i n g e k l e i d e t h a t t e . Sie ist blind und sieht n i c h t d a s v o m S c h m e r z ü b e r d e n E r l ö s u n g s t o d ihres S o h n e s d u r c h b o h r t e H e r z d e r M u t t e r G o t t e s , e b e n s o w e n i g wie die g r e n z e n l o s e g ö t t l i c h e L i e b e , so wie sie a u c h d e n l a n g e n H a n n s nicht m e h r sieht, s o b a l d er als Q u e l le v o n H a a r n a d e l n u n d S c h ü r z e n a u s g e d i e n t hat und ü b e r t r u m p f t ist. H a n n a e r z ä h l t d i e s e W ü n s c h e i h r e n S p i e l k a m e r a d i n n e n und d e m l a n g e n H a n n s , u n d als sie in d a s S c h l o ß als G r ä f i n G u i d o e i n z i e h t , ist d a s Volk - e b e n s o b l i n d , u n d w i e d e r u m v e r s c h ä r f t d i e P a r o d i e auf d a s „Vox p o p u l i , vox D e i " - d e r M e i n u n g , d a s G n a d e n b i l d h a b e ihre W ü n s c h e e r f ü l l t . D e r G o t t A d a l b e r t S t i f ters f r c i l i c h ist i m m e r e r h a b e n - u n b e t e i l i g t , er m i s c h t sich nicht e i n , u n d d e r M e n s c h trägt d i e u n e r b i t t l i c h e n K o n s e q u e n z e n s e i n e r a b s o l u t e n F r e i h e i t u n d s e i n e r N a r r h e i t . G o t t e s W i r k e n b e s c h r ä n k t sich auf Z e i c h e n , d i e e r d e m M e n s c h e n setzt, w o r a u s d e r M e n s c h d e n G a n g d e s S c h i c k s a l s a b l e s e n u n d F e h l e r v e r m e i d e n k ö n n t e , w ä r e er nicht m i t B l i n d h e i t g e s c h l a g e n . D i e Vox p o p u l i , die Gott zum Vollstreckungsbeamten von Hannas törichtem Flitterkramleben h e r a b z i e h t , ist d i e s c h l i m m s t e B l a s p h e m i e in d i e s e r u n e r b i t t l i c h e n N o v e l l e S t i f t e r s , u n d d i e M e i n u n g d e s alten S c h m i e d s a u s d e r V o r d e r s t i f t , an H a n n a h a b e sich e h e r ihre V e r w ü n s c h u n g g e z e i g t , w ä r e b e i n a h e d i e g l e i c h e B l a s p h e m i e , w ü r d e er n i c h t d i e G n a d e e r k e n n e n , d i e H a n n s zuteil w u r d e . D i e s e r s c h ä r f t mit aller G e w i s s e n h a f t i g k e i t s e i n Beil, als e r von G u i d o u n d H a n n a erf ä h r t , u n d will sich z u m b e s c h r i e b e n e n T ä n n l i n g b e g e b e n , u m h i e r auf G u i d o zu l a u e r n , d e r b e z e i c h n e n d e r w e i s e g e n a u d o r t s e i n e n S t a n d p l a t z f ü r e i n e weitere g e p l a n t e T r e i b j a g d e i n n e h m e n soll. V o r h e r j e d o c h betet H a n n s l a n g e v o r d e m Gnadenbild und bestreicht seine Augen mit d e m Wasser der Quelle. Er w i r d d a d u r c h in e i n e m s p i r i t u e l l e n S i n n s e h e n d u n d e r l e b t im T r a u m e i n e Vision d e s G n a d e n b i l d e s , d a s m i t u n e r b i t t l i c h e r S t r e n g e auf ihn h e r a b b l i c k t . E r e r k e n n t d a d u r c h d a s V e r w o r r e n e s e i n e r W ü n s c h e u n d A b s i c h t e n , er g i b t sie a u f , ä n d e r t sein L e b e n u n d e r n ä h r t h i n f o r t d i e K i n d e r s e i n e r v e r s t o r b e n e n
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Jora
Kästner
Schwester. A u c h er bleibt, dem Stifterschen Liebesideal e n t s p r e c h e n d , f ü r alle Z u k u n f t ehelos. In einem harten S c h l u ß t a b l e a u begegnet er, inzwischen gealtert, in sein Antlitz sind tiefe Falten e i n g e g r a b e n , Hanna, die, v o r n e h m g e k l e i d e t , aber bleich, in ihrer h e r r s c h a f t l i c h e n Kutsche an ihm v o r ü b e r f ä h r t . W ä h r e n d er sie e r k e n n t , erkennt sie ihn nicht - erneut das Zentralmotiv der Blindheit und des Nichterkennens ; und sie wirft dem vermeintlichen Bettler ein G o l d s t ü c k hin. H a n n s läßt die G o l d m ü n z e fassen und wie eine Votivgabe in d e r G u t w a s ser-Kapelle a u f h ä n g e n : d a s S y m b o l seiner Heilung von der K r a n k h e i t und Flitterwelt des M a t e r i a l i s m u s und seiner pervertierten, falschen Liebe. Letztere war Welten entfernt von der Definition, die Gustav von R i s a c h in seiner abgeklärten Altersweisheit von Stifters e i g e n e m , höchstem L i e b e s t h e o rem geben wird: „Lieben als u n b e d i n g t e Werthhaltung mit u n b e d i n g t e r Hinneigung kann man nur das Göttliche oder eigentlich nur Gott: aber da uns Gott f ü r irdisches Fühlen zu u n e r r e i c h b a r ist, kann Liebe zu ihm n u r A n b e tung sein, und er gab uns für die Liebe auf Erden T h e i l e des G ö t t l i c h e n in v e r s c h i e d e n e n Gestalten, denen wir uns zuneigen k ö n n e n : so ist die Liebe der Eltern zu den K i n d e r n , die Liebe des Vaters zur Mutter, der Mutter z u m Vater, die Liebe der G e s c h w i s t e r , die L i e b e des Bräutigams zur Braut, der Braut zum Bräutigam, die Liebe des F r e u n d e s zum Freunde f...]." 3 7 Zieht man ein R e s ü m e e aus all den Liebesverhältnissen, aus den M o d e l l e n der G e s c h l e c h t e r b e g e g n u n g , die Stifter immer wieder in seinem Werk durchspielt, so stehen den wenigen g e g l ü c k t e n Paaren - hier ist natürlich W i t i k o mit a u f z u f ü h r e n , auch einer d e r von A n f a n g an Vollendeten; seine erste Beg e g n u n g mit Bertha auf der Waldwiese ist genauso göttlich prädestiniert und entscheidet bereits alles, wie sein g e s a m t e r L e b e n s w e g - : es stehen also den geglückten L i e b e s b e g e g n u n g e n weit mehr unglückliche und g e s c h e i t e r t e gegenüber. Die Liebe ist eine g e f ä h r l i c h e Schaltstelle in der L e b e n s m e c h a n i k der Stifterschen M e n s c h e n , der Eingriff des Schicksals 3 8 und der Blindheit des M e n s c h e n , der den g o l d e n e n Wagen des Schicksals nicht rollen sieht und hört, o b w o h l Gott seine Spur im voraus aufzeigt. Der Mensch ist e i n g e b e t t e t in eine d i f f i z i l e und seiner Einsicht nicht immer a u f g e s c h l o s s e n e A b s t u f u n g göttlicher W i r k k r ä f t e . Stifter spricht wiederholt von der „ B l u m e n k e t t e " des Schicksals, und er meint damit das alte, neuplatonische Bild der „ A u r e a catena H o m e r i " und das h e r m e t i s c h e Weltbild, das vor allem die F r e i m a u r e r e i seiner Zeit noch i m m e r w e i t e r p f l e g t . Seine M e n s c h e n b r e c h e n unter einer Fülle schier unerträglicher S c h i c k s a l s schläge z u s a m m e n , o h n e die Ursachen im eigenen Inneren zu s u c h e n , wie im
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SW. Bd. 7, S. 356. Über Stifters Schicksalsbegriff vgl. Sepp Domandi: Die Idee des Schicksals bei Adalbert Stifter. Urphänomen oder Gegenstand der spekulativen Vernunft. In: VASILO 23 ( 1 9 7 4 ) , S. 8 1 - 9 9 .
Die Liebe im Werk Adalbert
Stifters
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. A b d i a s ' , sie sind u m g e t r i e b e n von blinden und nur scheinbar plötzlich here i n b r e c h e n d e n L e i d e n s c h a f t e n , wie S t e p h a n Murai in . B r i g i t t a ' , der wie die Titelheldin doch noch ein spätes und um so p l a t o n i s c h e r e s Glück findet. Ein e l f e n h a f t e s Wesen ist d a s wilde M ä d c h e n aus . K a t z e n s i l b e r ' , das den Weg zum Geliebten nicht findet und sich im m ä r c h e n h a f t e n Nichts verliert. Sein Schicksal korrigiert S t i f t e r im . W a l d b r u n n e n ' ins Positive, seinem T r a u m - und W u n s c h d i c h t e n e n t s p r e c h e n d , e i n e K o r r e k t u r des G e s c h i c k s seines M ü n d e l s Juliana. Die Liebe scheitert aus den v e r s c h i e d e n s t e n G r ü n d e n , und eine Verf e h l u n g gegen ihr heiliges G e s e t z f ü h r t zur u n w i d e r r u f l i c h e n Z e r s t ö r u n g . Dies gilt f ü r Margarita und A u g u s t i n g e n a u s o wie f ü r J o d u k u s und C h e l i o n . Die Liebe ist gegeben und läßt sich nicht e r z w i n g e n . P r o k o p s Verhältnis zu Gertraud ist eine einzige s c h m e r z l i c h e B e s c h w ö r u n g , die niemals fruchtet. Beide reden aneinander vorbei und k ö n n e n nicht auf ihre innersten T ö n e hören, ja sind unfähig, sie recht a u s z u s p r e c h e n . Die geistige Welt P r o k o p s erscheint G e r t r a u d unverständlich, j a f e i n d l i c h , verkörpert in der rational-analytischen, den Schleier des ästhetischen S c h e i n s d e r Natur z e r r e i ß e n d e n T h e o r i e von P r o k o p s Lehrer Bernhard von K l u e n : „er e r g r e i f e A l l e s , " so klagt G e r t r a u d , „er zerstöre Alles, aus den Sternen w o l l e e r wilde Erdkugeln m a c h e n , w o es ist, wie hier - er reiße sie a u s e i n a n d e r , und v e r w i r r e die Welt, d a ß sie nicht so schön sei, wie sie ist". 3 9 Hier ist w e n i g e r eine R ü c k n a h m e des von Stifter in seiner „ A n g e l a " der . F e l d b l u m e n ' g e z e i c h n e t e n F r a u e n i d e a l s zu sehen als eher eine Inversion der K o n s t e l l a t i o n des . C o n d o r ' : Die Frau ist hier diejenige, die die Ganzheit h o c h h ä l t , die ä s t h e t i s c h e S y n t h e s i s e n t g e g e n der naturw i s s e n s c h a f t l i c h e n Z e r g l i e d e r u n g , das seelische G e s e t z , die künstlerisch-ästhctischc A n v e r w a n d l u n g der Welt, die im , C o n d o r ' vom Maler gelebt worden war, während sich C o r n e l i a in ihrer H y b r i s der Eiseskälte des unverhüllten K o s m o s aussetzte: „das Weib erträgt den H i m m e l n i c h t " . 4 0 Und so mündet j e n e v e r z w e i f e l t e B e s c h w ö r u n g d e s G l ü c k s , das da k o m m e n sollte und nicht k o m m e n kann, in eine s t u m m e V o r a u s a h n u n g d e s Nichts: P r o k o p hat seine eben e r r u n g e n e G e m a h l i n auf e i n e n B a l k o n seines S c h l o s s e s g e f ü h r t , hoch oben, und die L a n d s c h a f t ist von N e b e l n z u g e d e c k t , so daß sie wie a b g e h o b e n sind und s c h w e b e n d , in d e m n i h i l i s t i s c h e n Z w i s c h e n r e i c h der sich entziehenden Natur-Welt, wie in den Eis- und S c h n e e w i l d n i s s e n der K i n d e r im ,Bergk r i s t a i r . Die b e k l o m m e n e G e r t r a u d ahnt die B o d e n l o s i g k e i t ihres Seins: „ , E s ist s c h a u e r l i c h , ' antwortete sie, ,wir s c h w e b e n j a mit dem Berge nur in der L u f t , und rings um uns ist n i c h t s . ' " 4 1 Die Bilder der Angst, der B o d e n l o s i g k e i t , der katastrophalen G e f ä h r d u n g , der Vernichtung durch den zynisch g o l d e n e n Wagen des G e s c h i c k s brechen i m m e r wieder ein durch das s p i n n w e b d ü n n e Netz von Stifters Ideallieben und
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SW. Bd. 13, S. 216 (Prokopus). Vgl. Wolfgang Matz (o. Anm. 14), S. 7 2 0 - 7 2 1 . WuB. Bd. 1.1, S. 22. SW. Bd. 13, S. 199 (Prokopus).
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Jörg
Kästner
I d e a l l e b e n . A m E n d e steht die düstere barocke Parabel des „Media vita in m o r t e s u m u s " : im . G a n g d u r c h die K a t a k o m b e n von St. S t e p h a n ' , einem kühnen, kalten S y m b o l d e s L e b e n d i g b e g r a b e n s e i n s im wirren D u r c h e i n a n d e r von v e r d o r r t e n M u m i e n und G e r i p p e n . Die K a t a k o m b e n sind ein Asyl der Reichen und v o r n e h m e n A d e l i g e n , deren lächerliches Privileg es ist, hier in wirrem D u r c h e i n a n d e r zu v e r m o d e r n und deren geborgener Welt anzugehören Stifter sich ein L e b e n lang e r t r ä u m t e . Hier im Reich des Todes sieht Stifter „ein Gebiet, w o Alles g e w a l t s a m zernichtet wird, was wir im Leben mit Scheu und E h r f u r c h t zu b e t r a c h t e n g e w o h n t sind - w o das H ö c h s t e und Heiligste dieser Erde, die m e n s c h l i c h e G e s t a l t , ein werthloses Ding wird, h i n g e w o r f e n in das K e h r i c h t , d a ß es liege, wie ein anderer U n r a t h . " 4 2 Das brausende Leben über d e m H a u p t d e s in der m o d r i g e n G r a b k a m m e r W a n d e l n d e n wird aus dieser P e r s p e k t i v e s i n n l o s und g l e i c h g ü l t i g : „ W ä h r e n d ich d i e ß dachte, rasselte wieder o b e r uns d a s G e r ä u s c h e e i n e s rollenden Wagens auf dem Pflaster des Step h a n s p l a t z e s , und es d ä u c h t e mir so leichtsinnig, o d e r so wichtig, wie etwa die W e l t g e s c h i c h t e der M ü c k e n oder der E i n t a g s f l i e g e n . " 4 3 Und der Tod ist s c h a m l o s . Vor eine n a c k t e Tote tritt einer, „der vielleicht bei ihrem Leben sich k a u m ihrer S c h w e l l e hätte n ä h e r n d ü r f e n , und legt, nicht mit der Hand, weil's ihn ekelt, s o n d e r n mit der Spitze seines Stockes einige Lappen zurechte, daß sie ihren L e i b b e d e c k e n - und wer weiß, ob nicht bald eine muthwillige Hand e r s c h e i n t , sie aus d e m S a r g e reißt und nackt und zerrissen dort auf j e n e n Haufen n a m e n l o s e n M o d e r s w i r f t , wo sie dann jeder, der diese Keller besucht, e m p o r r e i ß t , a n l e u c h t e t , h e r u m d r e h t , und wieder h i n w i r f t . " 4 4 Dies ist das absolute Nichts, die wilde Z e r n i c h t u n g des hauchzarten L i e b e s s c h m e l z e s , der auf S t i f t e r s u n s t e r b l i c h e n F r a u e n liegt. Im Leben, nicht in der Dichtung.
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SW. Bd. 15, S. 60. Ebd., S. 63. Ebd., S. 58.
J o a c h i m W. S t o r c k
Eros bei Stifter
„Masken! Masken! Daß man Eros blende." (Rainer Maria Rilke. , E r o s ' ) I Das T h e m a dieses Beitrags m a g auf den ersten Blick ü b e r r a s c h e n . Es ist sehr allgemein gehalten, verlangt daher nach e i n e r g e n a u e r e n B e s t i m m u n g und E i n s c h r ä n k u n g . Und bei vielen Lesern u n s e r e r Tage, die g e m e i n h i n eine a n d e re Kost g e w ö h n t sind, m a g es die Frage p r o v o z i e r e n , o b es dies ü b e r h a u p t gebe: Eros bei Stifter? Dies soll im f o l g e n d e n a n h a n d e i n i g e r B e i s p i e l e erläutert und vielleicht beantwortet w e r d e n . Die A n r e g u n g hierzu reicht weit zurück. Als im Jahre 1968, aus A n l a ß von Adalbert Stifters 100. Todestag, im H e i d e l b e r g e r Lothar S t i e h m Verlag eine u m f a n g r e i c h e , G e d e n k s c h r i f t ' mit , S t u d i e n und I n t e r p r e t a t i o n e n ' 1 e r s c h i e n , wurde darin im N a c h w o r t auch j e n e r b e i d e n „ A l t m e i s t e r der S t i f t e r - F o r s c h u n g " gedacht, die im gleichen Jahr ihren 80. G e b u r t s t a g g e f e i e r t hatten: Max Stefl und Urban Roedl. 2 Beide hatten B e i t r ä g e z u g e s a g t , die zu vollenden ihnen aber nicht m e h r vergönnt war. U r b a n R o e d l s Arbeit sollte das T h e ma ,Eros in Stifters W e r k ' b e h a n d e l n , ein, wie d e r H e r a u s g e b e r d a m a l s bemerkte, „in der F o r s c h u n g bisher sorgfaltig g e m i e d e n e s T e r r a i n " . 3 Das m a g heute nicht m e h r in der g l e i c h e n Weise gelten; in E i n z e l a s p e k t e n h a b e n sich v e r s c h i e d e n e U n t e r s u c h u n g e n T h e m e n aus d i e s e m P r o b l e m k r e i s g e w i d m e t , worauf hier auch gelegentlich B e z u g g e n o m m e n wird. Der Titel unseres Beitrags k n ü p f t also b e w u ß t an die einst von Urban Roedl v o r g e s c h l a g e n e F o r m u l i e r u n g an; nicht zuletzt, um d a d u r c h auch an diesen nicht aus der g e r m a n i s t i s c h e n Z u n f t im e n g e r e n Sinne h e r v o r g e g a n g e n e n und deren Verirrungen in „ f i n s t e r e n Z e i t e n " n i c h t e r l e g e n e n S t i f t e r - B i o g r a p h e n wieder zu erinnern, dem der R e f e r e n t in j ü n g e r e n Jahren m a n c h e s v e r d a n k e n durfte.4
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Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. G e d e n k s c h r i f t zum 100. Todestage. Hrsg. von Lothar Stiehm. Heidelberg 1968. Ebd., S. 343. Ebd. Vgl. Joachim W. Storck: Bruno Adler (Urban Roedl). In: Berlin und der Prager Kreis. Hrsg. von Margarita Pazi und Hans Dieter Z i m m e r m a n n . Würzburg 1991, S. 2 1 1 - 2 2 4 ; Kurt Gerhard Fischer: Urban Roedl - Bruno Adler. 14. Oktober 1888 - 27. D e z e m b e r 1968. In: VASILO 18 (1969), S. 9 3 - 9 6 .
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Joachim
W Siorck
„ E r o s bei S t i f t e r " : wir m ü s s e n die Explikation d i e s e s T h e m a s schon aus R a u m g r ü n d e n auf e i n i g e d e r . S t u d i e n ' (mit B e r ü c k s i c h t i g u n g der Journalfass u n g e n ) b e s c h r ä n k e n ; d e n n mit dem . N a c h s o m m e r ' - um nur diesen Roman aus d e r s p ä t e r e n R e i f e z e i t d e s D i c h t e r s zu nennen - w ä r e nicht nur eine neue ä s t h e t i s c h - p o e t o l o g i s c h e D i m e n s i o n im Hinblick auf die ihr a d ä q u a t e Behandlung des E r o t i s c h e n in B e t r a c h t zu ziehen; bei ihm liegen auch bereits die unt e r s c h i e d l i c h s t e n A n s ä t z e d e r T i e f e n - oder O b e r f l ä c h e n h e r m e n e u t i k vor, deren B e r ü c k s i c h t i g u n g z w a n g s l ä u f i g zu kontroversen A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n führen müßte.5 Was s c h l i e ß l i c h die Wahl d e s T h e m a s rechtfertigen m a g , sind die von Gen e r a t i o n zu G e n e r a t i o n , j a h e u t e in noch viel kürzeren Z e i t a b s t ä n d e n sich änd e r n d e n und nicht zuletzt d u r c h den g e s e l l s c h a f t l i c h e n Wandel verursachten R e z e p t i o n s v o r a u s s e t z u n g e n . Die gleiche T h e m a t i k m u ß heute anders formuliert und a n g e g a n g e n w e r d e n als vor 20, 4 0 o d e r 60 J a h r e n . Als 1981 die Zeits c h r i f t . Ä s t h e t i k und K o m m u n i k a t i o n ' dem T h e m a „ L i e b e " ein S o n d e r h e f t zu w i d m e n g e d a c h t e , w ä h l t e sie h i e r f ü r den Titel .Sex und L u s t ' . 6 Und im Nov e m b e r 1993 b e h a n d e l t e d a s H e f t 58 der Zeitschrift . F r e i b e u t e r ' eine neue Variante des g l e i c h e n P r o b l e m f e l d e s unter dem Titel .Erotik im Zeitalter der P o r n o g r a p h i e . ' 7 In u n s e r e r E p o c h e liegt also alles, w a s in den Bereich des wie m a n n o c h z u r Zeit d e r letzten J a h r h u n d e r t w e n d e zu sagen pflegte - „Lieb e s l e b e n s " g e h ö r t , g ä n z l i c h an der O b e r f l ä c h e . 8 Es gibt hier nichts mehr, was nicht d a r g e s t e l l t , ans Licht gezerrt oder a u s g e s p r o c h e n werden würde; nur die „ S p r a c h e der L i e b e n d e n " selbst scheint mehr und m e h r zu v e r k ü m m e r n . Einer T i e f e n - , j a ü b e r h a u p t n u r e i n e r H e r m e n e u t i k bedarf es da kaum noch. Die red a k t i o n e l l e E i n l e i t u n g zu d e m genannten , F r e i b e u t e r ' - H e f t konstatiert diese Situation auf f o l g e n d e Weise: 9 „Im Zeitalter der Pornographie und des Fleisch z e i g e n s v e r k ü m m e r t die Einsicht, daß j e d e S p a n n u n g einen Widerstand b r a u c h t . [...] d e n n j e länger d e r Weg, desto lusterfüllter das Ziel. Aber wir leben in einer K u l t u r des p o r n o g r a p h i s c h e n K u r z s c h l u s s e s , die das erotische Siegel a u f b r i c h t , b e v o r sie gelernt hat, die L u s t s c h r i f t zu e n t z i f f e r n . "
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Vgl. J o a c h i m M ü l l e r : D a s L i e b e s g e s p r ä c h in A d a l b e r t S t i f t e r s Epik. In: J.M.: Von Schiller bis H e i n e . H a l l e 1972, S. 3 3 5 - 3 5 0 : Christine Oertel S j o e g r e n : Ein M u s t e r b e i s p i e l der L i e b e s t h e o r i e in S t i f t e r s . N a c h s o m m e r ' . In: V A S I L O 2 6 ( 1 9 7 7 ) , S. 1 1 - 1 1 5 ; Peter von M a t t . L i e b e s v e r r a t . D i e T r e u l o s e n in der D i c h t u n g . M ü n c h e n 1989, S. 145: D e r Lieb e s v e r t r a g im . N a c h s o m m e r ' ; C h r i s t i a n H o f f m a n n : Die L i e b e s a n s c h a u u n g in S t i f t e r s . N a c h s o m m e r ' . L i n z 1993 ( S c h r i f t e n r e i h e des A d a l b e r t - S t i f t e r - I n s t i t u t e s d e s L a n d e s O b e r ö s t e r r e i c h 38).
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Ä s t h e t i k und K o m m u n i k a t i o n . S e x & Lust. V e r f ü h r u n g - S c h ö n h e i t - Liebe - G e w a l t . H r s g . von A r n o W i d m a n n . Ä & Κ akut 7 ( S o n d e r h e f t ) . Berlin 1981. F r e i b e u t e r 58. T h e m a : E r o t i k im Z e i t a l t e r der P o r n o g r a p h i e . Berlin. N o v e m b e r 1993. Vgl. u.a. W i l h e l m B ö l s c h e . D a s L i e b e s l e b e n in der Natur. F o l g e 1 - 3 . L e i p z i g 1900Γ; H a n s L i c h t : D a s L i e b e s l e b e n d e r G r i e c h e n . S i t t e n g e s c h i c h t e G r i e c h e n l a n d s . Bd. 2. Dresd e n und Z ü r i c h 1926. F r e i b e u t e r 5 8 (o. A n m . 7), S. 1.
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Diese wenigen A n d e u t u n g e n g e n ü g e n bereits, um j e n e s R e z e p t i o n s k l i m a zu verdeutlichen, von d e m aus wir nach der latenten o d e r m a n i f e s t e n P r ä s e n z des Erotischen bei S t i f t e r f r a g e n w o l l e n . N a t ü r l i c h ist uns dabei b e w u ß t , d a ß wir uns bei der L e k t ü r e und A n a l y s e seiner historisch f i x i e r b a r e n Texte mit unserer E i n b i l d u n g s k r a f t in ein Zeitalter z u r ü c k b e g e b e n m ü s s e n , das g e r a d e im Hinblick auf diese T h e m a t i k von dem u n s e r e n b e s o n d e r s weit e n t f e r n t erscheint. D a s Zeitalter des B i e d e r m e i e r oder d e s Vormärz - diese auf den deutschsprachigen Kulturkreis beschränkten epochengeschichtlichen Hilfsbeg r i f f e ergänzen sich j e nach der h i s t o r i s c h - p o l i t i s c h e n P e r s p e k t i v e - hatte in d e r Tat b e s o n d e r s viele W i d e r s t ä n d e a u f g e b a u t , mit d e n e n die d a m a l s wie zu allen Zeiten sich k u n d t u e n d e e r o t i s c h e S p a n n u n g zu r e c h n e n hatte. Der zitierte Einleitungstext des . F r e i b e u t e r ' f ü h r t als s o l c h e W i d e r s t a n d s o b j e k t e e t w a die Religion, die K o n v e n t i o n e n o d e r die F r a u e n v e r a c h t u n g a n ; 1 0 und d e r e n G e l t u n g und W i r k s a m k e i t w a r g e r a d e zur E n t s t e h u n g s z e i t v o n S t i f t e r s w i c h tigsten E r z ä h l u n g e n noch k a u m erschüttert. Nicht nur die e r o t i s c h e Praxis, s o n d e r n auch alles f i k t i v e und gelehrte S c h r e i b e n hatte sich an diesen Widerständen zu messen o d e r i n n e r h a l b ihrer G r e n z e n e i n z u r i c h t e n . Die W i r k u n g e n k o n n t e n e i n s c h r ä n k e n d , aber auch v e r f e i n e r n d sein. Unter r e p r e s s i v e n B e d i n g u n g e n liest man a u f m e r k s a m e r , e n t s c h l ü s s e l t s o r g f ä l t i g e r das A n g e d e u t e t e , ergänzt das U n g e s a g t e . Und man b e m e r k t , s o l c h e r m a ß e n sensibilisiert, d a ß bei Stifter am Ende d o c h m e h r gesagt und e n t h a l t e n ist, als ein nur o b e r f l ä c h licher Blick zu e n t h ü l l e n v e r m a g . B e v o r wir dies n a c h z u w e i s e n v e r s u c h e n , sei d i e T e r m i n o l o g i e d i e s e s Beitrags b e g r ü n d e t . Wenn nicht irgend ein a b s t r a k t e r B e g r i f f , s o n d e r n d e r N a m e des griechischen L i e b e s g o t t e s in seinem Titel e r s c h e i n t , so wird hier e i n m a l die m y t h i s c h b e g l a u b i g t e U r k r a f t d e s G e s c h l e c h t l i c h e n , z u g l e i c h aber auch seine Vergeistigung im p l a t o n i s c h e n S i n n e m e t a p h o r i s c h b e z e i c h n e t , d e r Einklang also von K ö r p e r und Seele, von Sinnlichkeit und Geist in d e r Totalität der Liebe, w e l c h e n d e r Begriff der Sexualität, s e i n e m l a n d l ä u f i g e n G e b r a u c h e n t s p r e c h e n d , nicht in der g l e i c h e n Weise impliziert. Liebe als A l l g e m e i n b e griff hat d e m g e g e n ü b e r a l l z u v i e l e E r s c h e i n u n g s f o r m e n , die h ä u f i g in den Bereich der A g a p e g e h ö r e n . " Von d i e s e r läßt sich nicht, wie im Falle d e s E r o s , s a g e n , daß sie den M e n s c h e n g l e i c h s a m als P f e i l s c h u ß eines G o t t e s oder, in e i n e m f ü r Stifter b e s o n d e r s b e d e u t u n g s v o l l e n Bilde, als B l i t z s c h l a g aus e i n e m t r a n s z e n d e n t e n S c h i c k s a l s b e r e i c h h e r a u s zu t r e f f e n und in s e i n e m I n n e r s t e n zu erschüttern v e r m ö c h t e . Von Eros, d e m G ö t t l i c h e n , „ g e s c h l a g e n " zu w e r d e n , kann als B e s e l i g u n g wie als S c h r e c k e n e r f a h r e n w e r d e n . A u c h S t i f t e r hat dies
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Ebd. Vgl. Kurt G e r h a r d F i s c h e r : D i e P ä d a g o g i k d e s M e n s c h e n m ö g l i c h e n . L i n z 1962 ( S c h r i f t e n r e i h e d e s A d a l b e r t - S t i f t e r - I n s t i t u t e s 17), S. 297f. E x k u r s : E r o s u n d A g a p e ; C h r i s t i a n H o f f m a n n (o. A n m . 5), S. 7 1 - 7 4 : E r o s und A g a p e in d e r a b e n d l ä n d i s c h e n L i e b e s a n schauung.
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verschiedentlich geschildert, ebenso aber auch, und dies in zunehmendem Maße, Liebe als ein langsames Keimen und verhülltes Wachsen darzustellen versucht. Immer aber bleibt die Geschlechterliebe ein Hauptthema seiner Erzählkunst, während man die ihm von Friedrich Hebbel spöttisch unterschobene Schwärmerei für Butterblumen und Käfer vergeblich suchen wird; 1 2 sie, die Geschlechterliebe, bleibt es, weil sie für Stifter selbst Problem und erst eine eingestandene, später eine verdrängte und beschönigte Not gewesen ist. Auf den ersten Blick scheint Stifter auch auf dem Felde des Erotischen um die Erzielung von Harmonie bemüht, wobei deren Darstellung tatsächlich, wie so oft in der Dichtung, „aus der Entbehrung hervorgegangen" ist. 13 Doch der Weg zu einem solchen Ziele ist mit Hindernissen gepflastert, wird Rückschlägen ausgesetzt; und am Ende steht oft das Scheitern, die Trauer, die Reue. 1 4 Dieses inhärent Bedrohliche in Stifters Prosa aber, diese „oft ganz fremdartigen, gefährlichen Dinge" 1 5 sind es gerade, die einige bedeutende Stifter-Leser unter den Autoren der klassischen Moderne, von Thomas Mann bis Rilke, an „einem der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur" immer wieder fasziniert haben. 1 6 So haben disharmonisch ausgehende Fabeln, scheiternde Schicksale in den .Studien' ein besonderes Gewicht: im ,Condor', im .Hochwald', bei den Grafen Schamast in der .Narrenburg', im ,Abdias', im ,Alten Siegel' oder im .Hagestolz'; und auch, außerhalb der .Studien', im ,Waldgänger'.
II Bereits die erste und früheste der später in den .Studien' gesammelten Erzählungen, ,Der Condor', gehört in das disharmonische Repertoire. Die dort entwickelte erotische Konstellation ist von Anfang an, dank der Gegensätzlichkeit ihrer Protagonisten, konflikthaft angelegt. Gustav, die männliche Hauptgestalt, erscheint als ein noch kaum der Pubertät entwachsener und auch in entsprechender Weise reagierender Jüngling. Er repräsentiert ein Entwick-
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Friedrich Hebbel. S ä m m t l i c h e Werke. Historisch kritische Ausgabe. Besorgt von Ri chard Maria Werner. Abt. I. Bd. 6 (Nachdruck Bern 1970), S. 349: Die allen Naturdichter und die neuen. (Brockes, Geßner, Stifter, Kompert usw.) Elya Maria Nevar: F r e u n d s c h a f t mit Rainer Maria Rilke. Bern Bümpliz 1946, S. 32: Brief Rilkes vom 26.10.1918. Vgl. Walther R e h m : Stifters Erzählung .Der Waldgänger' als Dichtung der Reue. In: W.R.: B e g e g n u n g e n und Probleme. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1957, S. 317, S. 345. Rainer Maria Rilke an N.N. (Paris 14.4.1913); Zit. in: Atti dell' ottavo convegno. 3 ottobre 1979 a cura di Walter Schweppe. Duino-Trieste [1980], S. 23. T h o m a s Mann. Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans. F r a n k f u r t a.M. 1949, S. 124.
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lungsstadium, dessen Darstellung den Erzähler häufig angezogen hat; war doch die verlängerte - Kurt Gerhard Fischer meint sogar: die gescheiterte Pubertät Stifters eigenes Problem. 1 7 In der „kühnen Cornelia" jedoch steht dem jungen Künstler, Gustav, eine zwar gleichaltrige, an Reife jedoch weit überlegene Partnerin gegenüber, die Stifter sogar als eine frühe Vertreterin der Frauenemanzipation gestaltet; versucht sie doch mit ihrer wagemutigen, ihren Freund erschreckenden Entscheidung zur Teilnahme an dem Ballonflug der beiden forschenden Luftschiffer, „die Bande der Unterdrückten zu sprengen" und „an sich wenigstens ein Beispiel auf[zu]stellen", „daß auch ein Weib sich frei erklären könne von den willkürlichen Grenzen, die der harte Mann seit Jahrtausenden um sie gezogen hatte". 1 8 Kein Wunder, daß der Erzähler in diese Liebesbeziehung den „Geist des Zwiespalts zwischen Menschen" eintreten sieht, daß dem schönen Liebestraum des Jünglings, seinem „schüchtern wachsende[n], schwellende[n] Herz[enJ" ihr „Stolz", ihr „Freiheitsstreben", ihr „Wagen", wie er zu empfinden meint, im Wege steht, so daß in dem Liebenden ein „recht inbrünstiglich[er]" Haß aufkeimen kann. 1 9 Allerdings: Cornelias beispielhaft gewählter Emanzipationsversuch, die Mutprobe ihrer Teilnahme an dem Ballonflug, scheitert; ihr wird unwohl, und der alte Luftschiffer Coloman muß trocken konstatieren: „das Weib erträgt den Himmel nicht". 2 0 Erst als sie dies dem in pubertärem Unmut verdüsterten Geliebten einzugestehen wagt und dabei in die konventionsgemäße Rolle als „armes, schwaches Weib", das den Himmel nicht erträgt, zurückfällt, taut dessen übellaunige Gehemmtheit schlagartig auf; und es kommt zu einer überraschend akzelerierten Liebesbegegnung: 2 1 „Der Jüngling zog nun ihre Hände herab; sie folgte, aber der erste Blick, den sie auf ihn that, machte sie erschrecken, daß plötzlich die Thränen stockten. Wie war er verwandelt! Aus den Locken des Knaben schaute ein gespanntes, ernstes Männerantlitz empor, schimmernd in dem fremden Glänze des tiefsten Fühlens; - aber auch sie war anders: in den stolzen dunklen Sonnen lag ein Blick der tiefsten Demuth, und diese demüthigen Sonnen hafteten beide auf ihm, und so weich, so liebreich wie nie — hingegeben, hilflos, willenlos - sie sahen sich sprachlos an - die heiße Lohe des Gefühles wehte - das Herz war ohnmächtig - ein leises Ansichziehen - ein sanftes Folgen - und die Lippen schmolzen heiß zusammen, nur noch ein unbestimmter Laut der Stimme - und der seligste Augenblick zweier Menschenleben war gekommen und - vorüber.
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Kurt G e r h a r d Fischer. P s y c h o l o g i s c h e B e i t r ä g e zur B i o g r a p h i e A d a l b e r t S t i f t e r s . In: VAS I L O 10 (1961); z u g l e i c h : S c h r i f t e n r e i h e d e s A d a l b e r t - S t i f t e r - I n s t i t u t e s 16, S. 86. W u B . Bd. 1.4, S. 23. E b d . , S. 33. E b d . , S. 28. Ebd., S. 35; das letzte Zitat S. 34.
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D e r K r a n z a u s G o l d und E b e n h o l z um ihre Häupter hatte sich gelöset, der F u n k e w a r g e s p r u n g e n , und sie beugten sich a u s e i n a n d e r - aber die Häupter blickten sich nun nicht an, s o n d e r n sahen zur Erde und waren s t u m m . " H i e r wird nicht nur, in e i n e r f ü r Stifter erstaunlich o f f e n k u n d i g e n Weise, die Tristesse a n g e d e u t e t , in w e l c h e die Kreatur nach dem Liebesakt immer w i e d e r zu s t ü r z e n p f l e g t ; es wird auch deutlich, d a ß dieser b e s c h l e u n i g t e n U m a r m u n g die w i r k l i c h e e r o t i s c h e Fülle und Erfülltheit fehlen m u ß t e , die der L i e b e s - N e u l i n g noch e b e n s o w e n i g e r f a h r e n wie vermitteln konnte. Daher auch seine naive F r a g e an d i e G e l i e b t e : „ C o r n e l i a , w a s soll nun dieser A u g e n blick b e d e u t e n ? " und sein a n s c h l i e ß e n d e r Z w e i f e l : „ist es etwa nur ein Mom e n t , ein Blitz, in d e m z w e i Herzen sich b e g e g n e t e n , und ist es dann wieder N a c h t ? " 2 2 Ihm wird lediglich b e w u ß t , d a ß er durch den L i e b e s - A u g e n b l i c k ein a n d e r e r M e n s c h g e w o r d e n sei; und auch Cornelia erkennt dies mit S t a u n e n : 2 3 „Sie w a r mit ihm in g l e i c h e m Alter, aber sie war eine a u f g e b l ü h t e volle Blum e , er k o n n t e zu Zeiten fast n o c h ein K n a b e heißen. - Bewußt o d e r u n b e w u ß t hatte sie die L i e b e v o r z e i t i g aus ihm gelockt - in einer Minute war er ein M a n n g e w o r d e n ; er w u r d e vor ihren A u g e n i m m e r schöner, wie Seele und L i e b e in sein G e s i c h t trat, und sie sah ihn mit E n t z ü c k e n an, wie er vor ihr stand, so schön, so k r ä f t i g , s c h i m m e r n d schon von k ü n f t i g e m G e i s t e s l e b e n und k ü n f t i g e r G e i s t e s g r ö ß e , und doch u n s c h u l d i g , wie ein K n a b e , und unbew u ß t der göttlichen F l a m m e , G e n i e , die um seine Scheitel spielte." Für den a n g e h e n d e n K ü n s t l e r war dieser mit d e m Blitzschlag verglichene „ W o n n e s t u r z d e r ersten L i e b e " sein erotisches Initiationserlebnis, in d e m zugleich die L i e b e s - G e n i a l i t ä t des Weibes das künstlerische G e n i e in ihm entz ü n d e t e . D o c h fast u n m i t t e l b a r darauf f o l g t e , fast z w a n g s l ä u f i g , der Fortzug des Initiierten in die Welt; es kam zu der T r e n n u n g ,,zwei[er] M e n s c h e n , die sich g e f u n d e n " , und zu d e r es keine W i e d e r k e h r gab.
III G e w i ß war es, v o r d e r g r ü n d i g g e s e h e n , Stifters Bestreben, in der Z i e l s e t z u n g seiner G e s t a l t u n g e n des L i e b e s - T h e m a s ein Auseinandertreten der ideellen und d e r s e x u e l l e n K o m p o n e n t e im Erotischen zu v e r m e i d e n , j a deren Z u s a m m e n k l a n g als natürlich und gottgewollt e r s c h e i n e n zu lassen. D o c h g e r a d e in den g e n a n n t e n E r z ä h l u n g e n gelingt dies nicht, j a es wird schon in d e r Intention v e r m i e d e n ; sie g e w i n n e n ihre R e l e v a n z eben aus dieser S p a n n u n g zwis c h e n d e m Ideal und d e r p s y c h o l o g i s c h motivierten Wirklichkeit. U n d selbst in d e m s o r g f ä l t i g g e s t u f t e n und ausgefeilten H a r m o n i e - M o d e l l des , N a c h s o m -
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Ebd., S. 35f.; die beiden folgenden Zitate S. 37, S. 38. Ebd., S. 36.
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m e r s ' ist es gerade die Verfehlung d e r im . R ü c k b l i c k ' - K a p i t e l e n t h ü l l t e n f r ü hen L i e b e s b e z i e h u n g z w i s c h e n Risach und M a t h i l d e , w e l c h e die v e r b o r g e n e M e l a n c h o l i e eines b l o ß e n N a c h - S o m m e r s prägt und diesen dann auch p o e t i s c h ü b e r z e u g e n d e r e r s c h e i n e n läßt als das eher steril w i r k e n d e k ü n f t i g e „ G l ü c k " des j u n g e n , einer allzu langen R e t a r d i e r u n g u n t e r w o r f e n e n Paares H e i n r i c h und Natalie. 2 4 Stifter selbst hatte j a die Wirren seiner e i g e n e n f r ü h e n L i e b e s b e z i e h u n g e n d u r c h a u s d i s h a r m o n i s c h erlebt: im j a h r e l a n g e n , z ö g e r l i c h e n Werben um die in der E r i n n e r u n g verklärte „Braut [s)einer S e e l e " im h e i m a t n a h e n Friedberg die f ü r den Dichter d a n n auch tatsächlich die „Braut [s]einer I d e e n " b l i e b 2 5 - , w ä h r e n d er selbst gleichzeitig, als ein halber B o h e m i e n im g r o ß s t ä d t i s c h e n W i e n , den sinnlichen Reizen der h ü b s c h e n P u t z m a c h e r i n A m a l i e M o h a u p t verfiel, die er erst später und mit e r h e b l i c h e m , von S e l b s t t ä u s c h u n g e n k e i n e s w e g s f r e i e m A u f w a n d , auch „ideell" a u s z u s t a t t e n und s o l c h e r m a ß e n zu stilisieren strebte. Als eine I d e e n s c h ö p f u n g b e s o n d e r e r Art e r w i e s sich s c h o n die H e l d i n seiner z w e i t e n , dem . C o n d o r ' b e n a c h b a r t e n E r z ä h l u n g . F e l d b l u m e n ' . Ihr, A n g e la, g e s t a n d Stifter mit d e m Jean P a u l ' s c h e n Ü b e r s c h w a n g seines F r ü h s t i l s zu, was C o r n e l i a noch, nach ihrem g e s c h e i t e r t e n , e m a n z i p a t o r i s c h g e d a c h t e n F l u g v e r s u c h , vor der L i e b e s v e r e i n i g u n g mit G u s t a v w i e d e r a b z u l e g e n bereit war: das intellektuelle E i n d r i n g e n in eine bis d a h i n nur den M ä n n e r n v o r b e haltene geistige D o m ä n e ; sie erscheint durch E r z i e h u n g und B i l d u n g mit e i n e r „ W i s s e n s f ü l l e " a u s g e s t a t t e t , „an die w e n i g M ä n n e r r e i c h e n " . „ D a r u m " , so bemerkt der erzählende B r i e f s c h r e i b e r A l b r e c h t zu d e m F r e u n d e Titus, „ist ihr die W i s s e n s c h a f t S c h m u c k des H e r z e n s g e w o r d e n , und das ist die g r ö ß t e und s c h ö n s t e Macht d e r s e l b e n , daß sie den M e n s c h e n mit e i n e r h e i l i g e n d e n H a n d berührt und ihn als Einen des hohen A d e l s d e r M e n s c h h e i t aus ihrer S c h u l e läßt". 2 6 D u r c h a u s z u s t i m m e n d konstatiert d a n n der in A n g e l a Verliebte, „ d a ß sie eine M e n g e nicht kann und nicht l e m t e , was nicht zu k ö n n e n j e d e s M ä d c h e n W i e n s f ü r eine S c h a n d e halten w ü r d e . Z u m B e i s p i e l : S t r i c k e n . Es war m i r ein Jubel, als ich das hörte. O dieser e w i g e S t r i c k s t r u m p f , an d e m u n s e r e J u n g f r a u e n n a g e n - es gibt nichts O e d e r e s und G e i s t l o s e r e s " . 2 7 Stifter e n t w i r f t hier, in der A n f a n g s z e i t seiner S c h r i f t s t e l l e r e i , ein F r a u e n bild, das f ü r die Zeit d e s B i e d e r m e i e r als recht u n g e w ö h n l i c h gelten m u ß . Er polemisiert gegen die den F r a u e n z u g e m u t e t e „ H ä u s l i c h k e i t " , die, so w ü n s c h t es der Erzähler, nur einen ,,kleine[n] Theil des w e i b l i c h e n B e r u f e s " bilden
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Vgl. Walther Rehm: Nachsommer. Zur Deutung von Stifters Dichtung. München 1951, S. 6 1 - 8 0 . SW. Bd. 17, S. 37, S. 38 (an Fanny Greipl, 20. August 1835). WuB. Bd. 1.4, S. 115, S. 117. Ebd., S. 118.
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IV. Storck
m ö g e . Und der Feststellung, d a ß „selbst Vorbereitung und E r f ü l l u n g der Mutt e r p f l i c h t " nicht den „Kreis des W e i b e s " schließe, f ü g t er die Frage an: „Ist es nicht auch um sein selbst willen da? Stehen ihm nicht Geister- und Körperreich o f f e n ? Soll es nicht, wie der M a n n , nur in der Weise anders, d u r c h ein s c h ö n e s D a s e i n seinen S c h ö p f e r v e r h e r r l i c h e n ? [...] A n g e l a hat mir die Augen g e ö f f n e t über Werth und B e d e u t u n g des W e i b e s . " 2 8 D a ß dieses neue F r a u e n b i l d auch im erotischen Verständnis eine n e u e Sicht erlaubt, m a c h e n die a n s c h l i e ß e n d e n B e m e r k u n g e n deutlich, die eine „rechte, echte Einfalt und N a t u r g e m ä ß h e i t " z u m Ziele haben in einer Zeit, w o „man bereits schon so tief in die Irre g e f a h r e n " sei. Der B r i e f s c h r e i b e r b e k e n n t an dieser Stelle: „Ich s c h a u d e r e , w e l c h e Fülle von S e e l e n b l ü t h e t a u b bleibt; wenn die B e s t e r z o g e n e n d a s t e h e n , nichts in der H a n d , als den d ü r r e n Stengel der W i r t h s c h a f t l i c h k e i t , und das leere, s c h n e e w e i ß e Blatt der a n g e b o r n e n Unschuld, auf das, wenn nicht das M u t t e r a u g e darauf fällt, wie leicht ein schlechter Gatte oder H a u s f r e u n d seinen S c h m u t z schreiben kann - und die Guten m e r k e n es lange nicht oder erst, wenn es zu spät ist, ihn w e g z u l ö schen."29 Ein Idealbild von Ehe läßt sich solchen Einsichten nicht g e r a d e entn e h m e n ; und es ist auch erst die „ é d u c a t i o n s e n t i m e n t a l e " , die dieser e b e n f a l l s noch p u b e r t ä t s n a h e j u n g e Mann d u r c h den U m g a n g mit A n g e l a e r f ä h r t , die ihn zu seiner d a u e r n d e n Verbindung mit seinem Weiblichkeitsideal b e f ä h i g t . Die R e i f e hierzu erlangt er schließlich durch ein sein Lebensziel in F r a g e stellendes Verschulden und die ihm hieraus e r w a c h s e n d e Erkenntnis; ein Motiv, das dann auf h ö h e r e r Ebene in der . M a p p e m e i n e s U r g r o ß v a t e r s ' w i e d e r k e h r t . A n l a ß dieses Verschuldens ist der in gleicher Weise u n v e r n ü n f t i g e wie ungezügelte A u s b r u c h von „ L e i d e n s c h a f t " , die Stifter hier, wie auch sonst, nicht so sehr sexuell, als v i e l m e h r geistig und e m o t i o n a l versteht; vor allem in d e r Erscheinungsform von Eifersucht, die ihm als ein Ausdruck von seelischer Roheit gilt.
IV S e l b s t m o r d , E i f e r s u c h t , Z o r n : dies sind A u s b r ü c h e von L e i d e n s c h a f t , die als „Vergessenheit aller Dinge des H i m m e l s und der E r d e " auch in d e r , M a p p e m e i n e s U r g r o ß v a t e r s ' und in der , N a r r e n b u r g ' fatale Folgen zeitigen und deren B ä n d i g u n g , D e r b e s c h r i e b e n e T ä n n l i n g ' p a r a b e l h a f t gestaltet. 3 0 E r o t i s c h e L e i d e n s c h a f t im e n g e r e n S i n n e ist j e d o c h a m b i v a l e n t , wie es im . H o c h w a l d ' die ältere S c h w e s t e r Clarissa ihrer j ü n g e r e n , J o h a n n a - dem noch u n e r w e c k -
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Ebd., S. 121 f. Ebd., S. 122. WuB. Bd. 1.5, S. 184 (Die Mappe meines Urgroßvaters).
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ten M ä d c h e n - , zu A n f a n g der E r z ä h l u n g erklären m ö c h t e : „O J o h a n n a , liebes M ä d c h e n , wie bist du noch dein e i g n e r H i m m e l , tief und schön und kühl! Aber es w e r d e n in ihm D ü f t e e m p o r s t e i g e n - der M e n s c h gibt ihnen den M i ß n a m e n L e i d e n s c h a f t - du wirst w ä h n e n , sie seien w u n d e r v o l l e r s c h i e n e n , Engel wirst du sie h e i ß e n , die sich in der Bläue wiegen - aber gerade aus ihnen k o m m e n dann die h e i ß e n Blitze, und die w a r m e n Regen, deine T h r ä n e n - und doch auch wieder aus diesen T h r ä n e n baut sich j e n e r V e r h e i ß u n g s b o g e n , der so schön s c h i m m e r t und den m a n nie erreichen kann der M o n d s c h e i n ist dann hold und unsre M e l o d i e e n w e i c h . - - Kind, es gibt Freuden auf der Welt, von einer U e b e r s c h w e n g l i c h k e i t , d a ß sie unser Herz zerbrechen könnten — und L e i d e n von e i n e r Innigkeit o sie sind so innig!! - ". 3 I Die so spricht, hatte einmal geliebt; einen M a n n , der „ein ganzes Meer von Seele und G e m ü t h " in ihr „dunkel b e w u ß t e s H e r z " g e g o s s e n hatte, die an die Lippen ihres G e l i e b t e n g e f l o g e n war, „im W a h n s i n n e von S e l i g k e i t " an ihm g e h a n g e n hatte, „ s ü n d h a f t v e r g e s s e n d " ihren Vater, ihre Mutter, ihren Gott. Dann aber sei dieser G e l i e b t e f o r t g e g a n g e n ; sie habe endlich alles überstanden, und ihre Seele h a b e sich wieder ihrer „reinen L i e b e " z u g e w a n d t . O b j e k t dieser Liebe war in allererster Linie ihre j u n g e S c h w e s t e r ; ihr galten, und von ihr e m p f i n g sie, E m p f i n d u n g e n und G e s t e n der innigsten Zärtlichkeit. Denn auf C l a r i s s a s Worte hin - so geht die E r z ä h l u n g an der zitierten Stelle weiter - stand J o h a n n a auf, „ging zu ihrer S c h w e s t e r , und küßte sie unsäglich zärtlich auf den Mund, i n d e m sie beide A r m e um ihren Hals s c h l a n g " . Von der Älteren heißt es dann mit deutlich e r o t i s c h e r Diktion: „Clarissa küßte sie z w e i m a l recht innig e n t g e g e n auf die K i n d e r l i p p e n , an deren u n b e w u ß t e r s c h w e l l e n d e r S c h ö n h e i t sie wie ein L i e b e n d e r Freude hatte". 3 2 Was schon in dieser E i n g a n g s s z e n e der , H o c h w a l d ' - E r z ä h l u n g anklingt die latent l e s b i s c h - i n z e s t u ö s e S c h w e s t e r n l i e b e - , wird im weiteren Verlauf der H a n d l u n g wieder und wieder bestätigt; vor allem in den e i f e r s ü c h t i g e n Reaktionen J o h a n n a s , n a c h d e m in d e r A b g e s c h i e d e n h e i t des , W a l d h a u s e s ' , auf der , W a l d w i e s e ' , Clarissas einstiger G e l i e b t e r R o n a l d wieder a u f g e t a u c h t war und im G e s p r ä c h mit der einst Verlassenen deren ü b e r w u n d e n g e g l a u b t e G e f ü h l e w i e d e r z u e r w e c k e n v e r m o c h t hatte. Da heißt es dann: „aber J o h a n n a , die bisher mit steigender A n g s t z u g e h ö r t hatte, sprang plötzlich auf und mit den zorn e s m u t h i g e n T h r ä n e n f u n k e n in den A u g e n rief sie: .Clarissa, was thust du denn!?'"33 A b e r auch die R e a k t i o n der älteren S c h w e s t e r läßt an Deutlichkeit nichts zu w ü n s c h e n übrig; d e n n „wie a u f g e s c h r e c k t , f u h r [sie] empor, w e n d e t e sich um, und wie sie das Kind, dessen Lehrerin und Vorbild sie bisher war, vor sich stehen sah - nein, nicht m e h r das Kind, sondern die J u n g f r a u mit der
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WuB. Bd. 1.4, S. 220. Ebd., S. 220f.; die v o r a u f g e h e n d e n Zitate S. 286. Ebd., S. 290; dort auch das nächste Zitat.
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P u r p u r g l u t d e r S c h a m im G e s i c h t e , so warf sie sich demiithig, und doch strahlend v o m T r i u m p h e an ihre Brust. — " C l a r i s s a s und auch des alten G r e g o r s Versuche, die s c h l u c h z e n d e J o h a n n a zu b e r u h i g e n , haben nur zeitweiligen E r f o l g ; und so schließt das Kapitel mit d e r l a k o n i s c h e n Feststellung: „Clarissa war nicht m e h r ruhig - J o h a n n a nicht m e h r g l ü c k l i c h . " 3 4 Dabei bleibt es nun; d e n n , so liest man im n ä c h s t e n Kapitel, . J o h a n n a , wie ü b e r s c h ü t t e n d auch die L i e b e s b e w e i s e ihrer S c h w e s t e r waren, und vielleicht eben d a r u m , fühlte recht gut, daß sie etwas verloren - nicht die L i e b e d e r Schwester, diese war j a noch g r ö ß e r und zarter, nicht ihr f r ü h e r g e g e n s e i t i g T h u n und W a n d e l n , das war wie e h e d e m - was denn n u n ? Sie w u ß t e es nicht; aber es war da, j e n e s F r e m d e und U n z u s t ä n d i g e , das sich wie ein T o d t e s in ihrem Herzen f o r t s c h l e p p t e " . 3 5 „Jenes F r e m d e und U n z u s t ä n d i g e " im H e r z e n : hinter dieser U m s c h r e i b u n g verbirgt sich ein Tabu, das keiner B e n e n n u n g b e d u r f t e . Noch z w e i m a l wird es, z u m E n d e der Erzählung, berührt, als Clarissa den Tod Ronalds e r f a h r e n m u ß . U n w i l l k ü r l i c h wendet sie sich da, das f r ü h e r e Verhältnis geradezu u m k e h r e n d , d e r S c h w e s t e r zu: „Sie verbarg wieder ihr Haupt an J o h a n n a ' s H e r z e n , fast k i n d i s c h f u r c h t s a m die Worte sagend: . J o h a n n a , du zürnest - J o h a n n a , ich liebe dich, jetzt nur dich — o Kind, liebe mich nun auch w i e d e r . ' " 3 6 J o h a n n a , im „ U n m a ß des S c h m e r z e s und der Zärtlichkeit", findet den Trost d e r L i e b e n d e n f ü r die Geliebte; „sie d r ü c k t e die Schwester an sich, sie ums c h l a n g sie mit einer H a n d , und streichelte mit der anderen über die g l ä n z e n den K i n d e r h a a r e derselben, wie man t o d t b e t r ü b t e Kinder b e s c h w i c h t i g e t " . Die S c h w e s t e r n kehren zur zerstörten Burg Wittinghausen z u r ü c k ; d a n a c h k o m m e n und gehen die Jahre immer im G l e i c h m a ß ; und der E r z ä h l e r weiß von den Vereinsamten nur noch zu b e r i c h t e n : „Die Schwestern lebten fortan dort, beide u n v e r m ä h l t . J o h a n n a war eine e r h a b n e J u n g f r a u g e w o r d e n , rein und streng, und hatte nur eine L e i d e n s c h a f t , L i e b e f ü r ihre S c h w e s t e r . " 3 7 Der „ M i ß n a m e " f ü r j e n e z w i s c h e n „ W o n n e n " und „ L e i d e n " s c h w a n k e n d e n E m p f i n d u n g e n , die Clarissa einst ihrer noch kindlichen S c h w e s t e r n a h e z u b r i n g e n v e r s u c h t hatte: hier b e a n t w o r t e t e er e n d l i c h , am dunklen A u s g a n g eines „Verh e i ß u n g s b o g e n s " , die Frage: „Was denn n u n ? "
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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
296. 298. 316; dort auch die folgenden Zitate. 317.
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V H o m o e r o t i s c h e E m p f i n d u n g e n - nicht nur, wie h ä u f i g bei Stifter, im Kleide eines pädagogisch gerichteten Eros - waren dem Dichter k e i n e s w e g s u n b e kannt. Als A l b r e c h t , d e r e r z ä h l e n d e B r i e f s c h r e i b e r der . F e l d b l u m e n ' , im Wiener Paradiesgarten mit d e r s c h ö n e n , bislang verschleierten U n b e k a n n t e n j e n e n ersten, wie ein Blitz w i r k e n d e n B l i c k a u s t a u s c h hatte und ü b e r w ä l t i g t w u r d e von der E m p f i n d u n g , „Als sollt' ich sie o h n e M a ß und ohne G r ä n z e n l i e b e n " , da reflektiert er a n s c h l i e ß e n d über diese Liebe: „Und nun e r k l ä r e mir ein Erd e n m e n s c h die H e f t i g k e i t eines solchen E i n d r u c k e s . Es ist im L e b e n schon ö f ters d a g e w e s e n - a u c h z w i s c h e n M a n n und Mann war es s c h o n . " 3 8 Auf b e s o n d e r s subtile Weise scheinen g l e i c h g e s c h l e c h t l i c h e und geg e n g e s c h l e c h t l i c h e A n l a g e n in der E r z ä h l u n g . B r i g i t t a ' ü b e r k r e u z t und vermischt. Schon C l a u d e O w e n hat vor über z w a n z i g Jahren diese E r z ä h l u n g vielleicht e t w a s zu eindeutig - h o m o e r o t i s c h auszulegen v e r s u c h t . 3 9 G e w i ß zeigt der „ s c h ö n e " S t e p h a n Murai g e r a d e in seinen f r ü h e r e n Jahren mit seiner E r s c h e i n u n g in „ B a u und A n t l i t z " und mit der „sanfte[ nl H o h e i t " seines Wesens E i g e n s c h a f t e n , die nicht nur „auf F r a u e n h e r z e n [...] s i n n v e r w i r r e n d " wirkten, sondern mit denen er, wie es wörtlich heißt, „ m e h r als e i n m a l auch M ä n n e r b e t h ö r t e " . 4 0 Und die d u n k e l ä u g i g e Brigitta, die, ihrer m a n g e l n d e n äußeren Schönheit w e g e n , innerlich e i n s a m und seelisch v e r n a c h l ä s s i g t a u f w ä c h s t , verdrehte o f t , wie in der E r z ä h l u n g überliefert wird, b e i m Spielen „die großen wilden A u g e n , wie K n a b e n thun, die innerlich bereits d u n k l e T h a ten spielen". 4 1 D a ß Stephan Murai von der e r w a c h s e n G e w o r d e n e n , seelisch noch unerweckt G e b l i e b e n e n stärker a n g e z o g e n wird als von all den S c h ö n heiten, die um seine G u n s t buhlen - sollte es um der als m ä n n l i c h zu e m p f i n d e n d e n Herbheit ihres Wesens willen so g e k o m m e n sein? J e d e n f a l l s a b e r hat S t e p h a n sie doch als Weib e r k a n n t , hat er ihre v e r b o r g e n e S e e l e n s c h ö n h e i t e n t d e c k t , hat er g e r a d e durch seine Liebe die Weiblichkeit in ihr z u m E r b l ü hen gebracht. Erst nach M u r a i s wie auch i m m e r flüchtig und o b e r f l ä c h l i c h ers c h e i n e n d e m T r e u b r u c h an ihrer „ o h n e M a ß und E n d e " h o c h g e s e t z t e n L i e b e s f o r d e r u n g und nach der S c h e i d u n g , die sie verlangt hatte, v e r w a n d e l t sich Brigitta, die ihr e i g e n e s „ a u f g e q u o l l n e [ s J s c h r e i e n d e [ s ] Herz g l e i c h s a m in ihre H a n d [ g e n o m m e n ] " und „ z e r d r ü c k t " hatte, 4 2 in j e n e m ä n n l i c h tätige G u t s h e r rin, als welche sie „ w i e ein M a n n u m z u ä n d e r n und zu w i r t s c h a f t e n " b e g a n n und sich kleidete und ritt, „wie ein M a n n " . 4 3 A m Ende ist es aber doch erst
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Ebd., S. 64f. Claude Owen: Zur Erotik in Stifters .Brigitta'. In: Österreich in Geschichte und Literatur 15 (1971), S. 106-114. WuB. Bd. 1.5, S. 413. Ebd., S. 447. Ebd., S. 459. Ebd., S. 443, S. 418.
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W. Storck
die Versöhnung, die Milde des Verzeihens als der ,,reinigendste[n]" und „allers c h ö n s t e [ n ] B l u m e der L i e b e " , w o d u r c h die e h e l i c h e G e s c h l e c h t e r r o l l e wied e r h e r g e s t e l l t und geheilt w i r d . 4 4 Was in d i e s e m Paar, in Brigitta und dem M a j o r , w a s in ihrer G e s c h i c h t e und in deren A u s g a n g entwickelt und schließlich v e r w i r k l i c h t wird, kann m a n , so scheint es, wohl eher - und vorsichtiger - als d a s Beispiel eines „ a n d r o g y n e n " M e n s c h e n t u m s bezeichnen, wie man es in u n s e r e n T a g e n als a u s g l e i c h e n d e Ü b e r w i n d u n g des traditionellen „Ges c h l e c h t e r k a m p f e s " i m m e r h ä u f i g e r postuliert, j a schon als b i o l o g i s c h - s o z i o l o g i s c h e E n t w i c k l u n g s t e n d e n z festgestellt f i n d e t . 4 5
VI Die N o t w e n d i g k e i t eines solchen a u s g l e i c h e n d e n M e n s c h e n t u m s , d a s Stifter in v e r s c h i e d e n e n seiner Gestalten zu entwickeln und darzustellen versucht m a n d e n k e nur an seine K e n n z e i c h n u n g des „ s a n f t m ü t i g e n O b r i s t e n " in der . M a p p e m e i n e s U r g r o ß v a t e r s ' , die eigentlich eine contradictio in a d i e c t o darstellt - : diese N o t w e n d i g k e i t kann allerdings auch ex negativo erzählerisch b e g r ü n d e t w e r d e n , dort, wo die beiden G e s c h l e c h t e r in unversöhnlich erschein e n d e n Typologien e i n a n d e r gegenübergestellt w e r d e n . Dies geschieht vor allem in der E r z ä h l u n g ,Das alte S i e g e l ' , einer E r z ä h l u n g , die auch d e s w e g e n f ü r u n s e r e T h e m a t i k von b e s o n d e r e r B e d e u t u n g ist, weil sie, wie Ruth Angress in ihrer Interpretation des „ E h e b r u c h m o t i v s " zu Recht festgestellt hat, „ z w e i f e l l o s die erotischste von allen S t i f t e r n o v e l l e n " ist. 4 6 Auf diese Darstellung d e s Erotischen sei daher zunächst e i n g e g a n g e n und zwar teilweise auch a n h a n d der f r ü h e n J o u r n a l - F a s s u n g von Stifters E r z ä h l u n g , da diese, o b w o h l k ü n s t l e r i s c h w e n i g e r verdichtet und a u s g e w o g e n - auch noch stärker wertend als o b j e k t i v statuierend - gerade den Prozeß der erotischen A n n ä h e r u n g ausf ü h r l i c h e r und mit o f t m a l s g e s t e i g e r t e m A u s d r u c k n a c h v o l l z i e h b a r m a c h t . Die E n t w i c k l u n g setzt dabei - dies gilt allerdings f ü r beide F a s s u n g e n - mit auß e r o r d e n t l i c h e r L a n g s a m k e i t ein, in äußerstem G e g e n s a t z zur Blitzartigkeit der L i e b e s v e r e i n i g u n g von G u s t a v und Cornelia im , C o n d o r ' . S c h u l d d a r a n trägt z u n ä c h s t das umsichtige Vorgehen des k u p p l e r i s c h e n Dieners D i o n i s , der in d e r o b j e k t i v e n Wirkung seines Tuns als M e d i u m des Schicksals e r s c h e i n t .
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E b d . , S. 473. V g l . E l i s a b e t h B a d i n t e r : Ich bin du. Auf dem Weg in die a n d r o g y n e G e s e l l s c h a f t . M ü n c h e n 1987 (Titel der f r a n z ö s i s c h e n O r i g i n a l a u s g a b e : L ' u n est l ' a u t r e . Paris 1986). R u t h K. A n g r e s s : D a s E h e b r u c h m o t i v in Stifters , D a s alte S i e g e l ' . Ein Beitrag zur Liter a t u r g e s c h i c h t e der b ü r g e r l i c h e n Erotik. In: Z f D P h 103 ( 1 9 8 4 ) , S. 492. - Eric A. B l a c k all f o r m u l i e r t in s e i n e m A u f s a t z , D a s alte S i e g e l ' (in: S t u d i e n und I n t e r p r e t a t i o n e n [o. A n m . 1], S. 6 9 - 8 8 ) noch a l l g e m e i n e r (S. 69): „ . D a s alte Siegel' gehört zu S t i f t e r s l e i d e n s c h a f t l i c h s t e n und stärksten S c h ö p f u n g e n " .
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Denn als „ S c h i c k s a l " wird die B e g e g n u n g H u g o s mit Coleste vor allem von der letzteren e m p f u n d e n ; sie wird auch vom Erzähler selbst, a n k n ü p f e n d an das G l e i c h n i s vom „ S c h n e e s t u r z " , den „ A n f ä n g e n eines ganzen G e s c h i c k e s der M e n s c h e n " z u g e o r d n e t . 4 7 Bei der S c h i l d e r u n g d e r A n f a n g s s z e n e n vor und in der Peterskirche ist die . S t u d i e n ' - F a s s u n g noch a u s f ü h r l i c h e r ; denn in dieser wird der m ä n n l i c h e Protagonist erst zu e i n e m späteren Z e i t p u n k t und eher b e i l ä u f i g der s c h w a r z verhüllten Frauengestalt und des sie begleitenden M ä d c h e n s ansichtig, w ä h rend diese in der J o u r n a l - F a s s u n g bereits am Ende des ersten K i r c h e n b e s u ches an H u g o v o r ü b e r h u s c h t . J e d e n f a l l s aber werden weder H u g o noch C o l e ste nur im geringsten j e n e r Absicht des Dionis gewahr, d a ß ihrer beider Z u s a m m e n t r e f f e n das e i g e n t l i c h e Ziel der rätselhaften B o t s c h a f t an Hugo, den j u n g e n Militärstudenten, gewesen sein sollte. Erst der Zufall, daß die schwarzgekleidete Frau an e i n e m Tage den S c h l e i e r einmal nicht herabgelassen hatte, e r m ö g l i c h t e einen A u g e n b l i c k des E i n a n d e r - A n s e h e n s , der nun gerade den M a n n , nach dem raschen E n t s c h w i n d e n der erst jetzt als j u n g erkannten F r a u , „ b e t r o f f e n " - in d e r J o u r n a l - F a s s u n g : „in der höchsten V e r w i r r u n g " - z u r ü c k gelassen hatte. 4 8 Von nun an geht der j u n g e Mann i m m e r wieder zur Kirche, um die Verschleierte nach der Messe an sich v o r ü b e r g e h e n zu lassen. Die . S t u d i e n ' - F a s sung verknappt dies in d e r D a r s t e l l u n g , dehnt aber den Z e i t r a u m selbst beträchtlich in die L ä n g e : „So verging eine g e r a u m e Zeit, und der F r ü h l i n g neigte sich schon gegen den S o m m e r . " 4 9 Breiter und expliziter, aber auch v e r h ä n g n i s h a f t e r gestaltet sich dies in der J o u r n a l - F a s s u n g , w o diese Vorstufe der eigentlichen B e g e g n u n g in der f o l g e n den Weise entfaltet wird: „ U n d so stand er, von seinem V e r h ä n g n i s g e t r i e b e n , noch viele Male an der K i r c h e - [...] seine G e d a n k e n waren erregt und mit sich uneins [...] - sie ging j e d e s Mal v o r b e i und sah ihn nicht. I Sie konnte ihn auch nicht sehen; denn sie blickte w e d e r rechts noch links: aber ahnen m u ß t e sie ihn; denn wenn sie an seiner Stelle v o r ü b e r kam, so w a r ' s , als zögere sie leise, und innerhalb der s c h w a r z e n W o l k e ward es u n r u h i g . " 5 0 Hier bereits wirkt dieser Text - o b w o h l noch kein Wort g e f a l l e n , keine Ber ü h r u n g g e s c h e h e n ist - erotisch g e l a d e n . Und es folgt die nächste, i m m e r noch l a n g s a m e S t u f e der A n n ä h e r u n g . H u g o kann es nicht lassen, der U n b e kannten nach dem Verlassen d e r K i r c h e , weit hinter ihr g e h e n d , ein S t ü c k Wegs zu folgen. Eines Tages entflattert dabei ihrem G e b e t b u c h ein kleines Bildblättchen. H u g o ergreift die G e l e g e n h e i t , es a u f z u h e b e n , ihr n a c h z u g e h e n und es ihr mit einer kurzen B e m e r k u n g zu übergeben. Die D a m e n i m m t d a s
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WuB. Ebd., Ebd., WuB.
Bd. 1.5, S. 373. S. 366; Bd. 1.2, S. 180. S. 367. Bd. 1.2, S. 182; dort auch das nächste Zitat.
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Blättchen mit zitternder H a n d - in der J o u r n a l - F a s s u n g ist es eine „ j u n g e süße H a n d " - , dankt kurz und geht weiter. H u g o kehrt, in der . S t u d i e n ' - F a s s u n g , nach Hause z u r ü c k , „und wie er in seiner Stube saß, war ihm, als sei heute der Inbegriff aller Dinge g e s c h e h e n , und als sei er zu den größten E r w a r t u n gen dieses L e b e n s b e r e c h t i g t " . 5 ' A u s f ü h r l i c h e r , entzückter, schildert diese R ü c k k e h r und H u g o s Z u s t a n d die J o u r n a l - F a s s u n g ; doch es ist die F r a g e , welcher der b e i d e n Texte tatsächlich als der „erotischere" gelten kann. Dies aber war nur der allererste A n f a n g einer sich langsam, von S t u f e zu Stufe, e r w ä r m e n d e n und steigernden A n n ä h e r u n g . Kein Mal läßt von nun an der sich in e i n e m „ Z a u b e r und T a u m e l " b e f i n d e n d e H u g o die B e g l e i t u n g der j u n g e n K i r c h g ä n g e r i n aus; man führt belanglose G e s p r ä c h e , „aber beide hatten sie ein neues Gut e r w o r b e n , den K l a n g ihrer S t i m m e n , und dieses Gut trugen sie sich nach H a u s e " . 5 2 Einmal d a n n , nach längerer Zeit, löst sich „ H u g o s Herz und Z u n g e " ; er berichtet - die H a n d l u n g spielt in Wien zur napoleonischen Zeit - von seiner Absicht, an den b e v o r s t e h e n d e n B e f r e i u n g s k r i e g e n t e i l z u n e h m e n , und er äußert endlich auch seinen W u n s c h , N ä h e r e s von seiner unbekannten Begleiterin zu e r f a h r e n , sie vielleicht einmal b e s u c h e n zu d ü r f e n . „Was das Schicksal will, das m u ß g e s c h e h e n " , ist ihre A n t w o r t ; 5 3 und es kommt j e n e Vereinbarung zustande, w e l c h e die H a n d l u n g d e s nächsten Kapitels, ,Das L i n d e n h ä u s c h e n ' , b e s t i m m e n sollte. Dieses wird der Ort der eigentlichen L i e b e s b e g e g nung von H u g o und Coleste, eine Art Minnegrotte im Stile eines b i e d e r m e i e r lich verinnigten Empire.
VII N i r g e n d w o sonst als in d i e s e m Kapitel - in der J o u r n a l - F a s s u n g wird es noch lediglich durch die Z i f f e r 4 g e k e n n z e i c h n e t - hat Stifter sich d e u t l i c h e r als erotischer Schriftsteller m a n i f e s t i e r t . Ein Vergleich der beiden F a s s u n g e n erscheint hierbei b e s o n d e r s erhellend. Die erste Fassung hat es dabei noch eiliger, zu einem sinnlichen H ö h e p u n k t zu gelangen und die L i e b e s b e g e g n u n g e n sich dann noch von Tag zu Tag steigern zu lassen. Schon die S c h i l d e r u n g des ersten B e s u c h s H u g o s bei C o l e s t e - ihren N a m e n hatte er erst e r f r a g t , als m a n nach d e m letzten K i r c h g a n g die B e s u c h e an einem d a m a l s noch nicht e n t h ü l l ten Ort vereinbart hatte - läßt den R h y t h m u s des g a n z e n Kapitels e r k e n n e n . Es heißt dort: „Er w u ß t e vor Verwirrung nicht, wo er hin sehen sollte, alles s c h w a m m ihm in einem Z a u b e r l i c h t e ; ein S t i c k r a h m e n stand am Fenster, da-
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WuB. Bd. 1.5, S. 369; Bd. 1.2, S. 182. WuB. Bd. 1.2, S. 185; Bd. 1.5, S. 369. Ebd., S. 371 f. Hier ist die Verknappung, die das Gewicht dieser Antwort Cölestens stei gert, gegenüber der breiteren Darstellung in der Journal-Fassung besonders auffallend.
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neben ein S c h r e i b t i s c h - der Boden war mit schönen Teppichen belegt, draußen wiegten sich die g r ü n e n B a u m z w e i g e , und S o n n e n s t r a h l e n spielten herein: alles, alles sah H u g o an, nur sie nicht. Die Stunde, nach der Beide so s e h n s ü c h t i g gebangt h a b e n m o c h t e n , war da - und Beide standen nun so f r e m d vor e i n a n d e r , als w ä r e n sie gar nicht dieselben, die sich in j e n e r einsamen Gasse g e s e h e n , und sich dort vertraut g e w o r d e n . H u g o lobte den schönen Tag - sie zeigte ihm ihre W o h n u n g , aber die S t i m m e Beider bebte, als bedeuteten die Worte e t w a s g a n z A n d e r e s — und sie bedeuteten auch ein g a n z Anderes, aber Zeit, die t r e n n e n d e und b i n d e n d e , m u ß t e fließen, ehe sich dieses A n d e r e zu entringen v e r m o c h t e - ehe sich die Fingerspitzen berührten - die w a r m e n H ä n d e sich f a ß t e n - die A u g e n suchten - und endlich L i p p ' auf Lippe lag, so süß, so h e i ß e n t g e g e n d r ü c k e n d , um es nur endlich, endlich einmal zu g e n i e ß e n , das p e i n i g e n d e G l ü c k , das sie sich so lange v e r s p r o c h e n , und auf das sie so lange g e h a r r e t hatten. Und i m m e r wieder suchten sich die Lippen, und verschlangen sich die A r m e - diese S p r a c h e hatten sie bei ihren s t u m m e n B e g e g n u n g e n gelernt - die andere m u ß t e n sie erst e n t w i c k e l n - aber so wie sie ruhiger w u r d e n , wie f ü r d a s A u g e die G e g e n s t ä n d e wieder da waren, der Tisch, der Schrein, die G e r ä t h e : so k a m auch j e n e andere S p r a c h e , die Worte des Tages fingen n u n an, d a s G e w ö h n l i c h e zu bedeuten, das sie a u s s p r e c h e n Beide, die L i e b e n d e n , die längst Vereinten, staunten nun, sich auch reden zu h ö r e n , und Worte zu v e r n e h m e n , wie sie auch die andern Leute sagen - sie f i n g e n nun sachte an sich k e n n e n zu lernen, während andere sich erst kennen, dann lieben." 5 4 Schon der erste B e s u c h H u g o s in d e m „ G a r t e n h ä u s c h e n " , das in der ersten F a s s u n g „aus e i n e m A c a c i e n w a l d e h e r v o r schimmerte",·''' führt also hier, nach e i n e r a n f ä n g l i c h e n , z ö g e r n d e n Verlegenheit, sogleich zur glutvollen ersten L i e b e s u m a r m u n g . Die . S t u d i e n ' - F a s s u n g h i n g e g e n v e r l a n g s a m t die erotische A n n ä h e r u n g in v o r s i c h t i g e r S t e i g e r u n g über m e h r e r e Stufen h i n w e g . So gelangen die drei ersten B e s u c h e H u g o s nur vom a n f ä n g l i c h e n b e w e g t e n S c h w e i g e n der L i e b e n d e n zu sich z ö g e r n d v e r t i e f e n d e n G e s p r ä c h e n , die zunächst von „ g e w ö h n l i c h e n D i n g e n " h a n d e l n , dann zu einem f r e i m ü t i g e r e n Erzählen des M a n n e s ü b e r g e h e n und schließlich das „ G e s c h ä f t g e g e n s e i t i g e n Erk e n n e n s " e r r e i c h e n . 5 6 Die I n t e n s i v i e r u n g der sinnlichen Reize o f f e n b a r t sich im Wechsel der den K ö r p e r C ö l e s t e n s u m h ü l l e n d e n K l e i d u n g , die der Besuc h e n d e stets sehr a u f m e r k s a m b e m e r k t . Nach dem zweiten, mit einem Handk u ß H u g o s b e e n d e t e n B e s u c h klingt, auf dem R ü c k w e g , ein solcher körperli-
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WuB. Bd. 1.2, S. 189f. Ebd., S. 189. Eric Blackall (o. A n m . 4 6 ) bemerkt zu dieser Veränderung in der ,Studien'-Fassung (S. 85): „Akazien, Sinnbild für das Leichtverwehte, sollen also in der Studienfassung durch Linden, Sinnbild für das vom Vergänglichen in der Erinnerung Bleibende, ersetzt werden." WuB. Bd. 1.5, S. 3 7 7 - 3 8 2 .
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e h e r Eindruck noch in ihm nach und ruft in seiner Einbildung sogar das W u n s c h b i l d von C ö l e s t e n s E n t k l e i d u n g hervor: „Sie war wieder sehr schön g e w e s e n , und in d e m schlanken zarten d u n k e l g r ü n e n seidenen Kleide, das die kleinen Fältchen auf d e m Busen hatte, sehr edel. Es war ihm, wie ein Räthsel, daß sich die Pracht dieser G l i e d e r aus der u n h e i m l i c h e n K l e i d e r w o l k e gelöset habe, und d a ß sie vielleicht sein werden k ö n n e . " 5 7 Daß und wie die Geliebte „sein" werden sollte, bringt die Journal-Fassung sehr viel eindeutiger zum Ausdruck. Denn das in den .Studien' zunächst nur imaginierte Wunschbild des abendlichen Heimkehrers von seinem zweiten Besuch wird hier im wirklichen G e s c h e h e n s v o l l z u g dargestellt: „Und wieder war es heute wie das Letztemal - wieder war es, als hätten sie sich noch nie gesehen, als müßten sie die kargen Stunden benützen, um nur der Wonne sicher zu werden, daß sie sich haben, ohne die Frage zu thun, wer bist du, und wie wird es werden. Wie ein goldenes, zauberisches Räthsel hatte sich die Pracht dieser Glieder aus der unheimlichen Kleiderwolke gelöset, daß er sie in den Armen halte, und den G e d a n k e n g e w ö h n e , sie ist mein — und wie ein Glück, das sie sich schwer errungen, wie ein m ä r c h e n h a f t e s Glück, sah sie ihn mit aller Trunkenheit der Liebe an, und fragte die erste Zeit gar nicht einmal nach seinem Namen."58 S o m a n i f e s t i e r t e sich Eros b e i m f r ü h e n Stifter sinnlicher und unverhüllter. Die spätere, u m g e a r b e i t e t e F a s s u n g bleibt d e m g e g e n ü b e r z u r ü c k h a l t e n d e r ; eher a n d e u t e n d im S i n n l i c h - E m o t i o n a l e n , wo einiges der a n g e r e g t e n Einbild u n g s k r a f t des Lesers überlassen bleibt; d a f ü r v e r t i e f t e r und breiter a u s g e f ü h r t im Bereich des Seelischen und G e i s t i g - K o m m u n i k a t i v e n . So heißt es von H u g o , der über C ö l e s t e n s „äußere Verhältnisse" immer noch u n w i s s e n d wie am ersten Tage g e b l i e b e n war: „ A b e r ihre inneren kannte er besser. Wie sie es einstens v e r s p r o c h e n hatte, so g e s c h a h es. Ihre Seele lag in den vielen Gesprächen, die sie hielten, ohne R ü c k h a l t und m e i s t e n s unwillkürlich vor ihm und diese Seele war seinem S i n n e g a n z r e c h t . " 5 9 Doch obgleich „ihr U m g a n g [...] i m m e r inniger und t r a u l i c h e r " w u r d e , blieb, u n a u s g e s p r o c h e n , ein U n g e nügen. „Ein trauriges Herz C ö l e s t e n s lag oft vor seiner Seele, und eine U n heimlichkeit dauerte fort, o b g l e i c h sie ihm mit ihrem ganzen Wesen e r g e b e n war, und er ihr g a n z e s Wesen in sein tiefstes Herz a u f g e n o m m e n h a t t e . " 6 0 Selbst noch in der Mitte d e r E r z ä h l u n g und auf dem H ö h e p u n k t der so langsam eingeleiteten, dann aber i m m e r u n a u f h a l t s a m e r zur E r f ü l l u n g d r ä n -
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Ebd., S. 381 f. WuB. Bd. 1.2, S. 191 f. WuB. Bd. 1.5, S. 385. Ebd., S. 384, S. 386. - Über die stärker bestimmende Rolle des „ U n h e i m l i c h e n " in der Erstfassung des .Alten Siegels' handelt die ausführliche Untersuchung von Werner H o f f m a n n , der diese Fassung als „noch weithin im Banne der Romantik" stehend deutet: Zur Interpretation und Wertung der ersten Fassung von Adalbert Stifters Novelle „Das alte Siegel". In: VASILO 15 (1966), S. 8 0 - 9 6 , bes. S. 94.
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g e n d e n L i e b e s b e g e g n u n g erscheint in beiden F a s s u n g e n m a n c h e s weiterhin r ä t s e l h a f t und g e h e i m n i s v o l l : f ü r H u g o , der, an Ä u ß e r l i c h e m , viel von sich erzählt. doch noch w e n i g von der ihm seelisch und körperlich so vertraut gew o r d e n e n Coleste e r f a h r e n hat; f ü r den Leser, der im E i n g a n g s k a p i t e l a u s f ü h r lich nur ü b e r die H e r k u n f t und den C h a r a k t e r H u g o s und schließlich über das D i n g - S y m b o l dieser N o v e l l e selbst, über das „alte S i e g e l " , unterrichtet worden war. Er hatte dort Cölestens Liebhaber, H u g o Almot, als den Sohn eines Kriegers k e n n e n g e l e m t , der, nach dem frühen Tod seiner Mutter, von dem strengen Vater sehr männlich erzogen und auf eine, wenn möglich, militärische „ T h a t " vorbereitet worden war, so daß er schon als Knabe „etwas Eisenfestes und A l t k l u g e s " an sich hatte. 6 1 Das Siegel mit dem strengen Motto „Servandus t a n t u m m o d o h o n o s " („Die Ehre allein m u ß bewahrt werden") k o m m t ihm mit dem väterlichen Erbe zu. Hätte ihn während seiner mit ,,feste[r] Einfalt" betriebenen Studien nicht das rätselhafte Briefchen eines Unbekannten es war der e i g e n m ä c h t i g handelnde, treue Diener Cölestens - vor die Peterskirche einbestellt, er wäre, trotz seiner unerkannten ,,traurige[n] S e h n s u c h t " nach einer „Sache, die [er] lieben [könne]", aus der männlichen Härte seines einschichtigen, nur auf k ü n f t i g e Taten ausgerichteten Lebens k a u m h e r a u s g e k o m m e n . Nach dem plötzlichen Verschwinden der Insassen aus dem „Lindenhäuschen", das Hugo, wegen der unenträtselten G e h e i m n i s s e doch einer A n w a n d l u n g von Mißtrauen erlegen, drei (in der Journal-Fassung vier) Tage lang nicht besucht hatte, kehrt er tatsächlich, von stillem K u m m e r gezeichnet, in die Welt des militärischen Tatendrangs zurück. Erst elf Jahre später, am Ende des Feldzugs in Frankreich, kommt es zur unerwarteten W i e d e r b e g e g n u n g mit Coleste auf einem S c h l o ß in Lothringen; und jetzt erst erfährt H u g o - und erfährt der Leser Einzelheiten vom Schicksal der einstigen Unbekannten; das Geheimnisvoll-Rätselhafte, welches die L i e b e s h a n d l u n g umkleidet, dabei aber auch den Zauber des erotischen Erlebnisses gesteigert hatte, wird aufgeklärt. Cölestens unglückliche Ehe mit einem f ü n f u n d d r e i ß i g Jahre älteren Mann, in die man die f ü n f z e h n j ä h r i g e Waise g e z w u n g e n hatte, war kinderlos geblieben; ihr Mann hatte sie d e s w e g e n beschuldigt und physisch wie psychisch mißhandelt; 6 2 ihr Un-
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WuB. Bd. 1.5, S. 346. Die folgenden Zitate S. 355, S. 357. Helmut Schmiedt (Liebe. Ehe. Ehebruch. Im Spannungsfeld deutscher Prosa von Christian Fürchtegott Geliert bis Elfriede Jelinek. Opladen 1993) mißt bei der Behandlung von Stifters ,Das alte Siegel' gerade der hier manifest werdenden „Dimension der handfesten Brutalität im U m g a n g der Geschlechter" besondere Bedeutung zu und gelangt dann auch im Hinblick auf die Almot-Männer zu der Feststellung: „Das im militärischen Rahmen Bewährte wird zum Maßstab für die Bewältigung der außermilitärischen Praxis; die dort ertragreich geübte Disziplin sich selbst und anderen gegenüber besiegt im entscheidenden Moment das lebendige G e f ü h l , das ihn zu Coleste hinziehen möchte. Die Liebe und Erotik werden also von jenen Normen und Werten übertrumpft, die der Krieg, wenn nicht hervorgebracht, so doch erheblich stabilisiert hat, und so dringt auch auf diesem Weg der Aspekt der physischen Konfrontation in die Geschichte einer erotischen Beziehung ein." (S. 89, S. 93)
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Joachim W. Storch
g l ü c k t r i e b sie z u m t ä g l i c h e n K i r c h g a n g in T r a u e r k l e i d e r n . D i o n i s , einst H a u s h o f m e i s t e r ihres Vaters und Ratgeber der Unglücklichen, fädelte aus Haß g e g e n d e n h a r t u n d h ä r t e r g e w o r d e n e n G a t t e n - a u c h d i e s e r auf a n d e r e Weise e i n d r a s t i s c h e r V e r t r e t e r d e s M ä n n l i c h k e i t s p r i n z i p s , d e r d a n n a l l e r d i n g s bald d a r a u f im A u s l a n d e s t a r b - d i e B e g e g n u n g C ö l e s t e n s m i t H u g o A l m o t e i n , die n u n s c h i c k s a l h a f t zu L i e b e n d e n w u r d e n .
VIII D e r k n a p p e H a n d l u n g s a b r i ß bis zu d i e s e m P u n k t e m a g d e m S t i f t e r - L e s e r n i c h t s N e u e s s a g e n ; e r m u ß t e d e n n o c h in E r i n n e r u n g g e b r a c h t w e r d e n , um e i n e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e r D e u t u n g d i e s e r N o v e l l e zu b e g r ü n d e n , die i h r e n A u s g a n g n u r v o m S c h l u ß d e r E r z ä h l u n g n e h m e n k a n n . D e n n H u g o , in d e n J a h r e n d e s K r i e g e s s t r e n g u n d hart wie sein Vater g e w o r d e n , s c h l ä g t die j e t z t m ö g l i c h g e w o r d e n e V e r b i n d u n g mit d e r e i n s t i g e n G e l i e b t e n , d e r e n n u n z e h n j ä h r i g e s M ä d c h e n s e i n e T o c h t e r ist, e i n g e d e n k d e s M o t t o s auf d e m alten S i e g e l a u s , d a s e i n e L i e b e u n b e w u ß t B e s t a n d t e i l e i n e s E h e b r u c h s g e w e s e n sei. „ A l s o k ö n n t e s t D u d e r s o g e n a n n t e n E h r e das w a r m e , e w i g e , klare L e b e n opf e r n ? " f r a g t ihn C o l e s t e m i t W o r t e n , d i e d e r E r z ä h l e r in d e r z w e i t e n F a s s u n g s e h r w o h l e r w o g e n h a t , - u n d sie e r h ä l t h i e r a u f k e i n e A n t w o r t . E b e n s o g e n a u von Stifter bedacht sind dann die A b s c h i e d s w o r t e der verzweifelten Coleste: „ m ö g e dir G o t t im H i m m e l d i e s e h a r t e T u g e n d l o h n e n , a b e r m e i n H e r z verf l u c h t sie: d e n n e s w i r d g e b r o c h e n . - Ja, ich w a r e i n e S ü n d e r i n , a b e r d i e S ü n d e w u r d e m i r n i c h t l e i c h t ; du hast n u r ihre h o l d e F r u c h t g e s e h e n , ihre K ä m p f e t r u g ich a l l e i n . M e i n e S ü n d e ist m e n s c h l i c h e r , als d e i n e T u g e n d - g e h ' - so l a n g e d i e E r d e s t e h t , w u r d e n i e m a n d a b g ö t t i s c h e r g e l i e b t , als d u . " 6 3 R u t h A n g r e s s h a t in i h r e m s c h o n g e n a n n t e n A u f s a t z ü b e r , D a s E h e b r u c h m o t i v in S t i f t e r s D a s alte S i e g e l ' d i e p l a u s i b l e E r k l ä r u n g g e g e b e n , d a ß s i c h bei S t i f t e r s V e r w e n d u n g d i e s e s M o t i v s d a s „ W e i b l i c h e " u n d d a s „ M ä n n l i c h e " als u n v e r r ü c k b a r e K a t e g o r i e n k o n f l i k t h a f t g e g e n ü b e r s t ü n d e n . 6 4 E i n e solche D e u t u n g leuchtet vor allem für ein noch patriarchalisch geprägtes Zeitalt e r e i n ; d e n n d i e „ E h r e " , z u m a l in i h r e r V e r a b s o l u t i e r u n g , ist e i n e d u r c h u n d durch patriarchalisch bestimmte Sekundärtugend. Schon für Stifter aber war sie in d e r K o n s e q u e n z , d i e ihr H u g o in d i e s e r E r z ä h l u n g z u m i ß t , f r a g w ü r d i g g e w o r d e n ; u n d d i e s p ä t e G e s t e d e s in E i n s a m k e i t alt G e w o r d e n e n , der, v o n G e w i s s e n s b i s s e n g e p l a g t , d a s alte S i e g e l s c h l i e ß l i c h in e i n e u n z u g ä n g l i c h e S c h l u c h t w i r f t , h a t s y m b o l i s c h e B e d e u t u n g . Zu d e n K e r n s ä t z e n in S t i f t e r s W e r k , d i e er i m m e r w i e d e r an H ö h e p u n k t e n d e r E r z ä h l u n g e i n z u s e t z e n verm a g - „ D i c h h ä t t e ich g e l i e b t " , s c h r e i t d e r g r e i s e H a g e s t o l z s e i n e n j u n g e n 63 64
WuB. Bd. 1.5, S. 404. Angress (o. Anm. 46), S. 485 u.ö.
Eros bei Stifter
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N e f f e n Victor an;65 „Ich h a b e e s nicht v e r m o c h t " , a n t w o r t e t C o r o n a ihrem früheren Mann Georg, d e m späteren „Waldgänger", am S c h l u ß ihres erschütternden Gesprächs66 - : zu solchen
Kernsätzen
also zählt ganz
besonders
auch
C ö l e s t e n s A u s r u f : „ M e i n e S ü n d e ist m e n s c h l i c h e r , a l s d e i n e T u g e n d " . S o l c h e r S c h l u ß f o l g e r u n g e n e i n g e d e n k , m u ß e s ü b e r r a s c h e n , d a ß in d e r k l u g e n und im A n s a t z ü b e r z e u g e n d e n Arbeit v o n Ruth A n g r e s s d a s G e w i c h t der Wertung sich am Ende deutlich auf die Seite H u g o s neigt. C o l e s t e wird mit i m m e r n e u e n F o r m u l i e r u n g e n in e i n z w e i d e u t i g e s L i c h t g e r ü c k t , w ä h r e n d d i e Eisenhärte Hugos, seine kriegerischen Funktionen und Werte jedes
Verständ-
nis finden. O b w o h l e s ihm bei dieser späten W i e d e r b e g e g n u n g mit der einst Geliebten explizit um die B e w a h r u n g seiner e i g e n e n Prinzipien, seines e i g e nen Ichs ( „ w i e könnte ich jetzt vor mir stehen") und s e i n e s e i g e n e n A n s e h e n s „ v o r d e n a n d e r n " g e h t , 6 7 e r s c h e i n t d i e s e r T u g e n d b o l d in R u t h A n g r e s s ' U n t e r s u c h u n g u n e i n g e s c h r ä n k t als der „untadelige, charakterstarke O f f i z i e r " . 6 8 U n d d i e l e t z t e s i n n b i l d h a f t e G e s t e d e s a u f s e i n e m B e s i t z t u m u n v e r m ä h l t alt g e w o r -
65 66 67 68
WuB. Bd. 1.6, S. 118. SW. Bd. 13, S. 148. WuB. Bd. 1.5, S. 404. Angress (o. Anm. 46), S. 496. - Dazu treten weitere, stets positiv gehaltene Qualifikationen: „der durch und durch männliche H u g o " (S. 486) und „charakterstarke Krieger" (S. 495), der „ein absolutes Rechts- und Wahrheitsgefühl" in sich trage (S. 496), j a eine „Reinheit seines Junggesellentums" besitze, die „von der Frau, vor allem von dem Diener, mit vollem Bewußtsein und systematisch zerstört" werde ( S . 4 9 1 ) . Kategorisch und gegen alle kritischen Bewertungen dieses „die .Ehre' über das L e b e n " stellenden „Prinzipienreiters" (Urban Roedl: .Adalbert Stifter in Selbstzeugnissen und Bilddokum e n t e n ' . Reinbek bei Hamburg 1965 [rowohlts monographien 86], S. 69) und „Moralapostels" (Blackall [o. Anm. 46], S. 77) - wird betont: „ H u g o s .harte T u g e n d ' kann nicht einfach beiseite geschoben werden" (S. 498). Wertpositiv erscheint auch, daß „die Ideale, denen wir in der Novelle begegnen, Bezug [haben] auf einen Begriff der Männlichkeit, der auf Feudaltugenden zurückgeht, Treue und K r i e g e r m u t " (S. 483). Aber diesen männlich-feudalistischen „Idealen" stehen jene Werte gegenüber, die Coleste vertritt - Liebe, Leben, Weiblichkeit, Menschlichkeit - , deren letztendliche Höherwertigkeit Stifter ja gerade am Schicksal des „harten" Veit Hugo, an seiner verspäteten Erkenntnis und seinem finalen Widerruf einsichtig macht. Damit wird auch die „Abhängigkeit des Erotischen vom Militärischen" in ihrer Fatalität enthüllt (vgl. o. Anm. 62). - Was schließlich den geschichtlichen Hintergrund der Befreiungskriege gegen Napoleon betrifft, dessen Würdigung die Verfasserin zu einem Seitenhieb gegen den „ P a z i f i s m u s der Nachkriegskritiker" veranlaßt (S. 487), so hat der im Grundsätzlichen durchaus notorische Kriegsgegner Stifter die damalige Erhebung fast ganz Europas gegen „den einen Mann, der Europa's leuchtendster Kriegsstern, und dessen größte Geißel geworden war", zwar zustimmend bewertet, dabei aber die negativen E r s c h e i n u n g s f o r m e n auch dieses (wie jeden) Krieges deutlich genug zum Ausdruck gebracht: „es waren düstere Schattenseiten des menschlichen Geschlechtes vorüber g e g a n g e n " , mit „Großthaten", welche „das menschliche Herz zerreissen". Und gerade diese Seiten des Krieges hatten den lebensfeindlichen Charakter von Hugos „Männlichkeit" gestärkt: „Unter den schweren Entwicklungen jener Zeit war Hugo ein Mann geworden - und j e n e s finstere Blatt Weltgeschichte, das damals abgehandelt wurde, hatte sein Herz gestählt", ihn „fester, ernster und kälter" gemacht und „einen leisen Zug von Härte" in sein Gesicht gezeichnet (WuB. Bd. 1.5., S. 392f.).
Joachim W. Storck
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denen Kriegers, das Hinwegschleudern des alten Siegels, wird nicht als Ausdruck einer zu späten Einsicht, sondern, ganz in der männlich-patriarchalischen Perspektive, als „kindisch-greisenhafter Impuls", als eine Alterserscheinung der „Weichherzigkeit" gedeutet. 6 9 Viel weniger Verständnis findet demgegenüber Coleste als „Frau und Vertreterin des Weiblichen". 7 0 Im Gegensatz zu Hugo wird „Charakter" ihr faktisch abgesprochen, wird ihr ein „verschwommener Begriff von Treue und Untreue, Wahrheit und Betrug" angekreidet, ja sogar eine potentielle Lügenhaftigkeit unterstellt, und dies, obwohl ihr „bis zum Ende sowohl vom Erzähler wie von Hugo viel Gutes gesagt" worden sei. 7 1 Trotz ihrer zugegebenen „Gutherzigkeit" wird Coleste in diesem Aufsatz zur „Verführerin" stilisiert;
69 70
71
A n g r e s s (o. A n m . 4 6 ) , S. 5 0 0 f . E b d . S. 4 9 5 . - In S t i f t e r s T e x t , j e d e n f a l l s in d e r r e i f e r e n . S t u d i e n ' - F a s s u n g , w i r d C o l e ste, i m G e g e n s a t z zu d e n a m b i v a l e n t e n C h a r a k t e r i s i e r u n g e n d e s „ m ä n n l i c h e n " H u g o , n i r g e n d s n e g a t i v b e w e r t e t , t r o t z i h r e s o f t r ä t s e l h a f t - v e r s c h w i e g e n e n V e r h a l t e n s , d a s erst in ihrer s p ä t e r e n , s o m e n s c h l i c h u n d b e w e g e n d v o r g e b r a c h t e n L e b e n s b e i c h t e s e i n e Erk l ä r u n g f i n d e t . Ihr „ E r r ö t e n " , ihre „ R ü h r u n g " u n d „ W e h m u t " , ihr „ S c h ü c h t e r n " - S e i n , ihr m e h r f a c h b e z e u g t e r „ S i n n f ü r R e i n h e i t " , ihre H i n g e g e b e n h e i t , „ u n s c h u l d i g , t r e u , w i l l e n los w i e ein l i e b l i c h e s K i n d " : d i e s s i n d e i n i g e K e n n z e i c h n u n g e n d e s E r z ä h l e r s , die kein e s w e g s als E r s c h e i n u n g s f o r m e n e i n e r b l o ß e n V e r s t e l l u n g zu m i ß d e u t e n s i n d . In d e m A u f s a t z v o n A n g r e s s h i n g e g e n w i r d C o l e s t e " als „ V e r t r e t e r i n des W e i b l i c h e n " mit n e g a t i v e n K r i t e r i e n f ö r m l i c h e i n g e d e c k t ; sie sei „im H a l b d u n k e l b e f a n g e n , d a s s c h o n i m m e r ihre e i g e n t l i c h e L e b e n s s p h ä r e w a r " (S. 4 9 8 ) ; die „ G e s p a l t e n h e i t " ihres „ C h a r a k t e r s " sei „ ü b e r a l l n a c h z u w e i s e n " (S. 4 9 2 ) , w a s n a t ü r l i c h im G e g e n s a t z s t e h t z u m „ c h a r a k t e r s t a r k e n K r i e g e r " , d e s s e n „ h a r t e T u g e n d [...] n i c h t e i n f a c h b e i s e i t e g e s c h o b e n w e r d e n " k ö n ne, w ä h r e n d es v o m w e i b l i c h e n G e g e n p a r t h e r a b w ü r d i g e n d h e i ß t , d a ß „ i h r e A r g u m e n t e [...] n i c h t a l s m a ß g e b l i c h g e l t e n " k ö n n t e n (S. 4 9 8 ) . E i n e ä h n l i c h e i n s e i t i g e P a r t e i n a h m e m a n i f e s t i e r t s i c h , w e n n C o l e s t e b e z e i c h n e t wird als „ e i n e C i r c e , O m p h a l e o d e r D e l i l a h [...), a l s o e i n e F r a u , d i e s e i n e [ H u g o s ] K r i e g s t ü c h t i g k e i t o d e r m ä n n l i c h e Z i e l s t r e b i g k e i t z u m i n d e s t t e i l w e i s e [...] l a h m l e g t " (S. 4 8 7 ) , o d e r w e n n es s p ä t e r von ihr h e i ß t , d a ß sie. „ b e h e r r s c h t v o n D i o n i s , [...] n i c h t s d e s t o w e n i g e r den E h r b e g r i f f u n t e r m i n i e r e n u n d d a r ü b e r h i n a u s s e i n e n U n t e r n e h m u n g e n A b b r u c h t u n " m ü s s e , w a s j e d e n f a l l s als „ a s s o z i a t i v e r " E i n d r u c k b e i m L e s e r b e h a u p t e t w i r d . S o l c h e V o r w ü r f e t r e f f e n , mit C o l e s t e , ihr g a n z e s G e s c h l e c h t , w a r sie d o c h „ d e s B e t r u g s u n d d e r v e r s c h i e d e n e n Z w e i d e u t i g k e i t e n u n d Z w i e l i c h t i g k e i t e n f ä h i g , e i n f a c h w e i l sie als F r a u o d e r b e s s e r g e s a g t als , W e i b ' e i n e m g e m i s c h t e n R e i c h a n g e h ö r t , w o L i e b e u n d K i n d e r g e b ä r e n w i c h t i g e r sind als G r u n d s ä t z e u n d h o h e T a t e n " (S. 4 9 9 ) . In d e r Tat: sie w a r e n f ü r S t i f t e r w i c h t i g e r , a u c h s c h o n b e v o r e r d i e V o r r e d e zu d e n . B u n t e n S t e i n e n ' g e s c h r i e b e n h a t t e . - N o c h e i n m a l hat S t i f t e r übr i g e n s e i n ä h n l i c h e s T h e m a m i t e i n e m b e s o n d e r e n V e r s t ä n d n i s f ü r die w e i b l i c h e „ E h e b r e c h e r i n " b e h a n d e l t : in d e r E r z ä h l u n g , D i e N a r r e n b u r g ' , in d e r „ B i n n e n g e s c h i c h t e " v o n J o d o k u s , s e i n e r G a t t i n C h e l i o n u n d s e i n e m B r u d e r S i x t u s , d i e , so P e t e r v o n M a t t (o. A n m . 5), im U n t e r s c h i e d z u r R a h m e n h a n d l u n g „ w i e a u s e i n e r a n d e r n , e i n e r u n g e s t ü m f r e i e n S e e l e h e r a u s g e s c h r i e b e n " sei (S. 182): „ W i e E l g a [in G r i l l p a r z e r s E r z ä h l u n g . D a s K l o s t e r bei S e n d o m i r ' ] b e t r ü g t C h e l i o n ihren M a n n , [...] a b e r u n v e r g l e i c h l i c h ges t a l t e t u n d a u s g e s p r o c h e n w i r d hier, d a ß es ein L i e b e s v e r h a l t e n u n d ein s i t t l i c h e s E r l e ben geben könne, das den herrschenden Konzepten kraß widerspreche und doch ganz s c h u l d l o s s e i . W a s in d e n A u g e n d e r g e l t e n d e n O r d n u n g nur H u r e r e i u n d S c h a n d e ist u n d b a l d e i n m a l d e n T o d v e r d i e n t , k a n n in W a h r h e i t z u s a m m e n g e h e n mit e i n e r k i n d l i chen Reinheit." A n g r e s s (o. A n m . 4 6 ) , S. 4 9 8 .
Eros bei Stifter
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ihre w e i b l i c h e L i e b e s f ä h i g k e i t erfährt k e i n e s w e g s so viel Verständnis wie die „ h e r o i s c h e " Q u a l i f i k a t i o n des p r i n z i p i e n s t r e n g e n K r i e g e r s . Das „ L i n d e n h ä u s c h e n " schließlich wird als „ V e n u s b e r g " g e d e u t e t , 7 2 w a s die Vorstellung impliziert, daß C o l e s t e g l e i c h s a m als v e r f ü h r e n d e L i e b e s g ö t t i n ihren T a n n h ä u s e r in diesen „ V e n u s b e r g " h i n e i n g e l o c k t hätte. Wenn m a n hier s c h o n , mit ä u ß e r s t e m Vorbehalt, i r g e n d e i n e Parallele zu Wagner ziehen wollte, d a n n k ö n n t e m a n , im Hinblick auf d a s „ L i n d e n h ä u s c h e n " - K a p i t e l , eher an den z w e i t e n Akt von .Tristan und I s o l d e ' d e n k e n ; die e r o t i s c h e S t e i g e r u n g s k u r v e , z u m a l in d e r J o u r n a l - F a s s u n g , ließe sich d a n n , c u m g r a n o salis, mit den c h r o m a t i s c h e n A u f s c h w ü n g e n d e s L i e b e s d u e t t s vergleichen. Letzten E n d e s w i d e r s p r i c h t aber die k o m p r o m i ß l o s e G e g e n ü b e r s t e l l u n g des M ä n n l i c h e n und d e s Weiblichen, wie sie in dieser N o v e l l e p a r a d i g m a t i s c h angelegt erscheint - in ihrem scheinbaren G l e i c h g e w i c h t v o m E r z ä h l e r j e d o c h , b e z o g e n auf die e r k e n n b a r e L e b e n s v e r f e h l u n g H u g o s und auf d a s titelg e b e n d e D i n g s y m b o l , schon in Frage gestellt wird - , d e r S t i f t e r s c h e n A n t h r o pologie. Bereits die w e i b l i c h - m ä n n l i c h e K o n s t e l l a t i o n in . B r i g i t t a ' d e u t e t e die K o n t u r e n eines „ a n d r o g y n " zu verstehenden M e n s c h e n t u m s an. In der gleichen E r z ä h l u n g , worin nicht zuletzt die A m b i v a l e n z d e r g e s c h l e c h t s b e z o g e n e n S c h ö n h e i t t h e m a t i s i e r t wird, findet sich g e r a d e an zentraler Stelle ein Satz herausgestellt, der u n a u s g e s p r o c h e n - und u n e r k a n n t - auch d e m E r b e n des fatalen „Alten S i e g e l s " gelten mußte: „so herrlich ist das S c h ö n s t e , w a s d e r arme, fehlende Mensch hienieden vermag, das Verzeihen".73
IX Ein letztes Wort n o c h m a l s z u m A u s g a n g s p u n k t u n s e r e r F r a g e s t e l l u n g . Ein a u f f a l l e n d e r A s p e k t in der G e s t a l t u n g des E r o t i s c h e n bei Stifter, d e r g e r a d e in der L i e b e s h a n d l u n g d e s .Alten S i e g e l s ' zu b e o b a c h t e n war, ist ihre - g e r a d e dort - s p a n n u n g s v e r s t ä r k e n d e L a n g s a m k e i t . D i e s e s R i t a r d a n d o in d e r A n n ä h e rung der G e s c h l e c h t e r und im A u f k e i m e n d e r E m p f i n d u n g e n f i n d e t sich, auf u n t e r s c h i e d l i c h e Weise gestaltet, auch in a n d e r e n E r z ä h l u n g e n S t i f t e r s ; m a n d e n k e nur an die B e z i e h u n g des D o k t o r A u g u s t i n u s zu M a r g a r i t a in d e r . M a p pe m e i n e s U r g r o ß v a t e r s ' , die allerdings bereits einen E x t r e m f a l l darstellt. Solches e r w ä g e n d , kehrt m a n fast z w a n g s l ä u f i g zu j e n e m z e i t g e n ö s s i s c h e n „ G e g e n b i l d " z u r ü c k , von d e m e i n g a n g s die R e d e war. In d e m B e i t r a g von B a r b a r a S i c h t e r m a n n in d e r Z e i t s c h r i f t . F r e i b e u t e r ' f i n d e t m a n unter a n d e r e n die folg e n d e aktuelle B e o b a c h t u n g : „Mit der S c h n e l l i g k e i t ihrer E r f ü l l u n g n i m m t die Tiefe und L e i d e n s c h a f t l i c h k e i t so m a n c h e r W ü n s c h e ab. D o c h w a s sollen wir
72 73
Ebd. , S. 485, S. 493. WuB. Bd. 1.5, S. 472.
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Joachim
W. Storck
tun, wenn alles hopp, hopp geht?" 7 4 Und daran schließt die Autorin die Überlegung an: „Doch seltsam, der Wunsch, den man sich jetzt in Windeseile erfüllt, hat nur noch eine entfernte Familienähnlichkeit mit jenem, dessen Befriedigung einst so mühevoll und gefährlich war, ja es scheint fast, als habe die rasche Stillung den Wunsch verdorben, als sei er im Hagel der Erfüllungsangebote um Kontur und Gewicht gekommen." Solche Feststellungen mögen, zunächst, den Abstand verdeutlichen, der uns heute von Stifter trennt; zugleich aber könnten sie unsere Aufmerksamkeit dafür schärfen, was wir zu gewinnen haben, wenn wir als Leser das ambivalente Thema „Eros bei Stifter" bedenken.
74
Freibeuter 58 (o. Anm. 7). S. 79f.
Walter Seifert
Literaturidee und Literaturdidaktik bei Adalbert Stifter
1. E i n l e i t u n g Die Tätigkeit Stifters als S c h u l g r ü n d e r , Schulrat, P ä d a g o g e und F a c h d i d a k tiker ist durch die D o k u m e n t e n s a m m l u n g e n Kurt Vanesas, ,Die Schulakten Adalbert S t i f t e r s ' , 1 und Kurt G e r h a r d Fischers, . D o c u m e n t a P a e d a g o g i c a Austriaca. Adalbert S t i f t e r ' , 2 sowie d u r c h die Bände ,Vermischte S c h r i f t e n ' und . B r i e f w e c h s e l ' der P r a g - R e i c h e n b e r g e r A u s g a b e 3 gut belegt. Vieles findet man auch in Stifters D i c h t u n g e n , vor allem im . N a c h s o m m e r ' . Neben seiner sorgfältigen D o k u m e n t a t i o n hat F i s c h e r eine a l l g e m e i n p ä d a g o g i s c h e , stark sys t e m a t i s i e r e n d e A b h a n d l u n g . P ä d a g o g i k des M e n s c h e n m ö g l i c h e n ' 4 über Stifters B i l d u n g s t h e o r i e g e s c h r i e b e n . Gut b e k a n n t sind daneben die a l l g e m e i n e n L e i s t u n g e n des Schulrats, die Stellung Stifters im D e n k z u s a m m e n h a n g der Zeit sowie das .Lesebuch zur F ö r d e r u n g h u m a n e r B i l d u n g ' . 5 Vieles bleibt h i n g e g e n i m m e r n o c h u n e r f o r s c h t , weil wichtige F o r s c h u n g s disziplinen wie die F a c h d i d a k t i k e n und die G r u n d s c h u l d i d a k t i k noch kaum aktiv g e w o r d e n sind. So gibt es z w a r ü b e r die Tätigkeiten des Schulrats Stifter a l l g e m e i n e Ü b e r b l i c k e , wie z.B. von J u n g m a i r , doch noch keine Detaildarstellungen aller T ä t i g k e i t s f e l d e r und d e r e r b r a c h t e n L e i s t u n g e n des Schulrats im Z u s a m m e n h a n g . Was vor a l l e m f e h l t , u m die s c h u l o r g a n i s a t o r i s c h e n Leistungen Stifters im g r o ß e n Z u s a m m e n h a n g verstehen und w ü r d i g e n zu können, sind v e r g l e i c h e n d e U n t e r s u c h u n g e n , denn nur im Vergleich der Tätigkeiten und Leistungen des Schulrats S t i f t e r mit a n d e r e n Schulräten ließe sich seine S o n d e r r o l l e und S o n d e r l e i s t u n g b e s c h r e i b e n und n a c h w e i s e n . N e b e n Schulp ä d a g o g i k und G r u n d s c h u l d i d a k t i k sind aber auch die F a c h d i d a k t i k e n gefordert, spezielle T ä t i g k e i t s f e l d e r g e n a u e r zu klären, z.B. die M a t h e m a t i k d i d a k -
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Kurt Vanesa (Hrsg.): Die Schulakten Adalbert Stifters. Graz/Wien 1955. Kurt Gerhard Fischer (Hrsg.): D o c u m e n t a Paedagogica Austriaca. Adalbert Stifter. 2 Bde. Linz 1961 (Schriftenreihe des Adalbert Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich 15). SW. Bde. 14-24. Kurt Gerhard Fischer: Die Pädagogik des Menschenmöglichen. Adalbert Stifter. Linz 1962. Vgl. dazu Otto Jungmair: Adalbert Stifters Linzer Jahre. Nürnberg 1958; Moriz Enzinger: Gesammelte Aufsätze zu Adalbert Stifter. Wien 1967; Sepp Domandi: Adalbert Stifters Lesebuch und die geistigen S t r ö m u n g e n zur Jahrhundertmitte. Linz 1976.
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tik, d e n n in d e r M a t h e m a t i k war Stifter gründlich ausgebildet, und in dieser Disziplin hat er bei seinen I n s p e k t i o n s r e i s e n , aber auch mit G u t a c h t e n dezidiert S t e l l u n g b e z o g e n . E i n e n Beitrag zu seiner literaturdidaktischen Position soll die f o l g e n d e D a r s t e l l u n g der Z u s a m m e n h ä n g e zwischen Literaturidee und L i t e r a t u r d i d a k t i k leisten.
2. L e b e n s d a t e n d e s S c h u l r a t s S t i f t e r A m 3 . 6 . 1 8 5 0 w u r d e S t i f t e r auf Vorschlag des Statthalters Alois Fischer vom M i n i s t e r i u m z u m S c h u l r a t f ü r die Volksschulen in Oberösterreich e r n a n n t . Urs p r ü n g l i c h sollte er als S c h u l r a t f ü r die G y m n a s i e n nach Wien b e r u f e n werden. U n t e r F i s c h e r und s e i n e m N a c h f o l g e r Eduard Freiherrn von Bach k o n n t e S t i f t e r seit 1851 seine Ideen verwirklichen. Er blieb f ü n f z e h n Jahre Schulrat, b e w ä l t i g t e ein g e r a d e z u u n ü b e r s c h a u b a r e s A r b e i t s p e n s u m , wurde schließlich d u r c h K r a n k h e i t e n stark b e h i n d e r t und am 27.11.1865 vom Kaiser mit s e i n e m vollen G e h a l t unter E r n e n n u n g zum Hofrat pensioniert. 6 Seit 1850 u n t e r n a h m Stifter regelmäßig Inspektionsreisen in die Volkss c h u l e n d e s L a n d e s , w i r k t e an S c h u l p r ü f u n g e n und L e h r e r k o n f e r e n z e n mit, setzte sich f ü r e i n e V e r b e s s e r u n g der L e h r e r a u s b i l d u n g sowie f ü r eine b e s s e r e B e z a h l u n g d e r V o l k s s c h u l l e h r e r ein und b e w i r k t e 1 8 5 1 - 1 8 5 3 neben I n s t a n d s e t z u n g e n 133 N e u b a u t e n von Schulhäusern, wobei er die B a u a u s f ü h r u n g einzuleiten und zu ü b e r w a c h e n hatte. 7 1851/52 b e g r ü n d e t e S t i f t e r die Linzer R e a l s c h u l e , wobei er die g a n z e Vorb e r e i t u n g s a r b e i t , die A u s w a h l geeigneter R e a l s c h u l l e h r k r ä f t e , die E i n r i c h t u n g von I n s t r u m e n t e n - und L e h r m i t t e l s a m m l u n g e n wie auch die F o r m u l i e r u n g der L e h r p l ä n e zu b e w ä l t i g e n hatte. 8 Stifter oblag die Inspektion der R e a l s c h u l e , und er f ü h r t e den Vorsitz bei S c h l u ß p r ü f u n g e n und P r ä p a r a n d e n p r ü f u n g e n . 1854 b e a n s p r u c h t e die S c h l i c h t u n g des K o n f l i k t s zwischen Direktor Z a m p i e r i und d e m L e h r e r k o l l e g i u m , vor allem mit den Lehrern Aprent und N e t w a l d , viel Zeit und v e r s c h ä r f t e seinen Konflikt mit d e m Unterstaatssekretär J o s e f F r e i h e r r n v o n H e l f e r t im M i n i s t e r i u m , der ihm einseitige P a r t e i n a h m e und s c h l e c h t e B e h a n d l u n g d e s K o n f l i k t s v o r w a r f . 9 Als Stifter nach der A m t s e n t h e b u n g und V e r s e t z u n g Z a m p i e r i s 1856, unterstützt durch den Statthalter, als d e s s e n N a c h f o l g e r A p r e n t v o r s c h l u g , lehnte das Ministerium ab und e r n a n n t e J o s e f Carl S t r e i n z . Da sich Stifter f ü r Aprent eingesetzt hatte, w u r d e er am 2 4 . 9 . 1 8 5 6 d u r c h E r l a ß d e s Ministers von der Inspektion der Linzer R e a l s c h u l e e n t h o b e n , die er seit d e r e n G r ü n d u n g ohne j e d e s Entgelt g e f ü h r t hatte. 1 0 6 7 8 9 10
J u n g m a i r (o. A n n i . 5), S. 2 6 2 ; S. 264f. . L i n z e r Z e i t u n g ' v o m 1 7 . 1 . 1 8 5 4 , in: J u n g m a i r (o. A n m . 5), S. 92. SW. B d . 16, S. 2 4 8 - 2 5 1 ; d a z u J u n g m a i r (o. A n m . 5), S. 6 0 f f . J u n g m a i r (o. A n m . 5), S. 102f. Vgl. F i s c h e r (o. A n m . 2). Bd. 2, S. 339, S. 341 f.; J u n g m a i r (o. A n m . 5), S. 123f.
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Die R ü c k s c h l ä g e b e g a n n e n bereits 1853, als e r s t m a l s die von S t i f t e r a n g e strebte L e h r e r b i l d u n g gedrosselt w u r d e . " Im A u g u s t 1854 verlor S t i f t e r mit der V e r a b s c h i e d u n g des Statthalters E d u a r d Freiherrn von Bach „seine starke Stütze bei der D u r c h f ü h r u n g der S c h u l e r n e u e r u n g " . 1 2 Die . V e r o r d n u n g d e s Ministers f ü r Cultus und Unterricht vom 2 8 . 8 . 1 8 5 4 ' h o b die s e l b s t ä n d i g e Position der Schulräte auf, indem diese neben I n s p e k t i o n s a u f g a b e n auf „ w i s s e n s c h a f t l i c h e , d i d a k t i s c h e und p ä d a g o g i s c h e A n g e l e g e n h e i t e n " b e s c h r ä n k t wurd e n . 1 1 A m 18.8.1855 wurde in Wien das K o n k o r d a t u n t e r z e i c h n e t , w e l c h e s die S c h u l a u f s i c h t der Kirche übertrug. Die B i s c h ö f e sollten „in allen ö f f e n t l i c h e n und nicht ö f f e n t l i c h e n L e h r a n s t a l t e n " d a r ü b e r w a c h e n , „ d a ß bei k e i n e m Lehrg e g e n s t a n d e E t w a s v o r k o m m e , was dem k a t h o l i s c h e n G l a u b e n und der sittlichen Reinheit z u w i d e r l ä u f t " . In G y m n a s i e n und m i t t l e r e n S c h u l e n mit katholischen Schülern d u r f t e n „nur K a t h o l i k e n zu P r o f e s s o r e n o d e r L e h r e r n e r n a n n t w e r d e n " . 1 4 Das seit 1853 mit A p r e n t e r a r b e i t e t e L e s e b u c h , mit E m p f e h l u n g des Statthalters beim Ministerium e i n g e r e i c h t , w u r d e A n f a n g 1855 v o m Ministerium nicht f ü r die R e a l s c h u l e n a p p r o b i e r t . 1856 k a m es zu e i n e r fast vollständigen Einstellung der b e g o n n e n e n S c h u l b a u t e n . 1 5 A m 4 . 2 . 1 8 6 1 w u r d e auch das U n t e r r i c h t s m i n i s t e r i u m als s e l b s t ä n d i g e Z e n t r a l s t e l l e a u f g e h o b e n und in eine Abteilung des S t a a t s m i n i s t e r i u m s u m g e w a n d e l t . 1 6 Leiter d e r A b teilung f ü r U n t e r r i c h t s w e s e n wurde S t i f t e r s G e g n e r Freiherr von H e l f e r t . Damit waren seine W i r k u n g s m ö g l i c h k e i t e n auf ein M i n i m u m r e d u z i e r t . Die S c h i k a n e n des M i n i s t e r i u m s v e r u r s a c h t e n in den letzten D i e n s t j a h r e n S t i f t e r s A r b e i t s u n l u s t und mehrere K r a n k h e i t e n .
3. R e v o l u t i o n s e r f a h r u n g , B i l d u n g s i d e e u n d L i t e r a t u r i d e e Stifters E n t s c h l u ß , im Staatsdienst f ü r die S c h u l e n tätig zu w e r d e n , e n t s t a n d w ä h r e n d und nach der Revolution von 1848. R e v o l u t i o n s s c h o c k , B i l d u n g s i d e e und L i t e r a t u r i d e e traten in einen Z u s a m m e n h a n g , w o b e i die L i t e r a t u r im Dienste d e r E r z i e h u n g f u n k t i o n a l i s i e r t und f ü r eine B i l d u n g s i d e e g r u n d g e l e g t w u r d e . Die Revolution brach nach d e r A u f f a s s u n g S t i f t e r s aus, weil die G e s e l l s c h a f t nicht in O r d n u n g war, und sie war nicht in O r d n u n g , weil es an Bild u n g der M a s s e n fehlte. B i l d u n g w a r seitdem f ü r ihn ein Mittel g e g e n den A u s b r u c h der T r i e b h a f t i g k e i t , w e l c h e sich in der R e v o l u t i o n e n t l ä d t . B i l d u n g aber wird vorzüglich durch D i c h t u n g erreicht, so d a ß die d u r c h D i c h t u n g erreichte V e r v o l l k o m m n u n g und E r h ö h u n g des M e n s c h e n auch der R e v o l u t i o n " 12 13 14 15 16
J u n g m a i r (o. A n m . 5), S. 84. Ebd.. S. 10. Fischer (o. A n m . 2). Bd. 2, S. 6 3 4 . Ebd., S. 646. J u n g m a i r (o. A n m . 5), S. 116. Ebd., S. 180.
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e n t g e g e n w i r k t . Mit dieser L i t e r a t u r a u f f a s s u n g hängt auch z u s a m m e n , d a ß Stifter d i e Revolutionsliteratur, j a schon gesellschaftskritische, auch nationale und patriotische Literatur ablehnte. In zahlreichen A u f s ä t z e n und Briefen des J a h r e s 1849 erarbeitete er sich d i e s e K o n z e p t i o n : „Es war eine t a u s e n d j ä h r i g e Sünde, daß man g a n z e Schichten d e r m e n s c h l i c h e n G e s e l l s c h a f t in einem Z u s t a n d e ließ, in w e l c h e m sie, m e n s c h l i c h u n f r e i und u n e n t w i c k e l t , die O p f e r ihrer L e i d e n s c h a f t e n waren und in b e w e g t e n Zeiten d e m Staate, der besseren G e s e l l s c h a f t und sich selber d i e G e f a h r des U n t e r g a n g s bereiteten, welchen zu v e r m e i d e n stehts Mittel der G e w a l t und der f ü r c h t e r l i c h e n Vertilgung des m e n s c h l i c h e n L e b e n s a n g e w e n d e t werden m u ß t e n . " Schuld daran war f ü r ihn m e h r „die gesittete Gesells c h a f t , welche die tiefer s t e h e n d e e m p o r zu heben v e r s ä u m t e " , als „die Massen"; und geradezu mit S a r k a s m u s f ü g t e er hinzu: „Es scheint hiebei fast, als sei d e m n a t u r r o h e n A f f e c t e nur d a r u m seine große thierische Energie verlieh e n , d a ß er die H i n t a n s e t z u n g der sittlichen E n t w i c k l u n g um so f u r c h t b a r e r r ä c h e , der M e n s c h h e i t die A u g e n ö f f n e und sie an ihre Pflicht m a h n e . " 1 7 Stifter f o r m u l i e r t e als A u f g a b e der Zeit, „ d a ß nehmlich Erziehung die erste und heiligste Pflicht des Staates ist; denn d a r u m haben wir ja den Staat, daß wir in ihm M e n s c h e n seien, und d a r u m m u ß er uns zu M e n s c h e n m a c h e n , daß er Staatsbürger h a b e und ein Staat sei, keine Strafanstalt, in der man i m m e r K a n o n e n braucht, daß die wilden T h i e r e nicht los b r e c h e n . " Folgerichtig habe er sich selbst f ü r den Staatsdienst e n t s c h l o s s e n , „denn, wenn ich auch schon 15 J a h r e i m m e r über schlechten Unterricht klagte, so ist seit einem Jahre die S e h n s u c h t Volk und J u g e n d zu heben und zu bilden, zum h e r r s c h e n d e n innigsten G e f ü h l e in mir g e w o r d e n " . 1 8 Seitdem war für ihn die Volkserziehung „eines d e r heiligsten D i n g e " . 1 9 Er forderte: „Es sollen in dem Staate S c h u l e n in allen A b s t u f u n g e n sein, wo die Dinge gelehrt werden, die alle S t ä n d e bedürf e n , von d e m e i n f a c h s t e n bis zu d e m z u s a m m e n g e s e t z t e s t e n . In allen S c h u l e n m ü s s e n nebstbei auch die D i n g e , die den M e n s c h e n veredeln und h e b e n , in die Herzen der K i n d e r gebracht w e r d e n . Hiezu m u ß ein Lehrerstand gebildet u n d ernährt w e r d e n , der unterrichtet, edel, g e m ä ß i g t und weise ist." 2 0 Hier bek o m m t die Erziehung durch Literatur und zur Literatur einen festen Stellenwert im B i l d u n g s p r o g r a m m , denn Kunst, speziell die Literatur, v e r m a g nach Stifter in h e r v o r r a g e n d e r Weise den B i l d u n g s p r o z e ß zu fördern, wenn die institution e l l e n Voraussetzungen g e s c h a f f e n sind. In d i e s e m S i n n e schrieb er am 13.10.1849 an Heckenast, „die Kunst sei nicht nur höher, als alle W e l t h ä n d e l , sondern sie sei nebst der Religion das H ö c h s t e , und ihrer W ü r d e und ihrer G r ö ß e g e g e n ü b e r seien die eben l a u f e n -
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SW. Bd. SW. Bd. SW. Bd. Ebd., S.
16, S. 46f. ( . [ R e f o r m e n im Unterrichtswesen.]·, 7.1.1849). 18, S. 3 (Brief an Joseph Türck vom 26.4.1849). 16, S. 320. 128.
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den Dinge nur thörichte Raufhändel; wenn die Menschen nicht alles Selbstgefühles baar geworden sind, werden sie sich bald von dem trüben und unreinen Strudel abwenden, und wieder die stille einfache aber heilige und sittliche Göttin anbeten. [...] J a des holen und öden Frasenthumes müde und ekel werden sie dasselbe jezt auch in der Kunst erkennen, wenn es auftrit, werden es verschmähen, und es steht daher diesem schönsten irdischen Dinge der Menschen eine Reinigung bevor. Die Revolution ist sogar aus dem Frasenthume der Afterlitteratur hervorgegangen." 2 1 Entsprechend ist ihm „die Kunst das größte irdische Heiligthum". 2 2 Stifters Erziehungs- und Bildungsbestrebungen, mittels Kunst und Literatur dem Gesellschaftsverfall entgegenzuwirken und eine Erhöhung und Vervollkommung des Menschen zu erreichen, orientierten sich an Postulaten der Aufklärung: „Unter menschlicher Bildung verstehe ich die Entwiklung des Menschen zu reinstmöglicher Menschlichkeit, also die Entwiklung seiner Vernunft (als sittlichen Vermögens), durch die er eben Mensch ist." 2 3 Bildung aber „erreicht man auf dem Wege der Erziehung, [...] hauptsächlich auf dem der sistematischen Erziehung, d.h. durch planmäßige Herbeiführung der Momente der Vernunftentwiklung." 2 4 Stifters Literaturidee und sein pädagogisches Verantwortungsbewußtsein lassen sich jedoch nicht ohne weiteres zur Deckung bringen. Während die Literaturidee sich auf das Schöne und Sittliche als Höchstformen der Vollkommenheit bezieht und auf eine Wirklichkeit, die über der schlechten Realität steht, wendet sich sein pädagogisches Verantwortungsbewußtsein dem Menschen zu, wie er ist, um ihn in einen Prozeß der Vervollkommnung zu führen. Dabei setzt er sich für soziale Verbesserungen der Wirklichkeit ein. Auch das Kind ist für ihn bei allem Eigenwert ein Rohzustand, den es zu verbessern gilt. Was diesen Verbesserungsprozeß angeht, so legt Stifter von seiner Literaturidee her einen so hohen Maßstab an, daß dieser nur bedingt verwirklicht werden kann. Dieser Zwiespalt, daß das hohe Literaturideal einen Bereich für sich darstellt, der weit über der Realität steht, daß es zugleich aber auch als Erziehungs- und Bildungsziel für den realen Menschen gelten soll, bestimmt auch das Leben Stifters, insofern er letztlich immer in der Kunst sein höchstes Ziel sah, sich aber daneben für den Sozialbereich, vor allem für eine Verbesserung des Schulwesens, verantwortlich fühlte, auch wenn diese soziale Verpflichtung ihn von seiner höheren Aufgabe, der Kunst, abzog und abhielt. In der Zeit der Reaktion, als sein Wirkungskreis empfindlich eingeschränkt wurde, verschärfte sich die Spannung zwischen Kunstverpflichtung und päd-
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S W . B d . 18, S . 15.
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Ebd., S. 187.
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S W . B d . 2 5 , S . 1 9 3 f . ( . G u t a c h t e n über den V o r s c h l a g , in O b e r ö s t e r r e i c h e i n e U n i v e r s i t ä t zu g r ü n d e n . ' ; A p r i l
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1849).
E b d . , S . 1 9 0 ( . G u t a c h t e n der V e r t r a u e n s m ä n n e r b e z ü g l i c h der E r r i c h t u n g e i n e s p r o v i s . S c h u l r a t h e s für O b e r ö s t e r r e i c h und S a l z b u r g . ' ; M ä r z 1 8 4 9 ) .
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a g o g i s c h e r V e r a n t w o r t u n g , und die Klagen über die nutzlose Tätigkeit n a h m e n zu: „Ich arbeite sehr fleißig, s e h n e mich aber unaussprechlich nach der Zeit, w o mir eine g e s i c h e r t e R e n t e m ö g l i c h m a c h e n wird, o h n e Amt zu sein; denn es zerreißt m i r fast d a s H e r z , w e n n ich in eben dieses Herz zu den lieben s c h ö n e n h o h e n D i n g e n , die sich nach und nach in d a s s e l b e f i n d e n , das Heu Stroh und d e n H ä k e r l i n g d e s A m t e s laden, und die G ö t t e r dadurch b e s c h m u zen m u ß " . 2 5 Die S e h n s u c h t , K u n s t und Sozialwirklichkeit zu v e r s ö h n e n , wird e b e n s o d u r c h den K u n s t b e g r i f f wie durch die Wirklichkeit konterkariert.
4. Lehrerbildung In e i n e m A u f s a t z ü b e r . B i l d u n g des L e h r k ö r p e r s ' hat Stifter im .Wiener Bot e n ' 1849 die Situation d e r L e h r e r in Landschulen, H a u p t s c h u l e n und G y m nasien dargestellt und d a m i t die Voraussetzungen a u f g e z e i g t , von denen ausg e h e n d er seine B i l d u n g s k o n z e p t i o n durchsetzen wollte.
L a n d s c h u l e n und H a u p t s c h u l e n S t i f t e r s Kritik an d e r f r ü h e r e n L e h r e r b i l d u n g f ü r L a n d s c h u l e n und f ü r „ h ö h e r e A n f a n g s s c h u l e n ( H a u p t s c h u l e n , N o r m a l s c h u l e n ) " in P r ä p a r a n d e n k u r s e n richtete sich vor allem d a r a u f : „ A u ß e r d e m , daß schnell eingelernte D i n g e nicht lange h a f t e n , und d a ß d e r P r ä p a r a n d sich nicht nützliche N e b e n k e n n t n i s s e erw e r b e n k o n n t e , hatte D i e ß noch den Nachtheil, d a ß er sich in a l l g e m e i n m e n s c h l i c h e n D i n g e n nicht a u s b i l d e n und seine ganze L e b e n s w e i s e nicht veredeln und e r h ö h e n k o n n t e . Alle g e g e b e n e Zeit b r a u c h t e er zum Lernen [...]. Auswendiglernen von Gegenständen bilde! gar nicht, so lange nicht das Herz und das Gemüth des Menschen sich der Gegenstände langsam bemächtigt, sie verarbeitet, sie menschlich und sittlich fruchtbar macht." Eine W e i t e r b i l d u n g kann später nicht m e h r e r f o l g e n , „denn um sich nach weiterer Bildung zu sehnen, m u ß m a n s c h o n ein g e w i s s e s M a ß derselben h a b e n [...]. So g e s c h a h es also, d a ß d e r L e h r e r h ä u f i g auf keiner höheren Stufe d e r B i l d u n g stand, als seine Schüler. [...] Die K i n d e r k o n n t e n also an ihm nicht e m p o r sehen, k o n n ten sich an ihm nicht e r h e b e n und k o n n t e n durch sein Beispiel und seinen U m g a n g nicht b e s s e r und v e r s t ä n d i g e r w e r d e n . " 2 6 A u s d i e s e r Kritik leiteten sich Stifters Vorschläge f ü r die V e r b e s s e r u n g d e r L e h r e r s i t u a t i o n ab, w o b e i er f o r d e r t e , d a ß der Lehrer neben der Vermittlung von K e n n t n i s s e n und F ä h i g k e i t e n im Lesen und Schreiben auch als E r z i e h e r a u f t r e t e , „ d a ß er mit den S c h ü l e r n u m g e h e , daß aus seinem guten, e i n f a c h e n , 25 26
SW. Bd. 18, S. 219f. SW. Bd. 16, S. 189, S. 190f.
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gelassenen, edlen Wesen ein H a u c h in die j u n g e n S e e l e n ü b e r g e h e , und d a ß wir die H o f f n u n g h a b e n , a u ß e r unterrichteten M e n s c h e n auch sittliche und r e c h t s c h a f f e n e zu h a b e n " . 2 7 Diesem Elan Stifters stellte sich, a b g e s i c h e r t d u r c h d a s K o n k o r d a t , das Bis c h ö f l i c h e K o n s i s t o r i u m in aller S c h ä r f e e n t g e g e n , i n d e m es sich gegen das „ V i e l w i s s e n " der L a n d s c h u l l e h r e r a u s s p r a c h , „ w e l c h e s d e r G r ü n d l i c h k e i t entbehrt". Dabei berief man sich auf ein a u s f ü h r l i c h e s Zitat aus der Z u s c h r i f t des am 16.6.1856 in Wien v e r s a m m e l t g e w e s e n e n E p i s k o p a t s an das U n t e r r i c h t s m i n i s t e r i u m , worin es hieß: „Ein S c h u l g e h ü l f e , w e l c h e r mit d e m o b e r f l ä c h l i chen Anstriche m o d e m e r Vielwisserei auf d a s L a n d k ö m m t , fühlt sich unglücklich, weil er sich zu A n s p r ü c h e n berechtiget g l a u b t , deren B e f r i e d i g u n g er nicht h o f f e n k a n n . [ . . . ] und bahnt vielleicht d u r c h Wort und Beispiel den verfälschten L e b e n s a n s i c h t e n d e r A u f k l ä r u n g den W e g . Es ist aber ein weit geringeres U n g l ü c k , wenn die J u g e n d in vielen D ö r f e r n die Zierlichkeit d e r H a n d s c h r i f t , w e l c h e sie bei der Feldarbeit schnell verlernt, sich gar n i e m a l s eigen macht, als w e n n in ein einziges Dorf U n g l a u b e n und U n z u f r i e d e n h e i t e i n g e f ü h r t w i r d . " 2 8 Wo es um Bildung ging, unterstellten die K i r c h e n Vertreter, es werde „ V i e l w i s s e r e i " und „Zierlichkeit der H a n d s c h r i f t " a n g e s t r e b t .
Gymnasien Lehrer f ü r h ö h e r e S c h u l e n w u r d e n auf dem Wege des . C o n c u r s e s ' bestellt, welcher aus einer s c h r i f t l i c h e n P r ü f u n g s a r b e i t und e i n e m m ü n d l i c h e n Probevortrag b e s t a n d . 2 9 In d i e s e m C o n c u r s trug ein K a n d i d a t „ n u r ein A u s w e n d i g g e l e r n t e s " vor. „Ein solcher Lehrer bildet aus seinen S c h ü l e r n d a n n A u s w e n d i g l e r n e r - und doch k o m m t es bei j e d e m W i s s e n nur einzig und lediglich darauf an, d a ß m a n es innigst in sein e i g e n e s Wesen v e r w a n d e l t hat, daß m a n sich seiner j e d e s A u g e n b l i c k e s b e w u ß t ist, d a ß es einen Theil des Lebens a u s m a c h t , und d a ß m a n es zu j e d e r Zeit zu seinen Z w e c k e n v e r w e n d e n kann. [...] Das b l o ß A u s w e n d i g g e l e r n t e ist u n f r u c h t b a r , liegt als todter S c h a t z in dem Haupte und n i m m t dort die Stelle f ü r e t w a s N ü t z l i c h e r e s . " 3 0 Die S c h i l d e r u n g der E r z i e h u n g s s i t u a t i o n in L a n d s c h u l e n , H a u p t s c h u l e n und G y m n a s i e n zeigt, d a ß die Realität m e i l e n w e i t g e t r e n n t w a r von d e r Bild u n g s - und L i t e r a t u r i d e e S t i f t e r s , so d a ß sich die F r a g e stellt, wie er d i e s e D i s k r e p a n z a u s z u g l e i c h e n und einen Weg zu f i n d e n w u ß t e .
27 28 29 30
Ebd., S. 198. Fischer (o. Anm. 2). Bd. 2, S. 586f. SW. Bd. 16, S. 189f. Ebd., S. 194f.
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5. L i t e r a t u r e r z i e h u n g u n d B i l d u n g in d e r H a u p t s c h u l e A u s s a g e n z u m E l e m e n t a r b e r e i c h Lesen S t i f t e r k o n z e n t r i e r t e sich im E l e m e n t a r b e r e i c h Lesen nicht sogleich auf die V e r w i r k l i c h u n g seiner B i l d u n g s - und Literaturidee, sondern zunächst d a r a u f , die e l e m e n t a r e n G r u n d l a g e n d e r L e s e f ä h i g k e i t und L e s e f e r t i g k e i t zu sichern. In der . Ä u ß e r u n g des S c h u l r a t h e s Stifter 1854 seine A m t s r e i s e n in Volkss c h u l a n g e l e g e n h e i t e n b e t r e f f e n d ' vom 13.1.1855 legte er seine K o n z e p t i o n des L e s e u n t e r r i c h t s und seine d i e s b e z ü g l i c h e n M a ß n a h m e n dar. Er b e g a n n mit seinen P r i n z i p i e n der L e h r e r f o r t b i l d u n g und berichtete, wie er die Lehrer „ d u r c h U n t e r r e d u n g e n [...] d u r c h f r e u n d l i c h e s und s c h o n e n d e s Belehren [...] h a u p t s ä c h l i c h aber durch p r a k t i s c h e s Zeigen g e w i s s e r K u n s t g r i f f e " unterrichtet h a b e , um „zu b e w i r k e n , daß die K i n d e r wirklich das f ü r das Leben b r a u c h b a r e k ö n n e n " . Wenn es u m s Lesen ging, verhinderte er, d a ß die Lehrer „einige d e r besten S c h ü l e r r u f e n wollten", sondern nahm „alle Schüler vor, hielt sich mit den s c h w ä c h e r e n oft bedeutend auf, half ihnen darein, zeigte ihnen, wie sie Fertigkeit e r r i n g e n könnten, u m a c h t e ihnen Muth. Er ließ aus S c h r i f t e n lesen, ließ aus f r e m d e n Büchern lesen, u fragte nach dem Sinne des G e l e s e n e n " . Er „ e m p f a h l eindringlich die L a u t i r m e t h o d e w i d e r l e g t e die gangbaren E i n w ü r f e u zeigte sehr h ä u f i g gegen fast u n g l a u b l i c h e U n b e h o l f e n h e i t , die ihm hierin e n t g e g e n k a m , wie man die Sache sehr e i n f a c h und d a r u m eben sehr e r f o l g r e i c h m a c h e n k ö n n e " . In K o n f e r e n z e n vertrat er die F o r d e r u n g , „ d a ß von den aus der S c h u l e tretenden Kindern alle oder fast alle ohne Anstand j e d e s B u c h u j e d e S c h r i f t , die gut g e s c h r i e b e n ist, u deren S p r a c h e das Kind versteht, m ü s s e n lesen k ö n n e n , sonst habe die S c h u l e f ü r das Lesen wenig Werth". 3 1 Die I n s p e k t i o n s b e r i c h t e belegen, wie Stifter die an den meisten Schulen noch g e l e h r t e B u c h s t a b i e r m e t h o d e zu beseitigen trachtete und die Laut i e r m e t h o d e e i n f ü h r t e . W ä h r e n d man bei der B u c h s t a b i e r m e t h o d e , die aus den L a t e i n s c h u l e n s t a m m t e , so vorging, daß man die e i n z e l n e n B u c h s t a b e n von den S c h ü l e r n lernen, w i e d e r e r k e n n e n und b e n e n n e n ließ, um sie dann zu Silben und e n d l i c h zu W ö r t e r n z u s a m m e n f ü g e n zu lassen, w o b e i auch beliebige Silben e r z e u g t w u r d e n (be und a macht ba), ließ man bei der L a u t i e r m e t h o d e W ö r t e r wie Igel zuerst s p r e c h e n , dann den A n f a n g s b u c h s t a b e n betonen und diesen als B u c h s t a b e n e r k e n n e n . Die L a u t i e r m e t h o d e w u r d e von Valentin Ikk e l s a m e r s . R e c h t e weis a u f f s kürzist lesen zu l e r n e n ' ( s c h o n vor 1533) beg r ü n d e t , bald darauf von Peter Jordan in seiner , L e y e n s c h u l ' zum Schreiblesen w e i t e r e n t w i c k e l t und a l l m ä h l i c h in den S c h u l e n e i n g e f ü h r t . 3 2 Stifter hat 31 32
F i s c h e r (o. A n m . 2). Bd. 1, S. 2 4 9 f . Valentin I c k e l s a m e r . R e c h t e w e i s a u f f s kürzist lesen zu lernen. l . A u f l . vor 1533: 2. A u f l . M a r b u r g 1534. Vgl. Horst J. F r a n k : D i c h t u n g , S p r a c h e , M e n s c h e n b i l d u n g . G e schichte des D e u t s c h u n t e r r i c h t s von den A n f ä n g e n bis 1945. M ü n c h e n 1976 (dtv W R
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also in Oberösterreich für die Durchsetzung eines Leselernverfahrens gekämpft, welches sich andernorts bereits seit zweihundert Jahren verbreitet hatte. Bei seinen Inspektionsreisen zu den Volksschulen Oberösterreichs widmete er „diesen Elementen immer die erste Sorgfalt, und suchte dahin zu wirken, daß man diese Elemente gut beibringe, und nicht mit Vernachlässigung derselben zu höheren Gegenständen übergehe, die dann in der Luft schweben, und ohne Unterbau und Übereinstimmung eher schädlich als nüzlich wirken. Nach tüchtiger Einübung der Elemente oder auch, wenn die Gewißheit ihrer erschöpfenden Erlernung vorhanden ist, zugleich mit ihnen können höhere Gegenstände vorgenommen werden." 3 3 Lesefähigkeit und Lesefertigkeit in Verbindung mit „Verständniß des Gelesenen" sind für Stifter nicht Selbstzweck der Grundschule, sondern Grundlage dafür, daß „zeitlebens" eine Beziehung zum Buch ermöglicht wird.
Literaturunterricht in der H a u p t s c h u l e Daß die Lesefertigkeit auch in der Hauptschule lediglich die Elementarvoraussetzung für eine Leseerziehung sein sollte, geht aus einem handschriftlichen Entwurf von Fritsch, basierend auf Vorschlägen der Schuldirektoren sowie Äußerungen und Änderungen des Schulrates Stifter vom 10.10.1854 hervor. 34 In der Verordnung des Ministeriums vom 23.3.1855 wurde hingegen Verständnisförderung neben Auswendiglernen betont: „Das Ziel der IV. Klasse ist: vollkommenes Verständniß des Gelesenen in sachlicher und sprachlicher Hinsicht [...]. Den Stoff zu Gedächtnißübungen gibt das Lesebuch." 3 5 Im August 1849 veröffentlichte Stifter im .Wiener Boten' Artikel über die Landschule und ihre Aufgaben, worin er die Bedeutung des Erstlesens und Erstschreibens hervorhob. Doch er fügte sogleich hinzu, daß Lesen und Schreiben „nur Mittel" seien, „seine Erfahrungen und Einsichten aufzubewahren und geltend zu machen. Was nützt aber Einem sein Lesen, sein Schreiben [...], wenn er keine Erfahrungen und Einsichten hat, die er aufschreiben, [...] und keine Urtheilskraft, die er aus dem Buche herauslesen kann. Daher muß Alles, was jedem Menschen, und gehöre er dem untersten Stande an, zum menschlichen Leben unentbehrlich ist, in der Landschule gelehrt werden, und zwar nicht bloß gelehrt, sondern es muß so in die Menschen geprägt werden, daß es dieselben nie mehr verläßt."ib
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34 35 36
4 2 7 1 ) . Bd. 1. S. 25; G e r t r a u d H. H e u ß : Erstlesen und E r s t s c h r e i b e n . D o n a u w ö r t h 1993, S. 5 9 f f . SW. Bd. 25, S. 211; die b e i d e n f o l g e n d e n Zitate S. 212 ( . E r s t e r I n s p e k t i o n s b e r i c h t v o m 4. April 1851.·). F i s c h e r (o. A n m . 2). Bd. 2, S. 6 1 5 f . E b d . , S. 619. SW. Bd. 16, S. 159.
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Interessant ist, wie anspruchsvoll sich Stifter einen Literaturunterricht in der H a u p t s c h u l e vorstellen konnte und wie weit er dabei auch m e t h o d i s c h e Verfahren wie die heute aktuelle P r o d u k t i o n s o r i e n t i e r u n g akzeptierte und förderte. „Die e v a n g e l i s c h e S c h u l e n - A u f s i c h t A t t e r s e e hatte der K r e i s b e h ö r d e Wels am 2. März 1859 vier O r t s c h r o n i k e n vorgelegt und um eine kreisamtliche . B e l o b u n g ' und E r m u n t e r u n g der Lehrer g e b e t e n . " 3 7 Am 15.5.1859 reichte Stifter eine . Ä u ß e r u n g ' ein, „ O r t s c h r o n i k e n in den e v a n g e l i s c h e n Schulen b e t r e f f e n d " , worin er Stellung n a h m zu F u n k t i o n e n der Literatur und zur Unt e r r i c h t s m e t h o d i k : Er vertrat die A u f f a s s u n g , „ d a ß ein Volk durch K e n n t n i ß seiner G e s c h i c h t e erst zum S e l b s t b e w u ß t s e i n als Volk k o m m e . Die großen Schichten des Volkes aber werden weniger d u r c h abstracte G e r i p p e allgemeine Übersichten von R e i c h s g e s c h i c h t e n ergriffen - j a derlei Werke lassen den auf das sinnlich G r e i f b a r e gerichteten Sinn des Volkes v o l l k o m m e n unberührt - sondern das m e n s c h l i c h A n s c h a u l i c h e in c o n c r e t e n H a n d l u n g e n regt sie auf, u um so mehr, j e g e t r a g e n e r diese H a n d l u n g e n von großen E i g e n s c h a f t e n u j e m e h r sie mit ihrem v e r l a u f e n d e n Leben v e r w a n d t sind. Darum entstand von großen Helden durch das Volk die Sage, woran D e u t s c h l a n d vor allen Völkern reich ist, u durch eben d a s s e l b e Volk das H e l d e n l i e d , worin D e u t s c h l a n d e b e n falls nebst G r i e c h e n l a n d an der Spize der V ö l k e r steht, u d a r u m entstanden auch die O r t s s a g e n u die Taditionen von G e g e n d e n . In ihnen s a m m e l t sich das G e m e i n d e b e w u ß t s e i n das B e w u ß t s e i n eines G a u e s eines S t a m m e s u dgl. es entsteht daraus ein G e f ü h l der Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t der g e m e i n s c h a f t l i c h e n Liebe u der A u f o p f e r u n g f ü r seine A n g e h ö r i g e n , w e l c h e s G e f ü h l bei e t w a s P f l e g e sehr leicht zur w ä r m s t e n Vaterlandsliebe wird. I In d i e s e m Sinne ist es sehr w ü n s c h e n s w e r t h , daß die Kinder mit den Sagen u G e s c h i c h t e n ihres Ortes u ihrer G e g e n d vertraut g e m a c h t werden, j a d a ß in g e s c h r i e b e n e n H e f t e n diese G e s c h i c h t e n a u f b e w a h r t u f o r t g e f ü h r t w e r d e n . I Ein u n m i t t e l b a r e r Nuzen erwächst aus e i n e m solchen Vorgange auch d a d u r c h , daß der Sinn des Volkes in der B e h a n d l u n g dieser G e g e n s t ä n d e auf H ö h e r e s g e s c h i c h t l i c h Praktischeres u G e i s t v o l l e r e s geleitet u groben V e r g n ü g u n g e n f e r n e r g e h a l t e n wird. [...] Und endlich ist auch der N u z e n nicht gar zu g e r i n g e a n z u s c h l a g e n , der in Bezug auf Stilübung u R e c h t s c h r e i b u n g f ü r die K i n d e r entsteht, wenn sie unter Anleitung Ortschroniken verfassen u aufschreiben." Stifter sah aber auch G e f a h r e n eines solchen T u n s und hielt es f ü r „zwekwidrig, wenn der Lehrer die C h r o n i k v e r f a ß t e , u die S c h ü l e r sie blos abschreiben, w o d u r c h eben die Verstandes- und S t i l ü b u n g g r ö ß t e n t h e i l s weg fiele, u das g e s c h i c h t l i c h e G e f ü h l in weit m i n d e r e m G r a d e a n g e r e g t w ü r d e . Die Schüler sollten, so weit sie es k ö n n e n , selber Stoff s a m m e l n , der Lehrer soll ihn e r g ä n z e n , soll die G e s i c h t s p u n k t e seiner A n o r d n u n g an die H a n d geben, u soll die K i n d e r v e r f a s s e n lassen. Hinterher kann er die A u s b e s s e r u n g e n geben, wo-
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bei er a b e r d i e k i n d l i c h e A u f f a s s u n g so w e n i g als m ö g l i c h zu b e i r r e n hat, u endlich mag das Verbesserte rein geschrieben werden." Stifter schlug „belob e n d e A n e r k e n n u n g " f ü r d i e L e h r e r vor, v e r l a n g t e aber, d a ß „ d e r S e l b s t t h ä t i g keit der S c h ü l e r d e r g r ö ß t e S p i e l r a u m g e l a s s e n w e r d e , d a ß m a n S a g e u beglaubigte Geschichte genau trenne, von lezterer Quellen u Beweise sorgfältig aufzeichne".38 W a s S t i f t e r zu s e i n e r p o s i t i v e n S t e l l u n g n a h m e b e w e g t e , w a r w e n i g e r d i e F r a g e n a c h J a h r g a n g s - u n d K i n d g e m ä ß h e i t als v i e l m e h r sein L i t e r a t u r b e g r i f f in V e r b i n d u n g mit s e i n e r V o l k s b i l d u n g s v o r s t e l l u n g , w e l c h e ihn in d e r E i g e n a k t i v i t ä t e i n e G e w ä h r f ü r e i n e g r ö ß t m ö g l i c h e W i r k u n g d e r L i t e r a t u r sehen ließ. D a b e i g i n g es ihm h a u p t s ä c h l i c h im S i n n e s e i n e r L i t e r a t u r i d e e u m d i e H e b u n g d e s V o l k e s ins H ö h e r e u n d um ein F e r n h a l t e n von „ g r o b e n Vergnüg u n g e n " . A u ß e r d e m t r a u t e er d i e s e r G e s c h i c h t s - u n d S a g e n b e g e g n u n g die W e c k u n g d e r „ w ä r m s t e n V a t e r l a n d s l i e b e " zu. D a s M i n i s t e r i u m h i n g e g e n hat in e i n e m E r l a s s e v o m 6 . 8 . 1 8 5 9 s o l c h e Prod u k t i o n s t ä t i g k e i t u n t e r s a g t , d a d i e S c h ü l e r d e r V o l k s s c h u l e n „viel zu w e n i g U m s i c h t u n d A u f f a s s u n g s v e r m ö g e n b e s i t z e n , um O r t s c h r o n i k e n v e r f a s s e n zu k ö n n e n . - D i e V e r f a s s u n g s o l c h e r C h r o n i k e n e r s c h e i n t d a h e r kein z w e c k m ä ßig g e w ä h l t e r G e g e n s t a n d z u r Ü b u n g d e r S c h ü l e r in s c h r i f t l i c h e n A u f s ä t z e n . " 1 9 D a ß g e l u n g e n e C h r o n i k e n v o r l a g e n , w a r f ü r das M i n i s t e r i u m kein G e genbeweis.
V o l k s e r z i e h u n g u n d S c h u l b i b l i o t h e k e n in d e n H a u p t s c h u l e n Z w a r w u r d e S t i f t e r g e m ä ß § 2 4 d e r . I n s t r u c t i o n ü b e r die A m t s w i r k s a m k e i t d e r S c h u l r ä t h e ' v o m 2 4 . 6 . 1 8 5 5 v e r p f l i c h t e t , auf s e i n e n I n s p e c t i o n s - R e i s e n die S c h u l b i b l i o t h e k e n „in A u g e n s c h e i n zu n e h m e n " u n d „auf d i e B e u r t h e i l u n g d e r in d i e S c h u l b i b l i o t h e k e n a u f z u n e h m e n d e n B ü c h e r " 4 0 zu a c h t e n , d o c h a m 2 4 . 7 . 1 8 6 2 s c h r i e b e r r e s i g n i e r e n d an J o s e p h T ü r c k , „ d a ß ich mit e i n e m u n e r m e ß l i c h e n g u t e n W i l l e n u n d m i t e i n i g e r S a c h k e n n t n i ß a n s W e r k g e g a n g e n bin, d a ß der Erfolg aber mich nicht befriedigt hat", vor allem, „daß die Volkserzieh u n g so n i c h t r e c h t in G a n g k a m " . 4 1 W i e wir a u s s e i n e n I n s p e k t i o n s b e r i c h t e n e r f a h r e n , hat S t i f t e r p e n i b e l erf r a g t , w e l c h e S c h u l e n S c h u l b i b l i o t h e k e n bzw. k e i n e h a t t e n , u n d d e r e n Err i c h t u n g a n g e m a h n t u n d g e f ö r d e r t . A m 3 . 1 . 1 8 6 2 r e g t e er bei d e r S t a t t h a l t e r e i die „ A n l e g u n g v o n B ü c h e r v e r z e i c h n i s s e n f ü r S c h u l b i b l i o t h e k e n " an, d a er die Erfahrung machte, „daß m a n nicht wisse, welche Bücher man anschaffen s o l l " . D i e S t a t t h a l t e r e i m u ß t e n u n , g e m ä ß d e r R e g e l u n g d e s K o n k o r d a t s , „mit
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Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. SW. Bd.
427^129. 430. 640f. 20, S. 71.
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Waller Seifert
dem hochw. Ordinariate ins Vernehmen treten, um die Anlegung von Büchereiverzeichnissen für Schulbibliotheken anzubahnen, u die Abtheilungen der fertigen Verzeichnisse an die Schulorte gelangen zu lassen"; 4 2 doch das Bischöfliche Konsistorium reagierte abweisend, indem es zum Ausdruck brachte, man möge „sich über den Erfolg dieser Einführung keinen großartigen Erwartungen hingeben". Dennoch konnte Stifter am 29.8.1862 dafür sorgen, „das vorliegende Verzeichniß lithographirt an die Schulorte gelangen zu lassen, u den Ankauf von Werken aus diesem Verzeichnisse zu empfehlen". 4 3 Daß Stifter trotz der Schwierigkeiten Erfolge erzielte, zeigen neben der Einrichtung von Schulbibliotheken auch Vorträge und Aufsätze von Lehrern, welche er auf Lehrerkonferenzen einbringen ließ. So entstand 1860 „ein sehr guter Aufsaz über die Schädlichkeit der Lesesucht". 4 4 Zwei Aufsätze im Bezirk Atzbach hatten zum Thema: „Was hat der Lehrer beim Ausleihen von Büchern an Kinder zu beobachten?" Ein „sehr guter Aufsaz" entstand im Bezirk Kremsmünster ,Über Gründung von Schulbibliotheken' und im Bezirk Ostermiething über .Gemeinschaftliches Lesen der Kinder'. 4 5 Diese Aktivitäten belegen, daß Stifter auch die Lehrerschaft dazu bewegen konnte, Fragen der Leseerziehung in und außerhalb der Schule zu ihren eigenen zu machen.
6. Literaturunterricht im G y m n a s i u m In seinem Aufsatz ,Über die Behandlung der Poesie in Gymnasien', der als Bruchstück im Nachlaß erhalten geblieben ist, hat Stifter seine Literatur- und Bildungsidee auf der Grundlage des Schönen und Sittlichen für die höchste Bildungsstufe im Schulbereich entworfen, Funktionen und Wirkungen der Poesie beschrieben, aber keine konkreten Vorschläge für den Literaturunterricht selbst gemacht, wohl weil er die Stelle eines Schulrats für Gymnasien nicht erhalten hatte. Seiner Idee nach setzt der Umgang mit der Dichtkunst „den freiesten und größten Geist voraus, ihr Empfängniß eine gewisse Bildung des Verstandes und ein tiefes, reines Herz", doch solche Voraussetzungen sind selbst in dieser Lehranstalt kaum zu erwarten, denn sie ist „in bestimmte Schranken des Zweckes eingerahmt, ihr stehen bestimmte Lehrkräfte zu Gebote, in ihr sind nur Jugendjahre der Empfänglichkeit vorhanden, und ihr ist nur eine bestimmte Zeit gegeben". 4 6 Die Realisierung von Unterricht verlangt also eine Minderung des Ideals.
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Fischer (o. Anm. 2). Bd. 2, S. 522f. Ebd., S. 534. Ebd., S. 570. Ebd., S. 5 7 2 - 5 7 5 . SW. Bd. 16, S. 301.
Literaturidee
und Literaturdidaktik
bei Adalbert
Stifter
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D e n n o c h hält Stifter an d e m h ö c h s t e n A n s p r u c h fest, d a ß die D a r s t e l l u n g des Schönen in der Kunst „ d a s Sittengesetz in seiner Entfaltung und durch sinnliche Mittel wahrnehmbar" m a c h t und in d i e s e r F o r m w i r k e n soll: „In d e m Tritte d e r R a c h e g ö t t i n n e n in d e r alten T r a g ö d i e sehen wir mit S c h a u e r n die Macht und M a j e s t ä t des G e w i s s e n s , in d e r r e i n e n , heitern, a n s p r u c h s l o s e n , so wenig a n m a ß e n d e n und doch so b e s t i m m t e n und klaren S k u l p t u r d e r G r i e c h e n sehen w i r die g e g e n s t ä n d l i c h s t e , u n g e s c h m i n k t e s t e , w ü r d e v o l l e und e r n ste M e n s c h l i c h k e i t in h u l d v o l l e r N a i v e t ä t , in den G e b i l d e n S h a k e s p e a r e s tritt uns die g a n z e G e w a l t und M a c h t des S i t t e n b e w u ß t s e i n s e n t g e g e n : m a n d e n k e an M a c b e t h , Richard, Lear. N u r auf d i e s e m H i n t e r g r u n d e d e r F u r c h t b a r k e i t und Majestät des S i t t e n g e s e t z e s v e r m ö g e n uns seine E n t w i c k l u n g e n und B e g e b n i s s e so zu e r g r e i f e n und zu e r s c h ü t t e r n . " 4 7 Die v o r z ü g l i c h s t e W i r k u n g d e r Kunst und D i c h t u n g ist also, „das H e r z d e s M e n s c h e n in eine s c h ö n e h a r m o n i s c h e W ä r m e zu versetzen, es zu ö f f n e n und f ü r alles H o h e und G u t e e m p f ä n g l i c h zu m a c h e n " . Und „der h ö c h s t e [...] irdische Z w e c k " ist „die A u s b i l d u n g des M e n s c h e n als M e n s c h e n , n ä m l i c h H u m a n i t ä t " . 4 8 Die Frage stellt sich, o b Stifter a n g e s i c h t s derart h o c h g e s t e c k t e r idealer Vorstellungen als Schulrat f ü r G y m n a s i e n die g l e i c h e W i r k u n g hätte e r z i e l e n k ö n n e n , wie er sie auf b e s c h e i d e n e r e r E b e n e in H a u p t - und R e a l s c h u l e n erzielt hat, zumal er ja g e m ä ß seiner Kritik am G y m n a s i u m von e i n e m v o r h e r r s c h e n d e n Lern- j a A u s w e n d i g l e r n u n t e r r i c h t hätte a u s g e h e n m ü s s e n . T a t s ä c h lich hat er e i n e n e n t s p r e c h e n d e n L i t e r a t u r u n t e r r i c h t f ü r d a s G y m n a s i u m nicht konkret erarbeitet, sondern d i e s e h ö c h s t e F o r m eines d u r c h K u n s t und L i t e r a tur bewirkten B i l d u n g s p r o z e s s e s in s e i n e m R o m a n . N a c h s o m m e r ' gestaltet.
7. L i t e r a t u r u n t e r r i c h t in d e r R e a l s c h u l e An die V e r w i r k l i c h u n g seiner Ideen k o n n t e S t i f t e r im Mai 1850 mit s e i n e m . E n t w u r f der O r g a n i s a t i o n einer v o l l s t ä n d i g e n R e a l s c h u l e zu Linz f ü r O e s t e r reich o b der E n n s ' 4 9 g e h e n , w o r i n er eine B e g r ü n d u n g u n d J a h r g a n g s s t u f e n v e r t e i l u n g d e s L i t e r a t u r u n t e r r i c h t s v o r n a h m : W ä h r e n d die V o l k s s c h u l e „ j e n e A n f ä n g e von K e n n t n i s s e n und B i l d u n g " gibt, „ w e l c h e nach d e m h e u t i gen Stande d e r M e n s c h h e i t allen K l a s s e n u n e n t b e h r l i c h s i n d " , und die G y m nasien „sich v o r z u g s w e i s e mit a l l g e m e i n e r m e n s c h l i c h e r B i l d u n g ( h u m a n i s t i -
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Ebd., S. 304f. Ebd., S. 314. Dieser von Stifter s t a m m e n d e . E n t w u r f vom Mai 1850 ist nur bei Kurt Vanesa (o. Anni. 1), S . 2 6 9 - 3 0 3 , abgedruckt. Bei Fischer (o. A n m . 2), S. 3, wird lediglich darauf hingewiesen. Allerdings findet man in Bd. 2, S. 595ff., im A n h a n g 1 einen .Bericht über die Beratungen wegen Errichtung einer vollständigen Unter- und Oberrealschule zu Linz' vom 2.8.1850.
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Walter Seifert
scher Bildung)" beschäftigen, „wodurch es möglich wird, menschliche Dinge nach allen Seiten zu beurtheilen, mit allen Menschen umzugehen, und einmal die verschiedenartigsten Aemter und Würden verwalten zu können", 5 0 sollen die Fächer in der Realschule die „Grundlage zu den Beschäftigungszweigen abgeben", doch zugleich für verschiedene Wirklichkeitsbereiche verschiedene „Stufen der Bildung" gewährleisten. „Auch wäre es gut, wenn alle Menschen jene allgemeine menschliche Bildung hätten, die sie fähig macht, ihren Gesichtskreis in Beurtheilung menschlicher Dinge zu erweitern, nicht einseitigen Vorurtheilen hingegeben zu sein, und ihre Leidenschaften und Affekte zu Gerechtigkeit und Billigkeit bezwingen zu können." 5 1 Stifter hat für die Realschule einen vollständigen Stundenplan für alle Fächer entworfen und die Funktion und Verteilung der Literatur im Bildungsprozeß dargestellt: In der Unterrealschule stehen „4 Klassenstufen zu je 4 Stden wöchentlich für Muttersprache" 5 2 zur Verfügung. In der allgemeinen Übersicht über das Lernbereichsgefüge hat Stifter dem Umgang mit Literatur einen besonderen Stellenwert eingeräumt und dabei auch das Auswendiglernen hervorgehoben: „Um einen Anfang allgemeiner höherer Bildung zu geben, soll man Aufsätze sowohl in Prosa, als auch in Versen, deren Werth allgemein anerkannt ist, und die den Schülern vollständig erklärt worden sind, dem Gedächtnisse einprägen, und sie entsprechend vortragen lassen." 5 3 In der Ausdifferenzierung dieses allgemeinen Konzepts für die Klassenstufen wird die Förderung des Verstehens stärker zur Geltung gebracht: In der ersten und zweiten Klasse ist das „Verständniß des Inhalts, Erweiterung und Belebung des Gedankenkreises, Wiedererzählen des Gelesenen, Vortrag von Aufsätzen" 5 4 vorgesehen und in der dritten Klasse: „Umfassende gründliche Lektüre. Erklärung des Gelesenen in stilistischer, in metrischer, in fachlicher und in sittlicher Hinsicht. Vortrag prosaischer und metrischer Stücke aus dem Lesebuche." 5 5 Der Anteil der Bildung nimmt bis zur vierten Klasse, wo es um „Fortführung bildender Lektüre" 5 6 geht, stetig zu. In der Oberrealschule, wo Muttersprache in allen drei Klassenstufen mit je 5 Stunden wöchentlich gegeben wird, 57 sollen die Schüler „die bedeutendsten Erscheinungen der neueren vaterländischen Literatur kennen lernen, und dar-
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Vanesa (o. A n m . 1), S. 269. Ebd., S. 270. Ebd., S. 273. Zur Stundenzahl vgl. .Bericht über die Beratungen', in: Fischer (o. A n m . 2). Bd. 2, S. 605. Vanesa (o. A n m . 1), S. 274. Ebd., S. 278. Ebd., S. 279. Ebd., S. 280. Ebd., S. 286. Zur Stundenzahl vgl. .Bericht über die Beratungen', in: Fischer (o A n m . 2). Bd. 2, S. 605.
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und Literaturdidaktik
bei Adalbert
Stifter
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aus ihren Gedankenkreis erweitern, beleben und erhöhen. Sie sollen gute Uebersetzungen klassischer Werke anderer Völker und des Alterthums kennen lernen. Nebst dem das Wichtigste aus der klassischen Mythologie." 5 8 In allen Klassen sind 3 bis 4 Stunden Lektüre vorgesehen, und zwar für die erste Klasse Lektüre „mit sachlicher und literarischer Erklärung. Das Lesebuch enthalte auch charakteristische Abschnitte aus klassischen Dichtern und Prosaikern, namentlich des Alterthums, in gediegenen Uebersetzungen." 5 9 In der zweiten und dritten Klasse bekommt die Literaturgeschichte größeres Gewicht: „Auswahl des Bedeutendsten aus der älteren deutschen Literatur, insoferne es ohne besonderes Studium der alten Sprache verständlich ist. Neuere Literatur. Erklärung wie oben, dann Uebersicht der Hauptepochen der Literaturgeschichte. [...] Einiges aus dem Mittelalter könnte in guten Uebersetzungen geboten werden. Die neuere Literatur beginnt mit Klopfstock [sie!]." 6 0
8. Stifters , L e s e b u c h zur F ö r d e r u n g h u m a n e r B i l d u n g ' Der Lehrplanentwurf bildete die Grundlage für das von Stifter gemeinsam mit dem Lehrer Johannes Aprent herausgegebene .Lesebuch zur Förderung humaner Bildung in Realschulen' und bestimmte die Textauswahl. Vergleich mit Goethes Volksbuchentwurf Ein Vergleich mit Goethes ,Plan eines lyrischen Volksbuches' 6 1 ermöglicht es, die Leistungen und Widersprüche bei Stifter herauszuarbeiten, welche teilweise auch zum Scheitern seines Lesebuchs führten. Goethe ging von einem dreistufigen hierarchischen Literaturmodell aus: „In einer solchen Sammlung gäbe es ein Oberstes, das vielleicht die Fassungskraft der Menge überstiege. Sie soll daran ihr Ideenvermögen, ihre Ahnungsfähigkeit üben. Sie soll verehren und achten lernen; etwas Unerreichbares über sich sehen; wodurch wenigstens eine Anzahl Individuen auf die höhern Stufen der Kultur herangelockt würden. Ein Mittleres fände sich alsdann, und dies wäre dasjenige, wozu man sie bilden wollte, was man wünschte nach und nach von ihr aufgenommen zu sehen. Das Untere ist das zu nennen, was ihr sogleich gemäß ist, was sie be-
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Vanesa (o. Anm. 1), S. 286f. Ebd., S. 288f. Ebd., S. 290. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 12. Hamburg. 4. Aufl. 1960, S. 284-287. - Vgl. dazu Walter Seifert: Goethes Herausforderung der heutigen Literaturdidaktik. In: Hans-Werner Eroms/Hartmut Laufhütte (Hrsg.): Vielfalt der Perspektiven. Wissenschaft und Kunst in der Auseinandersetzung mit Goethes Werk. Passau 1984, S. 83-105; Helmut Schanze: Literaturgeschichte und Lesebuch. Düsseldorf 1981, S. 55ff.
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Walter Seifen
f r i e d i g t u n d a n l o c k t . " 6 2 S t i f t e r b e t o n t im G e g e n s a t z zu G o e t h e trotz s e i n e r imm e r w i e d e r v o r g e t r a g e n e n Idee e i n e r V o l k s e r z i e h u n g e i n e n d i c h o t o m i s c h e n u n d e l i t ä r e n D i c h t u n g s b e g r i f f . F ü r ihn ist nur d a s V o l l k o m m e n e u n d B e s t e gut g e n u g , u m in sein L e s e b u c h a u f g e n o m m e n zu w e r d e n . A l l e r d i n g s b e z i e h t a u c h er r e g i o n a l e D i a l e k t l i t e r a t u r in d e n K a n o n d e r a k z e p t i e r t e n L i t e r a t u r mit e i n , w e n n sie n u r s e i n e m L i t e r a t u r b e g r i f f v o m Sittlichen u n d S c h ö n e n e n t s p r i c h t . In e i n e m B r i e f an s e i n e n V e r l e g e r H e c k e n a s t v o m 2 3 . 8 . 1 8 5 3 s c h r i e b S t i f t e r z w a r n o c h - w a s an G o e t h e s K o n z e p t e r i n n e r t - er u n d A p r e n t w ü r d e n in d e m Lesebuch „zum Schlüsse auch Muster der Ungültigkeit (des Schwulstes der A b e n t h e u e r l i c h k e i t etc..) s e z e n u n d e r k l ä r e n " , 6 3 d o c h d a s f e r t i g e L e s e b u c h e n t h ä l t s o l c h e „ M u s t e r d e r U n g ü l t i g k e i t " als N e g a t i v b e i s p i e l e n i c h t . D a m i t erg i b t sich, d a ß d i e z w i s c h e n z e i t l i c h e K o n z e p t b i l d u n g u n d d a s e n d g ü l t i g e R e sultat z w e i g a n z v e r s c h i e d e n e L e s e b u c h t y p e n mit u n t e r s c h i e d l i c h e n d i d a k tisch-methodischen Perspektiven darstellen. Während zunächst eine Kontrastr e i h e a u s p o s i t i v e n u n d n e g a t i v e n L i t e r a t u r b e i s p i e l e n g e p l a n t war, e n t h ä l t d a s fertige Buch nur eine h o m o g e n e Reihe positiver Beispiele, wobei ein literaturgeschichtlicher Durchgang vorherrscht, aber auch Gattungsreihen zur Ballade, F a b e l , zu S p r ü c h e n usw. in d a s l i t e r a t u r g e s c h i c h t l i c h e G r u n d k o n z e p t e i n g e l a gert sind. Bei G o e t h e h i n g e g e n h a n d e l t e es sich um e i n e g r a d u e l l e R e i h e , w e l c h e d e n drei Q u a l i t ä t s s t u f e n d e r L i t e r a t u r e i n e j e a n d e r e A u f g a b e im a u f s t e i genden B i l d u n g s p r o z e ß zumißt. Die höchste Stufe, die Stifters fertiges Leseb u c h p r ä g t , stellte f ü r G o e t h e e i n e h ö c h s t e , von d e r M a s s e d e r M e n s c h e n nicht m e h r e r r e i c h b a r e S t u f e dar, w e l c h e j e d o c h d i e A u f g a b e e r h i e l t , Ehrf u r c h t v o r d e m V o l l k o m m e n e n zu v e r m i t t e l n . A p r e n t hat S t i f t e r s K o n z e p t i o n voll geteilt u n d „ d a s B u c h f ü r d a s b e s t e Les e b u c h d i e s e r A r t " 6 4 e r k l ä r t , w ä h r e n d S t i f t e r selbst s e i n e B e d e n k e n hins i c h t l i c h d e r Q u a l i t ä t nie l o s w u r d e u n d a m liebsten n o c h e i n m a l a l l e s d u r c h g e a r b e i t e t h ä t t e . A l s d a s L e s e b u c h 1854 z u m D r u c k b e i m V e r l a g v o r l a g , f a ß t e S t i f t e r in e i n e m Brief an H e c k e n a s t s e i n e L e s e b u c h k o n z e p t i o n n o c h m a l s zus a m m e n , u n d d a ist statt d e s f r ü h e r e n P l a n s , a u c h „ M u s t e r d e r U n g ü l t i g k e i t " aufzunehmen, nur noch die dichotomische Literaturidee vorhanden. Während d a s L e s e b u c h n a c h d i e s e m Brief „ d a s S c h ö n s t e V e r s t a n d e s g e m ä ß e s t e u n d zugleich pädagogisch Brauchbarste" enthält und dadurch „auf einem höheren S t a n d p u n k t e als d e r s o g e n a n n t e S c h u l s c h l e n d r i a n ist", w i r d a l l e s w e n i g e r Hochwertige aus einer kulturkritischen Perspektive abgewertet und abgewies e n : „ M i c h leitet bei d e r g a n z e n A n g e l e g e n h e i t blos d i e A b s i c h t , f ü r d i e S c h u le u n d M e n s c h h e i t N u z e n zu s t i f t e n , d a h e r m e i n e S t r e n g e in d e r W a h l , d i e A p r e n t o f t z u r V e r z w e i f l u n g b r a c h t e , w e n n ich i m m e r F a n t a s t e r e i V e r s t a n d e s w i d r i g k e i t u.s.w. n a c h w i e s , u n d v e r w a r f . U n s e r e Zeit s t e h t nicht a u f d e m
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Goethes Werke (o. Anm. 61). Bd. 12, S. 285. Vgl. dazu Seifert (o. Anm. 61), S. 92ff. SW. Bd. 18, S. 180. Ebd., S. 192.
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S t a n d p u n k t e reiner K u n s t , kann sie auch nicht w ü r d i g e n , d a r u m m ü s s e n alle Hebel in B e w e g u n g gesezt w e r d e n , w o m a n ihr gegen das Seichte und Schillernde will E i n g a n g v e r s c h a f f e n . " 6 5 E n t s p r e c h e n d sollte dieses L e s e b u c h nach Stifters A u f f a s s u n g nicht nur d e m B i l d u n g s p r o z e ß in der Schule dienen, sondern auch als k u l t u r k r i t i s c h e s G e g e n s t ü c k z u r f a l s c h e n und schlechten Literatur seiner Zeit w i r k s a m w e r d e n , um d a g e g e n die von Stifter als h o c h w e r t i g und schön e r a c h t e t e Literatur d u r c h z u s e t z e n . Folgerichtig handelte es sich f ü r Stifter auch um „kein S c h u l b u c h im strengen S i n n e " . 6 6 In der .Vorrede' z u m L e s e b u c h ist die K o n z e p t i o n e i n d e u t i g auf die Förderung „ a l l g e m e i n menschlicher Bildung ( H u m a n i s m u s ) " ausgerichtet und bei der T e x t a u s w a h l das P r i n z i p der H o m o g e n i t ä t neben d e m der Qualität z u g r u n de gelegt: „Zu diesem Z w e c k e haben die Verfaßer [...] nur sittlich S c h ö n e s , W ü r d i g e s , V e r s t a n d e s g e m ä ß e s , d.h. künstlerisch Gebildetes z u s a m m e n zu stellen sich b e s t r e b t " . G e m e s s e n an G o e t h e s D r e i s t u f e n k o n z e p t steht zwar auch hier ein D r e i s t u f e n k o n z e p t im H i n t e r g r u n d , aber so, daß die unterste Stufe, n ä m l i c h „leicht F a ß l i c h e s aber G e m e i n e s " , völlig a u s g e s c h l o s s e n wird, da es „ d e m G e i s t e S c h a d e n z u f ü g t " . L e r n e n durch Vergleich wird damit ausges c h l o s s e n . A n g e s i c h t s d i e s e r B i n d u n g an h ö c h s t e Qualitätskriterien wurde j e doch „ M a n c h e s f ü r E i n z e l n e noch s c h w e r F a ß b a r e s " a u f g e n o m m e n , was also - mit G o e t h e g e s p r o c h e n - den H o r i z o n t übersteigt. G e m e s s e n an G o e t h e hat also S t i f t e r zwei obere Q u a l i t ä t s s t u f e n a u f g e n o m m e n , aber anders begründet: Der B i l d u n g s p r o z e ß wird durch d a s im A u g e n b l i c k F a ß b a r e in G a n g gesetzt, w ä h r e n d das „noch s c h w e r F a ß b a r e " und „ f ü r jetzt U n v e r s t a n d e n e " eine L a n g z e i t w i r k u n g haben soll, also „nach und nach ein Verstandenes wird, weil so das B u c h auch noch nach der S c h u l e den Schülern lieb bleiben soll". 6 7 Das L e s e b u c h sollte sich also nicht d u r c h seine Z w e c k s e t z u n g im Schulunterricht e r s c h ö p f e n , sondern B e g l e i t e r f ü r d a s g a n z e Leben sein. Nach d e r A b l e h n u n g des L e s e b u c h s e r k a n n t e Stifter die W i d e r s p r ü c h e sogleich in aller D e u t l i c h k e i t : „Wir m e i n t e n , w e n n Edles G r o ß e s , das in die Herzen der J u g e n d gesät w e r d e n solle, und sie auf einen schöneren und größeren L e b e n s w e g hinstellt, g e b o t h e n wird, und dies in einer v o l l k o m m e n d e u t s c h e n S p r a c h e , w e r d e die S a c h e f ü r sich r e d e n , d a ß m a n mit F r e u d e d a r n a c h g r e i f e n w e r d e , und daß man e i n s e h e n w e r d e , d a ß alle u n t e r g e o r d n e t e n R ü k s i c h t e n B i l d u n g des Stiles G e l ä u f i g k e i t im A u s d r u k e K e n n e n l e r n e n der Dichtungsarten etc mit A u s n a h m e d e r L i t t e r a t u r g e s c h i c h t e (deren K e n n t n i ß f ü r J ü n g l i n g e o h n e h i n u n m ö g l i c h ist, und d e r e n F o d e r u n g ein W i d e r s p r u c h in sich) o h n e h i n in d e m h ö h e r e n Z w e k e liegen; allein m a n f o d e r i die niederen Z w e k e in e i n e m a u s g e d e h n t e n M a ß e , weil m a n den h ö h e r n nicht zu sehen v e r m o c h t e , o b w o h l
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Ebd., S. 218. Ebd., S. 219. SW. Bd. 25, S. 183f.
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e r in d e r B i t t s c h r i f t a n g e g e b e n w u r d e . " 6 8 K o n z e n t r i e r t auf d i e h o h e n Bild u n g s z i e l e h a b e n S t i f t e r u n d A p r e n t die u n t e r e n B i l d u n g s z i e l e w i e „ B i l d u n g d e s S t i l e s " , „ G e l ä u f i g k e i t im A u s d r u k e " usw. v e r n a c h l ä s s i g t . S t i f t e r z o g a u s d e r N i c h t g e n e h m i g u n g d e s L e s e b u c h s f ü r sich d i e K o n s e q u e n z , k ü n f t i g k e i n S c h u l b u c h m e h r zu m a c h e n , s o n d e r n sich g a n z d e r D i c h t u n g u n d a l l e n f a l l s d e r V o l k s b i l d u n g zu w i d m e n . A u s d e r R ü c k s c h a u w u r d e i h m b e w u ß t , d a ß d i e Z w i t t e r h a f t i g k e i t s e i n e s L e s e b u c h s mit d e m S p a n nungsverhältnis zwischen Literaturidee und Unterricht zusammenhängt: „Hätt e n A p r e n t u n d ich g l e i c h v o n Vorne h e r e i n auf d i e R e a l s c h u l e v e r z i c h t e t , u n d l i e b e r d a s B u c h s o z u s a m m e n g e s t e l l t , d a ß es f ü r E r z i e h u n g ü b e r h a u p t zu verw e n d e n w ä r e , s o h ä t t e n w i r e t w a s d a n k b a r e r e s g e t h a n , als Z e i t u n d M ü h e auf d i e s e W e i s e v e r s c h w e n d e t ^ . . . ] D a s B u c h ist nun w e n i g s t e n s ein h a l b v e r f e h l tes. E s w a r zu viel f ü r d i e S c h u l e b e r e c h n e t , u n d d a d i e s e es n i c h t n e h m e n d a r f , so h a t es a n d e r e r S e i t s f ü r d a s g r o ß e P u b l i c u m zu w e n i g . " 6 9
Stifters und Theodor Vernalekens Lesebücher T h e o d o r V e r n a l e k e n w a r S t i f t e r s s t ä r k s t e r K o n k u r r e n t bei d e r H e r a u s g a b e v o n L e s e b ü c h e r n . Er w a r 1 8 4 8 als P r o t e s t a n t von N o r d d e u t s c h l a n d n a c h W i e n geh o l t w o r d e n , w o e r im M i n i s t e r i u m f ü r „ L e s e b u c h f r a g e n u n d b e s o n d e r s f ü r d i e N e u o r g a n i s a t i o n d e r R e a l s c h u l e n t ä t i g " w u r d e . Er leitete a u c h d i e P r ü f u n g s k o m m i s s i o n f ü r R e a l s c h u l l e h r e r . V e r n a l e k e n w a r vor d e r B e r u f u n g n a c h W i e n v o m C a l v i n i s m u s z u m k a t h o l i s c h e n G l a u b e n ü b e r g e t r e t e n , ist a b e r n a c h seiner Pensionierung wieder zum Calvinismus zurückgekehrt.70 Stifter schrieb a m 2 1 . 6 . 1 8 5 5 n a c h d e r A b l e h n u n g s e i n e s L e s e b u c h s an H e c k e n a s t : „ V e r n a l e k e n s d e s j e z i g e n o f f i c i e l l e n L e s e b ü c h e r m a c h e r s Z u s a m m e n s t e l l u n g e n s i n d zu s e i c h t u n d s c h l e c h t , als d a ß sie sich l a n g e halten k ö n n t e n . " 7 1 T a t s ä c h l i c h a b e r w a r e n d e s s e n L e s e b ü c h e r bis weit nach 1870 in V e r w e n d u n g . D o m a n d i h a t a u f g e z e i g t , d a ß „die L e s e b ü c h e r V e r n a l e k e n s g e r a d e in k o n f e s s i o n e l l e r B e z i e h u n g v o n e i n e r m u t i g e n T o l e r a n z z e u g e n , w i e sie w e d e r in S t i f t e r s n o c h in a n d e r e n L e s e b ü c h e r n v o r o d e r n a c h 1855 s o u n v e r h ü l l t z u t a g e t r i t t " , 7 2 w o b e i d e n H ö h e p u n k t d a s j e n i g e L e s e s t ü c k bildet, „in d e m die k a t h o l i sche K i r c h e r e g e l r e c h t a n g e g r i f f e n w i r d " . Es h a n d e l t sich um d e n „Brief Lut h e r s v o m 1 5 . 2 . 1 5 3 0 an s e i n e n Vater", w o r i n L u t h e r schreibt, „,er h a b e die C h r i s t e n h e i t ' , ν ο η d e m v o r i g e n F i n s t e r n u ß und I r r t h u m e n ' h e r a u s g e f ü h r t " . 7 3 E n t s c h e i d e n d d a f ü r , d a ß s i c h Vernaleken trotz s o l c h e r A b w e i c h u n g e n g e g e n ü b e r
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SW. Bd. 18, S. 246. Ebd., S. 247. Domandi (o. Anm. 5), S. 20. SW. Bd. 18, S. 266. Domandi (o. Anm. 5), S. 21. Ebd., S. 27; weitere Beispiele S. 27f.
Lìleraturidee
und Literaturdidaktik
bei Adalbert
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Stifter durchgesetzt hat, war, d a ß er die dynastische Idee, „die j a in Österreich in ganz anderem Maße als a n d e r s w o gefordert wurde und Patriotismus, Staatsgesinnung, Vaterland und Volk z u r ü c k z u d r ä n g e n versuchte", e b e n s o mit Lesestücken förderte wie „eine eindeutige nationaldeutsche G e s i n n u n g " . 7 4 Man kann bei ihm „zwei Lesestücke der beiden bedeutendsten V o r k ä m p f e r eines deutschen Nationalismus finden, die auch 1860 noch nicht voll rehabilitiert waren, nämlich von Ernst Moritz Arndt und Friedrich L u d w i g J a h n " . 7 5 Die bei Vernaleken und a n d e r e n L e s e b u c h h e r a u s g e b e r n wie M o z a r t „vertretene E r z i e h u n g zum d y n a s t i s c h e n D e n k e n fehlt bei S t i f t e r " e b e n s o wie die bei Vernaleken und anderen „so breiten R a u m e i n n e h m e n d e n L e s e s t ü c k e , die der n a t i o n a l d e u t s c h e n E r z i e h u n g g e w i d m e t sind. [...] Da S t i f t e r keine Lesestücke bringt, die k o n f e s s i o n e l l e , d y n a s t i s c h e o d e r n a t i o n a l d e u t s c h e T e n d e n zen h e r v o r k e h r e n , müssen bei ihm auch solche Stellen f e h l e n , die eine o f f e n e o d e r versteckte zeitkritische o d e r sogar h e i d n i s c h e E i n s t e l l u n g e r k e n n e n lassen, wie wir sie in der . S a m m l u n g ' , bei Mozart und Vernaleken n a c h g e w i e s e n haben."76 D o m a n d i hat gezeigt, d a ß Stifters L e s e b u c h nicht v o r r a n g i g d e s h a l b a b g e lehnt wurde, „weil es dem L e h r p l a n e nicht e n t s p r i c h t " , 7 7 wie das M i n i s t e r i u m Stifter g e g e n ü b e r vorgegeben hatte, s o n d e r n weil es wohl sein G e g n e r Vernaleken als a n o n y m e r G u t a c h t e r zu Fall g e b r a c h t hat, 7 8 vor allem aber, weil es der politischen A u f f a s s u n g H e l f e r t s w i d e r s p r a c h , d e s s e n B u c h , Ü b e r N a t i o n a l g e s c h i c h t e und den g e g e n w ä r t i g e n S t a n d ihrer P f l e g e in Ö s t e r r e i c h ' 1853 erschienen w a r 7 9 und festgelegt hatte, d a ß eine N a t i o n a l e r z i e h u n g auf a b s o l u t i stischer G r u n d l a g e gefordert sei, um die s c h w i e r i g e N a t i o n a l i t ä t e n f r a g e d e r M o n a r c h i e von einer d y n a s t i s c h e n Position her zu lösen. „ D a s r e l i g i ö s e " und „das v a t e r l ä n d i s c h e E l e m e n t " sollten nach H e l f e r t den L e h r s t o f f b e h e r r s c h e n : „ D e n Z u s a m m e n s t e l l e r n von L e s e b ü c h e r n ist w i e d e r h o l t die W e i s u n g g e g e b e n w o r d e n , d a ß m i n d e s t e n s die H ä l f t e des g e s c h i c h t l i c h e n und e r d k u n d l i c h e n Les e s t o f f e s dem Vaterlande a n g e h ö r e n m ü s s e . " 8 0 S t i f t e r s L e s e b u c h stand diesen Vorgaben und Weisungen mit s e i n e m Hauptziel „allgemein menschlicher Bildung ( H u m a n i s m u s ) " diametral e n t g e g e n . W ä h r e n d H e l f e r t ein p a t r i o t i s c h e s und d y n a s t i s c h e s G e s i n n u n g s l e s e b u c h f o r d e r t e , p r ä s e n t i e r t e S t i f t e r ein literarisches B i l d u n g s l e s e b u c h .
74 75 76 77 78 79 80
Ebd., S. 25f. Ebd., S. 27. Ebd., S. 38f. SW. Bd. 18, S. 245 (Brief vom 2.1.1855 an Heckenast). Domandi (o. A n m . 5), S. 39. Ebd.. S. 83. Zitate nach Domandi (o. Anm. 5). S. 87f.
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Stifters . L e s e b u c h ' und die G e s c h i c h t e des d e u t s c h e n L e s e b u c h s Betrachtet m a n v e r g l e i c h s w e i s e die E n t w i c k l u n g des L e s e b u c h s in D e u t s c h land, wie sie in H e l m e r s . G e s c h i c h t e des d e u t s c h e n L e s e b u c h s in G r u n d z ü g e n ' dargestellt worden ist, so fallt zunächst auf, daß Stifter bei H e l m e r s nicht e r w ä h n t wird. 8 1 D a s e i n z i g e von H e l m e r s aus der Zeit Stifters a u f g e n o m m e n e L e s e b u c h , P h i l i p p W a c k e r n a g e l s . D e u t s c h e s L e s e b u c h ' von 1843, wird von ihm unter die R u b r i k „einer bürgerlichen G e s i n n u n g s b i l d u n g durch D i c h t u n g " eingereiht".82 Allen f r ü h e r e n L e s e b u c h t y e n stellt H e l m e r s dann sein „ L e s e b u c h als literarisches A r b e i t s b u c h " e n t g e g e n , ohne Vorgänger zu b e n e n n e n . Z w a r m ü ß t e man Stifters L e s e b u c h statt als literarisches Arbeitsbuch primär als literarisches B i l d u n g s b u c h b e z e i c h n e n , doch auch als literarisches A r b e i t s b u c h kann es im Sinne von H e l m e r s v e r w e n d e t w e r d e n , denn es enthält T e x t g r u p p i e r u n gen einiger G a t t u n g e n , so d a ß Kenntnis literarischer F o r m e n als Lernziel angestrebt w e r d e n kann. D a ß m a n Stifters L e s e b u c h 1946, genehmigt d u r c h das O f f i c e of Military G o v e r n m e n t f o r G e r m a n y (US), als erstes N a c h k r i e g s l e s e buch e i n f ü h r e n k o n n t e , lag daran, daß es von nationalen und nationalistischen Tendenzen frei war und eine h u m a n i s t i s c h e Bildung durch Literatur anstrebte.
9. U n t e r r i c h t s m e t h o d i k Stifter hat in f r ü h e r e n Jahren U n t e r r i c h t s m e t h o d i k ü b e r w i e g e n d a b l e h n e n d behandelt. Vor allem die U r f a s s u n g der E r z ä h l u n g ,Das H a i d e d o r f ' enthielt eine s c h a r f e Kritik an der U n t e r r i c h t s m e t h o d i k , wie sie Stifter in der S t i f t s s c h u l e K r e m s m ü n s t e r k e n n e n g e l e r n t hatte: „ G l ü c k l i c h e r N a t u r s o h n ! D i e j e n i g e n werden deine Lage b e g r e i f e n , und selig z u r ü c k f ü h l e n , die nicht das U n g l ü c k hatten, schon in zartester Kindheit von einer Rotte Meister u m r u n g e n w o r d e n zu seyn, die täglich an ihnen e r z o g e n , o h n e zu e r k e n n e n das B e d ü r f n i ß und das s c h ö n e Gold des K i n d e r h e r z e n s . " 8 3 Diese A b w e r t u n g seiner Lehrer in K r e m s m ü n s t e r als „Rotte M e i s t e r " hat Stifter später gestrichen, als er diese Erzählung in sein L e s e b u c h a u f n a h m . Seine A u f f a s s u n g über die U n t e r r i c h t s m e t h o dik hat Stifter w ä h r e n d seiner Tätigkeit als Schulrat geändert und seinerseits, wie die Schulakten zeigen, f ü r eine V e r b e s s e r u n g und H u m a n i s i e r u n g der Schulmethodik gekämpft. 81
H e r m a n n H e l m e r s : G e s c h i c h t e des d e u t s c h e n L e s e b u c h s in G r u n d z ü g e n . Stuttgart 1970. A u c h bei Frank (o. A n m . 32). Bd. 1, S. 2 6 4 f f . , wird Stifter nicht e r w ä h n t , o b w o h l F r a n k breiter auf d i e G e s c h i c h t e d e s literarischen L e s e b u c h s e i n g e h t . B e r ü c k s i c h t i g t h i n g e g e n wird er bei K a r l h e i n z R e b e l : Das d e u t s c h e L e s e b u c h - einst und jetzt ( 1 9 6 4 ) In: Hermann H e l m e r s (Hrsg.): Die D i s k u s s i o n u m das d e u t s c h e L e s e b u c h . D a r m s t a d t 1969, S. 88f.
82
H e l m e r s (o. A n m . 81), S. 195. W u B . Bd. 1.1, S. 169.
83
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G u t a c h t e n mit A u s s a g e n zur M e t h o d i k Nicht nur aus G u t a c h t e n über Lehrer e r f ä h r t man etwas über Stifters A u f f a s s u n g e n über M e t h o d i k , sondern auch aus G u t a c h t e n über Fibeln und Lesebücher. So b e m ä n g e l t e sein G u t a c h t e n von 1851 über zwei neue Volkss c h u l l e s e b ü c h e r von Becker und Vermaleken [!], das z w a r nicht m e h r vorliegt, doch von Statthalterei-Rat Fritsch z u s a m m e n g e f a ß t wurde, „ d a ß in beiden Büchelchen kein g e o r d n e t e r u. n a t u r g e m ä ß e r S t u f e n g a n g , kein Vorgehen vom Leichtesten zum Leichten u. von d i e s e m z u m S c h w e r e n beobachtet, d a ß Vieles außer dem G e s i c h t s - und D e n k k r e i s e 5 bis 7 j ä h r i g e r Kinder, vorzüglich aber v e r e i n s a m t e r L a n d k i n d e r L i e g e n d e s , d e n s e l b e n also U n v e r s t ä n d l i c h e s in die W e r k c h e n a u f g e n o m m e n ist; d a ß sie a u ß e r d e m m a n c h e s Z w e c k l o s e j a Z w e c k w i d r i g e u. Unrichtige enthalten, u. [...] m a n c h e s Kleinliche u. beinahe L ä p p i s c h e in sich s c h l i e ß e n . " 8 4 Im G e g e n s a t z zum K o n z e p t seines eigenen L e s e b u c h s f o r d e r t e Stifter hier als m e t h o d i s c h e s G r u n d p r i n z i p einen lerntheoretisch strukturierten, graduell a u f g e b a u t e n S t u f e n g a n g . S e i n e m Literaturkonzept e n t s p r e c h e n d lehnte er das „ K l e i n l i c h e und beinahe L ä p p i s c h e " m a n c h e r Texte ab.
Stifters G u t a c h t e n über Aprent A u s s a g e n zur M e t h o d i k des L i t e r a t u r u n t e r r i c h t s findet man vor allem in den G u t a c h t e n über Aprent, den Stifter als h e r v o r r a g e n d e n M e t h o d i k e r schätzte, der j a auch das m e t h o d i s c h e B e g l e i t b u c h zum L e s e b u c h v e r f a s s e n sollte. Bei Aprent h o b er v o r allem die „Reinheit Klarheit u S c h ö n h e i t des Vortrages" sowie die „seltene G a b e den Eifer der S c h ü l e r u ihre L i e b e zum G e g e n s t a n d e so wie zum Lehrer zu w e k e n " hervor. 8 5 D a b e i verstand er die Persönlichkeit des Lehrers, sein A u s s t r a h l u n g s - und W i r k u n g s v e r m ö g e n als wesentlichen Teil der M e t h o d i k . „ B e s o n d e r s versteht er es, durch Klarheit u W ä r m e die Schüler f ü r den Stoff u sich zu g e w i n n e n , d a ß man ihnen die F r e u d e a n s i e h t " . Zu dieser W i r k u n g s q u a l i t ä t gehört auch, d a ß er „nicht unterließ, auf S c h o n u n g des Bew u ß t s e i n s u der G e f ü h l e also auf m e n s c h l i c h e Bildung sehr schön hinzuwirk e n " . 8 6 Im A n t r a g auf d e f i n i t i v e A n s t e l l u n g A p r e n t s und N e t w a l d s vom 2 0 . 9 . 1 8 5 2 attestierte Stifter b e i d e n , „ d a ß sie ihren G e g e n s t a n d z u s a m m e n zu fassen zu v e r a l l g e m e i n e r n u d e m Z w e k e der S c h ü l e r g e m ä ß a b z u r u n d e n verstehen, was n u r durch B e h e r r s c h u n g seines w i s s e n s c h a f t l i c h e n L e h r s t o f f e s möglich ist. B e i d e f ü h r e n ihre S c h ü l e r mit Klarheit logischer S c h ä r f e u doch mit G e m e i n v e r s t ä n d l i c h k e i t durch das L e h r g e b i e t " . 8 7 N e b e n der K o n t a k t f ä h i g -
84 85 86 87
Fischer (o. Anm. 2). Bd. 2, S. 610. Ebd. Bd. 1, S. 64. Ebd., S. 66. Ebd., S. 71.
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keit z u m S c h ü l e r w e r d e n hier d i e S t o f f b e h e r r s c h u n g , die U m s e t z u n g des Unt e r r i c h t s g e g e n s t a n d e s in den E r w a r t u n g s - und Verstehenshorizont des Schülers s o w i e die S t r i n g e n z d e r U n t e r r i c h t s g e s t a l t u n g h e r v o r g e h o b e n . Als es 1855 um die B e f ö r d e r u n g A p r e n t s z u m L e h r e r der Oberrealschule ging, hat Stifter diesen S c h ü l e r - und G e g e n s t a n d s b e z u g weiter ausdifferenziert und g e m ä ß seiner Literaturidee auf die Z i e l s e t z u n g des Literaturunterrichts ausgerichtet: „Aprent v e r m a g seine S c h ü l e r auf die klarste e i n f a c h s t e u faßlichste Weise in die Form e n der S p r a c h e e i n z u f ü h r e n , d a ß ihnen das Technische der G e b r a u c h des Wortes, d e s S a z e s u d e s G e s a m t a u s d r u k e s eines Stilganzen geläufig wird. Da er aber a u c h eine b e d e u t e n d e litterarische Bildung besizt, nicht blos in so weit sie S a c h e d e s G e d ä c h t n i s s e s ist, w e l c h e Bildung sehr oft v o r k ö m m t , sondern v o r z u g s w e i s e in so f e r n e sie im E r k e n n e n des ewigen d a u e r n d e n u reinm e n s c h l i c h e n W e r t h e s d e r K u n s t s c h ö p f u n g beruht, welche Bildung sehr selten ist, so ist er a u c h im S t a n d e , seinen Schülern die richtigen G e s i c h t s p u n k t e einer D i c h t u n g a l l g e m e i n d a r z u s t e l l e n , er v e r m a g das W ü r d i g e von d e m U n w ü r digen zu t r e n n e n , das E r n s t e zur E i n p r ä g u n g a u s z u w ä h l e n , u den S c h ü l e r n das G r o ß e u S c h ö n e d e s s e l b e n v o r z u f ü h r e n , wodurch er ihnen eine R i c h t u n g für das H ö h e r e im L e b e n , so weit es durch Litteratur dargestellt wird, gibt, sie bef ä h i g t , auf d i e s e r R i c h t u n g fort gehen zu können, u somit den A n s t o ß zu eig e n t l i c h e r m e n s c h l i c h e r B i l d u n g gibt, welche der Z w e k der s o g e n a n n t e n hum a n i s t i s c h e n S t u d i e n an R e a l s c h u l e n ist, u welche durch j e d e S c h u l e nur ang e b a h n t nicht e r s c h ö p f t w e r d e n k a n n . " 8 8 Berücksichtigt man, daß S t i f t e r hochlobt, um die A n s t e l l u n g A p r e n t s zu b e f ö r d e r n , so ergibt sich eine Idealvorstellung von M e t h o d i k des L i t e r a t u r u n t e r r i c h t s , welche auf eine h ö c h s t m ö g l i c h e E f f i z i e n z und B i l d u n g s w i r k u n g im R a h m e n des p ä d a g o g i s c h e n D r e i e c k s von Lehrer, S c h ü l e r und l i t e r a r i s c h e m Werk ausgerichtet ist.
A p r e n t s B ü c h e r ü b e r D i d a k t i k und M e t h o d i k D e m L e s e b u c h sollte n a c h S t i f t e r s P l a n u n g ein .Leitfaden zum G e b r a u c h e des L e s e b u c h s ' b e i g e f ü g t w e r d e n . „ D a s L e s e b u c h wird die reinsten S t ü k e unserer L i t t e r a t u r e n t h a l t e n , und ü b e r diese Stüke wird Aprent den f o r m a l e n Theil ihres S c h u l g e b r a u c h e s s c h r e i b e n , von m e i n e r Hand wird zu j e d e m S t ü k e eine ä s t h e t i s c h e und k u n s t g e s c h i c h t l i c h e W ü r d i g u n g da stehen." 8 9 Als das Lesebuch nicht a n g e n o m m e n w o r d e n war, hat Stifter sogleich die Arbeit am Handbuch e i n g e s t e l l t . A p r e n t hat, seine Vorarbeiten nutzend, einen , L e i t f a d e n f ü r den U n t e r r i c h t in der d e u t s c h e n S p r a c h e f ü r Realschulen, G y m n a s i e n und and e r e M i t t e l s c h u l e n ' g e s c h r i e b e n , aber nicht in H e c k e n a s t s Verlag, sondern 1855 bei Karl G e r o l d in Wien h e r a u s g e g e b e n . 9 0 A n g e s i c h t s der L o b e s h y m n e n ,
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Ebd., S. 299. SW. Bd. 18, S.165. Vgl. die A n m e r k u n g in SW. Bd. 18, S. 463.
üteraturidee und Literaturdidaktik bei Adalbert Stifter die Stifter über den Lehrer Aprent verfaßt hat, kann von Aprents a u f f a s s u n g a u f d i e von S t i f t e r g e s c h l o s s e n w e r d e n .
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Methodik-
B e r e i t s in s e i n e m A u f s a t z ,Soll und k a n n d i e R e a l s c h u l e a u c h d i e allg e m e i n e B i l d u n g f ö r d e r n ? ' v o n 1852 hat A p r e n t w e s e n t l i c h e P r i n z i p i e n s e i n e s Lehrstils formuliert. An Goethe91 erinnert seine Bildungsidee, welche die K o n z e n t r a t i o n a u f e i n e n P u n k t mit d e r G e n e r a l i t ä t d e r B i l d u n g k o m b i n i e r t : „ W o i m m e r d e r m e n s c h l i c h e G e i s t e t w a s G r o ß e s g e l e i s t e t h a t , g e l a n g es n u r d u r c h C o n c e n t r i r u n g aller s e i n e r K r ä f t e in e i n e n e i n z i g e n B r e n n p u n c t . N u r s o v e r m a g er e s , s i c h v o n d e r s e i n e m W e s e n a n k l e b e n d e n B e s c h r ä n k u n g t h e i l w e i s e zu b e f r e i e n , und indem er die ihn b e e n g e n d e n G r ä n z e n auf d e r e i n e n Seite noch m e h r z u s a m m e n z i e h t , sie auf der a n d e r n k ü h n zu ü b e r s c h r e i t e n . " Ist, b e z o g e n auf d e n U n t e r r i c h t , e i n e r s e i t s e i n e k l a r e Z i e l s e t z u n g v o n n ö t e n , u m „alle unsere B e s t r e b u n g e n auf e i n e n festen Pol zu b e z i e h e n , s o liegt e i n e a n d e r e nicht m i n d e r g e w i c h t i g e A u f f o r d e r u n g " z u r E n t f a l t u n g v o n B i l d u n g „in d e r M a s s e des M a t e r i a l s , das, d u r c h J a h r h u n d e r t e in j e d e m e i n z e l n e n F a c h e a u f g e h ä u f t , von uns erst b e w ä l t i g t w e r d e n m u s s , u m d o r t h i n zu g e l a n g e n , v o n w o w i r e i g e n t l i c h a u s g e h e n sollten.[...] N i e m a n d e n k a n n o h n e s e i n e S e l b s t t h ä t i g k e i t etw a s m i t g e t h e i l t o d e r gar b e i g e b r a c h t w e r d e n , j e d e r m u s s g e w i s s e r m a s s e n v o n v o r n e a n f a n g e n u n d seinen G e g e n s t a n d sich n o c h e i n m a l e n t w i c k e l n l a s s e n . " 9 2 A n g e s i c h t s d e s v o n Stifter kritisierten Z u s a m m e n h a n g s v o n L e h r e r v o r t r a g u n d A u s w e n d i g l e r n e n d e r S c h ü l e r in der h e r r s c h e n d e n S c h u l p r a x i s liegt in A p r e n t s B e t o n u n g des S c h ü l e r b e z u g s u n d der S e l b s t t ä t i g k e i t in b e z u g auf B i l d u n g s g ü t e r o f f e n b a r die U r s a c h e seiner W i r k u n g u n d d e r W e r t s c h ä t z u n g S t i f t e r s . In d e m A u f s a t z . V e r s u c h a u f g e n e t i s c h e m W e g e zu d e m B e g r i f f e d e r Bild u n g zu g e l a n g e n ' 9 3 e n t w i c k e l t e A p r e n t U n t e r r i c h t s p r i n z i p i e n u n d u n t e r g l i e derte die für Bildungsprozesse erforderlichen E i n z e l l e i s t u n g e n der Schüler: Er u n t e r s c h i e d im S i n n e e i n e r L e r n b e r e i c h s g l i e d e r u n g e i n e „ h e r v o r b r i n g e n d e T ä t i g k e i t " und e i n e „ a u f f a s s e n d e T ä t i g k e i t " , w o b e i er d i e f ü r d e n L i t e r a t u r u n t e r richt w e s e n t l i c h e „ a u f f a s s e n d e T ä t i g k e i t " in d r e i S t u f e n g l i e d e r t e : 1. S t u f e : s i n n l i c h e A u f f a s s u n g o d e r W a h r n e h m e n ; 2. S t u f e : D e n k e n ( B e g r i f f s b i l d u n g ) ; 3. S t u f e : s i t t l i c h e A u f f a s s u n g . „In j e h ö h e r e m G r a d e n u n u n s e r W e s e n b e r e i t s e i n s i t t l i c h e s g e w o r d e n ist, d e sto m ä c h t i g e r w i r d sich a u c h d a s s i t t l i c h e B e d ü r f n i s z e i g e n , u n d w i e es d e m im D e n k e n g e ü b t e n n a t ü r l i c h ist, a l l e s d e n k e n d z u b e t r a c h t e n , s o w ä c h s t mit u n s e r e m s i t t l i c h e n W e s e n a u c h die L e i c h t i g k e i t u n d S c h n e l l i g k e i t d e r sittli-
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Vgl. dazu Seifert (o. Anm. 61), S. 84ff. Johannes Aprent: Soll und kann die Realschule auch die allgemeine Bildung fördern? In: Programm der k.k. vollständigen Unter-Realschule in Linz, veröffentlicht am Schlüsse des Schuljahres 1851/52, S.III. Johannes Aprent: Versuch auf genetischem Wege zu dem Begriffe der Bildung zu gelangen. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 16 (1865), S. 5 2 1 - 5 4 1 .
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chen A u f f a s s u n g . " 9 4 A u s den T ä t i g k e i t s f e l d e r n des Unterrichts entsteht Bild u n g : „ N e n n t m a n n u n d a s Ziel des Lebens Bildung, so ist Bildung nichts and e r e s , als d i e d u r c h d a s L e b e n h e r v o r g e b r a c h t e Stärke des sittlichen B e w u s s t s e i n s . " 9 5 M e t h o d i s c h e s G r u n d p r i n z i p zur Erreichung solcher Ziele ist die S e l b s t t ä t i g k e i t : „ W i e wir g e s e h e n haben, bildet der Mensch sich selbst und die Welt bietet ihm n u r den B i l d u n g s s t o f f , den er in sich a u f n i m m t und verarbeitet, um seine B i l d u n g daraus a u f z u b a u e n . " Entsprechend k o m m t der S c h u l e die „ U n t e r r i c h t s a u f g a b e " zu, „ U n t e r r i c h t s g e g e n s t ä n d e in ein solches Verhältnis zu d e m S c h ü l e r zu b r i n g e n , dass an ihnen seine bildende Thätigkeit zur E n t f a l t u n g k o m m e . [...] e r soll selbst gehen. Dann m u s s er aber einen Weg vor sich h a b e n und ein Ziel. Was er vor allem nöthig hat, ist K l a r h e i t . " 9 6 In s e i n e m B u c h . G e d a n k e n über E r z i e h u n g und U n t e r r i c h t ' baute Aprent seine T h e s e n w e i t e r aus, i n d e m er, von einer Kulturtheorie a u s g e h e n d , einen „ n a t u r g e m ä ß e n U n t e r r i c h t " projektierte: „Der Lehrer hebt ein B e s o n d e r e s aus der G e s a m m t h e i t d e r S i n n e n - o d e r seiner Vorstellungswelt heraus und bietet es d e m S c h ü l e r dar; d e r S c h ü l e r stellt das Dargebotene in Verhältniß zu einem bereits f r ü h e r A u f g e f a ß t e n und n i m m t es so in seine Vorstellungswelt auf. [...] Es ergibt sich h i e r a u s die w i c h t i g e F o l g e r u n g , daß alles Z u s a m m e n f a s s e n und V e r k n ü p f e n , d a s A u f f i n d e n von G e s e t z e n , allgemeinen Verfahrensweisen u. dgl. a u s s c h l i e ß l i c h S a c h e des Schülers ist. Der Lehrer dagegen bietet i m m e r nur E i n z e l n e s und E l e m e n t a r e s , selbst dann, wenn er ein A l l g e m e i n e s o d e r Z u s a m m e n g e s e t z t e s darstellt, weil auch dieses der Schüler sich n u r dadurch a n e i g n e t , d a ß er es in ein noch A l l g e m e i n e r e s , noch Z u s a m m e n g e s e t z t e r e s a u f n i m m t . " 9 7 In d i e s e m „ n a t u r g e m ä ß e n U n t e r r i c h t " hat die Kunst den höchsten S t e l l e n w e r t inne, denn „ein K u n s t w e r k ist das Höchste, was d e r M e n s c h h e r v o r z u b r i n g e n v e r m a g , weil durch d a s s e l b e sein Geist in dieser F o r m zum vollkommenen Ausdruck gelangt."98
10. F u n k t i o n e n u n d W i r k u n g v o n L i t e r a t u r im . N a c h s o m m e r ' Was Stifter in seinem A u f s a t z ,Über die Behandlung der Poesie in G y m n a s i e n ' als ideale F o r m d e r L i t e r a t u r b e g e g n u n g projektierte, aber nicht in d e r Schulw i r k l i c h k e i t realisieren k o n n t e , hat er im . N a c h s o m m e r ' dargestellt. Der . N a c h s o m m e r ' , seit 1853 erarbeitet und 1857 erschienen, entstand in einer Zeit, als S t i f t e r den H ö h e p u n k t seiner Schulratstätigkeit erreichte, aber auch
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Aprent (o. A n m . 93), S. 531. Ebd., S. 536. Ebd., S. 537f. J o h a n n e s Aprent: G e d a n k e n über Erziehung und Unterricht. 2. Aufl. Leipzig S. 87. Aprent (o. Anm. 97), S. 63.
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und Literaturdidaktik
bei Adalbert
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a n g e s i c h t s der f o r t s c h r e i t e n d e n R e a k t i o n , der E n t m a c h t u n g d u r c h das K o n k o r dat und d e r G e g e n w i r k u n g von G e g n e r n im M i n i s t e r i u m , vor a l l e m H e l f e r t s , an E i n f l u ß verlor, seine Ideen nicht m e h r realisieren k o n n t e und die F r e u d e an seiner Schulratstätigkeit einbüßte. In dieser Zeit v e r s u c h t e er nur n o c h bedingt, seine B i l d u n g s - und Literaturidee mit Ü b e r z e u g u n g und E n e r g i e in die S c h u l p r a x i s u m z u s e t z e n , die L i t e r a t u r i d e e löste sich v i e l m e h r z u n e h m e n d von der w i d r i g e n und w i d e r w ä r t i g e n S c h u l p r a x i s los und w u r d e zu e i n e m R e f u g i u m , in d e m S t i f t e r sich als K ü n s t l e r v e r w i r k l i c h e n und seine B e s t i m m u n g als K ü n s t l e r zu h ö c h s t m ö g l i c h e r Vollendung bringen k o n n t e . Es fällt auf, d a ß Schule und U n t e r r i c h t im . N a c h s o m m e r ' so gut wie keine Rolle spielen, d a ß vielmehr P r i v a t e r z i e h e r und h o c h g e b i l d e t e P e r s ö n l i c h keiten, w e l c h e den E n t w i c k l u n g s - und B i l d u n g s p r o z e ß des P r o t a g o n i s t e n fördern und sichern, statt der S c h u l e w i r k s a m sind. Wie bei G o e t h e in den .Lehrj a h r e n ' die T u r m g e s e l l s c h a f t letztlich den B i l d u n g s p r o z e ß W i l h e l m s geleitet hat, so sind in Stifters . N a c h s o m m e r ' k o n k r e t e r e i n w i r k e n d e P e r s ö n l i c h k e i t e n , vor allem der Vater und sein G ö n n e r Freiherr von R i s a c h tätig, um eine ideale M e n s c h w e r d u n g Heinrich D r e n d o r f s zu f ö r d e r n . D e r B i l d u n g s - und E n t w i c k l u n g s p r o z e ß wird fast vollständig als A n s t r e n g u n g und Selbsttätigkeit der P r o t a g o n i s t e n dargestellt, und nur im J u g e n d s t a d i u m treten E r z i e h e r auf, welche f ü r S c h u l u n g und E r z i e h u n g z u s t ä n d i g sind. A n g e s i c h t s d i e s e r E l i m i n i e r u n g von S c h u l e und U n t e r r i c h t kann auch die W i r k u n g von K u n s t und speziell von Literatur im E n t w i c k l u n g s - und Bild u n g s p r o z e ß n u r in Form einer S p o n t a n b e g e g n u n g und Verarbeitung des Protagonisten zur E n t f a l t u n g k o m m e n . D i e s e initiationsartige W i r k u n g tritt ein, sobald der selbsttätige E n t w i c k l u n g s - und B i l d u n g s p r o z e ß eine S t u f e erreicht hat, auf der der Protagonist f ü r diese B e g e g n u n g reif g e w o r d e n ist. An zwei E p i s o d e n soll d i e W i r k u n g von Literatur im B i l d u n g s p r o z e ß detaillierter a u f gezeigt w e r d e n , auch wenn d a d u r c h eine einseitige Sicht entsteht, da j a n e b e n der Literatur auch der rezeptiven Verarbeitung von M a r m o r b i l d e r n und G e mälden sowie der E i g e n p r o d u k t i o n von Kunst und d e m M u s i z i e r e n b e d e u t e n de B i l d u n g s f u n k t i o n e n z u k o m m e n , von den a n d e r e n W i r k l i c h k e i t s b e r e i c h e n ganz zu s c h w e i g e n . D a s erste Beispiel ist die W i r k u n g S h a k e s p e a r e s auf d e m Theater, w e l c h e wie eine U m s e t z u n g der W i r k u n g e i n e r T r a g ö d i e aus d e m A u f s a t z , U b e r die B e h a n d l u n g der Poesie in G y m n a s i e n ' in die literarische Fiktion a n m u t e t : „Der Vater hatte, so lange wir K i n d e r w a r e n , nie e r l a u b t , d a ß wir ein S c h a u spiel zu sehen b e k ä m e n . Er sagte, es w ü r d e d a d u r c h die E i n b i l d u n g s k r a f t der Kinder überreizt und überstürzt, sie b e h i n g e n sich mit allerlei w i l l k ü r l i c h e n G e f ü h l e n , und geriethen dann in B e g i e r d e n o d e r gar L e i d e n s c h a f t e n . " Die A b l e h n u n g einer V e r f r ü h u n g und die B e d e u t u n g des rechten Z e i t p u n k t s im Entw i c k l u n g s p r o z e ß wird vom Vater mit d e r gleichen T e r m i n o l o g i e h e r v o r g e h o ben, mit der Stifter die schlechte K u n s t seiner Zeit a b w e r t e t e . B e g i e r d e n o d e r L e i d e n s c h a f t e n , w e l c h e hier aus e i n e m v e r f r ü h t e n und v e r f e h l t e n T h e a t e r b e -
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such hergeleitet werden, waren ja für Stifter die Ursachen für den A u s b r u c h von Revolutionen. Wie Theateraufführungen eine solche negative Wirkung e n t f a l t e n k ö n n e n , b l e i b t u n r e f l e k t i e r t . S p ä t e r w ä h l t e d e r Vater f ü r d e n T h e a t e r b e s u c h „ j e n e S t ü c k e a u s , v o n d e n e n er g l a u b t e , d a ß sie uns a n g e m e s s e n w ä r e n u n d u n s e r W e s e n f ö r d e r t e n . In d i e O p e r o d e r g a r in d a s Ballet d u r f t e n w i r n i e gehen, eben so wenig durften wir ein Vorstadttheater besuchen."99 Z u m r e c h t e n Z e i t p u n k t e r e i g n e t sich im R o m a n d a s g r o ß e T h e a t e r b i l d u n g s e r l e b n i s , als H e i n r i c h e i n e A u f f ü h r u n g v o n S h a k e s p e a r e s . K ö n i g L e a r ' m i t e i n e m S c h a u s p i e l e r e r l e b t , v o n d e m g e s a g t w i r d , d a ß e r „ d a s H ö c h s t e leiste, w a s e i n M e n s c h in d i e s e m K u n s t z w e i g e zu leisten im S t a n d e s e i " , u n d d a ß e r e i n e v o l l k o m m e n e D a r s t e l l u n g l e i s t e n k ö n n e , weil „ein S t r a h l j e n e s w u n d e r b a r e n L i c h t e s in i h m l e b t e , w o d u r c h d i e s e s M e i s t e r w e r k e r s c h a f f e n u n d mit u n ü b e r t r e f f l i c h e r W e i s h e i t a u s g e s t a t t e t w o r d e n i s t " . 1 0 0 W i e in G o e t h e s . W i l h e l m M e i s t e r ' ist e s ein S t ü c k von S h a k e s p e a r e , w e l c h e s d i e g r ö ß t e W i r k u n g auf d e n P r o t a g o n i s t e n a u s ü b t und ihn z u t i e f s t e r s c h ü t t e r t . A u f d e m H ö h e p u n k t , als L e a r vor d e r G e f a h r steht, a n g e s i c h t s d e r von ihm h e r a u f b e s c h w o r e n e n S i t u a t i o n „ t o l l " zu w e r d e n , „ f l ö s s e n m i r d i e T h r ä n e n über d i e W a n g e n h e r a b , ich v e r g a ß d i e M e n s c h e n h e r u m u n d g l a u b t e die H a n d l u n g als e b e n g e s c h e h e n d " . Die V e r g e g e n w ä r t i g u n g d e r H a n d l u n g steigert d i e i n n e r e E r r e g u n g z u m ä u ß e r s t e n , als L e a r s e i n e T o c h t e r C o r d e l i a um V e r g e b u n g bittet. „ M e i n H e r z w a r in d e m A u g e n b l i c k e g l e i c h s a m z e r m a l m t , ich w u ß t e m i c h v o r S c h m e r z k a u m m e h r zu f a s s e n . D a s h a t t e ich nicht g e a h n t , [...] d a s w a r d i e w i r k l i c h s t e W i r k l i c h k e i t vor m i r . " H ö c h s t e E r r e g u n g u n d E r f a h r u n g d e r ,,wirklichste[n] Wirklichkeit" ergeben nach Stifter einen inneren Zustand der E r k e n n t n i s , in d e m a u c h d i e h ö c h s t e E r f a h r u n g v o n S c h ö n h e i t m ö g l i c h w i r d . In d i e s e r S i t u a t i o n a r r a n g i e r t S t i f t e r die e r s t e B e g e g n u n g H e i n r i c h D r e n d o r f s mit N a t a l i e , s e i n e r s p ä t e r e n F r a u , o h n e d a ß d i e s e r selbst und d e r L e s e r erfahren, daß diese Episode eine entscheidende Vorausbedeutung hat. Natalie, d i e e r e r s t m a l s sieht u n d n o c h n i c h t k e n n t , „ k a m m i r u n b e s c h r e i b l i c h s c h ö n vor. D a s A n g e s i c h t w a r v o n T h r ä n e n Ü b e r g o s s e n , u n d ich r i c h t e t e m e i n e n B l i c k u n v e r w a n d t auf s i e . " S p ä t e r b e i m A u s g a n g e n t s t e h t ein e n t s c h e i d e n d e r Blickkontakt: „das Angesicht des M ä d c h e n s aus der ebenerdigen L o g e war g a n z n a h e a n d e m m e i n i g e n . Ich b l i c k t e sie fest an, und es war mir, als o b sie m i c h f r e u n d l i c h a n s ä h e u n d m i r l i e b l i c h z u l ä c h e l t e . A b e r in d e m A u g e n b l i c k e w a r sie v o r ü b e r . " 1 0 1 W a r s c h o n d i e B e g e g n u n g m i t S h a k e s p e a r e ein Initiatio n s e r e i g n i s , s o löst d i e s e s s o g l e i c h ein w e i t e r e s a u s , i n s o f e r n H e i n r i c h d i e f ü r sein L e b e n e n t s c h e i d e n d e B e g e g n u n g m i t d e r i d e a l e n u n d s c h ö n e n F r a u h a t . Z u g l e i c h w i r d d i e s e D o p p e l e r f a h r u n g z u r G r u n d l a g e , sich k ü n f t i g i n t e n s i v mit S h a k e s p e a r e zu b e s c h ä f t i g e n . Die W i r k l i c h k e i t s e r f a h r u n g e n in K u n s t u n d L e -
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SW. Bd. 6, S. 206. Ebd., S. 207. - Vgl. den Beitrag von Helmut Barak in diesem Band. Ebd., S. 2 1 1 - 2 1 3 .
Literaturidee
und Literaturdidaktik
bei Adalbert
Stifter
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ben b e d i n g e n und steigern sich g e g e n s e i t i g sowie den B i l d u n g s p r o z e ß in einem R a u m der e r f a h r b a r e n Idealität. Viel später erst erfahrt Heinrich, d a ß d i e s e A u f f ü h r u n g auch f ü r Natalie und für ihre B e g e g n u n g mit ihm e n t s c h e i d e n d war. Diese E r ö f f n u n g und gem e i n s a m e Verarbeitung der Vergangenheit entsteht, als Heinrich die Lektüre d e s H o m e r , der ihn (noch) nicht zu e r g r e i f e n v e r m a g , a u f g i b t und mit Natalie z u s a m m e n t r i f f t . Sie bekennt im R ü c k b l i c k : „Ich h a b e Euch schon d a m a l s in m e i n e m Herzen h ö h e r gestellt, als die A n d e r n , o b w o h l Ihr ein F r e m d e r wäret, und o b w o h l ich d e n k e n konnte, d a ß Ihr m i r in m e i n e m ganzen Leben f r e m d bleiben w e r d e t . " Dieses B e k e n n t n i s N a t a l i e n s wird f ü r Heinrich „eine Wend u n g in m e i n e m Leben und ein so tiefes Ereigniß, d a ß ich es kaum d e n k e n kann. Ich m u ß s u c h e n . Alles zurecht zu legen und mich an den G e d a n k e n der Z u k u n f t zu g e w ö h n e n . " Noch ist es die in d e r Vergangenheit liegende g e m e i n same E r f a h r u n g S h a k e s p e a r e s und noch nicht H o m e r s , w e l c h e das E r k e n n e n und Verständigen der beiden L i e b e n d e n fördert. Bisher haben sie das Gespräch nicht gesucht, denn Natalie k o n n t e mit ihm „nicht sprechen, wie es mir in m e i n e m Innern war", und Heinrich k o n n t e ihr „nicht n a h e n " , da „Ihr so weit von mir w ä r e t " . Die B e s i n n u n g auf das g e m e i n s a m e z u r ü c k l i e g e n d e Literaturerlebnis läßt sie zur S p r a c h e k o m m e n , und sie schließen einen „ B u n d , d a ß wir uns lieben wollen, so lange das L e b e n währt". Für Heinrich b e k o m m t die gescheiterte H o m e r l e k t ü r e einen S t e l l e n w e r t : „Wie war es gut, Natalie, d a ß ich die Worte H o m e r s , die ich heute N a c h m i t t a g las, nicht in mein Herz a u f n e h m e n k o n n t e , daß ich das B u c h weg legte, in den Garten g i n g " . 1 0 2 Erst d e r Fortschritt im B i l d u n g s p r o z e ß und in der L i e b e s b e z i e h u n g , welche als Z u s a m m e n h a n g w i r k e n , macht Heinrich f ü r das Verständnis des H o m e r reif. Z w i s c h e n z e i t l i c h treten die M a r m o r b i l d e r und mit ihnen die A n t i k e ins Z e n t r u m der weiteren I c h e n t f a l t u n g H e i n r i c h s , welche zugleich die Begegnung mit Natalie e n t s c h e i d e n d f ö r d e r t und den Helden g l e i c h s a m reif macht f ü r eine ideale E h e , wie sie f ü r die ältere G e n e r a t i o n des Freiherrn von Risach und der M a t h i l d e Tarona nicht m ö g l i c h war, da diese durch f a l s c h e gesells c h a f t l i c h e R ü c k s i c h t e n und A f f e k t e b e s t i m m t worden waren. Den H ö h e p u n k t d e r S e l b s t e r h ö h u n g und der E r h ö h u n g d e r Partnerin erreicht Heinrich mit Hilf e von H o m e r s . O d y s s e e ' , also wie v o r h e r mit dem antiken M a r m o r b i l d wied e r mit einem Werk der Antike. Die a n t i k e M a r m o r g e s t a l t , w e l c h e „das Altert h u m in seiner G r ö ß e und H e r r l i c h k e i t " repräsentiert, wird zum M a ß s t a b und V e r v o l l k o m m n u n g s m e d i u m f ü r Heinrich und bereitet ihn f ü r sein n e u e s Verständnis der . O d y s s e e ' vor, das w i e d e r u m eine n e u e D i m e n s i o n in seinem Verhältnis zu N a t a l i e begründet: Als H e i n r i c h , n a c h d e m das M a r m o r b i l d eine h ö h e r e „ E m p f i n d u n g " in seinem „ G e m ü t h e " h e r v o r g e r u f e n hat, bei der L e k t ü re des .Horner' z u m Auftritt N a u s i k a a s k o m m t , „ w a r es m i r wieder, wie es
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SW. Bd. 7, S. 286f.
Walter Seiferl
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mir bei der ersten richtigen Betrachtung der Marmorgestalt gewesen war". Die Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa, wobei Nausikaa „schlicht und mit tiefem Gefühle an den Säulen der Pforte des Saales stand", verwandelt Heinrich und in seinem Bewußtsein auch Natalie: „da gesellte sich auch lächelnd das schöne Bild Nataliens zu mir; sie war die Nausikae von jetzt, so wahr, so einfach, nicht prunkend mit ihrem Gefühle und es nicht verhehlend. Beide Gestalten verschmolzen in einander". 1 0 3 Eine solche Erhöhung des Menschen durch Identifikation mit einer literarischen Figur aus der höchstrangigen Literatur ermöglicht im Roman jene ideale, aber utopische Selbstverwirklichung junger Menschen, wie sie Stifter zwar für das Gymnasium projektiert hat, aber als Schulrat in den Schulen nicht zu realisieren vermochte. Somit steht diese glückende Liebesbeziehung im Gegensatz zur gescheiterten Beziehung der älteren Generation im Roman, wie auch die verwirklichte Literaturidee im Roman im Gegensatz zu den Versuchen ihrer Verwirklichung im Bereich der Schule steht.
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SW. Bd. 8.1, S. 6 3 - 6 5 .
Wilfried Lipp
Adalbert Stifter als „Conservator" ( 1 8 5 3 - 1 8 6 5 ) 1 Realität und Literatur
1848: Die Sammlung der ,Bunten Steine' mehrt sich. 2 Für Stifter, von der Revolution bekehrt, belehrt und bestätigt, ist das Jahr der politischen Erschütterungen und Verwandlungen ein Jahr der biographischen Wende. 3 Er ist nun 43 Jahre alt, die Jugend ist endgültig vorbei, .Julius' und .Condor' sind Erinnerungen an frühe Lebenspoesie; Fanny Greipl, schon lange tot, lebt als „Braut [s]einer Ideen" 4 fort. Die Enttäuschung über das eben (1847) gescheiterte Vorhaben, an der Universität Wien Vorlesungen über Ästhetik zu halten, war überwunden. Professor Franz Ficker hatte in seiner Beurteilung der als Befähigungsnachweis vorgelegten .Studien' wohl recht, daß es sich dabei um „keine wissenschaftlichen Aufsätze, sondern Dichtungen" handle. 5 Die politische äußerliche Re-volution ist fehlgeschlagen, mußte - nach Stifters Ethik - fehlschlagen. Stifters Bekenntnis gilt der inneren E-volution. Und was von innen kommt, von der Kraft des Sittlichen, zeigt sich endlich auch äußerlich: Das Leben ordnet sich. Anerkennung folgt der Leistung. Nicht ohne Genugtuung. „Tätiges Eingreifen" und „herzliche Teilnahme an der äußeren Welt", die „Bedachtnahme auf wirkliche wahrhafte Erscheinungen," 6 das war Goethes Stifter wohl bekannte - Rezeptur (so formuliert in der ,Campagne in Frankreich') gegen allerlei selbstquälerische Zustände. 1
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Grundlage jeder Auseinandersetzung mit diesem T h e m e n k o m p l e x ist nach wie vor: Otto Jungmair: Adalbert Stifter als Denkmalpfleger. Linz 1973. Vertiefend und kritisch korrektiv: Norbert Wibiral: Methodische Überlegungen. In: Norbert Wibiral, M a n f r e d Koller: Der Pacher-Altar in St. Wolfgang. Untersuchung, Konservierung und Restaurierung 1 9 6 9 - 1 9 7 6 . W i e n / K ö l n / G r a z 1981, S. 2 2 7 - 2 4 7 . Paul Requadt: Stifters .Bunte Steine' als Zeugnis der Revolution und als zyklisches Kunstwerk. In: Adalbert Stifter - Studien und Interpretationen. G e d e n k s c h r i f t zum 100. Todestage. Hrsg. von Lothar Stiehm. Heidelberg 1968, S. 139-168. Hermann Blumenthal: Adalbert Stifter und die deutsche Revolution von 1848. In: Euphorion 41 ( 1 9 4 S . 2 1 1 - 2 3 7 ; Klaus Neugebauer: Selbstentwurf und Verhängnis. Ein Beitrag zu Adalbert Stifters Verständnis von Schicksal und Geschichte. Tübingen 1982, S. 105 ff. SW. Bd. 17, S. 38. 100 Jahre Kunstgeschichte an der Universität Graz. Hrsg. von Walter H ö f l e c h n e r und Götz Pochat. (Publikationen aus dem Archiv der Universität G r a z 26) Graz 1992, S. 204. Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Unveränderter Nachdruck von Bd. 1 - 1 7 der A r t e m i s - G e d e n k a u s g a b e zu Goethes 200. Geburtstag am 28.8.1949. Zürich 1 9 6 1 - 1 9 6 6 . Hrsg. von E m s t Beutler. Zürich/München 1977. Bd. 12, S. 382.
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Wilfried Lipp
Nun war es soweit. 1850 erhält Stifter ein Amt. Er wird zum Schulrat und Inspektor der oberösterreichischen Pflichtschulen ernannt. Die pädagogischen Mühen haben sich gelohnt. Es ist auch das Jahr der Gründung der Κ. K. Centralcommission für Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale. 7 Stifter war dieser Zielsetzung schon lange verpflichtet, galt ihm doch insgesamt die Kunst als eine „wahre Wohltäterin der Menschheit". 8 Aufgrund der notwendigen Neuorganisation der Bausektion im Handelsministerium nahm die Kommission erst am 10.1.1853 ihre Tätigkeit auf. Als Mitglied und Vertreter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurde Regierungsrat Joseph Arneth, der Stifter aus dem Linzer Kreis um Anton von Spaun freundschaftlich verbunden war, in die Leitung der Centralcommission berufen. In einem Briefwechsel mit Arneths Gemahlin Antonie (geb. Adamberger, der Stifter den Stoff zur Erzählung ,Der Pförtner im Herrenhaus', dem ,Turmalin' der ,Bunten Steine' verdankte) schreibt Stifter am 22.1.1853: „Ihren hochverehrten Gatten bitte ich zu grüßen, und ihm zu sagen, daß ich ihn beneide, daß er sich nur mit lauter Schönem zu beschäftigen braucht, und jezt wieder in der Section für Erhaltung vaterländischer Baudenkmale beschäftigt ist. Eine solche Stellung würde mich außerordentlich freuen. Ich gehöre jener Section unsichtbar an; denn auf meinen Reisen stöbere ich in allen Kirchen Kapellen und Ruinen herum, und zeichne mir die Merkwürdigkeiten an. Soeben wird unter meiner Leitung der aus Holz geschnizte Altar der Kirche von Kefermarkt restaurili. Dieser Altar ist eines der größten Kunstwerke des deutschen Volkes (nicht einmal die Stephanskirche ist schöner)". 9 Der Brief blieb nicht ohne Folgen. Wohl über Arneths Befürwortung wird Stifter am 10.10.1853 in der Sitzung des Linzer Musealausschusses über Vorschlag des Grafen Barth von Barthenheim der Centralcommission als staatlicher Conservator nahmhaft gemacht. Stifter war ja seit 1852 als .Kunstreferent' am Francisco Carolinum, dem Linzer Museum, tätig und hatte im Musealausschuß für den Statthalter von Oberösterreich Eduard Freiherrn von Bach R i c h t l i n i e n für Conservatoren' auszuarbeiten gehabt. Dieser brachte mit Schreiben vom 28. November 1853 Stifter offiziell gegenüber dem Vorstand der Centralcommission Freiherrn Karl Czoernig von Czernhausen in Vorschlag. Das Emennungsdekret unterzeichnete schließlich am 15. Dezember
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Zur Geschichte der institutionalisierten Denkmalpflege in Österreich, auch im internationalen Kontext, vgl. Walter Frodi: Idee und Verwirklichung. Das Werden der staatlichen D e n k m a l p f l e g e in Österreich. Wien/Köln/Graz 1988. Adalbert Stifter in der .Linzer Zeitung' Nr. 29 vom 11. Februar 1953; zit. nach Jungmair (o. A n m . 1), S. 27. SW. Bd. 18, S. 146f.
Adalbert Stifter als „Conservator"
(1853-1865)
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1853 Handelsminister Andreas Freiherr von Baumgartner, den Stifter seit seiner Wiener Hochschulzeit kannte. Dem Dekret fügt Freiherr von Czoernig die anerkennenden Worte bei: „Die Centralcommission erblickt in Ew.", heißt es in dem Schreiben, „einen ebenso verdienstvollen, als eifrigen Forscher, und einen gleich ausgezeichneten Beschützer der vorhandenen historischen Denkmale und der Überreste alter Kunstbildung." 1 0 Die Funktion als Conservator von Oberösterreich endete mit Stifters Pensionierung 1865 und wurde nicht nachbesetzt. Stifter war also nach der Revoluton nicht mehr allein Privatlehrer, Maler und Dichter, sondern Schulinspektor und staatlicher Conservator, ja selbst Möbelrestaurator, Kunstreferent des Linzer Museums, Kunstkritiker in der ,Linzer Zeitung', schließlich engagiertes Mitglied des ,Oberösterreichischen Kunstvereins' und des .Diözesanvereins für christliche Kunst'. Goethes Rat zur „Teilnahme an der äußeren Welt" war Folge getan. Was war nun der Aufgabenbereich des ehrenamtlichen Conservators? Dazu gab es Richtlinien der Kommission, nämlich die .Grundzüge einer Instruktion' von 1850 und von 1853 .Gesetzliche Bestimmungen über den Wirkungskreis der Κ. K. Centralcommission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale, der Conservatoren und B a u b e a m t e n ' . " In den .Bestimmungen' von 1853 sind die „Obliegenheiten" der ehrenamtlichen Conservatoren genau geregelt. Neben den allgemeinen Voraussetzungen, wie gute Kenntnis des Denkmalbestandes (§ 4), Förderung des Denkmalbewußtseins (§4), Erstellung eines Denkmalinventars anhand von Formblättern etc., gibt es auch konkrete konservatorische und restauratorische Richtlinien ( § § 6 und 7). „Dem Conservator liegt", heißt es in §6, „die Sorge für die Überwachung und die Vermittlung zur Erhaltung der Baudenkmale seines Bezirkes ob." Und weiter: „Die Restaurationen der hierzu würdig erkannten Baudenkmale werden sich in der Regel auf die dauerhafte Erhaltung ihres dermaligen Bestandes, auf die Reinigung und die Befreiung von ihnen nicht angehörigen schädlichen Zuthaten oder Beiwerken beschränken. Sie werden sich auf die Herstellung oder Erhaltung der Eindeckung, Befestigung locker gewordener Bestandtheile, auf die Erneuerung des Bindemittels verwitterter Fugen durch Befestigung mit Mörtel oder andere Mittel, oder auf die Ergänzung solcher Theile ausdehnen, durch deren Mangel ein weiterer Verfall die Folge ist. Sie haben sich aber nicht auf die Ergänzung abgängiger, in den Charakter oder den Baustyl eingreifender Bestandtheile zu erstrecken, selbst wenn eine solche Ergänzung in dem Geiste der Ueberreste vorzunehmen beab-
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Z. 2078 / HM; zit. nach Jungmair (o. Anm. 1), S. 35. Zuletzt abgedruckt bei Frodi (o. Anm. 7), S. 192-195, S. 196-204.
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Wilfried Lipp
sichtiget würde." Und im § 7 heißt es: „Daß nicht unnöthigerweise Baubestandtheile beseitigt oder verändert werden, welche in die Wesenheit zur Erkennung desselben als ein bestimmtes kunstgeschichtliches Baudenkmal eingreifen." Neben den Bestimmungen für die Conservatoren wurden auch „Instruktionen für die Κ. K. Baubeamten" erlassen, deren Aufgabe im wesentlichen ja darin bestand, „die Conservatoren in ihrem Wirken zu unterstützen, oder deren Obliegenheiten zeitweise zu übernehmen" (§3). Stifter hatte - wie aus dem Brief an Antonie Arneth hervorgeht - bereits vor seiner Bestellung zum Conservator der Centralcommission mit kunsttopographischen Erhebungen und Aufzeichnungen begonnen, und auch der Beginn der Restaurierungsarbeiten am Kefermarkter Altar 1852 fällt ja noch in die Zeit vor der offiziellen Konservatorentätigkeit. Seit seiner Bestellung zum Inspektor der oberösterreichischen Pflichtschulen konnte Stifter die im Rahmen dieses Dienstes notwendigen Bereisungen mit seinen Denkmalinteressen verbinden. 1854 wurden die bisherigen Landesschulbehörden jedoch aufgehoben, die Leitung des Schulwesens wurde den politischen Landesstellen übertragen, die dazu ein Unterrichtsdepartment einrichteten. Die selbständige Stellung des Schulrates Stifter hatte damit aufgehört, seine „amtliche Zwangsarbeit" 1 2 hatte begonnen. In einem Brief vom 7. Juli 1855 kommt die Enttäuschung über die kränkenden und in der Tat auch krankmachenden Zustände zum Ausdruck (im August des Jahres trat Stifter erstmals nach fünf Jahren einen dreiwöchigen Urlaub auf dem Rosenbergergut in den Lackenhäusern am Dreisesselberg an): „Mein Amt als Schulrath als Conservator für Oberösterreich als Vice-Vorstand des Kunstvereines als Referent des Museums dann meine Liebhabereien als Dichter Maler Restaurateur alter Bilder und Geräthe nebst Gerumpel, wozu mich noch im vorigen Sommer die Cactusnarrheit überfallen hat, reiben wahrhaftig eine Riesennatur auf, um so viel mehr die meinige. [...] Zudem muß ich noch obendrein meine Obliegenheiten überhudeln, die Tischlerei vernachlässige ich heillos, in der Malerei habe ich 13 Bilder seit 8 Jahren angefangen und keines vollendet, [...] und das Heiligste Theuerste [...] ist mir die Schriftstellerei. [...] Aber schwerer viel schwerer ist mir die Sache geworden, da mein Amt Zeit und Stimmung zerstört". 1 3 Der Umfang der Tätigkeit als Conservator geht im wesentlichen aus den Sammelberichten an die Centralcommission hervor. Im Schreiben vom 13. Februar 1855 ist u.a. von den Restaurierungsarbeiten bzw. -vorhaben in Kefermarkt, Braunau und Steyr die Rede, weiters wird angekündigt, über „die altdeutschen Altäre in Teichstätt im Innkreise, dann in Waldburg, St. Michael, Besenbach und St. Leonhard im Mühlkreise, dann zu Hallstatt und St. Wolfgang im Traunkreise [...] abgesondert [zu] be12 13
Zit. nach J u n g m a i r (o. A n m . 1), S. 90. SW. Bd. 18, S. 270f.
Adalbert Stifter als „Conservator"
(1853-1865)
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richten, da er [Stifter] wegen seiner Krankheit das gesammelte Material noch nicht zu ordnen vermocht hat". 1 4 Ein weiterer Sammelbericht von 21. Oktober 1857 15 handelt abermals von den Maßnahmen in der Stadtpfarrkirche von Steyr und der Restaurierung des spätgotischen Flügelaltares der Filialkirche Pesenbach (zu St. Florian gehörig). Erwähnt werden auch noch die Arbeiten in der Stadtpfarrkirche Wels (neugotischer Altar von Stolz anstatt eines „Zopfaltares") und die offensichtlich ohne weitere Mitwirkung Adalbert Stifters begonnene Restaurierung des Pacher-Altares in St. Wolfgang. Stifter bedauert in dem Bericht schließlich, vom Vorhaben „zum Ausbaue des schönen Thurmes der schönen gothischen Kirche zu Braunau wieder abstehen zu müssen", zumal durch die Gründung des Linzer Dombauvereins zur Errichtung des Mariendoms nun alle Mittel auf dieses „großartige Unternehm e n " konzentriert werden würden. 1 6 Der unter Bischof Franz Josef Rudigier vom Kölner Dombaumeister Vinzenz Statz errichtete Bau setzt die Nationaldenkmal-Idee auf regionaler Ebene fort. 1 7 Man sollte annehmen, daß gerade dieses Vorhaben Stifter besonders bewegte. Die Äußerungen Stifters in seinem Beitrag in der .Linzer Zeitung' Nr. 18 (I860) 1 8 sind jedoch kritisch und eher zurückhaltend. Auf das .Programm' des Baus geht Stifter nicht ein. Seine Auseinandersetzung mit der Nationaldenkmal-Idee erfolgt indirekt und literarisch: im ,Witiko'. Die Aufzählung dieser wichtigsten von Stifter in seiner Eigenschaft als Conservator der Κ. K. Centralcommission mit in die Wege geleiteten, zum Teil betreuten und verantworteten Restaurierungsvorhaben muß hier unter Verweis auf die ausführliche Darstellung bei Otto Jungmair und die kritischen Ergänzungen bei Norbert Wibiral genügen. 1 9 Um der Beantwortung der Frage nach Stifters Denkmalbegriff näherzukommen, ist es zunächst notwendig, die restauratorische Praxis Stifters im Rahmen der nationalen und internationalen Tendenzen zu skizzieren. Oder anders ausgedrückt: Befand sich Stifter mit seiner Restaurierauffassung im Konsens der Denkmalpflege seiner Zeit, oder gibt es Kennzeichen der Verspätung oder des Vorausseins? 14 15 16 17
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SW. Bd. 14, S. 340. Ebd., S. 3 4 4 - 3 5 5 . Ebd., S. 354. Vgl. v.a.: Ulrike Planner-Steiner: Der Linzer Dom - eine D e n k m a l k i r c h e . In: Mitteilungen der Gesellschaft f ü r vergleichende Kunstforschung in Wien 35 (1983) Nr. 4; wiederabgedruckt in: Kirche in Oberösterreich. 200 Jahre Bistum Linz. Katalog der oberösterreichischen Landesausteilung. Linz 1985, S. 2 5 9 - 2 6 3 . Vgl. ferner Erika Doberer: Ein Dom des neunzehnten Jahrhunderts. In: Oberösterreichische Heimatblätter 5 (1951), S. 2 0 0 - 2 2 1 . SW. Bd. 14, S. 2 5 7 - 2 6 1 . Vgl. o. A n m . l .
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Ein Pasticcio einiger Stellen und B e g r i f f e aus Stifters Berichten gibt darüber ersten A u f s c h l u ß : Z u n ä c h s t ist daran zu erinnern, daß Stifters konservatorischer E i f e r - mit A u s n a h m e a r c h ä o l o g i s c h e r Belange - a u s s c h l i e ß l i c h mittelalterlicher Kunst und A r c h i t e k t u r galt. Im Z u s a m m e n h a n g mit dem Kef e r m a r k t e r A l t a r 2 0 ist z.B. von „ Z u t h a t e n " des vorigen J a h r h u n d e r t s (also des 18.) die Rede, „die g e r a d e z u a b s c h e u l i c h und barbarisch sind", 2 1 weiters von „barbarischen S e i t e n a l t ä r e n " , 2 2 auch d a v o n , daß „die H a u p t f i g u r , der heil. W o l f g a n g , durch Vergoldung, dann durch Verklebung und B e m a l u n g des Angesichts erst in neuester Zeit verunstaltet w o r d e n " 2 3 sei und damit „ein n e u e s , u n a u s s p r e c h l i c h g e m e i n e s und widrig sinnliches A n g e s i c h t " 2 4 erhalten habe. Die U r s a c h e erklärt sich f ü r Stifter „aus dem Verfalle j e d e s K u n s t s i n n e s und j e d e r K e n n t n i ß der Kunst seit d e m s e c h z e h n t e n J a h r h u n d e r t e bis auf unsere Zeiten, b e s o n d e r s aus der mit d e m e n t w e i h t e n N a m e n . v e r n ü n f t i g ' belegten Barbarei des vorigen J a h r h u n d e r t s " . 2 5 Von „abscheulichen V e r b e s s e r u n g e n " 2 6 ist die R e d e , überhaupt, d a ß der K e f e r m a r k t e r Altar „durch Zeit und Barbarei viel gelitten" 2 7 hätte. D a h e r sei es n o t w e n d i g g e w o r d e n , „eine W i e d e r h e r s t e l lung in d e m u r s p r ü n g l i c h e n Sinne e i n z u l e i t e n " . 2 8 Auch bei der S t a d t p f a r r k i r c h e von Braunau werden die „ g e s c h m a c k l o s e n A l t ä r e " beklagt, und d a ß die K i r c h e durch „Stuckarbeit von B l u m e n und Früchten entstellt" sei. 2 9 Zu noch s c h ä r f e r e m Urteil k o m m t Stifter in A n b e tracht des Turms der Kirche: „Der T h u r m der Kirche ist [zwar] einer der schönsten gothischen T h ü r m e , er läuft v e r j ü n g t zu, allein er ist nur e t w a s über a u s g e b a u t , dann hat m a n eine g e r a d e Mauer a u f g e s e t z t , und darauf eine Kuppel gestellt, w e l c h e r Anblick e t w a s u n g e m e i n Widerliches h a t . " 3 0 A u c h die rigorose r e g o t i s i e r e n d e Wiederherstellung der S t a d t p f a r r k i r c h e von Steyr 3 1 wird durch Vokabel wie „entstellt", „zerstört", „ v e r s t ü m m e l t " etc. legitimiert. 3 2
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Zur Restaurierung unter Stifter vgl. Benno Ulm: Adalbert Stifters Kunstanschauung und die Restaurierung des Kefermarkter Altars. In: Christliche Kunstblätter 1 (1960), S. 9 - 1 4 . Zit. nach Jungmair (o. Anm. 1), S. 46. Ebd., S. 47. Jungmair (o. Anm. 1), S. 47, eine Formulierung Stifters aus dem Aufsatz .Ueber den geschnitzten Hochaltar in der Kirche zu Kefermarkt' (SW. Bd. 14, S. 2 6 9 - 2 8 7 ) paraphrasierend: S. 284. SW. Bd. 14, S. 284. Ebd., S. 269. Ebd., S. 270. Ebd., S. 282. Ebd., S. 284. Ebd., S. 338. Ebd., S. 339. Zu Baugeschichte und Restaurierungen vgl. Rudolf Koch, Bernhard Prokisch: Stadtpfarrkirche Steyr. Steyr 1993. Zitate nach Jungmair (o. Anm. 1), S. 1 lOf.
Adalbert Stifter als ., Conservator
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(1853-1865)
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Diese H i n w e i s e m ü s s e n in Z u s a m m e n h a n g mit der sattsam bekannten G e schichte um die E n t f e r n u n g der wie auch i m m e r zu klassifizierenden Fass u n g s r e s t e des K e f e r m a r k t e r Altares (worauf hier nicht näher e i n g e g a n g e n wird) wie ü b e r h a u p t mit d e r , F r e i l e g u n g s ' - bzw. . M a t e r i a l s i c h t i g k e i t s ' - P r a x i s einerseits und d e m k o r r e s p o n d i e r e n d e n N e u w e r t i g k e i t s s t r e b e n andererseits gen ü g e n , um S t i f t e r e i n d e u t i g als einen beherzten und überzeugten Verfechter des Postulats d e r , S t i l e i n h e i t ' und .Stilreinheit' zu sehen. 3 3 Mit dieser A u f f a s s u n g w a r S t i f t e r d u r c h a u s im E i n k l a n g mit den nationalen und i n t e r n a t i o n a l e n H a u p t s t r ö m u n g e n . Diese k u l m i n i e r t e n in der .doctrine de l ' u n i t é de s t y l e ' , e i n e r von F r a n k r e i c h und E n g l a n d b e s o n d e r s geprägten ges a m t e u r o p ä i s c h e n E r s c h e i n u n g , die in Viollett le Duc, der 1871 zum Ehrenmitglied der Κ. K. A k a d e m i e der bildenden Künste in Wien ernannt wurde, und Gilbert Scott ( 1 8 1 1 - 1 8 7 9 ) ihre b e d e u t e n d s t e n P r o p o n e n t e n hatte. 3 4 Der G r u n d s a t z d i e s e r . d o c t r i n e ' war die W i e d e r h e r s t e l l u n g fiktiver .originaler' Z u s t ä n d e , ein . Z u r ü c k r e s t a u r i e r e n unter Tilgung des Faktors Z e i t ' , d.h. der seit der E n t s t e h u n g des W e r k s w e c h s e l v o l l e n . L e b e n s g e s c h i c h t e ' des Denkmals. Unter d i e s e n P r ä m i s s e n sind auch Stifters Ä u ß e r u n g e n zu verstehen, wenn er d a v o n spricht, die „ K u n s t d e n k m ä l e r auch zu achten, sie zu schützen, zu erhalten und d i e s e l b e n , wenn sie durch Zeit und Barbarei gelitten hätten, wieder, soweit es m ö g l i c h ist, in den u r s p r ü n g l i c h e n Stand zu setzen", und somit eine „ W i e d e r h e r s t e l l u n g in d e m u r s p r ü n g l i c h e n Sinne e i n z u l e i t e n " . 3 5 Die Haltung d e r C e n t r a l c o m m i s s i o n war im ersten Jahrzehnt nach der G r ü n d u n g d u r c h a u s n o c h nicht e i n d e u t i g f e s t g e l e g t , und es ist ein b e m e r k e n s w e r t e s P h ä n o m e n , d a ß die g r o ß e Welle der „ o f f e n s i v e n D e n k m a l p f l e g e " mit ihrem Postulat der . s t i l g e r e c h t e n R e s t a u r i e r u n g ' in Österreich erst ab etwa der Mitte der sechziger J a h r e d e s 19. J a h r h u n d e r t s voll d u r c h g r i f f . 3 6 Insofern kann man Stifters d e n k m a l p f l e g e r i s c h e Praxis d u r c h a u s auch unter dem Aspekt der Vorw e g n a h m e u n m i t t e l b a r b e v o r s t e h e n d e r E n t w i c k l u n g e n sehen. Für die in den f ü n f z i g e r Jahren noch nicht d o g m a t i s c h auf das Prinzip der . S t i l e i n h e i t ' und . S t i l r e i n h e i t ' f e s t g e l e g t e C e n t r a l c o m m i s s i o n sprechen die . G e s e t z l i c h e n B e s t i m m u n g e n ' von 1853. S o heißt es im § 6 einerseits, daß sich die R e s t a u r i e r u n g e n „nicht auf die E r g ä n z u n g abgängiger, in den Charakter o d e r den B a u s t y l e i n g r e i f e n d e r B e s t a n d t h e i l e zu erstrecken [habe], selbst wenn eine s o l c h e E r g ä n z u n g in d e m Geist der Ü b e r r e s t e v o r z u n e h m e n beabsichtigt würde". (Weiter heißt es auch hier einschränkend: „Diese Restaurationen
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Dazu wie auch zum folgenden bes. Wibiral (o. Anm. 1). Vgl. u.a.: Frodi (o. A n m . 7). S. 144. SW. Bd. 14, S. 281f., S. 284. Max Dvoiák: Einleitung. In: Österreichische Kunsttopographie. Bd. 1, S. X I I I - X X I I . Wien 1907. Wiederabgedruckt in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 28 (1974), H. 3, S. 105-114.
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gehören zu den selteneren Fällen"). Andererseits wird im selben § 6 bestimmt, daß die „Befreiung [...] von schädlichen Zuthaten oder Beiwerken" zu den restauratorischen Orientierungen gehört. 3 7 Würde man die Entwicklung der Denkmalpflege unter diesem Aspekt des Statuts von 1853 charakterisieren, so verläuft der Prozeß der mehr oder minder in Praxis mündenden Theoriebildung von der Auffassung der Wegnahme „schädlicher Zuthaten" bei gleichzeitiger Zurückhaltung hinsichtlich der „Ergänzung [...] abgängiger B e s t a n d t e i l e " hin zur hemmungslosen Hinzufügung und Wegnahme in Legitimation .puristischer' Vorstellungen. Max Dvoiák definiert anläßlich der gemeinsamen Tagung für Denkmalpflege und Heimatschutz 1911 rückblickend diese von den sechziger Jahren an herrschende „Welle des Restaurierens" als „Selbstzweck", als „Entartung einer bestimmten Kunstrichtung, der Kunstrichtung der historisierenden Stile", als „Periode, der weit mehr Denkmäler zum Opfer gefallen sind, als je durch Kriege und Revolutionen vernichtet wurden". 3 8 Als Reaktion darauf, Abkehr und geschichtliche Kehre, entsteht der „moderne Denkmalkultus", für den Alois Riegl 1903 als ein Grundprinzip „nichts hinzutun - nichts hinwegnehmen" formulierte, 3 9 ein Programm, das Georg Dehio in das Postulat „Konservieren, nicht restaurieren" 4 0 komprimierte und das schließlich denkmaltheoretisch auch in das Leitmotiv eines „non toccare" 4 1 mündete. Wenn man Stifter insbesondere in Anbetracht der Regotisierungsmaßnahmen in der Stadtpfarrkirche von Steyr oder der Wunschvorstellung der go tischen Vollendung des Braunauer Kirchturms als stilpuristischen .Trendsetter' bezeichnen könnte, so gibt es doch auch eine ganze Reihe von Hinweisen, die Stifter mit der um 1900 reformierten .modernen' Denkmalpflege verbinden. Wie schon erwähnt, gab es in der Centralcommission der fünfziger Jahre eine gegen den eigentlichen Zeitgeist gerichtete Gegen- oder Unterströmung, wobei - wie bei historischen Prozessen oftmals - zwischen konservatorischer Beharrung und revolutionärer Vorwegnahme einer Entwicklung, für die die Zeit noch nicht reif war, wohl nicht trennscharf unterschieden werden kann. Jedenfalls hat die Centralcommission z.B. der von Architekt L. Ernst vorgeschlagenen Entfernung aller „römisch-zopfigen" Altäre aus der Wiener Ste-
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Zit. nach Frodi (o. A n m . 7). Max D v o i á k : D e n k m a l p f l e g e in Österreich. Wiederabgedruckt in: Österreichische Zeitschrift f ü r Kunst und D e n k m a l p f l e g e 28 (1974), H. 3, S. 131 f. Alois Riegl: Der m o d e r n e Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung. Wien/ Leipzig 1903. Dazu ausführlich: Marion Wohlleben, Georg Mörsch (Hrsg.): Georg Dehio - Alois Riegl. Konservieren nicht Restaurieren. Streitschriften zur Denkmalpflege um 1900. Braunschweig 1988. Darin die relevanten Texte im Wiederabdruck. Schlagwort s i n n g e m ä ß geprägt von Cesare Brandi. Vgl. Cesare Brandi: Teoria del Restauro. R o m a 1963.
Adalbert Stifter als „Consen'ator"
(1853-1865)
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phanskirche nicht entsprochen. In St. Wolfgang, 4 2 das bekanntlich ja ohne eigentliche Mitwirkung Stifters unter der Leitung des von der Centralcommission vorgeschlagenen Architekten und Ingenieurs Hermann Bergmann restauriert wurde, wurden die Vorschläge des Gutachtens des Bildhauers Michael Stolz und des Historienmalers Georg Mader von 1857 nicht akzeptiert, wonach eine durchgreifende Regotisierung des Kirchenraumes beabsichtigt war. Vorgesehen war eine Neuausmalung der Raumschale mit blauem Himmel und goldenen Sternen, eine Polychromierung der Architekturglieder unter Mitverwendung von Gold und wohl auch nach und nach ein Ersatz der barokken Altäre durch neugotische. Die Ablehnung dieses rigoros regotisierenden Konzepts ist der Gutachtens-Überprüfung durch Akademiedirektor Christian Ruben zu verdanken, der wohl auch seine Vorbehalte gegen Stifter geltend machte. Der von der Centralcommission zur Leitung der Restaurierung von St. Wolfgang bestimmte Architekt Bergmann besichtigte im übrigen in Zusammenhang mit dieser Tätigkeit mehrere Altäre in Oberösterreich, darunter den vom Maler und Bildhauer Ferdinand Scheck unter der konservatorischen Betreuung Adalbert Stifters restaurierten Altar der Filialkirche von Pesenbach. Dieser Altar wurde unmittelbar nach der in Linz erfolgten Restaurierung im Landhaus ausgestellt, wo ihn Bergmann in Augenschein nahm: Sein Urteil richtet sich bemerkenswerterweise gegen den „Neuheitswert", 4 3 der ja auch eine Konsequenz der Forderung nach ,Stileinheit' war: „Leider ist dieser Altar gänzlich neu bemalt und vergoldet worden." 4 4 Stifter sah das jedoch anders: In seinem Aufsatz ,Alte Kunst in Oberösterreich' in der ,Linzer Zeitung' vom 20. November 1857 schreibt er: „Von den Gemälden sind die Urfarben geblieben und nur gereinigt worden; bloß die Stellen, an denen die Farbe fehlte, sind mit der umgebenden Farbe ergänzt worden. [...] Wo Gold war, wurde wieder Gold aufgelegt und so durchaus nach dem Alten vorgegangen." Und weiter: „Man kann auf diese Schonung des auf uns herüber Gekommenen nicht nachdrücklich genug aufmerksam machen, da es noch immer Menschen gibt, [...] die glauben, der Wiederhersteller müsse die Fehler des ursprünglichen Werkes bei der Wiederherstellung verbessern. Durch die große Genauigkeit, Reinheit und Sorgfalt, welche auf die Arbeit verwendet worden ist, steht der Altar gleichsam wieder wie neu aus den Händen des ersten Meisters gekommen vor unsern Augen." 4 5 Die einander scheinbar gegenläufigen Werturteile Bergmanns und Stifters sind aufschlußreich. So sehr das Restaurierungsergebnis auch in der Tat neuheitswertig gewesen sein mag, so geht andererseits aus Stifters Schilderung der große Respekt vor dem Original hervor, er vergleicht das Kunstwerk mit
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Vgl. Norbert Wibiral, Manfred Koller (o. Anm. 1). Begriff von Alois Riegl (o. Anm. 39). Zit. nach Wibiral (o. Anm. 1), S. 233. SW. Bd. 14, S. 291.
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„alten U r k u n d e n " , an d e n e n m a n „Stil- und S c h r e i b f e h l e r " auch nicht a u s b e s serte. 4 6 Es ist - liest m a n S t i f t e r s A u f s a t z in dieser R i c h t u n g - nur ein kleiner, letzlich r e s t a u r i e r t e c h n i s c h e r S p r u n g zur m o d e r n e n D e n k m a l p f l e g e . Im . N a c h s o m m e r ' , in d e r a u s f ü h r l i c h e n S c h i l d e r u n g einer G e m ä l d e r e s t a u r i e r u n g , bes t i m m t S t i f t e r - ü b e r die P r a x i s seiner Zeit h i n a u s g e h e n d - das Qualitätsniveau e i n e r n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h - t e c h n i s c h e n R e s t a u r i e r u n g d a h i n g e h e n d , d a ß n u r n o c h d a s „ V e r g r ö ß e r u n g s g l a s " die A u s b e s s e r u n g e n zeigte. 4 7 Von d e r F o r d e r u n g „ d e r S c h o n u n g des auf uns herüber G e k o m m e n e n " f ü h r t d e r W e g s c h l i e ß l i c h zur d e n k m a l p f l e g e r i s c h e n B e r ü c k s i c h t i g u n g d e s „ g e w o r d e n e n Z u s t a n d e s " , w e n n auch Stifter diesen Schritt nicht tun wollte (oder k o n n t e ) . S t i f t e r s D e n k m a l b e g r i f f war statisch, der des 20. J a h r h u n d e r t s sollte d y n a m i s c h bis hin zur Flüchtigkeit des E p h e m e r e n w e r d e n . 4 8 Die D y n a m i s i e r u n g bzw. P r o z e s s u a l i s i e r u n g des D e n k m a l b e g r i f f s , also j e n e aus d e r Sicht der f ü n f z i g e r J a h r e des 19. J a h r h u n d e r t s noch „ u n g e w o r d e n e (ja u n v o r s t e l l b a r e ) Z u k u n f t " d e r m o d e r n e n D e n k m a l p f l e g e , mit der E m p o r w e r tung der am D e n k m a l a n s c h a u l i c h e n Schicksals- und W i r k u n g s g e s c h i c h t e mit all ihren z e i t b e d i n g t e n und z e i t d r a m a t i s c h e n Veränderungen - idealtypisiert in der „ K u l t u r i d e e " des „ A l t e r s w e r t s " Alois R i e g l s 4 9 - hat ihrerseits natürlich e b e n f a l l s G e s c h i c h t e . Zieht m a n im K o o r d i n a t e n s y s t e m dieser G e s c h i c h t e die Z e i t h o r i z o n t a l e zu A d a l b e r t Stifter, dann zielt diese Linie in der einen Richtung nach F r a n k r e i c h , w o es in M ä n n e r n wie Didron und G e n e r a l i n s p e k t o r Vitet v e h e m e n t e G e g n e r d e r Doktrin Viollett le D u c s gegeben hat, 5 0 in der anderen R i c h t u n g nach E n g l a n d auf John Ruskin, 5 1 g e n a u e r - und in u n s e r e m Z u s a m m e n h a n g auch d e l i k a t e r - nach Venedig, das seit 1849 wieder österreic h i s c h war, w o sich R u s k i n von 1845 bis 1853 aufhielt. R u s k i n , 1819 g e b o r e n - also einen halben G e n e r a t i o n s s p r u n g j ü n g e r als S t i f t e r - , P r o t e s t a n t , E n k e l eines mit dem Glück h a s a r d i e r e n d e n , im Suizid end e n d e n , aus E d i n b u r g h s t a m m e n d e n W e i n h ä n d l e r s und Sohn eines r e c h t s c h a f f e n e n K a u f m a n n e s , d e r z u m e r f o l g r e i c h s t e n S h e r r y h ä n d l e r E n g l a n d s avancierte, ist in vielerlei H i n s i c h t d i e m o d e r n e K o n t r a s t f i g u r zu Stifter; aber bei allen G e g e n s ä t z e n gibt es a u c h g r o ß e G e m e i n s a m k e i t e n , die über den Z e i t h o r i z o n t hinausweisen.
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Ebd. SW. Bd. 7, S. 110. Vgl. Wilfried L i p p (Hrsg.): Denkmal - Werte - Gesellschaft. Zur Pluralität des Denkm a l b e g r i f f s . F r a n k f u r t a . M . / N e w York 1993. Vgl. o. A n m . 39. Vgl. Frodi (o. A n m . 7), S. 1 4 4 - 1 4 7 . Zu Person und Wirken vgl. Wolfgang Kemp: John Ruskin. Leben und Werk. M ü n c h e n / Wien 1983; Michael Wheeler, Nigel Whiteley (Hrsg.): The lamp of memory. Ruskin, tradition and architecture. Manchester 1992.
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T h e . S t o n e s of Venice' ( 1 8 5 1 - 5 3 ) ist das l i t e r a r i s c h e E r g e b n i s von R u s k i n s v e n e z i a n i s c h e n J a h r e n , e i n g e s c h o b e n in die A r b e i t e n am O p u s m a g n u m d e r , M o d e r n P a i n t e r s ' , d e s s e n erster B a n d 1843 e r s c h i e n . 1849 p u b l i z i e r t e R u s k i n den eigentlichen Vorläufer der , S t o n e s of V e n i c e ' , . T h e S e v e n L a m p s of Arc h i t e c t u r e ' , 5 2 das E r g e b n i s der H o c h z e i t s r e i s e d u r c h die N o r m a n d i e . Die Werke d e s M e n s c h e n , die M o n u m e n t e , die D i n g e sind es, die R u s k i n w ä h r e n d seiner v e n e z i a n i s c h e n Jahre b e s c h ä f t i g e n und ihn rastlos an d e r bildlichen D o k u m e n t a t i o n der B a u w e r k e und B a u d e t a i l s a r b e i t e n lassen. „ W i e ein Stück Z u c k e r im Tee, so schnell schmilzt Venedig d a h i n . [...] All die W a n d lungen zum S c h l e c h t e n , die ich j e m a l s in einer b e s t i m m t e n Z e i t s p a n n e b e o b achten konnte, w e r d e n von der E n t w i c k l u n g Venedigs ü b e r t r o f f e n . D a s grenzt an V e r n i c h t u n g . " 5 3 Im D e z e m b e r 1845 schreibt Ruskin nach H a u s e : „ D u k a n n s t Dir nicht vorstellen, was f ü r e i n e n u n g l ü c k l i c h e n Tag ich g e s t e r n hatte, als ich vor der Casa d ' O r o saß und vergeblich v e r s u c h t e , sie zu z e i c h n e n , w ä h r e n d A r b e i t e r sie vor meinen A u g e n demolierten [ . . . ] stelle Dir ein A r b e i t e n vor, w e n n verd a m m t e M a u r e r S t a n g e n h o c h z i e h e n und die alten M a u e r n e i n s c h l a g e n und dabei P r o f i l e a b b r e c h e n [ . . . ] Venedig ist f ü r m i c h v e r l o r e n . " 5 4 Ruskin s t e m m t sich gegen diesen d r o h e n d e n und f a k t i s c h e n Verlust mit der O h n m a c h t der D o k u m e n t a t i o n , er faßt den Vorsatz, alle b y z a n t i n i s c h e n und g o t i s c h e n B a u w e r k e auf den fünf Q u a d r a t m e i l e n d e r L a g u n e n s t a d t zu zeichnen und zu v e r m e s s e n „stone by stone". „Die A n a l y s e , " schreibt R u s k i n , „ist ein w i d e r w ä r t i g e s G e s c h ä f t . [...] w e n n ich Sie nur e i n e n M o m e n t lang erleben lassen k ö n n t e , w a s ich e r l e b e , w e n n ich auf d e m Kanal f a h r e und meine Arbeit tue, w e n n sich Venedig m i r in G e stalt so vieler , P r o f i l e ' darbietet und j e d e s G e b ä u d e in mir n u r A s s o z i a t i o n e n von m e h r oder w e n i g e r P r o v o k a t i o n , P r o b l e m e n und Pein a u s l ö s t . " 5 5 In den drei B ä n d e n der ,Stones of Venice' ist n u r ein k l e i n e r Teil d e s s e n a u f g e n o m m e n , w a s R u s k i n i n s g e s a m t bildlich f e s t g e h a l t e n hat, i m m e r h i n sind auch das noch über 1000 A b b i l d u n g e n , ü b e r w i e g e n d A r c h i t e k t u r t e i l e , Verg ä n g l i c h k e i t s - D i n g e einer v e r l u s t b e d r o h t e n Welt. Was in diesen w e n i g e n T e x t d o k u m e n t e n z u m A u s d r u c k k o m m t , ist das R i n g e n mit der A k z e l e r a t i o n der Zeit, eben mit der D y n a m i s i e r u n g der G e s c h i c h t e , mit d e m Fortschritt auf der e i n e n und d e r - im S i n n e t r a d i t i o n e l l e r W e r t m a ß stäbe, und Stifter darin d u r c h a u s v e r w a n d t - S t a g n a t i o n d e r K u l t u r auf d e r anderen Seite. Die aus d e r Situation der v i e r z i g e r und f ü n f z i g e r J a h r e in Venedig
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In deutscher Übersetzung Leipzig 1900. - „Die s o g e n a n n t e Restaurierung ist die schlimmste Art der Zerstörung von B a u w e r k e n " , heißt es in § 18, 31. Lehrsatz, S. 363. Zit. nach K e m p (ο. Αητη. 51), S. 147. Ebd. Ebd., S. 152.
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u n g e l i e b t e n , j a g e h a ß t e n Ö s t e r r e i c h e r haben Venedig diesen M o d e r n i s i e r u n g s s c h u b v e r p a ß t : E i s e n b a h n , G a s l a t e r n e n , O m n i b u s g o n d e l n - der Vorschlag, den C a n a l e G r a n d e t r o c k e n z u l e g e n , um die Paläste zu retten, wird Gott sei D a n k nicht b e f o l g t . Vergessen sollte man in Zeiten der D e n k m a l s c h ä n d u n g e n in den K r i e g e n a m B a l k a n auch nicht die Absicht der Österreicher, im Falle der N i c h t - K a p i t u l a t i o n d e r Venezianer, die sich 1848 gegen Österreich e r h o b e n h a t t e n , die Stadt mit ihrem historischen Zentrum San Marco, der Piazza und d e m D o g e n p a l a s t , d e m „ M e e r e s s p i e g e l " g l e i c h z u m a c h e n . Ruskin hat diese politischen H i n t e r g r ü n d e und A b s i c h t e n nie vergessen und immer w i e d e r darauf aufmerksam gemacht. W e s h a l b hier S t i f t e r und R u s k i n - beide hatten voneinander nicht die geringste K e n n t n i s - m i t e i n a n d e r in Beziehung gebracht werden, ist v o r a l l e m , um d a s P a r a d i g m a d e r „Gleichzeitigkeit des U n g l e i c h z e i t i g e n " zu verdeutlichen. H i e r Stifter, der sich literarisch und konservatorisch h i n e i n t r ä u m t in das Mittelalter, f r e i l i c h beseelt von der Z u k u n f t s - H o f f n u n g im V e r g a n g e n e n (um an eine F o r m u l i e r u n g Peter Szondis 5 6 a n z u k n ü p f e n ) . Dort R u s k i n , rastlos b e m ü h t , die T i l g u n g der Zeit wenigstens d o k u m e n t a r i s c h f e s t z u h a l t e n , d e m Vergessen d u r c h bildliche E r i n n e r u n g entgegenzuarbeiten: ü b e r f o r d e r t trotz aller A n s t r e n g u n g , trotz d e r impressionistischen, oft f r a g m e n t a r i s c h e n , auf S c h n e l l i g k e i t g e r i c h t e t e n A u f n a h m e n , die er - nach eigenen Worten - „auf die e i n f a c h s t e und d e u t l i c h s t e Weise in g r ö ß t m ö g l i c h e r Z a h l " a u s f ü h r t e . „Ich werde ständig d u r c h w i d e r s t r e i t e n d e A n f o r d e r u n g e n in Stücke gerissen: j e d e s Werk der A r c h i t e k t u r ist im Verfall begriffen und alle Werke d e r Kunst s c h w i n d e n d a h i n - ich m ö c h t e j e d e s Haus zeichnen und j e d e s Bild studieren, aber es geht n i c h t . " 5 7 R u s k i n ist e n g a g i e r t e r Z e i t z e u g e , „rasender Reporter". An den M o n u m e n t e n , diesen g r o ß e n , s c h w e i g e n d e n Dingen, erkennt er das u n a u f h a l t s a m T r a n s i t o r i s c h e , das letzlich im Verfall oder in der S c h ä n d u n g o d e r im Vers c h w i n d e n den Preis um ein Neues, ein A n d e r e s hat. Und t r o t z d e m : „Vom Salz der M e e r e s w i n d e z e r f r e s s e n , vom Frost zerspalten, von P f l a n z e n w u r z e l n g e s p r e n g t , die n i e m a l s beseitigt wurden, von verrosteten E i s e n d ü b e l n nicht m e h r g e h a l t e n , d u r c h b r o c h e n durch Z i e g e l m a u e r w e r k für neue A n b a u t e n , bei R e s t a u r a t i o n e n ü b e r p u t z t , b e s c h o s s e n während der Franzosenzeit, erhalten nur in T r ü m m e r n - und wie s c h ö n sind diese T r ü m m e r ! " 5 8 D a s ist die E m p o r w e r t u n g des „ g e w o r d e n e n Z u s t a n d s " , die Trauer wohl u m s Verlorene, a b e r a u c h die A n e r k e n n t n i s der Wirklichkeit, so schrecklich und so w i r k l i c h sie auch sein m a g . Jahrzehnte später wird aus dem Geist des fin de siècle - n e u r o m a n t i s c h und ganz modern - die Ruine zum idealtypischen
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P e t e r S z o n d i : H o f f n u n g im V e r g a n g e n e n . Über Walter B e n j a m i n . In: Ders.: S a t z und Geg e n s a t z . S e c h s E s s a y s . F r a n k f u r t a.M. 1964, S. 7 9 - 9 7 . Zit. n a c h K e m p (o. A n m . 51), S. 146. E b d . , S. 139.
Adalbert Stifterais .,Conservator"
(1853-1865)
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P a r a d i g m a d e r D e n k m a l p f l e g e . F ü r R i e g l 5 9 ist sie d e r I n b e g r i f f d e s t r a n s i t o r i schen Übergangs vom Kunstwerk zum Naturwerk, Ehrenträger des Alterswerts, für Georg S i m m e l 6 0 Metapher seiner Lebensphilosophie. D a s ist d e r g l e i c h z e i t i g - u n g l e i c h z e i t i g e U n t e r s c h i e d zu S t i f t e r , d i e A n erkenntnis der irreversiblen Veränderung aller Dinge. „ M e i n e n F o r s c h u n g e n z u f o l g e " , s c h r e i b t R u s k i n , „gibt e s k e i n G e b ä u d e in V e n e d i g [...], d a s n i c h t an e i n e m o d e r m e h r e r e n o d e r allen s e i n e r H a u p t t e i l e w e s e n t l i c h e V e r ä n d e r u n g e n e r f a h r e n hat. D e r g r ö ß e r e Teil d e r B a u t e n z e i g t M e r k m a l e v o n 3 o d e r 4 Stilr i c h t u n g e n [...]. D i e K i r c h e v o n S a n M a r c o z . B . , d i e d e m e r s t e n B l i c k als harm o n i s c h e S t r u k t u r e r s c h e i n e n m u ß , ist in W i r k l i c h k e i t e i n e Z u s a m m e n f a s s u n g a l l e r v e n e z i a n i s c h e n B a u s t i l e v o m 10. bis z u m 19. J a h r h u n d e r t . " 6 1 E s ist d e r B l i c k a u f d i e s e T a t s a c h e n , a u f d i e s e P r o z e s s u a l i t ä t d e r G e schichte, der Ruskin von Stifter unterscheidet und damit auch deren D e n k m a l begriff unterschiedlich imprägniert. Oder könnte Z w e i f e l a u f k o m m e n , von w e m die n a c h f o l g e n d e S c h i l d e r u n g e i n e s W e l t d e n k m a l s s t a m m t ? „[...] a m E n d e d i e s e r t r o s t l o s e n B ö g e n , d a steigt a u s d e m b r e i t e n W a s s e r eine unruhige Silhouette niedriger verschachtelter Ziegelbauten, die gut dem Vorort e i n e r e n g l i s c h e n I n d u s t r i e s t a d t a n g e h ö r e n k ö n n t e n , w ä r e n d a n i c h t d i e v i e l e n T ü r m e . Vier, o d e r f ü n f K u p p e l n , fahl u n d a u g e n s c h e i n l i c h w e i t e r e n t f e r n t , e r h e b e n sich ü b e r d e r M i t t e d e s W e i c h b i l d e s , a b e r d e r G e g e n s t a n d , d e r d a s A u g e zuerst a n z i e h t u n d f e s s e l t , ist e i n e d ü s t e r e W o l k e s c h w a r z e n R a u c h s , d i e ü b e r d e m n ö r d l i c h e n Teil b r ü t e t u n d die a u s d e m G l o c k e n s t u h l e i n e r Kirc h e h e r a u s d r i n g t . E s ist V e n e d i g . " 6 2 D i e S p a n n u n g d e r „ A n n ä h e r u n g " , d i e R u s k i n h i e r w i e d e r g i b t , ist e i n e K o n t r a s t f a s z i n a t i o n , d i e d a s U n g l a u b l i c h e - das a b s o l u t N i c h t - I d e n t i s c h e - z u s a m m e n b r i n g t als ein a n d e r e s E r h a b e n e s , das d e m N i e d r i g e n d e r A l l t ä g l i c h k e i t , wie es s p ä t e r W a l t e r B e n j a m i n in d e r B e d e u t u n g d e s „ C h o c k " b e s c h r e i b t , 6 3 v o r l ä u f t : „ E s ist V e n e d i g . " „ W i r f u h r e n [...] v o n d e m S t r o m e s u f e r d i e s t a f f e l a r t i g e n E r h e b u n g e n e m p o r u n d f u h r e n d a n n in d e m h o h e n , v i e l g e h ü g e l t e n L a n d e d a h i n . [...] In d i e s e m L a n d e liegen die w e n i g e n größeren O r t s c h a f t e n sehr weit von e i n a n d e r entf e r n t , d i e G e h ö f t e d e r B a u e r n s t e h e n e i n z e l n a u f H ü g e l n o d e r in e i n e r t i e f e n S c h l u c h t o d e r an e i n e m n i c h t g e a h n t e n A b h ä n g e . H e r u m s i n d W i e s e n , F e l d e r ,
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Vgl. o. Anm. 39. Dazu weiterführend: Beat Wyss: Jenseits des Kunstwollens. In: Denkmal - Werte - Gesellschaft. Zur Pluralität des Denkmalbegriffs (o. Anm. 48), S. 13-50. Georg Simmel: Die Ruine. In: Ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essays. Leipzig 1919, S. 124ff. Zit. nach Kemp (o. Anm. 51), S. 156f. Ebd., S. 143. Vera Bresemann: Ist die Moderne ein Trauerspiel? Das Erhabene bei Benjamin. In: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Hrsg. von Christine Pries. Weinheim 1989, S. 171-184.
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Wilfried
Lipp
W ä l d c h e n u n d G e s t e i n . [...] I In d i e s e m L a n d e sind noch viele w e r t h v o l l e Alt e r t h ü m e r zerstreut u n d a u f b e w a h r t , es haben einmal reiche G e s c h l e c h t e r in ihm g e w o h n t , und die K r i e g e s - und V ö l k e r s t ü r m e sind nicht durch d a s Land g e g a n g e n . I Wir k a m e n in d e n kleinen Ort K e r b e r g . " 6 4 D a s ist die „ A n n ä h e r u n g " S t i f t e r s , im . N a c h s o m m e r ' - K a p i t e l , D i e B e g e g n u n g ' , das l a n g s a m e , von N a t u r begleitete und gespiegelte H e r a n s t a u n e n und H e r a n s e h e n an die v e r b o r g e n e M a c h t des S c h ö n e n , 6 5 an den K e r b e r g e r (= Kef e r m a r k t e r ) Altar, der s c h l i e ß l i c h „wie eine M o n s t r a n z e , auf d e m Priesterplatz e " 6 6 d a s t e h t . A u c h hier d a s „ E r h a b e n e " , diesmal in der Identität mit der S c h ö n h e i t d e r K u n s t , die S t i f t e r das „Göttliche in dem Kleide des R e i z e s " 6 7 ist. D a s „ w a h r e " K u n s t w e r k - und das ist bewundert das antike, g e g l a u b t aber d o c h n u r d a s m i t t e l a l t e r l i c h e K u n s t w e r k - ist f ü r Stifter N a c h a h m u n g der g ö t t l i c h e n S c h ö p f u n g , , N a c h s c h ö p f u n g ' in einem d u r c h a u s t h e o m o r p h e n Sinn. „ S o sieht m a n , " sagt R i s a c h im Blick auf die Frühzeit der Kunst anläßlich der z w e i t e n „ A n n ä h e r u n g " an den K e r b e r g e r Altar, „ d a ß die M e n s c h e n in der Ers c h a f f u n g e i n e r S c h ö p f u n g , die d e r des göttlichen S c h ö p f e r s ähnlich sein soll, - und D a s ist j a die K u n s t , sie n i m m t Theile, größere o d e r kleinere, der S c h ö p f u n g und a h m t sie n a c h - i m m e r in A n f ä n g e n geblieben sind, sie sind g e w i s s e r M a ß e n Kinder, die n a c h ä f f e n . " 6 8 K u n s t - S c h ö p f u n g / N a c h s c h ö p f u n g - kindlicher Blick. D a s ist ein Them e n - und B e g r i f f s d r e i s c h l a g , der in Stifters Werk in vielfachen V e r b i n d u n g e n anklingt und a u c h d e n k m a l b e g r i f f l i c h e Konturen besitzt. Ü b e r die G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e H e r d e r s vermittelt, 6 9 wirkt in S t i f t e r die Idee H a m a n n s n a c h , d a ß der S c h ö p f u n g s a k t nicht mit der E r s c h a f f u n g der Welt a b g e s c h l o s s e n , s o n d e r n d a ß auch noch die g e s c h i c h t l i c h e Welt ständige O f f e n b a r u n g G o t t e s sei. 7 0 „Gott ist alles in seinen Werken", das ist H e r d e r s g r i f f i g e F o r m e l d a f ü r , im Vorwort der .Ideen zur Philosophie der G e s c h i c h t e der M e n s c h h e i t ' ; und p r ä z i s i e r e n d heißt es e b e n d a : „Der Gott, den ich in der G e s c h i c h t e s u c h e , m u ß d e r s e l b e sein, der in der N a t u r ist." 7 1 D a s ist - a u f s k ü r z e s t e z u s a m m e n g e f a ß t - ein wichtiger g e n e t i s c h e r Strang von S t i f t e r s ä s t h e t i s c h e r T h e o r i e . Natur ist S c h ö p f u n g , Kunst ist N a c h s c h ö p -
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SW. Bd. 6, S. 3 0 7 - 3 0 9 . Emil Staiger: Reiz und Maß. Das Beispiel Stifters. In: Adalbert Stifter - Studien und Interpretationen (o. Anm. 2), S. 7 - 2 2 . SW. Bd. 6, S. 309. SW. Bd. 21, S. 236 (Stifter an Gottlob Christian Friedrich Richter, 21.6.1866). SW. Bd. 7, S. 152. Hermann Blumenthal: Adalbert Stifters Verhältnis zur Geschichte. In: Euphorion 34 (1933), S. 7 2 - 1 0 0 . Vgl. Wilfried Lipp: Natur - Geschichte - Denkmal. Zur Entstehung des D e n k m a l b e wußtseins der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M./New York 1987, S. 99f. Johann Gottfried Herder. Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Nachdruck der A u s g a b e Berlin 1 8 7 7 - 1 9 1 3 . Hildesheim/New York o.J. Bd. 14, S. 244.
Adalbert Stifter als ,.Consenator"
(1853-1865)
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f u n g , ist „ein Z w e i g d e r R e l i g i o n " , 7 2 „ n a c h d e r R e l i g i o n d a s H ö c h s t e auf Erd e n " . 7 3 D i e K u n s t - " E r s c h a f f e n d e n " w e r d e n s o im ü b e r t r a g e n e n S i n n e b e n f a l l s „Götter" genannt, die Kunst-Bewundernden „Priester dieser Götter".74 Wahre Kunst bringt das Göttliche („im Kleide des Reizes") zum Scheinen, aus der N a c h s c h ö p f u n g v e r m a g so O f f e n b a r u n g d e r S c h ö p f u n g zu w e r d e n . D i e s v e r m a g e i n e K u n s t , im w e i t e r e n S i n n e e i n e , S i c h t ' , d i e s i c h d e m k i n d l i c h e n B l i c k v e r d a n k t . K i n d e r sind d i e , S e h e r ' , d i e h e i m l i c h e n P r o p h e t e n in S t i f t e r s D i c h t u n g , e t w a in . G r a n i t ' , , B e r g k r i s t a l P , . K a t z e n s i l b e r ' , , T u r m a l i n ' . . . In S t i f t e r s B e r i c h t v o n 1853 , U e b e r d e n g e s c h n i t z t e n H o c h a l t a r in d e r K i r c h e zu K e f e r m a r k t ' 7 5 ist v o n s e i n e m „ h o h e n W e r t h i n n i g e r N a i v e t ä t " d i e Rede, die man später nach „dem Verfalle j e d e n K u n s t s i n n e s " „verkannt", ja „ v e r a c h t e t " h a b e . In d e r p o e t i s c h e n S p i e g e l s c h r i f t d e s . N a c h s o m m e r s ' ist Heinrich ergriffen von „der Ruhe, dem Ernste, der W ü r d e und der Kindlichkeit"76 des Werks. Was h i e r u n d v i e l f a c h in S t i f t e r s L e b e n s r e a l i t ä t u n d Ä s t h e t i k z u m A u s d r u c k k o m m t , ist P i g m e n t e i n e r F a c e t t e , d i e d e n P r o z e ß d e r M o d e r n e v o n R o u s s e a u bis A d o r n o b e g l e i t e t u n d m i t b e s t i m m t h a t : 7 7 d i e S e h n s u c h t n a c h d e m U r s p r u n g , d i e S u c h e n a c h d e m v e r l o r e n e n P a r a d i e s . 7 8 In d e r s ä k u l a r i sierten F o r m ist es d i e Welt d e s „ h o m m e s a u v a g e " , d i e j e d o c h e r s t d e r „ h o m m e n a t u r e l " b e g r e i f e n k a n n , 7 9 sind es d i e m a n n i g f a l t i g e n K o n n o t a t i o n e n v o n Natürlichkeit, Reinheit und Unschuld. Paradigmen ohne Zahl. D a s I n t e r e s s e d e s . k i n d l i c h e n B l i c k s ' S t i f t e r s gilt d e m Z e i t e n t h o b e n e n , dem Untergeschichtlichen - der Natur - , dem Übergeschichtlichen - Gott - , d e m A u ß e r g e s c h i c h t l i c h e n - d e r K u n s t - , u n d m a n i f e s t i e r t s i c h in d e r M a n n i g f a l t i g k e i t d e r D i n g b e z i e h u n g e n , s y m b o l i s c h g e s a m m e l t in d e n . B u n t e n Steinen'. D a s D i n g ist bei S t i f t e r e i n g e r a d e z u m a g i s c h e s W o r t . 8 0 „ E s w a r e i n g e w a l t i g e r R e i z f ü r d a s H e r z , [...] w a s in d e n D i n g e n v o r m i r lag, z u e r g r e i f e n , " h e i ß t es im . N a c h s o m m e r ' . 8 1 D i e D i n g e s i n d f ü r S t i f t e r n i c h t b l o ß v e r d i n g lichte, tote G e g e n s t ä n d e , s o n d e r n g e h e i m n i s v o l l f o r t w i r k e n d e , . l e b e n d i g e '
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SW. Bd. 7, S. 153. WuB. Bd. 2.2, S. 9. SW. Bd. 8.1, S. 85. Vgl. o. Anm. 24; Zitate S. 269f. SW. Bd. 7, S. 151. Vgl. Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1982. U.a. Manin Beckmann: Formen der ästhetischen Erfahrung im Werk Adalbert Stifters. Eine Strukturanalyse der Erzählung .Zwei Schwestern'. Frankfurt a.M./Bern/New York/ Paris 1982. Wilfried Lipp (o. Anm. 70), S. 37f. Wilhelm Dehn: Ding und Vernunft. Zur Interpretation von Stifters Dichtung. Bonn 1969 (Literatur und Wirklichkeit 3). SW. Bd. 7, S. 30.
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Botschaften der S c h ö p f u n g . D i e D i n g e sind nicht das teilnahmslose G e g e n über, sondern sind Sprache der O f f e n b a r u n g . Stifter setzt dabei eine romantische, antirationalistische Tradition fort. „ F r a g e nur die Steine, du wirst staunen, wenn du sie reden hörst", sagt in T i e c k s Erzählung
,Der
Runenberg'
( 1 8 0 2 ) der steinbezauberte, d e m Wahnsinn schon nahe Christian zu seinem Vater, e i n e m Gärtner, der das R e i c h der P f l a n z e n vertritt. 8 2 D i e M a c h t der D i n g e , die „Restitution der Sprache der [ g ö t t l i c h e n ]
Na-
tur" 8 3 w i r d bei Stifter z u m R e g u l a t i v für das sittliche und politische L e b e n . So sagt nach der Wiederherstellung
der politischen
und kirchlichen
Ordnung
W i t i k o zu Kardinal G u i d o : „ i c h suchte zu thun, w i e es die D i n g e fordern, und w i e die G e w o h n h e i t w i l l , die mir in der Kindheit e i n g e p f l a n z t worden ist." Und der Kardinal antwortet: „ U n d wenn du zu thun strebst, was die D i n g e f o r d e r n , so wäre gut, w e n n alle wüßten, was die D i n g e fordern, und wenn alle thäten, was die D i n g e fordern; denn dann thäten sie den W i l l e n Gottes. [...] f o l g e d e m G e w i s s e n , und du f o l g s t den D i n g e n " . 8 4 D i e s e m moralischen A u f t r a g , die Forderungen der D i n g e zu erfüllen, entspricht der künstlerische. Der Künstler huldigt als „Priester des
Schönen"
„ k e i n e m Z e i t g e s c h m a c k e , sondern nur der Wesenheit der D i n g e " . 8 5 D i e s e A u f f a s s u n g basiert - v o r m o d e r n und bei Stifter dann g e g e n m o d e r n auf einer t e l e o l o g i s c h e n Natursicht: Die D i n g e selbst streben v o n sich aus auf etwas zu, und sie sind damit nicht mehr ( o d e r noch nicht) b l o ß der G e g e n stand aufgeklärter Beobachtung, sondern sind selbst , A u g e ' , „tausendäugiger A r g u s " , w i e H e g e l in H i n b l i c k auf die K u n s t - D i n g e in der Einleitung der A n a lyse zum ,Kunstschönen' definiert. 8 6 D i e Herausforderung für den Menschen besteht darin, sich auf dieses sprechende und sehende G e g e n ü b e r der D i n g e einzulassen. D i e innigste Beziehung ist j e n e der L i e b e . Für T i e c k s Christian aus der Erzählung , D e r R u n e n b e r g ' erfüllte sich die L i e b e für den, der „ d i e Erde w i e eine g e l i e b t e Braut an sich zu drücken vermöchte, daß sie ihm [...] ihr Kostbarstes g ö n n t e " . 8 7 D e r Exkurs über die romantische und Stiftersche Welt der animierten Ding e ist d e n k m a l s p e z i f i s c h deshalb von besonderer Bedeutung, w e i l er die zentrale K a t e g o r i e des Stifterschen Denkmalbewußtseins zu erhellen vermag: die A c h t u n g , die S o r g e und Fürsorge, die Pietät den D i n g e n gegenüber. Der
Begriff
schränkungen
der Pietät
wurde Jahrzehnte
später, von
puristischen
befreit, einer der S c h l ü s s e l b e g r i f f e der modernen
Ein-
Denkmal-
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Zit. nach Hartmut B ö h m e : Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des „ M e n s c h e n f r e m d e s t e n " . In: Das Erhabene (o. A n m . 63), S. 119-142: S. 133.
83
Ebd. W u B . Bd. 5.3, S. 173f.
84 85
S W . Bd. 7, S. 35; Bd. 8.1, S. 222.
86
Zit. nach B ö h m e ( o . A n m . 82), S. 134.
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Ebd.
Adalbert Stifter als „Conservator "
(1853-1865)
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kultur nach 1900. „Denkmale schützen heißt nicht Genuß suchen, sondern Pietät üben", formuliert Georg Dehio 1905, und Alois Riegl ergänzt, darauf Bezug nehmend, daß der Umgang mit Denkmalen „uns Pietät, das heißt Aufopferung gewisser entgegenstehender egoistischer Bestrebungen als innere Pflicht auferlegt". 8 8 Im .Katechismus der Denkmalpflege' Max Dvoiáks 8 9 von 1918 findet diese Denkmalmoral schließlich ihren populistischen Höhepunkt. Dies hervorzuheben ist auch deshalb so wichtig, weil um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine ganz andere Dingbeziehung - endgültig(?) - dominant geworden ist. Das Ding wird Ware. 1851 ist die erste Weltausstellung in London. 9 0 1848 erscheint das .Kommunistische Manifest' von Marx und Engels, nicht zuletzt auch eine Anklage gegen die Verdinglichung des Menschen (Karl Marx: „Er wird ein bloßes Zubehör der Maschine"). Und auf der anderen Seite: „Die Dinge [...] werden dem Menschen ungehorsam", das ist die Kehrseite der Verdinglichung, wie der Zeitgenosse Stifters, Thomas Carlyle, prognostiziert, 9 1 Ruskin ist Sklave der Dinge, Besessener, aber auch ohnmächtiger Faktograph, „Dryasdust" 9 2 wie Carlyle diese neue Spezies spöttisch nannte. Stifter steht - scheinbar - außerhalb dieser Entwicklung, und die im Zusammenhang mit seinem Werk, insbesondere dem . N a c h s o m m e r ' , immer wieder gebrauchten Etiketten, wie .Nachklassik' und .Biedermeier', 9 3 .Idylle' und .Utopie' 9 4 bzw. „restaurative Utopie" 9 5 oder „prospektive Ästhetik", 9 6 .Realismus' oder .Idealismus' haben alle ihren belegbaren Grund. Aber Stifter wäre
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Alois Riegl: Neue Strömungen in der Denkmalpflege. In: Mitteilungen der K. K. Centralcommission. III. Folge IV. Wien 1905, Sp. 8 5 - 1 0 4 . Max Dvoiák: Katechismus der Denkmalpflege. Wien 1918. „Weltausstellungen sind Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware" (Walter Benjamin). Zit. nach Kemp (o. Anm. 51), S. 153. Ebd. U.a. Ludwig Arnold: Stifters .Nachsommer' als Bildungsroman. Vergleich mit Goethes .Wilhelm Meister' und Kellers .Grünem Heinrich'. Diss. Glessen 1939; Otto Friedrich Bollnow: Der .Nachsommer' und der Bildungsgedanke des Biedermeier. In: Beiträge zur Einheit von Bildung und Sprache im geistigen Sein. Festschrift für E m s t Otto. Hrsg. von Gerhard Haselbach und Günter Hartmann. Berlin 1957, S. 14-33; Manfred Majstrak: Das Problem von Individuum und Gemeinschaft in den großen nachklassischen Bildungsromanen Stifters und Kellers. Diss. Bonn 1954; Franz Bertram: Ist der .Nachsommer' Adalbert Stifters eine Gestaltung der Humboldtschen Bildungsideen? Diss. Frankfurt 1957. Klaus-Detlef Müller: Utopie und Bildungsroman. Strukturuntersuchungen zu Stifters .Nachsommer'. In: ZfdPh 90 (1971), S. 199-228; August Stahl: Die ängstliche Idylle. Zum Gebrauch der Negation in Stifters Nachsommer. In: Literatur und Kritik 167/168 (1982), S. 19-28. Dieter Borchmeyer: Stifters .Nachsommer' - eine restaurative Utopie? In: Poetica 28 (1979), S. 8 3 - 9 2 . Horst Albert Glaser: Die Restauration des Schönen. Stifters . N a c h s o m m e r ' . Stuttgart 1965.
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Wilfried Lipp
nicht Zeitgenosse eines dramatischen geistigen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels, wäre nicht selbst - wenn auch von anderer Position aus Akteur, Widerpart des Wertewandels, würden nicht auch bei ihm - und vielleicht gerade bei ihm - die Schatten der Entwicklung spürbar: Entfremdung, Hoffnungsschwund, Angst, Identitätsverlust, Fremdheit. 9 7 Ist nicht die Sucht, sich die „Dinge" vertraut zu machen, auch der Versuch, ihr Fremdwerden noch einmal einzuholen? Ist nicht die „Idolatrie der Dinge" längst auch Kapitulation vor der „Gewalt des Gewordenen"? 9 8 „Wie hatte seit einigen Augenblicken alles sich um mich verändert und wie hatten die Dinge eine Gestalt gewonnen, die ihnen sonst nicht eigen war?" 9 9 Leitet nicht die Beschwörung des Erhabenen der Natur die angstvolle Gewißheit, daß es plötzlich in die Schrecken der Katastrophe umschlagen könnte - und umschlägt? 1 0 0 Spiegelt nicht die immer wieder apostrophierte Reinheit und Unschuld der Natur die Betroffenheit über ihre Gleichgültigkeit, über ihr „prius" und „post", ihre den Menschen übergreifende Macht? Und liegt nicht im ganzen Stifterschen Bewahrungs- und Sammelkult die Erfahrung des Verschwindens, des Verlorenseins, der „Entfernung der Natur", 1 0 1 der Abkehr Gottes, der Verlassenheit des Menschen? Wie immer man auch die Antworten setzen mag, die Berechtigung der Fragestellungen allein rückt Stifter weit in die Moderne. Stifters Bewahrungsrituale sind Versöhnungsangebote und Rettungsversuche in einer von zunehmenden Fremdheitserfahrungen geprägten Welt. 102 Er setzt zwar - noch einmal auf Gott. „Der Gott, den ich in der Geschichte suche, muß derselbe sein, der in der Natur ist." 1 0 3 Aber diese, Herders Gewißheit war Stifter indes ungewiß geworden. Und vielleicht gerade deshalb: Versuch der Rettung durch Kunstreligion. Stifters Ästhetik ist somit auch eine Antwort auf Hegels Satz vom „Ende der Kunst", 1 0 4 d.h. vom Ende der kultischen Anbindung der Kunst,
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Eine Interpretation des .Nachsommer' unter diesen Aspekten versucht Barbara Osterkamp: Arbeit und Identität. Studien zur Erzählkunst des bürgerlichen Realismus. Würzburg 1983. 98 Wolfgang Matz: Gewalt des Gewordenen. Adalbert Stifters Werk zwischen Idylle und Angst. In: DVjs 63 (1989), S. 715-750. 99 SW. Bd. 4, S. 555. 100 So etwa in .Kalkstein' oder .Abdias'. 101 So der aussagekräftige Titel eines auch in diesem Zusammenhang interessanten Werks: Oskar Bätschmann: Die Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750-1920. Köln 1989. 102 Vgl. auch Stefan Braun: „Lebenswelt" bei Adalbert Stifter. Frankfurt a.M./Bem/New York/Paris 1990. (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 29). 103 Vgl. o. Anm. 71. 104 \y¡i|j Oelmiiller: Hegels Satz vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel. In: Philosophisches Jahrbuch 73 (1965/66), S. 75-94. - Vgl. auch Jürgen Patocka: Die Lehre von der Vergangenheit der Kunst. In: Beispiele. Festschrift für Eugen Fink. Hrsg. von Ludwig Landgrebe. Den Haag 1965, S. 46-61.
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d i e f o r t a n ein „ f r e i e s I n s t r u m e n t " 1 0 5 w e r d e n s o l l t e , b e f r e i t in d i e B e l i e b i g k e i t v o n S t o f f u n d S t i l . 1 0 6 F ü r H e g e l ist in d e r e i n s t i g e n , d e r R e l i g i o n d i e n e n d e n K u n s t d e r V e r g a n g e n h e i t „ G o t t g e s t o r b e n [...]. D i e B i l d s ä u l e n s i n d n u n L e i c h n a m e . " 1 0 7 Das Zeitalter der „ R e f l e x i o n " und der „ W i s s e n s c h a f t der K u n s t " 1 0 8 ist a n g e b r o c h e n , d i e „ K u n s t n a c h d e r S e i t e i h r e r h ö c h s t e n B e s t i m m u n g f ü r u n s ein Vergangenes"109 g e w o r d e n . A b e r s o d i a m e t r a l s t e h e n H e g e l u n d S t i f t e r n i c h t z u e i n a n d e r . D e r Verg a n g e n h e i t s c h a r a k t e r d e r R e l i g i o n s - K u n s t ist a u c h f ü r S t i f t e r R e a l i t ä t . U n d s o g i b t es bei ihm - w i e b e i G o e t h e , p a r a d i g m a t i s c h in d e r G e s c h i c h t e . S a n k t J o s e p h d e r Z w e i t e ' in . W i l h e l m M e i s t e r s W a n d e r j a h r e n ' - d i e k l e i n e H o f f n u n g auf eine kunst-handwerkliche Blüte aus der Restauration der Kunst und eine damit verbundene sittliche, bildungsmäßige, h u m a n e „perfectibilité".110 Die d e n k m a l h a f t e B e w a h r u n g , die Stifters Leben und Werk so nachhaltig, ja ausschließlich fast, bestimmt - von der Bewahrung der kleinen unscheinbaren D i n g e bis zu d e n e r g r e i f e n d e n g r o ß e n K u n s t - D i n g e n , d e r B e w a h r u n g d e r B e z i e h u n g e n und V e r h ä l t n i s s e , d e r S p r a c h e , d e s O r t e s u n d d e r Z e i t - , zielt a u f den M e n s c h e n . Stifters D e n k m a l b e w u ß t s e i n motiviert die Sorge um die Schutzbedürftigkeit der menschlichen Existenz. H e g e l p r o g n o s t i z i e r t e - n a c h d e m Verlust d e r a b s o l u t e n N o t w e n d i g k e i t d e r K u n s t , die a u f g e h ö r t h a t , „ d a s h ö c h s t e B e d ü r f n i s d e s G e i s t e s zu s e i n " - , als deren „neuen Heiligen den H u m a n u s " . " 1 S t i f t e r d a g e g e n b e h a r r t auf d e r a b s o l u t e n N o t w e n d i g k e i t d e r K u n s t u n d auf deren „Heiligkeit". Denn nur das F a n u m der Kunst vermag vor d e m Profanen d e r r i s k i e r t e n E x i s t e n z zu s c h ü t z e n . Hinter allen B e w a h r u n g s r i t u a l e n steht Stifters e i g e n t l i c h e s , g e f ä h r d e t e s D e n k mal: der Mensch.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke. Ausgabe auf der Grundlage der Werke von 1832-1845. Frankfurt a.M. 1976-1980, Bd. 14, S. 235. Vgl. Lipp (o. Anm. 70), S. 129f. Hegel. Werke (o. Anm. 105). Bd. 3, S. 48. Hegel. Werke (o. Anm. 105). Bd. 13, S. 25. Ebd. Clemens Heselhaus: Wiederherstellung. Restauratio - Restitutio - Regeneratio. In: DVjs 25 (1951), S. 54-81. Vgl. Jürgen Trabant: „BewuBtsein von Nöthen". Philosophische Notiz zum Fortleben der Kunst in Adornos Ästhetischer Theorie. In: text und kritik. Sonderband Theodor W. Adorno. München 1977, S. 235.
Teil II Zu größeren Werkzusammenhängen
„denn der ganze Bau der Ewigkeit ruht auf diesen Körnchen"
Alfred Doppler
Stifter im Kontext der Biedermeiernovelle
U m die J a h r h u n d e r t w e n d e , als m a n sich a n s c h i c k t e , S t i f t e r l i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h n e u zu w e r t e n u n d e i n z u o r d n e n - die P r a g - R e i c h e n b e r g e r A u s g a b e u n t e r A u g u s t S a u e r d i e n t e d i e s e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n A b s i c h t - , g i n g es d a r u m , e i n e n g r o ß e n D i c h t e r in d e r N a c h f o l g e G o e t h e s u n d d e r W e i m a r e r K l a s s i k v o r z u s t e l l e n . G e z e i g t sollte w e r d e n , d a ß d i e G e d a n k e n k l a s s i s c h - d e u t s c h e r H u m a n i t ä t in Ö s t e r r e i c h e i n e l e g i t i m e N a c h f o l g e g e f u n d e n h a b e n . D a s E i n v e r s t ä n d n i s S t i f t e r s mit d i e s e r W e r t u n g k o n n t e v o r a u s g e s e t z t w e r d e n , weil S t i f t e r nach 1848 d e r M e i n u n g war, d i e ö s t e r r e i c h i s c h e L i t e r a t u r m i i ß t e d i e d e u t s c h e v o m l i t e r a r i s c h e n W a h n s i n n r e t t e n ( 6 . 1 2 . 1 8 5 0 ) ; mit G e n u g t u u n g v e r m e r k t e e r d a m a l s , d a ß d e r „ g r o t e s k e s t e u n d sittlich v e r k r ö p f t e s t e u n d w i d e r n a t ü r l i c h s t e Poet ( H e b b e l ) kein Ö s t e r r e i c h e r " sei. 1 B e s o n d e r s seit d e m . N a c h s o m m e r ' arbeitete S t i f t e r d a r a u f h i n , d a ß er als e i n b e s c h e i d e n e r N a c h f o l g e r G o e t h e s u n d als ein W e g b e r e i t e r e i n e r n e u e n , G o e t h e u n d S c h i l l e r in sich v e r e i n i g e n d e n K l a s s i k g e s e h e n w e r d e : „ I c h bin z w a r kein G ö t h e , a b e r e i n e r a u s s e i n e r Verwandtschaft, und der Same des Reinen Hochgesinnten Einfachen geht auch a u s m e i n e n S c h r i f t e n in d i e H e r z e n " . 2 In s e i n e n s p ä t e n B r i e f e n , d i e er b e w u ß t im H i n b l i c k auf e i n e V e r ö f f e n t l i c h u n g g e s c h r i e b e n h a t , b e r u f t e r sich w i e d e r holt auf G o e t h e . 1865, als e r in K a r l s b a d d e s s e n S p u r e n n a c h g e h t , s c h r e i b t e r : „Ich habe, die Geistes- und H e r z e n s g a b e n abgerechnet, eine u n g e m e i n e Ä h n lichkeit in m e i n e m s o n s t i g e n W e s e n m i t G ö t h e , d a ß ich m i c h zu d i e s e m M e n s c h e n , wie m i t Z a u b e r h i n g e z o g e n , f ü h l e " . 3 D i e s e S e l b s t d e u t u n g und S e l b s t s t i l i s i e r u n g hat n a c h h a l t i g d i e E d i t o r e n d e r Prag-Reichenberger A u s g a b e beeinflußt. Sie haben d a h e r die ursprüngliche F o r m d e r S t i f t e r s c h e n E r z ä h l u n g e n n i c h t in ihre A u s g a b e a u f g e n o m m e n u n d n u r d i e s p ä t e r e n B u c h f a s s u n g e n als a u t h e n t i s c h e T e x t e S t i f t e r s b e t r a c h t e t . S p ä t e r hat m a n d a n n - im A n k l a n g an d i e G o e t h e - P h i l o l o g i e - f ü r d i e E r s t drucke die B e z e i c h n u n g „ U r f a s s u n g e n " gewählt, was den E i n d r u c k e r w e c k t , es h a n d l e sich d a b e i ( w e n n m a n an d e n „ U r f a u s t " o d e r d e n „ U r m e i s t e r " G o e thes denkt) um nur teilweise a u s g e f ü h r t e Werke, die für eine Veröffentlichung e i g e n t l i c h n i c h t r e c h t g e e i g n e t w a r e n . F ü r d i e B u c h a u s g a b e n w i r d S t i f t e r in d e r P r a g - R e i c h e n b e r g e r A u s g a b e b e s c h e i n i g t , d a ß e r sich d o r t „ g r ö ß e r e r K o r -
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SW. Bd. 18, S. 67. Ebd.. S. 225. SW. Bd. 20, S. 297f.
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r e k t h e i t " b e f l e i ß i g t , w e n n auch noch genug Nachlässigkeiten und Austriazism e n s t e h e n g e b l i e b e n sind ( A u g u s t Sauer). D i e s e S e h w e i s e läßt a u ß e r acht, daß Stifter bis zum . N a c h s o m m e r ' ausn a h m s l o s alle seine E r z ä h l u n g e n in Zeitschriften, T a s c h e n b ü c h e r n , A l m a n a c h e n und K a l e n d e r n v e r ö f f e n t l i c h t hat und d a ß es keine zeitliche A b f o l g e von den s o g e n a n n t e n U r f a s s u n g e n zu den B u c h f a s s u n g e n ( , S t u d i e n ' , .Bunte Stein e ' ) gibt, s o n d e r n ein b e s t ä n d i g e s N e b e n e i n a n d e r von ersten Veröffentlichungen in Z e i t s c h r i f t e n und T a s c h e n b ü c h e r n und Bearbeitungen f ü r einen Neud r u c k in B u c h f o r m , w o b e i die U m a r b e i t u n g e n nicht allein ästhetisch künstler i s c h e r N a t u r g e w e s e n sind, s o n d e r n sehr oft durch die Ä n d e r u n g e n der Publik a t i o n s f o r m e r f o r d e r l i c h w u r d e n , zum Beispiel bei Anreden an den Leser o d e r bei A n s p i e l u n g e n auf a k t u e l l e Ereignisse. 4 Stifter w a r von 1840 bis 1848 ein vielbeschäftigter Autor, der im Wettstreit d e r Z e i t s c h r i f t e n und A l m a n a c h e v o l l k o m m e n in den damaligen Literaturbet r i e b e i n g e b u n d e n w a r und die vom Leser a u s g e h e n d e n A n r e g u n g e n und Erw a r t u n g e n u n m i t t e l b a r in seine Produktion e i n f l i e ß e n ließ. Als Z e i t s c h r i f t e n und T a s c h e n b u c h - A u t o r zu reüssieren, bedeutete vor allem finanziellen Erf o l g , war aber a u c h d e m A n s e h e n nicht abträglich, weil alle n a m h a f t e n A u t o ren d e r R e s t a u r a t i o n s z e i t in Journalen publizierten. Eine U n t e r s c h e i d u n g in H o c h - und T r i v i a l l i t e r a t u r w u r d e nicht v o r g e n o m m e n , sofern n u r das Unterh a l t u n g s b e d ü r f n i s , die v a t e r l ä n d i s c h e E r b a u u n g und eine w o h l t e m p e r i e r t e A u f k l ä r u n g g e g e n A b e r g l a u b e n (Erzählungen über B e s c h w ö r u n g s u n w e s e n und H e x e n p r o z e s s e w a r e n ein beliebtes T h e m a ) b e f r i e d i g t und die Regeln einer auf H a r m o n i e g e r i c h t e t e n klassizistischen Ästhetik erfüllt wurden. A b g e w e r t e t w u r d e n m o r a l i s c h b e d e n k l i c h e Inhalte, H a n d l u n g s a r m u t und die Z e i c h n u n g v e r s t i e g e n e r und ü b e r s p a n n t e r Charaktere. In Betty Paolis W i d m u n g s g e d i c h t ,An A d a l b e r t S t i f t e r ' , es steht in der ,Iris* für 1848 unmittelbar vor dem Erstd r u c k d e s . A r m e n S p i e l m a n n s ' , ist Stifter „als Prophet zu e h r e n , I Den tröstend die N a t u r g e s a n d t " . S e i n e Erzählungen durchtönen wie „der Lerche jub e l n d e s G e s c h m e t t e r " die M o r g e n l u f t , und sein „heller Blick erschaut die D i n g e I In ihrer h e i l ' g e n U r g e s t a l t " . In der . W i e n e r Z e i t s c h r i f t f ü r Kunst, Literatur, T h e a t e r und M o d e ' (sie erschien f ü n f m a l w ö c h e n t l i c h ) hat Stifter sechs Erzählungen v e r ö f f e n t l i c h t , die als F o r t s e t z u n g s g e s c h i c h t e n erschienen sind, so etwa den . C o n d o r ' , das .Haid e d o r f ' und die . M a p p e m e i n e s U r g r o ß v a t e r s ' . Zugleich war Stifter von 1840 bis 1848 (mit A u s n a h m e von 1843, da er ein M a n u s k r i p t nicht rechtzeitig abg e l i e f e r t hat) s t ä n d i g e r M i t a r b e i t e r der ,Iris', die bei Heckenast in Pesth verlegt w u r d e ; im . Ö s t e r r e i c h i s c h e n N o v e l l e n a l m a n a c h ' f ü r 1843 und f ü r 1844
In der K o n s e q u e n z der B e z e i c h n u n g „Urfassung" müßten alle Erzählungen, für die es k e i n e B u c h f a s s u n g gibt, s o benannt werden, z.B. . D i e drei S c h m i e d e ihres S c h i c k s a l s ' ( 1 8 4 6 ) , , D e r W a l d g ä n g e r ' ( 1 8 4 6 ) , .Prokopus' ( 1 8 4 7 ) .
Sri/ter im Kontext der Biedermeiernovelle
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e r s c h i e n e n , A b d i a s ' u n d . D a s alte S i e g e l ' ; d a s p r ä c h t i g a u s g e s t a t t e t e T a s c h e n b u c h . G e d e n k e m e i n ' f ü r 1844 e n t h i e l t . B r i g i t t a ' ; u n d in d e m d e r R e g i e r u n g und dem Kaiserhaus nahestehenden .Oesterreichischen Universalkalender Austria' wurde unmittelbar vor der Revolution .Der arme Wohlthäter' abgedruckt. Das Jahr 1848 bildet einen deutlichen Einschnitt. Die traditionellen Publikationsorgane verloren einen Großteil ihrer A b n e h m e r und A b o n n e n t e n . D e r .Wiener Zeitschrift f ü r Kunst, Literatur, Theater und M o d e ' gelang nicht - so s e h r sie sich s c h o n v o n 1 8 4 7 an b e m ü h t e - d i e U m s t e l l u n g a u f d e n n e u e n L e s e r g e s c h m a c k . In i h r e m S c h l u ß w o r t v o n 1849 k ü n d i g t sie a n , d a ß sie n u n in eine neue Ära der langjährigen, von der Achtung des gebildeten P u b l i k u m s geleiteten Bahn trete, „da leider die gebietherische A n f o r d e r u n g der L e s e w e l t v o r z u g s w e i s e auf die B e s p r e c h u n g von Zeitfragen gerichtet ist".5 Die neue B a h n b e s t a n d d a r i n , d a ß sich d i e Z e i t s c h r i f t in ein s a t i r i s c h e s B l a t t w a n d e l t e . A u c h die . I r i s ' ü b e r l e b t e d a s J a h r 1848 n i c h t , o b w o h l sie sich in d e n l e t z t e n b e i d e n A u s g a b e n f ü r 1847 u n d 1848 v o m k l e i n f o r m a t i g e n , f ü r d i e B i e d e r m e i e r z e i t t y p i s c h e n T a s c h e n b u c h zu e i n e m g r o ß f o r m a t i g e n . d e u t s c h e n A l m a n a c h ' gewandelt hatte. In d e n J o u r n a l e r z ä h l u n g e n - g l e i c h g ü l t i g , o b es sich u m t r i v i a l e R e i senovellen mit darin eingebetteten Liebesgeschichten handelt, um ideenbef r a c h t e t e K ü n s t l e r n o v e l l e n , u m auf Z e i t e r e i g n i s s e b e z o g e n e E r z ä h l u n g e n ( C a r l i s t e n k r i e g e in S p a n i e n , K a m p f d e r F r a n z o s e n in A f r i k a , J u l i - R e v o l u t i o n in Frankreich) o d e r um Darstellungen von exotischen Ländern und M e n s c h e n - : in a l l e n d i e s e n J o u r n a l e r z ä h l u n g e n w e r d e n e t w a f o l g e n d e T e n d e n z e n u n d T h e men abgehandelt und variiert: die Gefahren unkontrollierter Subjektivität und Egozentrik, die Verderblichkeit, aber auch Lächerlichkeit übersteigerter Indiv i d u a l i t ä t (sie w i r d im B e g r i f f d e r . N a r r h e i t ' z u s a m m e n g e f a ß t ) , d i e z e r s t ö r e r i sche Wirkung von Leidenschaften, das Aufschießen von Affekten, denen keine Taten folgen, die Verirrungen des Künstlers durch Überspanntheit, S c h w ä r m e rei u n d a n g e m a ß t e G e n i a l i t ä t , d i e G e f a h r e n , d i e m i t d e r E n t f r e m d u n g a u s d e r s o z i a l e n G e m e i n s c h a f t v e r b u n d e n s i n d ; u n d im G e g e n s a t z d a z u : d a s L o b e i n e r gelassenen Tätigkeit, die der Selbstgefährdung und E n t f r e m d u n g entgegenwirkt. Thematisiert werden immer wieder Ordnungsstörungen moralischer, a b e r a u c h p o l i t i s c h e r A r t , b e s o n d e r s o f t ist d i e R e d e v o n V e r f e h l u n g e n g e g e n d a s l e g i t i m e E r b r e c h t , h ä u f i g w i r d a u c h d i e F r a g e d e r U n s t e r b l i c h k e i t u n d eines persönlichen Weiterlebens nach d e m Tode diskutiert. Die B e h a n d l u n g dieser T h e m e n v o l l z i e h t sich i n n e r h a l b e i n e s s c h e m a t i s c h e n E r z ä h l a b l a u f e s , d e r b i s w e i l e n in E r i n n e r u n g an d i e k l a s s i s c h e N o v e l l e n t h e o r i e e i n e ü b e r r a s c h e n d e W e n d u n g n i m m t , o h n e j e d o c h die E r w a r t u n g e n des Lesers zu verletzen. Die . W i e n e r Z e i t s c h r i f t ' g i b t als G r u n d t e n o r an: „ Z u l e t z t w ä c h s t d i e P o e s i e a u s d e m L e b e n h e r v o r u n d w i r d a u c h n u r a u s d e m L e b e n e r k l ä r t " , i h r e F o r m ist
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Jg. 1849, S. 261.
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Alfred
Doppler
„die Gestaltung des Stoffes zum lebendig Schönen, zum idealisch Wirklichen". 6 Nicht große Stoffe, sondern die der Erfahrung des Lesers angenäherten Stoffe werden bevorzugt. Der Erzähler vermischt Fiktives und Empirisches, Jahr und Tag des Geschehens werden genau fixiert und meist in der jüngsten Vergangenheit angesiedelt. So ist zum Beispiel in der .Narrenburg' Stifters der Beginn der Erzählung auf einen schönen Sommertag „gegen Abend im Jahre 1836" festgelegt. 7 Mehrfach wird der freundliche, der liebe Leser angesprochen, die Wahrheit des Erzählten und die Verbindung mit dem tatsächlichen Leben beteuert, oder es wird die Entschuldigung ausgesprochen, daß wegen des Mangels an Quellen, wie Briefen, Tagebüchern, Berichten von Freunden und eigenen Beobachtungen etwas nicht mit der wünschenswerten Ausführlichkeit mitgeteilt werden kann. 8 Da die Zeitschriften und Taschenbücher ein bestimmtes ästhetisches und gesellschaftspolitisches Programm haben, ergibt sich eine starke Kontextgebundenheit der einzelnen Beiträge. Sie bilden daher jeweils einen bestimmten Text, der durch graphische Gestaltung, Format, Einband, Art der Illustration, durch den Namen des Herausgebers und die wiederholt auftretenden Mitarbeiter auf den Leser einwirkt und sein Rezeptionsverhalten steuert. Ich möchte zwei Publikationsorgane, in denen Stifter besonders oft als Mitarbeiter erscheint, kurz charakterisieren. Die ,Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode' hatte die Absicht, auf dem Gebiet „der Novellistik, Erzählung, Topographie, Naturkunde usw., sowie in der Ballade und im lyrischen Gedicht eine entsprechende Abwechslung des Nützlichen mit dem Erheiternden zu erzielen", 9 und da sie Schriftsteller von Talent gut bezahlte, wurde (wie es in einer Ankündigung heißt) „nur Achtbares und Ausgezeichnetes" mitgeteilt und den „denkenden und gebildeten Lesern eine ihrer würdige Unterhaltung gewährt". 1 0 Entsprechend ihrem unpolitischen, loyal-vaterländischen Charakter, wurden in der ,Wiener Zeitschrift' allgemeinmenschliche Fragen von Liebe und Leidenschaft in der Regel im Sinn einer legitimen Ordnung gelöst; zur höheren Ehre des Sittengesetzes enden sie bisweilen auch tragisch. Eine heilbringende Sanftheit ist im Zusammenhang mit diesen Erzählungen nicht nur eine These Stifters, sondern auch ein zeitgemäßer Lösungsvorschlag, um trübe Sinnlichkeit zu klären und hochfliegende Spekulation, die „ein kochender Krater von Gedanken" ist, zu dämpfen. 1 1 Die Wendung „kochender Krater von Gedanken" stammt aus Andreas Schuhmachers
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Wiener Zeitschrift 1838. Beilage 1,1. WuB. Bd. 1.1, S. 305; Bd. 1.4, S. 323. Friedrich Sengle bringt in Bd. I und II seines Werkes .Biedermeierzeit' dazu eine Fülle von Belegen und differenzierten Beobachtungen. Jg. 1832, S. 1263. Jg. 1843, S. 1953. A n d r e a s Schuhmacher: Die Leiden eines Modernen. In: Österreichischer Novellen Almanach 1843, S. 256.
Stifter im Kontext der Biedermeiernovelle
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E r z ä h l u n g . L e i d e n e i n e s M o d e r n e n ' , e i n e r S k i z z e a u s d e m L e b e n , u n d ist ein typisches Bild der Biedermeierzeit für überhitzte Spekulation und b r e n n e n d e L e i d e n s c h a f t , s o a u c h in S t i f t e r s . B r i g i t t a ' , w o S t e f a n M u r a i auf d e m V e s u v „ a m R a n d e d e s n e u e n K r a t e r s " 1 2 steht. Die Fehleinschätzung Cornelias g e g e n ü b e r den Möglichkeiten ihres Ges c h l e c h t e s (in S t i f t e r s . D e r C o n d o r ' ) , d e r V e r z i c h t d e s K ü n s t l e r s a u f d a s allt ä g l i c h e L e b e n s g l ü c k (im . H a i d e d o r f ' ) u n d d i e bis z u m S e l b s t m o r d v e r s u c h sich s t e i g e r n d e G e f ä h r d u n g d u r c h u n k o n t r o l l i e r t e L e i d e n s c h a f t (in d e r , M a p p e ' ) - a l l e s V e r ö f f e n t l i c h u n g e n S t i f t e r s in d e r . W i e n e r Z e i t s c h r i f t ' - w e r d e n t h e m a t i s c h v a r i i e r t in d e r im s e l b e n O r g a n e r s c h i e n e n e n E r z ä h l u n g . S c h u l d u n d S ü h n u n g ' v o n B e t t y P a o l i , in d e r e i n e L e i d e n s c h a f t d u r c h e i n e n O p f e r t o d g e s ü h n t w i r d , o d e r in Ida F r i c k s S k i z z e a u s d e m T a g e b u c h e i n e s A r z t e s . D i e S t r ä f l i n g i n n ' , in d e r ein u n s c h u l d i g e s M ä d c h e n d u r c h S t a n d e s d ü n k e l , E h r g e i z u n d T r e u l o s i g k e i t u m i h r e n V e r s t a n d g e b r a c h t w i r d : bei d e r B e g e g n u n g mit d e m seine Treulosigkeit beklagenden Geliebten wirkt der „ S e e l e n a f f e k t " tödlich auf d e n d u r c h G r a m u n d E n t b e h r u n g g e s c h w ä c h t e n K ö r p e r d e s M ä d c h e n s . D a n e b e n steht im K o n t r a s t zu d i e s e n t r a g i s c h e n , a b e r j e w e i l s d a s Sitt e n g e s e t z b e s t ä t i g e n d e n N o v e l l e n die E r z ä h l u n g , U n s e r e L a n d w i r t s c h a f t ' v o n Emanuel Straube, deren Unterhaltungswert einer Volkstheaterposse ähnelt: Ein H o f r e g i s t r a t o r u n d s e i n e F r a u b e z i e h e n als l a n g e r s e h n t e s Ziel i h r e r S p a r s a m k e i t u n d E n t b e h r u n g ein L a n d h a u s v o r d e n T o r e n d e r S t a d t u n d f e i e r n d i e A r b e i t in d e r f r e i e n N a t u r als d e n S c h r i t t zu „ e i n e m s c h ö n e r e n g r a m f r e i e n D a s e i n " . D o c h b a l d e n t p u p p t sich d e r n e u e N a c h b a r als ein zu U n r e c h t u m s e i n e E h r e g e b r a c h t e r B e a m t e r . W i e in N e s t r o y s , M ä d e l a u s d e r V o r s t a d t ' d u r c h d i e Aktivitäten des Advokaten Schnoferl die verlorene Ehre wiederhergestellt w i r d , so h i e r d u r c h d i e U m s i c h t d e s H o f r e g i s t r a t o r s K r a u s e . A u f f a l l e n d ist, d a ß sich s o w o h l d i e e r n s t e n als a u c h d i e v o r z ü g l i c h a u f Erheiterung zielenden Erzählungen der Biedermeierzeit der rhetorischen Formen und der poetischen Sprechweisen der klassischen Literatur bedienen und durch A n s p i e l u n g e n und Zitate auf die Kenntnis dieser Literatur h i n w e i s e n ; v o n d e r t r i v i a l e n bis z u r a n s p r u c h s v o l l e n E r z ä h l u n g w i r d o f f e n s i c h t l i c h e i n e V e r b i n d u n g a n g e s t r e b t zu A u t o r e n w i e G o t t s c h e d , K l o p s t o c k , W i e l a n d , G o e t h e , L a v a t e r , S c h i l l e r , Jean P a u l u n d K l e i s t , v o n d e n e n allen sich T e x t e in d e r Z e i t s c h r i f t f i n d e n ; es f e h l e n a b e r a u c h n i c h t d i e a n g e s e h e n e n N a m e n d e r österreichischen Literatur wie Grün, Halm, Feuchtersieben, Johann Gabriel Seidl, Tschabuschnigg, Hammer-Purgstall u.a.13
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WuB. Bd. 1.2, S. 216; vgl. Bd. 1.5, S. 414. Andreas Schuhmacher schrieb für die Wiener .Sonntagsblätter' (1844, S. 977f.) einen preisenden Artikel über Goethe, der in dem Lob gipfelte, in dessen Werk sei die gesamte deutsche Literatur in nuce enthalten. - Michael Enk von der Burg, Benediktinerpater in Melk und ein angesehener Schriftsteller, der von 1839 bis zu seinem Tod 1843 regelmäßig Beiträge für die ,Iris' lieferte, hob in seiner Poetik (Die Epistel des Quintus Hora-
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Alfred
Doppier
W e n n auch die ,Iris' im G e g e n s a t z zur ,Wiener Z e i t s c h r i f t f ü r Kunst, Literatur, T h e a t e r und M o d e ' durch den E i n b a n d in roter S e i d e mit G o l d p r ä g u n g und v o r z ü g l i c h e n Stahlstichen über den Tag h i n a u s w i r k e n wollte, so ist doch auch in d i e s e m v o r n e h m e n T a s c h e n b u c h die Absicht u n v e r k e n n b a r , d u r c h die Z u s a m m e n s t e l l u n g v e r s c h i e d e n a r t i g e r Texte einen breiten L e s e r g e s c h m a c k zu b e d i e n e n und trotz der Vielfalt ein b e s t i m m t e s P r o g r a m m zu v e r w i r k l i c h e n . Mit N a c h d r u c k wird auch hier der g e b i l d e t e Leser, vor allem aber auch die Leserin a n g e s p r o c h e n ; F r a u e n s c h i c k s a l e spielen in der ,Iris' eine b e d e u t s a m e Rolle, und die Stahlstiche zeigen in ihrer Mehrzahl Frauenbildnisse. D e r vat e r l ä n d i s c h e und patriotische Aspekt wird betont. A n g e r e g t durch den H e r a u s g e b e r J o h a n n Graf Mailáth und den Verleger H e c k e n a s t , der als ein österreic h i s c h e r Cotta h o h e s A n s e h e n g e n o ß , wird in b e s o n d e r e r Weise um eine Vers t ä n d i g u n g z w i s c h e n Österreich und Ungarn g e w o r b e n . Mailáth hatte sich schon 1825 um das B e k a n n t w e r d e n der u n g a r i s c h e n Literatur in Österreich und D e u t s c h l a n d b e m ü h t . Bei Cotta e r s c h i e n e n seine , M a g y a r i s c h e n G e d i c h t e ' ( 1 5 0 G e d i c h t e von 24 Dichtern in d e u t s c h e n Ü b e r t r a g u n g e n ) ; 1837 g a b er m a g y a r i s c h e Sagen und M ä r c h e n heraus, die er t e i l w e i s e selber g e s a m m e l t und wie die B r ü d e r G r i m m bearbeitet hatte. Schließlich stammt von ihm auch die erste Ü b e r s e t z u n g des , D o r f n o t a r s ' von Joseph E ö t v ö s . Was sich aber in b e s o n d e r e r Weise f ü r die , l r i s ' a u s w i r k t e , war, daß Mailáth der offiziell anerk a n n t e Historiker f ü r die G e s c h i c h t e Ö s t e r r e i c h - U n g a r n s war und selbst in der M e t t e r n i c h z e i t die E r l a u b n i s zu f r e i e r F o r s c h u n g in den Archiven hatte. Ich g r e i f e nun einen B a n d d e r , I r i s ' 1 4 heraus. D a s T a s c h e n b u c h f ü r das Jahr 1843 entfaltet f o l g e n d e s literarisches P a n o r a m a : Von 394 Seiten stehen auf e t w a 50 Seiten lyrische G e d i c h t e , Balladen und ein 52 Strophen langes e p i s c h e s G e d i c h t . Sechs Stahlstiche illustrieren lyrische Gedichte und den his t o r i s c h e n A u f s a t z von Mailáth über Isabella Z á p o l y a , d e m ein Bild der Königin vorangestellt ist. Mailáths A u f s a t z endet mit der Feststellung, daß die Ber ü h m t h e i t des H a u s e s Z á p o l y a eine traurige B e r ü h m t h e i t sei, weil J o h a n n Sig i s m u n d , der S o h n Isabellas, sich g e w e i g e r t h a b e , die w o h l b e g r ü n d e t e n R e c h te des H a b s b u r g e r s F e r d i n a n d a n z u e r k e n n e n , und er d a h e r schuldig g e w o r d e n sei an d e r inneren Z e r r ü t t u n g des R e i c h e s . Z w e i lyrische Gedichte von J o h a n n N e p o m u k Vogl ( , A u f einer U n g a r h a i d e ' und , D a s G r a b auf der H a i d e ' ) ergän-
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tius Flaccus über die Kunst. Für Dichter und Dichterlinge gedolmetscht. Wien 1841) die Bedeutung Lessings, Goethes und Schillers hervor. Bezeichnend für die ästhetische Diskussion dieser Zeit ist die enge Bindung an die normative Ästhetik der Aufklärung. Im einzelnen dazu: Herbert Seidler: Österreichischer Vormärz und Goethezeit. Wien 1982 (besonders das Kapitel .Ästhetik und Literaturbetrachtung 1 8 3 0 - 1 8 4 8 ' , S. 273^433); Roger Bauer: Der Idealismus und seine Gegner in Österreich. In: Euphorion, 3. Beiheft (1966), S. 106-113. Iris. Taschenbuch für das Jahr 1843. Herausgegeben von Johann Graf Mailáth. Vierter Jahrgang. Mit sechs Stahlstichen. Pesth, Verlag von Gustav Heckenast.
Stifter im Kontext der
Biedermeiernovelle
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zen unter d e m Titel . K l ä n g e aus U n g a r n ' den A u f s a t z Mailáths. Sie besingen Weite und E i n s a m k e i t der u n g a r i s c h e n Heide in trivial e m p f i n d s a m e n Versen: S a n d , wohin das A u g e blicket, S a n d , was hier Natur erschuf; H i e r und dort nur e i n g e d r ü c k e t E i n e s f l ü c h t ' g e n R o s s e s Huf. U n d d u r c h diese weite Wüste Z i e h ' ich e i n s a m und allein U n d mir ist g e r a d ' , als m ü ß t e S o es, und nicht anders sein. Die Lyrik ist i n s g e s a m t e p i g o n a l , auch die G e d i c h t e von Johann Gabriel Seidl, der b e s o n d e r s herausgestellt wird, unterscheiden sich nur wenig von den dilettantisch w i r k e n d e n Versen Vogls. Die Versdichtung , A m Nil' von Ritter von Levitschnigg (einem zu seiner Zeit b e k a n n t e n H e c k e n a s t - A u t o r ) und eine historisierende E r z ä h l u n g von H a m m e r - P u r g s t a l l , der im übrigen in kaum einer Zeitschrift, k a u m e i n e m K a l e n d e r o d e r T a s c h e n b u c h fehlt, decken die Vorliebe f ü r Exotik und o r i e n t a l i s c h e Sinnlichkeit ab. Ein balladenartiges Gedicht von Heinrich L a n d e s m a n n ü b e r ein A b e n t e u e r des Herrn G a w i n aus der A r t u s T a f e l r u n d e zeigt den L i t e r a t u r k r i t i k e r H i e r o n y m u s Lorm (das ist das P s e u d o n y m f ü r L a n d e s m a n n ) noch r o m a n t i s c h enthusiasmiert und in Ü b e r e i n s t i m m u n g mit d e r S c h r e i b w e i s e Stifters; von 1847 an spricht er dann a l l e r d i n g s von der e r s t a u n l i c h e n B o r n i e r t h e i t und B e s c h r ä n k t h e i t Stifters, der nur „nichtiges Z e u g " h e r v o r b r i n g e . Die Prosa-Beiträge werden von Betty Paoli mit der H u m o r e s k e .Bekenntnisse' eröffnet. Eine j u n g e Adelige glaubt, fasziniert von der Schönheit der G e m ä l de, der S c h ö p f e r dieser Bilder müsse ein ideal gesinnter, an Leib und Seele schöner M e n s c h sein. Sie erkennt ihre schwärmerische Liebe und hingebungsvolle O p f e r b e r e i t s c h a f t als T ä u s c h u n g , und die Enttäuschung macht sie f ü r ihr Leben lang skeptisch g e g e n ü b e r der Möglichkeit eines wahrhaften Gefühls. Die ,Bekenntnisse' sind als S a l o n g e s p r ä c h e arrangiert und mit literarischen Anspielungen auf G o e t h e s M e p h i s t o , Schillers .Don C a r l o s ' , auf Börne und George Sand durchwirkt. Grundiert werden sie von einem verhaltenen Weltschmerz. Der in der ,Iris' namentlich nicht genannte Friedrich Fürst Schwarzenberg berichtet ,Aus den Papieren eines verabschiedeten L a n z e n k n e c h t e s ' von einem durch die Ereignisse in der f r a n z ö s i s c h e n Revolution schwer getroffenen und verbitterten Royalisten, der j e d e n , von dem er annimmt, er sympathisiere mit den A n h ä n g e r n der Juli-Revolution, zu einem Duell provoziert und a u f g r u n d seiner überlegenen K a m p f t ü c h t i g k e i t unweigerlich tötet. Die Z u n e i g u n g des Erzählers gilt uneingeschränkt d e m A n h ä n g e r des legitimen Königshauses. Doch nun zu den zwei u m f a n g r e i c h s t e n E r z ä h l u n g e n des B a n d e s , der N o vellette . A m o r in T r i c o t ' von Walter Tesche und der Novelle . D i e N a r r e n b u r g ' von Adalbert Stifter.
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Doppler
Walter Tesche und Stifter behandeln das in der Restaurationszeit beliebte Thema der adeligen Erbfolge; sie behandeln die Konflikte, wie sie durch das Majorats-Recht und die Einrichtung des Fideikommisses entstehen können, weil durch diese Regelungen der feudale Besitz jeweils ungeteilt nach dem Ältestenrecht in der Hand eines Familienmitgliedes bleiben muß. Entfremdung zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern und Verwandten sind dadurch vorprogrammiert. Auch Betty Paoli schrieb etwa zur selben Zeit eine Erzählung zu diesem Thema mit dem Titel ,Zwei Brüder'. Tesche entwirrt in seiner Novellette eine Urkundenmanipulation, die das Zusammenfinden füreinander bestimmter Liebespaare gefährdet, durch die Umsicht und die Tüchtigkeit eines Geheimsekretärs, der wie ein verborgener Lenker des Schicksals auftritt. Sein unansehnliches Äußeres - er ist ein verkrüppelter Zwerg - entspricht nicht seiner Einsicht und seinem inneren Wert. Unerschrocken spielt er den Behörden, die eine untadelige Ordnung garantieren, eine Urkunde zu, die dem tatsächlichen Erben zu seinem Besitz verhilft. Ohne den alten Majoratsherrn bloßzustellen, kann der neue Herr die urkundlich verbriefte Ordnung restaurieren. Der Geheimschreiber, der Verwalter der Vernunft und Menschenfreundlichkeit, klärt aber nicht nur die Erbfolge, sondern auch die Mißverständnisse, die vor Jahren zur Trennung der Gräfin Olympia vom Grafen Constantin geführt haben, indem er es ermöglicht, daß die beiden wechselweise ihre Tagebücher lesen können. In diesem Zusammenhang wertet Tesche ein auch von Stifter wiederholt eingesetztes BiedermeierMotiv aus: Das spätere Lesen von Tagebuchaufzeichnungen, die im Rückblick das Übersteigerte und Maßlose einer unkontrollierten Affektivität sichtbar machen. Während der erneuten Lektüre seines Tagebuches stellt Graf Constantin fest: „Die Erneuerung jener bitteren Täuschung glaubte ich in dem Tagebuch zu finden, worin ich damals den ganzen Sturm meines empörten Herzens ausgetobt hatte." Doch jetzt „erscheinen mir jene leidenschaftlichen Ausbrüche meines Schmerzes, nur als Zeichen einer unbegreiflichen Verblendung und wunderlicher, ja lächerlicher Eitelkeit. Statt der gesuchten Auffrischung meiner gehässigen Empfindungen, fand ich moralische Betrachtungen über den Nutzen eines treu geführten Tagebuchs für unsere Bildung und Selbsterkenntnis. Aus seinem Spiegel trat mir ein fremdes Bild entgegen, dessen eigensüchtige Züge mich beschämten". 1 5 Die Handlung der Erzählung Tesches spielt vor dem Hintergrund einer prächtigen Schloßkulisse, eines Schloßparks und einer steil zur Donau abfallenden Straße. Ein als Amor kostümierter Knabe (von daher der Titel) löst einen Unfall aus - einen äußerlich herbeigeführten überraschenden novellistischen Wendepunkt - , Pferde werden scheu, Roß und Wagen versinken im reißenden Donaustrom, nur die Menschen bleiben heil. Die abschließende
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Iris. Jg. 1843, S. 153.
Stifter im Kontext der Biedermeiernovelle E n t w i r r u n g u n d V e r s ö h n u n g v o l l z i e h t sich in A n w e s e n h e i t e i n e r a d e l i g e n G e s e l l s c h a f t , d i e f e i e r l i c h e E r b ü b e r g a b e f i n d e t in e i n e m R i t t e r s a a l statt, in d e m d i e S t a t u e n d e r A h n e n in R e i h u n d G l i e d s i n d . D a n e b e n d e n M a j o r a t s - a u c h d i e A l l o d i a l g ü t e r ( d a s sind d i e als u n e i n g e s c h r ä n k t e r p e r s ö n l i c h e r B e s i t z g e l t e n ) s ä u b e r l i c h u n d v e r t e i l t w e r d e n , sind „ a l l e d e m u n g e t r ü b t e n L e b e n s g e n u ß w i e d e r w i e es im S c h l u ß s a t z der E r z ä h l u n g h e i ß t .
215 festlichen prächtigen aufgestellt G ü t e r , die hochherzig gegeben",
D e r L e s e r k a n n als Z a u n g a s t an d e n V e r w i r r u n g e n u n d I r r u n g e n e i n e r wohlhabenden, angesehenen Adelsfamilie teilnehmen. Der Liebreiz, die Gefühlstiefe und die Eleganz der Frauen, die Ritterlichkeit und Großmütigkeit d e r j u n g e n E r b e n u n d d i e k l u g e D i e n s t b e r e i t s c h a f t e i n e s t r e u e n D i e n e r s wirk e n z u s a m m e n , alle g u t e n K r ä f t e zu e n t b i n d e n : M a c h t s t r e b e n u n d E h r g e i z w e r d e n w i r k u n g s l o s . D i e G e s c h i c h t e w i r d l i n e a r e r z ä h l t u n d mit m y t h o l o g i s c h e n H i n w e i s e n g a r n i e r t . D e r G e s p r ä c h s t o n ist e m p f i n d s a m , N a t u r - und R a u m b e s c h r e i b u n g e n h a b e n die F u n k t i o n e i n e s B ü h n e n b i l d e s , in d e m K u lissen, Prospekte, Bühnenmaschinen und Beleuchtungseffekte Anschaulichkeit h e r z u s t e l l e n h a b e n . Die N a t u r b e s c h r e i b u n g e n sind Z u s a m m e n s t e l l u n g e n aus s p r a c h l i c h e n V e r s a t z s t ü c k e n : „ S i e g e l a n g t e n zu d i e s e r A n h ö h e d u r c h e i n e n H a i n u r a l t e r E i c h e n u n d h i m m e l h o h e r , s c h l a n k e r B u c h e n , die mit ihren g e w a l tigen Säulenstämmen das Laubgewölbe stützten, durch dessen dunkelgrünend e B o g e n n u r e i n z e l n e S o n n e n s t r a h l e n f i e l e n , d i e mit i h r e m G o l d g l a n z auf dem weichen Rasenteppich ruhten, wodurch dessen saftiges Smaragdgrün s c h a r f a u s d e m k ü h l e n W a l d s c h a t t e n h e r v o r g e h o b e n w a r d " . 1 6 In d e n P e r s o n e n b e s c h r e i b u n g e n f o l g t T e s c h e ( a b e r n i c h t n u r er) e i n g e s c h l i f f e n e n F o r m e l n : „ D i e k l e i n e G e s e l l s c h a f t d e s mit g e d i e g e n e m L u x u s m e u b l i r t e n S a l o n s bes t a n d n u r a u s v i e r P e r s o n e n . - D i e r e i z e n d e G r ä f i n O l y m p i a s t a n d in e l e g a n t e r M o r g e n t o i l e t t e in d e r E m b r a s ü r e d e r B a l k o n t h ü r , l e b h a f t s p r e c h e n d m i t i h r e m schönen N e f f e n Hugo, dessen edle Haltung und feurige B e w e g u n g e n noch n i c h t m i t d e r E i s p o l i t u r d e r g r o ß e n Welt zu d e m b l a s i r t e n S c h e i n d e r Ü b e r s ä t tigung abgeschliffen waren. Seine großen, tiefdunkelblauen Augen ruhten mit u n v e r h e h l t e r Z ä r t l i c h k e i t auf d e r l i e b l i c h e n M e l a n i e . [...] D i e R o s e n auf O l y m p i a ' s W a n g e n g l ü h t e n d u n k e l e r ; in s i n n i g e m Z a u d e r n warf sie s p i e l e n d e i n e i h r e r v o l l e n s c h w a r z e n L o c k e n z u r ü c k , d i e e n t f e s s e l t auf d e r A l a b a s t e r brust ruhte".17 W i e e r z ä h l t n u n im G e g e n s a t z d a z u A d a l b e r t S t i f t e r ? In d e r E i n l e i t u n g zur , N a r r e n b u r g ' v e r w e i s t er auf d i e S a t z u n g e n e i n e s . l ä c h e r l i c h e n F i d e i k o m m i s s e s ' . H a n s S c h a r n a s t , d e r A h n h e r r d e s G e s c h l e c h t e s , hat b e s t i m m t , d a ß d e r Erbe von Burg Rothenstein zweierlei Dinge leisten muß: Er mußt so getreu w i e m ö g l i c h s e i n e L e b e n s g e s c h i c h t e a u f s c h r e i b e n , bis ihm d e r Tod d i e F e d e r
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Ebd., S. 133. Ebd., S. 146.
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Alfred
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aus der Hand nimmt, und er muß schwören, alle vor ihm verfaßten Lebensbeschreibungen zu lesen. Die Lektüre der Aufzeichnungen sollte eine Warnung vor schon von anderen begangenen Torheiten sein; die Verpflichtung, selber Rechenschaft zu geben, sollte der Verhütung von Lastern dienen. Das Gesetz des Fideikommisses hat vor drei Generationen die Trennung des Geschlechts der Scharnast verursacht. Von zwei Brüdern hat der ältere, Julianus, nicht nur Burg und Herrschaft übernommen, sondern dem jüngeren, Julius, auch den ihm von der Mutter zustehenden Besitz verweigert. Julius hat empört das Land verlassen, über sein weiters Leben gibt es nur Gerüchte. Zu Unrecht angemaßter Besitz, Verschwendung, Maßlosigkeit, hochfahrende Gereiztheit, Verbitterung, Enttäuschung, aber auch Weltschmerz, Trauer und Verzweiflung der Schloßbewohner und dazu gegenläufig die Absicht, der Versuch und der Wunsch, naturgemäß, schlicht, sanft und einfach zu leben, geben das Grundthema der Novelle ab. In drei Kapiteln, die als sprachliche Bildkompositionen aufeinander bezogen sind, steuert die Novelle einem dramatischen Höhepunkt zu: Durch den Lebensbericht des Grafen Jodok, eines Sohnes des herrschsüchtigen Julianus, wird das dunkle Schicksal aufgehellt, das den Untergang der herrschenden Scharnast-Linie bewirkt hat. Die Kapitelüberschriften ,Die grüne Fichtau', ,Das graue Schloß' und ,Der rote Stein' signalisieren durch die Farbtönung jeweils eine besondere Stimmung: der fruchtbare, sanft sich ausbreitende Landschaftsraum des ersten Kapitels, das graue, verwitterte, verfallene Mauerwerk, das Geröll und das Gerümpel des Schloßbezirkes im zweiten Kapitel schaffen einen Farbkontrast, der im dritten Kapitel überglänzt wird durch den aus der Höhle des roten Steins hervorgeholten Lebensbericht, in dem eine glühende Leidenschaft sich ausspricht. Als Ausklang kommt dann noch einmal die lebensfrohe „Grüne Fichtau" in den Blick: Das erschreckende Bild der Vergangenheit wird so in einen heiteren Rahmen gefaßt. Im Unterschied zu den gängigen Landschaftsschilderungen, die als Handlungskulisse nach Bedarf aufgestellt werden, geht Stifter bei der Darstellung der „Grünen Fichtau" nicht illustrierend ans Werk, sondern konstruktiv. 18 Stifter stellt im Sinn der literarischen Tradition eine Idylle her, befreit diese aber von allen arkadischen Requisiten und durchsetzt sie mit Hinweisen auf die Möglichkeit eines harmonischen, glückversprechenden Lebens. Irrtum, Leidenschaft, Trauer, Leid und Krankheit sind als Unterströmung in diese Idylle eingelagert. Konstruktives Verfahren und detailrealistische Beschreibung, Naturdarstellung und Genrebilder aus dem Alltag sind ineinander verschränkt; in der Beschreibung der biederen, einfachen, anscheinend aus purer Redlichkeit
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Den Stellenwert der Idylle in der .Narrenburg' behandelt die ungedruckie Diplomarbeit von Martin Sturm: Ü b e r n a h m e und Adaption traditioneller idyllischer Naturmotive in Stifters , N a r r e n b u r g ' . Innsbruck 1987.
Stifter im Kontext der
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b e s t e h e n d e n L a n d l e u t e ist deren B e s c h r ä n k t h e i t und B o r n i e r t h e i t m i t e i n b e z o g e n , ihr H a n g zu v o r s c h n e l l e n Urteilen und e i n g e f l e i s c h t e n Vorurteilen. Die f e i e r l i c h e A b e n d s t i m m u n g , die um „die d u n k l e n H ä u p t e r der G e b i r g e " 1 9 fließt, v e r d u n k e l t sich: „ U n d nach einer h a l b e n S t u n d e war es f i n s t e r und still im g a n z e n H a u s e der g r ü n e n Fichtau als w ä r ' es im Tode begrab e n " , 2 0 die N a c h t ist „ e r n s t " und „ e r s c h ü t t e r n d " , auf den Bergen ist Todess c h w e i g e n . M a n ist d e m grellen Licht s c h m e r z l i c h a u s g e s e t z t und ist in die Finsternis wie e i n g e m a u e r t , die Berge w e r d e n u n z u g ä n g l i c h und plötzlich von den Wolken e i n g e t r u n k e n ; und dies, o b w o h l die „ G r ü n e F i c h t a u " auf e i n e n s a n f t e n Ton g e s t i m m t ist, in ihr f i n d e n keine G e w i t t e r statt, ein Tag ist schöner als der a n d e r e , die G e r ä u s c h e sind g e d ä m p f t , das Wasser rieselt o d e r plätschert, der B a c h ist ein p l a u d e r n d e r F r e u n d , d e r R h y t h m u s d e r Tages- und N a c h t z e i t e n hat e t w a s B e r u h i g e n d e s und wird d u r c h die W i e d e r h o l u n g z u m Z e i c h e n einer b e s t ä n d i g e n O r d n u n g . Der N a t u r f o r s c h e r Heinrich - er s t a m m t aus der u n t e r g e t a u c h t e n Linie der S c h a r n a s t und ist der k ü n f t i g e Herr d e r S c h l o s s e s - liest im B u c h d e r Natur, die er zur R i c h t s c h n u r s e i n e s H a n d e l n s m a c h t , „im B u c h e G o t t e s , und die Steine und die B l u m e n , und die L ü f t e und die Sterne sind seine B u c h s t a b e n " . 2 1 In der n ä c h t l i c h e n L i e b e s s z e n e mit A n n a , e i n e m M ä d c h e n aus d e m Volk, sinkt „das L u f t s i l b e r d e s M o n d e s [...] auf ihrer b e i d e r A n g e s i c h t e r " , ihr S c h w e i g e n wird begleitet von dem S c h w e i g e n der g a n z e n g l ä n z e n d e n N a c h t , „nichts rührte sich, als u n t e n die e m s i g rieselnden Wasser, und o b e n die Spitzen der f l i m m e r n d e n S t e r n e " . 2 2 Die N a t u r b e s c h r e i b u n g ist z u g l e i c h M e n schendarstellung. Der B u r g b e z i r k , wie er im zweiten Kapitel sich a u s b r e i t e t , ist d a g e g e n das sichtbare Z e i c h e n einer d u n k l e n und v e r w o r r e n e n V e r g a n g e n h e i t , die im verw i r r t e n , h a l b w a h n s i n n i g e n alten D i e n e r R u p r e c h t n o c h in die G e g e n w a r t der „ G r ü n e n F i c h t a u " h i n e i n r e i c h t . Der L e b e n s b e r i c h t des G r a f e n J o d o k , den H e i n r i c h aus d e m roten Stein h e r v o r h o l t , bringt dann das, w a s sich als ä u ß e r e E r s c h e i n u n g auf d e m B u r g b e r g zeigt, als innere N a t u r d e r einst dort l e b e n d e n M e n s c h e n z u m Vorschein. D e r e u r o p a m ü d e , von K u n s t , W i s s e n s c h a f t und Zivilisation e n t t ä u s c h t e J o d o k wollte in I n d i e n ein n e u e s L e b e n b e g i n n e n , er lernt dort seine F r a u C h e l i o n kennen, die er nach E u r o p a und auf sein S c h l o ß f ü h r t . C h e l i o n verträgt w e d e r das K l i m a noch den L e b e n s r h y t h m u s noch die L e b e n s f o r m e n ihrer neuen H e i m a t und bleibt eine F r e m d e . Im Taumel d e r Eif e r s u c h t auf seinen B r u d e r d e n k t J o d o k e i n e n A u g e n b l i c k d a r a n , seine Frau zu töten. Und d i e s e r G e d a n k e wirkt so wie das tödliche G i f t , d a s J o d o k bei sich trägt und v e r z w e i f e l t in den A b g r u n d w i r f t - „sie hatte mich e i n m a l mit d e m
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Iris. Jg. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.
1843, S. 255. 256. 269. 271.
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Doppler
Mörderauge an ihrem Bette stehen gesehen, und dies war nicht mehr aus ihrer Seele zu nehmen". 2 3 - „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt, es ist niemals gutzumachen" (Kafka) - : die Liebe verwandelt sich in Angst, die sanfte Frau siecht dahin und stirbt, und Jodok ruft aus „ 0 wie entsetzlich, ein wie furchtbar Raubthier ist der Mensch!!" 2 4 Das Erzählprinzip ist auf dem Gegensatz von Sanftheit und Erregung, von Offenheit und Verschlossenheit, von gelassenem Wachstum und ruheloser Geschäftigkeit aufgebaut; und dieser Gegensatz wird trotz ,happy end' und einer wiederhergestellten, auf ein friedliches Zusammenleben bedachten Ordnung nicht aufgehoben, sondern er lebt als Gefährdung und Bedrohung unterschwellig weiter. Das Leben vollzieht sich in einer unaufhebbaren Spannung, die auszuhalten und zu ertragen ist. 25 Schon 1844 schrieb Hieronymus Lorm im Leipziger .Grenzboten' - zu einer Zeit also, wo er noch nicht von Stifters politischer Enthaltsamkeit enttäuscht war: - „Stifter kennt den Menschen, weil er die Natur kennt, in ihrer Schönheit, wie in ihrem Schrecken. So sieht er im Menschenherzen nicht nur die idealen Blüten, auch den Moder und die unheildrohenden Klüfte." 2 6 Die Ordnung wird bei Stifter nicht - wie bei den gängigen Biedermeier-Autoren - restauriert, sondern als Aufforderung und als unverzichtbare Hoffnung ins Bewußtsein gerufen. Den Ablauf des Geschehens setzt ein Erzähler in Szene, der zwar gut informiert, aber nicht allwissend ist und der ideales Wollen mit empirisch-naturwissenschaftlicher Beobachtung verbindet. Die Handlung ist vielfach durchbrochen, aber nicht unterbrochen, sie wird nur jeweils auf einer anderen Ebene, sei es Naturbeschreibung, geschichtliche Reflexion oder fingierter autobiographischer Bericht, weitergeführt. Der konservativ-restaurative Stoff und der vordergründige Sinn der Erzählung, ja selbst die ursprüngliche Intention werden auf diese Weise durch die Form der Darstellung durchlässig für „das verschwiegene und verleugnete Leid des entfremdeten Subjekts [...] und die Unversöhntheit des Zustandes". 2 7 Für diese Form des Erzählens hatte die zeitgenössische Literaturkritik kein Organ. Sie empfand Stifters Erzählungen als formlos und unausgewogen, sie hat ihm „das schöne Vorrecht" abgesprochen, daß seine Novellen Kunstwerke seien. In einer Besprechung der ,Iris' für 1846 in den .Wiener Sonntagsblät-
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Ebd., S. 354. Ebd., S. 353. Zur Gesamtinterpretation der . N a r r e n b u r g ' vgl. Erika Tunner: Färb-, Klang- und Raumsymbolik in Stifters . N a r r e n b u r g ' . In: Recherches Germaniques 7 (1977), S. 113-127; f e m e r Erich Burgstaller: Zur künstlerischen Gestaltung von Adalbert Stifters .Narrenb u r g ' . In: Seminar 12 (1976), S. 8 9 - 1 0 8 . H i e r o n y m u s Lorm: Adalbert Stifter. In .Grenzboten ' 3/II/2 (1844), S. 499; zit. nach Moriz Enzinger: Adalbert Stifter im Urteil seiner Zeit. Wien 1968, S. 50. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften. Bd. 7. Hrsg. von Gretel A d o r n o und Rolf T i e d e m a n n . F r a n k f u r t a.M. 1970, S. 346.
Stifter im Kontext der
Biedermeiernovelle
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tern' wird geurteilt: „Leere der H a n d l u n g , h a l b a n g e k l u n g e n e G e f ü h l e , Überspanntheit so m a n c h e r Karaktere, V e r s c h w i m m e n der S i t u a z i o n e n , u n v e r h ä l t n i s m ä ß i g e s A u s a r b e i t e n der e i n z e l n e n Teile, und die Breite, die hie und da den Eindruck s c h w ä c h t " . 2 8 Man glaubte, da S t i f t e r a n d e r s e r z ä h l t e , als es sonst in den J o u r n a l e n üblich war, daß die P r o p o r t i o n e n seiner E r z ä h l u n g e n nicht s t i m m t e n und sie daher nicht „den A n s p r u c h auf den Titel und die Werthhältigkeit eines vollendeten K u n s t w e r k e s " m a c h e n k ö n n t e n . An den Inhalten der E r z ä h l u n g e n hat man sich nicht g e s t o ß e n ; d a ß diese aber d u r c h die Struktur der Kapitel, durch den R h y t h m u s der Sätze und A b s ä t z e und durch den Wechsel von Breite und K n a p p h e i t in einen a m b i v a l e n t e n S i n n z u s a m m e n hang gestellt waren, wurde als m a n g e l n d e s F o r m g e f ü h l g e r ü g t . Die E i n f a c h h e i t des S t o f f e s v e r f ü h r t bei S t i f t e r (wie die R e z e p t i o n s g e schichte zeigt) i m m e r wieder dazu, das S i n n p o t e n t i a l seiner E r z ä h l u n g e n auf eine e i n f a c h e Lesart zu r e d u z i e r e n . Für die B i e d e r m e i e r z e i t ist diese R e z e p t i o n s f o r m verständlich, weil S t i f t e r völlig in die Flut d e r J o u r n a l l i t e r a t u r e i n g e b u n d e n war, in eine Literatur, die sich wie die h e u t e n o c h g ä n g i g e und e r f o l g r e i c h e U n t e r h a l t u n g s l i t e r a t u r auf e p i g o n a l e literarische F o r m e n stützte. Als das Interesse an erbaulich h a r m o n i s i e r e n d e n E r z ä h l u n g e n nach 1848 stark z u r ü c k g i n g , w u r d e Stifter mit seinen J o u r n a l e r z ä h l u n g e n - g l e i c h g ü l t i g , o b diese in die . S t u d i e n ' a u f g e n o m m e n w u r d e n o d e r nicht - zu e i n e m nicht m e h r z e i t g e m ä ß e n Autor; die S t o f f e seiner E r z ä h l u n g e n s c h i e n e n o b r i g k e i t l i c h e r Ergebenheit zu e n t s p r e c h e n , ihre F o r m e r s c h i e n der Kritik als u n a u s g e w o g e n , sie vertrug sich nicht mit den „ o r g a n i s c h e n " Prinzipien der k l a s s i s c h e n Ä s t h e tik. - Nach d e m Schock von 1848 strebte dann S t i f t e r selbst b e f l i s s e n diesen Prinzipien nach und e m p f a n d sich als ein b e s c h e i d e n e r N a c h f o l g e r des g r o ß e n G o e t h e . Die L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t h o n o r i e r t e ihm dies t e i l w e i s e und e r f r e u t e sich an Stifters „ r e i n e r " S c h ö n h e i t und k o n s e r v a t i v e n E r b a u l i c h k e i t ( S t i f t e r der Weise aus O b e r p l a n , der Troststifter, d e r V e r k ü n d e r des s a n f t e n G e s e t z e s ) . Seit einiger Zeit b e g i n n e n diese S c h i c h t e n von S t i f t e r s Werk a b z u b l ä t t e r n , und sichtbar wird, w a s in den J o u r n a l e r z ä h l u n g e n bereits deutlich z u r S p r a c h e gek o m m e n war und w a s auch hinter der a n g e s t r e n g t e n S t i l i s i e r u n g d e r g r o ß e n E r z ä h l u n g e n , N a c h s o m m e r ' und .Witiko* a n w e s e n d ist: d i e u n a u f h e b b a r e L e b e n s s p a n n u n g , mit der Stifter seine F i g u r e n k o n f r o n t i e r t , und die „ s c h r e c k lich s c h ö n e Welt", 2 9 in der sie sich b e w e g e n . 3 0
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Sonntagsblätter. Jg. 1845, S. 1208. So der Titel der Stifter-Ausstellung, die seit 1990 in zahlreichen Städten Ost- und Westeuropas gezeigt wird. Der materialreichen Arbeit von Hellmuth H i m m e l (Probleme der österreichischen Biedermeiemovellistik. Ein Beitrag zur Erkenntnis der historischen Stellung Adalbert Stifters. In: VASILO 12 [1963], S. 3 6 - 5 9 ) verdankt der Verfasser zahlreiche A n r e g u n g e n .
Martin Lindner
Abgründe der Unschuld T r a n s f o r m a t i o n e n des goethezeitlichen B i l d u n g s k o n z e p t s in Stifters , S t u d i e n '
W i e nicht zuletzt die B e i t r ä g e in diesem Band b e w e i s e n , setzt sich in der Fors c h u n g z u n e h m e n d die Erkenntnis durch, daß Stifters a l l g e g e n w ä r t i g e Bes c h w ö r u n g e i n e r s p a n n u n g s f r e i e n H a r m o n i e von P s y c h e und Welt d u r c h a u s nicht B e l e g e i n e r restlosen und unzweideutigen A u f h e b u n g der t i e f g r e i f e n d e n K o n f l i k t e ist, die das eigentliche T h e m a seines Werks sind. B e s t e n f a l l s herrscht ein labiles und provisorisches G l e i c h g e w i c h t , in dem die f u n d a m e n t a l w i d e r s p r ü c h l i c h e n E l e m e n t e des Stifterschen Weltbilds in j e d e m Text auf neue Weise a u s b a l a n c i e r t sind. Dies gerät leicht aus dem Blick, wenn man die Texte isoliert betrachtet, da j a i m m e r der Anspruch e r h o b e n wird, die eine, e w i g e und u n v e r ä n d e r l i c h e G e s e t z m ä ß i g k e i t der N a t u r v o r z u f ü h r e n . Tatsächlich erscheint die a l l u m f a s s e n d e Natur aber nicht als u n p r o b l e m a t i s c h e Einheit, sondern e h e r als letztlich a b g r ü n d i g e coincidentia o p p o s i t o r u m . Wenn das L o s einer Figur also im Z u s a m m e n h a n g eines Textes als gänzlich vom S c h i c k s a l bes t i m m t e r s c h e i n t , so k o m m t eine b e m e r k e n s w e r t e O f f e n h e i t f ü r d i f f e r e n z i e r t e Varianten z u m Vorschein, wenn man das Los eines charakterlichen T y p u s in m e h r e r e n Texten n e b e n e i n a n d e r h ä l t . So rettet Stifter g e w i s s e r m a ß e n auf der E b e n e d e s Œ u v r e s einen Rest des goethezeitlichen Ideals vom a u t o n o m e n , exp e r i m e n t e l l e n und utopisch o f f e n e n Lebenslauf, das er auf der E b e n e des Einz e l t e x t e s p r e i s z u g e b e n scheint. Der K o m p l e x von „ U n s c h u l d " und „ S ü n d e " ist besonders g e e i g n e t , die A m b i v a l e n z e n und W i d e r s p r ü c h e der Stifterschen Texte a u f z u s c h l ü s s e l n . Dem d o g m a t i s c h - r i g i d e n B e i k l a n g der B e g r i f f e zum Trotz zeigt sich g e r a d e hier, d a ß die S a c h v e r h a l t e , die sie bezeichnen, sich d u r c h a u s nicht in ein S c h w a r z W e i ß - S c h e m a f ü g e n . Tatsächlich variiert Stifter hier ein bereits von d e r Rom a n t i k f o r m u l i e r t e s D i l e m m a : Z u m einen gelten Irrwege, g e m ä ß der o f f e n e n B i l d u n g s k o n z e p t i o n der Goethezeit, als n o t w e n d i g und konstruktiv. Der Verlust d e r U n s c h u l d ist g e r a d e z u die Voraussetzung, sie auf einer h ö h e r e n E b e n e w i e d e r z u g e w i n n e n und in einer der Utopie angenäherten, sozial integrierten L e b e n s f o r m zu k o n s e r v i e r e n . Gleichzeitig werden solche Irrwege z u n e h m e n d gern als „ S ü n d e " d ä m o n i s i e r t , d.h. zu einer auf Erden nicht m e h r vollständig w i e d e r g u t z u m a c h e n d e n m e t a p h y s i s c h e n Schuld, die den entwurzelten A u s n a h m e m e n s c h e n d i e Reintegration in das unschuldige „Volk" u n m ö g l i c h m a c h t . S t i f t e r s b e i n a h e m y t h i s c h e r K o s m o s , in dem die i m m e r gleichen P r o b l e m k o n s t e l l a t i o n e n u n t e r s c h i e d l i c h ausdifferenziert und gelöst werden, steht d a b e i einerseits in e i n e r beinahe anachronistisch engen B e z i e h u n g zum Literatur- und
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Denksystem der Goethezeit, andererseits unterwirft er die übernommenen Denkfiguren gravierenden Transformationen, die auf den Realismus vorausweisen. Um dies zu zeigen, beschränke ich mich im folgenden auf das Frühwerk Stifters, d.h. auf die dreizehn Novellen, die seit 1840 in verschiedenen Journalen und Almanachen erstmals veröffentlicht und, zum Teil stark sinnverändernd umgearbeitet, 1844 bis 1850 in der schließlich sechsbändigen Ausgabe der .Studien' erschienen sind. 1
Der archetypische Konflikt: Der problematische Weg der Ausnahmemenschen In allen Novellen der „Studien" läßt sich als thematischer Kern eine grundlegende Konfliktkonstellation isolieren, deren Verlauf und Lösung von Fall zu Fall anders variiert wird. 2 Im Zentrum steht jeweils (mindestens) eine problematische männliche Ausnahmefigur. In den gar nicht seltenen Texten, in denen eine weibliche Ausnahmefigur eine zentrale Rolle spielt, gibt es jedenfalls an der Peripherie des Textes auch einen Mann mit verwandter seelischer Problematik. Obwohl also, was die seelische Problematik angeht, kein prinzipieller (wohl aber ein gradueller) Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht wird, sind doch die Möglichkeiten der Frauen, sie auszuleben und dennoch am Ende zu einer dauerhaften Lebensform zu finden, ungleich beschränkter. Die Problemlage, mit der es diese Ausnahmemenschen zu tun haben und die die Gefährdung ihrer „Unschuld" von vornherein impliziert, ist etwa folgende: Durch eine besondere, nicht weiter begründete seelische Veranlagung, die sich insbesondere in einer .sprechenden' Physiognomie ausdrückt, sind sie von Beginn an dem Raum der maßvoll-menschlichen Kultur entfremdet, in dem ausgeglichene, sozial voll integrierte Durchschnittsmenschen mit begrenztem geistigem Horizont dem täglichen Geschäft nachgehen. Sie dagegen lieben die Einsamkeit und überschreiten in vielfacher Hinsicht eine kritische Grenze, womit sie zugleich ihre seelische Stabilität bzw. ihr Leben aufs Spiel setzen: (a) die topographische Grenze zu einer wilden, menschliches Maß sprengenden Natur (Wüste, Heide, Gebirge, Wald), was um so gravierender 1
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Folgende Abkürzungen werden im Text f ü r die Titel der . S t u d i e n ' - E r z ä h l u n g e n verwendet: C = ,Der C o n d o r ' ; FB = . F e l d b l u m e n ' ; H D = ,Das Haidedorf·; H W = .Der Hochw a l d ' ; NB = ,Die N a r r e n b u r g ' ; MU = ,Die M a p p e meines U r g r o ß v a t e r s ' ; A = . A b d i a s ' ; AS = ,Das alte S i e g e l ' ; Β = .Brigitta'; HG = ,Der Hagestolz'; W S = .Der Waldsteig'; ZS = .Zwei S c h w e s t e r n ' ; T Ä = .Der beschriebene Tännling'. Das erkennt (neben anderen) etwa auch Karen Pawluk Danford: The Family in Adalbert S t i f t e r ' s Moral and Aesthetic Universe. A Rarefied Vision. New York 1991, S. 52. Es genügt aber eben nicht, nur vage von konstanten „major issues" zu sprechen. Nötig ist vielmehr eine detaillierte und präzise Erfassung und Abgrenzung der von Stifter sehr bewußt eingesetzten t h e m a t i s c h e n und semantischen Module.
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ist, j e w e i t e r d i e s e E x t r e m r ä u m e von der s ü d o s t d e u t s c h e n , M i t t e ' e n t f e r n t liegen ( U n g a r n , P a l ä s t i n a , A f r i k a , Indien, Amerika oder gar die oberen Schichten der A t m o s p h ä r e ) ; (b) die metaphysische Grenze zu den „ d u n k l e n " , „ f r e m d e n " B e r e i c h e n d e r N a t u r (die z u m einen, in der . ä u ß e r e n ' Natur, mit d e r topograp h i s c h e n G r e n z e z u s a m m e n f ä l l t , zum anderen mit d e r S c h w e l l e zu den Abg r ü n d e n d e r . i n n e r e n ' , p s y c h i s c h e n Natur); (c) die normative G r e n z e der kulturell a k z e p t i e r t e n und o h n e psychischen Schaden verträglichen e m o t i o n a l e n (im R e g e l f a l l n a t ü r l i c h a u c h e r o t i s c h e n ) Intensität. T o p o g r a p h i s c h e , transzend e n t a l e , soziale, p s y c h i s c h e und g e g e b e n e n f a l l s erotische G r e n z ü b e r s c h r e i t u n gen bilden also z u s a m m e n ein einziges, k o m p l e x e s P h ä n o m e n . Die G e f a h r besteht n u n darin, aus den grundsätzlich n o t w e n d i g e n Exk u r s i o n e n in diese E x t r e m r ä u m e nicht m e h r z u r ü c k z u k e h r e n , d.h. dort zu ster ben (wie C h r i s t o p h in , D i e N a r r e n b u r g ' und die Mutter M a r g a r i t a s in der . M a p p e ' ) , in ä u ß e r s t e r V e r z w e i f l u n g Selbstmord u n d / o d e r Mord zu begehen ( w i e Sixtus in . D i e N a r r e n b u r g ' , der Obrist und der Urgroßvater in der . M a p p e ' ) o d e r in W a h n s i n n bzw. eine w a h n s i n n s ä h n l i c h e Totenstarre zu verfallen ( w i e e t w a A b d i a s o d e r R u p r e c h t und J o d o k u s in .Die N a r r e n b u r g ' ) . F ü n f teils o b l i g a t o r i s c h e , teils fakultative Phasen dieses ( R e - ) S o z i a l i s a t i o n s p r o z e s s e s lassen sich u n t e r s c h e i d e n : 1. Eine v o r allem auch erotisch unberührte Kindheit auf d e m Land, d.h. z u g l e i c h in d e r N ä h e z u m natürlichen E x t r e m r a u m . 2. K o n t a k t z u m n a t u r f e r n e n K u l t u r r a u m , zur ,,lasterhafte[n] S t a d t " , 3 wo die V e r s u c h u n g e n des L u x u s , der Macht und der niederen h e d o n i s t i s c h e n Erotik ü b e r w u n d e n w e r d e n m ü s s e n . 3. Die a m b i v a l e n t e S c h l ü s s e l e r f a h r u n g hoher Erotik, die einerseits, in ihrer ä s t h e t i s c h - s p i r i t u e l l e n K o m p o n e n t e , einen neuen Horizont und eine unbek a n n t e T i e f e d e s L e b e n s ö f f n e t und andererseits, in ihrer „ s ü n d h a f t e n " K o m p o n e n t e , das s e e l i s c h e G l e i c h g e w i c h t irreparabel zerstört. Die nun g e w e c k t e n e r o t i s c h e n W ü n s c h e in e i n e r d a u e r h a f t e n L i e b e s b e z i e h u n g zu b e f r i e d i g e n , ist k a u m j e und j e d e n f a l l s n u r unter extremen Schwierigkeiten m ö g l i c h . 4. E i n e B i l d u n g s r e i s e in m e n s c h e n l e e r e , e x t r e m e N a t u r r ä u m e , f ü r die im a l l g e m e i n e n d i e s e s e r o t i s c h e Erlebnis der Anlaß ist und die daher als sühnend e s Exil u n d / o d e r P r ü f u n g gerechtfertigt wird. Der optimistische und utopis c h e A s p e k t d e r g o e t h e z e i t l i c h e n Bildungsreisen bleibt im Kern erhalten, wird aber d u r c h teils h e r o i s c h e s , teils resignatives Pathos heruntergespielt. In der u s p r ü n g l i c h e n „ U n s c h u l d " d e r Extremnatur, die auch die s e x u e l l - e l e m e n t a r e Seite noch integriert, soll d e r K u l t u r m e n s c h , der seine erotische U n s c h u l d v e r l o r e n hat, a n g e b l i c h n u r w i e d e r den M a ß s t a b f ü r ein ruhiges, n a t u r g e m ä ß e s L e b e n f i n d e n : „ U n s c h u l d lernen von der Unschuld des Waldes". 4 In Wahrheit e r ö f f n e t sich ihm hier z u g l e i c h eine neue, f a s z i n i e r e n d e D i m e n s i o n tiefer und 3 4
WuB. Bd. 1.4, S. 22. Ebd., S. 292.
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elementarer Erfahrungen. Besonders Künstler weigern sich, diesen besonderen Raum zu verlassen (C, HD, ZS). In langer Sicht gilt es jedoch als überlebensnotwendig, in den menschlichen Raum zurückzukehren und dort seinen topographischen und sozialen Ort finden. 5. Mit Ausnahme der optimistischen .Feldblumen' steht am Ende nur eine unvollkommene und gebrochene Realisierung der goethezeitlichen Utopie, der Aufhebung der Kultur in einer .höheren Natur'. Ansonsten gilt die höchste Steigerung der Subjektivität als unvereinbar mit psychischer und sozialer Stabilität. Der große Weltriß wird durch komplizierte Grenz- und Ersatzkonstruktionen überbrückt, besteht aber auch in scheinbaren Idyllen schmerzhaft fort. Im einzelnen wird auf diese Konstruktionen am Ende eingegangen. Allen apologetischen Klagen über ihr tragisches Schicksal zum Trotz wird jedenfalls eine vollständige und endgültige soziale Integration der Ausnahmemenschen gar nicht wirklich angestrebt. Die eigentliche Integration erfolgt im Regelfall nur sehr unvollständig bzw. stellvertretend, durch echte oder angenommene Kinder (bzw. kindliche Ehefrauen). Diese Ikonen der Unschuld gewinnen nur insofern prägnante erzählerische Konturen, als sie die problematischen Anlagen selbst abgeschwächt in sich tragen. Ansonsten fungieren sie als bloß äußerliche Ergänzung zu den eigentlich faszinierenden Außenseitern, deren vielbeschworener Schmerz kein zu hoher Preis scheint für ein intensives, abgesondertes, ästhetisch gesteigertes und nicht-triviales Leben. Es dürfte somit deutlich geworden sein, inwiefern Stifter tatsächlich eine Variante des goethezeitlichen Bildungsmodclls entwirft, das ja für das Subjekt wie für die Menschheit den Dreischritt von ursprünglicher Natur über die problematische, sich selbst entfremdete Kultur zur ,höheren Natur' propagierte. Dieses Modell hatte jedoch nach 1830 seine optimistische und emanzipatorische Kraft eingebüßt und war um 1840 als literarisches Paradigma nur noch in drei stark reduzierten und veränderten Versionen präsent, deren Einflüsse mehr oder weniger stark auch bei Stifter aufzufinden sind: a. Im historischen Roman wurde die Offenheit und Selbstbestimmtheit des Prozesses getilgt. Die in der Goethezeit nicht nur verzeihbaren, sondern geradezu obligatorischen, vor allem auch erotischen Irrwege des autonomen, mündigen Subjekts sind nun nicht mehr möglich. Der männliche Protagonist löst sich nie endgültig von seinem Herkunftsraum und seiner Stammfamilie, er zieht nicht mehr in die Welt, um sich zu bilden, sondern nur noch, um sich im Krieg bzw. dann im Berufsleben heroisch zu bewähren. Seine Geliebte kennt er von Kindheit an, heiratet sie nach der Rückkehr und fügt sich mit ihr bruchlos in das überkommene Normensystem ein. 5 Bei allen eventuell auftreVgl. hierzu Hermann J. Sottong: Transformation und Reaktion. Historisches Erzählen von der Goethezeit zum Realismus. München 1992 (besonders S. 6 2 - 7 2 , S. 36).
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tenden Problemen handelt es sich hier nur um äußere Hindernisse. Stifter zollt diesem klischeegeladenen Modell jedoch nur oberflächlichen Tribut, vor allem indem er elternähnliche Figuren einführt, die in den Lebensweg des Jünglings massiv einzugreifen scheinen. Diese aber sind dann mit dem problematischen Protagonisten innerlich so stark verwandt, daß beide nur als Exponenten eines seelischen Typus erscheinen. Der Bildungsprozeß bleibt somit im eigentlichen Sinn erhalten und erstreckt sich nur manchmal über (meist) zwei Generationen. Er fällt eben nicht mit der „großen Geschichte" der Nation zusammen, obwohl gelegentlich Versuche gemacht werden, der privaten Seelengeschichte politisch-historische Relevanz beizulegen (HW, AS, NB, B). Die konventionelle Bindung an natürliche Eltern spielt de facto kaum irgendwo eine entscheidende, d.h. die Erfahrungen der Protagonisten begrenzende Rolle. Die am Ende erreichten Lebensformen erinnern dann auch in ihrer Eigenwilligkeit eher an die von autonomen Subjekten selbst entworfenen LandgutUtopien der goethezeitlichen Bildungsromane als an die restaurativen Modelle des Historischen Romans. b. Was die komplexe Entfaltung einer seelischen und erotischen Problematik betrifft, steht Stifter dem populären Genre der Entsagungsromaneb nahe, die in der Goethezeit als eine spezifisch weibliche, resignative Variante des Bildungsromans entstanden waren. Hier dürfen zwar noch die sonst als „unmännlich" und moralisch suspekt geltenden innerseelischen Probleme entfaltet werden, 7 sie werden aber nicht mehr in einer dialektischen Synthese (die der gelungenen „Bildung" entspräche) aufgehoben, sondern durch vorauseilende „Entsagung" entschärft und möglichst gar nicht erst ausgelebt. Immerhin aber entwerfen solche Texte einen Horizont alternativer, normabweichender Lebensmöglichkeiten, auch wenn diese dann gerade nicht gewählt werden dürfen. Dieses den Frauen vorbehaltene, als trivial geltende Genre, das in den literarischen Zeitschriften und Almanache seiner Zeit dominierte, bot Stifter den Freiraum für seine Beschäftigung mit der privaten, „kleinen Geschichte", in der es .nur' um familiäre und erotische „Liebe" geht. 8 6
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Vgl. F r i e d r i c h S e n g l e : B i e d e r m e i e r z e i t . D e u t s c h e Literatur im S p a n n u n g s f e l d z w i s c h e n R e s t a u r a t i o n und R e v o l u t i o n . Bd. 2: F o r m e n w e l t . Stuttgart 1972, S. 877. Die j u n g k o n s e r v a t i v e Kulturkritik w a n d t e sich mit b e s o n d e r e r Vorliebe gegen die „Ents a g u n g s r o m a n e " und „ S a l o n r o m a n e " . W o l f g a n g Menzel kritisierte die Romane ,,einige[r] d i c h t e n d e [ r ] W e i b e r " , da d e r e n „ D a r s t e l l u n g unzähliger p s y c h o l o g i s c h e r E r s c h e i n u n g e n " k r a n k h a f t sei und „die g e l i e b t e S ü n d e " v o r a u s s e t z e . ( D i e d e u t s c h e Literatur [1828], Z w e i B ä n d e in e i n e m B a n d . Mit e i n e m Vorwort von Eva B e c k e r . Hildesheim 1981 [Reprint], S. 2 8 0 , S. 283.) A u c h der K r i t i k e r M a r g g r a f kritisierte 1844 Literatur ü b e r einen kleinen „ K r e i s e x k l u s i v e r P e r s o n e n , u n t e r d e n e n e x k l u s i v e L e i d e n s c h a f t e n in e x k l u s i v e r Weise d u r c h a u s e x k l u s i v e S i t u a t i o n e n " s c h a f f e n . (Zitiert n a c h Gerd O b e r e m b t : Ida G r ä fin H a h n - H a h n . W e l t s c h m e r z und U l t r a m o n t a n i s m u s . S t u d i e n z u m U n t e r h a l t u n g s r o m a n im 19. J a h r h u n d e r t . B o n n 1980, S. 6). G e n a u dieser Vorwurf trifft auch Stifter, der sich d e s h a l b als m ä n n l i c h e r S c h r i f t s t e l l e r , der e r n s t g e n o m m e n w e r d e n will, in seinen Texten deutlich b e m ü h t , die z e i t g e n ö s s i s c h e Kritik im voraus zu e n t k r ä f t e n . W u B . Bd. 1.5, S. 17.
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c. Das j u n g d e u t s c h e M o d e l l d e s b o h e m e h a f t e n K ü n s t l e r l e b e n s schließlich b e w a h r t e z w a r am e h e s t e n den u t o p i s c h - e m a n z i p a t o r i s c h e n Ansatz der G o e thezeit, aber mit e n t s c h e i d e n d e n A b w e i c h u n g e n : Z u m einen wurde die auch erotisch u n g e b u n d e n e E x i s t e n z des K ü n s t l e r s als A u s n a h m e von der Regel, als Privileg e i n e r g e n i a l i s c h e n Elite g e f o r d e r t (d.h. eben nicht mehr, wie in d e r G o e t h e z e i t , als g r u n d s ä t z l i c h f ü r alle v e r b i n d l i c h e s utopisches P a r a d i g m a ) . Z u m anderen war die K e h r s e i t e d i e s e r elitären K o n z e p t i o n die D ä m o n i s i e r u n g und M a r g i n a l i s i e r u n g d e r A u s n a h m e e x i s t e n z , die auch von der k o n s e r v a t i v e n Literatur geteilt w u r d e : Nicht von u n g e f ä h r unterhalten die K ü n s t l e r gern gerade zu h e i ß b l ü t i g e n Z i g e u n e r n (d.h. zur „ B o h è m e " im u r s p r ü n g l i c h e n Wortsinn) ein e n g e s Verhältnis. U n d das Recht auf erotische Exzesse e r w e r b e n sie g e r a d e durch eine seelische „ Z e r r i s s e n h e i t " und G e f ä h r d u n g , die sie von allen N o r m a l b ü r g e r n substantiell u n t e r s c h e i d e t . Das a n t i b ü r g e r l i c h - p r o v o k a t i v e Pathos fehlt bei Stifter (mit der b e z e i c h n e n d e n A u s n a h m e der . F e l d b l u m e n ' ) , genialisch z e r r i s s e n e und l e i d e n s c h a f t l i c h e Außenseiter, auch weiblichen G e schlechts, f i n d e n sich aber in nicht geringer A n z a h l . Stifters A n l i e g e n ist also d a s H i n ü b e r r e t t e n von R e s t b e s t ä n d e n der ästhetischen und e r o t i s c h e n U t o p i e n der G o e t h e z e i t in die prosaischere und eind i m e n s i o n a l e r e Welt des B i e d e r m e i e r s . Das ist ihm allerdings nur d a d u r c h m ö g l i c h , d a ß er die f r ü h e r so e m p h a t i s c h e Phase der W e l t e r o b e r u n g und S e l b s t e r p r o b u n g umetikettiert zu e i n e m Exil der S ü h n e und der B e w ä h r u n g . A u c h die b e d e u t u n g s g e l a d e n e n p h y s i o g n o m i s c h e n M e r k m a l e , die in Stifters Welt den P r o t a g o n i s t e n ihr S c h i c k s a l von Beginn an u n v e r ä n d e r l i c h einschreiben, gehen auf die g o e t h e z e i t l i c h e Literatur zurück. Hier zeigt sich aber, wie kreativ Stifter mit d i e s e m s e m a n t i s c h e n Material umgeht und welche K o m p l e xität er mit H i l f e s c h e i n b a r k l i s c h e e h a f t e r E l e m e n t e zu erzielen in der Lage ist.
Sprechende Physiognomien Bereits a u f g r u n d ihrer k ö r p e r l i c h e n E r s c h e i n u n g läßt sich der Ort der wichtigen Figuren i n n e r h a l b der s p e z i f i s c h S t i f t e r s c h e n K o n f l i k t k o n s t e l l a t i o n erstaunlich g e n a u b e s t i m m e n . Z u g l e i c h j e d o c h , und das ist f ü r Stifter typisch, v e r s c h w i m m e n auch da, w o s c h e i n b a r klare s e m a n t i s c h e O p p o s i t i o n e n zu bestehen s c h e i n e n , bei n ä h e r e m H i n s e h e n die G r e n z e n . Fast i m m e r handelt es sich nur um g r a d u e l l e U n t e r s c h i e d e auf einer s e m a n t i s c h e n Skala und nicht um e i n a n d e r a u s s c h l i e ß e n d e P o l a r i t ä t e n . Es scheint eine zentrale P r ä m i s s e des S t i f t e r s c h e n W e l t b i l d s zu sein, d a ß die rigiden s e m a n t i s c h e n und n o r m a t i v e n G r e n z z i e h u n g e n , die die F i g u r e n und die E r z ä h l i n s t a n z e n ständig v o r n e h m e n , nie in der N a t u r selbst v e r a n k e r t , s o n d e r n i m m e r nur kulturelle P r o j e k t i o n e n sind - n o t w e n d i g vielleicht f ü r die soziale und seelische O r d n u n g , aber n i e d e r Vielschichtigkeit ihres G e g e n s t a n d e s völlig a n g e m e s s e n . Die bei Stifter so
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h ä u f i g e n , a n s c h e i n e n d ü b e r d e u t l i c h e n polaren Oppositionen, die die Forschung seit j e h e r f a s z i n i e r e n ( L i c h t / D u n k e l ; Familie/Erotik; I d y l l e / d ä m o n i sche Individualität), geben die S t r u k t u r seiner Welt nicht vollständig wieder. 9 Bereits S t i f t e r s a u f f a l l e n d e Vorliebe nicht nur für p h y s i o g n o m i s c h e , sondern auch f ü r a l t e r s m ä ß i g e und t o p o g r a p h i s c h e Z w i s c h e n s t u f e n und G r e n z f ä l l e ist ein Indiz f ü r vielschichtige s e m a n t i s c h e Ü b e r l a g e r u n g e n . So lassen sich drei p h y s i o g n o m i s c h - s e e l i s c h e Idealtypen u n t e r s c h e i d e n , die ein k o m p l i z i e r t e n S y s t e m von V e r w a n d t s c h a f t e n und D i f f e r e n z e n bilden. In nuce enthält es bereits die dialektisch verschachtelte Struktur des g e s a m t e n S t i f t e r s c h e n K o s m o s . A u s s c h l a g g e b e n d f ü r die Z u o r d n u n g zu e i n e m Typus ist in erster Linie die Farbe der A u g e n , die als unmittelbarer A u s d r u c k der Seele gelten. Sie wird bei den meisten w i c h t i g e n Figuren ausdrücklich a n g e g e b e n , bei R a n d f i g u r e n grundsätzlich nie vermerkt. Drei A u g e n f a r b e n gibt es: Schwarz ( Clarissa und ihr Vater in , D e r H o c h w a l d ' , Felix in .Das H a i d e d o r f ' , Brigitta und der M a j o r , Abdias, C o r n e l i a in ,Der C o n d o r ' u.a.), Blau ( H u g o in ,Das alte S i e g e l ' , Ronald in .Der H o c h w a l d ' , Gustav in , D e r C o n d o r ' , Ditha in , A b d i a s ' ) und Braun (Margarita in der . M a p p e ' , A n n a in ,Die N a r r e n b u r g ' , Gustav in ,Der H a g e s t o l z ' u.a.). Der wichtigste G e g e n s a t z trennt die grenzgängerischen A u s n a h m e m e n schen, d i e e n t w e d e r s c h w a r z e (meist zusätzlich noch als „ d u n k e l " g e k e n n zeichnete) o d e r blaue (meist a u s d r ü c k l i c h „ d u n k e l b l a u e " ) Augen h a b e n , von den a u s g e g l i c h e n e n und u n p r o b l e m a t i s c h e n Figuren mit braunen (d.h. g e m ä ß der S t i f t e r s c h e n Semantik zugleich , n i c h t - d u n k l e n ' oder . w e n i g e r d u n k l e n ' ) A u g e n . Die „ d u n k l e n " A u g e n stehen dabei im Regelfall in starkem, vom Text ausdrücklich h e r v o r g e h o b e n e n K o n t r a s t zur „ b l a s s e n " Haut bzw. zu den blonden Haaren (bei B l a u ä u g i g e n ) . D i e s e r Kontrast ist äußeres Z e i c h e n f ü r die p r o b l e m a t i s c h e seelische Disposition - seelisch stabile Figuren weisen ihn niemals auf. Zusätzlich gibt es Figuren (Johanna in ,Der H o c h w a l d ' , Maria in . Z w e i S c h w e s t e r n ' , Maria in ,Der W a l d s t e i g ' ) , die zwar der seelisch ausgeglic h e n e n G r u p p e z u z u o r d n e n sind, aber bereits das S c h l ü s s e l m e r k m a l „ d u n k l e r " A u g e n a u f w e i s e n , das seelische T i e f e anzeigt. In diesen Fällen sind die A u g e n und Haare dann aber a u s d r ü c k l i c h nicht schwarz, sondern „ d u n k e l b r a u n " , 1 0 z w e i m a l ist die Haut e b e n f a l l s braun und steht somit nicht in Kontrast zu den A u g e n . 1 1 Die s e m a n t i s c h e G r e n z e wird in ,Der H o c h w a l d ' und , Z w e i S c h w e s t e r n ' noch deutlicher markiert, i n d e m diese Ü b e r g a n g s f i g u r e n a u s d r ü c k l i c h
9
10 11
Diesen naheliegenden Fehler begeht exemplarisch Martin Beckmann: Formen der ästhetischen Erfahrung im Werk Adalbert Stifters. Eine Strukturanalyse der Erzählung .Zwei Schwestern'. Frankfurt a.M. 1988. Er untersucht sehr genau die Opposition Licht/Dunkel und die E n t f r e m d u n g zwischen Kultur und Natur, verkennt dabei aber die komplexen semantischen Strukturen, die sich hinter den scheinbar klaren Gegensätzlichkeiten verbergen. WuB. Bd. 1.4, S. 218; Bd. 1.6, S. 206. WuB. Bd. 1.6. S.206, S. 282.
Abgründe der Unschuld
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problematischen Figuren gegenübergestellt werden, die tatsächlich „schwarze" Augen haben bzw. den ausgeprägten Dunkel-Hell-Kontrast aufweisen (Johanna und Clarissa, Maria und Camilla). Das physiognomische Zeichensystem läßt noch weitere subtile Abstufungen zu: Die ausdrücklich hervorgehobene, bei Frauen der erotischen Schönheit abträgliche braune Hautfarbe zeigt grundsätzlich eine „unschuldige" Verwurzelung in der Natur an (Maria in ,Zwei Schwestern', Maria in ,Der Waldsteig') und kann selbst eine ansonsten problematische schwarze Augenfarbe gewissermaßen durch Abmilderung des Kontrastes entschärfen (Gregor in ,Der Hochwald'). Die problematischen „dunklen" Figuren wiederum zerfallen in die Blauäugigen und die Schwarzäugigen. Allen blauäugigen Protagonisten werden dabei schwarzäugige Figuren gegenübergestellt, mit denen sie, mit einer Ausnahme, eine erotische Beziehung verbindet: Ronald und Clarissa, Hugo und Coleste, Gustav und Cornelia, Ditha und Abdias. Diese Konstellationen sind nun von besonderem Interesse, weil hier der „dunkle" Phänotyp weiter differenziert und dabei eine widersprüchliche Anlage verdeutlicht wird, die grundsätzlich auch für jede einzelne „dunkle" Figur (gleich ob blau- oder schwarzäugig) gilt. Festzuhalten ist zunächst, daß die Opposition „blaue Augen"/„schwarze Augen" nicht mit „Unschuld"/„Sünde" zusammenfällt, wie es der konventionelle Topos von „Tugend"/,,Verführung" nahelegt. Die Blauäugigen sind nicht minder wild und temperamentvoll als die Schwarzäugigen, und diese werden umgekehrt ebenso oft als „keusch" und „unschuldig" gekennzeichnet. Dennoch entspricht der spezifische Unterschied der konventionellen Semantik: Die Blauäugigen, außer dem schwarzhaarigen Grenzfall Ditha durchwegs Männer, haben ein tendenziell (!) intensiveres Verhältnis zur spirituellen Natur, die Schwarzäugigen, zu denen neben einigen Männern alle Ausnahmefrauen gehören, eine tendenziell engere Bindung zur elementaren (und das heißt auch erotischen) Natur. Weil dieser Unterschied eben nur graduell ist und in einer tieferen seelischen Verwandtschaft (dem „dunklen" Charakter sozusagen) aufgeht, fühlen sich beide Typen mit besonderer Leidenschaft voneinander angezogen. Dabei ist die Frage leicht zu beantworten, warum die schwarzäugigen Frauen in Liebe für die Blauäugigen entbrennen: Die idealistischen Männer dienen ihnen als Objekt ihres erotisches Begehrens, zugleich und vor allem aber als spirituelles Medium: Im blauen „Auge" liegt „etwas, was fleht und herrschet - [...] hinaus verlangend ins Unbekannte", und eben deshalb zugleich „jeden Augenblick Liebeverlust drohend". 1 2 In diesem Liebesgefühl fallen erotisches Begehren und spirituelle Sehnsucht zusammen, die sonst im Stifterschen Kosmos in unaufhebbarer Spannung zueinander stehen. 12
WuB. Bd. 1.4, S. 285.
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Weitaus s c h w i e r i g e r ist die B e a n t w o r t u n g der Frage, was die erotisch-elem e n t a r e n S c h w a r z ä u g i g e n f ü r die spirituell begabten B l a u ä u g i g e n so anziehend m a c h t . Damit ist zugleich die S c h l ü s s e l f r a g e nach dem Stellenwert der Sexualität in der m e n s c h l i c h e n Psyche wie in der göttlichen N a t u r aufg e w o r f e n . Ein Z u g zum H ö h e r e n kann hier, so scheint es, ja kaum vorliegen. D e n n o c h d e n u n z i e r e n die T e x t e diese Liebe nicht o h n e weiteres, wie man erwarten k ö n n t e , als „ s ü n d h a f t e " Verstrickung der reinen Unschuld. Dahinter verbirgt sich v i e l m e h r das W u n s c h b i l d einer hohen Erotik, die die k o n v e n t i o nelle Polarität von Sexualität und Spiritualität sprengt. Diese U t o p i e ist in beinahe allen N o v e l l e n v e r d e c k t präsent, wird aber nur in den . F e l d b l u m e n ' explizit a u s g e s p r o c h e n . Albrecht begegnet n ä m l i c h im „ P a r a d i e s g a r t e n " 1 3 e i n e m e b e n s o erotischen wie u n s c h u l d i g e n Engel - „eine Last dunkler Haare, daraus h e r v o r l e u c h t e n d die weiße reine Stirn voller Sittlichkeit [...], und d a r u n t e r die zwei u n g e w ö h n lich großen, l a v a s c h w a r z e n A u g e n , brennend und l o d e r n d , aber mit j e n e m keuschen M a d o n n e n b l i c k e , den ich an feurigen A u g e n so sehr liebe, sittsam und r u h e v o l l " . 1 4 Dieser Engel ist im übrigen auch noch hochgebildet, und die erste B e g e g n u n g findet, a n d e r s etwa als bei Chelion (NB), e i n e m anderen ,dunklen E n g e l ' , 1 5 nicht in d e r E x t r e m n a t u r Indiens statt, dem Ort des biblischen Paradieses, sondern in einem städtischen Park. Hier scheint Stifter also tatsächlich eine k o m p r o m i ß l o s e Utopie zu e n t w e r f e n : eine paradiesische .höhere N a t u r ' , die E l e m e n t a r n a t u r mit h o c h e n t w i c k e l t e r Individualität und Ästhetik vereint. Allerdings, und das ist das e n t s c h e i d e n d e M a n k o d e s Textes, handelt es sich eher um ein s c h w ä r m e r i s c h e s W u n s c h b i l d - e r n s t h a f t e Konflikte sind nicht zu b e w ä l t i g e n , alles ordnet sich m ä r c h e n h a f t wie von selbst. Eine t r a g f ä h i g e L ö s u n g f ü r die k o m p l e x e n p s y c h i s c h e n und sozialen Widerstände, die j a die Goethezeitliteratur bereits seit dem ,Werther' entfaltete und diskutierte, ist hier nicht zu f i n d e n . Stifter scheint das übrigens b e w u ß t zu akzentuieren - der diaristische Text ist ausdrücklich in die Blütephase der j u n g d e u t s c h e n Utopien ( 1 8 3 4 / 1 8 3 5 ) datiert. In den übrigen, später e n t s t a n d e n e n Novellen der . S t u d i e n ' rücken die in den . F e l d b l u m e n ' zurückgestellten P r o b l e m e dann auch in den Vordergrund. Zugleich aber wird das nie wirklich gelöste K e r n p r o b l e m der Sexualität trickreich u m g a n g e n und z u n e h m e n d hinter schwer entschlüsselbaren A n d e u t u n g e n versteckt. O f f e n und u n a b g e s c h w ä c h t thematisiert wird es genau g e n o m m e n nur in der J o u r n a l f a s s u n g v o n ,Das alte S i e g e l ' , die eine Art tragisches K o m plement zu den . F e l d b l u m e n ' darstellt. Hier ist die s i m p l i f i z i e r e n d e A u f s p a l tung der erotischen Frau (in A n g e l a und ihre n e g a t i v e Z w i l l i n g s s c h w e s t e r ) zur ü c k g e n o m m e n . Die s e m a n t i s c h e S p a n n u n g z w i s c h e n . h i m m l i s c h e m ' N a m e n
13 14 15
Ebd., S. 63. Ebd., S. 85. „Dunkle Engel" (oder „Cherubs") sind auch Angela. Cornelia und Clarissa.
Ahgriìnde der
Unschuld
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( A n g e l a bzw. Coleste) und e l e m e n t a r - e r o t i s c h e m T e m p e r a m e n t , das sich im . s c h w a r z e n ' P h ä n o t y p spiegelt, wird ausdrücklich e i n g e s t a n d e n und stellt das eigentliche Sujet dar. F o l g e r i c h t i g wird auch die . R e i n h e i t ' des Protagonisten a m b i v a l e n t und f r a g w ü r d i g . H u g o erschrickt hier n ä m l i c h vor der „ f r e m d e n " Seite seines eigenen W e s e n s , die der s ü n d h a f t e „ W a h n s i n n " in C ö l e s t e s erotis c h e r L e i d e n s c h a f t in ihm weckt. Der Text läßt ü b e r d i e s keinen Z w e i f e l daran, d a ß sich sein vorheriger I d e a l i s m u s nicht nur, aber eben auch seiner U n r e i f e v e r d a n k t e - der angeblich so „reine" und gar „ h e i l i g e " H u g o v e r w e c h s e l t e die u n b e w u ß t e Sehnsucht nach „süßer" erotischer L i e b e mit nationalistischem „ T h a t e n d u r s t " . 1 6 Erst mit d e m ersten Liebesblick C ö l e s t e s hat auch zugleich das bislang „blinde L e b e n " d e m nichtsahnenden H u g o „ein s c h ö n e s A u g e aufg e s c h l a g e n " . 1 7 Sexuelle und transzendente E r k e n n t n i s fallen somit hier zus a m m e n . Das aber droht die m e n s c h l i c h e F a s s u n g s k r a f t zu sprengen: In der „ T i e f e " des liebestrunkenen Blicks der h i m m l i s c h e n Coleste, d.h. also im Leben selbst, erschreckt ihn „ e t w a s U n h e i m l i c h e s " , e t w a s wie „ W a h n s i n n " „seine Seele rang, sich alles eigen zu m a c h e n , aber sie wurde sich selber fremd".18 Diese k o m p r o m i ß l o s e Z u s p i t z u n g des D i l e m m a s , das folgerichtig o h n e bef r i e d i g e n d e Lösung bleibt, wird bereits in der S t u d i e n f a s s u n g von ,Das alte S i e g e l ' wieder z u r ü c k g e n o m m e n . Fast alle Stellen, die auf eine s ü n d h a f t e Leid e n s c h a f t verweisen, sind getilgt, so daß die w ö r t l i c h beibehaltene Schlüsselp a s s a g e („Das ist die L i e b e nicht, das ist nicht ihr reiner, goldner, seliger Strahl [,..]." 1 9 ) n u n m e h r o h n e Z u s a m m e n h a n g dasteht. Statt den Wahnsinn s t r e i f e n d e r erotischer E x z e s s e gehen jetzt der e n t s c h e i d e n d e n G e w i t t e r n a c h t , in der die Tochtcr g e z e u g t wird, nur artige, lange G e s p r ä c h e voraus. Prompt hat Coleste nun auch nicht m e h r schwarze, s o n d e r n b r a u n e H a a r e . 2 0 Verwandelte sie sich zuvor in „eine g l ü h e n d e V e r b r e c h e r i n " , 2 1 so erscheint sie nun als edle, s a n f t e Frau, die aus reiner Liebe einen - a l l e r d i n g s dann sehr m a n g e l h a f t motivierten - Fehltritt b e g e h t . Damit b e k o m m e n n u n der E n t s a g u n g s a k t Hugos und seine späte Reue eine neue B e d e u t u n g : Im Kontext der U r f a s s u n g wäre eine d a u e r h a f t e L i e b e s b e z i e h u n g mit e i n e r so h e m m u n g s l o s e n , beim W i e d e r s e h e n mit etwa f ü n f u n d d r e i ß i g Jahren noch erotisch attraktiven Frau eine h o c h g r a d i g e N o r m v e r l e t z u n g und praktisch undenkbar. Die d e n n o c h e m p f u n d e n e Reue H u g o s enthält somit noch ein v e r d e c k t e s utopisches Moment: Wenn Cölestes „ S ü n d e [...] m e n s c h l i c h e r [ist] als [s]eine T u g e n d " , 2 2 heißt das, daß die M ö g l i c h k e i t der Integration l e i d e n s c h a f t l i c h e r Sexualität in
16 17 18 19 20 21 22
WuB. Ebd., Ebd., WuB. WuB. WuB. Ebd.,
Bd. 1.2, S.171. S. 184. S. 184, S. 185. Bd. 1.5, S. 387; S. 194f. Bd. 1.5, S. 379. Bd. 1.2, S. 194. S. 205 (wörtlich in der B u c h f a s s u n g e r h a l t e n : Bd. 1.5, S. 404).
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ein g e g l ü c k t e s L e b e n n o c h nicht gänzlich vom Text negiert wird. In der Studie n f a s s u n g ist d i e s e U t o p i e fast restlos getilgt. Cölestes „ S ü n d e " ist so weit abg e s c h w ä c h t und ihr C h a r a k t e r so stark veredelt, daß ein Verzeihen des .reiner e n ' P a r t n e r s , wie es j a a u c h in .Brigitta' nach f ü n f z e h n Jahren geschieht, m ö g l i c h und g e r a d e z u o b l i g a t o r i s c h scheint. Der Hauptanteil der Schuld verlagert sich also t a t s ä c h l i c h v o n d e r Sünderin Coleste ( u n d dem s ü n d h a f t lieb e n d e n j u n g e n H u g o ) in d e r S t u d i e n f a s s u n g auf den verhärteten alten H u g o . Auf a n d e r e Weise w i r d in . D e r H o c h w a l d ' der e r o t i s c h e Konfliktstoff heru n t e r g e s p i e l t , d e r in d e r L i e b e s b e z i e h u n g des b l a u ä u g i g e n Ronald mit der s c h w a r z ä u g i g - b l a s s e n C l a r i s s a liegt: Ronald b e h a u p t e t , sich in ein „ K i n d " verliebt zu h a b e n (in W a h r h e i t aber wohl: in ein M ä d c h e n vom präerotischen M i g n o n - T y p u s , d.h. auf d e r G r e n z e zwischen Kind und Frau). Er bittet noch die i n z w i s c h e n zur l e i d e n s c h a f t l i c h e n J u n g f r a u g e r e i f t e Clarissa „wieder um d i e s e K i n d e r l i p p e n " . 2 3 Die aber weiß, daß ihre l e i d e n s c h a f t l i c h - e r o t i s c h e Anlage g e w e c k t und die k i n d l i c h e U n s c h u l d ihrer Liebe unwiederbringlich verloren ist und s c h w a n k t z w i s c h e n E n t s a g u n g und einer H o f f n u n g wider besseres W i s s e n auf die s c h u l d l o s e L i e b e , die Ronald verspricht. O b w o h l der Text Clarissa r h e l h o r i s c h als s t a n d h a f t e und reine J u n g f r a u präsentiert, ist sie nicht in d e r L a g e , eine e i n d e u t i g e E n t s c h e i d u n g gegen die so e r s e h n t e wie g e f ü r c h t e t e Erotik zu t r e f f e n . D a s . S c h i c k s a l ' n i m m t ihr dies ab und sorgt f ü r eine Leb e n s f o r m , die g l e i c h s a m einen p a r a d o x e n G r e n z z u s t a n d zwischen Kind und Frau, z w i s c h e n f a m i l i ä r e r L i e b e und erotischer L e i d e n s c h a f t einfriert: Vater und Bruder, die die soziale B i n d u n g r e p r ä s e n t i e r e n , sterben e b e n s o wie der G e l i e b t e R o n a l d . Dieser, zu Lebzeiten ein a u f f a l l e n d schöner Mann, kann n u n m e h r in der I m a g i n a t i o n wirklich „ u n s c h u l d i g " , d.h. als „ K n a b e " und „elf i g e s " N a t u r w e s e n , geliebt w e r d e n . 2 4 J o h a n n a schließlich bietet Clarissa das l e b e n s w i c h t i g e M i n i m u m an sozialer B i n d u n g , zugleich eine reale Liebesbez i e h u n g , d i e alle m ö g l i c h e n Arten von Liebe g l e i c h s a m ungeschieden enthält und ersetzt: die G e s c h w i s t e r l i e b e , die Liebe z w i s c h e n Mutter und Kind wie auch den a u s s c h l i e ß l i c h e n , e m o t i o n a l l e i d e n s c h a f t l i c h e n C h a r a k t e r der erotischen Liebe.25 C l a r i s s a v e r w i r k l i c h t a l s o am Ende ein reduziertes A b b i l d der eigentlichen U t o p i e aller S t i f t e r s c h e r Texte: die Reintegration der a u s e i n a n d e r f a l l e n d e n L i e b e s b e z i e h u n g e n (und d e r d a m i t v e r b u n d e n e n G e f ü h l s q u a l i t ä t e n ) in einen Z u s t a n d , den m a n . s e k u n d ä r e U n s c h u l d ' n e n n e n k ö n n t e . Johanna d a g e g e n b r a u c h t aus ihrer p r i m ä r e n , kindlichen U n s c h u l d gar nicht endgültig h e r a u s z u treten, weil die s e l b s t b e w u ß t e und starke Clarissa ihr die g e f ü r c h t e t e Männerliebe ersetzt.
23 24 25
WuB. Bd. 1.4, S. 287. Ebd., S. 317. Ebd., S. 260, S. 273.
Abgrunde der Unschuld
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D i e L i e b e d e r B l a u ä u g i g e n zu d e n S c h w a r z ä u g i g e n ist ein I n d i z f ü r e i n e i n n e r e V e r w a n d t s c h a f t z w i s c h e n e l e m e n t a r e r N a t u r ( s e x u e l l e r L i e b e ) u n d spiritueller Natur (Seelenliebe). Dieses beunruhigende Urgeheimnis des Lebens, d a s f ü r d i e S e e l e e b e n s o gilt w i e f ü r d e n K o s m o s als g a n z e n , b e s t ä t i g e n a n d e re S t e l l e n e x p l i z i t . D e m b l a u e n A u g e e n t s p r e c h e n in d e r ä u ß e r e n N a t u r d i e T e i c h e im f r e i e n G e l ä n d e , „auf d i e n i c h t s , als d e r l e e r e H i m m e l s c h a u t " , 2 6 d e m s c h w a r z e n A u g e e n t s p r i c h t das , , u n h e i m l i c h [ e ] N a t u r a u g e " d e s B e r g s e e s , d a s die , , d u n k l e [ n ] T a n n e n " u n d B e r g w ä l d e r , d . h . d i e e l e m e n t a r e N a t u r , a b spiegelt.27 So weit, so eindeutig, könnte man m e i n e n . A b e r aus d e m Bergsee s c h a u t e b e n a u c h „ein F l e c k c h e n d e r t i e f e n , e i n t ö n i g e n H i m m e l s b l ä u e " h e r a u s , 2 8 selbst w e n n d e r S e e n i c h t die F ä r b u n g d e s H i m m e l s a n n i m m t . U n d s o k a n n a u c h d i e „tief s c h w a r z e E r d e " 2 9 B l u m e n h e r v o r t r e i b e n , d i e z u m L i c h t s t r e b e n u n d , w i e d e r F l a c h s , in d e r B l ü t e d i e b l a u e F a r b e d e s H i m m e l s a u f d i e E r d e h e r a b h o l e n . 3 0 A b e r g r a v i e r e n d e r ist n o c h , d a ß sich a u c h h i n t e r d e m s p i r i t u e l l e n B l a u w i e d e r d a s e l e m e n t a r e S c h w a r z v e r b i r g t : C o r n e l i a m a c h t in , D e r C o n d o r ' d i e t r a u m a t i s c h e E r f a h r u n g , d a ß sich h i n t e r d e m H i m m e l , d e r ,,schöne[n] blaue[n] G l o c k e unserer Erde", „ein ganz schwarzer A b g r u n d " v e r b i r g t , „ o h n e M a ß u n d G r e n z e in d i e T i e f e g e h e n d " . 3 1 S i e e r t r ä g t d i e s e n A n b l i c k nicht u n d fällt in O h n m a c h t ( d i e M u t t e r M a r g a r i t a s f ä l l t sich in e i n e m A b g r u n d d e r N a t u r s o g a r zu T o d e ) . D i e m ä n n l i c h e n A u s n a h m e m e n s c h e n d a g e g e n d ü r f e n u n d s o l l e n sich in d i e s e s d ü s t e r e R ä t s e l v e r t i e f e n , a b e r a u c h sie b r i n g t d e r B l i c k in d a s J a n u s g e s i c h t d e r N a t u r i m m e r in d i e N ä h e d e s W a h n s i n n s o d e r in L e b e n s g e f a h r .
Die S ü n d e als Privileg Die „ S ü n d e " bildet, soviel sollte deutlich g e w o r d e n sein, k e i n e s w e g s den G e g e n p o l z u r „ U n s c h u l d " . E h e r trifft f a s t n o c h d a s G e g e n t e i l z u : S i e b e d e u t e t zwar eine irreparable N o r m v e r l e t z u n g mit gravierenden Folgen, unterläuft aber nur jenen ausdrücklich hochbewerteten Figuren, die durch A n n ä h e r u n g an d i e p r i m ä r „ u n s c h u l d i g e " E x t r e m n a t u r e i n e s e k u n d ä r e , h ö h e r e „ U n s c h u l d " h e r s t e l l e n w o l l e n . D i e G r e n z e z w i s c h e n N a t u r n ä h e u n d s ü n d h a f t e r S c h u l d ist a l s o e x t r e m d ü n n . W i e a b e r w i r d sie g e n a u d e f i n i e r t ? A l s „ s ü n d h a f t " k a n n im e i n z e l n e n g e l t e n : e i n w i l d e s , d e n T r i e b e n h e m m u n g s l o s n a c h g e b e n d e s L e b e n ( M U ) , 3 2 ein s e x u e l l e r F e h l t r i t t mit e i n e r ver26 27 28 29 30 31 32
Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., WuB. WuB. WuB.
S. 263. S. 214. S. 212. Bd. 1.5, S. 332. Bd. 1.4, S. 27. Bd. 1.5, S. 44.
232
Marlin
Lindner
heirateten Frau und allzu l e i d e n s c h a f t l i c h e erotische Hingabe (AS), das Zulassen bzw. A u f r e c h t e r h a l t e n einer l e i d e n s c h a f t l i c h e n erotischen B e z i e h u n g entgegen den familiären V e r p f l i c h t u n g e n , auch w e n n sie seelisch h o c h s t e h e n d e r Art ist und es nicht a n n ä h e r n d z u m u n e h e l i c h e n Sexualakt k o m m t ( H W ) , ein kurzer e h e b r e c h e r i s c h e r Flirt (B), d a s bloße A u f f l a c k e r n von E i f e r s u c h t ( M l ) , FB), das S i c h - n i c h t - a b f i n d e n - k ö n n e n mit der Unerreichbarkeit e i n e r leidenschaftlich geliebten Frau bzw. Uberhaupt der Z w e i f e l an der T h e o d i z e e ( H G , MU).33 Der g e m e i n s a m e N e n n e r ist also nicht eigentlich der Vollzug des sozial nicht sanktionierten S e x u a l a k t s ( o d e r der W u n s c h danach), s o n d e r n allgem e i n e r eine e m o t i o n a l e Qualität, die ein b e s t i m m t e s Maß übersteigt und dazu v e r f ü h r t , „selbstsüchtig zu w e r d e n " , d.h. der „Steigerung der e i g n e n Seligkeit" zuliebe alle sozialen B i n d u n g e n und damit die Mitarbeit am Kult u r p r o z e ß a u f z u k ü n d i g e n . 3 4 (Das ist j a auch w e s e n t l i c h e r Bestandteil des Ven u s b e r g - T o p o s , auf den in d e r J o u r n a l f a s s u n g von ,Das alte S i e g e l ' noch deutlich angespielt wird.) Für den Verlust der U n s c h u l d genügt es zwar eigentlich schon, diese e m o t i o n a l e Qualität und das d a m i t v e r b u n d e n e G l ü c k s v e r s p r e chen überhaupt k e n n e n z u l e r n e n , a b e r solche Figuren haben i m m e r noch die C h a n c e , dieses Versprechen z u r ü c k z u w e i s e n und damit, wenn schon nicht m e h r völlig „ u n s c h u l d i g " , so doch „ s c h u l d l o s " zu bleiben. 3 5 S o wandelt sich etwa J o h a n n a als Z e u g i n der L i e b e s s z e n e z w i s c h e n Clarissa und R o n a l d vom arglosen „ K i n d " zur s c h a m h a f t e n „ J u n g f r a u " , 3 6 und so erspart es die Lektüre der L e b e n s g e s c h i c h t e des J o d o k u s d e m H e i n r i c h , selbst die tragische E r f a h rung mit einer Chelion zu m a c h e n . 3 7 O b w o h l der Obrist in der , M a p p e ' sich anklagt, seine Tochter „vielleicht zu s ü n d h a f t lieb" zu h a b e n , 3 8 ziehen die h ä u f i g e n familiären L i e b e s b e z i e h u n gen mit inzestuösen Z ü g e n , in denen die Tochter, der Sohn oder die S c h w e s t e r die Geliebte bzw. den Geliebten vertritt (vgl. A, H G , H W ) , in k e i n e m Text Sanktionen nach sich und f ü h r e n auch n i r g e n d s zu einer D i s t a n z i e r u n g der Erzählinstanz. Hier scheint eine u n s c h u l d i g e intensive G e f ü h l s b i n d u n g m ö g l i c h , deren Ausschließlichkeit und Intensität an die erotische Liebe erinnert, die aber die Beteiligten nicht g e f ä h r d e t und nicht z u m vollständigen .selbstsüchtig e n ' R ü c k z u g aus der Kultur f ü h r t . Die kritische Grenze wäre wohl erst dann überschritten, wenn die L i e b e des älteren, w e n i g e r unschuldigen Partners eine echte, aktuelle erotische Bindung des j ü n g e r e n verhindern würde. Dazu k o m m t es, vielleicht mit der A u s n a h m e von , D e r H o c h w a l d ' , 3 9 d e s h a l b nicht, weil
33 34 35 36 37 38 39
E t w a in W u B . Bd. 1.5, S. 23; Bd. 1.6, S. 199. Zitate: WuB. Bd. 1.4, S. 298. Vgl. W u B . Bd. 1.4, S. 41. Ebd., S. 290. E b d . , S. 4 3 2 . W u B . Bd. 1.5, S. 215. Wünsch (in d i e s e m B a n d ) und auch Danford (o. A n m . 2), S. 67, betonen d i e i n z e s t u ö s e
Abgründe
der
Unschuld
233
sich die Eltern mit den g l e i c h g e s c h l e c h t l i c h e n B e w e r b e r n identifizieren, d.h. sie relativieren ihr e i g e n e s Schicksal, indem sie es als das Schicksal eines Typus e r k e n n e n , das im Ablauf der G e n e r a t i o n e n korrigiert werden kann ( M U , H G ) . Zusätzlich garantiert die Weitergabe ihrer E r f a h r u n g e n , daß die j ü n g e r e G e n e r a t i o n diese tragischen Verwicklungen nur noch in a b g e s c h w ä c h t e r und w e n i g e r g e f ä h r l i c h e r F o r m erlebt. „ S ü n d e " ist also d i e Folge der f r e v l e r i s c h e n Weigerung eines S u b j e k t s , sich in die reale E n t f r e m d u n g von der N a t u r zu f ü g e n , die erst m ü h s a m und unter starker S e l b s t v e r l e u g n u n g des e i n z e l n e n im Lauf von G e n e r a t i o n e n schrittweise a u f g e h o b e n werden kann. Es ist der Versuch, in einer kurzschlüssigen Utopie hier und jetzt die g a n z e , ungeteilte Natur zu erleben. Insb e s o n d e r e wird eben nicht a n e r k a n n t , d a ß im kulturellen R a u m T r a n s z e n d e n z und e l e m e n t a r - e r o t i s c h e E m p h a s e trotz ihrer ursprünglichen Verwandtschaft e i n a n d e r e n t f r e m d e t sind. S o l c h e Versuche f ü h r e n , so behaupten die Texte, z w a n g s l ä u f i g zur Z e r s t ö r u n g der g e g e n w ä r t i g e n sozialen O r d n u n g , die zwar u n v o l l k o m m e n , aber v o r l ä u f i g die beste aller m ö g l i c h e n sozialen O r d n u n g e n ist. D e n n o c h bleiben u n g e l ö s t e A m b i v a l e n z e n , die den Schluß n a h e l e g e n , daß g e r a d e die Ersatz- und N o t k o n s t r u k t i o n e n , mit denen b e g a n g e n e Sünden angeblich mehr schlecht als recht a u s g e b e s s e r t w e r d e n , in Wahrheit eben die vom Text am h ö c h s t e n b e w e r t e t e n L e b e n s f o r m e n selbst bzw. zumindest deren z w i n g e n d e Voraussetzung sind. Die m i t u n t e r recht unmotivierten .schicksalh a f t e n ' Verhängnisse e r g e b e n z u w e i l e n erst dann einen schlüssigen Sinn, w e n n man sie als n o t w e n d i g e Mittel zu e i n e m b e s o n d e r e n Z w e c k a u f f a ß t , der a n s o n s t e n dem S c h i c k s a l (oder d e m A u t o r ) unerreichbar ist. So ist die Verkettung von M i ß v e r s t ä n d n i s s e n , die in , D e r H o c h w a l d ' zum Tod des Vaters, des B r u d e r s und d e s G e l i e b t e n f ü h r t , k a u m b e f r i e d i g e n d als z w i n g e n d e s , den s ü n d h a f t e n e r o t i s c h e n W u n s c h Clarissas s t r a f e n d e s . S c h i c k s a l ' zu interpretieren, wie sie selbst es tut. 4 0 E h e r schon e r s c h e i n t in einer h ö h e r e n schicksalh a f t e n Perspektive der U n t e r g a n g des „ a b g e b l ü h t e n R i t t e r t h u m s " (in der GeB i n d u n g des Vaters an seine T ö c h t e r und d e u t e n seine T ö t u n g R o n a l d s in d i e s e m Sinne. D a s ist sicher a u c h richtig, mir scheint aber d i e s e T ö t u n g m e h r f a c h d e t e r m i n i e r t : Die inz e s t u ö s e B e z i e h u n g allein ist im Z u s a m m e n h a n g d e s S t i f t e r s c h e n Weltbilds n o c h nicht p r o b l e m a t i s c h . D a z u k o m m t , d a ß w e d e r d e r Vater noch R o n a l d als Vertreter der Vergang e n h e i t bzw. e i n e r u t o p i s c h e n Vision in ihre Zeit passen ( W u B . Bd. 1.4, S. 225, S. 272). D i e s e steht im Z e i c h e n des K r i e g e s , d e r „ein M e n s c h e n h e r z z e r r e i ß e n " kann (ebd., S. 306) und so d i e v o m Vater bereits ü b e r w u n d e n e wilde L e i d e n s c h a f t wieder hervortreibt. Eine Ü b e r w i n d u n g der g r u n d s ä t z l i c h e n F r e m d h e i t z w i s c h e n C l a r i s s a und R o n a l d w ä r e , wie w e i t e r u n t e n g e z e i g t wird, g l e i c h b e d e u t e n d mit d e m P a r a d i e s auf Erden selbst. Dieses a b e r k a n n nicht e s k a p i s t i s c h und privat, gegen die o b j e k t i v e historische Situation v e r w i r k l i c h t w e r d e n - hier w ä r e die L i e b e Clarissas und R o n a l d s a u ß e r h a l b d e s Waldes t a t s ä c h l i c h „ s e l b s t s ü c h t i g " , w i e es heißt. In der T ö t u n g R o n a l d s scheinen sich mir also s ä m t l i c h e E n t f r e m d u n g s e r s c h e i n u n g e n der Kultur (im a l l g e m e i n e n und d e s 17. J a h r h u n d e r t s im b e s o n d e r e n ) zu ü b e r s c h n e i d e n . 40
W u B . Bd. 1.4, S. 315.
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Martin Lindner
stalt d e s V a t e r s ) u n d d e s „ n a c h U n e r r e i c h b a r e m " s t r e b e n d e n S c h w ä r m e r s R o n a l d z w i n g e n d . 4 1 N i c h t m i n d e r u n k l a r ist in , D e r H a g e s t o l z ' , w i e s o allen A n gehörigen der Elterngeneration die erotische Erfüllung versagt bleiben m u ß . D i e j e w e i l i g e n G e s c h e h n i s s e e r s c h e i n e n erst d a n n als . S c h i c k s a l ' , w e n n m a n d a v o n ausgeht, d a ß g e n a u j e n e unwahrscheinlichen Umstände und Verwickl u n g e n n ö t i g s i n d , d a m i t sich g e n a u d a s j e w e i l i g e , o f f e n s i c h t l i c h v o n A n f a n g a n in d e r c h a r a k t e r l i c h e n u n d m e t a p h y s i s c h e n K o n s t e l l a t i o n a n g e l e g t e E n d r e sultat e r g e b e n k a n n . D i e b e s t e aller g e g e n w ä r t i g m ö g l i c h e n L e b e n s f o r m e n wäre somit für Clarissa tatsächlich, wie oben dargelegt, das eigenartige Zus a m m e n l e b e n m i t i h r e r S c h w e s t e r . Und die Wirren in , D e r H a g e s t o l z ' w ä r e n dann ebenso notwendig, um die unlösbare Dreieckskonstellation zwischen L u d m i l l a / O n k e l / V a t e r o h n e A u s g r e n z u n g e i n e s E l e m e n t s in d e r Z w e i e r b e z i e hung von Victor und Hanna aufzuheben.42 So spricht also einiges dafür, daß die „ S ü n d e " eben keine bloße Fehlentw i c k l u n g ist, s o n d e r n im G e g e n t e i l d e r e i g e n t l i c h e , v e r s t e c k t e u t o p i s c h e T r e i b s a t z d e r S t i f t e r s c h e n W e l t . Sie gibt d e n A n s t o ß zu n e u e n k o m p l e x e n K o n s t r u k t i o n e n , d i e d e r a n g e s t r e b t e n U r - U n s c h u l d d e r N a t u r letztlich n ä h e r k o m m e n als d e r s i t t s a m e , i d y l l i s c h - t r i v i a l e S t a t u s Q u o . T a t s ä c h l i c h ist j a a u c h s t o l z e E i g e n m ä c h t i g k e i t u n d s o m i t S ü n d h a f t i g k e i t g e r a d e z u S y m p t o m unschuldiger N a t u r n ä h e , wie das Beispiel des Obristen,43 des Urgroßvaters (explizit n u r in d e r J o u r n a l f a s s u n g , in d e r S t u d i e n f a s s u n g c h i f f r e h a f t v e r k ü r z t ) , des Abdias, H u g o s , C o r n e l i a s und auch die Ähnlichkeit der unschuldigen A n n a ( N B ) m i t d e r s ü n d h a f t e n H a n n a ( T Ä ) zeigt. Bis auf H u g o , C o r n e l i a u n d H a n n a e r r e i c h e n d i e s e F i g u r e n a m E n d e ein relativ g l ü c k l i c h e s u n d r u h i g e s , n a t u r n a h e s L e b e n . D i e F r a g e , d i e j e d e r Text von n e u e m zu b e a n t w o r t e n versucht, lautet also letztlich: Wieviel „Fremdheit" (Sünde, Intensität, gesteigertes S e l b s t g e f ü h l , N ä h e z u r z u g l e i c h e x t r e m e n und e l e m e n t a r e n N a t u r ) ist integ r i e r b a r , w i e v i e l E n t s a g u n g ist n ö t i g , u m ein s e l b s t b e s t i m m t e s , ä s t h e t i s c h bef r i e d i g e n d e s u n d d e n n o c h s o z i a l u n d p s y c h i s c h s t a b i l e s L e b e n f ü h r e n zu k ö n nen? Wie kann die wertvolle E r f a h r u n g der „Fremdheit" unschädlich konserviert w e r d e n , o h n e d a s r u h i g e L e b e n d e r N o r m a l m e n s c h e n mit d e m C h a o s anz u s t e c k e n ? U m d a s b e a n t w o r t e n zu k ö n n e n , ist es n ö t i g , d e n S c h l ü s s e l b e g r i f f „ F r e m d h e i t " g e n a u e r zu a n a l y s i e r e n .
41 42
43
Ebd., S. 225, S. 272. In der Person Victors, dem Produkt zweier .Mütter' und zweier .Väter', kommen die allzu große Sanftheit des Vaters und die erotische wie intellektuelle Kompromißlosigkeit des Onkels zur harmonischen Synthese, vermittelt durch die in der Mitte stehende Ziehmutter Ludmilla. Deren extrem abgeschwächtes Abbild ist die Tochter Hanna, die Victor nicht erotisch begehrt, sondern als (Adoptiv-)Schwester liebt. So kann Victors und Hannas Ehe die widersprüchlichen Wünsche der Elterngeneration in einer unschuldigen Beziehung aufheben. WuB. Bd. 1.5, S. 44 (hier unmißverständlich ausgesprochen).
Abgründe der Unschuld
235
„Fremdheit" Der enorm häufige, mitunter scheinbar unspektakulär gebrauchte Begriff „Fremdheit" erscheint immer an den Stellen, an denen beschränkte (aber sichere) Kultur und intensive (aber maßlose und gefährliche) Extremnatur aufeinanderstoßen. „Sünde" entsteht da, wo diese Fremdheit zu groß ist, wo die im Idealfall zusammengehörigen, in der Realität des Kulturprozesses aber entfremdeten Räume vorschnell, ohne schützende Filter und Quarantänefristen, zur Uberschneidung gebracht werden. Der Archetyp eines solchen Sünders ist Jodokus. Seine Schuld besteht ja nicht darin, daß er sich bei Chelion, dem „Apfel des Paradieses", 4 4 gleichsam mit einer teuflischen Sünde infiziert. Die erotische Kindfrau Chelion selbst ist nämlich trotz ihrer verderblichen Schönheit „ein reiner Engel". 4 5 Eine „schöne Sünde" 4 6 ist sie nur für den Kulturmenschen, der sich durch sie Zugang zur verlorenen Ur-Unschuld verschaffen will. Sie ist „ein Kind" und zugleich ein „glühendes Weib" 4 7 - sie verkörpert also die Sehnsucht aller Stifterschen Figuren nach einem Zusammenfallen von unschuldiger familiärer und intensiver erotischer Liebe. Dieses überwältigende Glücksversprechen macht ihre Gefährlichkeit in einer Kultur aus, deren Subjektkonzeption und soziale Ordnung auf Entfremdung beruht. Die indische Kultur hatte die Paria Chelion durch das Berührungsverbot isoliert, denn den notwendig selbstsüchtigen Kulturmenschen macht ihre Berührung tatsächlich „unrein", wie sie selbst warnt. 4 8 Endgültig irreversibel wird diese Sünde allerdings erst dann, als Jodokus sich nicht damit begnügt, seinen Apfel temporär im fremden, unschuldigen Naturraum Indien zu genießen, sondern ihn in den europäischen Kulturraum importiert, wo sie „wildfremd" wirkt und die Brüder Sixtus und Jodokus ins Unglück stürzt. 4 9 Aber auch Chelion selbst wird zerstört, da durch das Wissen um die fremden Normen ihr das eigene Verhalten nicht mehr selbstverständlich ist. In diesem Sinn (und nicht durch den für sie natürlichen Fehltritt mit Sixtus) verliert sie ihre Unschuld. Das „Fremde" ist aber nicht nur in Indien zuhause. Auch eine besondere Gruppe einheimischer, schwarzäugiger Grenzgänger wirkt auf so exotische wie archaische Weise fremd wie ein alttestamentarischer Prophet oder eine Wüstenkönigin. Diesem Typus, dessen Seele „so unbewußt, so ungepflegt, so naturroh und so unheimlich" wie „Tropenwildnisse" 5 0 und so intensiv wie die
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WuB. Bd. 1.4, S. 390. Ebd., S. 389. Ebd., S. 390. Ebd.. S. 387. Ebd., S. 413. Ebd., S. 416f. Ebd., S. 259.
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Marlin
Lindner
„Wüste" ist, 5 ' gelingt es, seine elementare Anlage dichterisch zu sublimieren und so einen (allerdings gleichsam rückwärts, der Ur-Unschuld zugewandten) transzendenten Bezug herzustellen. Dazu gehören Felix (HD), Gregor (HW) und der Vater Heinrich (HW), die ausdrücklich als .Propheten' bezeichnet werden, aber auch Angela, die „Königin der Wüste", 5 2 und die Märchen erzählenden alten Frauen (HD und NB) sowie natürlich Abdias und Ditha, die emigrierten Wüstenbewohner und Abkömmlinge des alttestamentarischen Volkes. Außer bei der notorischen Ausnahme Angela aber erfordert diese problemlose Integration des „Fremden" den mindestens partiellen Verzicht auf Erotik: Gregor wird erst im Alter völlig mit dem Wald vertraut, als er seinen Hof an den Sohn übergeben hat, 5 3 die Märchenerzählerinnen gehören ebenfalls der Großmuttergeneration an, Abdias und Heinrich sind erst als Greise ruhig geworden, als ihre einstigen Leidenschaft ausgebrannt und in der Tochterliebe geläutert ist, 54 Ditha stirbt in dem Augenblick, in dem sie die volle sexuelle Reife erlangt, und Felix muß um seiner dichterisch-prophetischen Berufung willen auf die Geliebte verzichten. 5 5 Die übrigen Figuren erleben die eigenen, erotisch geladenen Affekte als „ f r e m d " und bedrohlich. 5 6 In diesem Sinn ist bereits der Geliebte, der die erotisch erwachende Frau aus der Herkunftsfamilie und dem kindlichen Gleichgewicht reißt, immer „der fremde Mann": 5 7 Er weckt „ein schweres süßes Gefühl [...], hinweggehend von den zwei Gestalten an ihrer Seite, den sonst geliebten, und suchend einen Fremden, und suchend die Steigerung der eigenen Seligkeit". 5 8 Das „Fremde" in der eigenen Brust ist dann am gefährlichsten, wenn es im Kulturraum virulent wird. Durch den Aufenthalt in „fremden" Naturräumen kann dieser seelische Konflikt entschärft werden, weil dann das psychisch „Fremde" in der ganzheitlichen Natur zu sich selber kommt. Dazu bedarf es nicht unbedingt der Reise in die doppelte „Fremde", nach Indien, Ägypten, Afrika, Amerika oder gar in die oberen Schichten der Atmosphäre. Im kleineren, verträglicheren Maßstab kann man diese Erfahrung auch in der mitteleuropäischen Heimat machen, im Wald und auf der Heide, im unproblematischsten Fall beim touristischen Tagesausflug, bei dem die kulturelle Raumbindung und Identität nicht dauerhaft aufgegeben wird. In der Ur-Unschuld der unberührten Natur widersprechen sich die .Keuschheit* des Waldes 5 9 und zum
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Ebd., S. 244; vgl. auch den Beginn von .Das H a i d e d o r f ' . Ebd., S. 64. Ebd., S. 243. Vgl. explizit WuB. Bd. 1.4, S. 225f. WuB. Bd. 1.4, S.206. WuB. Bd. 1.2, S. 184. Ebd., S. 343. Ebd., S. 298. W u B . Bd. 1.4, S. 241.
Ahgründe der
Unschuld
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Teil recht h a n d f e s t sexualisierte T o p o g r a p h i e 6 0 nicht. Die S c h w e s t e r n in , D e r H o c h w a l d ' betreten e i n e n R a u m voll von „ f r e m d e n g l ü h e n d rothen B e e r e n " , „ s e l t s a m e n Fliegen und B l u m e n " , ,,fremde[n] Falter[n]". 6 1 D a s D u n k e l des Waldes hindert aber nicht den Blick auf das Blau des H i m m e l s . 6 2 Einerseits wird nun den M ä d c h e n diese N a t u r bald v e r t r a u t , 6 3 weil sie ihre kulturelle S c h e u verlieren, auf eine andere Weise aber b l e i b e n sie d e r e l e m e n taren Natur d e n n o c h f r e m d : Die dialektische E r g ä n z u n g v o n idealer U n s c h u l d J o h a n n a s und idealer S c h ö n h e i t Clarissas (die den partiellen Verlust d e r Unschuld v o r a u s s e t z t ) ist „ein M ä r c h e n für die r i n g s u m s t a u n e n d e W i l d n i s " , g l e i c h s a m ihre spirituelle E r g ä n z u n g und A u f h e b u n g , die als E r i n n e r u n g mit u t o p i s c h e m Potential in den E l f e n s a g e n a u f b e w a h r t ist. 6 4 V o r a u s s e t z u n g f ü r eine solche v o r ü b e r g e h e n d e Versöhnung der e n t f r e m d e t e n Welt ist aber, d a ß diesem besonderen Ort, wie seinem Bewohner Gregor, der c h a o t i s c h e , destruktive Anteil d e r E x t r e m n a t u r völlig abgeht, a n g e d e u t e t d u r c h d a s „ m e r k w ü r d i g e " Fehlen der W ö l f e . 6 5 Als g e f ä h r l i c h erscheint hier (anders e t w a als in , B r i g i t t a ' , w o es W ö l f e g i b t 6 6 ) die s o z i o k u l t u r e l l e Variante von „ F r e m d h e i t " , die e i g e n t l i c h v e r w a n d te Völker 6 7 e i n a n d e r g r a u s a m bekriegen läßt. U n d t r o t z d e m - wie i m m e r in Stifters m y t h i s c h e m K o s m o s ist nichts, also auch nicht d i e s e r K r i e g , ein b l o ß ä u ß e r l i c h e s Verhängnis. E b e n s o wie in .Das alte S i e g e l ' ( J o u r n a l f a s s u n g ) bildet der politische K o n f l i k t nur eine v e r h ä n g n i s v o l l e innere F r e m d h e i t auf d e r E b e n e der F i g u r e n , also letztlich in der m e n s c h l i c h e n N a t u r ab: die der blauä u g i g - s p i r i t u e l l e n M ä n n e r und der s c h w a r z ä u g i g - e l e m e n t a r e n F r a u e n . D e n n w e n n sich R o n a l d in seinem Plädoyer f ü r ihre V e r m ä h l u n g auf die s t a m m e s m ä ß i g e V e r w a n d t s c h a f t mit Clarissa b e r u f t , f ü r die seine . g e r m a n i s c h e ' Phys i o g n o m i e „ Z e i c h e n " sei, 6 8 dann übersieht er, d a ß die D e u t s c h b ö h m i n C l a r i s s a eher dem s l a w i s c h e n P h ä n o t y p entspricht. B e i d e s , V e r w a n d t s c h a f t wie F r e m d heit, spiegelt sich, wie oben gezeigt, bereits in den A u g e n f a r b e n . Die B e z i e h u n g kann d e s h a l b nur in b e s o n d e r e n , instabilen M o m e n t e n u n s c h u l d i g sein in der zeitlich b e s o n d e r e n Situation, in der die s c h w a r z ä u g i g e C l a r i s s a ( f a s t ) noch ein Kind ist, und in der räumlich b e s o n d e r e n U m g e b u n g d e s J u n g f r ä u l i c h e n ' Waldes. S o b a l d die p r o b l e m a t i s c h e n L i e b e s b e z i e h u n g e n z w i s c h e n B l a u -
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Vgl. hierzu die Aufsätze von Wünsch und Titzmann in diesem Band. WuB. Bd. 1.4, S. 236, S. 259f. Ebd., S. 236. Ebd. Ebd., S. 259; die Elfensagen-Motivik S. 259f. Ebd., S. 252. WuB. Bd. 1.5, S. 468. Hier bedeutet die Tötung der W ö l f e dann auch den endgültigen Sieg des M a j o r s über seine leidenschaftliche Natur, die Rettung seines unschuldigen Sohnes (der gerade eben in die gefährdete Pubertätsphase eintritt!) und das Wiedergewinnen der Jugendgeliebten. WuB. Bd. 1.4, S. 291. Ebd.
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ä u g i g e n und S c h w a r z ä u g i g e n , d e r e n E r f ü l l u n g mit dem Paradies auf E r d e n identisch w ä r e , mit d e m ä u ß e r e n K u l t u r r a u m in B e r ü h r u n g k o m m e n , m u ß die dort e i n t r e t e n d e E n t f r e m d u n g , wie in . D a s alte S i e g e l ' v o r g e f ü h r t , 6 9 zu ihrem Scheitern f ü h r e n . Auf d i e s e Weise erscheint also tatsächlich, g a n z g e m ä ß der R e f l e x i o n d e s E r z ä h l e r s d e r . M a p p e ' , d i e blutige „große G e s c h i c h t e " , die das p r i v a t e G l ü c k a n s c h e i n e n d s i n n l o s zerstört, als in der Tiefe n o t w e n d i g v e r b u n d e n mit d e r „ k l e i n e n G e s c h i c h t e " , die e b e n d u r c h a u s nicht e i n f a c h „der g r o ß e g o l d e n e S t r o m der L i e b e " ist, 7 0 s o n d e r n katastrophisch und zerrissen. D a s f ü h r t zum letzten, v i e l l e i c h t substantiellsten Aspekt des S c h l ü s s e l b e g r i f f s „ F r e m d h e i t " . D i e Z e r r i s s e n h e i t d e r Welt und die daraus r e s u l t i e r e n d e , o f t u n b e g r e i f l i c h g r a u s a m e r s c h e i n e n d e „ F r e m d h e i t " des Schicksals bedroht den G l a u b e n an die h a r m o n i s c h e O r d n u n g der Natur. In der E i n l e i t u n g zu , A b d i a s ' w i r d p o s t u l i e r t , d a ß selbst die größten K a t a s t r o p h e n und S c h m e r z e n e r s t e n s nur d u r c h ( m e n s c h l i c h e s ) „ V e r s c h u l d e n " e n t s t ü n d e n und z w e i t e n s zugleich selbst Teil der ,,heitre[n] B l u m e n k e t t e " der m e t a p h y s i s c h e n Natur seien. 7 1 Diesen d i a l e k t i s c h e n Sinn zu d e m o n s t r i e r e n , ist das A n l i e g e n der Stifterschen Texte. Mit m e h r o d e r w e n i g e r großen S c h w i e r i g k e i t e n werden die eig e n s i n n i g e n L e b e n s l ä u f e d e r A u s n a h m e m e n s c h e n zu n o t w e n d i g e n und f r u c h t baren B a u s t e i n e n e i n e r k u l t u r e l l e n H e i l s g e s c h i c h t e u m g e d e u t e t und so gerechtfertigt.
D e r s c h ö n e S c h m e r z d e r I n d i v i d u a t i o n und d i e s y n t h e t i s c h e U n s c h u l d „ S o ü b e r alle M a ß e n k o s t b a r ist das reine Werk des S c h ö p f e r s , die M e n s c h e n s e e l e , d a ß sie, n o c h u n b e f l e c k t und a h n u n g s l o s des Argen, das es ums c h w e b t , uns u n s ä g l i c h h e i l i g e r ist, als j e d e mit größter Kraft sich a b g e z w u n g e n e B e s s e r u n g ; d e n n n i m m e r m e h r tilgt ein solcher aus d e m Antlitz unsern S c h m e r z über die e i n s t i g e Z e r s t ö r u n g - und die Kraft, die er a n w e n d e t , sein B ö s e s zu b e s i e g e n , zeigt uns fast d r o h e n d , wie gern er es b e g i n g e " . 7 2 Wenn d a s w a h r wäre, w a s von d e r E r z ä h l i n s t a n z in .Der H o c h w a l d ' autoritativ v e r k ü n d e t wird, m ü ß t e klar sein, w e l c h e s W e r t e s y s t e m in den S t i f t e r s c h e n Texten gilt. P a r a d i g m a und Inbegriff d e s Wertvollen wäre dann die u n b e r ü h r te, k i n d l i c h e Natur, wie e t w a die H u g o s in ,Das alte S i e g e l ' , der a n f a n g s „etw a s so e i n s a m U n s c h u l d i g e s [hat], wie es heut zu Tage selbst tief auf d e m
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Die fatale Affäre findet hier in einer schwülen Treibhausatmosphäre statt, nicht in der freien Luft des Naturraums (WuB. Bd. 1.2, S. 194). Überdies ist eine erwachsene, sexuell erfahrene, noch dazu in der .lasterhaften' französischen Kultur a u f g e w a c h s e n e Frau beteiligt. WuB. Bd. 1.5, S. 17. Ebd., S. 238; ähnlich auch . Z w e i Schwestern', WuB. Bd. 1.6, S. 334. WuB. Bd. 1.4, S. 2 2 3 f .
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Lande kaum v i e r z e h n j ä h r i g e K n a b e n b e s i t z e n " . 7 1 D a s S c h i c k s a l H u g o s zeigt j e d o c h , daß seine U n s c h u l d ihn z w a r v o r den n i e d e r e n A n f e c h t u n g e n d e s städtischen Lasters „rein" hält, 7 4 ihn aber vor der h o h e n S ü n d e , der A f f ä r e mit d e r so leidenschaftlichen wie edlen C o l e s t e , k e i n e s w e g s b e w a h r t . M e h r noch: Sein übertrieben strenger Begriff von „ U n s c h u l d " und „ R e i n h e i t " ist sogar daf ü r verantwortlich, daß er der l i e b e n d e n Frau nicht verzeiht und, im S y s t e m Stifters noch schlimmer, sein Kind z u r ü c k s t ö ß t . Die p r i m ä r e U n s c h u l d , so zeigt sich hier, schlägt in dem A u g e n b l i c k , da sie sich vor dem ü b e r w ä l t i g e n den Erlebnis der E x t r e m n a t u r b e w ä h r e n m u ß , fast in ihr G e g e n t e i l u m . Dagegen spricht auch nicht das g l ü c k l i c h e L e b e n d e r a n s c h e i n e n d h a r m l o sen und u n s c h u l d i g e n Naturen wie A n n a ( N B ) , M a r g a r i t a , M a r g a r i t a s M u t t e r (MU), Maria (WS) und selbst H a n n a (HG). E r s t e n s lieben die u n s c h u l d i g e n Frauen a u s g e r e c h n e t p r o b l e m a t i s c h e , oft erotisch e r f a h r e n e Männer. Z w e i t e n s sind sie entweder, wie H a n n a und G u s t a v ( H G ) o d e r Heinrich ( N B ) , quasi das verdünnte Erzeugnis einer p r o b l e m a t i s c h e n und l e i d e n s c h a f t l i c h e n Vorgeschichte in der Elterngeneration, o d e r sie h a b e n selbst w i c h t i g e , w e n n auch a b g e s c h w ä c h t e M e r k m a l e mit den p r o b l e m a t i s c h e n E x t r e m n a t u r - G r e n z g ä n gern g e m e i n s a m (wie Anna und M a r g a r i t a ) . Selbst die a n s c h e i n e n d so kindlich-naive A n n a (NB) hat mit der sündigen H a n n a ( T Ä ) g e m e i n s a m , d a ß sie dazu erzogen wurde, sich f ü r s c h ö n e r und b e s s e r zu halten als die sie u m g e bende durchschnittliche L a n d b e v ö l k e r u n g . Mit Felix ( H D ) v e r b i n d e t sie, d a ß eine der G r o ß e l t e m g e n e r a t i o n a n g e h ö r i g e Volksdichterin ihre P h a n t a s i e a n g e regt hat, die Grenzen ihrer engen L e b e n s w e l t zu ü b e r s c h r e i t e n . M a r g a r i t a und ihre Mutter, beide einerseits „ d e m ü t h i g und z u r ü c k w e i c h e n d vor d e m harten Felsen der G e w a l t t h a t " 7 S (d.h. der m ä n n l i c h e n L e i d e n s c h a f t ) , b e g l e i t e n a n d e rerseits ihre Geliebten aus e i g e n e m A n t r i e b e b e n „ ü b e r harte F e l s e n " , 7 6 d a h i n , „ w o die schauerliche Majestät war, da sich Felsen t h ü r m t e n , W a s s e r h e r a b stürzten, und erhabene B ä u m e s t a n d e n " . 7 7 Wenn also auch die in sich r u h e n d e n , p r i m ä r u n s c h u l d i g e n F i g u r e n nicht gegen die E r f a h r u n g der E x t r e m n a t u r i m m u n sind, m u ß die e i g e n t l i c h ideale L e b e n s f o r m auf eine wissende, s e k u n d ä r e U n s c h u l d z i e l e n , und die Texte Stifters e r k u n d e n i m m e r neue Wege, wie eine s o l c h e d e n n h e r z u s t e l l e n sei. D a s Gewitter, das als äußeres Ereignis h ä u f i g . s c h i c k s a l h a f t ' mit starken A f f e k t e n t l a d u n g e n z u s a m m e n f ä l l t , dient als P a r a d i g m a f ü r die Vermittlung von intensiven e l e m e n t a r e n Energien, l e b e n s f ö r d e r n d e r N ü t z l i c h k e i t und t r a n s z e n denter Ü b e r s c h r e i t u n g des i r d i s c h - e l e m e n t a r e n H o r i z o n t s . C l a r i s s a deutet seinen S y m b o l g e h a l t explizit f ü r J o h a n n a aus: A u c h in ihren u n s c h u l d i g e n „ H i m -
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WuB. Bd. 1.5. S. 346. Ebd., S. 359. Ebd., S. 187. Ebd., S. 55. Ebd., S. 171.
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m e i " der Kindheit werden „ D ü f t e e m p o r s t e i g e n , - der Mensch gibt ihnen den M i ß n a m e n L e i d e n s c h a f t - [...] Engel wirst du sie heißen, die sich in der Bläue wiegen - aber gerade aus ihnen k o m m e n d a n n die heißen Blitze, und die warmen R e g e n , deine T h r ä n e n - und doch auch wieder aus diesen T h r ä n e n baut sich j e n e r V e r h e i ß u n g s b o g e n " . 7 8 Dieses Modell (das im übrigen bereits auf Klopstock zurückgeht und in der Goethezeit recht beliebt war) erlaubt es, die m e t e o r o l o g i s c h e , b i o l o g i s c h - s e xuelle, p s y c h i s c h e und m e t a p h y s i s c h e D i m e n s i o n der Natur s e m a n t i s c h so k u r z z u s c h l i e ß e n , d a ß die „ e m p o r s t e i g e n d e " (!) elementare Energie in den harm o n i s c h e n Ablauf des L e b e n s e i n g e b u n d e n erscheint. Jede der drei Phasen des G e w i t t e r s erhält dann einen b e s o n d e r e n Sinn: a. Der Blitz o f f e n b a r t die Majestät der Natur (er wird begleitet von der „ S t i m m e G o t t e s " 7 9 ) und ist zugleich destruktiv - er zerstört das H a u s d a c h und die Ernte, 8 0 wie er die s c h ü t z e n d e Hülle der Person zerbricht, weil er gleichbedeutend sein kann mit dem . s ü n d h a f t e n ' Sexualakt 8 1 und/oder mit d e m Augenblick der höchsten Verzweiflung, die mit der schlagartigen m e t a p h y s i s c h e n Einsicht in das eigene Schicksal der N a t u r e n t f r e m d u n g einhergeht. 8 2 b. Das Gewitter bringt Regen, d.h. A u f l ö s u n g der elektrischen S p a n n u n g 8 3 und mittelbar Fruchtbarkeit und Nutzen. D a s Fruchtbare kann ganz konkret ein Kind sein (AS), vor allem aber ist es die soziale Tätigkeit, in der allerdings dann die E r z i e h u n g eigener o d e r a n g e n o m m e n e r K i n d e r eine herv o r r a g e n d e Rolle spielt. Diese Tätigkeit ist das Resultat des langen Prozesses s c h m e r z v o l l e r Einsicht (d.h. eben der b e f r u c h t e n d e n Tränen), den der absolvieren m u ß , dem sich ,das A u g e des L e b e n s ' a u f g e s c h l a g e n hat. 8 4 c. Im Idealfall entsteht dann am E n d e der R e g e n b o g e n , der die S y n t h e s e von H i m m e l (spirituelle Natur) und Erde ( E l e m e n t a r n a t u r ) verheißt. Im Leben entspricht diesem S t a d i u m der W i e d e r g e w i n n der Unschuld und ein spätes, meist erst im Alter m ö g l i c h e s Glück. S o lebt Clarissa, die ja das GewitterG l e i c h n i s explizit f o r m u l i e r t , am Ende in einer geflickten Ruine und in einem Zustand s e k u n d ä r e r U n s c h u l d - wie schon ihr Vater, der „eine Ruine [war], jetzt nur noch b e s c h i e n e n von der milden A b e n d s o n n e der Güte, wie ein stummer N a c h s o m m e r nach s c h w e r e n l ä r m e n d e n G e w i t t e r n " . 8 5 Eine solche provisorische, n a c h s o m m e r l i c h e L e b e n s f o r m , die H u g o (AS) irrtümlich abgelehnt hat, erreichen nach U b e r w i n d u n g ihrer e r o t i s c h e n Altersstufe auch der Obrist in der . M a p p e ' , der M a j o r und Brigitta sowie Abdias - jene Figuren also, die
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Bd. 1.4, S. 247. Bd. 1.5, S. 387. Bd. 1.4, S. 4 2 3 . Bd. 1.5, Bd. 1.4,
S. 220. S. 322. S. 417, S. 423. S. 370. S. 224f.
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nie „ihre Liebe t h e i l e n " 8 6 wollten und das a u f s äußerste gesteigerte, g a n z e G e f ü h l a n s t r e b t e n . Der d e n n o c h b e s t e h e n d e Bedarf der g e b r o c h e n e n U n s c h u l d nach p r i m ä r e r U n s c h u l d wird j e w e i l s d u r c h die intensive, eine erotische Liebe e r s e t z e n d e B e z i e h u n g zu einer Figur gestillt, die sich in der von Stifter idealisierten L e b e n s p h a s e b e f i n d e t : in der Vorpubertät, in der U n s c h u l d und erotische (aber noch nicht sexuelle) Intensität kurzzeitig z u s a m m e n f a l l e n , wie an der b l a u ä u g i g e n und s c h w a r z h a a r i g e n (!) Ditha am deutlichsten wird. Deren e i g e n t l i c h e s L e b e n konzentriert sich auf fünf e x t r e m intensive Jahre, gleichsam die G e w i t t e r p h a s e des M e n s c h e n l e b e n s : Der Blitzschlag, der sie z u m seelischen L e b e n e r w e c k t , trifft sie mit elf Jahren, der zweite, tödliche Blitzschlag in d e m A u g e n b l i c k , da sie ihre volle s e x u e l l e R e i f e erreicht hat. 8 7 (Beide G e w i t t e r ü b r i g e n s enden mit R e g e n b o g e n , die die A p o t h e o s e der e l e m e n t a ren U n s c h u l d a k z e n t u i e r e n . ) Alle tatsächlich primär u n s c h u l d i g e n Figuren erfüllen eine ähnliche utopische Funktion wie Ditha. Sie sind aber i m m e r nur R a n d f i g u r e n , g l e i c h s a m Ikonen der U n s c h u l d , die die A u s n a h m e m e n s c h e n , denen das eigentliche lieb e v o l l e Interesse der j e w e i l i g e n E r z ä h l i n s t a n z gilt, als Trost und H o f f n u n g ben ö t i g e n . So w e i s e n auch die J u n g f r a u e n Pia ( N B ) und J o h a n n a ( H W ) eine S y n t h e s e - P h y s i o g n o m i e auf (die a l l e r d i n g s a n d e r s als bei Ditha gepolt ist: sie sind blond und d u n k e l ä u g i g ) und stehen e b e n f a l l s im Alter zwischen Kind und F r a u . Und auch d e r überaus s c h ö n e Gustav, der Sohn des M a j o r s und Brigittas, d e r den A n s t o ß zur L ö s u n g des tragischen K o n f l i k t s gibt, ist zu diesem Z e i t p u n k t „ k a u m bei dem U e b e r g a n g e v o m K n a b e n zum J ü n g l i n g e " . 8 8 D a s kritische, erotisch aktive Z w i s c h e n a l t e r , in dem der M e n s c h nicht m e h r u n s c h u l d i g e s Kind und noch nicht u n s c h u l d i g e r Greis ist, sparen die Texte d a g e g e n , so gut es g e h t , aus. H u g o (AS), G u s t a v (C), Maria (ZS) und auch A l f r e d (ZS) wirken, wie bereits J o h a n n a , deutlich j ü n g e r als sie sind, haben also ihre U n s c h u l d so lang wie m ö g l i c h konserviert. Die Elterngeneration d a g e g e n wird g e r n e vorzeitig zu G r e i s e n g e m a c h t , d.h. in die G r o ß e l t e r n g e n e r a t i o n g e r ü c k t . E n t w e d e r h a b e n sie ihre K i n d e r tatsächlich in sehr v o r g e r ü c k t e m Alter b e k o m m e n ( A S , H G , H W ) , o d e r sie sind bereits mit etwa f ü n f z i g Jahren ein gesetzter w e i ß h a a r i g e r G r e i s (A) bzw. mit gut vierzig ein „altes W e i b " ( H D ) . Z u s ä t z l i c h h a b e n d i e s e Figuren im eigentlichen E r w a c h s e n e n a l t e r eine v i e l j ä h r i g e Zeit des Exils und der erotischen E n t b e h r u n g zu abs o l v i e r e n , die sich im E x t r e m f a l l bis z u r S c h w e l l e des Alters erstreckt und nur bei d e n e n verkürzt werden k a n n , deren K o n f l i k t zum größten Teil bereits von der älteren G e n e r a t i o n stellvertretend a u s g e s t a n d e n wurde ( M U , NB, der Erz ä h l e r in . B r i g i t t a ' ) .
86 s7 8S
WuB. Bd. 1.5. S. 299. Ebd., S. 326, S. 336. Ebd., S. 442.
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D e r S c h m e r z , d e r d i e s e s w e s e n t l i c h e E r w a c h s e n e n a l t e r prägt und d e m die S t i f t e r s c h e n Texte b e i n a h e kultische B e d e u t u n g z u s c h r e i b e n , ist selbst w i e d e r ein a m b i v a l e n t e s P h ä n o m e n . Er ist eben nicht nur der v e r z w e i f e l t e S c h m e r z ü b e r das v e r l o r e n e P a r a d i e s und die b e g a n g e n e Sünde, er ist auch der positive und s c h ö n e S c h m e r z der I n d i v i d u a t i o n , der mit dem u n s c h ä t z b a r e n G e w i n n eines a u t o n o m e n S e l b s t g e f ü h l s und eines tiefen m e t a p h y s i s c h e n Wissens verb u n d e n ist: „und im t i e f e n , tiefen S c h m e r z e war es, wie eine z u c k e n d e Seligkeit, die ihn l o h n t e " . 8 9 Selten g e b e n das die Texte so o f f e n zu, aber die b e s o n d e r e S c h ö n h e i t und W ü r d e d e r m e l a n c h o l i s c h e n L e b e n s e n t w ü r f e , die sie mit b e s o n d e r e r Vorliebe und bis ins letzte Detail schildern, verrät es deutlich. So ist d e r S c h m e r z V o r a u s s e t z u n g j e d e r künstlerischen S e l b s t v e r w i r k l i c h u n g - sei es m u s i k a l i s c h e (ZS, H W ) , 9 0 a r c h i t e k t o n i s c h e (NB) oder auch die p r o s a i s c h e „ D i c h t u n g " d e r ä s t h e t i s c h ü b e r h ö h t e n L a n d w i r t s c h a f t (ZS, B). D a s e w i g e D i l e m m a der S t i f t e r s c h e n Texte ist es, daß zum einen, wie in der G o e t h e z e i t , nichts u n e n t w i c k e l t und unerfahren bleiben soll, was in der m e n s c h l i c h e n N a t u r liegt, und d a ß diese widersprüchlichen E l e m e n t e zugleich in eine ü b e r s c h a u b a r e , d a u e r h a f t e und mit der traditionellen O r d n u n g vereinbare L e b e n s f o r m g e b a n n t w e r d e n sollen. Da die G e g e n s ä t z e der Welt vollständig n u r in d e r alles u m s p a n n e n d e n , räumlichen und zeitlichen Einheit der G e s a m t n a t u r z u s a m m e n f a l l e n k ö n n e n , bleibt denen, die sich mit d e m Schicksal der E n t f r e m d u n g nicht a b f i n d e n k ö n n e n , nur übrig, ein verkleinertes und künstlich z u s a m m e n g e f l i c k t e s Abbild der Natur zu s c h a f f e n . Mehrere Strategien w e n d e n die Texte an, um dabei eine unschädliche Integration des „ F r e m d e n " zu e r r e i c h e n : -
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I n d i v i d u e l l e T e m p o r a l i s i e r u n g : Die synthetische U n s c h u l d wird von einer F i g u r allein am Ende e i n e s p r o b l e m a t i s c h e n Lebens verwirklicht, allerd i n g s meist sehr spät und niemals vollständig. K o l l e k t i v e T e m p o r a l i s i e r u n g : Der P r o z e ß von , S ü n d e ' und Sühne wird auf m e h r e r e G e n e r a t i o n e n , also auf ein familiäres K o l l e k t i v s u b j e k t verteilt, w o d u r c h d e r e i n z e l n e v o m ü b e r w ä l t i g e n d e n u t o p i s c h e n A n s p r u c h an sein L e b e n z u g l e i c h entlastet wird.
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S u r r o g a t - und K o m p l e m e n t b i l d u n g : Für die m a ß l o s e , o f f e n oder latent erotische G e f ü h l s i n t e n s i t ä t m u ß ein u n g e f ä h r l i c h e s Ä q u i v a l e n t g e f u n d e n werd e n . D a s gelingt n o r m a l e r w e i s e , i n d e m der p r o b l e m a t i s c h e n Figur ein Kind z u g e o r d n e t w i r d , das e r s t e n s durch seine unversehrte U n s c h u l d als k o m p l e m e n t ä r e E r g ä n z u n g d i e n t , z w e i t e n s aber als u n s c h u l d i g e s Bild des/der erotisch G e l i e b t e n die L i e b e s e n e r g i e e n des A u s n a h m e m e n s c h e n bindet und e n t s c h ä r f t (HW, A, H G ) . Eine vollständigere soziale Integration ist d a n n g e g e b e n , w e n n d i e k ü n s t l e r i s c h - i n s t a b i l e n M e n s c h e n eine k o m p l e m e n t ä r e
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WuB. Bd. 1.4, S. 206. WuB. Bd. 1.6, S. 311, vgl. auch Bd. 1.4, S. 263.
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Abgründe der Unschuld
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E h e mit einer . k i n d l i c h e n ' Frau schließen ( N B , H G ) . M a x i m u m ist die G r ü n d u n g einer a b g e s c h l o s s e n e n G r o ß f a m i l i e in e i n e r e i n s a m e n G e g e n d , d e r die A u s n a h m e m e n s c h e n als Eltern des k i n d l i c h - b e s c h r ä n k t e n Volks v o r s t e h e n (B, N B , M U ) . -
E i n s c h l i e ß u n g und E i n k a p s e l u n g : Der A u s n a h m e m e n s c h , d e r das „ F r e m d e " d u r c h a u s nicht e n d g ü l t i g a u f g i b t , sondern in s e i n e m I n n e r s t e n e i n k a p s e l t und b e w a h r t , schottet sich d u r c h ein k o n z e n t r i s c h e s S y s t e m von M a u e r n und Schlössern g e g e n die a n g e b l i c h so u n s c h u l d i g e und s c h ö n e , tatsächlich aber störende und triviale Außenwelt ab. 9 1 In der Seele bewahrt der schweigsame M e n s c h die E r i n n e r u n g , er s a m m e l t B l u m e n und S t e i n e , er hält seine E r f a h r u n g e n in Bildern und B ü c h e r n lebendig ( w o f ü r s y m b o l i s c h die im Buch g e p r e ß t e B l u m e steht 9 2 ), sein H a u s liegt w e i t a b von a n d e r e n H ä u sern, 9 3 und schließlich ist d e r K u l t u r r a u m , in d e m er sich n i e d e r l ä ß t , selbst n a t u r n a h , s c h w a c h besiedelt und als Tal, das e i n e r „ W i e g e " g l e i c h t , 9 4 selbst noch a b g e s c h l o s s e n gegen die gänzlich u n e r t r ä g l i c h e s t ä d t i s c h e Kultur.
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L e b e n in t o p o g r a p h i s c h e n G r e n z r ä u m e n : W ä h r e n d also ein . e i s e r n e r Vorh a n g ' gegen die D u r c h s c h n i t t s k u l t u r errichtet wird, bleibt die G r e n z e zum natürlichen E x t r e m r a u m o f f e n und leicht b e g e h b a r . E x k u r s i o n e n , e t w a um Steine und B l u m e n zu holen, sind ständig m ö g l i c h . Narrative Verdünnung und k ü n s t l e r i s c h e S u b l i m i e r u n g : D a s e n t s c h e i d e n d e Mittel, die E r f a h r u n g e n der „ F r e m d h e i t " lebendig zu halten, auf die m a n nicht verzichten m a g , sind aber m ü n d l i c h e und b e s s e r n o c h s c h r i f t l i c h e und w i e d e r u m gut versiegelte E r z ä h l u n g e n ( N B , M U ) . Sie d i e n e n auch der relativ u n g e f ä h r l i c h e n Weitergabe diese E r f a h r u n g e n an a n d e r e , d e n e n dann wie Heinrich das z w e i f e l h a f t e Privileg zuteil wird, sie gar nicht m e h r o d e r nur noch in sehr a b g e s c h w ä c h t e r Form selbst erleben zu m ü s s e n : „er d a c h t e an C h e l i o n , wie sie k a u m so rein, so s c h ö n , so s c h u l d l o s g e w e s e n sei, als wie die an seiner Seite, und er b e z ä h m t e sein H e r z , d a ß es nur nicht breche vor Freude und G l ü c k . " 9 5 D a ß H e i n r i c h a u s g e r e c h n e t im A u g e n b l i c k seiner H o c h z e i t mit der naiven Anna, d i e auch d u r c h seine M ü h e n
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Am deutlichsten ist das natürlich in ,Die Narrenburg'. Aber auch Abdias errichtet starke Mauern, um „von Außen gegen Angriffe geschützt" zu sein (WuB. Bd. 1.5, S. 305), wie auch der .sanfte O b r i s t ' , der sich mit zwei Festen der lästigen sozialen Verpflichtungen entledigt (ebd., S. 162), ein ihm besonders wichtiges Stück Natur mit einem starken, hohen Zaun umgibt, der „mit einem eisernen Schlosse" verschlossen wird (ebd., S. 69). WuB. Bd. 1.4, S. 347; Bd. 1.5, S. 186. Die „Öde" der U m g e b u n g wird besonders betont in . A b d i a s ' (WuB. Bd. 1.5, S. 301) und .Zwei Schwestern' (WuB. Bd. 1.6, S. 298), obwohl die Mutter in letzterem Text diesen Eindruck verwischen will: „Wir sind nicht ganz so abgeschieden und von der menschlichen Gesellschaft getrennt, als Ihr etwa glauben mögt" (ebd., S.304). Mit einer „Wiege" wird das Tal in der . M a p p e ' und in . A b d i a s ' verglichen (WuB. Bd. 1.5, S. 66, S. 301). WuB. Bd. 1.4, S. 432.
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nur „fast ein h a l b e s W u n d e r w e r k " w i r d , % an die sehr wohl viel s c h ö n e r e und, wie o b e n d a r g e l e g t , d u r c h a u s unschuldige C h e l i o n d e n k t , b e w e i s t , d a ß das F r e m d e a u c h in literarischer Verdünnung virulent bleibt. A u c h wenn sie g e s t o r b e n ( u n d somit ü b e r w u n d e n ) ist, bleibt die wilde, e r o t i s c h e S c h ö n h e i t z u m i n d e s t als h o h e s D e n k m a l weiter präsent. Das zeigt sich a u f fällig a u c h am G r a b m a l G a b r i e l e s , das a n s c h e i n e n d völlig u n m o t i v i e r t am E n d e von . B r i g i t t a ' a u f t a u c h t und d e m der letzte Blick des E r z ä h l e r s gilt. Es bleibt also d a s P r o b l e m , d a ß Stifters Texte nur zu individuellen, f ü r den j e w e i l i g e n P r o t a g o n i s t e n m a ß g e s c h n e i d e r t e Lösungen k o m m e n . Wie die Leb e n s b e r i c h t e und s o g a r wie A n n a s R o m a n e in ,Die N a r r e n b u r g ' wirken sie e h e r als I n f e k t i o n d e n n als I m p f u n g . Bis auf den e b e n s o p a u s c h a l e n wie z w i e spältigen Rat, auf j e d e n Fall zu heiraten (und das heißt implizit: j e m a n d , den man nicht intensiv erotisch begehrt), ist kaum eine M a x i m e mit a l l g e m e i n e r G ü l t i g k e i t zu f i n d e n . U n d dieser Rat des „ H a g e s t o l z e s " ist schon d e s h a l b verd ä c h t i g , weil dieser als e i n e r von g a n z wenigen A u s n a h m e m e n s c h e n keine so b e f r i e d i g e n d e E r s a t z k o n s t r u k t i o n g e f u n d e n hat wie Clarissa, A b d i a s und Felix ( H D ) und auch nicht auf ein intensives Glück z u r ü c k b l i c k e n kann wie J o d o kus ( N B ) und s o g a r H u g o ( A S ) . Sie alle würden sich seinem Rat trotz ihrer Kinderlosigkeit wohl kaum anschließen. Der e i n z i g e Text, der mit dieser M a x i m e wirklich ernst m a c h t , indem er eine e r o t i s c h e A l t e r n a t i v e anbietet und, j e d e n f a l l s von den M ä n n e r n , die Ents c h e i d u n g f ü r den g e r a d e nicht geliebten Partner verlangt, ist die B u c h f a s s u n g von . Z w e i S c h w e s t e r n * . D a z u aber sind starke E i n g r i f f e in die J o u r n a l f a s s u n g nötig: Die starke und s e l b s t b e w u ß t e C a m i l l a wird zur s a n f t e n und k r ä n k l i c h e n Figur r e d u z i e r t , die u r s p r ü n g l i c h derbe Maria a u f g e w e r t e t zu einer Figur, die nun innerlich und äußerlich C a m i l l a sehr stark gleicht, aber b e w u ß t auf das A u s l e b e n ihrer p r o b l e m a t i s c h e n A n l a g e verzichtet. In der J o u r n a l f a s s u n g werden die V e r n u n f t h e i r a t e n d e r B u c h f a s s u n g , die Künstler und L a n d w i r t e zu k o m p l e m e n t ä r e n P a a r e n v e r e i n e n , z w a r als w ü n s c h e n s w e r t a n g e d e u t e t , k o m m e n aber ü b e r h a u p t noch nicht z u s t a n d e . Und selbst in der B u c h f a s s u n g wird die Heirat von O t t o und M a r i a nicht wirklich v o l l z o g e n , s o n d e r n in e i n e m s e l t s a m d i s t a n z i e r t e n N a c h w o r t nur als n o t w e n d i g p r o p h e z e i t . W i e hier sind auch sonst g e r a d e die am stärksten m o r a l i s i e r e n d e n Stellen in den . S t u d i e n ' ä u ß e r s t z w e i d e u t i g und beinahe schon mit der R a f f i n e s s e ein e s W i n k e l a d v o k a t e n a b g e f a ß t . Für das U n s c h u l d - P l ä d o y e r in . D e r H o c h w a l d ' w u r d e das bereits g e z e i g t , es gilt aber selbst für das s c h e i n b a r v e r n i c h t e n d e Urteil ü b e r den . H a g e s t o l z ' : „ w e n n in d e m O c e a n d e r Tage e n d l i c h alles, alles u n t e r g e h t , selbst das G r ö ß t e und Freudigste, so geht er eher unter, weil an ihm
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Ebd., S, 435.
Ahí;runde der
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schon alles im Sinken b e g r i f f e n ist [...], w ä h r e n d er noch lebt". 9 7 D a s kann n ä m l i c h auch b e d e u t e n , d a ß der asoziale A u ß e n s e i t e r , der den langen M a r s c h der Kultur verweigert, die lebenslang g e s u c h t e A b k ü r z u n g g e f u n d e n hat und e h e r in der göttlichen G a n z h e i t der Natur a u f g e h t . Und wenn der S c h m e r z in . Z w e i S c h w e s t e r n ' als „der heiligste E n g e l " g e p r i e s e n wird, weil er „den M e n s c h e n e r m a h n t , ihn ü b e r sich selbst e r h e b t " , so ist das nicht e i n f a c h ein Loblied auf E n t s a g u n g und A n p a s s u n g . Eher im G e g e n t e i l : .Sich ü b e r sich selbst zu e r h e b e n ' , gelingt bei Stifter j a g e r a d e den exilierten A u ß e n s e i t e r n , d e n e n der t r a n s z e n d e n t e Blick in die Tiefe der N a t u r g e g e b e n ist. Und so fährt dieser Satz auch mit e i n e m b e z e i c h n e n d e n „ o d e r " fort: „oder ihm S c h ä z e des G e m ü t h e s zeigt und darlegt, die sonst auf e w i g in d e r T i e f e v e r b o r g e n g e w e sen w ä r e n " . 9 8 S o rettet Stifter also tatsächlich die i n d i v i d u a l i s t i s c h e n U t o p i e n der G o e thezeit, allerdings um den Preis, daß er sie tarnen und in p e r i p h e r e E n k l a v e n v e r b a n n e n m u ß . Seinen Texten geht es eben nicht p r i m ä r d a r u m zu z e i g e n , wie aus p r o b l e m a t i s c h e n A u ß e n s e i t e r n nützliche G l i e d e r der b ü r g e r l i c h e n Ges e l l s c h a f t werden k ö n n e n . In Wahrheit stellen die . S t u d i e n ' Versuche dar, in e i n e r nach G o e t h e „ d u r c h a u s bedingten Welt" F r e i r ä u m e und R e c h t f e r t i g u n gen zu finden, die den A u ß e n s e i t e r n ein intensives, g a n z h e i t l i c h e s , a u t o n o m e s und in sich selbst v e r s e n k t e s Leben e r m ö g l i c h e n .
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W u B . B d . 1.6, S. 142. E b d . , S. 3 3 4 .
Ludwig M. Eichinger
Beispiele einer Syntax der Langsamkeit Aus Adalbert Stifters Erzählungen
I. L a n g s a m k e i t und Z e i t v e r l a u f Wer o d e r w a s kann langsam sein? Nach A u s w e i s des Paulschen W ö r t e r b u c h s 1 b e d e u t e t das A d j e k t i v langsam ,ohne Hast, mit geringer G e s c h w i n d i g k e i t ' . Die a l l t ä g l i c h e Sicht der D i n g e , die im weiteren expliziert wird, zeigt, d a ß es p r i m ä r M e n s c h e n sind, die l a n g s a m handeln, auch, daß diese L a n g s a m k e i t als d e r G e g e n p o l zur g e r a d l i n i g e n Schnelligkeit des „schnell A r b e i t e n s " 2 a n z u s e hen ist. „Was o h n e Hast b e e n d e t werden soll, mag später als ( h ö f l i c h e r ) Hinweis auf die N o t w e n d i g k e i t zum A b s c h l u ß einer H a n d l u n g verstanden worden sein, d a h e r h e u t e in i n d i r e k t e n A u f f o r d e r u n g e n der G e b r a u c h als A b t ö n - P a r t . . S p r e c h e r zeigt an, d a ß er die g e w ü n s c h t e H a n d l u n g aus zeitlichen G r ü n d e n f ü r g e b o t e n h ä l t ' : Wir müssen natürlich langsam, das heißt: schnell zum Ende kommen"3 Die Zeit wird also als eine g l e i c h m ä ß i g voranschreitende B e w e g u n g e m p f u n d e n , in der m a n m e h r o d e r weniger viel H a n d l u n g unterbringen kann h e u t z u t a g e eher mehr. D a n e b e n gibt es aber auch i m m e r wieder H i n w e i s e dara u f , d a ß die g l e i c h m ä ß i g a b l a u f e n d e Zeit der n e w t o n s c h e n Physik nicht das ist, w a s u n s e r L e b e n prägt; „Leben ist zyklisch, reproduktiv, sich wied e r h o l e n d : in j a h r e s z e i t l i c h e n R h y t h m e n , in F o r t p f l a n z u n g s r h y t h m e n , in Zellt e i l u n g e n , in G e n e r a t i o n e n . Die Zyklizität bedingt überhaupt die strukturelle Stabilität des L e b e n d i g e n . [...] Auf der anderen Seite wäre das Leben nicht lebendig, w e n n der R h y t h m u s nicht aus dem Tritt k o m m e n könnte, d a n n wäre j e d e A d a p t a t i o n s f ä h i g k e i t , j e d e Innovation, die Ü b e r r a s c h u n g , die G e f ä h r d u n g e l i m i n i e r t , und d i e Welt d e s L e b e n d i g e n ein toter A u t o m a t . " 4 Wie m a n weiß, h a b e n die E r g e b n i s s e d e r S c h l a f f o r s c h u n g n a c h g e w i e s e n , daß der n a t ü r l i c h e T a g e s r h y t h m u s d e s M e n s c h e n bei ca. 25 Stunden liegt; dieser R h y t h m u s wird d a n n d u r c h die H e l l - D u n k e l - P h a s e n wie auch durch unsere kulturellen Geb r ä u c h e auf die 24 S t u n d e n h e r u n t e r g e r e g e l t . 5 Vor diesem H i n t e r g r u n d sind
2 3 4
5
H e r m a n n P a u l . D e u t s c h e s W ö r t e r b u c h . 9 . A u f l . von H e l m u t H e n n e u n d G e o r g O b j a r t e l [...]. T ü b i n g e n 1 9 9 2 , S. 5 0 7 . E b d . , S. 7 5 7 . E b d . , S. 5 0 7 . F r i e d r i c h C r a m e r : D e r Z e i t b a u m . G r u n d l e g u n g e i n e r a l l g e m e i n e n Z e i t t h e o r i e . 2. A u f l . F r a n k f u r t a . M . / L e i p z i g 1 9 9 4 , S. 2 3 1 . E b d . , S. 2 3 5 f .
Beispiele einer Syntax der Langsamkeit
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auch vielleicht Texte wie der f o l g e n d e von Peter H a n d k e - auch eines Liebhab e r s d e r L a n g s a m k e i t - n i c h t s o a b s e i t i g , w i e sie v i e l l e i c h t s c h e i n e n : „ W e n n ich d e n H e r z s c h l a g l a n g s a m e r z ä h l e als er a b l ä u f t , w i r d er l a n g s a m e r . " 6 U n d m a g m a n sie n u r als e i n e n H i n w e i s d a r a u f l e s e n , d a ß a u c h d i e s e w i e d e r h o l t e n S t r u k t u r m u s t e r , d i e d i e K o n s t a n z d e s z e i t l i c h e n L e b e n s s i c h e r n , in d e r I t e r a t i o n v a r i i e r e n , in e i n e r W e i s e v a r i i e r e n , d a ß d i e V a r i a t i o n l e t z t l i c h in einen neuen Zustand hiniiberspringt. Diese Entwicklung der relativ festen S t r u k t u r e n , mit d e n e n w i r u n s e r e Z e i t z ä h l e n , p a ß t d a n n a u c h z u d e r a n d e r e n Vorstellung einer lebendigen und irreversiblen Zeit, die etwa den Ablauf eines L e b e n s als e i n e n A b l a u f v o n E r e i g n i s s e n v e r s t e h t , d e r n i c h t e i n f a c h u m g e k e h r t g e d a c h t und a l l e n f a l l s in p r o b a b i l i s t i s c h e r A n n ä h e r u n g v o r h e r g e s a g t w e r d e n k a n n . Es ist d a s d i e S i c h t e i n e s Z e i t a b l a u f s , d e r E n t s t e h e n u n d Vergeh e n k e n n t , d e r die V e r g a n g e n h e i t u n d G e g e n w a r t d e u t l i c h u n t e r s c h e i d e t u n d von der Z u k u n f t nichts G e n a u e s weiß. Diese irreversiblen und u n v o r h e r s e h b a ren P r o z e s s e e r h a l t e n ihre S t ü t z e in d e n z y k l i s c h e n S t r u k t u r e n , d i e d e n Z e i t strahl d e r G e s c h e h n i s s e b e g l e i t e n u n d trotz i h r e r V e r ä n d e r u n g d i e W i e d e r e r k e n n b a r k e i t in d e r V a r i a t i o n s i c h e r n . D i e s e z y k l i s c h e n S t r u k t u r e n k ö n n e n als z u m K r e i s g e b r e m s t e Z e i t s t r a h l e n v e r s t a n d e n w e r d e n : „In d e r p r o z e s s u a l e n Welt heißt S t r u k t u r g e b r e m s t e Z e i t " . 7 D a m i t läßt sich v i e l l e i c h t d e r E i n d r u c k v o n G e s c h w i n d i g k e i t o d e r s p e z i e l l e r L a n g s a m k e i t e i n e s P r o z e s s e s als e i n e u n terschiedliche Relation z w i s c h e n systemstabilisierenden Einheiten und der s t r u k t u r v e r ä n d e r n d e n i r r e v e r s i b l e n Z e i t v e r s t e h e n . Z u b e a c h t e n ist z u s ä t z l i c h , d a ß d i e zu b e o b a c h t e n d e V a r i a t i o n in d e n W i e d e r h o l u n g e n d e r a b l a u f e n d e n S t r u k t u r m u s t e r g e g e b e n e n f a l l s zu s p r u n g h a f t e n V e r ä n d e r u n g e n d e r S t r u k t u r e n führen kann. Langsamkeit würde dann bedeuten, daß Elemente hervortreten, d i e d e n Verlauf e i n e r G e s c h i c h t e in e x i s t i e r e n d e z y k l i s c h e M u s t e r e i n b i n d e n . Man kann versuchen, Adalbert Stifters B e r u f u n g auf das Alltägliche und a u c h auf d i e k l e i n e n - o h n e D e u t u n g w a h r g e n o m m e n e n - E r e i g n i s s e in s o l c h e i n e m R a h m e n zu i n t e r p r e t i e r e n . G a n z in d e r N ä h e d e r b e r ü h m t e n S t e l l e , an d e r er v o m „ s a n f t e n G e s e t z " s p r i c h t , b e m e r k t A d a l b e r t S t i f t e r in d e r V o r r e d e zu d e n , B u n t e n S t e i n e n ' : „ D a s W e h e n d e r L u f t d a s R i e s e l n d e s W a s s e r s d a s Wachsen der Getreide das Wogen des Meeres das Grünen der Erde das Glänzen d e s H i m m e l s d a s S c h i m m e r n d e r G e s t i r n e h a l t e ich f ü r g r o ß : d a s p r ä c h t i g einherziehende Gewitter, den Bliz, welcher H ä u s e r spaltet, den Sturm, der die B r a n d u n g t r e i b t , d e n f e u e r s p e i e n d e n B e r g , d a s E r d b e b e n , w e l c h e s L ä n d e r vers c h ü t t e t , h a l t e ich n i c h t f ü r g r ö ß e r a l s o b i g e E r s c h e i n u n g e n , j a ich h a l t e sie f ü r k l e i n e r , weil sie n u r W i r k u n g e n viel h ö h e r e r G e s e z e s i n d . S i e k o m m e n auf e i n z e l n e n S t e l l e n vor, u n d s i n d d i e E r g e b n i s s e e i n s e i t i g e r U r s a c h e n . " 8
6 7 8
Peter Handke. Das G e w i c h t der Welt. Salzburg 1977, S. 87. Cramer (o. Anm. 4), S. 103. WuB. Bd. 2.2, S. 10.
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E r e i g n i s s e , die „auf e i n z e l n e n Stellen" v o r k o m m e n - die höheren G e s e t z e e i n m a l b e i s e i t e g e l a s s e n - w e r d e n gegen r e g e l m ä ß i g i m m e r w i e d e r k e h r e n d e Vorgänge gestellt, auf d e r e n G e s t a l t u n g hier Peter H a n d k e s a l l g e m e i n e r e Bes c h r e i b u n g z u z u t r e f f e n scheint: „[...] eine heilichte und farbige P r o z e s s i o n zus a m m e n g e h ö r e n d e r D i n g e , r h y t h m i s i e r t durch eine Spezialität des S t i f t e r s c h e n Stils, die W e g l a s s u n g d e s K o m m a in der Litanei der P h ä n o m e n e " . U n d H a n d ke f ä h r t e i n i g e Z e i l e n später fort: „Bei Stifter hat ein j e d e s Ding seine Zeit, nach d e m Bild und d e m Takt der Perioden des Alten T e s t a m e n t s " . 9 M a n k a n n also die von S t i f t e r in der oben zitierten Textstelle g e ä u ß e r t e n P r ä f e r e n z e n a u c h als die B e v o r z u g u n g der E i n b e t t u n g der G e s c h i c h t e n in die z y k l i s c h g e o r d n e t e Zeit lesen. Das kann vielleicht noch deutlicher w e r d e n , w e n n m a n b e t r a c h t e t , w e l c h e P h ä n o m e n e in der c h a o s t h e o r e t i s c h inspirierten B e t r a c h t u n g der Zeit in Friedrich C r a m e r s , Z e i t b a u m ' der zyklisch reversiblen Zeit t r und w e l c h e der irreversiblen Zeit der A b l ä u f e t¡ zugerechnet w e r d e n : 1 0 tr ( S t r u k t u r e n )
t, ( E r e i g n i s s e )
periodische, zyklische strukturierte Systeme
irreversible e v o l u t i o n ä r e S y s t e m e
Uhren
Urknall
Atome Galaxien
Supernova
Planetensysteme
Vulkanismus Mutation
Pulsare
Evolution
Schwarze Löcher
Geburt
Tag und N a c h t
Krankheit
E b b e und Flut Jahreszeiten
Tod
Fahrpläne
Altern Geschichte
Zellteilung
Revolution
Zyklen
Trennung
Herzrhythmus
Ideen
Rituale Generationen
Wissen Kunst
Schema 1
Vielleicht ist n e b e n der Tatsache, d a ß C r a m e r sein Kapitel über diese S a c h v e r h a l t e " mit j e n e n Versen aus d e m a l t t e s t a m e n t a r i s c h e n Prediger S a l o m o einleitet, auf die H a n d k e oben h i n w e i s t („Ein j e g l i c h e s hat seine Zeit, und alles V o r n e h m e n u n t e r d e m H i m m e l hat seine S t u n d e " ) , noch C r a m e r s H i n w e i s er-
9
10 11
P e t e r H a n d k e . E i n i g e B e m e r k u n g e n zu Stifter. In: P e t e r H a n d k e . L a n g s a m im S c h a t t e n F r a n k f u r t a . M . 1992, S. 56. C r a m e r (o. A n m . 4), S. 2 4 6 . E b d . , S. 2 3 0 f .
Beispiele
einer Syntax der
Langsamkell
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w ä h n e n s w e r t , d a ß in „ j e d e m reversiblen Z e i t k r e i s [...] irreversible A n t e i l e enthalten [seien], die f r ü h e r o d e r später zu einer nicht a u f h e b b a r e n , e i n e r irreversiblen Ä n d e r u n g f ü h r e n " . 1 2 G e r a d e dieser T a t b e s t a n d k ö n n t e S t i f t e r s Darstell u n g s w e i s e z u p a ß k o m m e n , sich auf die k l e i n e n , u n s c h e i n b a r e n , nicht nach G r u n d und F o l g e sortierten E i n z e l h e i t e n zu b e z i e h e n , deren K r a f t in den nicht u n m i t t e l b a r a b l e i t b a r e n S p ä t f o l g e n besteht. Vielleicht ist das e i n e r der G r ü n d e f ü r die I r r i t a t i o n s k r a f t der S t i f t e r s c h e n E r z ä h l p r o s a , die e t w a T h o m a s M a n n im A n s c h l u ß an seine L e k t ü r e des A u f s a t z e s über die totale S o n n e n f i n s t e r n i s zu ,,Gespräch[n] über d a s E x t r e m e und B e ä n g s t i g e n d e in der N a t u r " 1 3 f ü h r t .
II. Von V e r t r a u t e m u n d N e u e m Die nun f o l g e n d e n s p r a c h w i s s e n s c h a f t l i c h e n N u t z a n w e n d u n g e n sind der Versuch, an e i n i g e n B e i s p i e l e n aus den E r z ä h l u n g e n A d a l b e r t S t i f t e r s n a c h z u f r a g e n , o b und g e g e b e n e n f a l l s wie sich die a n g e d e u t e t e n S t r u k t u r e n einer l e b e n d i g e n Zeit in d e r G e s t a l t u n g d e r S t i f t e r s c h e n Texte w i e d e r f i n d e n . D i e s e Ü b e r l e g u n g e n g e h e n dabei von n a t ü r l i c h k e i t s t h e o r e t i s c h g e p r ä g t e n K o n z e p t e n der K o d i e r u n g - nicht zuletzt in literarischen Texten - aus. D a s Ü b e r w i e g e n der einen o d e r d e r a n d e r e n Zeitsicht sollte einen als k o m i s c h i n t e r p r e t i e r b a r e n N i e d e r s c h l a g in der s p r a c h l i c h e n F o r m f i n d e n , w e n n ich hier des e i n f a c h e r e n R e d e n s halber e i n m a l z w i s c h e n den S a c h e n , die n u r in W ö r t e r n d a h e r k o m m e n und diesen W ö r t e r n t r e n n e n darf. L a n g s a m k e i t h i e ß e dann n a t ü r l i c h , es m ü ß t e d o m i n a n t z y k l i s c h kodiert w e r d e n . 1 4 N a h e k o m m e n soll die linguistisch-stilistische B e s c h r e i b u n g d e m P h ä n o m e n , das - ein letztes Mal - Peter H a n d k c so b e s c h r e i b t : „ M a n spricht von den , h i m m l i s c h e n L ä n g e n ' B e e t h o v e n s - und e b e n s o k ö n n t e m a n von den . h i m m l i s c h e n L a n g s a m k e i t e n ' eines A d a l b e r t S t i f t e r s p r e c h e n . Die L a n g s a m k e i t d e r stillen und s a n f t e n P r o z e s s i o n seiner D i n g e , L a n d s c h a f t e n , H e l d e n : als k e h r t e n sie z u r ü c k , e r s c h e i n e n neu nach einer sehr sehr l a n g e n Vergessenheit. ,Es hat sich in v e r g a n g e n e n Z e i t e n z u g e tragen [...]' ( T u r m a l i n ) " . 1 5 Nicht u m s o n s t b e s t ä t i g e n viele A n f ä n g e S t i f t e r s c h e r G e s c h i c h t e n , d a ß sie weit auf die Urzeit z u r ü c k g r i f f e n , sich auf R i t u a l e (die c h r i s t l i c h e n Feste in , B e r g k r i s t a l l ' ) , a l l g e m e i n gültige W e c h s e l b e z i e h u n g e n ( r e g e l m ä ß i g e Verteilung der Talente in . K a l k s t e i n ' ) und ä h n l i c h e s b e z ö g e n . D u r c h u n g e a h n t e , d e t e r m i n i s t i s c h - c h a o t i s c h e S p r ü n g e k o m m e n u n e r w a r t e t e E r e i g n i s s e in eine 12
" 14
15
Ebd., S. 246. Thomas Mann. Tagebücher 1 9 1 8 - 1 9 2 1 . Hrsg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt a.M. 1979, S. 187. U m hier wieder auf die höheren G e s e t z e zurückzukommen, die o b e n b e i s e i t e g e s c h o b e n wurden; unter d e m B l i c k w i n k e l einer christlichen Ewigkeit ließen sich natürlich auch ganze Geschichten zyklisch harmonisieren. Handke (o. Anm. 9), S. 56.
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Welt, die so e t w a s in ihrer Struktur allenfalls in fernen A n d e u t u n g e n kannte. S o w i r d e t w a in d e r E r z ä h l u n g , G r a n i t ' das Einbrechen der Pest in regelmäßige L e b e n s a b l ä u f e „im W a l d " , die in ihren Iterationen Krankheiten durchaus k a n n t e n , f o l g e n d e r m a ß e n e i n g e f ü h r t : „Man hatte v o r h e r in W i n t e r a b e n d e n erzählt, wie in a n d e r n L ä n d e r n eine Krankheit sei, und die Leute an ihr, wie an e i n e m S t r a f g e r i c h t e d a h i n sterben; aber niemand hatte geglaubt, d a ß sie in unsere W ä l d e r h e r e i n k o m m e n w e r d e , weil nie etwas F r e m d e s zu uns herein k ö m m t , bis sie k a m . " 1 6 Die k a u s a l e n E r k l ä r u n g s a n g e b o t e stehen hilflos vor dem Schock des „ s p r u n g h a f t e n " E r e i g n i s s e s . A n d e r e r s e i t s wird von Stifter im Sinne seiner o b e n g e n a n n t e n P r ä f e r e n z v e r s u c h t , auch gleichsam E r e i g n i s h a f t e s in zyklis c h e S t r u k t u r z u r ü c k z u b i n d e n ; als Beleg d a f ü r mag die Schilderung des dram a t i s c h e n G e w i t t e r s in . K a l k s t e i n ' 1 7 gelten, das trotz d e r Darstellung der soz u s a g e n e x p l o s i v e n A b l ä u f e ein rekurrierend a b l a u f e n d e s G e s c h e h e n schildert. U n d so ist es d a n n nicht d a s oben als ihm nicht so wichtig erscheinende „ p r ä c h t i g e i n h e r z i e h e n d e G e w i t t e r , der Bliz, welcher H ä u s e r spaltet", der uns b e g e g n e t , s o n d e r n eine r e k u r r i e r e n d e Naturerscheinung eines e r w a r t b a r e n Abl a u f s , auf die m a n auch mit Ritualen zu reagieren gelernt hat. S o beginnt die S c h i l d e r u n g mit d e r „ G e w o h n h e i t " der Wetterkerze, m a n erwartet das G e w i t ter, 1 8 das nach d e m S c h e m a a b l ä u f t : Stille - Dunkelheit - f e r n e Blitze und f e r n e r D o n n e r , d a n n a u f k o m m e n d e r Wind, A n n ä h e r u n g von Blitz und D o n n e r ( d a z w i s c h e n „ w a r n o c h eine Z e i t " 1 9 ) . Erwartet wird ( „ e n d l i c h " 2 0 ) der Beginn des R e g e n s , d e r j a nach a l l g e m e i n e r Ansicht die G e f a h r des G e w i t t e r s bricht. D a n a c h b e s c h l e u n i g t sich z w e i f e l l o s die Intensität der dargestellten A b f o l g e n , d e n n o c h wird auch d i e s e P h a s e resümiert mit: „Ich hatte selten ein solches G e w i t t e r e r l e b t " 2 1 - e i n e s aus einer Reihe also, auch weiter heißt es dann n o c h : „ D a n n w a r ein W e i l c h e n Anhalten, wie es oft bei solchen Erscheinungen d e r Fall ist". 2 2 D e r P f a r r e r schließt den Zyklus: „Es ist vorüber." 2 3
III. Z e i t b i l d e r i m T e x t A n z w e i nicht zu l a n g e n , aber doch z u s a m m e n h ä n g e n d e n Textstücken soll nun g e z e i g t w e r d e n , wie sich m ö g l i c h e r w e i s e das Verhältnis von e r e i g n i s h a f t vora u s s c h r e i t e n d e r u n d z y k l i s c h strukturierter Zeit im syntaktischen A u f b a u nie-
16
17 18 19 20 21 22 23
WuB. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd. Ebd.
Bd. 2.2, S. 37. S. 76ff. S. 76. S. 77. S. 78.
Beispiele einer Syntax der
Langsamkeil
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derschlägt. G e r a d e bei literarischen T e x t e n ist es j a nicht u n g e w ö h n l i c h , von einer „ R e m o t i v i e r u n g " der an sich g r a m m a t i k a l i s i e r t e n Mittel a u s z u g e h e n , so daß nicht zuletzt zu e r w a r t e n ist, daß d i e in z y k l i s c h e n S t r u k t u r e n zu b e o b a c h tende V e r l a n g s a m u n g der Zeit bis hin z u m Stillstand e i n e n W i d e r p a r t in entsprechenden - womöglich widerborstig wirkenden - sprachlichen Strukturen finden könnte.
Stilistik des l a n g e n Satzes Beim ersten Beispiel h a n d e l t es sich um eine k u r z e Partie aus d e m A n f a n g s teil der E r z ä h l u n g . D e r W a l d g ä n g e r ' , die von H a n s - J ü r g e n H e r i n g e r in seiner S c h u l g r a m m a t i k . G r a m m a t i k und Stil' als E x e m p e l f ü r e i n e n Text v e r w e n d e t wird, der a u f g r u n d der Art der N e b e n s a t z e i n b e t t u n g s c h w e r zu v e r s t e h e n sei: 2 4 „Über d e m g a n z e n M ü h l k r e i s e , d e r mit den vielen v e r e i n z e l t e n S t r e i f e n seiner W ä l d c h e n und den vielen d a z w i s c h e n l i e g e n d e n F e l d e r n , die bereits gep f l ü g t waren, und deren Scholle d u r c h das lange s c h ö n e Wetter fahl gew o r d e n , bis in die tiefere F ä r b u n g d e r b ö h m i s c h e n H ö h e n z u r ü c k g e h t , stand schon eine d u n k e l g r a u e W o l k e n d e c k e , d e r e n e i n z e l n e T h e i l e auf ihrer Überw ö l b u n g die F a r b e des Bleies hatten, auf der U n t e r w ö l b u n g aber ein zartes Blau zeigten, und auf die m a n n i g f a l t i g e n , zerstreuten W ä l d c h e n bereits ihr Düster h e r a b w a r f e n , daß sie in dem a u s g e d ö r r t e n G r a u der F e l d e r wie d u n kelblaue Streifen lagen, bis g a n z z u r ü c k der noch d u n k l e r e und noch b l a u e r e Rand des B ö h m e r w a l d e s sich mit d e m G r a u d e r W o l k e n m i s c h t e , d a ß seine S c h n e i d e l i n i e u n u n t e r s c h e i d b a r in sie v e r g i n g . " 2 5 K a u m j e m a n d wird wohl Heringer w i d e r s p r e c h e n , d e r zu dieser Stelle schreibt: „Dies ist ein riesiger Satz, d e n m a n k a u m ü b e r b l i c k t , vielleicht hat m a n den A n f a n g schon v e r g e s s e n , b e v o r m a n z u m S c h l u ß g e k o m m e n ist." 2 6 Und er fügt h i n z u , Schreiber wie m e h r n o c h L e s e r b r ä u c h t e n viel Zeit f ü r eine solche Art von Text. A b e r e b e n s o k ö n n t e man Rainer M a r i a R i l k e s A n m e r k u n g aus d e m J a h r e 1913 (auch) auf diese Stelle b e z i e h e n , seine A n m e r k u n g ü b e r den „ j u n g e n D i c h t e r " , von d e m es heißt, d a ß er „ w i e e r innen an das v e r b o r g e n M ä c h t i g s t e seinen A n s c h l u ß [habe], so [werde] er im S i c h t b a r e n schnell und g e n a u von kleinen w i n k e n d e n A n l ä s s e n bedient: w i d e r s p r ä c h e es d o c h d e r v e r s c h w i e g e nen Natur, in d e m Verständigten das B e d e u t e n d e a n d e r s als u n s c h e i n b a r a u f z u r e g e n " . Und d a n n , direkt auf Stifter b e z o g e n : „ I r g e n d ein n a c h d e n k l i c h e r Leser Stifters [...] k ö n n t e es bei sich z u r V e r m u t u n g b r i n g e n , d a ß d i e s e m dichterischen E r z ä h l e r sein innerer Beruf in dem A u g e n b l i c k u n v e r m e i d l i c h gew o r d e n sei, da er, eines u n v e r g e ß l i c h e n Tages, zuerst d u r c h ein F e r n r o h r e i n e n
24 25 26
Hans-Jürgen Heringer: G r a m m a t i k und Stil. F r a n k f u r t a.M. 1989, S. 332. SW. Bd. 13, S. 4 0 f . Heringer (o. A n m . 24), S. 332.
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ä u ß e r s t e n t l e g e n e n P u n k t d e r L a n d s c h a f t h e r b e i z u z i e h e n suchte und nun, in völlig b e s t ü r z t e r Vision, ein Flüchten von R ä u m e n , von Wolken, von G e g e n s t ä n d e n e r f u h r , e i n e n S c h r e c k e n vor solchem R e i c h t u m , d a ß in diesen S e k u n den sein o f f e n ü b e r r a s c h t e s G e m ü t Welt e m p f i n g wie die Danae den ergossenen Z e u s . " 2 7 Die a u s d e r F e r n e a n g e b l i c k t e n Einzelheiten, die sich im Überblick zu ein e r S t r u k t u r z u s a m m e n f ü g e n , zerlegen sich in Einzelheiten, die ohne den R a h m e n relativ b e l i e b i g e r s c h e i n e n , gleichzeitig das B e f r e m d e n a u s l ö s e n , w o z u sie w o m ö g l i c h f ü h r e n k ö n n t e n . Das Bild mit dem Fernrohr und seinen u n t e r s c h i e d l i c h e n F o k u s s i e r u n g s m ö g l i c h k e i t e n scheint kein übles Modell f ü r die Technik d e r V e r l a n g s a m u n g von Syntax und P r o s o d i e in dem hier gew ä h l t e n T e x t s t ü c k zu sein. D a s Bild erfaßt im Unterschied zu eher allgemein ö k o n o m i s c h k l a s s i s c h e n H i n w e i s e n auf das sich v e r ä n d e r n d e Verhältnis von e r z ä h l t e r und E r z ä h l z e i t die u n t e r s c h i e d l i c h e Art d e r B e t r a c h t u n g der Zeit vor allem an den Stellen, w o ein in der Genauigkeit variierender Uberblick über e i n e n z y k l i s c h e n Z u s a m m e n h a n g gegeben wird. Es ist der Ü b e r h a n g an strukturellen U m w e g e n , d e r vor d e m Fortgang der G e s c h i c h t e steht, der die verzögerte S i n n k o n s t i t u t i o n b e d i n g t und ikonisch abbildet. Damit ist aber diese Art von K o m p l e x i t ä t , auf die m a n a u ß e r h a l b literarischer Prosa eher ungehalten reagieren d ü r f t e , prinzipiell eine natürliche K o d i e r u n g der zeitweltlichen Verh ä l t n i s s e . D a b e i läßt sich a l l e r d i n g s die Frage, wieweit der Leser zur Sinnentn a h m e a n g e m e s s e n instruiert wird, d.h. o b der Text hier „gut" ist, d u r c h a u s t r o t z d e m n o c h stellen. W i e John Ole Askedal dargelegt hat, 2 8 k o m m t für Elem e n t e o b e r h a l b der l e x e m a t i s c h e n Ebene, f ü r Syntax und Prosodie, o h n e h i n nur der s o g e n a n n t e „ d i a g r a m m a t i s c h e I k o n i s m u s " in Frage, d.h. es zeigen sich A n a l o g i e n in d e r S t r u k t u r d e r Form und der Struktur des G e d a n k e n s . Damit w e r d e n e i g e n t l i c h ü b l i c h e r w e i s e als gänzlich arbiträr a n g e s e h e n e s p r a c h l i c h e E l e m e n t e r e m o t i v i e r t . Die Tatsache also, daß Stifter hier seinen Leser dazu bringt, weit in eine e i n g e b e t t e t e syntaktische Hierarchie hinabzusteigen, läßt sich als I n s t r u k t i o n lesen, nach einer analogen Struktur der g e d a n k l i c h e n E i n b e t t u n g zu s u c h e n . Die S t r u k t u r des G e d a n k e n s mit dem Wechsel z w i s c h e n u m g r e i f e n d e r und E i n z e l f o k u s s i e r u n g entspricht der syntaktischen Hierarc h i s i e r u n g . D i e s e r W e c h s e l und seine A u s g e s t a l t u n g sind ihrerseits zu bew e r t e n im S i n n e a l l g e m e i n e r Vorgaben der Stilistik, die einen a n g e m e s s e n e n Wechsel z w i s c h e n Ü b e r b l i c k s d a r s t e l l u n g und E i n z e l b e s c h r e i b u n g fordert - so e t w a s c h o n in Karl P h i l i p p M o r i t z e n s .Vorlesungen über den S t y l ' . 2 9
27 28
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R a i n e r M a r i a R i l k e . W e r k e V I . F r a n k f u r t a . M . 1987, S. 1 0 5 0 f . J o h n O l e A s k e d a l : Ü b e r A r b i t r a r i t ä t u n d I k o n i z i t ä t v o n S p r a c h z e i c h e n . In: C h r i s t o p h K ü p e r ( H r s g . ) : Von d e r S p r a c h e z u r L i t e r a t u r . M o t i v i e r t h e i t im s p r a c h l i c h e n und im p o e t i s c h e n K o d e . T ü b i n g e n 1 9 9 3 , S. 1 3 - 2 2 (hier b e s . S. 14, S. 20). K a r l P h i l i p p M o r i t z . V o r l e s u n g e n ü b e r d e n Styl. B e r l i n 1793, S. 5 0 f f .
Beispiele einer Syntax der
Langsamkeit
253
Wenn man sich nun den oben zitierten Satz daraufhin ansieht, worum es in ihm gehen soll, kann man feststellen, daß zunächst das Mühlviertel als Ort der Erzählung gesetzt und die vor dem Auge des Lesers ausgebreitete Landschaft bei einem allmählich aufsteigenden Gewitter „im Überblick" dargestellt werden soll. Das steht nun auch in dem, was man syntaktisch den Hauptsatzrest dieses Gefiiges nennen würde: „[...] dem [...] Mühlkreise" und „eine [...] Wolkendecke". Die inhaltliche Relation der beiden nominalen Kerne zueinander, die bereits durch die Präposition über indiziert und in der idiomatischen Wendung der am Himmel stehenden Wolken aufgefangen wird, tritt in der Folge des Lesens in den Hintergrund, ja sie verliert sich gegen Ende in der reinen Anschlußfunktion der Inhaltssatzkonjunktion daß, in der ja kein weiterer inhaltlicher Hinweis enthalten ist. So wird der Mühlkreis letztlich in dem angeschlossenen Relativsatz („der [...] zurückgeht") als eine Landschaft dargestellt, in der sich Wald- und dazwischenliegende Ackerstreifen abwechseln. Von diesen Ackerstreifen wird gesagt, daß sie gepflügt und daß sie von der langen Sonne fahl sind; letztlich wird festgestellt, daß diese Landschaft aus hell-fahlen und dunkleren Streifen im Hintergrund durch die dunklen böhmischen Berge abgeschlossen wird. Im Hinblick auf unsere vorgängigen Überlegungen sei darauf hingewiesen, daß hier die Einzelheiten nicht nur in das Konzept eines bestimmten Typs von Natur- und Kulturlandschaften des mitteleuropäischen 19. Jahrhunderts integriert werden, sondern auch durch das nebenhergesagte Pflügen und das Brachliegen in der Sonne in den Kreis der Jahreszeiten und in die Arbeit des Menschen in der Landschaft eingeordnet werden. Zusammenfassend: Nach der Setzung „der ganze Mühlkreis", wobei das Attribut ganz wie das Grundwort -kreis die Holistik des Bildes betonen, wird ein aus mancherlei Einzelheiten gewebtes Bild einer frühherbstlichen Landschaft gezeichnet. Die Kleinräumigkeit der Schilderung, das unterschiedliche Fokussieren von Entfernungen - dem Hin- und Herblick der Augen und der Vernetzung der so gewonnenen Eindrücke nicht unähnlich - wird durch die Wahl der syntaktischen Mittel verstärkt. Vor allem dadurch, daß die sententiale Auflösung im finiten Verb so weit wie möglich hinausgeschoben und so die aufgezählten, ja noch nicht in die Assertion eingebundenen Bild- und Strukturelemente im Schweben in einer vagen Beziehung gehalten werden. Das Mittel, das am offenkundigsten dieser Verzögerung dient, ist der in der Mitte eingebettete oder eingeschachtelte Relativsatz („die bereits [...] geworden"), der seinerseits koordinativ gekoppelt und in der zweiten Hälfte nicht durch ein Finitum aufgelöst ist („fahl geworden"). Ebenso wirksam ist aber auch der Einsatz mit dem praktisch nur das Genus signalisierenden SubjektsRelativpronomen der und der unmittelbar anschließenden Fügung mit der Präposition mit, die ja ohne weitere syntaktische Information nicht mehr besagt, als daß hier jenes unspezifische der mit irgendetwas anderem in Verbindung stehen soll. Daß in der /n/7-Phase ein räumlich im Hellen und im Vordergrund
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Eichinger
liegender A u s g a n g s b e r e i c h g e m e i n t ist, von dem es dann bis zu e i n e m im Dunkel v e r s c h w i m m e n d e n hinteren Rand geht, wird faktisch erst im Finitum zurückgeht e n d g ü l t i g klar. Und auch in d e r Strecke von d e m mit bis zu d i e s e m Verb - i m m e r h i n 36 W ö r t e r - , gibt es einen weiteren Wechsel von A l l g e m e i nem und B e s o n d e r e m . Es wird zu i m m e r S p e z i f i s c h e r e m h e r a b g e s c h r i t t e n , bevor es an d e r tiefsten s y n t a k t i s c h e n Stelle - der zweiten H ä l f t e des e i n g e b e t t e ten Relativsatzes - zu e i n e m U m s c h w u n g k o m m t . Der g e s a m t h a f t e Mühlkreis, im R e l a t i v p r o n o m e n der inhaltslos a u f g e n o m m e n , wird mit den vielen Streifen Wald in Verbindung gesetzt, d u r c h die Relation . D a z w i s c h e n l i e g e n ' w e r d e n die Felder zum W a l d - F e l d e r - L a n d s c h a f t s b i l d integriert. Bei den Feldern wird es dann noch konkreter, die a u f g e b r o c h e n e f a h l e Erde wird f o k u s s i e r t , d u r c h die G r ü n d e , die f ü r die Fahlheit genannt w e r d e n , in zyklische Strukturen eingebettet. Der f o l g e n d e A u f s t i e g um einige syntaktische S t u f e n auf die H ö h e des ersten Relativsatzes f ü h r t zur Opposition auf der E i g e n s c h a f t s e b e n e der Färbung. Dasselbe geschieht dann in d e r zweiten N o m i n a l p h r a s e noch e i n m a l , nur daß der Satz hier o f f e n a u s l ä u f t . Die dunkelblaue Wolkendecke wird z u n ä c h s t in U n t e r t h e m e n zerlegt: sie b e k o m m t Form ( „ W ö l b u n g " ) , die sich in ein O b e n und Unten zerteilen läßt und so ein k o n k r e t e r e s G e s a m t b i l d liefert. O b e n die B l e i - F ä r b u n g , die an die , F a h l h e i t ' der Erde anschließt, unten das wohl normal d u n k l e .zarte B l a u ' . Das Bild einer ,Wetterstruktur' wird ergänzt durch die W i r k u n g auf die Erde. Blau und Blei m a c h e n die W ä l d e r düster, dunkelblau trifft das Grau der Felder. Dazu k o m m t ein unklarer A n s c h l u ß ( d a ß mit s c h w i e r i g e r K o n g r u e n z ) , der auch hier von den Wolken auf den B o d e n im Vordergrund und dann an den Horizont der Berge führt. In zwei A n s ä t z e n wird die Vermischung der Farben und die Verwischung des H o r i z o n t s angedeutet. Z w e i m a l werden also nach einem Blick auf die G e s a m t s z e n e in einem festen Ablauf E i n z e l e l e m e n t e f o k u s s i e r t , die das G e s a m t b i l d a u f f ü l l e n , deren B e d e u t u n g im einzelnen im M o m e n t der Ä u ß e r u n g noch nicht g e n a u eingeschätzt werden kann. Tatsächlich lassen sich diese a u f f ä l l i g e n B r e c h u n g e n der H a u p t a u s s a g e , die ja der G e s c h e h e n s e b e n e z u g e h ö r t , als strukturelle Einbettung in M u s t e r verlangsamter Zeit verstehen. Durch sie wird die Zähleinheit, der hier eigentlich zu b e s c h r e i b e n d e Punkt der G e g e n w a r t , g e d e h n t . U m die b e s c h r e i b e n d e A u s sage werden I n t e r p r e t a t i o n s m u s t e r in ihren Einzelheiten a u f g e r u f e n , d i e zwar zu dem M u s t e r passen, deren A u s w a h l aber letztlich von der lang- wie kurzfristigen Intention des Autors gesteuert ist. In diesem Z u s a m m e n h a n g läßt sich w o m ö g l i c h a r g u m e n t i e r e n , d a ß die A u s w a h l der E l e m e n t e den Wechsel von e i n e m hell-matten zu einem dunkel-düsteren Bild e r m ö g l i c h e n sollte. Das ließe sich vielleicht f o l g e n d e r m a ß e n a b b i l d e n :
Beispiele einer Syntax der
Langsamkeil
Raumbereich
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hinten
vorne
Objekt
Wäldchen
Streifen
Farbe
fahl
„Kipp-punkt"
dunkelgraue Wolkendecke
Düster
Objekt
Mannigfaltig
böhmische Höhen
Blei Farbe
Felder
blau »
dunkelblau
Wäldchen
grau «
Felder
dunkelblauer Rand des B ö h m e r w a l d e s
zerstreut Schema 2
D i e hier s k i z z i e r t e n B e z i e h u n g e n lassen s i c h relativ leicht deuten, so daß a u f w e i t e r e E r l ä u t e r u n g e n v e r z i c h t e t werden k a n n . Z u r ü c k a b e r zur B e z i e h u n g d i e s e r G e d a n k e n s t r u k t u r auf die s y n t a k t i s c h e Struktur. D i e L a n g s a m k e i t des V e r w e i l e n s in d i e s e r S t r u k t u r a u s m a l u n g wird durch die H e r u n t e r s t u f u n g a u f A t t r i b u t e b e n e g e l e i s t e t , des weiteren durch die relative V a g h e i t der E i n g ä n g e in d i e s e S t u f e n , die den L e s e r weiter hineinzieht, wenn er N e u e s e r f a h r e n w i l l . Z u m anderen liegt das I k o n i s c h e dieser V e r w e i l e n s s t r u k t u r darin, d a ß d i e s e A t t r i b u t i o n e n in ihrer m e h r f a c h e n S t u f u n g die S t e l l u n g s f e l d e r des S a t z e s s o w e i t d e h n e n , daß man den S i n n des g e s a m t e n G e f i i g e s erst im m ö g l i c h e r w e i s e m e h r f a c h e n N a c h l e s e n e r f a s s e n kann. N e b e n den e i n i g e r m a ß e n v a g e n A n s c h l ü s s e n b e s t e h t die p r o b a b i l i s t i s c h e List s o l c h e r T e x t p a r t i e n darin, daß die A u s w a h l der g e w ä h l t e n E i n z e l h e i t e n der B e s c h r e i bung
z w a r mit dem
Gesamtbild
verträglich
ist, daß a b e r k e i n e
G r ü n d e für die Nutzung g e r a d e der g e w ä h l t e n
Merkmale
einfachen
gegeben
werden
k ö n n e n . D a s wird in dem als n ä c h s t e n zu b e h a n d e l n d e n T e x t s t ü c k v i e l l e i c h t n o c h d e u t l i c h e r w e r d e n . V i e l l e i c h t ist es d i e s e r P u n k t , der T h o m a s M a n n dazu v e r a n l a ß t , die „ p e d a n t i s c h e K ü h n h e i t " 3 0 S t i f t e r s h e r v o r z u h e b e n , die e r l i e b e . A u c h b e m e r k t er, wie das S t i f t e r s c h e V o r g e h e n dazu g e e i g n e t sei, „das E x t r e me und B e ä n g s t i g e n d e in der N a t u r " 3 1 d a r z u s t e l l e n , spricht d a n e b e n von seinem , , l e i c h t n ä r r i s c h e [ n ] und e d l e [ n ] E i g e n s i n n " . 3 2 W i e o b e n s c h o n a n g e d e u t e t , kann m a n
in n e u e r e n
wissenschaftstheoretischen
Überlegungen
auch
einen
neuen B o d e n für A d a l b e r t S t i f t e r s N e i g u n g zum k l e i n e n und für sich u n w i c h -
30
T h o m a s M a n n . T a g e b ü c h e r 1 9 3 3 - 1 9 3 4 . H r s g . v o n P e t e r de M e n d e l s s o h n . F r a n k f u r t a . M . 1977, S. 157.
31
Ebd., S. 187. Ebd., S. 125.
32
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tigen Detail legen. Eine der provokanteren Äußerungen aus der Umgebung der Chaostheorie, der sogenannte „Lorenzsche Schmetterlingseffekt", lautet ja: „Ein einziger Flügelschlag eines Schmetterlings kann zur völligen Umsteuerung der Großwetterlage führen (muß aber natürlich nicht)". 3 3 Der Rahmen und die Handlung An einem weiteren Textbeispiel sollen diese Gedanken vom Zusammenspiel von Kleinem und Großem in einem Ganzen fortgeführt werden. Ihn aus den .Bunten Steinen' zu nehmen, bietet sich gerade dann an, wenn man die erklärte Absicht des Autors ernst nimmt, vom Unscheinbarsten und Kleinsten zu schreiben. Es soll vom Beginn der ersten Erzählung dieser Sammlung, .Granit', die Rede sein: „Vor meinem väterlichen Geburtshause dicht neben der Eingangsthür in dasselbe liegt ein großer achtekiger Stein von der Gestalt eines sehr in die Länge gezogenen Würfels. Seine Seitenflächen sind roh ausgehauen, seine obere Fläche aber ist von dem vielen Sizen so fein und glatt geworden, als wäre sie mit der kunstreichsten Glasur überzogen. Der Stein ist sehr alt, und niemand erinnert sich, von einer Zeit gehört zu haben, wann er gelegt worden sei. Die urältesten Greise unsers Hauses waren auf dem Steine gesessen, so wie jene, welche in zarter Jugend hinweggestorben waren, und nebst all den andern in dem Kirchhofe schlummern. Das Alter beweist auch der Umstand, daß die Sandsteinplatten, welche dem Steine zur Unterlage dienen, schon ganz ausgetreten, und dort, wo sie unter die Dachtraufe hinaus ragen, mit tiefen Löchern von den herabfallenden Tropfen versehen sind. Eines der jüngsten Mitglieder unseres Hauses, welche auf dem Steine gesessen waren, war in meiner Knabenzeit ich. Ich saß gerne auf dem Steine, weil man wenigstens dazumal eine große Umsicht von demselben hatte. Jezt ist sie etwas verbaut worden. Ich saß gerne im ersten Frühlinge dort, wenn die milder werdenden Sonnenstrahlen die erste Wärme an der Wand des Hauses erzeugten. Ich sah auf die geackerten aber noch nicht bebauten Felder hinaus, ich sah dort manchmal ein Glas wie einen weißen feurigen Funken schimmern und glänzen, oder ich sah einen Geier vorüber fliegen, oder ich sah auf den fernen blaulichen Wald, der mit feinen Zacken an dem Himmel dahin geht, an dem die Gewitter und Wolkenbrüche hinabziehen, und der so hoch ist, daß ich meinte, wenn man auf den höchsten Baum desselben hinauf stiege, müßte man den Himmel angreifen können. Zu andern Zeiten sah ich auf der Straße, die nahe an dem Hause vorübergeht, bald einen Erndtewagen bald eine Heerde bald einen Hausirer vorüber ziehen." 3 4
33 34
Cramer (o. A n m . 4), S. 86. WuB. Bd. 2.2, S. 23f.
Beispiele einer Syntax der
Langsamkeit
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Dieser Textanfang ist syntaktisch weitaus weniger komplex als die vorher betrachtete Stelle. Dennoch kann man auch hier sehen, wie der zum Anstoß gewählte Stein in die beiden angedeuteten Zeitebenen eingebunden ist und wie insbesondere der Ausbau der zyklischen Ebene den Eindruck gebremster Zeit erzeugt - mit syntaktischen Mitteln, die bei weitem nicht so gewollt bis an den Rand des Nichtverstehens führen wie im ersten Beispiel. Auch hier wird jedoch die zeitliche Verlangsamung dadurch erzeugt, daß die Wirklichkeit in Bezugsstrukturen aufgebrochen wird, an die dann - in mehreren Stufen - bis auf die Ebene einer unmittelbaren Nahsicht herangegangen wird. Was solcherart aus den Netzen unseres Wissens heraufgeholt wird, erscheint uns zwar einerseits mit den angeleuchteten Szenen wohl verträglich, manchmal sind es aber Einzelheiten, die man vielleicht nicht als erste intuitiv ausgewählt hätte, die in ihrer Eigenwilligkeit vielleicht irritieren. Sie irritieren womöglich, weil man ahnt, daß die kleine herausgelöste Einzelheit wie jener Schlag des Schmetterlingsflügels sein könnte. Eine kleine Variation der Szene signalisierend, stellen sie vielleicht weit entfernt eine Weiche, deren Richtung die Geschichte dermaleinst folgen kann oder wird. Mit diesem Gedanken im Hintergrund sei nun noch durch diesen Text gegangen. Zunächst geht es um diesen großen Stein. Auch hier wird sprachlich im ersten Schritt ein mittlerer Betrachtungsabstand gewählt, der uns etwas Bekanntes vor Augen stellt, ein Haus, nebenher genauer qualifiziert als in die Generationenfolge des Erzählers gehörig. Mein väterliches Geburlshaus: zumindest für den Leser am Ende des 20. Jahrhunderts sind die semantisch-syntaktischen Bezüge in dieser Nominalgruppe, deren Kern ein Kompositum bildet, nicht so recht auflösbar. Gleichzeitig mit dem Blick auf dieses solcherart etwas vage in eine persönliche Beziehung gesetzte Haus wird es durch die Präposition vor zum Hinter- und Bezugspunkt einer lokalen Relation. Eigentlich wäre nun in standardsprachlicher Syntax der finite Teil des Prädikats zu erwarten ,,Verb-Zweitstellung" im Aussagesatz. Stattdessen wird hier, wenn ich den Vorgang der Fokussierung derart verumgangssprachlichen darf, sprachlich genauer hingeschaut. Vom Haus als dem Ort der Generationen wird - in der syntaktisch höchst auffalligen zweiten adverbialen Bestimmung vor dem Verb der Blick auf die Eingangstür gelenkt, ja in dem nachgetragenen präpositionalen Attribut wird der Blick noch genauer in den Eingang hineingeführt. Im Sinne meiner Überlegungen könnte man sagen, das Haus wird in einem dreifachen Näherrücken als ein strukturaler Ort beschrieben. Es wird als Institution, in der die Generationen aus- und eingehen, eingeführt. Schon ein Blick auf die nachfolgende Charakteristik des Steins vermag zu zeigen, daß diese Deutung nicht so sehr weit hergeholt scheint. Syntaktisch ist auffällig, daß hier, wie beim anderen Text, an auffälliger Stelle - hier fast in einer Doppelbesetzung der Vorfeldposition im Satz - vor der Assertion des Satzes, die in die Handlungszeit gehörende Lokalbestimmung scheinbar nur in Einzelheiten auseinandergenommen wird. Ganz offenkundig ist hier die Zoombewegung
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Ludwig M. Eichinger
v o n d e r G e s a m t a u s s i c h t d e s H a u s e s a m A n f a n g bis letztlich d a n n z u r F o r m als d e r e r s t e n E i n z e l h e i t d e s S t e i n s im A b s c h l u ß d e s S a t z e s . A m A n f a n g w i e a u c h in d e m N a c h t r a g w e r d e n S i g n a l e d e r V e r z ö g e r u n g g e g e b e n , d i e ü b e r s y n t a k t i s c h e T e c h n i k e n v e r m i t t e l t w e r d e n . Im Vorfeld e r f o r d e r t d i e u n ü b l i c h e R e i h e n f o l g e z u m i n d e s t e i n e S p r e c h p a u s e , e i n e n N e u a n s a t z vor d e r z w e i t e n L o k a l b e s t i m m u n g . I c h d e n k e , d a s ist e i n e d e r T e c h n i k e n , d i e d a s P r o z e s s i o n s a r t i g e a u s m a c h e n , d a s v i e l e r o r t e n S t i f t e r s Stil z u g e s c h r i e b e n w i r d . A b e r a u c h in d i e z w e i t e N o m i n a l g r u p p e d i e s e s S a t z e s ist ein I r r i t a m e n t e i n g e b a u t , d a s m a n z w a r in K a t e g o r i e n d e r s y n t a k t i s c h e n R e i h e n f o l g e b e s c h r e i b e n k a n n , das eigentlich die natürliche sprachliche Abstraktionsebene für Objekte eines b e s t i m m t e n O b j e k t b e r e i c h s b e t r i f f t . S t e i n e , z u m i n d e s t s o l c h e d e s hier g e m e i n t e n T y p s , w e r d e n n i c h t n a t ü r l i c h n a c h d e r Z a h l ihrer E c k e n k l a s s i f i z i e r t . „ A c h t e c k i g e r S t e i n " ist i n f o r m a t i o n s t e c h n i s c h d e m a n d e r e n g e n a n n t e n M e r k m a l „ s e h r in d i e L ä n g e g e z o g e n e r W ü r f e l " d e u t l i c h u n t e r l e g e n . W e n n w i e h i e r a l s I n s t r u k t i o n h e r a u s k o m m e n soll, d a ß es sich um e i n e n g r o ß e n Q u a d e r h a n d e l t , a u f d e m m a n s i t z e n k a n n , ist d i e R e i h e n f o l g e d e r g e g e b e n e n I n f o r m a t i o n e n e h e r i r r e f ü h r e n d . A u f j e d e n Fall e r l a u b t es d i e s e S c h i l d e r u n g a n s c h l i e ß e n d , d i e T e i l e d e s S t e i n s w e i t e r zu s p e z i f i z i e r e n . H i e r b e i w i r d auf d e r Dars t e l l u n g s e b e n e e i n a u f f ä l l i g e r O b e r f l ä c h e n k o n t r a s t k o n s t a t i e r t . D a b e i sind d i e b e i d e n P h r a s e n , in d e n e n d e r U n t e r s c h i e d a u s g e s p r o c h e n w i r d ( „ S e i n e S e i t e n f l ä c h e n [...], s e i n e o b e r e F l ä c h e [...]") g a n z u n t e r s c h i e d l i c h d e u t l i c h a u s g e b a u t ; d i e s c h o n in d e r P r ä d i k a t i o n d o p p e l t a u f g e f ü h r t e F e i n h e i t u n d G l a t t h e i t wird von zwei - einander ergänzenden? - Sinnangeboten bestimmt. Wichtig ist v o r a l l e m d a s b e i l ä u f i g e i n g e f ü h r t e „ v o n d e m v i e l e n S i z e n " , das h i e r a u c h s c h o n a u f d i e K o n t i n u i t ä t d e r v i e l e n G e n e r a t i o n e n v e r w e i s t . Die z w e i t e M ö g l i c h k e i t , d i e G l ä t t e zu e r k l ä r e n („als w ä r e [...]"), die j a d u r c h d i e v e r g l e i c h e n d e E i n f ü h r u n g in e i n e a n d e r e m ö g l i c h e Welt v e r w i e s e n w i r d , w ä r e d a g e g e n d e r V e r s u c h - s. „ K u n s t " in S c h e m a 1 - eine i r r e v e r s i b l e E i n z e l h a n d l u n g z u m U r h e b e r d e r b e o b a c h t e t e n s e n s o r i s c h e n W a h r n e h m u n g des S t e i n s zu m a c h e n . S i e ist a b e r , w i e g e s a g t , d e u t l i c h k o n t r a f a k t u r a l g e s e t z t . A u f d e r D a r s t e l l u n g s e b e n e w i r d d i e W i r k l i c h k e i t , die im g e n e r a t i o n e n l a n g e n S i t z e n u n d s e i n e r F o l g e b e s t e h t , a b s t r a k t z u s a m m e n g e f a ß t : Der Stein ist sehr air, in d e r z w e i t e n H ä l f t e d i e s e s S a t z e s - z i e m l i c h a u f f ä l l i g u n d r e d u n d a n t m i t d e m und g e k e n n z e i c h n e t - w i r d d a s A l t e r des S t e i n s d u r c h d i e N e g a t i o n e i n e s m e h r f a c h g e s t u f t e n H ö r e n s a g e n s auf d i e i m m e r w i e d e r k e h r e n d e n G e n e r a t i o n e n z u r ü c k g e f ü h r t , d e r e n w e i t e s Z u r ü c k l i e g e n d u r c h die I n d e f i n i t h e i t d e s A r t i k e l s ( „ e i n e Z e i t " ) w e i t e r m o d a l i s i e r t w i r d ; da reibt sich d i e s e r Art i k e l g e b r a u c h m i t d e r d e f i n i t e n B e z u g n a h m e v o n wann, d a s in d i e s e r s y n t a k t i s c h e n R e i b u n g a u f e i n e H a n d l u n g in d e r V e r g a n g e n h e i t h i n w i e s e und s o in d i e H a n d l u n g s z e i t z u r ü c k f ü h r t . A u c h im n ä c h s t e n S a t z sind die i r r e v e r s i b l e H a n d l u n g s z e i t u n d d i e r e v e r s i b l e S t r u k t u r z e i t in a m b i v a l e n t e r W e i s e v e r k n ü p f t . D e r G e n e r a t i o n e n - , a l s o s t r u k t u r b e z o g e n e G e d a n k e in d i e s e m S a t z k ö n n t e w o h l l a u t e n , d a ß m a n als J u n g e r w i e als A l t e r auf d i e s e m Stein g e s e s s e n sei u n d
Beispiele einer Syntax der Langsamkeil
259
d a s ü b e r G e n e r a t i o n e n seit l a n g e r Vorzeit. D a s S c h l u m m e r n a u f d e m K i r c h h o f k a n n m a n in u n s e r e r H i n s i c h t v i e l l e i c h t als a m b i v a l e n t v e r s t e h e n , d a s S t e r b e n hingegen gehört e i n e m anderen - irreversiblen - Zeitfeld an. Gleichzeitig w i r d d a s a b e r d u r c h d i e T e m p u s g l e i c h h e i t v e r w i s c h t . D i e T e m p u s w a h l ist ü b e r h a u p t a u f f ä l l i g - d e r T e m p u s ü b e r g a n g ist h i e r s o w i e s o ü b e r r a s c h e n d : e i n P l u s q u a m p e r f e k t , d a s sich w e d e r v o r h e r n o c h z u n ä c h s t a u c h n a c h h e r a u f e t w a s s t ü t z e n k a n n . A u f j e d e n Fall s i g n a l i s i e r t es a b e r , d a ß d i e E r z ä h l u n g b a l d auf T e m p o k o m m e n k ö n n t e . D a v o r a b e r w i r d n o c h , e x p l i z i t e i n g e l e i t e t , d u r c h quasi naturwissenschaftliche Beweisstrukturen (die Ergebnisse i m m e r wiederk e h r e n d e r V o r g ä n g e : „[...] a u s g e t r e t e n [...] h e r a b f a l l e n d e T r o p f e n [...]") d a s A l t e r des S t e i n s n o c h m a l b e w i e s e n : n a t ü r l i c h in P r ä s e n s u n d P e r f e k t . Durch den P l u s q u a m p e r f e k t s a t z von vorhin schon vorbereitet, k o m m e n wir n u n zu d e m S a t z , d e r d e n e i g e n t l i c h e n B e g i n n d e r G e s c h i c h t e e i n l e i t e t . D i e s e r S a t z ist g a n z e i g e n w i l l i g v e r d r e h t t h e m a t i s i e r t . W a r u m s o v i e l A u f w a n d , u m z u s a g e n , d a ß d e r E r z ä h l e n d e als K i n d zu d e n J ü n g s t e n g e h ö r t e , d i e in s e i n e r Fam i l i e j e auf d i e s e m S t e i n g e s e s s e n s i n d ? M a n g e h t v i e l l e i c h t n i c h t f e h l in d e r A n n a h m e , d a ß m i t s a n f t e n t f e r n t e r I r o n i e , d i e sich in e i n e m u n d u r c h s c h a u b a ren S a t z b a u v e r s t e c k t , sein b e s o n d e r s h o h e r G r a d an J u g e n d als E n t s c h u l d i g u n g f ü r sein f o l g e n d e s w a h r h a f t n a i v e s V e r h a l t e n h e r a n g e h o l t w e r d e n soll. W e r s o j u n g ist, k a n n a u c h n o c h n i c h t l a n g e g e n u g a u f d e m v o n d e r E r f a h r u n g von G e n e r a t i o n e n g e p r ä g t e n S t e i n g e s e s s e n s e i n . D i e A n a l y s e sei h i e r a b g e b r o c h e n , w i e w o h l im n ä c h s t e n A b s a t z b e s o n d e r s s c h ö n d a s Z u s a m m e n s p i e l d e r h a n d l u n g s v o r a n t r e i b e n d e n Z e i t in d e n e r s t e n S ä t z e n u n d d e r s t r u k t u r e l l - s t a b i l i s i e r t e n S e h e n s e r f a h r u n g e n im z w e i t e n Teil zu sehen wäre.
IV. S c h l u ß U m im p r a k t i s c h e n L e b e n z u r e c h t z u k o m m e n , b r a u c h t m a n e i n Z e i t v e r s t ä n d nis, d a s ü b e r d i e G l e i c h f ö r m i g k e i t t r a d i t i o n e l l e r V o r s t e l l u n g e n h i n a u s g e h t . Im p r a k t i s c h e n L e b e n - u n d in d i e s e m S i n n e ist a u c h d a s E r z ä h l e n v o n G e s c h i c h ten in d e r L i t e r a t u r d a s p r a k t i s c h e L e b e n - k o m m t d i e Z e i t n u r in G e s c h i c h ten, a l l g e m e i n e r in p r o z e s s u a l e n Z u s a m m e n h ä n g e n vor. S o l c h e P r o z e s s e sind einerseits Folge von - unumkehrbaren - Ereignissen, denen die Zeit entlangl ä u f t : d i e s e Z e i t ist e i g e n t l i c h r e c h t u n b e r e c h e n b a r . Z u i h r e r S t a b i l i s i e r u n g u n d k u l t u r e l l e n D o m e s t i z i e r u n g b e d a r f e s d e r in S t r u k t u r v e r l a n g s a m t e n Z e i t . F ü r l a n g s a m e P h a s e n in G e s c h i c h t e n sollte d i e s e l e t z t e Z e i t z u s t ä n d i g s e i n , s o d a ß sich e i n e S t i l i s t i k d e r L a n g s a m k e i t d u r c h e i n e i k o n i s c h e A b b i l d u n g s o l c h e r Strukturen auszeichnen sollte. I m a l l g e m e i n e n Teil l i e ß s i c h , w i e m i r s c h e i n t , w a h r s c h e i n l i c h m a c h e n , daß die hier g e w ä h l t e n B e s c h r e i b u n g s e b e n e n den von Stifter selbst f o r m u lierten P r ä f e r e n z e n n i c h t g a n z f r e m d s i n d .
260
Ludwig M
Eichinger
Im speziellen Teil w u r d e den Wegen einer Syntax der Langsamkeit an zwei B e i s p i e l e n n a c h g e g a n g e n . In A n l e h n u n g an Harald Weinrichs R e d e w e i s e von den T e m p u s ü b e r g ä n g e n 3 5 k ö n n t e man vielleicht davon sprechen, daß wir eine R e i h e von Z e i t ü b e r g a n g s s i g n a l e n g e f u n d e n haben, die in den vorgelegten Texten eine recht a u s g e p r ä g t e S i g n a l w i r k u n g haben; sie f ü h r e n dazu, d a ß die H a n d l u n g s z e i t eine Weile in d e r S c h w e b e gehalten wird. Betont sei n o c h m a l s die B e d e u t u n g d e r F o k u s s i e r u n g s s t u f e n , die auf die E b e n e der E i n z e l h e i t e n f ü h r e n und die H a n d l u n g s - und die Strukturzeit m i t e i n a n d e r verbinden können.
35
H a r a l d W e i n r i c h : T e x t g r a m m a t i k der d e u t s c h e n S p r a c h e . rich 1993, S. 198ff.
Mannheim/Leipzig/Wien/Zii-
Stefan Schmitt
Adalbert Stifter als Zeichner
E i n e W ü r d i g u n g d e s Z e i c h n e r s A d a l b e r t S t i f t e r hat erst in A n s ä t z e n f u n d e n . Fritz N o v o t n y k o n z e n t r i e r t e s i c h in s e i n e r v e r d i e n s t v o l l e n
stattge-
Monogra-
phie v o r n e h m l i c h auf den Maler Stifter.' Eine A u s n a h m e bildet die S k i z z e n f o l g e aus den L a c k e n h ä u s e m , deren erstmalige B e s p r e c h u n g votny
zu v e r d a n k e n
überwiegend
ist. 2 W e i t e r e
Forscher widmeten
dem zweifellos bedeutenderen
ihre
wiederum
No-
Aufmerksamkeit
m a l e r i s c h e n Œ u v r e und
gingen
auf d a s g r a p h i s c h e Werk nur b e i l ä u f i g e i n . 3 Für d i e s e K o n z e n t r a t i o n g i b t e s m e h r e r e E r k l ä r u n g e n : S o s c h i e n im V e r g l e i c h d e s L i t e r a t e n S t i f t e r m i t
dem
M a l e r S t i f t e r d a s alte P o s t u l a t d e s „ut pictura p o e s i s " g l e i c h s a m in P e r s o n a l u n i o n a u f e r s t a n d e n : S t i f t e r l i e ß in d i e l i t e r a r i s c h e n W e r k e s e i n e Erkenntnisse
miteinfließen.4
Die
Sprache
seiner
malerischen
Landschaftsschilderungen
gibt h i e r v o n b e r e d t e s Z e u g n i s .
1
2
4
Fritz Novotny: Adalbert Stifter als Maler. 4. Aufl. Wien/München 1979. Das Werk erschien erstmals 1941. Die 4. Auflage enthält auch einige spätere Aufsätze Novotnys zu Adalbert Stifters bildkünstlerischem Werk. Novotny: Adalbert Stifters Zeichnungen zu den Lackenhäusern. In: Novotny (o. Anm. I), S. 63-70. Vgl. Ursula R. Mahlendorf: Stifters Absage an die Kunst? In: Goethezeit. Studien zur Erkenntnis und Rezeption Goethes und seiner Zeitgenossen. Festschrift für Stuart Atkins. Hrsg. von Gerhart Hoffmeister. Bern/München 1982, S. 3 6 9 - 3 8 3 ; Franz Baumer: „Musik für das Auge" - Progressive Elemente bei Adalbert Stifter als Maler und Zeichner. In: VASILO 31 (1982). S. 121-144; Laurence Α. Rickeis: Stifter's Nachkommenschaften: The Problem of the Surname, the Problem of Painting. In: MLN 100 (1985), S. 577-598; Donald C. Riechel: Adalbert Stifter as a Landscape Painter: A View from Cézanne's Mont Sainte-Victoire. In: Modern Austrian Literature. Journal of the International Arthur Schnitzler Research Association 20 (1987), S. 1 - 2 1 . - Vgl. auch den problematischen Artikel von Fritz Feichtinger: Primat von Malerei oder Dichtung? Zur Frage der schöpferischen Anfänge bei Adalbert Stifter. In: Rheinische Adalbert-Stifter-Gemeinschaft. Nachrichtenblatt Nr. 77,78, F. 3 (1987), S. 2 2 - 3 1 ; Nr. 79/80, F. 1/2 (1988), S. 3 - 2 8 ; Nr. 81/82, F. 3/4, S. 3 8 - 5 0 ; dazu erwidernd und richtigstellend Heinz Schöny: Stifter als Maler. Kritik einer Kritik. In: Rheinische Adalbert-Stifter-Gemeinschaft. Nachrichtenblatt Nr. 87/88, Folge 1/2 (1990), S. 5 - 1 1 . - Vgl. f e m e r Peter A. Schoenborn: Adalbert Stifter. Sein Leben und Werk. Bern 1992, S. 5 2 - 6 8 . Zum notwendigen, aber auch problematischen Vergleich des dichterischen Werks mit dem malerischen Œuvre vgl. Novotny (o. Anm. 1), S. 2 2 - 3 5 , insbesondere S. 2 2 - 2 6 . Vgl. auch Walter Weiss: Zu Adalbert Stifters Doppelbegabung. In: Wolfdietrich Rasch (Hrsg.). Bildende Kunst und Literatur. Beiträge zum Problem ihrer Wechselbeziehungen im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1968 (Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts 6), S. 103-120.
262
Siefan
Schmitt
In den E r z ä h l u n g e n spielen L a n d s c h a f t s m a l e r h ä u f i g eine zentrale Rolle, und die Textstellen, die Stifter der theoretischen R e f l e x i o n der Malerei widm e t e , sind ungezählt. In diesem Z u s a m m e n h a n g darf auch seine Tätigkeit als K u n s t k r i t i k e r nicht u n e r w ä h n t bleiben. 5 Eine weitere Ü b e r l e g u n g gewährt zusätzlichen A u f s c h l u ß ü b e r das geringe Interesse der bisherigen F o r s c h u n g am g r a p h i s c h e n Œ u v r e Stifters: O b w o h l im Zeitalter des B i e d e r m e i e r die ästhetische Eigenständigkeit der Z e i c h n u n g weitgehend anerkannt war, blieben doch die meisten Z e i c h n u n g e n v o r b e r e i t e n d e Arbeitsschritte hin z u m a u s g e f ü h r t e n G e m ä l d e und somit in der Atelier- und A u s s t e l l u n g s p r a x i s d e r Malerei unterg e o r d n e t . Die e n t s c h e i d e n d e U r s a c h e für das geringe w i s s e n s c h a f t l i c h e Interesse ist aber in der geringen Anzahl von nur 33 erhaltenen Z e i c h n u n g e n zu sehen. Eine d e m Z e i c h n e r Adalbert Stifter g e w i d m e t e U n t e r s u c h u n g m u ß an d i e s e m Punkt ansetzen.
I
Stifters A n f ä n g e als Z e i c h n e r lassen sich z u r ü c k v e r f o l g e n bis zu seinem Eintritt ins G y m n a s i u m des oberösterreichischen B e n e d i k t i n e r s t i f t s K r e m s m ü n s t e r im Jahre 1818. Hier lernte er unter der Anleitung d e s Z e i c h e n l e h r e r s G e o r g R i e z l m a y r die ersten G r u n d l a g e n des Z e i c h n e n s . 6 Die f o l g e n d e f ü n f z i g j ä h r i g e Z e i t s p a n n e bis zu seinem Tod m u ß mit dem geringen U m f a n g seines erhaltenen g r a p h i s c h e n Werkes in Beziehung gesetzt w e r d e n . In diesem langen Z e i t r a u m müssen zahlreiche Z e i c h n u n g e n , Studien und S k i z z e n entstanden sein. Im ersten Abschnitt der 1864 erschienenen . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' findet sich zur Problematik eine a u f s c h l u ß r e i c h e Passage. 7 Der j u n g e M a l e r Roderer konstatiert: „Bei mir ist aber Vieles anders als bei andern M a l e r n . (...) Alles, w a s mir von meinen Arbeiten nicht gefällt, verbrenne ich. [...] Wohl sagte m a n c h e r F r e u n d : ,Ich bitte dich, wenn dir auch eine Arbeit nicht gefällt, mir
5
6
7
Zu Adalbert S t i f t e r als K u n s t k r i t i k e r vgl. Knut E. P f e i f f e r : K u n s t t h e o r i e und Kunstkritik im 19. J a h r h u n d e r t . D a s Beispiel Adalbert Stifter. B o c h u m 1977 ( B o c h u m e r Studien zur Publizistik und K u n s t w i s s e n s c h a f t 11). R i e z l m a y r lebte von 1784 bis 1852. I m m e r h i n fand dieser Z e i c h e n l e h r e r lexikalische Erw ä h n u n g : A l l g e m e i n e s L e x i k o n der B i l d e n d e n Künstler von der A n t i k e bis zur G e g e n wart. B e g r ü n d e t von Ulrich T h i e m e und Felix Becker. Bd. 28, S. 347 ( „ R i e z l m a i r ' ) . Z u r B i o g r a p h i e R i e z l m a y r s vgl. Margret Czerni: Stifters Z e i c h e n l e h r e r G e o r g R i e z l m a y r . Ein A u s z u g aus der F a m i l i e n g e s c h i c h t e . In: B l i c k p u n k t e . K u l t u r z e i t s c h r i f t O b e r Österreich I ( 1 9 9 3 ) , S. 1 2 - 1 9 : M o r i z E n z i n g e r : Adalbert S t i f t e r s S t u d i e n j a h r e ( 1 8 1 8 1830). I n n s b r u c k 1950 ( A d a l b e r t - S t i f t e r - I n s t i t u t des L a n d e s O b e r ö s t e r r e i c h . S c h r i f t e n reihe. Bd. 1), S. 111. Z u r k ü n s t l e r i s c h e n A u s b i l d u n g R i e z l m a y r s vgl. auch F e i c h t i n g e r 1988 (o. A n m . 3), S. 10. Vgl. a u c h N o v o t n y : A d a l b e r t S t i f t e r s . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' als M a l e m o v e l l e druck 1954). In: N o v o t n y (o. A n m . 1), S. 37f.
(Erst-
Adalbert Stifter als Zeichner
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gefällt sie sehr wohl: schenke sie mir lieber, ehe du sie verbrennst, das ist j a widersinnig, an einem verbrannten Dinge kann j a kein Mensch mehr eine Freude haben.' - ,Das ist widersinnig, was du willst,' sagte ich, ,an der nicht verbrannten Pfuscherei habe ich zeitlebens Ärger, so lange ich sie auf der Welt weiß, auf die verbrannte vergesse ich, indem ich mir denke, ich will jetzt etwas ganz S c h ö n e s machen.' Und so sind schon viele Dinge in das Feuer geg a n g e n . " 8 Den an sich selbst gestellten hohen Anspruch an die Qualität seiner Werke vermag Roderer nicht einzulösen. Er leidet unter seiner Unvollkommenheit, und so wurde das Autodafé, also die bewußte Vernichtung eigener Werke, zur häufig geübten Praxis. Auch mit seiner sich selbst gestellten B e währungsprobe, dem Projekt eines monumentalen Gemäldes einer Moorlandschaft. wird er bekanntlich scheitern und es verbrennen. Die Parallelisierung des Autors mit Roderer sollte behutsam erfolgen: Stifter verlieh der Gestalt des Malers Roderer autobiographische Züge, aber zwischen der literarischen Künstlerfigur und dem wirklichen Künstler Stifter besteht ein grundlegender Unterschied, denn Roderer sucht die Entscheidung in jungen Jahren, scheitert und nimmt dieses Scheitern freudig an: „Ich fühlte nun eine Freiheit, Fröhlichkeit und Größe in meinem Herzen wie in einem hell erleuchteten W e l t a l l . " 9 Der Autor hingegen rang als Künstler sein ganzes Leben mit der Form und versuchte, seinen Bildthemen ideale Gestalt zu verleihen. Dies belegt auch das .Tagebuch über Malereiarbeiten', welches Stifter vom Februar 1854 an bis kurz vor seinem Tode „mit äußerster Pedanterie" führte, wie Novotny s c h r i e b . 1 0 Roderers Autodafés hingegen finden ihre Entsprechung im Tun Stifters. S o fragte Stifter seinen Freund Siegmund Freiherrn von Handel in einem B r i e f vom 8. Februar 1 8 3 7 : „Was thatest Du mit j e n e m embrionischen, mißgeburtigen Bilde, das Du mir entführtest? Hast du es noch, so verbrenne es, dann bekommst Du ein neues, dessen Gegenstand Du Dir selber bestimmen kannst".' 1 In einem Schreiben vom 2 0 . September 1837 gibt er dem Freund einen B e -
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S W . B d . 13, S . 2 3 4 . Ebd., S. 302. N o v o t n y (o. A n m . 1), S . 16: S t i f t e r v e r m e r k t e a u f 4 3 S e i t e n a k r i b i s c h die E i n z e l h e i t e n s e i n e r k ü n s t l e r i s c h e n T ä t i g k e i t . E r s c h r i e b s e i n e A u f z e i c h n u n g e n erst a u f N o t i z b l ä t t e r und Ubertrug d i e s e a n s c h l i e ß e n d in sein B u c h . D i e G e s a m t a r b e i t s z e i t e n an s e i n e n G e m ä l d e n w i e a u c h d i e t ä g l i c h e A r b e i t s l e i s t u n g e r r e c h n e t e e r a u f die M i n u t e g e n a u ! D a s T a g e b u c h ist a b g e d r u c k t in S W . B d . 14, S . 3 5 8 - 3 6 5 . V g l . auch die E i n l e i t u n g zu S W . B d . 14, S . L X I V - L X I X . A u c h d e r b e d e u t e n d e L a n d s c h a f t s - und T i e r m a l e r F r i e d r i c h G a u e r m a n n f ü h r t e e i n p e n i b l e s A n m e r k u n g s h e f t , in d e m er A r b e i t s w e i s e , Z e i t , A u f t r ä g e und R e f l e x i o n e n n o t i e r t e . V g l . h i e r z u G e r b e r t F r o d i : W i e n e r M a l e r e i der B i e d e r m e i e r zeit. R o s e n h e i m 1 9 8 7 , S . 4 0 . A b d r u c k d e s A n m e r k u n g s h e f t e s bei R u p e r t F e u c h t m ü l l e r : Friedrich Gauermann. Wien 1962. S W . B d . 17, S . 6 5 . V g l . N o v o t n y (o. A n m . 1), K a t . Nr. 2 7 : N o v o t n y v e r m u t e t , bei d e m B i l d , w e l c h e s S t i f t e r am l i e b s t e n v e r b r a n n t s ä h e , h a n d l e e s s i c h um das G e m ä l d e , D e r S a r s t e i n bei A l t - A u s s e e ' . D i e s e s G e m ä l d e b e f a n d sich im H a n d e i s c h e n F a m i l i e n b e s i t z .
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rieht ü b e r seine q u ä l e n d l a n g w i e r i g e und mühselige A r b e i t s w e i s e , der in der r e s i g n i e r t e n B e m e r k u n g g i p f e l t : „Es ist ein eigenes Unglük, ich kann kein m e i n i g e s Bild lange in den H ä n d e n haben, ohne etwas a u s z u b e s s e r n , und z w a r so lange a u s z u b e s s e r n , bis ich das Bild w e g w e r f e . " 1 2 E i n e r d e r F r e u n d e S t i f t e r s , Heinrich Reitzenbeck ( 1 8 1 2 - 9 3 ) , ä u ß e r t e sich 1853 in e i n e r Z e i t s c h r i f t ü b e r Stifters künstlerischen R i g o r i s m u s : „ E r tat sich aber hierin [in d e r M a l e r e i ] nie g e n u g , sondern v e r b r a n n t e r e g e l m ä ß i g seine Bilder, j a es e r e i g n e t e sich d e r Fall, d a ß er einem F r e u n d e ein g e s c h e n k t e s Bild w i e d e r w e g n a h m , u m es zu v e r b r e n n e n . D a ß er L a n d s c h a f t e n m a l t , d ü r f t e seinen S c h r i f t e n u n s c h w e r zu e n t n e h m e n sein. D a ß d a h e r nicht viele Bilder von ihm v o r h a n d e n sind, ist b e g r e i f l i c h . " 1 3 Im V e r l a u f e d e s A r b e i t s p r o z e s s e s an e i n e m G e m ä l d e e n t s t a n d e n in der R e g e l eine Vielzahl z e i c h n e r i s c h e r Studien. Die u n g e w ö h n l i c h e Tatsache, d a ß von S t i f t e r w e n i g e r Z e i c h n u n g e n erhalten sind als G e m ä l d e , legt den S c h l u ß n a h e , d a ß S t i f t e r seine Z e i c h n u n g e n noch u n b a r m h e r z i g e r vernichtete als seine M a l e r e i e n . S o m u ß die G r u p p e der Z e i c h n u n g e n als stark d e z i m i e r t e r und h e t e r o g e n e r R e s t b e s t a n d e i n e r ungleich größeren P r o d u k t i o n a n g e s e h e n werd e n . S e i n e E r h a l t u n g v e r d a n k t er z u m i n d e s t t e i l w e i s e d e r W e r t s c h ä t z u n g des K ü n s t l e r s , a b e r w o m ö g l i c h auch d e m U m s t a n d , d a ß die S k i z z e n f ü r noch a u s z u f ü h r e n d e W e r k e z u r ü c k g e h a l t e n w u r d e n . A u c h d e r Z u f a l l spielt f ü r d i e E r h a l t u n g e i n i g e r W e r k e e i n e nicht zu u n t e r s c h ä t z e n d e R o l l e , w o f ü r s c h o n d i e t e i l w e i s e b e d e u t e n d e n Q u a l i t ä t s s c h w a n k u n g e n s p r e c h e n . S o ist z u m B e i s p i e l ein S k i z z e n b u c h aus den L a c k e n h ä u s e r n k o m p l e t t e r h a l t e n , o b w o h l es e i n i g e B l ä t t e r e n t h ä l t , die k a u m S t i f t e r s A n s p r u c h g e n ü g t h a b e n dürften. D e r g r ö ß t e Teil d e r v e r b l i e b e n e n S t i f t e r z e i c h n u n g e n läßt sich in f o l g e n d e i k o n o g r a p h i s c h e G r u p p e n s y s t e m a t i s i e r e n : L a n d s c h a f t e n und W a l d s t u d i e n ( 1 7 ) , 1 4 B a u m s t u d i e n ( 5 ) , 1 5 Fels- und S t e i n s t u d i e n ( 3 ) 1 6 s o w i e „ A r c h i t e k t u r "
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SW. Bd. 17, S. 70. Heinrich Reitzenbeck: Adalbert Stifter. Biographische Skizze. In: Libussa. Jahrbuch für 1853. Hrsg. von Paul Aloys Klar. Prag. 12. Jahrg., S. 3 1 7 - 3 2 9 , hier S. 320. Nach einer A u f z ä h l u n g von G e m ä l d e n Stifters in Sammlerbesitz führt Reitzenbeck den zitierten G e d a n k e n g a n g pointiert fort: „Ob er all diese Dinge nicht wieder verbrannt hätte, wenn er sie selbst besäße, wissen wir nicht. Er nennt sich einen Stümper, weil er die Natur nicht so malen kann, wie er sie sieht; ob er dies einmal wird können ist ungewiß, und wenn er bis dahin fleißig mit dem Verbrennen fortfährt, so dürften bei seinem Lebensende wenig Bilder von ihm vorhanden sein." Diese Prophezeiung Reitzenbecks sollte sich als weitsichtig erweisen. Novotny (o. A n m . l ) , K a t a l o g n u m m e r n 20, 28, 31, 32, 34, 35, 49 (Rückseite von 48), 65, 73, 76. 84, 85, 91, 92, 93, 95, 97. Ebd., K a t a l o g n u m m e r n 33, 60, 72, 89., Tafel 52 oben: Diese Studie ist abgebildet, bekam aber keine K a t a l o g n u m m e r zugewiesen. Ebd.. K a t a l o g n u m m e r n 8 6 - 8 8 .
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( R o s e n b e r g e r h a u s , Hütten etc.)·17 Quantitativ ü b e r w i e g e n die L a n d s c h a f t e n und Waldstudien.18 Darstellungen vom M e n s c h e n sind nicht bekannt. Stifter bevorzugte die Technik der Bleistiftzeichnung.19 Die Blätter sind ü b e r w i e g e n d k l e i n f o r m a t i g : D i e V o r z e i c h n u n g z u r F a s s u n g II d e r . B e w e g u n g ' ist m i t ihren 6 8 , 7 χ 9 0 , 4 c m e i n e A u s n a h m e . 2 0 D i e M a ß e d e r n ä c h s t g r ö ß e r e n Z e i c h n u n g betragen nur noch 23,7 χ 30,7 cm,21 und die M e h r z a h l der restlic h e n B l ä t t e r ist n o c h m a l s b e d e u t e n d k l e i n e r .
II Im f o l g e n d e n soll d i e z e i c h n e r i s c h e E n t w i c k l u n g S t i f t e r s a n h a n d e i n i g e r e x e m p l a r i s c h e r B l ä t t e r in ihren G r u n d z ü g e n v o r g e s t e l l t u n d a n a l y s i e r t w e r d e n . S o h a b e n sich f r ü h e L a n d s c h a f t s s t u d i e n e r h a l t e n , d i e 1 8 3 5 / 3 6 e n t s t a n d e n . D a s B l a t t , D e r H a l l s t ä t t e r S e e ' ist in d i e s e n Z e i t r a u m zu d a t i e r e n , in d e n a u c h S t i f ters S o m m e r a u f e n t h a l t im S a l z k a m m e r g u t f ä l l t . N o v o t n y n i m m t , u n t e r d e r V o r a u s s e t z u n g , d a ß e i n e S t u d i e n a c h d e r N a t u r v o r l i e g t , d e n 4. J u n i 1 8 3 6 als E n t s t e h u n g s d a t u m an, d a S t i f t e r sich an d i e s e m T a g in H a l l s t a t t a u f h i e l t . 2 2 A u s g r o ß e r H ö h e g e s e h e n , e r s t r e c k t sich d e r s c h m a l e u n d l ä n g l i c h e H a l l s t ä t t e r S e e in d i e T i e f e d e s B l a t t e s . Die ihn u m g e b e n d e n h o h e n B e r g e sind s ä u b e r l i c h in d ü n n e r L i n i e n f ü h r u n g w i e d e r g e g e b e n . A m g e g e n ü b e r l i e g e n d e n U f e r u n d verschwindend klein vor der Monumentalität des B e r g m a s s i v s erkennt m a n die Ortschaften G o s a u m ü h l e und Hallstatt. M e h r e r e B a u m g r u p p e n v e r s c h i e d e ner G r ö ß e b e t o n e n d i e T i e f e d e s Tals u n d k o n t r a s t i e r e n d i e l i n e a r e B i n n e n z e i c h n u n g d e s H i n t e r g r u n d e s . D a S t i f t e r d i e s e s Blatt m i t e i n e r Q u a d r a t u r ver-
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Ebd., Katalognummern (28), 44, 61, 66, 69, 94, 96. - Künftig erfolgen Bezugnahmen auf in Novotnys Katalog aufgeführte Arbeiten Stifters nur noch mit Nennung der Katalognummern. Die Motivgruppen können sich gelegentlich überschneiden, so z.B. bei Nr. 66 (.Zerfallene Hütte im Wald'), die sowohl als Architekturzeichnung wie auch als Waldstudie interpretiert werden kann. Sechs Ausnahmen sind zu nennen: 1. .Holländische M o n d l a n d s c h a f t ' , Nr. 20: Tuschpinselzeichnung; 2. .Ansicht von Lauffen', Nr. 34: Federzeichnung; 3. ,St. Agatha bei Goisern', Nr. 35: Federzeichnung; 4. Vignettenentwurf für den .Waldgänger', Nr. 65: Tuschlavierung auf Karton, Technik des „papier pelé"; 5. .Die Bewegung I', Nr. 73: Öl auf Leinwand, hier aufgrund der Binnenzeichnung aufgenommen; 6. .Die Bewegung', Vorzeichnung zur 2. Fassung, Nr. 76: Tuschzeichnung. Nr. 76. Es ist die Studie .Umgestürzte Baumwurzel', Nr. 60. Nr. 31 (Abb. Taf. 22 oben): Bleistift auf Papier, 21,4 χ 26,4 cm. Die Bezeichnung „Hallstedt. See 1836 20/11 St." rechts unten sowie die Ziffer „2" links oben nicht von Stifter. Im Besitz von Dipl.-Ing. Wolfgang Schönwiese, Graz. Denkbar wäre immerhin auch, daß Stifter zu Studienzwecken eine Skizze nach einem Gemälde eines renommierten Malers schuf.
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sah, liegt die Annahme nahe, daß er nach dieser Studie ein Gemälde anfertigte, w e l c h e s der Forschung allerdings unbekannt ist. 23 Gänzlich anderen Charakters ist die Bleistiftzeichnung ,Zerfallene Hütte im Wald' (Abb. 1) aus den vierziger Jahren. Sie gehört zu den besten Blättern Stifters: 2 4 Das Dach der Hütte wurde durch einen niedergestürzten Ast schwer beschädigt, so daß es schief und zersplittert auf dem nachgebenden Mauerwerk aufliegt. Der aus mächtigen Wurzeln aufragende Baum rechts der Hütte hat mit dem Ast auch einen Großteil seiner Krone verloren, deren Laubwerk den linken Abschluß des Motivs bildet und die Hütte bei weitem überragt. Das schlichte Bauwerk wird von der gleichgültigen Natur überwuchert und wirkt vor der Kulisse des mächtigen Hochwaldes fragil und verloren. Als vergängliches Zeugnis einstiger menschlicher Präsenz an diesem Ort gibt sich Stifters Motiv als romantisches Bildthema zu erkennen. An den Rändern und im Hintergrund wird das Blatt zunehmend skizzenhafter, aber bei der Gestaltung des Bildzentrums entschied sich Stifter für eine naturalistische und akribisch differenzierende Detailbeschreibung. Die Licht- und Schattenmodellierungen in allen Partien bezeugen technische Versiertheit, und die Detailfülle ist durch den ökonomischen und überlegten Einsatz der zeichnerischen Mittel bewältigt. Ebenfalls detailgetreu beschreibend, wirkt die Zeichnung der ,Gutwasserkapelle bei Oberplan' (Abb. 2) aus dem gleichen Zeitraum atmosphärischer. 2 5
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Nr. 32: . D e r Vordere G o s a u s e e mit d e m D a c h s t e i n ' . Bleistift auf Papier, 19,3 χ 2 3 , 5 c m Im B e s i t z d e r A d a l b e r t - S t i f t e r - G e s e l l s c h a f t Wien. S t a n d o r t : H i s t o r i s c h e s M u s e u m der S t a d t W i e n . D i e s e Z e i c h n u n g aus d e m s e l b e n Z e i t r a u m verrät e b e n f a l l s ihren Verwend u n g s z w e c k als G e d ä c h t n i s s t ü t z e f ü r die Atelierarbeit. Die S t r i c h f ü h r u n g ist u n p r ä z i s e und zeigt, d a ß S t i f t e r h i e r k e i n e „ Z e i c h e n k u l t u r " anstrebte. Mit d i e s e r S t u d i e wollte er sein Motiv v e r m e s s e n . Ä s t h e t i s c h m o t i v i e r t ist hier die Wahl d e s B i l d a u s s c h n i t t s , aber nicht d e s s e n G e s t a l t u n g . S o w u r d e n die Details von Stifter mit B u c h s t a b e n v e r s e h e n und am o b e r e n B i l d r a n d s y s t e m a t i s c h k o m m e n t i e r t . Die w i c h t i g s t e n A n g a b e n zu den Lichtv e r h ä l t n i s s e n sind g l e i c h in den e n t s p r e c h e n d e n P a s s a g e n der Z e i c h n u n g v e r m e r k t . Der a u f f a l l e n d e G e b r a u c h d e s K o m p a r a t i v s (z.B.: „e steiler") f ü h r t e schon N o v o t n y (o. A n m . 1) zu der p l a u s i b l e n A n n a h m e , d a ß Stifter „die S k i z z e nach i r g e n d e i n e r Vorlage" b e r e i t s in W i e n a n f e r t i g t e u n d die Details d a n n vor d e m Motiv k o m m e n t a r i s c h korrigierte. D a s N o t i e r e n v o n F a r b w e r t e n und a n d e r e n A n m e r k u n g e n e n t s p r a c h h ä u f i g g e ü b t e r A t e l i e r p r a x i s . A l s B e i s p i e l e i n e s b e r ü h m t e n Malers j e n e r Zeit, der seine Z e i c h n u n g e n k o m m e n t i e r t e , w ä r e C a r l S p i t z w e g zu n e n n e n . Vgl. zu d i e s e m A s p e k t S i e g f r i e d Wichm a n n : S p i t z w e g . Z e i c h n u n g e n und S k i z z e n . M ü n c h e n 1985, S. 4 3 f . , sowie die k o m m e n tierten A b b i l d u n g e n S. 1 3 9 - 1 4 5 .
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Nr. 6 6 : B l e i s t i f t auf P a p i e r , 19 χ 26,5 c m . Im Besitz d e s O b e r ö s t e r r e i c h i s c h e n L a n d e s m u s e u m s . D i e S t u d i e s t a m m t aus d e m N a c h l a ß S t i f t e r s (Vgl. N o v o t n y [o. A n m . 1], Nr. 2 3 ). S c h o n N o v o t n y w i e s auf die u n s i c h e r e D a t i e r u n g hin, da S t i f t e r s Vermerk r e c h t s u n t e n s o w o h l als „ 1 8 4 0 " wie a u c h als „ 1 8 4 6 " lesbar ist. N r . 6 1 : B l e i s t i f t auf P a p i e r (stark n a c h g e d u n k e l t , gelblich), 22,4 χ 2 9 , 6 c m . Signiert und d a t i e r t u n t e n r e c h t s : „ 1 8 4 5 A d a l b . S t i f t e r " . Das Blatt b e f i n d e t sich im Besitz der S t i f t e r G e s e l l s c h a f t W i e n (Nr. 4 ) . S t a n d o r t : H i s t o r i s c h e s M u s e u m der Stadt Wien. D i e s e Z e i c h n u n g e n t s t a n d a n l ä ß l i c h e i n e s A u f e n t h a l t s Stifters und seiner Frau in O b e r p l a n . In der k u r z z u v o r v o l l e n d e t e n E r z ä h l u n g . D e r B e s c h r i e b e n e T ä n n l i n g ' e r w ä h n t Stifter diese
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Im Vergleich mit diesen beiden subtilen Zeichnungen präsentiert sich die vermutlich 1845 entstandene Studie .Umgestürzte Baumwurzel' (Abb. 3) kraftvoll und mit zeichnerischer Vehemenz. 2 6 Stifter arbeitete mit weichem Bleistift die Grundstrukturen der in den Himmel ragenden Wurzeln heraus, deren zerrissene Konturen sich diagonal über die Bildfläche erstrecken. Der Zeichengrund bildet den Grundton des Objekts, das sich vom energisch schraffierten dunklen Himmel in dramatischer und zerklüfteter Wildheit absetzt. Durch den Kunstgriff des niedrig gelegten Augenpunktes weiß Stifter den angestrebten monumentalisierenden Effekt zu steigern. Summarisch gestaltet ist auch die auf ca. 1850 datierte ,Hütte am Wasser' (Abb. 4). 2 7 Sie gibt sich als markantes Detail eines Landschaftsstreifens zu erkennen, dessen essentielle motivische Charakteristika mit wenigen energischen Strichen erfaßt sind. Die ungestüm hinschraffierte linke Außenwand der Hütte kennt keine definitive Begrenzung, so daß sie mit Büschen und Bäumen verschmilzt, die ihrerseits nur noch als abstrahierte Zeichen emporragen. Zur optischen Auflockerung des statischen Eindrucks skizzierte Stifter die Wolkenformation mit tastenden Strichen und Punktierungen, die das Wasser im Vordergrund wieder aufscheinen läßt. 28 Ab Mitte der fünfziger Jahre widmet Stifter die wenige Zeit, die ihm sein arbeitsintensives Amt als k.k. Schulrat in Linz für die Kunst noch läßt, überwiegend der Konzeption und Ausführung seiner symbolischen Landschaften. 2 9 In ihnen werden Allgemeinbegriffe wie „Heiterkeit" oder „Sehnsucht" symbolisch verkörpert: Das Abstractum findet im Landschaftsbild sein anschauliches Äquivalent. Von den vielen Studien und Entwürfen für diese Serie hat sich als einzige Zeichnung nur die Vorzeichnung für die Fassung II der .Bewegung'
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Kapelle (WuB. Bd. 1.3, S. 2 3 7 - 2 4 2 ; Bd. 1.6, S. 3 8 5 - 3 8 9 ) . Die literarische Beschreibung des Ensembles preist die Atmosphäre ,,freundliche[r] H e l l e " und nennt den „Mittag" als Tageszeit. Kühle und Erfrischung vor dem „ S o n n e n s c h e i n " versprechen die „alten, schattigen Linden". Als Künstler übersetzte Stifter die bereits literarisch fixierte a t m o sphärisch-warme Stimmung ins zeichnerische M e d i u m . Eine gute, ganzseitige Abbildung dieser Zeichnung bietet Franz Baumer: Adalbert Stifter - der Zeichner und Maler. Ein Bilderbuch. Passau 1979, S. 109. Nr. 60: Bleistift auf Papier, 23,3 χ 3 0 , 7 c m . Signiert und datiert in der Mitte unten: „Stifter 1845". Dieses Blatt befindet sich im Besitz der Stifter-Gesellschaft Wien (Nr. 8). Standort: Historisches Museum der Stadt Wien. Nr. 69: Bleistift auf Papier, 19 χ 20,5 cm. Im Besitz der Stifter-Gesellschaft Wien (Nr. 5). Standort: Historisches Museum der Stadt Wien. Die u n g e f ä h r e Datierung auf das Jahr 1850 stammt von Novotny (o. Anm. 1). Stifter arbeitete hier mit einer sehr weichen Bleistiftmine, deren dunkelste Tonwerte er konsequent ausschöpfte. Die grobe Körnung des Papiers verstärkt diesen E f f e k t des Malerischen, denn der gröber strukturierte Zeichengrund leistet der M i n e größeren Widerstand, so daB der Strich breiter wird und an seinem R a n d an S c h ä r f e einbüßt. Novotny (o. Anm. 1), S. 1 6 - 2 0 . Vgl. Baumer (o. A n m . 3), S. 1 2 1 - 1 4 4 , und den Beitrag von Karl Möseneder in diesem Band.
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e r h a l t e n . 3 0 Im g r a p h i s c h e n Œ u v r e Stifters n i m m t sie eine S o n d e r s t e l l u n g ein. D a s G e m ä l d e , D i e B e w e g u n g Γ gelangte ü b e r das Stadium einer vorbereitend e n Z e i c h n u n g auf d e r G r u n d i e r u n g nicht hinaus. 3 1 Von der unvollendeten G e m ä l d e f a s s u n g , D i e B e w e g u n g II' hat sich nur ein Fragment erhalten. 3 2 D i e . B e w e g u n g I' ist, so v e r m u t e t Novotny, ein Entwurf zur L a n d s c h a f t . B e w e g u n g , s t r ö m e n d e s W a s s e r ' . 3 3 O b w o h l es sich hier a u f g r u n d d e r Technik ( Ö l m a l e r e i ) um ein G e m ä l d e handelt, überwiegt der graphische C h a r a k t e r : S t i f t e r bereitete d i e letztlich nicht m e h r in Öl realisierten Passagen gründlich vor, i n d e m er d a s B e r g m a s s i v im H i n t e r g r u n d und den felsigen G e b i r g s f l u ß im V o r d e r g r u n d als s o r g f ä l t i g e Z e i c h n u n g anlegte. In ihr ist kein Detail herv o r g e h o b e n und auf E f f e k t e zur S t e i g e r u n g des ästhetischen Reizes, wie S c h r a f f u r e n o d e r b e s o n d e r s betonte Linien, wurde verzichtet, da die Zeichn u n g im n ä c h s t e n A r b e i t s s c h r i t t übermalt w e r d e n sollte. Infolge d e r unterlass e n e n z e i c h n e r i s c h e n D i f f e r e n z i e r u n g gehen Hinter- und Vordergrund fließend und o h n e Z ä s u r i n e i n a n d e r über. I n n e r h a l b der C h r o n o l o g i e d e r erhaltenen Stiftergraphik belegt diese überz e i c h n e t e G r u n d i e r u n g v o n 1854 als erste Stifters neue H a n d h a b u n g des Zeic h e n g e r ä t s : In n e r v ö s e n , k o m m a - und h ä k c h e n a r t i g e n Strichen umkreist Stifter d i e Details, die m a n g e l s d e f i n i t i v e n K o n t u r s malerischen C h a r a k t e r annehm e n und t e i l w e i s e o p t i s c h m i t e i n a n d e r v e r s c h m e l z e n , so an den Busch- und B a u m g r u p p e n auf d e m B e r g h a n g . Hier entwickelt sich ein nach unten strömender, u n r u h i g - d r ä n g e n d e r und dynamisch-pulsierender, zeichnerischer Rhythm u s . D i e s läßt sich, in n o c h k o n s e q u e n t e r e r A u s f ü h r u n g , auch in d e r vier Jahre später e n t s t a n d e n e n V o r z e i c h n u n g zur z w e i t e n Fassung der . B e w e g u n g ' beo b a c h t e n . Die u n r u h i g e und quirlige B e w e g u n g des dem Betrachter e n t g e g e n s p r u d e l n d e n F l u s s e s f i n d e t ihre f o r m a l e E n t s p r e c h u n g im nervös-strichelnden, p u n k t i e r t e n und sich s t e l l e n w e i s e s c h w u n g v o l l verdichtenden M u s t e r der Zeichnung.34 Die v i e r z e h n letzten e r h a l t e n e n Z e i c h n u n g e n Stifters lassen sich in zwei G r u p p e n einteilen, und sie s t a m m e n auch aus zwei S k i z z e n b ü c h e r n . Das erste
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Nr. 76: T u s c h z e i c h n u n g auf gelblichem Pauspapier, im nachhinein auf Leinwand aufgezogen. Stifter führte 4 Pauspapierblätter zusammen. 68,7 χ 9 0 , 4 c m . 1858. Im Besitz der Stifter-Gesellschaft Wien (Nr. 105). Standort: Adalbert Stifter-Museum Wien. Nr. 73: Öl auf L e i n w a n d , 22,5 χ 3 2 , 5 c m . Um 1854. Im Besitz der Stifter-Gesellschaft Wien (Nr. 39). Standort: S t i f t e r - M u s e u m , Wien. Nr. 77: Öl auf L e i n w a n d . 24 χ 2 3 , 4 c m . Um 1858-62. Im Besitz der Stifter-Gesellschaft Wien (Nr. 39). Standort: Stifter-Museum Wien. Nr. 73. Dort auch die Rekonstruktion der Genese dieses Werkes. Das erhaltene Fragment des G e m ä l d e s ,Die Bewegung II' zeigt das Felsenmotiv im Fluß, welches das untere linke Viertel der Vorzeichnung einnimmt. Eine malerische Umsetzung der zeichnerischen Dynamik fand nicht statt, wie auch Novotny (o. Anm 1). S. 20, hervorhob: „Denn sicherlich ist (...) durch fortwährendes Korrigieren und Übermalen die B e w e g u n g s v e h e m e n z des zeichnerischen Entwurfs zum großen Teil erstickt worden."
Adalbert Stifter als
Zeichner
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a u s d e m J a h r e 1 8 6 3 ist n o c h e r h a l t e n u n d b e f i n d e t s i c h h e u t e i m B e s i t z
der
Albertina.35 A u s d e m z w e i t e n haben sich sieben Blätter erhalten, die an m e h r e r e n O r t e n a u f b e w a h r t w e r d e n . D e r e n E n t s t e h u n g f ä l l t in d e n Z e i t r a u m 6 6 . 3 6 D a a l l e v i e r z e h n B l ä t t e r w ä h r e n d S t i f t e r s A u f e n t h a l t e n in d e n häusern entstanden, dient dieser Ortsname auch als B e z e i c h n u n g
1865/
Lacken-
für diesen
Teil d e s S t i f t e r s c h e n Œ u v r e s . Stifter w o h n t e im sogenannten „Rosenbergerhaus", e i n e m g r o ß z ü g i g e n Anw e s e n des Passauer G e s c h ä f t s m a n n e s und Stifterfreundes Franz X a v e r R o s e n b e r g e r . 3 7 D i e S ü d a n s i c h t d e s A n w e s e n s h i e l t S t i f t e r in z w e i S k i z z e n ( A b b . 5 ) f e s t , in d e n e n e r d i e e i n z e l n e n G e b ä u d e u n d i h r e m a r k a n t e n D a c h f o r m e n w i e d e n B a u m b e s t a n d in w e n i g e n s p a r s a m e n , a b e r p r ä z i s e n S t r i c h e n
so-
wieder-
gab.38 Zwei weitere Blätter zeigen j e w e i l s einen ,Waldrücken' (Abb. 6): Es sind fernsichtige M o t i v e , die Stifter präzise erfaßte. D e r Wald wirkt i n f o l g e
des
g e s c h i c k t e n t w i c k e l t e n , k l e i n t e i l i g e n g r a p h i s c h e n M u s t e r s aus S c h r a f f u r e n , als könne man jeden seiner Bäume einzeln erkennen.39 Nahsichtiger
gegeben
ist e i n
.Waldhang'
( A b b . 7 ) , an d e m
sich
Stifters
später m a l e r i s c h e r Z e i c h e n s t i l gut b e o b a c h t e n läßt. D i e B a u m g r u p p e n sind aus
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Albertina Wien: Inv. Nr. 31377. Dieses Skizzenbuch enthält g e m ä ß Novotny (o. A n m . 1) die K a t a l o g n u m m e m 8 4 - 9 0 . Das Papierformat beträgt 11,5 χ 18,8 cm. Stifter paginierte die Seiten (46 Blatt). Die Datierung ist aufgrund der e i g e n h ä n d i g e n Vermerke Stifters eindeutig: 1863. Einige Seiten in diesem Skizzenbuch wurden zweifellos von einer weiteren Person zum Zeichnen benutzt: Es sind dies die Seiten 4 2 r (Liegender Soldat mit Gewehr im Anschlag und ein weiterer heranreitender Soldat), 42 v (Teil einer B a u m k r o ne) und 4 3 v : Diese Zeichnung zeigt einen Baum in einem Teich mit zwei Enten (Abb.: Novotny, Taf. 52). Die Zeichenweise ist dilettantisch und wirkt a u f g r u n d der Naivität in der A u f f a s s u n g sehr kindlich. Dies gilt auch für die beiden anderen F r e m d z e i c h n u n g e n . Diese Gruppe ist bei Novotny (o. Anm. 1) unter den K a t a l o g n u m m e r n 9 1 - 9 7 zu finden. Die Blätter befinden sich in Wien, Linz und M ü n c h e n . Sie weisen mit 16,5 χ 2 6 , 1 c m ein etwas größeres Format auf. Die Datierung ist a u f g r u n d der eigenhändigen Vermerke Stifters wiederum eindeutig. Zur G r u p p e der Zeichnungen aus den Lackenhäusern: N o v o t n y (o. A n m . 2), S. 63f. Zur Freundschaft Stifters mit F.X. R o s e n b e r g e r und zur H i n w e n d u n g Stifters zu dieser Landschaft: Ludwig Rosenberger: Adalbert Stifter und der Bayerische Wald. Bearb. und hrsg. von Eberhard Dünninger. M ü n c h e n 1967; Ausstellungskatalog Staatliche Bibliothek Passau 1968: Adalbert Stifter und die Entdeckung des Böhmer- und Bayerwaldes. Ausstellung im 100. Todesjahr. Mit einer E i n f ü h r u n g von Paul Praxi (Neue Veröffentlichungen des Instituts für Ostbairische H e i m a t f o r s c h u n g ) , S. 1 6 - 2 7 . Nr. 94: .Das Rosenbergerhaus I ' . Links unten der Vermerk Stifters: „Adalbert Stifter Lakerhäuser 8. Oct. 1865"; Nr. 96: ,Das Rosenbergerhaus I I ' . Rechts unten der Vermerk Stifters: „Lakerhäuser 13 August 1866 Adalbert Stifter". Beide Z e i c h n u n g e n dienten höchstwahrscheinlich als Studien für ein G e m ä l d e dieses A n w e s e n s und seiner U m g e bung, welches Stifter für seinen Freund Rosenberger anfertigte. Nr. 95: . W a l d r ü c k e n ' . Adalbert-Stifter-Institut Linz. Links unten der Vermerk Stifters: „Adalbert Stifter Lakerhäuser 2 October 1865"; Nr. 97: .Waldriicken'. Im Besitz von Dr. Franz Glück, Wien. Beide Zeichnungen dienten vermutlich für ein G e m ä l d e Stifters für die Familie Rosenberger oder f ü r seine Frau.
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Schraffuren unterschiedlicher Intensität entwickelt, und der weiche Graphit des Bleistifts ist zur Steigerung des malerischen Effekts verwischt worden. Aus dessen Kontrapunktierung mit einer Vielzahl von spontan über das Blatt verteilten Haken und Punkten resultiert die atmosphärische Lebendigkeit des Blattes. 4 0 Wiederholt widmete Stifter seine künstlerische Aufmerksamkeit dem Studium von Steinen, Felsen und Felsformationen. 4 1 In der Skizzenfolge aus den Lackenhäusern belegen dies drei Blätter, von denen zwei bemerkenswert sind: In einer kraftvollen .Felsstudie' vergewisserte sich Stifter der Massivität dieses Motivs mit festem Strich und dichten schwarzen Schraffuren. 4 2 Im Vergleich wirkt eine weitere .Steinstudie' (Abb. 8) leicht und wie spielerisch aufs Papier g e w o r f e n . 4 3 Die feste Kontur eines Steins erscheint hier weich und unbestimmt, die Details wurden mit dem Stift umspielt, und eine lockerere, unsystematische Schraffur evoziert eine vage und weiche Plastizität. Stifter strebte in d i e s e m Blatt eine atmosphärische Wiedergabe des Sonnenlichts auf dem Stein an. 4 4 Der erhaltene Restbestand von Stifters graphischem Œuvre ist heterogenen Charakters, und die geringe Anzahl Zeichnungen läßt eine umfassende Analyse der kontinuierlichen G e n e s e seiner Zeichenkunst kaum zu, so daß die Stilwechsel binnen eines Zeitraumes von etwa fünfunddreißig Jahren zwangsläufig sprunghaft wirken. Zudem sind verschiedene Techniken und unterschiedli-
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Nr. 93: . W a l d h a n g ' . Im B e s i t z d e s A d a l b e r t - S t i f t e r Instituts Linz. R e c h t s u n t e n der Verm e r k S t i f t e r s : „ A d a l b e r t S t i f t e r L a k e r h ä u s e r 2 O c t o b e r 1865". N e b e n d e n drei B l ä t t e r n a u s den L a c k e n h ä u s e r n handelt es sich um die f o l g e n d e n Werke: 1. Nr. 4 5 : . F e l s s t u d i e ( H i r s c h s p r u n g ) ' , Öl auf Papier, 1840; 2. Nr. 47: . F e l s s t u d i e ' , Ö l auf P a p i e r , c a . 1840; 3. Nr. 53: . F e l s p a r t i e ' , Öl auf L e i n w a n d . 1841; 4. Nr. 62: ,Fluße n g e I (Die T e u f e l s m a u e r bei H o h e n f u r t h ) ' , Öl auf L e i n w a n d , 1845; 5. Nr. 63: . F l u ß e n ge II (Die T e u f e l s m a u e r bei H o h e n f u r t h ) ' , ca. 1845; 6. Nr. 65: . V i g n e t t e n e n t w u r f f ü r den . W a l d g ä n g e r " , T u s c h l a v i e r u n g auf K a r t o n , 1846; 7. Nr. 7 7 : . D i e B e w e g u n g ' F a s s u n g II, F r a g m e n t , Öl a u f L e i n w a n d , ca. 1858; 8. Nr. 98: . S t e i n s t u d i e ' , Öl auf K a r t o n , 1866.
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Nr. 86: . F e l s s t u d i e ' . A l b e r t i n a W i e n . L i n k s unten der Vermerk S t i f t e r s : „ S t i f t e r 14/9 63 L a k e r h ä u s e r " . N a c h d e r S c h r a f f i e r u n g der g e s a m t e n ( g r o ß e n ) F e l s w a n d v e r s u c h t e Stif ter, den l e b l o s e n C h a r a k t e r d i e s e r Partie s e i n e r Studie d u r c h die A n l e g u n g e i n e s in sich v e r s c h l u n g e n e n L i n e a m e n t s w i e d e r zu ü b e r w i n d e n . D u r c h die S c h w ä r z u n g d e s Vord e r g r u n d s e r r e i c h t e er e i n e K o n t r a s t i e r u n g , die d e m Blatt w i e d e r ä s t h e t i s c h e S p a n n u n g verlieh. B e s t e A b b i l d u n g bei B a u m e r (o. A n m . 25), S. 131.
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Nr. 87: . S t e i n s t u d i e ' . A l b e r t i n a . Unten rechts der Vermerk S t i f t e r s : „ S t i f t e r L a k e r h ä u s e r 19/9 1863". Eine dritte S t u d i e in d i e s e m S k i z z e n b u c h , Nr. 88, ist nicht signiert. B e z e i c h n e n d e r w e i s e ist d i e s e S k i z z e o h n e j e d e Q u a l i t ä t . Es ist u n w a h r s c h e i n l i c h , d a ß der Z e i c h n e r der so atm o s p h ä r i s c h w i e d e r g e g e b e n e n Studie Nr. 87 im selben S k i z z e n b l o c k so u n s i c h e r s c h r a f fiert. D i e A u f f a s s u n g d e s M o t i v s ist d i l e t t a n t i s c h , und die z e i c h n e r i s c h e n Mittel sind uno r g a n i s c h u n d u n b e h o l f e n e i n g e s e t z t . An d i e s e m Motiv hat sich j e m a n d a n d e r s v e r s u c h t , v e r m u t l i c h d i e s e l b e P e r s o n , d i e a u c h die a n d e r e n sehr k i n d l i c h a n m u t e n d e n Z e i c h n u n gen in d i e s e m S k i z z e n b u c h a n f e r t i g t e .
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Stifter als
Zeichner
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che Vollendungsgrade (detaillierte Studien o d e r f l ü c h t i g e S k i z z e n ) zu b e o b a c h t e n . 4 5 D e n n o c h zeigen die Z e i c h n u n g e n d e r d r e i ß i g e r J a h r e e i n e n l e r n e n den A u t o d i d a k t e n Stifter, d e r mit seinen W e r k e n b e w e i s e n m ö c h t e , d a ß er den künstlerischen Standard seiner Zeit kennt und a n s t r e b t . Die Blätter der v i e r z i g e r Jahre b e l e g e n , d a ß er auf d i e s e m Weg v o r a n geschritten ist, denn in der B e h e r r s c h u n g der z e i c h n e r i s c h e n Mittel ist er f r e i er g e w o r d e n . Die besten Blätter wie die . H ü t t e im W a l d ' ( A b b . 1), aber auch e i n i g e andere b e z e u g e n d u r c h a u s t e c h n i s c h e Versiertheit. Eine f l ü c h t i g e S k i z ze, wie j e n e der .Hütte am W a s s e r ' ( A b b . 4) b e l e g t , d a ß er nun mit w e n i g e n Strichen die Charakteristika eines M o t i v s e f f e k t v o l l zu notieren weiß, wie auch die Z e i c h n u n g der , U m g e s t ü r z t e [ n ] B a u m w u r z e l ' ( A b b . 3) d e m o n s t r i e r t . A b Mitte der f ü n f z i g e r J a h r e läßt sich ein S t i l w e c h s e l a u f z e i g e n : An den Arbeiten zur . B e w e g u n g ' ist dieser Wandel z u m ersten M a l e g r e i f b a r . In nervöser und kleinteiliger, den G e g e n s t a n d u m k r e i s e n d e r S t r i c h f ü h r u n g , relativ o f f e n e n Konturen und d y n a m i s c h p u l s i e r e n d e m z e i c h n e r i s c h e m R h y t h m u s erweist sich Stifter nun als Vertreter e i n e r m a l e r i s c h e n S e h w e i s e , w e l c h e die W i e d e r g a b e optischer P h ä n o m e n e und a t m o s p h ä r i s c h e r Valeurs anstrebt. Die w e n i g e n Blätter, an d e n e n dies s t u d i e r b a r ist, wie z.B. der . W a l d h a n g ' ( A b b . 7), die beiden . W a l d r ü c k e n ' ( A b b . 6) und die . S t e i n s t u d i e ' ( A b b . 8), belegen eine Wandlung des Z e i c h n e r s S t i f t e r hin zu e i n e r m e h r s e n s u a l i s t i s c h e n Naturauffassung.
III Stifters U m f e l d , die auf ihn w i r k e n d e n k ü n s t l e r i s c h e n E i n f l ü s s e s o w i e seine z e i c h n e r i s c h e A u s b i l d u n g und ihr Verhältnis zu t r a d i t i o n e l l e n z e i c h e n p ä d a g o g i s c h e n M e t h o d e n v e r d i e n e n eine e i n g e h e n d e r e E r ö r t e r u n g . S t i f t e r w i d m e t e sich als Maler und Z e i c h n e r n a h e z u a u s s c h l i e ß l i c h d e r L a n d s c h a f t und der S c h i l d e r u n g von N a t u r p h ä n o m e n e n . Die e n t s c h e i d e n d e P r ä g u n g e r f u h r er durch die W i e n e r L a n d s c h a f t s m a l e r e i . D i e s e h a t t e sich um 1800 von der s p ä t b a r o c k e n N a t u r a u f f a s s u n g hin zur B i e d e r m e i e r l a n d s c h a f t e n t w i c k e l t , die sich durch Z u r ü c k d r ä n g u n g d e s K o m p o s i t i o n e l l e n z u g u n s t e n einer präzisen S c h i l d e r u n g d e s N a t u r w i r k l i c h e n a u s z e i c h n e t e . Die b a r o c k e heroische L a n d s c h a f t mit ihren virtuosen a t m o s p h ä r i s c h e n Valeurs, ihrer Fixiertheit auf das R a u m p r o b l e m und der T y p i s i e r u n g d e r E i n z e l m o t i v e war e i n e r sachlichen B e o b a c h t u n g der N a t u r p h ä n o m e n e g e w i c h e n . Die a k a d e m i s c h e Erstarrung und N a t u r f e r n e w u r d e s u k z e s s i v e v o m n a t u r a l i s t i s c h e n A n s a t z e i n e r e n g a g i e r t e n neuen M a l e r g e n e r a t i o n ü b e r w u n d e n .
4S
Es ü b e r w i e g t die Technik der B l e i s t i f t z e i c h n u n g . H i n s i c h t l i c h d e r s e c h s A u s n a h m e n vgl. o. A n m . 19.
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N a c h wie v o r w u r d e n die G e m ä l d e im Atelier a u s g e f ü h r t , aber sie basierten n u n auf den B e o b a c h t u n g e n zahlreicher „auf dem M o t i v " angefertigter N a t u r s t u d i e n . Die S t u d i e n r e i s e n vieler b e d e u t e n d e r Künstler wie Steinfeld, W a l d m ü l l e r , F i s c h b a c h o d e r G a u e r m a n n führten diese nun in die h e i m i s c h e n A l p e n und nicht m e h r nach Italien. 4 6 Wie sehr Adalbert Stifter d e m Vorbild seiner p r o m i n e n t e n W i e n e r M a l e r k o l l e g e n verpflichtet war, zeigt sich bereits an d e r Wahl seiner M o t i v e und deren spezifisch „ b i e d e r m e i e r l i c h e r " Behandlung. Der p r ä g e n d e k ü n s t l e r i s c h e M e n t o r des A u t o d i d a k t e n war der acht Jahre ältere J o h a n n F i s c h b a c h ( 1 7 9 7 - 1 8 7 1 ) . 4 7 D i e s e m bedeutenden M a l e r f ü h l t e sich S t i f t e r z e i t l e b e n s v e r b u n d e n . Seine Werke rezensierte er später in den K u n s t k r i t i k e n f ü r den O b e r ö s t e r r e i c h i s c h e n K u n s t v e r e i n sehr positiv. 4 8 Briefstellen aus d e m Z e i t r a u m 1836/37 belegen, d a ß Fischbach ihn seine G e m ä l d e studieren ließ und ihm N a t u r s t u d i e n und Z e i c h n u n g e n zum K o p i e r e n auslieh. B e i d e d i s k u t i e r t e n ü b e r Kunst und planten sogar eine g e m e i n s a m e Schrift gegen einseitig religiöse M a l e r e i , also einen kunsttheoretischen Angriff gegen die N a z a r e n e r . 4 9 Stifter verlieh in e i n e m Brief an den Freiherrn von Handel vom 8. Februar 1837 seiner F r e u d e ü b e r die Hilfe, die F i s c h b a c h ihm gewährte, A u s d r u c k : „Ich bin a u c h j e z t viel fleißiger, da ich einige Fortschritte m a c h t e und Fischbach bei m i r w a r und m i r Talent zusprach und m i c h a u f m u n t e r t e , und mir Studien lieh, w a s m i c h in ein h o r r i b l e s E n t z ü k e n v e r s e z t e . " 5 0 S t i f t e r s e n g e A n l e h n u n g an seinen F r e u n d erweist sich unter a n d e r e m am Beispiel der Fels- und W o l k e n s t u d i e n : Das S t i f t e r - M u s e u m in Wien bewahrt z.B. j e w e i l s eine F e l s s t u d i e v o n F i s c h b a c h wie auch von Stifter auf. 5 1 Beide
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Vgl. Peter P ö t s c h n e r : W i e n und die Wiener L a n d s c h a f t . S p ä t b a r o c k e und b i e d e r m e i e r l i c h e L a n d s c h a f t s k u n s t in W i e n . S a l z b u r g 1978, S. 5 3 - 9 9 ; Frodi (o. A n m . 10) S. 42f.; K l a u s A l b r e c h t S c h r ö d e r : F e r d i n a n d G e o r g W a l d m ü l l e r . M ü n c h e n 1990, S. 2 0 - 3 1 . Vgl. N i k o l a u s S c h a f f e r : J o h a n n Fischbach ( 1 7 9 7 - 1 8 7 1 ) . Salzburg 1989 ( M o n o g r a p h i s c h e R e i h e zur S a l z b u r g e r K u n s t . Hrsg. v o m Salzburger M u s e u m Carolino A u g u s t e u m . Bd. 11 ). SW. Bd. 14, S. lOOf. ( . O b d e r e n n s i s c h e G e m ä l d e A u s s t e l l u n g . ( 1 8 5 7 . ) ' ) . V g l . N o v o t n y (o. A n m . 1), S. 12, und S c h a f f e r (o. A n m . 47), S. 40f. Die k u n s t t h e o r e t i s c h e n P o s i t i o n e n F i s c h b a c h s lassen sich a m besten in seiner b e m e r k e n s w e r t e n D e n k s c h r i f t s t u d i e r e n : D i e K u n s t im Staate. Eine D e n k s c h r i f t d e m hohen kais. kön. Ministeri u m d e s U n t e r r i c h t s e h r f u r c h t s v o l l überreicht von J o h a n n F i s c h b a c h ; o.O. und o.J. [Wien 1849). F i s c h b a c h gibt sich in d i e s e r S c h r i f t als e n g a g i e r t e r K ü n s t l e r zu e r k e n n e n , der K o n z e p t e f ü r die A u s b i l d u n g an A k a d e m i e n a n b i e t e t , d e r die B e d e u t u n g der M u s e e n ref l e k t i e r t , d a s A u s s t e l l u n g s w e s e n in seiner B e d e u t u n g g e r a d e auch für j u n g e K ü n s t l e r einer k r i t i s c h e n B e t r a c h t u n g u n t e r z i e h t und s c h l i e ß l i c h die Stellung des K ü n s t l e r s in der G e s e l l s c h a f t b e s t i m m t . Hin w i c h t i g e s A n l i e g e n ist ihm die staatliche K u n s t f ö r d e r u n g . Vgl. hierzu S c h a f f e r , S. 4 7 f . SW. Bd. 17, S. 6 5 . J o h a n n F i s c h b a c h : . F e l s e n g r u p p e (aus d e m H ö l l e n t a l ? ) ' . Öl auf Papier (auf L e i n w a n d a u f g e z o g e n ) . U m 1830. H i s t o r i s c h e s M u s e u m der Stadt Wien. S t a n d o r t : A d a l b e r t - S t i f t e r M u s e u m W i e n , A u s s t . - S t ü c k Nr. 23. A d a l b e r t S t i f t e r s Studie: Nr. 47: Öl auf Papier, 2 5 , 5 χ 3 4 c m . U m 1840.
Adalbert
Stifter als
Ölskizzen eine
Zeichner
zeigen
Felspartie
in
273
unübersehbarer
mit B e w u c h s
stilistischer
und einen
schmalen
Verwandtschaft
nahsichtig
Himmelsstreifen.
Dies
ist
e i n b i e d e r m e i e r l i c h e s M o t i v , d a s in d e n z w a n z i g e r J a h r e n s c h o n S t e i n f e l d u n d Waldmüller pflegten.52 A u c h Stifters bekannte Wolkenstudien sind
thematisch
und stilistisch d e m Vorbild des Älteren verpflichtet.53 Die Tuschpinselzeichnung
.Holländische Mondlandschaft' von
einen nächtlichen Fluß zeigt, dürfte e b e n f a l l s unter d e m
Einfluß
1834,54 die Fischbachs
entstanden sein, der seinerseits d i e s e L a n d s c h a f t s s t i m m u n g studierte, w i e e i n e lavierte Bleistiftzeichnung
belegt.55
In S t i f t e r s Z e i c h n u n g
das Vorbild der holländischen L a n d s c h a f t s m a l e r des
erweist
sich
auch
17. Jahrhunderts, d i e
ei-
nen starken Einfluß auf die W i e n e r L a n d s c h a f t s m a l e r e i des B i e d e r m e i e r
aus-
übten.56 A l s Vorlage diente Stifter ein G e m ä l d e Aert van der N e e r s , e i n e s
Spe-
52 5 1
·
54
55
^
Vgl. S c h r ö d e r (o. A n m . 46), S. 26. Vgl. O s k a r B ä l s c h m a n n : E n t f e r n u n g der Naiur. L a n d s c h a f t s m a l e r e i 1 7 5 0 - 1 9 2 0 . K ö l n 1989, S. 124. Zu F i s c h b a c h s W o l k e n s t u d i e n vgl. S c h a f f e r (o. A n m . 4 7 ) , Nr. 4 1 a und b, 4 2 b und 43. Stifters W o l k e n s t u d i e n : Nr. 4 8 . 50, 50a, 83. Vgl. auch N o v o t n y : Z u e i n e r W o l k e n s t u d i e von Adalbert S t i f t e r In: N o v o t n y (o. A n m . 1), S. 7 1 - 7 4 . N o v o t n y geht auch a u s f ü h r l i c h e r auf den E i n f l u ß F i s c h b a c h s in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g ein. Nr. 20. Beste A b b i l d u n g bei B a u m e r (o. A n m . 25). S. 105. D i e s e Z e i c h n u n g steht a m A n f a n g einer Reihe von M o n d s c h e i n l a n d s c h a f t e n , die S t i f t e r in d e n n ä c h s t e n J a h r e n s c h a f f e n sollte: Nr. 46, 56, 58, 5 9 , 64. 6 8 . 7 1 , 75. S c h a f f e r (o. A n m . 47), Kat. Nr. 236, A b b . 111b: . F l u ß l a n d s c h a f t bei M o n d s c h e i n ' . Bleistift laviert. 8,4 χ 12 c m . M u s e u m C a r o l i n o A u g u s t e u m S a l z b u r g (Inv. Nr. 11.159/49). A u c h die d e u t s c h e n R o m a n t i k e r p f l e g t e n d i e s e s T h e m a intensiv. Mit Carl G u s t a v C a r u s ' . M o n d n a c h t an der Elbe bei P i l l n i t z ' sei n u r ein Beispiel g e n a n n t . Vgl. M a r i a n n e Prause: Carl G u s t a v C a r u s , L e b e n und Werk. Berlin 1968, Kat. Nr. 2 8 0 , A b b . 280. Sic e r l a n g t e n bereits im späten 18. J a h r h u n d e r t V o r b i l d f u n k t i o n , u n t e r a n d e r e n Jan van G o y e n , Meindert H o b b e m a und Allaert v a n E v e r d i n g e n . D e r f ü r die E n t w i c k l u n g der B i e d e r m e i e r l a n d s c h a f t so b e d e u t e n d e F r a n z S t e i n f e l d und s e i n e j ü n g e r e n K o l l e g e n orie n t i e r t e n sich an diesen Vorbildern. An i h n e n k o n n t e m a n die B e s c h r ä n k u n g d e s B i l d a u s s c h n i t t s studieren o d e r aber, wie m a n detaillierte V o r d e r g r ü n d e a n l e g t e u n d a u s f ü h r t e . Der ruhige, d e s k r i p t i v e D e t a i l r e a l i s m u s kam d e n N e u e r e m der W i e n e r L a n d s c h a f t s k u n s t auch sehr e n t g e g e n . Vgl. h i e r z u P ö t s c h n e r (o. A n m . 4 6 ) , S. 54, S. 7 8 f . D e r e i n f l u ß r e i c h s t e H o l l ä n d e r a b e r w a r J a c o b R u i s d a e l , d e n s c h o n G o e t h e als e i n e n d e r „ v o r t r e f f l i c h s t e n L a n d s c h a f t s m a l e r " pries ( . R u i s d a e l als D i c h t e r ' [ 1 8 1 6 ) : G o e t h e s Werke. H a m b u r g e r A u s g a b e in 14 B ä n d e n . Bd. 12. Mit A n m e r k u n g e n v e r s e h e n von H e r b e r t von E i n e m und H a n s J o a c h i m S c h r i m p f . T e x t k r i t i s c h d u r c h g e s e h e n von W e r n e r W e b e r und H a n s J o a c h i m S c h r i m p f . H a m b u r g . 3. A u f l . 1958, S. 1 3 8 - 1 4 2 , hier S. 138) und dessen . G r o ß e r W a l d ' auch S t i f t e r sehr b e e i n d r u c k t e . D i e s e s G e m ä l d e e n t s t a n d 1 6 5 5 / 6 0 und w u r d e 1806 e r w o r b e n . Es hängt im K u n s t h i s t o r i s c h e n M u s e u m W i e n (Inv.Nr. 4 2 6 ) . D i e k a i s e r l i c h e n S a m m l u n g e n w a r e n der Ö f f e n t l i c h k e i t z u g ä n g l i c h , so d a ß S t i f t e r d i e s e s G e m ä l d e studieren konnte. Z u m E i n f l u ß R u i s d a e l s auf S t i f t e r v g l . N o v o t n y (o. A n m . 1), S. 7, S. 22, S. 37. Vgl. auch M a r g r e t Dell: A d a l b e r t S t i f t e r als b i l d e n d e r K ü n s t l e r . Diss. F r a n k f u r t 1939. W ü r z b u r g 1939, S. 13; P f e i f f e r (o. A n m . 5), S. 8 3 - 8 6 , der die B e d e u tung dieses G e m ä l d e s f ü r S t i f t e r a n a l y s i e r t . Z u r B e d e u t u n g R u i s d a e l s f ü r W a l d m ü l l e r vgl. S c h r ö d e r (o. A n m . 46), S. 24. Z u r R e z e p t i o n d e r h o l l ä n d i s c h e n M a l e r e i d e s 17. J a h r h u n d e r t s im s ü d d e u t s c h e n und ö s t e r r e i c h i s c h e n R a u m im späten 18. und f r ü h e n 19. J a h r h u n d e r t vgl. das S t a n d a r d w e r k von Horst G e r s o n : A u s b r e i t u n g u n d N a c h w i r k u n g der h o l l ä n d i s c h e n M a l e r e i d e s 17. J a h r h u n d e r t s . E i n g e l e i t e t u n d e r g ä n z t mit 9 0 n e u e n A b b i l d u n g e n von Bert W. Meijer. A m s t e r d a m 1983, S. 3 2 8 - 3 4 9 .
274
Stefan
Schmitt
zialisten für nächtliche Landschaften. 5 7 Schon Franz Steinfeld hatte ein Gemälde dieses Meisters kopiert. 5 8 D i e Zeichnung ,Der Sarstein bei Alt-Aussee' wie auch das Gemälde ( 1 8 3 5 ) gleichen Titels gehören zur typischen Motivwelt der Wiener Landschaftsmaler dieser Zeit. 5 9 Stifter fertigte sie nach einer Zeichnung des Malers Louis Freiherr von Pereira-Arnstein ( 1 8 0 3 - 5 8 ) an, der bereits eine Studienreise ins Salzkammergut unternommen hatte. 6 0 Stifters Übertragung der Pereira-Studie ist künstlerisch uneigenständig, denn sie gleicht, mit Ausnahme des von Stifter zur Vorbereitung seines Gemäldes angelegten Rasters, nahezu exakt dem Vorbild. Aber auch dieses Beispiel demonstriert, daß Stifter zu Studienzwecken Zeichnungen anderer Maler kopierte. 6 1 Zudem ist einem Brief des eifrigen Autodidakten an den Freiherrn Adolf von Brenner vom 1. November 1836 zu entnehmen, daß Stifter eine ganze Serie von Blättern eines noch nicht identifizierten Malers nachzeichnete: „Die Bleistiftzeichnungen des Gustav sind heuer zum Entzüken, ich habe bereits 15 Blätter nachgezeichnet, wovon die lezteren seinen ersteren schon gleich kommen (wie's mir mit Zeichnen nach der Natur gehen wird, w e i ß ich noch freilich nicht.)" 62 Das Kopieren von Zeichnungen eines Meisters war seit alters her gängige Ausbildungspraxis und Ateliertradition, die noch bis ins 19. Jahrhundert fortlebte. Schon Leonardo da Vinci galt das Kopieren nach Zeichnungen „von guter Meister Hand" als erste Phase der zeichnerischen Ausbildung. 6 3 Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Lehrbücher der Zeichenpädagogik um Anweisungen zum Landschaftszeichnen und entsprechende Vorlagen ergänzt, so z.B.
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Novotny (o. Anm. 1), S. 7, S. 22, S. 37. Vgl. aber auch Dell (o. Anm. 56), S. 15: „Das kleine Bild w ü r d e uns als eine nicht so originelle Arbeit Stifters kaum so beschäftigen, wenn es nicht die große Liebe zu dem Holländer bezeugen würde, die Stifter das Schaffen in der Art dieses Meisters möglich macht. Die Briefe und die Dichtung ( . C o n d o r ' , . N a c h s o m m e r ' ) sprechen die Verehrung vielfach aus." Vgl. Pötschner (o. A n m . 46), S. 78f.: Steinfeld hatte sogar eine Reise in die Niederlande u n t e r n o m m e n . Es ist erwiesen, daß dieser Meister vor 1821 mindestens fünf Gemälde Ruisdaels und auch ein G e m ä l d e Aert van der Neers kopierte. Nr. 28: Bleistift auf Papier, 23,9 χ 18,6cm. Bezeichnet unten rechts: „Alt-Aussee Sarstein". Beste A b b i l d u n g bei Baumer (o. Anm. 25), S. 121. Das Gemälde führt Novotny als Nr. 27. Beide Werke im Besitz der Stifter-Gesellschaft Wien. Heinz Schöny: Stifters „Sarstein" und seine Vorlage. In: VASILO 36 (1987), S. 11-15. Hier sind auch Vorlage und Kopie abgebildet. Zur Vorbildfunktion zeitgenössischer Maler für Stifter vgl. auch Frodi (o. Anm. 10), S. 42. SW. Bd. 17, S. 61. In diesem Brief weist Stifter wieder darauf hin, daß er Fischbach kopiert: „In K u r z e m werden zwei Fischbache hergenommen werden." L e o n a r d o da Vinci: Traktat von der Malerei. Nach der Übersetzung von Heinrich Ludwig neu hrsg. und eingel. von Marie Herzfeld. Jena 1925, 2. Teil, Nr. 49 (S. 45): „Der M a l e r soll zuerst die Hand gewöhnen, indem er Zeichnungen von guter Meister Hand kopiert. Und hat er sich diese G e w ö h n u n g unter seines Lehrers Anleitung angeeignet, so soll er sich nachher im Abzeichnen guter rund-erhabener Dinge üben, mit Hilfe der Regeln, die wir f ü r das Z e i c h n e n nach Relief geben werden."
Adalbert Stifter als Zeichner
275
das berühmte Vorlagenwerk des Johann Daniel Preissler, aber die Lehrmethod e ä n d e r t e sich n i c h t . 6 4 J o h a n n F i s c h b a c h v e r t r a t in s e i n e r D e n k s c h r i f t , D i e K u n s t im S t a a t e ' ( 1 8 4 9 ) an d a s k . k . U n t e r r i c h t s m i n i s t e r i u m im K a p i t e l , Z e i c h e n s c h u l e n ' e b e n f a l l s d i e s e M e t h o d e , a l l e r d i n g s w a r er p ä d a g o g i s c h a u f g e s c h l o s s e n u n d f o r t s c h r i t t l i c h g e n u g , v o r „ G e i s t l o s i g k e i t " z u w a r n e n : „In d e n Z e i c h e n s c h u l e n als Vorbildungsanstalten der A k a d e m i e n , w o die Schüler nach Originalien A u g e n u n d H a n d ü b e n s o l l e n , sei m a n b e s o n d e r s d a r a u f b e d a c h t , d i e s e l b e n s t u f e n w e i s e s o l c h e S a c h e n z e i c h n e n zu l a s s e n , d i e i h n e n a u s d e m L e b e n b e k a n n t s i n d , u n d w e l c h e ihre F a n t a s i e v o l l k o m m e n f a s s e n k a n n , a b e r n a c h t ü c h t i g e n M u s t e r n , d a m i t ihre E i n b i l d u n g s k r a f t w ä h r e n d d e r A r b e i t i m m e r mit d e m G e g e n s t a n d e r f ü l l t ist, w e l c h e r g e z e i c h n e t w i r d , u n d sie sich n i c h t g e w ö h n e n , g e i s t l o s b l o ß S t r i c h e n a c h z u a h m e n , d e n n d a s ist d e r T o d a l l e r b i l d e n d e n K u n s t u n d a l l e s V e r s t ä n d n i s s e s in d e r s e l b e n . M a n f ü h r e sie v o m E i n f a c h e n z u m K o m p l i z i e r t e n , u n d ü b e sie an den v e r s c h i e d e n a r t i g s t e n G e g e n s t ä n d e n " . 6 5 Das Z e i c h n e n unmittelbar nach der Natur blieb ü b l i c h e r w e i s e der letzte u n d s c h w i e r i g s t e S c h r i t t - z u n ä c h s t galt es, d i e M a n i e r d e r V o r l a g e n zu erf a s s e n . In d e n . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' i r o n i s i e r t S t i f t e r r ü c k b l i c k e n d d i e s c h u l i s c h e n M e t h o d e n d e s Z e i c h e n u n t e r r i c h t s , w e n n er d i e „ P ä c k e n Z e i c h n u n g e n " e r w ä h n t , „ w e l c h e a l l j ä h r l i c h in d e n F r ä u l e i n s c h u l e n v e r f e r t i g e t w e r d e n , u n t e r d e n e n sich v i e l e L a n d s c h a f t e n mit B ä u m e n b e f i n d e n , a u f d e n e n H a n d s c h u h e w a c h s e n " . 6 6 Die Schüler lernten g e w i s s e stereotype Effekte, die, m i t e i n a n d e r kombiniert, den Dilettanten das G e f ü h l vermittelten, eine gefällige L a n d s c h a f t a u f s P a p i e r g e b r a c h t zu h a b e n . 6 7 G o t t f r i e d K e l l e r , d e r sich a n f ä n g l i c h e b e n f a l l s z u m M a l e r a u s b i l d e t e , s c h i l dert in s e i n e m R o m a n , D e r g r ü n e H e i n r i c h ' Ä h n l i c h e s , w e n n e r v o n e i n e m alten Z e i c h e n l e h r e r b e r i c h t e t , d e r z w e i A r t e n v o n B ä u m e n k a n n t e , n ä m l i c h sol-
64
65
66 67
Johannes Daniel Preissler: Die durch Theorie erfundene Praktik. Nürnberg 1733. Vgl. Wolfgang Kemp: einen wahrhaft bildenden Zeichenunterricht überall einzuführen". Zeichnen und Zeichenunterricht der Laien 1500-1870. Ein Handbuch. Frankfurt a.M. 1979 (Beiträge zur Sozialgeschichte der ästhetischen Erziehung 2), S. 135. Der Sohn Preisslers, Johann Justin, hat das Werk seines Vaters durch die Anfügung des Abschnitts .Nachzeichnen schöner Landschaften oder Prospekte' (1749) ergänzt. ,Die Kunst im Staate [...]' (o. Anm. 49), S. 7. In einer Fußnote weist Fischbach nochmals ausdrücklich darauf hin, daß „nicht leere Fingerfertigkeit allein, sondern zugleich geistiges Erfassen Beweise des Talentes [sind]. Der Meister weiß dies am besten zu beurtheilen." Fischbachs Konzept sieht vor, daß die Zeichenschule auf die Akademie vorbereitet. Fischbachs pädagogische Vorstellungen für die Akademie (S. 8 - 1 1 ) sind gründlich durchdacht und in ihrer Zeit progressiv. Die akademische Zeichenausbildung denkt Fischbach als flexibles Sechs-Stufenmodell: 1. Zeichnen des Skeletts und der anatomischen Statue; 2. Zeichnen des lebenden, nackten Menschen; 3. Studium von G e w ä n d e m (möglichst am lebenden Modell); 4. Studium der Antike; 5. Die Linearperspektive; 6. Studium der Kunstgeschichte (!) am Original. SW. Bd. 13, S. 229. Vgl. Kemp (o. Anm. 64), S. 135.
276
Stefan
Schmitt
c h e mit r u n d e n u n d s o l c h e mit gezackten Blättern. B e i m Z e i c h n e n m ü s s e man sich dann an e i n e n g e w i s s e n Zähltakt g e w ö h n e n . 6 8 H ö c h s t w a h r s c h e i n l i c h lehrte S t i f t e r s Z e i c h e n l e h r e r R i e z l m a y r in K r e m s m ü n s t e r ebenfalls mit solchen M e t h o d e n , und sicherlich m u ß t e n die S c h ü l e r nach Arbeiten d e s Lehrers z e i c h n e n . 6 9 S o l c h e A n w e i s u n g e n ergingen auch an die Wiener A k a d e m i e s t u d e n t e n , die z.B. unter J o s e p h M ö ß m e r ( 1 7 8 0 - 1 8 4 5 ) dessen s o g e n a n n t e „Dreie r l - M e t h o d e " lernten, d.h. sie bildeten den s o g e n a n n t e n „ B a u m s c h l a g " , also d a s L a u b w e r k , i n d e m sie D r e i e r a n e i n a n d e r f ü g t e n . 7 0 I n s o f e r n w i r d S t i f t e r s brieflich geäußerte U n g e w i ß h e i t , wie es ihm „mit Z e i c h n e n nach d e r N a t u r g e h e n wird", verständlich: seiner z e i c h e n k ü n s t l e r i s c h e n Mittel k o n n t e er sich vor der N a t u r zu diesem f r ü h e n Z e i t p u n k t noch nicht g e w i ß sein, und d a s z e i c h n e r i s c h e S e l b s t b e w u ß t s e i n konnte bei der ges c h i l d e r t e n N a t u r f e r n e d e r L e h r p r a x i s k a u m entwickelt sein. 7 1 Ein w i c h t i g e r M o t i v t y p u s der b i e d e r m e i e r l i c h e n L a n d s c h a f t s m a l e r e i d i e n t e S t i f t e r bei den L a n d s c h a f t s s k i z z e n . D e r Vordere G o s a u s e e mit d e m D a c h s t e i n ' und . B l i c k auf d e n Hallstätter S e e ' 7 2 als k o m p o s i t i o n e l l e s Vorb i l d : Ein B e r g m a s s i v im H i n t e r g r u n d wird von e i n e m h o c h g e l e g e n e n S t a n d p u n k t a u s so w i e d e r g e g e b e n , d a ß der V o r d e r g r u n d sich als s c h m a l e B ü h n e p r ä s e n t i e r t , d i e u n v e r m i t t e l t in die T i e f e des Tals a b s t ü r z t . D i e s e r T i e f e n s o g v e r d e u t l i c h t d e m B e t r a c h t e r die M o n u m e n t a l i t ä t der Bergkette im H i n t e r g r u n d . K o n s e q u e n t v e r s t e l l t e m a n d e m R e z i p i e n t e n den Blick und g e s t a n d d e m H i m m e l n u r n o c h e i n e relativ s c h m a l e B i l d z o n e zu. Als Beispiel e i n e r s o l c h e n L a n d s c h a f t sei W a l d m ü l l e r s G e m ä l d e . D a s H ö l l e n g e b i r g e bei Ischl v o m W e i ß e n b a c h t a l a u s ' g e n a n n t . 7 3 Es e n t s t a n d 1833, also zu j e n e r Zeit, in
6S
69 70 71
72
73
G o t t f r i e d Keller. S ä m t l i c h e W e r k e . Hrsg. von J o n a s F r a n k e l . Z ü r i c h / M ü n c h e n 1926ff., B e m / L e i p z i g 1 9 3 I f f ; später hrsg. von Carl H e l b l i n g . B e r n / L e i p z i g 1943/44, Bern 1 9 4 5 f f . Bd. 3 ( 1 9 2 6 ) , S. 218. Vgl. N o v o t n y (o. A n m . 1), S. 5f. F r o d i (o. A n m . 10), S. 36. Vgl. N o v o t n y (o. A n m . 1), S. 13. N o v o t n y s V e r m u t u n g , S t i f t e r s B e m e r k u n g über d a s Z e i c h n e n n a c h der N a t u r sei nicht „als a l l g e m e i n geltend a u f ] z u ] f a s s e n " , m u ß vor d e m Hintergrund der damaligen Ausbildungspraxis angezweifelt werden. Nr. 32 u n d 31. A b b i l d u n g e n : N o v o t n y (o. A n m . 1), Tafel 22. Stifter war wie viele a n d e r e M a l e r v o m H a l l s t ä t t e r S e e f a s z i n e r t . F r a n z S t e i n f e l d s G e m ä l d e .Der Hallstätter S e e in O b e r ö s t e r r e i c h ' ( W i e n , N i e d e r ö s t e r r e i c h i s c h e s L a n d e s m u s e u m ) aus dem J a h r e 1824 gilt als e r s t e reine B i e d e r m e i e r l a n d s c h a f t . Zu d i e s e m b e r ü h m t e n G e m ä l d e vgl. P ö t s c h n e r (o. A n m . 4 6 ) , S. 8 2 - 8 5 , A b b . 66; Frodi (o. A n m . 10), S. 37; S c h r ö d e r (o. A n m . 46), S. 28f. S t e i n f e l d m a l t e h i e r n o c h ö f t e r (vgl. P ö t s c h n e r , A b b . 74, und Frodi, Abb. S. 125), und a n d e r e , w i e W a l d m ü l l e r ( P ö t s c h n e r , Abb. 6 8 ) und a u c h Stifter, folgten i h m . Dies gilt e b e n f a l l s f ü r d e n G o s a u s e e , von d e m z.B. W a l d m ü l l e r e i n e Ansicht schuf ( S c h r ö d e r , Kat. Nr. 37, A b b . 17), w i e a u c h f ü r den A l t a u s s e e . F r o d i (o. A n m . 10), A b b . S. 116. Zu w e i t e r e n B e i s p i e l e n aus d e m Œ u v r e W a l d m ü l l e r s vgl. S c h r ö d e r (o. A n m . 4 6 ) , Kat. Nr. 34 ( A b b . 28), Nr. 55 ( A b b . 45), Nr. 54 ( A b b . 4 6 ) , Nr. 65 ( A b b . 56).
Adalbert Stifter als Zeichner
277
w e l c h e r der noch j u n g e S t i f t e r b e g a n n , sich i n t e n s i v e r mit d e r M a l e r e i a u s einanderzusetzen.74 Im zeichnerischen Œ u v r e F i s c h b a c h s gibt das Blatt .Blick auf St. Bart h o l o m s am K ö n i g s e e ' (1834) ein solches M o t i v 7 5 ( A b b . 9) - in den M a p p e n F i s c h b a c h s b e f a n d e n sich z w e i f e l l o s eine Vielzahl s o l c h e r Z e i c h n u n g e n . Eine w e i t e r e mit dem Titel ,Aus dem S t a d l e r s c h e n W i r t s h a u s in H a l l s t a t t ' ( 1 8 3 2 ) 7 6 zeigt eine Bootsanlegestelle mit einer kleinen o f f e n e n H ü t t e und e i n e m S c h u p p e n d a n e b e n , die Fischbach mit w e n i g e n ö k o n o m i s c h e n E f f e k t e n geschickt w i e d e r g a b (Abb. 10). Die S c h u p p e n f r o n t besteht aus e i n e m Rost, d e s sen L a t t e n z w i s c h e n r ä u m e mit f e s t e m Strich an den e n t s c h e i d e n d e n Stellen ges c h w ä r z t sind, so daß die R a u m t i e f e d u r c h s c h e i n t - ein serieller, aber l e b e n d i ger E f f e k t , der durch die d u n k l e Fläche einer F e n s t e r ö f f n u n g z u s ä t z l i c h kontrapunktiert wird. In seiner . Z e r f a l l e n e n Hütte im W a l d ' ( A b b . 1) wird S t i f t e r sich an diese Effekte erinnert h a b e n . Stifters auffällige . U m g e s t ü r z t e B a u m w u r z e l ' ( A b b . 3) b e z i e h t ihre k r a f t volle und d r a m a t i s c h e W i r k u n g aus ihrer H e r v o r h e b u n g d u r c h den s c h w a r z e n , w i l d s c h r a f f i e r t e n H i n t e r g r u n d , e b e n s o l c h e S c h r a f f u r e n im W u r z e l w e r k und e x p r e s s i v - f a h r i g e S t r i c h f ü h r u n g . Auch diese E f f e k t e f i n d e n sich auf Fischb a c h z e i c h n u n g e n , wie das Blatt , H a u s im G e b i r g e ' ( A b b . 11) d e m o n s t r i e r t , auf d e m ein m a c h t v o l l e r B a u m , hell a u f l e u c h t e n d vor e i n e m d u n k l e n Berg, in dieser Z e i c h e n t e c h n i k realisiert w u r d e . 7 7 Hier, wie auch in der Z e i c h n u n g ,Hallstatt mit R ö m e r t u r m ' ( A b b . 12), w u r d e n die B e r g e z u n ä c h s t d u n k e l s c h r a f f i e r t und gewischt, um dann mit f e s t e n , t i e f s c h w a r z e n Strichen w i e d e r a u f g e l o c k e r t zu w e r d e n . 7 8 Der späte S t i f t e r v e r s u c h t dies auch in seiner S t u d i e einer Felswand aus den L a c k e n h ä u s e r n . 7 9 Seine Skizzen des R o s e n b e r g e r h a u s e s 8 0 ( A b b . 5) w e i s e n e b e n f a l l s starke Ä h n l i c h k e i t mit Skizzen F i s c h b a c h s ( A b b . 13) auf, in d e n e n dieser G e h ö f t e
74
75
76
77
78
79
so
Ein weiteres Beispiel ist das beeindruckende, zwei Jahre später entstandene G e m ä l d e ,Kolm-Saigurn im Rauristal' von Friedrich Loos (Frodi [o. A n m . 10], Abb. S. 140). Vergleichbare Gemälde schufen auch T h o m a s Ender (ebd., Abb. S. 92, S. 122), Hansch (ebd., Abb. S. 188) und Schiffer (ebd., Abb. S. 189). S c h a f f e r (o. Anm. 47), Kat. Nr. 130: M u s e u m Carolino A u g u s t e u m Salzburg (Inv. Nr. 3293/49). Bleistift, 22,7 χ 2 5 , 2 c m . S c h a f f e r (o. Anm. 47), Kat. Nr. 127: M u s e u m Carolino A u g u s t e u m Salzburg (Inv. Nr. 3266/49). Bleistift, 19,1 χ 23 cm. S c h a f f e r (o. Anm. 47), Kat. Nr. 249: Staatliche Graphische S a m m l u n g M ü n c h e n . Kohle, weißgehöht, auf grauem Papier, 28,3 χ 2 7 , 2 c m . Fischbach verwendete eine sehr dünne Kohle, Stifter einen sehr weichen Bleistift, so daß er vergleichbare E f f e k t e mühelos erzielen konnte. S c h a f f e r (o. Anm. 47), Kat. Nr. 252: M u s e u m Carolino A u g u s t e u m Salzburg (Inv. Nr. 1795/49): Kohle, weißgehöht, auf grauem Papier, 29 χ 4 1 , 6 c m . Nr. 86, Abb. bei Novotny (o. Anm. 1), Taf. 53 unten. Beste Abbildung bei B a u m e r (o. Anm. 25), S. 131. Nr. 94, Nr. 96: Die bei Novotny (o. A n m . 1) im Text gezeigte Abbildung ist Nr. 96. Staatliche Graphische Sammlung M ü n c h e n .
Stefan
278
mit
feinem
mit
feiner und ziselierender
Strich umriB,
s t e h e n d e n B ä u m e zu
mit spitzer
M i n e die F e n s t e r
Strichführung
setzte, u m
die l o c k e r e n
schließlich
Laubkronen
(Abb. 3), belegen
eine zunehmende
Landschaften
Ansatzes den
zunächst
in e i n
schaulichen
erweist im
sich
die
Originalität
Ikonologischen.82
motivisches
Künstler zutraut,
und
Dies
singuläres ästhetisches
ist z u m
wie
.Umgestürzte
neuen
der
Dennoch
dieses
künstlerischen
übersetzt, Begriffs
Entstehung
verweisen
Si-
symboli-
die „ B e w e g u n g "
Äquivalent
das Wesen
Zeitpunkt
Experiment.83
eines
Abstracta
atmosphärisches
daß es die Qualitäten,
vermag.
um-
künstlerisch-technische
c h e r h e i t , d i e z u d e n s p ä t e n e i g e n s t ä n d i g e n Z e i c h n u n g e n führt. In d e n schen
der
skizzieren.81
Stifters g r a p h i s c h e A r b e i t e n der v i e r z i g e r Jahre, wie z . B . die Baumwurzel'
Schmitt
ein
auch
wer-
dem zu
der
veran-
weitgehend
.Bewegung
Γ
81
S c h a f f e r ( o . A n m . 4 7 ) , K a t . Nr. 9 7 : . S k i z z e n b l ä t t e r aus N i e d e r ö s t e r r e i c h ' . M u s e u m C a r o l i n o A u g u s t e u m S a l z b u r g . B l e i s t i f t , 8 . 8 χ 1 5 c m . Im T e x t wird nur e i n e s von m e h r e r e n Beispielen abgebildet!
82
Z u den i k o n o l o g i s c h e n A s p e k t e n d e r L a n d s c h a f t s m a l e r e i K a r l M ö s e n e d e r in d i e s e m B a n d .
83
D i e s wurde a u c h in der F o r s c h u n g i m m e r w i e d e r b e t o n t . V g l . W e i s s (o. A n m . 4 ) , S . 1 1 2 : „ D i e s y m b o l i s c h e n L a n d s c h a f t s k o m p o s i t i o n e n aus S t i f t e r s S p ä t z e i t h a b e n g e m e i n s a m den T o t a l c h a r a k t e r und den Z u g zur A b s t r a k t i o n , zur R e d u k t i o n a u f die e l e m e n t a r e P o l a rität von B e w e g u n g und D i n g . D i e s e P o l a r i t ä t gilt auch für die späten S t e i n s t u d i e n , M o n d l a n d s c h a f t e n und W a l d s t u d i e n . " V g l . B a u m e r (o. A n m . 3 ) , der. S . 131 f., f e s t s t e l l t , z u m V e r s t ä n d n i s der . B e w e g u n g ' m ü s s e b e a c h t e t w e r d e n , d a ß bei S t i f t e r „ d i e s e Naturw a h r h e i t [ . . . ] i m m e r auch [ . . . ] e i n e W a h r h e i t a u f dem P r ü f s t a n d der n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n K r i t e r i e n s e i n e r Z e i t " s e i . D i e m ü h s e l i g e A r b e i t an der . B e w e g u n g ' läßt B a u m e r an die l i t e r a r i s c h e P r o d u k t i o n S t i f t e r s d e n k e n . E r sieht in der A r b e i t s w e i s e hier w i e dort „die g l e i c h e T e n d e n z v o m t e m p e r a m e n t v o l l B e w e g t e n zum k l a s s i s c h B e h e r r s c h t e n " . M a h l e n d o r f ( o . A n m . 3 ) , S . 3 7 4 , führt den B e g r i f f der „ S e r i e " e i n . In S t i f t e r s F a s s u n g e n d e r B e w e g u n g v e r m u t e t die A u t o r i n d i e s e l b e „ I n t e n t i o n " , w i e sie später die F u t u r i s t e n mit anderen M i t t e l n v e r w i r k l i c h t e n . A u c h die v i e l e n Z e i t a n g a b e n in S t i f t e r s . T a g e b u c h ü b e r M a l e r e i a r b e i t e n ' „ b e s c h r e i b e n e i n e n Z e i t v e r l a u f und V e r ä n d e r u n g e n in d i e s e m Z e i t v e r l a u f , das heißt a l s o S e r i e n " . M a h l e n d o r f z u f o l g e v e r w i r k l i c h t e S t i f t e r in ein und d e m s e l b e n G e m ä l d e ü b e r e i n e n l a n g e n Z e i t r a u m hin v e r s c h i e d e n e B e w e g u n g s z u s t ä n d e d e s W a s s e r s , i n d e m er e s i m m e r w i e d e r ü b e r a r b e i t e t e . A l s B e l e g , daß dies t a t s ä c h l i c h d i e I n t e n t i o n S t i f t e r s g e w e s e n s e i , dient M a h l e n d o r f e i n e A u s s a g e F r i e d r i c h R o d e r e r s a u s . N a c h k o m m e n s c h a f t e n ' : „ich w o l l t e M o o r in M o r g e n b e l e u c h t u n g , M o o r in V o r m i t t a g b e l e u c h t u n g , M o o r in M i t t a g b e l e u c h t u n g , M o o r in N a c h m i t t a g b e l e u c h t u n g " ( S W . B d . 13, S . 2 4 3 ) . A b e r die K a u s a l v e r k n ü p f u n g der G e s a m t a u s s a g e ist e n t s c h e i d e n d , denn d e r s y s t e m a t i s c h e M a l e r R o d e r e r hatte s i c h für seine A r b e i t in der Natur gut p r ä p a r i e r t : „ W a s n ö t h i g war, hatte ich s c h o n g e s t e r n v o r b e r e i t e t , F a r b e n , P i n s e l , und v i e l e B l ä t t e r , d a r a u f g e m a l t w e r d e n k o n n t e ; denn i c h w o l l t e M o o r in M o r g e n b e l e u c h t u n g , M o o r in Mittagbeleuchtung [...]." (Ebd., S . 2 4 2 f . ) Roderer wollte zweifelsfrei eine Folge von S t u d i e n , a l s o e i n e richtige „ S e r i e " m a l e n . D i e s liest sich t a t s ä c h l i c h w i e e i n e V o r w e g n a h m e d e s M o n e t s c h e n S e r i e n k o n z e p t s . I m B e r e i c h der S t u d i e war S t i f t e r d i e s e s K o n z e p t a l s o b e k a n n t . V o l l e n d e t e G e m ä l d e s c h u f S t i f t e r j e d o c h ( w i e auch R o d e r e r ) nicht im F r e i e n , denn e r war, w i e der P r o t a g o n i s t s e i n e r E r z ä h l u n g a u c h , kein P l e i n a i r i s t . E r hätte j e d o c h im A t e l i e r e i n e S e r i e der . B e w e g u n g ' s c h a f f e n k ö n n e n , indem er die T a g e s z e i t e n u n d das w e c h s e l n d e L i c h t g e g e b e n o d e r a b e r die e r o s i v e K r a f t d e s s t r ö m e n d e n W a s s e r s a m F e l s e n zur D a r s t e l l u n g g e b r a c h t h ä t t e . A b e r S t i f t e r s c h u f k e i n e S e r i e , s o n d e r n z w e i u n v o l l e n d e t e F a s s u n g e n e i n e s M o t i v s . Z u s ä t z l i c h v e r f ü g e n wir ü b e r die E n t w u r f s z e i t -
S t i f t e r s vgl. den B e i t r a g
von
Adalbert Stifter als Zeichner
279
und die große Vorzeichnung zur zweiten Fassung der . B e w e g u n g ' , m o t i v g e s c h i c h t l i c h b e t r a c h t e t , d e u t l i c h auf V o r b i l d e r : D a s W a s s e r d e s G e b i r g s f l u s s e s s t r ö m t auf d e n V o r d e r g r u n d z u . Im F l u ß b e t t l i e g e n s c h w e r e F e l s e n , u n d d a s U f e r ist b e w a c h s e n . I m w e s e n t l i c h e n ist h i e r ein k l a s s i s c h e s M o t i v b i e d e r m e i erlicher Landschaftsmalerei rezipiert, welches Steinfeld, G a u e r m a n n und W a l d m ü l l e r b e r e i t s in d e n z w a n z i g e r u n d f r ü h e n d r e i ß i g e r J a h r e n e n t w i c k e l t h a t t e n . 8 4 A b e r S t i f t e r g e h t n o c h n ä h e r an d a s M o t i v h e r a n , w ä h l t d e n A u s schnitt kleiner und über die so entstandene Nahsichtigkeit erlangt der Vordergrund größere Bedeutung.
IV F ü r e i n e I n t e r p r e t a t i o n d e r s p ä t e n S t i f t e r z e i c h n u n g e n e m p f i e h l t sich S t i f t e r s i n t e n s i v e s V e r h ä l t n i s zu d e r e n M o t i v e n als A n s a t z p u n k t : Wie b e r e i t s e r w ä h n t , lehrt e i n e B e t r a c h t u n g d e r G e m ä l d e u n d Z e i c h n u n g e n , d a ß S t i f t e r F e l s f o r m a tionen und Steinen ein l e b h a f t e s künstlerisches Interesse e n t g e g e n b r a c h t e . 8 5 A u c h als Literat w i d m e t e er s i c h i m m e r w i e d e r i h r e r i n t e n s i v e n B e s c h r e i b u n g , und schon Werktitel wie . B u n t e Steine', .Kalkstein' und .Granit' sprechen dies deutlich aus.86 I m k u n s t h i s t o r i s c h e n K o n t e x t ist S t i f t e r mit s e i n e n Z e i c h n u n g e n u n d Ö l s k i z z e n n a c h F e l s e n u n d S t e i n e n z u n ä c h s t e i n e r u n t e r v i e l e n , d i e in d i e s e r Z e i t der naturalistischen A n e i g n u n g der Natur zahlreiche solcher Naturstudien s c h u f e n . 8 7 A b e r s e i n e A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit d e m G e g e n s t a n d w i r d z u n e h m e n d e i g e n s t ä n d i g e r : A u c h d e r s p ä t e S t i f t e r s c h u f in d e n s e c h z i g e r J a h r e n
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85 86 87
nung zur Fassung II. Wahrscheinlich kämpfte Stifter lange und mit vielen, beruflich bedingten Unterbrechungen, um die Vollendung eines Gemäldes zu erreichen, von dessen Idee er überzeugt war und dessen komplexer technischer Herausforderung er sich gewissenhaft stellen wollte. Vgl. auch Riechel (o. Anm. 3), S. 15f., der den Gedanken Mahlendorfs aufgreift, aber anders folgert: „The intentions detectable in Die Bewegung, moreover, are part of the intentions of the entire unfinished series including for example Die Heiterkeit. Griechische Tempeltrümmer and Die Ruhe, See mit Schneeberg. Ruins, moon, and mountain are the recurring motifs. .Movement', considered in the series, appears as an aspect of rest, an element of contemplation." Der Vergleich Mahlendorfs mit den Kubisten überzeugt Riechel nicht. Stattdessen verweist er auf Cézanne. Zu Steinfeld vgl. Pötschner (o. Anm. 46), S. 81, Textabb. 65: , W i l d b a c h \ Ölgemälde, 1824; S. 88, Textabb. 72: .Sturzbach', um 1835. Siehe auch Frodi (o. Anm. 10), Abb. S. 133: .Gebirgsbach', um 1835. Zu Gauermann vgl. Frodi, Abb. S. 74: .Der Waldbach Strubb bei Hallstatt', zwischen 1826 und 1830. Zu Waldmüller vgl. Frodi, Abb. S. 103: ,Der Waldbach Strubb bei Hallstatt', 1831. Vgl. auch Schröder (o. Anm. 46), S. 139, Abb. 52: .Mühle am Ausfluß des Königssees / Waldpartie mit einer Mühle', 1840. Vgl. o. Anm. 41. Vgl. Weiss (o. Anm. 4), S. 109-111. Zum Wahrheitsanspruch in der Darstellung des Stofflichen vgl. Pötschner (o. Anm. 46), S. 80.
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Schmitt
S t u d i e n nach Felsen und Steinen; nun aber, wie z u m i n d e s t eine Ölstudie und z w e i seiner Z e i c h n u n g e n aus den L a c k e n h ä u s e r n (Abb. 8) belegen, richtete sich sein S t u d i e n i n t e r e s s e z u n e h m e n d auf den Fels oder den Stein an sich, losgelöst v o n e i n e m ü b e r g e o r d n e t e n m o t i v i s c h e n Z u s a m m e n h a n g . In d e r E i n l e i t u n g zu den , B u n t e n S t e i n e n ' findet sich eine a u f s c h l u ß r e i c h e Stelle: „ N i c h t nur trage ich noch heut zu Tage buchstäblich Steine in der Tasche nach H a u s e , um sie zu zeichnen o d e r zu m a l e n , und ihre Abilder dann w e i t e r zu v e r w e n d e n [...]." 8 8 U n d auf d e r Ö l s t u d i e von 1866 8 9 b e f i n d e t sich u n t e r der S i g n a t u r ein b e d e u t u n g s v o l l e r Vermerk Stifters: „In der Stube nach der Natur". In e i n e m Brief vom 9. M ä r z 1866 an seine Frau erklärte er seine Arb e i t s w e i s e : „ D i e Z w e i F e i e r t a g e bestanden darin, daß ich zeichnete und z w a r Steine nach der Natur, die in das Z i m m e r geschleppt wurden. Ich werde sie in Öhl als S t u d i e m a l e n . " 9 0 U n d in einem Schreiben vom 16. März wird diese M e t h o d e n o c h ein w e i t e r e s Mal e r w ä h n t : „Ich b e s c h l o ß daher schon gestern, d a ß ich h e u t e v o r m i t t a g m a l e n werde, und z w a r an meiner Steinstudie. Ich h a b e dir n e h m l i c h schon g e s c h r i e b e n , d a ß ich mir Steine in die S t u b e schleppen ließ, und d a ß ich sie m a l e . " 9 1 S t i f t e r s I n t e r e s s e richtet sich in der Ö l s t u d i e von 1866 ausschließlich auf den E i n z e l g e g e n s t a n d . Die natürliche U m g e b u n g seines O b j e k t s ist ohne Bed e u t u n g . D e r Blick des M a l e r s registriert m i n u t i ö s die F o r m , die Struktur der O b e r f l ä c h e und wie d i e s e d a s Licht reflektiert. Das Ergebnis dieser B e m ü h u n g e n , die N a t u r so w i r k l i c h k e i t s g e t r e u als m ö g l i c h w i e d e r z u g e b e n , läßt sich a u c h a m F r a g m e n t . B e w e g u n g ΙΓ studieren. Dieser Ansatz bestätigt sich auch in der Ü b e r l i e f e r u n g , d e r z u f o l g e Stifter in seiner Linzer W o h n u n g Steine in e i n e m g r o ß e n W a s s e r b e h ä l t e r so lange hin und her schüttelte, bis sie eine „nat ü r l i c h e " L a g e wie in e i n e m Flußbett e i n n a h m e n . 9 2 In S t i f t e r s g r o ß e m R o m a n , D e r N a c h s o m m e r ' wird dieser sorgsam reg i s t r i e r e n d e , präzise die D e t a i l s e r f a s s e n d e Blick auf das Objekt bei der Bew e r t u n g d e r A r b e i t e n d e s m a l e n d e n und z e i c h n e n d e n R o m a n h e l d e n Heinrich D r e n d o r f von seinen F r e u n d e n mit der K a t e g o r i e des „ N a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e [ n ] " c h a r a k t e r i s i e r t . 9 3 S c h o n in seiner J u g e n d hatte der Erzähler aus naturw i s s e n s c h a f t l i c h e m I n t e r e s s e heraus zu zeichnen b e g o n n e n , weil er erkannte, d a ß er im g r a p h i s c h e n M e d i u m seine g e s a m m e l t e n Blätter und Steine besser b e s c h r e i b e n k ö n n e als mit d e r Sprache. Z u d e m z w a n g ihn das z e i c h n e r i s c h e
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W u B . Bd. 2.2, S. 18. Nr. 98: Öl auf Karton, 26,8 χ 43,3 cm. Im Besitz der Stifter-Gesellschaft Wien. Signiert und datiert unten links: „Adalbert Stifter 26t März 1866". SW. Bd. 21, S. 158. Ebd., S. 168. Novotny (o. Anm. 1), zu Nr. 77. SW. Bd. 7, S. 31.
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Zeichner
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E r f a s s e n d e r G e g e n s t ä n d e zur s c h ä r f e r e n B e o b a c h t u n g . 9 4 Diese . n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e ' S e h w e i s e zielt auf die s p e z i f i s c h e n D i f f e r e n z e n der O b j e k t e unt e r e i n a n d e r und deren N a t u r w a h r h e i t , die v e r m e s s e n wird und im e m p i r i s c h d e s k r i p t i v e n S i n n e W i e d e r g a b e e r f ä h r t . 9 5 A u s dieser F o r m der B e t r a c h t u n g resultiert eine Isolierung der Dinge, denn der g e z e i c h n e t e Stein ist, so g e s e h e n , E r k e n n t n i s g e g e n s t a n d in Hinblick auf seine m i n e r a l o g i s c h e B e s c h a f f e n h e i t . Die S c h i l d e r u n g der Q u a l i t ä t e n des S t e i n s art sich kann auf die B e s c h r e i b u n g seines F u n d o r t s v e r z i c h t e n . 9 6 Die 1863 e n t s t a n d e n e Z e i c h n u n g . S t e i n s t u d i e ' ( A b b . 8) aus den L a c k e n häusern gibt das Z e i c h e n o b j e k t wie in d e r . S t e i n s t u d i e ' von 1866 n a h s i c h t i g , j e d o c h ist der Stein hier nicht in d e r s e l b e n p r ä z i s e n S c h ä r f e dargestellt. Dies erklärt sich aus d e m S k i z z e n c h a r a k t e r d e s Blattes, aber auch aus d e m Interesse Stifters, das Spiel d e r L i c h t r e f l e x e auf der O b e r f l ä c h e mit d e m Z e i c h e n s t i f t e i n z u f a n g e n . Die schattierten Partien um den Stein h e r u m d e u t e n wohl das Erdreich, also die n a t ü r l i c h e U m g e b u n g des S t e i n s an, denn um d i e s e n h e r u m w a c h s e n ein paar G r a s h a l m e e m p o r ; aber auf eine W i e d e r g a b e der S t o f f l i c h keit verzichtet S t i f t e r hier: sein Interesse gilt d e m E i n z e l o b j e k t , das er d u r c h die S c h a t t i e r u n g e n v o m Z e i c h e n g r u n d absetzt und h e r v o r h e b t . An den a t m o s p h ä r i s c h e n Werten des Blattes h i n g e g e n , der s p i e l e r i s c h e n A u f l ö s u n g der K o n t u r und der w e i c h e n Plastizität, erweist sich eine s e n s u a l i stische A u f f a s s u n g , die verrät, daß S t i f t e r beim Z e i c h e n a k t s e i n e m Blick f o l g te und - in der T e r m i n o l o g i e des . N a c h s o m m e r s ' - m e h r das „ K ü n s t l e r i s c h e " , folglich das Wesen d e s G e g e n s t a n d e s zu e r f a s s e n suchte, und nicht das . N a t u r w a h r e ' , also d e s s e n s t o f f l i c h - d i n g l i c h e Qualität wie in d e r . S t e i n s t u d i e ' von 1866. 9 7 Im . N a c h s o m m e r ' erkennt H e i n r i c h D r e n d o r f , d a ß es ein F e h l e r g e w e s e n sei, das zu v e r n a c h l ä s s i g e n , w a s den D i n g e n d u r c h „ L u f t , Licht, D ü n s t e , Wolken, durch n a h e s t e h e n d e a n d e r e K ö r p e r " g e g e b e n w i r d . 9 8 D i e s ist
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SW. Bd. 6. S. 37f. SW. Bd. 7, S. 33. Zur „fast naturwissenschaftlichen G r ü n d l i c h k e i t " vieler Künstler im 19. Jahrhundert vgl. auch Pötschner (o. A n m . 46), S. 98. Aus der . n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n ' Stärke Drendorfs resultiert die ästhetische S c h w ä c h e seiner L a n d s c h a f t s m a l e r e i , die notwendigerweise aus der ästhetischen Perspektive des . K u n s t w a h r e n ' beurteilt wird: der R o m a n h e l d vertraut nicht der G e s a m t s t i m m u n g , die sich seinen Augen darbietet. Er muß die Dinge, so weit sie auch entfernt sind, „naturwahr" schildern, da er diese Qualität studiert hat. Aber so bietet sich die L a n d s c h a f t dem A u g e nicht dar, und infolgedessen kann er das Wesen einer L a n d s c h a f t , ihre Stimmung, nicht erfassen. Sein ganzes künstlerisches Betreben zielt von dem M o m e n t dieser Erkenntnis an auf die Verwirklichung der ästhetischen Kategorien des „ K ü n s t l e r i s c h e n " (Kunstwahren), zu deren Erreichen die Kenntnis des . N a t u r w a h r e n ' allerdings Voraussetzung ist. Vgl. Abschnitt IV dieses Aufsatzes, in w e l c h e m Stifters Theorie des Zeichnens analysiert wird. SW. Bd. 7, S. 50f. Ebd., S. 33. Nach dieser Erkenntnis beschließt Drendorf die Ä n d e r u n g seines künstlerischen P r o g r a m m s (ebd., S. 33f.): „Durch das Urtheil m e i n e r Freunde wurde mir der Verstand plötzlich g e ö f f n e t , daß ich Das, was mir bisher immer als wesenlos erschienen
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eine Erkenntnis des Künstlers Stifter, die er in der gezeichneten ,Steinstudie' (Abb. 8) umsetzt. Sie ist im schmalen Corpus der Stifterschen Zeichnungen aufgrund ihrer spezifischen Auffassung des Motivs eine singulare Erscheinung, obgleich auch sie die Hinwendung des späten Stifter zu einem „malerischen" Zeichenstil dokumentiert. Ölstudie wie Zeichnung drucken die künstlerische Eigenständigkeit des späten Stifter aus. Dies gilt auch f ü r die beiden 1865 entstandenen Zeichnungen aus den Lakkenhäusem, in denen Stifter zwei .Waldrücken' (Abb. 6) f e s t h i e l t . " Es sind Motive, die weit in der Ferne liegen. Dennoch findet Stifter im geschickt entwickelten und kleinteiligen Muster aus Schraffuren das graphische Äquivalent für eine präzise Wiedergabe, die auf den ersten Blick suggeriert, er habe jeden der zahlreichen Bäume einzeln gezeichnet. 1 0 0 Es ist dies gewissermaßen der Blick auf das Motiv durchs Fernrohr: Der Gegenstand verbleibt in der Ferne, präsentiert sich aber in exakter Schärfe. 1 0 1 In Stifters dichterischem Werk finden Fernrohre Erwähnung: So trägt Heinrich Drendorf im .Nachsommer' ein Fernrohr im Ranzen, das den naturwissenschaftlichen Studien des Romanhelden als unentbehrliches Hilfsmittel dient. 1 0 2 In den .Nachkommenschaften' erzählt der junge Maler Roderer, er habe in der Blockhütte, die ihm als Atelier diente, sein Fernrohr am Fensterstock angeschraubt. 1 0 3 Und tatsächlich benützte Stifter, wie eine Briefstelle belegt, gelegentlich beim Zeichnen ein Fernrohr: „Wenn wieder ein ähnlicher Tag wird, zeichne ich Berggestalten durch das Fernrohr." 104 Der auffällige ästhetische Effekt der Nahsichtigkeit in der Ferne könnte durchaus in dieser Vorgehensweise begründet sein und wäre ein bemerkenswerter Ausdruck Stifterscher Experimentierfreude.
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war, betrachten und kennen lernen müsse. Durch Luft, Licht, Dünste, Wolken, durch nahe stehende andere Körper gewinnen die Gegenstände ein anderes Aussehen, dieses müsse ich ergründen, und die veranlassenden Dinge müsse ich, wenn es mir möglich wäre, so sehr zum G e g e n s t a n d e meiner Wissenschaft machen, wie ich früher die unmittelbar in die Augen springenden Merkmale gemacht hatte." Vgl. o. A n m . 39. Vgl. Weiss (o. A n m . 4), S. 114; Baumer (o. Anm. 3), S. 138. Baumer scheint hier „die Hand des Z e i c h n e r s geradezu zum Medium elementarer Kräfte geworden sein, zur Übermittlerin von Impulsen, die elektrischen Energien gleichen". Vgl. ferner Riechel (o. Anm. 3), S. 16. Vgl. auch Riechel (o. A n m . 3), S. 16: „an extraordinary sensitive impressionistic evocation of a forest ridge seen f r o m miles away, as though through telescope". SW. Bd. 6, S. 241. SW. Bd. 13, S. 281. Der Leser wird von diesem optischen Hilfsmittel erst in Kenntnis gesetzt, als der spätere Erzähler zum Verehrer Susannas geworden ist. Roderer möchte von deren täglichem Erscheinen in der Landschaft bereits zum frühestmöglichen Zeitpunkt unterrichtet sein. Dabei hilft ihm sein Fernrohr. Aber dies bedeutet wohl nur, daß die bereits v o r h a n d e n e M a l h i l f e einer neuen Bestimmung diente, und nicht, daß das Fernrohr ausschließlich zu diesem Zweck installiert wurde. SW. Bd. 21, S. 179 (Brief an Amalia Stifter vom 18./19. März 1866).
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Zeichner
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Im w e s e n t l i c h e n w i d m e t e sich Stifter - und d i e s gilt für d e n M a l e r und d e n Zeichner g l e i c h e r m a ß e n - der Produktion v o n Landschaften und Naturstudien. S e i n e H a u p t w e r k e g e h ö r e n a u s n a h m s l o s d i e s e r G a t t u n g an. Z u d i e s e m ralthema der Stifterschen Ikonographie
Gene-
g e s e l l e n sich nur g a n z w e n i g e
Aus-
n a h m e n , s o z . B . i m S p ä t w e r k drei V e r s u c h e in d e r G a t t u n g T i e r m a l e r e i :
Meh-
rere B r i e f s t e l l e n b e z e u g e n d i e l i e b e v o l l e H i n w e n d u n g S t i f t e r s z u T i e r e n b e s o n d e r s z u s e i n e n H a u s t i e r e n . 1 0 5 Für s e i n e F r a u s c h u f e r z w e i
und
kleinformati-
g e G e m ä l d e ihrer H ü n d i n „ P u t z i " . 1 0 6 Stifter w u ß t e um s e i n e t e c h n i s c h e n S c h w ä c h e n als T i e r m a l e r , w i e e i n e an den von ihm geschätzten Maler Kaiser gerichtete briefliche Bitte um Korrektur a m G e m ä l d e , P u t z i I' b e l e g t . 1 0 7 In e i n e r Ö l s t u d i e a u f K a r t o n g e l a n g S t i f t e r 1 8 6 6 seine beste D a r s t e l l u n g e i n e s H u n d e s , als er den J a g d h u n d d e s mit ihm befreundeten Freiherrn v o n Marenholtz porträtierte.108 D e r a k a d e m i s c h e
Ma-
ler P r o f . P e r k m a n n , d e r s e i t 1 9 3 8 d i e R e s t a u r i e r u n g e n a n d e n G e m ä l d e n S t i f ters d u r c h f ü h r t e , w i e s N o v o t n y d a r a u f h i n , d a ß d i e V o r z e i c h n u n g a u f d i e s e r Ö l s t u d i e w a h r s c h e i n l i c h d u r c h g e p a u s t w u r d e - e i n H i n w e i s , d a ß S t i f t e r in d i e -
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In einem Brief an seinen Verleger Gustav Heckenast vom 23. D e z e m b e r 1862 (SW. Bd. 20, S. 90f.) berichtet Stifter, wie sehr ihn der Tod eines seiner beiden Hunde betrübte: „Mein größerer Hund erkrankte vor zwölf Tagen. (...) ich kam in große Unruhe, und pflegte das Thier, wie man fast einen Menschen pflegt [...]. Heute um 7 ' fand ich es todt. [...] Ich habe aus K u m m e r mehrere Tage nicht gearbeitet, und es d ü r f t e n noch 3 oder 4 Tage in Betrübniß vorüber gehen. Man kann das an mir sehr tadeln; aber ich sage: Wenn es Gott der M ü h e werth achtel, ein Thier mit so kunstreichen und feinen Werkzeugen auszurüsten, wenn er ihm eine ganze Kette von L e b e n s f r e u d e n und Glükseligkeiten mitgab, so d ü r f t e n wir es auch der M ü h e werth achten, diesem Dinge einige A u f m e r k s a m k e i t zu schenken." Vgl. zu diesem Aspekt auch Gustav Wilhelm: Adalbert Stifter als Tierfreund. In: Der Tierfreund. M o n a t s s c h r i f t des Wiener Tierschutzvereins. Wien 1926. 81. Jg., Nr. 6/1, 8, 9/10.
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Nr. 80: .Putzi I ' . Öl auf Karton, 11 χ 9 , 3 c m . Im Besitz des Oberösterreichischen Land e s m u s e u m s . Standort: Stifter-Institut Linz. Novotny (o. A n m . 1) datiert „um 1860". Beste Abbildung bei Baumer (o. Anm. 25), S. 95. - Nr. 81: .Putzi I I ' . Aquarell auf Papier, 7 χ 12,2cm. Im Besitz der Stifter-Gesellschaft Wien (Nr. 20). Standort: Stifter-Museum Wien. Novotny datiert „um 1860". Beste Abbildung bei Baumer, S. 97. 13. Januar 1863; SW. Bd. 24, S. 210: „Unsere kleine Puzi ist so krank, daß meine Gattin meint, daß sie stirbt. Hätten Sie denn nicht ein kleines Bischen Zeit übrig, uns zu besuchen, und an ihrem Bilde ein paar Striche anzugeben, die sie ihrer j e z i g e n Gestalt ähnlicher machten. Es wäre meiner Frau ein Trost. So unbedeutend die Sache ist, so ist der Freundschaftsdienst, um den ich Sie hier ersuche, größer, als Sie ahnen, sonst würde ich nicht den Muth haben, Sie d a r u m zu ersuchen." Vgl. Novotny (o. A n m . 1), Nr. 80: Novotny weist darauf hin, daß nicht mehr feststellbar ist, auf welches der Bilder sich diese „seltsame Bitte um Korrektur" bezieht.
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Nr. 99. Abb. bei Novotny (o. A n m 1), Tafel 43 unten : Öl auf Karton. 23,5 χ 31 cm. Teilweise beschädigt. Im Besitz der Stifter-Gesellschaft Wien (Nr. 19). Standort: Stifter-Museum Wien. Im Hause des Freiherrn verkehrte Stifter von 1865 bis 1867 häufiger. Eine weitere Darstellung eines H u n d e s nimmt Novotny (Nr. 107) in den Katalog der zweifelhaften Werke auf.
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s e m s p e z i e l l e n Fall s e i n e r Z e i c h e n t e c h n i k w o h l m i ß t r a u t e und e i n e d i r e k t e Fixierung der Proportionen auf d e m M a l g r u n d aus der freien Hand vermied. D i e s e B e o b a c h t u n g g e w i n n t an P l a u s i b i l i t ä t , w e n n m a n d a s H u n d e p o r t r ä t mit d e r e i n z i g e n Z e i c h n u n g P u t z i s v e r g l e i c h t : D i e P r o p o r t i o n e n , die b e i m J a g d h u n d ü b e r z e u g e n d w i r k e n , s i n d bei d e r in h a u c h d ü n n e m L i n e a m e n t g e g e b e n e n Z e i c h n u n g m i ß g l ü c k t : D i e s gilt i n s b e s o n d e r e f ü r d i e W i e d e r g a b e d e s h i n t e r e n K ö r p e r s . 1 1 0 A u c h S t i f t e r sah e s so, d e n n a u f d e r R ü c k s e i t e u n t e r n a h m er e i n e n z w e i t e n , g l ü c k l i c h e r e n V e r s u c h , i n d e m er d i e s e l b e P o s e d e s H u n d e s aquarellierte (,Putzi II').111 Z w e i k l a s s i s c h e k ü n s t l e r i s c h e T h e m a t a , d i e S t i f t e r m i e d , sind d i e m e n s c h liche A n a t o m i e u n d d a s P o r t r ä t . " 2 D e r B e d e u t u n g d e r z e i c h n e r i s c h e n W i e d e r g a b e d e s m e n s c h l i c h e n G e s i c h t s u n d d e r G a t t u n g P o r t r ä t war sich S t i f t e r d e n n o c h s e h r b e w u ß t , w i e d i e P a s s a g e n z u r T h e o r i e d e s Z e i c h n e n s im . N a c h s o m mer' belegen.
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Die n a c h f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n w i d m e n sich d e r R e k o n s t r u k t i o n und A n a l y se d e r S t i f t e r s c h e n T h e o r i e d e s Z e i c h n e n s a u f d e r G r u n d l a g e d e r e i n s c h l ä g i g e n T e x t s t e l l e n s e i n e s l i t e r a r i s c h e n W e r k e s : I m . N a c h s o m m e r ' u n d in d e n K u n s t k r i t i k e n ä u ß e r t s i c h S t i f t e r an z a h l r e i c h e n S t e l l e n zur Z e i c h n u n g , allerd i n g s n i c h t in F o r m e i n e r s t r e n g s y s t e m a t i s c h - t h e o r e t i s c h e n A b h a n d l u n g . Der . N a c h s o m m e r ' ist e i n . B i l d u n g s r o m a n ' , in w e l c h e m d e r E r z ä h l e r H e i n r i c h Drendorf über seinen vielfältigen R e i f u n g s - und Bildungsprozeß berichtet. S t i f t e r s T h e o r i e d e r Z e i c h n u n g ist s o w o h l d e n R e f l e x i o n e n des E r z ä h l e r s als a u c h D i a l o g e n e n t n e h m b a r , in d e n e n e i n z e l n e A s p e k t e d i e s e s k ü n s t l e r i s c h e n Mediums diskutiert werden.
109 Novotny (o. Anm. 1), zu Nr. 99. 110 Nr. 82 . Abb. bei Novotny (o. Anm. 1), Tafel 42 unten: ,Putzi III'. Bleistift auf Papier. 7 χ 12,2 cm. Im Besitz der Stifter-Gesellschaft Wien (Nr. 20). Diese Zeichnung befindet sich auf der Rückseite des Aquarells von Putzi (Nr. 81) und wird von Novotny ebenfalls „um 1860" datiert. 111 Einem Vergleich beispielsweise mit Tierstudien des für diese Gattung in Österreich zur Zeit Stifters ausgewiesensten Spezialisten Friedrich Gauermann (1807-1862) halten diese Werke Stifters nicht stand. Vgl. Ulrike Jenni: Friedrich Gauermann. 1807-1862. Ölskizzen und Zeichnungen im Kupferstichkabinett. Zur Arbeitsmethode des Malers. Mit einem Beitrag von Robert Wagner. Wien 1987, S. 126, Tafel 36: .Mehrere Füchse. Naturstudie'. Wien: Akademie der bildenden Künste, Inv. Nr. 7288. 112 Vgl. Novotny (o. Anm. 1), zu Kat. 26: Mit Ausnahme dreier verschollener Gemälde aus den dreißiger Jahren ist aus seinem Œuvre nichts bekannt. Die Abbildung einer kleinen Kreuzabnahme ist bei Novotny publiziert und zeigt, wie schwer sich der Autodidakt Stifter mit diesem Thema tat. Ansonsten bliebe nur noch der Hinweis auf einige ungelenke und kleine Staffagefiguren in einigen Frühwerken.
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Eine r e k o n s t r u i e r e n d e D a r s t e l l u n g der T h e o r i e des Z e i c h n e n s , die S t i f t e r dem R o m a n eingestaltet hat, m u ß den E n t w i c k l u n g s p r o z e ß des E r z ä h l e r s und sein Voranschreiten in der E r k e n n t n i s b e r ü c k s i c h t i g e n . Den e n t s c h e i d e n d e n ästhetischen Erkenntnischritt vollzieht Heinrich D r e n d o r f , als er b e g r e i f t , d a ß zwischen dem N a t u r w a h r e n , also d e m . n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n B l i c k ' und dem . K u n s t w a h r e n ' , d e m . k ü n s t l e r i s c h e n B l i c k ' , u n t e r s c h i e d e n w e r d e n m ü s s e . " 1 Von diesem M o m e n t an spiegeln die ä s t h e t i s c h e n A n s c h a u u n g e n d e s Erzählers das hohe ästhetische R e f l e x i o n s n i v e a u des A u t o r s w i e d e r und e n t s p r e chen endgültig dessen A u f f a s s u n g . Der j u g e n d l i c h e D r e n d o r f b e d i e n t e sich d e r Z e i c h n u n g , um seine nat u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n B e o b a c h t u n g e n ( B o t a n i k , M i n e r a l o g i e ) p r ä z i s e und nat u r w a h r w i e d e r z u g e b e n . " 4 S o m i t ist die F u n k t i o n der Z e i c h n u n g als w i r k l i c h keitsgetreue Deskription der s p e z i f i s c h e n G e s t a l t e i g e n s c h a f t e n der N a t u r p h ä n o m e n e definiert und unterstützt deren K l a s s i f i z i e r u n g . Im . n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Blick' liegt die Stärke des E r z ä h l e r s " 5 - die D i n g e k ü n s t l e r i s c h zu e r f a s s e n müht er sich redlich, und er gesteht auch den g r ö ß e r e n S c h w i e r i g keitsgrad e i n . " 6 Stifter thematisiert die Vielfältigkeit des M e d i u m s , d e n n die Z e i c h e n k u n s t vermag das Wesen der D i n g e k ü n s t l e r i s c h a u s z u d r ü c k e n , ist aber auch dem N a t u r w i s s e n s c h a f t l e r dienstbar. Auf ihre wertvolle E i g e n s c h a f t d e r v i e l f ä l t i g e n F u n k t i o n a l i s i e r b a r k e i t rekurriert Stifter durch stetigen Verweis auf i m m e r n e u e A n w e n d u n g e n : Drendorf übt sich im V e r m e s s u n g s w e s e n und bedarf der Z e i c h n u n g . " 7 Wird im R o m a n über D e n k m a l p f l e g e diskutiert, bedient m a n sich der Z e i c h n u n g , um den B e f u n d zu s i c h e r n . " 8 K u n s t h i s t o r i s c h e n G e s p r ä c h e n d i e n e n e x a k t e Z e i c h nungen von Architekturen ( A n s i c h t e n , Schnitte, Pläne) und d e r e n A u s s t a t t u n gen als d o k u m e n t a t i v e G r u n d l a g e . " 9 H i e r gilt wie in der N a t u r w i s s e n s c h a f t , 111 114 115
116 117 118
119
Vgl. SW. Bd. 7, S. 3 1 - 3 4 . SW. Bd. 6, S. 37f. SW. Bd. 7, S. 31. Vgl. auch ebd., S. 50. Diese zeichnerische Sehweise hat aber auch einen Vorzug, denn sie vermittelt beispielsweise Drendorfs Schwester, die das Gebirge nicht kennt, genauere Aufschlüsse über die Natur der Alpen, als dies „künstlerisch vollendete G e m ä l d e " könnten. SW. Bd. 7, S. 178f. Ebd., S. 250. SW. Bd. 6, S. 104ff. Selbstverständlich werden die „Fehler" der Gotik in der Naturwiedergabe vom Zeichner getreu ü b e r n o m m e n . Keineswegs wird im Sinne historistischer Stilaneignung verbessert (S. 107f.). Z.B. SW. Bd. 6, S. 312; Bd. 7, S. 98f. Diese A u f g a b e erfüllt heute die Fotografie. Stifter erwähnt sie in seinen Kunstkritiken durchaus positiv, wenn auch immer zum Schluß seiner Rezensionen. Einer der Äußerungen ist j e d o c h auch seine Unentschiedenheit zu entn e h m e n , ob dieses neue M e d i u m ein künstlerisches sei: „In so ferne Photographien in einem Kunstberichte zur Sprache k o m m e n d ü r f e n , müssen wir die des Photographen P f e i f f e r in Linz, welche im Vereine ausgestellt sind, als vorzüglich b e z e i c h n e n . " (SW. Bd. 14, S. 90: .Obderennsische Kunstausstellung. ( 1 8 5 6 . ) ' ) . Vgl. auch Ebd., S. 105, S. 110, S. 203. Im . N a c h s o m m e r ' findet dieses moderne künstlerische M e d i u m , welches so hervorragend zu D o k u m e n t a t i o n s z w e c k e n verwendet werden kann, keine E r w ä h n u n g .
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d a ß die g r ö ß t m ö g l i c h e P r ä z i s i o n im Detail und die exakte W i e d e r g a b e der P r o p o r t i o n e n a n s c h a u l i c h e r und i n f o r m a t i v e r sind als die m ü n d l i c h e B e s c h r e i b u n g . 1 2 0 D r e n d o r f selbst g r e i f t zu z e i c h n e r i s c h e n Mitteln, wenn er s e i n e m Vater die K u n s t w e r k e und M ö b e l des R i s a c h s c h e n Hauses schildern m ö c h t e . 1 2 1 Ü b e r h a u p t s c h ä r f e n Z e i c h e n ü b u n g e n das Verständnis. 1 2 2 A u c h die k l a s s i s c h e n A u f g a b e n der Z e i c h n u n g im Bereich der künstler i s c h e n P l a n u n g f i n d e n h ä u f i g e E r w ä h n u n g : Die Z e i c h n u n g ist ein v o r b e r e i t e n d e r Schritt z u m G e m ä l d e , aber präzise Z e i c h n u n g e n sind nicht w e n i g e r n o t w e n d i g bei d e r A n f e r t i g u n g von Kopien k o s t b a r e r M ö b e l , 1 2 3 und die Entwurfszeichnungen für Pfeilerverkleidungen (Ornament, Dekorationssystem) k o s t e n D r e n d o r f viel Zeit und M ü h e . 1 2 4 E i n i g e P a s s a g e n im . N a c h s o m m e r ' t h e m a t i s i e r e n die Q u a l i t ä t s f r a g e : Ein z e n t r a l e s K r i t e r i u m ist die „ A e h n l i c h k e i t mit den U r b i l d e r n " , die schon der j u g e n d l i c h e D r e n d o r f bei seinen n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Studien a n s t r e b t . 1 2 5 Die w i r k l i c h k e i t s g e t r e u e N a c h a h m u n g des a b z u b i l d e n d e n O b j e k t s ist eine g r u n d l e g e n d e F o r d e r u n g , die eine gute Z e i c h n u n g e r f ü l l e n muß. Stifter fordert a u c h in seinen K u n s t k r i t i k e n Z e i c h n e r h ä u f i g auf, ihre Naturstudien zu intensivieren, d a m i t die N a t u r w a h r h e i t m e h r zu ihrem Recht k o m m e . 1 2 6 Die zeichn e r i s c h e D i f f e r e n z z w i s c h e n Ur- und Abbild ist ein m e ß b a r e r Faktor bei der B e w e r t u n g z e i c h n e r i s c h e r Qualität. Weitere Q u a l i t ä t s m e r k m a l e weisen E u s t a c h s Z e i c h n u n g e n auf, der Drendorf z u f o l g e einen hohen technischen Standard erreicht hat. 1 2 7 Seine Architekt u r z e i c h n u n g e n und E n t w ü r f e bestechen durch reine, sichere L i n i e n f ü h r u n g und g e k o n n t e A u s f ü h r u n g d e r L u f t p e r s p e k t i v e . Z u d e m erfüllt Eustach ein wichtiges Kriterium der Zeichenkunst, denn er weiß um die Ökonomie („Haushaltung") der zeichnerischen Mittel. Gemeint ist, daß beispielsweise ein Bleistift j e nach Druck, den man auf ihn ausübt, verschiedene Intensitäts- und Helligkeitswerte e r m ö g l i c h t . Ö k o n o m i s c h zeichnen bedeutet aber auch, daß man die weiteren m ö g l i c h e n E f f e k t e ( S c h r a f f u r e n , Punktierungen, S c h w ä r z u n g e n , V e r w i s c h u n gen, A u s s p a r e n des Z e i c h e n g r u n d e s etc.) gezielt einsetzt, so daß bis zur Fert i g s t e l l u n g d e r Z e i c h n u n g gestalterische R e s e r v e n v e r f ü g b a r bleiben.
120 121 122 123 124 125 126
127
Vgl. SW. Bd. 6, S. 107f. SW. B d . 7, S. 14, S. 44—46, S. 249. SW. B d . 6, S. 2 4 0 f . E b d . , S. 111. SW. B d . 7, S. 2 6 0 - 2 6 2 . SW. B d . 6, S. 3 7 f f . ; d a s Z i t a t S. 38. In der B e s p r e c h u n g e i n e s G e m ä l d e d e s L i n z e r K ü n s t l e r s A.G. G i o b b e liest sich d a s wie f o l g t : „ u n d w e n n d e r K ü n s t l e r in B e z u g auf F a r b e , G e g e n s a t z der T ö n e und in B e z u g auf Z e i c h n u n g in g e n a u e m S t u d i u m d e r N a t u r f o r t f ä h r t , so h o f f e n wir, ihn a u c h in c o m p o n i r t e n B i l d e r n auf d e r S t u f e zu f i n d e n , auf d e r wir ihm in der P o r t r ä t m a l e r e i b e g e g n e t s i n d " (SW. Bd. 14, S. 9 2 : . O b d e r e n n s i s c h e K u n s t a u s s t e l l u n g . ( 1 8 5 6 . ) ' ) . Vgl. e b d . , S. 172 ( R e z e n s i o n e i n e s G e m ä l d e s von K o n r a d B ü h l m a y r a u s W i e n aus d e m Jahre 1861). SW. Bd. 6, S. 106; v g l . a u c h S. 104f.
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Als einen Meister der zeichnerischen Kontrolle und Ö k o n o m i e feiert Stifter 1868 d e n L i n z e r K ü n s t l e r J o s e f M a r i a K a i s e r : „ U e b e r d i e g r o ß e S c h w i e r i g keit, d e n B l e i s t i f t an j e d e r S t e l l e zu ü b e r w a c h e n , d a ß e r a u s r e i c h e , r e d e ich n i c h t . J e d e r , d e r sich m i t B l e i s t i f t z e i c h n u n g e n a b g e g e b e n h a t , k e n n t sie u n d w i r d ihre U e b e r w i n d u n g d u r c h K a i s e r b e w u n d e r n . " ' 2 8 A b e r d i e M i t t e l d ü r f e n sich, wie S t i f t e r in e i n e r K u n s t k r i t i k a u s d e m J a h r e 1 8 6 2 d e u t l i c h h e r a u s s t e l l t , n i e v e r s e l b s t ä n d i g e n : „ D a s ist stets d a s M e r k m a l d e r M e i s t e r w e r k e , d a ß w i r k e i n e Mittel s e h e n u n d d o c h d i e g r o ß e , u n b e s c h r e i b l i c h e W i r k u n g g e w a h r e n , w ä h r e n d in A f t e r w e r k e n d i e M e n g e u n d d e r L ä r m d e r M i t t e l u n s zu k e i n e m Ergebnisse kommen lassen."129 Die K a t e g o r i e . P r ä z i s i o n ' s i e h t D r e n d o r f bei d e r B e w e r t u n g s e i n e r E n t w u r f s z e i c h n u n g e n d u r c h E u s t a c h w i r k s a m : E x a k t h e i t u n d S o r g f a l t in d e r A u s f ü h r u n g sind h i e r u n e r l ä ß l i c h . 1 3 0 In d e n K u n s t k r i t i k e n f ü r d e n o b e r ö s t e r r e i c h i s c h e n K u n s t v e r e i n - e i n e A u f g a b e , die S t i f t e r s e h r g e w i s s e n h a f t a u s f ü h r t e - b e w e r t e t e e r d i e Q u a l i t ä t e n v i e l e r Z e i c h n u n g e n . Er p f l e g t e a u c h bei G e m ä l d e b e s p r e c h u n g e n a u f z e i c h n e r i sche Q u a l i t ä t e n e i n z u g e h e n . W i e d e r h o l t r ü g t e er in d e n b e s p r o c h e n e n W e r k e n „Verzeichnungfen]",131 aber das G e l u n g e n e eines solchen Werkes beschrieb er auch.132 Seinen Vorstellungen entsprechende Zeichenkunst erfuhr gelegentlich g e r a d e z u e m p h a t i s c h e W ü r d i g u n g . D a b e i b e d i e n t e er sich e i n e r d i f f e r e n z i e r t e n S p r a c h e : Die W e r k e k ö n n e n von „Zierlichkeit und L e i c h t i g k e i t " sein, 1 3 3 „ U e b u n g und G e w a n d t h e i t " v e r r a t e n , 1 3 4 „ f r e i u n d g e f ä l l i g " w i r k e n , 1 3 5 a b e r a u c h „ Z a r t heit, R e i n h e i t , E m p f i n d u n g " a u s d r ü c k e n 1 3 6 s o w i e „ f r e u n d l i c h u n d m i t G e f ü h l a u s g e f ü h r t " s e i n . 1 3 7 G e l e g e n t l i c h ist e i n e Z e i c h n u n g „ v o r t r e f f l i c h u n d hält d i e
l2S 129
130 111 132 133 134 135 136 137
S W . B d . 14, S. 2 4 2 : ( . [ J o s e f M a r i a K a i s e r , B l e i s t i f t z e i c h n u n g e n . ] ( 1 8 6 8 . ) ' ) . S W . B d . 14, S. 2 0 2 ( . G e m ä l d e - A u s s t e l l u n g d e s o b e r ö s t e r r e i c h i s c h e n Kunstvereins. ( 1 8 6 2 . ) ' ) : S t i f t e r b e s p r i c h t ein K i n d e r p o r t r ä t a u s d e r H a n d d e s W i e n e r M a l e r s K a r l L ö f f ler. Er preist d i e E i n f a c h h e i t d e r Z e i c h n u n g im G e m ä l d e : „ S o e i n f a c h w i e d i e F ä r b u n g ist a u c h d i e Z e i c h n u n g in L ö f f l e r s B i l d e , sie ist b e s t i m m t u n d klar, u n d m a n m e i n t , s o g l e i c h k ö n n e m a n d i e s e L i n i e n n a c h m a c h e n ; u n d d o c h m ü s s e n sie so s c h w e r s e i n , weil m a n sie s o s e l t e n f i n d e t " . D i e i i b e r s c h w e n g l i c h e B e s p r e c h u n g e i n e s n o c h w e i t h i n u n b e k a n n t e n j u n g e n K ü n s t l e r s r e s u l t i e r t g e w i ß zu e i n e m Teil a u c h a u s d e m U m s t a n d , d a ß Künstler und Kritiker einander kannten und die Ausstellung g e m e i n s a m besuchten. Aber d i e a l l g e m e i n e ä s t h e t i s c h e A u s s a g e ü b e r d e n s p a r s a m e n E i n s a t z d e r M i t t e l e n t s p r i c h t sicherlich Stifters Grundüberzeugung. Vgl. Anton Schlossar: Adalbert Stifters Beziehung e n zu d e m M a l e r K a r l L ö f f l e r in W i e n . In: D e u t s c h e A r b e i t 8 ( 1 9 0 8 / 0 9 ) , S. 7 6 9 - 7 7 4 , S. 8 0 0 - 8 0 8 , h i e r S. 7 7 0 f . - Z u m P r o b l e m d e r . M a n i e r ' v g l . a u c h S W . B d . 14, S. 168 ( A u s s t e l l u n g s b e r i c h t 1860). SW. Bd. SW. Bd. E b d . , S. E b d . , S. E b d . , S. E b d . , S. E b d . , S. E b d . , S.
7, S. 2 6 2 f . 14, S. 5 5 ( B e r i c h t ü b e r d i e A u s s t e l l u n g 1854). 9 2 ( B e r i c h t ü b e r d i e A u s s t e l l u n g 1856). 3 6 ( B e r i c h t ü b e r d i e A u s s t e l l u n g 1853). 54 (Bericht über die Ausstellung 1854). 71 ( B e r i c h t ü b e r d i e A u s s t e l l u n g 1856). 91 ( B e r i c h t ü b e r d i e A u s s t e l l u n g 1856). 9 7 ( B e r i c h t ü b e r d i e A u s s t e l l u n g 1857).
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g e n a u e s t e P r ü f u n g a u s " 1 3 8 o d e r weist „ein[enl hohe[n] Grad von L e b e n d i g k e i t ( d i e s e r e i g e n t l i c h e n K u n s t s e e l e ) " auf. 1 3 9 Der „ F l e i ß " eines u n b e k a n n t e n K ü n s t l e r s verdient g e n a u s o positive E r w ä h n u n g 1 4 0 wie „ S c h w u n g und dichter i s c h e A u f f a s s u n g " d e r Z e i c h n u n g e n Carl B l u m a u e r s . 1 4 1 Auch R o u t i n e wird g e s c h ä t z t , w e n n v o n d e r „ g e ü b t e n und leichten A r t " eines K ü n s t l e r s die Rede ist. 1 4 2 V e r k ü r z u n g e n k ö n n e n „ s t a u n e n s w e r t h " sein, 1 4 3 und der K ö l n e r D o m b a u m e i s t e r Statz, d e r den A u f t r a g erhalten hatte, den Linzer n e o g o t i s c h e n D o m zu e r r i c h t e n , gibt s c h o n b e i m ersten Blick auf die ausgestellten P l ä n e zu e r k e n n e n , d a ß e r „ v o n d e r Heiligkeit, von der W ü r d e und d e m Ernste seiner Aufgabe durchdrungen war".144 In der B e s p r e c h u n g e i n e s K a r t o n s von Josef M u n s c h beschreibt Stifter die p o s i t i v e p s y c h o l o g i s c h e W i r k u n g , die von e i n e m C h a r a k t e r i s t i k u m dieses Werks a u s g e h t : „der R e i z der Verschlingung der Linien zu a n m u t h i g e r Erreg u n g der b e s c h a u e n d e n E i n b i l d u n g s k r a f t " sei „mit g r o ß e m k ü n s t l e r i s c h e n Sinne i n ' s Werk g e s e t z t " 1 4 5 - ein hohes Lob, das zugleich Stifters Vertrauen in die starke ä s t h e t i s c h e W i r k k r a f t zeichnerischer Mittel verdeutlicht. Im selben K u n s t b e r i c h t kritisiert S t i f t e r eine Serie Z e i c h n u n g e n des b e r ü h m t e n W i l h e l m K a u l b a c h : D i e s e F o l g e „ F r a u e n g e s t a l t e n aus G ö t h e " bleibt d e m Kritiker zuf o l g e hinter der „ N a t u r g e w a l t der Seelen G ö t h e ' s c h e r F r a u e n " zurück. „In Bez i e h u n g auf G ö t h e sind uns die Z e i c h n u n g e n kalt", schreibt Stifter und gibt zu e r k e n n e n , d a ß d a s von ihm ausdrücklich b e w u n d e r t e , „ a k a d e m i s c h R i c h t i g e dieser Z e i c h n u n g e n im A l l g e m e i n e n " als alleiniger Q u a l i t ä t s n a c h w e i s nicht ausreicht.146 D i e s e s e e l i s c h e n Q u a l i t ä t e n einer Z e i c h n u n g sind sprachlich s c h w e r zu p r ä z i s i e r e n , w e n n es gilt, sie am konkreten E i n z e l k u n s t w e r k a u f z u z e i g e n . A m Beispiel K a u l b a c h s f o r m u l i e r t Stifter zur Verdeutlichung einen prinzipiellen U n t e r s c h i e d in d e r A u s d r u c k s f ä h i g k e i t von D i c h t u n g und Malerei: „ D e r Dichter bringt mit d e m u n s i c h t b a r e n Worte leichter die Seele, s c h w e r e r den Körper; aber er m u ß ihn b r i n g e n , der Maler mit der sichtbaren Linie leichter den K ö r p e r , s c h w e r e r d i e Seele; aber wir fordern sie auch von i h m . " 1 4 7 D i e s e s T h e o r e m z u r „Ut p i c t u r a p o e s i s " - P r o b l e m a t i k ist v e r s t ä n d n i s f ö r d e r n d , aber in d e r e x p l i z i t e n B e s c h r e i b u n g der seelischen Qualität, die in der zu b e s p r e c h e n d e n Z e i c h n u n g a u f s c h e i n t , bleibt Stifter u n b e s t i m m t , wie auch das f ü r ihn ty138 139
140 141 142 143 144 145 146 147
E b d . , S. E b d . , S. ü b e r die E b d . , S. Ebd. E b d . , S. E b d . , S. E b d . , S. E b d . , S. E b d . , S. Ebd.
101 ( B e r i c h t ü b e r d i e A u s s t e l l u n g 1857). 106 ( B e r i c h t ü b e r d i e A u s s t e l l u n g 1857). V g l . a u c h S. 142, S. 215 ( B e r i c h t e A u s s t e l l u n g e n 1860 und 1863). 121 ( B e r i c h t ü b e r d i e A u s s t e l l u n g 1858). 122. 125. 132 ( B e r i c h t ü b e r d i e A u s s t e l l u n g 1859). 181 ( B e r i c h t ü b e r d i e A u s s t e l l u n g 1861). 180.
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p i s c h e f o l g e n d e Z i t a t a u f z e i g t : „ A b e r w i e v e r s c h i e d e n a u c h d i e L i n i e ist, i m m e r h a t sie e t w a s S e e l e n v o l l e s , d a s u n s a n z i e h t . [...] E s ist d a s G e i s t i g e , d a s ü b e r d e m G a n z e n s c h w e b t . Ein H a u c h d e r R e i n h e i t , d e r S a n f t h e i t , d e r L i e b l i c h k e i t , d e r I n n i g k e i t ist ü b e r d i e s e n A r b e i t e n u n d theilt s i c h u n s mit u n d b r i n g t ein b e f r i e d i g t e s G e f ü h l in u n s zu s a n f t e m A b s c h l ü s s e . " 1 4 8 K o l o r i e r t e Z e i c h n u n g e n stellen e i n e n S o n d e r f a l l d a r , d e r im . N a c h s o m m e r ' e r ö r t e r t w i r d : D a s r i c h t i g e K o l o r i e r e n v o n Z e i c h n u n g e n ist s c h w i e r i g u n d erf o r d e r t viel Ü b u n g . D e r v o n E u s t a c h in d e r K u n s t d e r Z e i c h n u n g u n t e r r i c h t e t e G u s t a v d a r f erst k o l o r i e r e n , w e n n er im U m g a n g m i t d e m B l e i s t i f t d i e g e f o r d e r t e Ü b u n g e r l a n g t h a t . 1 4 9 E u s t a c h ist ein M e i s t e r in d e r K o l o r i e r u n g m i t W a s s e r f a r b e n : Er w e n d e t d i e K o l o r i e r u n g s p a r s a m an u n d w e i ß d i e F a r b e n sehr differenziert einzusetzen, so z.B. „um d e m G a n z e n einen Ton der Wirkl i c h k e i t u n d Z u s a m m e n s t i m m u n g zu g e b e n " o d e r „ u m e i n z e l n e S t e l l e n zu bezeichnen, die eine b e s o n d e r s starke oder e i g e n t ü m l i c h e F a r b e h a t t e n " . 1 5 0 Jed o c h darf d a s B l a t t s e i n e n C h a r a k t e r als Z e i c h n u n g n i c h t v e r l i e r e n : „ I m m e r a b e r w a r e n die F a r b e n so u n t e r g e o r d n e t g e h a l t e n , d a ß d i e Z e i c h n u n g e n n i c h t in G e m ä l d e ü b e r g i n g e n , s o n d e r n Z e i c h n u n g e n b l i e b e n , d i e d u r c h d i e F a r b e n u r n o c h m e h r g e h o b e n w u r d e n " . 1 5 1 H i e r ist d e r E i n f l u ß k l a s s i z i s t i s c h e r K u n s t t h e o r i e a u f S t i f t e r s p ü r b a r , d e n n e r b e s t e h t auf e i n e r p u r i s t i s c h e n U n t e r scheidung der künstlerischen Gattungen, deren Reinheit bewahrt bleiben muß. A u c h k o l o r i e r t e Z e i c h n u n g e n sind k e i n e G e m ä l d e u n d h a b e n i h r e n g r a p h i s c h e n C h a r a k t e r zu b e w a h r e n . A l l e r d i n g s k a n n m a n m i t d e n k ü n s t l e r i s c h e n M i t t e l n e i n e r G a t t u n g an d e ren G r e n z e n s t o ß e n , s o d a ß m a n in d e r b e n a c h b a r t e n e i n e n n e u e n V e r s u c h u n t e r n e h m e n m u ß . A u f s c h l u ß r e i c h zu d i e s e m A s p e k t ist d e r B e r i c h t D r e n d o r f s ü b e r s e i n e B e m ü h u n g e n , ein G e m ä l d e s e i n e s V a t e r s , d i e , , h o l d [ e ] " D a r s t e l l u n g e i n e s l e s e n d e n K i n d e s , zu k o p i e r e n : „ I c h v e r s u c h t e , d a s A n g e s i c h t zu z e i c h n e n ; a l l e i n ich v e r m o c h t e d u r c h a u s n i c h t , d i e e i n f a c h e n Z ü g e , v o n d e n e n n o c h d a z u d a s A u g e n i c h t zu s e h e n war, s o n d e r n d u r c h d a s L i d b e s c h a t t e t w u r d e , a u c h n u r e n t f e r n t m i t L i n i e n w i e d e r zu g e b e n . Ich d u r f t e m i r d a s B i l d h e r a b n e h m e n , ich d u r f t e i h m e i n e S t e l l u n g g e b e n , w i e ich w o l l t e , u m d i e N a c h a h m u n g zu v e r s u c h e n ; sie g e l a n g n i c h t , w e n n ich a u c h a l l e m e i n e F e r t i g k e i t , d i e ich im Z e i c h n e n a n d e r e r G e g e n s t ä n d e b e r e i t s h a t t e , d a r a u f a n w e n d e t e . D e r Vater s a g t e m i r e n d l i c h , d a ß d i e W i r k u n g d i e s e s B i l d e s v o r z ü g l i c h in d e r Z a r t heit d e r F a r b e l i e g e , u n d d a ß es d a h e r n i c h t m ö g l i c h sei, d i e s e l b e in s c h w a r zen L i n i e n n a c h z u a h m e n . " 1 5 2 B e d e u t s a m ist d e r H i n w e i s , d a ß D r e n d o r f b e reits e i n g e ü b t e r Z e i c h n e r ist u n d d e n n o c h in d e r „ N a c h a h m u n g " s c h e i t e r n
148 149 150 151 152
Ebd., S. SW. Bd. SW. Bd. Ebd. Ebd., S.
242 (.[Josef Maria Kaiser, Bleistiftzeichnungen.] ( 1 8 6 8 . ) ' ) . 7, S. 15f. 6, S. 106. 216.
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muß, da er zur Wiedergabe ein inadäquates künstlerisches Medium gewählt hat. Die ,Jiold[e]" Wirkung dieses Bildes beruht auf der Farbe und ist folglich nur durch Malerei reproduzierbar. Rückschlüsse auf Stifters Bewertung des eigenen graphischen Œuvres lassen die folgenden Hinweise zu: Eustach fertigte auf seinen Reisen Skizzen an, die er zu Hause „im Reinen" ausführte. 1 5 3 Auch sein Bruder Roland bringt seine Zeichnungen im Nachhinein „mehr in das Reine". 1 5 4 An anderer Stelle kehrt Roland von einer Reise zurück: „Er brachte in seinem Buche viele und darunter schöne Zeichnungen mit, welche mit Antheil betrachtet wurden. Sie sollten nun auf größerem Papiere und in künstlerischer Richtung ausgeführt werden." 1 5 5 Stifter spricht hier das Verhältnis zwischen Skizze und vollendeter Zeichnung an: Skizzen dienen dem Studium vor Ort und sind Notizen des Beobachteten. Es können sogar „schöne Zeichnungen" sein, d.h. der ästhetische Wert dieser mehr oder weniger ausgeführten vorbereitenden Zeichnungen ist erkannt. Als eigenständige Kunstwerke können sie jedoch noch nicht angesehen werden. Sie dienen als Vorlage für die endgültige Reinzeichnung, die aufgrund ihrer - bereits bei der Bewertung der Eustachschen Zeichnungen erwähnten - Qualitätskriterien unter die Kategorie des „Künstlerischen" fallen. Diese Kategorie erscheint noch nicht in ihrer umfassenden Bedeutung als .Kunstwahrheit', denn der ästhetischen Problematik zwischen dieser Kategorie und jener des .naturwissenschaftlichen Blicks' wird sich Drendorf erst später bewußt. Das Adjektiv „künstlerisch" zielt auf den hohen Grad zeichnerischer Vollendung, der anhand der Kriterien Abbildgenauigkeit und Präzision, Reinheit der Linienführung, Ökonomie der Mittel und korrekte Perspektive bestimmt wird. Legt man diesen Maßstab an das erhaltene graphische Œuvre Stifters an, so besteht es mit Ausnahme weniger Blätter aus Skizzen, die wohl „schön" sein können, denen ihr Schöpfer aber das hohe Prädikat des „Künstlerischen" noch nicht verliehen haben dürfte. Die Moderne gesteht auch der graphischen Skizze den Rang eines eigenständigen Kunstwerks zu. Stifter und seiner Zeit galt die Skizze als Vorstufe zum Kunstwerk, die allerdings die Meisterschaft und Virtuosität eines Künstlers zu demonstrieren vermochte. Stifter spricht sogar bei der Würdigung einer ,Regenskizze' von Heinrich Bürkel in einer seiner Kunstkritiken deutlich aus, welch hohes Niveau Meisterskizzen erreichen können: Sie „wirkt hier besonders mit der Zierlichkeit und Leichtigkeit einer Studie, die nicht selten auch bei großen Meistern trotz der Nachlässigkeit, die ein ausgeführtes Bild nicht hat, wahrer und tiefer wirken als Bilder selber". 156 Einmal billigt Stifter einer Skizze zu, ein „Meisterwerk ersten Ranges" zu sein, obwohl sie „nicht bis zum Letzten ausgeführt" ist. Aber es handelt sich 153 154 155 156
Ebd., S. SW. Bd. SW. Bd. SW. Bd.
109. 7, S. 4. 6, S. 247. 14, S. 36 (Bericht über die Ausstellung 1853).
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um eine - von Stifter begeistert besprochene - komplexe Historienkomposition des von ihm außerordentlich geschätzten Wiener Künstlers Johann Nepomuk Geiger, in welcher der Kritiker neben der graphischen Qualität auch noch zahlreiche andere Vorzüge erblickt. 1 5 7 Elf Jahre später, in der letzten seiner Kunstkritiken, billigt er ein zweites Mal Zeichnungen den hohen Rang von Kunstwerken zu. Seine Formulierung ist aufschlußreich: „So glaube ich Kaisers Zeichnungen, wenn sie auch nur Bleistiftzeichnungen sind, Kunstwerke nennen zu dürfen". 1 5 8 Wolfgang Kemp wies darauf hin, daß vom Akademie- oder Atelierschüler erwartet wurde, daß er ein Skizzenbuch führte, in welches er seine Beobachtungen nach dem wirklichen Leben und der Natur notierte. 1 5 9 Diese Methode wurde bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts praktiziert. Die Skizze stieg erst allmählich in den Rang eines eigenwertigen Kunstwerks auf, als in der Landschaftsmalerei der Pleinairismus, die Freilichtmalerei, einsetzte und Künstler ihre Gemälde „auf dem Motiv" schufen. 1 6 0 Im Verlauf dieser Entwicklung verlor die Skizze zunehmend ihren ausschließlichen Charakter als Stütze für die Atelierarbeit und konnte sich auch als „vollwertige" künstlerische Ausdrucksform etablieren. 1 6 ' Jedoch setzte diese Tendenz zunächst nur fernab von Wien in Frankreich bei den Meistern der Ecole de Barbizon ein. In der Wiener Landschaftsmalerei des Biedermeier war der Pleinairismus praktisch inexistent. Nur gelegentlich schufen experimentierfreudige Maler ein Gemälde in der freien Natur, so z.B. der frühe Waldmüller. 1 6 2 Zu den äußeren Bedingungen, die zum Gelingen einer Zeichnung beitragen, finden sich nur einige wenige Hinweise im . N a c h s o m m e r ' . So muß das Atelier gleichmäßig ausgeleuchtet sein: „alle Fenster bis auf eines waren mit ihren Vorhängen bedeckt, damit eine einheitliche Beleuchtung auf den Gegenstand geleitet würde, der gezeichnet werden sollte". 1 6 3 Zu den optimalen Arbeitsbedingungen gehört selbstverständlich der Zeichentisch. 1 6 4 Auch zur Ausbildung eines Zeichners ist wenig zu erfahren. Abgesehen von Eustachs didaktischer Regel, daß man erst kolorieren dürfe, wenn eine ausreichende Sicherheit in der Handhabung des Zeichenstifts erreicht sei, 1 6 5 157
Ebd., S. 111-115, Zitat S. 115 (Bericht über die Ausstellung 1857). S W . Bd. 14, S. 242 (.[Josef Maria Kaiser, Bleistiftzeichnungen.] (1868.)'); Hervorhe bung von mir. 159 Kemp (o. Anm. 64), S. 309. Vgl. auch die grundlegende Studie zum Lehrbetrieb an französischen, aber auch anderen Akademien im 19. Jahrhundert von Albert Boime: The Academy and French Painting in the Nineteenth Century. London 1971, S. 35. 160 v g l . Ekkehard Mai: Vom Atelier zur freien Natur - Landschaftsmalerei an deutschen Kunstakademien. In: Landschaft im Licht. Impressionistische Malerei in Europa und Nordamerika 1860-1910. (Ausstellungskatalog) Köln/Zürich 1990, S. 36-47, bes. S. 43-47. 161 Vgl. Frodi (o. Anm. 10), S. 36. 162 Ebd. 163 SW. Bd. 7, S. 14. 164 Ebd., S. 17f. 165 Ebd., S. 15f. l5tf
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Stefan
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b e s c h r ä n k t sich S t i f t e r auf den m e h r f a c h e n H i n w e i s , daß z e i c h n e r i s c h e (und m a l e r i s c h e ) F o r t s c h r i t t e nur d u r c h ständige Ü b u n g zu erzielen s e i e n . 1 6 6 Dies gilt auch f ü r die V e r s u c h e des R o m a n h e l d e n , sich als P o r t r ä t m a l e r zu verbessern. 1 6 7 Doch b e v o r er b e g a n n , Porträts zu malen (das Gärtnerehepaar), 1 6 8 hatte er schon e r k a n n t , „ d a ß d a s menschliche Angesicht der beste G e g e n s t a n d f ü r das Z e i c h n e n sein d ü r f t e " . 1 6 9 Allerdings fehlte Drendorf a n f ä n g l i c h der Mut, seine S c h w e s t e r o d e r d e r e n Freundinnen zu bitten, ihm Modell zu sitzen, so d a ß er sich im Z e i c h n e n nach Vorlagen und G i p s a b g ü s s e n üben m u ß t e . 1 7 0 Z e i c h n e n nach G i p s a b g ü s s e n galt übrigens im s c h u l i s c h - a k a d e m i s c h e n Zeichenbetrieb des 19. J a h r h u n d e r t s als „Naturzeichnen". Zur E g ä n z u n g zog m a n das lebende M o d e l l h e r a n . 1 7 1 N a c h d e m D r e n d o r f d a s W e s e n des .künstlerischen Blicks' e r k a n n t hat, n i m m t er seine S t u d i e n n a c h d e m m e n s c h l i c h e n Gesicht wieder auf, aber die z e i c h n e r i s c h e Intention hat sich g e w a n d e l t : „Ich zeichnete und m a l t e m e i n e K ö p f e jetzt a n d e r s , als noch kurz vorher. Wenn ich f r ü h e r [...] nur auf Richtigkeit der ä u ß e r e n Linien sah, so weit ich dieselbe darzustellen v e r m o c h t e , und wenn ich die F a r b e n a n n ä h e r u n g s w e i s e zu erringen im Stande war, so g l a u b t e ich, m e i n Ziel erreicht zu h a b e n : jetzt sah ich aber auf den A u s d r u c k , gleichs a m , w e n n ich das Wort g e b r a u c h e n darf, auf die Seele, welche durch die Linien und die F a r b e n dargestellt wird. [...] Einen Kopf so zu zeichnen o d e r gar zu m a l e n , wie ich j e t z t wollte, war viel schwerer [...]. Mein Vater [...] p f l e g t e zu sagen, D a s w a s ich jetzt vor A u g e n habe, sei das Künstlerische, m e i n Früheres sei ein Vergnügen g e w e s e n . " 1 7 2 Und i m m e r noch ist D r e n d o r f „das menschliche Antlitz der würdigste Gegenstand für Zeichnungen".173 Eindeutig wird d e r Z e i c h n u n g z u g e s t a n d e n , d a ß sie „ A u s d r u c k " und „Seele" f e s t z u h a l ten und a u s z u d r ü c k e n v e r m a g , auch wenn dies „viel s c h w e r e r " ist. Wenn die m e n s c h l i c h e P h y s i o g n o m i e der „würdigste G e g e n s t a n d " f ü r den Z e i c h n e r ist, so bleibt zu f r a g e n , warum sich Stifter nicht seinerseits in der G a t t u n g Porträt übte. Z u m i n d e s t ist der F o r s c h u n g bis auf den h e u t i g e n Tag keine Z e i c h n u n g und kein G e m ä l d e dieser Gattung bekannt. So liegt die Verm u t u n g n a h e , d a ß S t i f t e r a n g e s i c h t s des hohen technischen S c h w i e r i g k e i t s g r a -
166 167 168 169 170 171 172 173
E b d . , S. 16, S. 20, S. 30. E b d . , S. 71 f. E b d . , S. 6 9 . SW. Bd. 6, S. 2 1 5 . SW. Bd. 7, S. 2 1 6 f . K e m p (o. A n m . 6 4 ) , S. 309. SW. Bd. 7, S. 178f. E b d . , S. 185. V g l . a u c h SW. Bd. 14, S. 217f. (Bericht über die A u s s t e l l u n g 1867): „ D a s h ö c h s t e W e r k , w o r i n d i e s e s G ö t t l i c h e a u s g e d r ü c k t w i r d , ist die Welt, die Gott e r s c h a f f e n hat. U n d w e n n d e r M e n s c h d a s G ö t t l i c h e durch die Kunst darstellen will, so a h m t er T h e i l e der Welt n a c h . In d e r M a l e r e i und in den z e i c h n e n d e n Künsten [...] ist es zu o b e r s t der M e n s c h , d e r als G e g e n s t a n d dient, d a n n l a n d s c h a f t l i c h e G e b i l d e , B l u m e n , Früchte, Thiere".
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des dieser G a t t u n g resignierte und sich a u s s c h l i e ß l i c h auf die L a n d s c h a f t s z e i c h n u n g (und - m a i e r e i ) konzentrierte, deren P r o b l e m e d e m v i e l b e s c h ä f t i g t e n Dichter, Schulrat, D e n k m a l p f l e g e r und K u n s t k r i t i k e r s c h o n g e n ü g e n d Studium, Mühe und Zeit a b v e r l a n g t e n . Stifters T h e o r i e der Z e i c h n u n g ist, soweit a n h a n d d e s , N a c h s o m m e r s ' und der K u n s t k r i t i k e n rekonstruierbar, im Wesentlichen den k l a s s i s c h e n und konventionellen A n s c h a u u n g e n seiner Zeit v e r p f l i c h t e t . Stifter war den Urteilen seiner Zeit als K u n s t t h e o r e t i k e r m e h r v e r b u n d e n als in s e i n e m praktischen künstlerischen S c h a f f e n . In seinen k u n s t t h e o r e t i s c h e n A n s c h a u u n g e n n i m m t die n o r m a t i v e klassizistische Ästhetik breiten R a u m e i n . 1 7 4 Dies äußert sich auch in seinen K u n s t k r i t i k e n , wenn er auf w e n i g e n Seiten die K e r n g e d a n k e n seiner K u n s t t h e o r i e darlegt, 1 7 5 die k l a s s i s c h e g r i e c h i s c h e P e r i o d e als bedeutendste K u n s t e p o c h e aller Zeiten w ü r d i g t , aber auch, w e n n er die Kunstgeschichte als eine E n t w i c k l u n g von A u f s t i e g und Verfall w e r t e t . 1 7 6 Der Lands c h a f t s m a l e r Stifter spricht sogar deutlich aus, daß er die k l a s s i s c h e Gattungshierarchie a n e r k e n n t , d e r z u f o l g e die H i s t o r i e n m a l e r e i den h ö c h s t e n Rang einnimmt.177
VI Faßt man a b s c h l i e ß e n d die E r g e b n i s s e dieser D a r l e g u n g e n z u r T h e m a t i k „ A d a l b e r t Stifter als Z e i c h n e r " z u s a m m e n , so ergibt sich das f o l g e n d e Bild: Stifter hat z w e i f e l l o s viele seiner Z e i c h n u n g e n v e r n i c h t e t . D a s hinterbliebene zeichnerische Œ u v r e ist nur geringen U m f a n g s , f r a g m e n t a r i s c h und heterogenen C h a r a k t e r s . S e i n e zeichnerische A u s b i l d u n g war im w e s e n t l i c h e n autodidaktisch, und er schulte sich g e m ä ß den z e i c h e n d i d a k t i s c h e n G e p f l o g e n h e i t e n seiner Zeit, w o b e i ihm sein M a l e r f r e u n d J o h a n n F i s c h b a c h zur Seite stand. Stifters H a n d h a b u n g des Z e i c h e n g e r ä t s wird diesen E i n f l u ß auch im Spätwerk nicht v e r l e u g n e n . Viele der Z e i c h n u n g e n Stifters sind der Motivwelt der Wiener Biedermeiermalerei verpflichtet. Dies steht k e i n e s w e g s im W i d e r s p r u c h zu der Tatsa-
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D i e s gilt i n s b e s o n d e r e für die k u n s t t h e o r e t i s c h e n P a s s a g e n im . N a c h s o m m e r ' . Vgl. z.B. SW. Bd. 7, S. 8 5 - 8 8 : In der B e s p r e c h u n g der g r i e c h i s c h e n S t a t u e R i s a c h s gibt sich Stifter als k l a s s i z i s t i s c h e r T h e o r e t i k e r e i n d e u t i g zu e r k e n n e n . Z u r K l a s s i k o r i e n t i e r u n g d e s K u n s t t h e o r e t i k e r s Stifter vgl. auch N o v o t n y (o. A n m . 1), S. 22; d e r s . : K l a s s i z i s m u s und Klassizität im Werk Adalbert S t i f t e r s - bei B e t r a c h t u n g s e i n e r späten L a n d s c h a f t s b i l d e r . In: N o v o t n y , S. 3 9 - 4 8 ; P f e i f f e r (o. A n m . 5), S. 3 8 ^ 1 4 , S. 4 8 - 5 3 . Vgl. a u c h M a r g a r e t e G u m p : S t i f t e r s K u n s t a n s c h a u u n g . Diss. M ü n c h e n 1927. B e r l i n 1927, S. 4 0 ^ 4 8 .
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SW. Bd. 14, S. 2 1 7 - 2 2 0 (Bericht ü b e r die A u s s t e l l u n g 1867). E b d . , S. 2 0 5 - 2 1 0 (Bericht über die A u s s t e l l u n g 1863). H i e r steht S t i f t e r f e s t in der Tradition W i n c k e l m a n n s und H e r d e r s . Vgl. a u c h die E i n l e i t u n g von G u s t a v W i l h e l m zu SW. Bd. 14, S. X X V I I f . SW. Bd. 14, S. 199 (Bericht ü b e r die A u s s t e l l u n g 1862).
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che, daß der späte Stifter in seinen Werken zeichenkünstlerische Eigenständigkeit beweist. Ein b e d e u t e n d e r Stilwechsel ist ab Mitte der f ü n f z i g e r Jahre aufzeigbar: Blätter wie der .Waldhang' (Abb. 7) oder die ,Waldrücken' (Abb. 6) sowie die zeichnerischen Arbeiten für die . B e w e g u n g ' weisen einen dynamischpulsierenden R h y t h m u s auf. Vor allem in seiner .Steinstudie' (Abb. 8) von 1863 strebte Stifter auch eine sensualistische Sehweise an. Die R e k o n s t r u k t i o n seiner T h e o r i e des Z e i c h n e n s a n h a n d d e r einschlägigen Stellen im . N a c h s o m m e r ' und den Kunstkritiken zeigt, daß Stifters Urteil d e r klassizistischen k u n s t h e o r e t i s c h e n Tradition v e r p f l i c h t e t ist. Von zentraler Bed e u t u n g in S t i f t e r s k u n s t h e o r e t i s c h e m Ansatz ist der G e d a n k e vom .naturwiss e n s c h a f t l i c h e n B l i c k ' und dessen G e g e n s ä t z l i c h k e i t zum „künstlerischen Blick", d e r auf d a s W e s e n d e r Dinge zielt. Z u r Beurteilung der späten Z e i c h n u n g e n m ü s s e n auch d i e s e B e g r i f f l i c h k e i t e n h e r a n g e z o g e n w e r d e n . H ä u f i g e E r w ä h n u n g e r f ä h r t die vielfältige Funktionalisierbarkeit der Zeic h e n k u n s t im , N a c h s o m m e r ' . D e r schwierigen Q u a l i t ä t s f r a g e stellt sich insbes o n d e r e d e r K u n s t k r i t i k e r S t i f t e r stets aufs N e u e , wobei er deutlich ausspricht, d a ß a k a d e m i s c h e G e w a n d t h e i t wohl b e w u n d e r n s w e r t ist, aber ohne das notw e n d i g e G e f ü h l f ü r den Stoff k e i n e s w e g s ausreicht, sondern Kälte ausstrahlt und „ L e b e n d i g k e i t " , d i e s e „eigentliche K u n s t s e e l e " , v e r m i s s e n läßt. Klassizistische K u n s t t h e o r i e gibt sich im puristischen H i n w e i s auf die Reinheit der k ü n s t l e r i s c h e n G a t t u n g e n zu e r k e n n e n : Auch kolorierte Z e i c h n u n g e n haben ihren C h a r a k t e r als Z e i c h n u n g e n zu b e w a h r e n . Die m e i s t e n d e r g r a p h i s c h e n Blätter Stifters sind S k i z z e n : Skizzen, und dies entspricht d e m k o n v e n t i o n e l l e n theoretischen A n s a t z , k ö n n e n unter U m ständen m e h r M e i s t e r s c h a f t d e m o n s t i e r e n als ein G e m ä l d e , aber den Rang als „ K u n s t w e r k e " gesteht ihnen Stifter prinzipiell noch nicht zu. Das h ö c h s t r a n g i g e T h e m a der Zeichenkunst ist f ü r den Theoretiker Stifter die m e n s c h l i c h e P h y s i o g n o m i e , also letztlich das Porträt. Diese Gattung pflegte der Künstler Stifter nach h e u t i g e m Wissensstand nicht. Er konzentrierte sich als Maler und Z e i c h n e r zeitlebens auf die Schilderung der Natur und suchte mit den Mitteln dieses künstlerischen M e d i u m s in ihr Wirklichkeit und Wahrheit. Ein P r o b l e m , w e l c h e s aus seiner D o p p e l b e g a b u n g resultierte, hatte der D i c h t e r und M a l e r S t i f t e r g e w i ß schon lange reflektiert, b e v o r er 1867 in seinem letzten , K u n s t b e r i c h t ' konstatierte: „Dichter und M a l e r haben eben g a n z v e r s c h i e d e n e Mittel, und b e i d e Künste, wenn sie e i n a n d e r erläutern wollen, bleiben meist im N a c h t h e i l , in G e s c h i c h t l i c h e m nicht immer, oft gar nicht, im Lyrischen sicherlich j e d e s M a l . " 1 7 8
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Ebd., S. 226 (Bericht über die Ausstellung 1867).
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