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German Pages 391 Year 2010
Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft Band 8
Achim von Arnim und sein Kreis Herausgegeben von Steffen Dietzsch und Ariane Ludwig
De Gruyter
ISBN 978-3-11-023308-7 e-ISBN 978-3-11-023309-4 ISSN 1439-7889 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co., Gçttingen
¥ Gedruckt auf surefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Hans Eichner Chronologie zu Leben und Werk Friedrich Schlegels . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Hildegard Baumgart Ein Künstler, zwei Frauen und die Sinnlichkeit. „Raphael und seine Nachbarinnen“, 1823 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
Lothar Ehrlich Ludwig Achim von Arnims Dramatik. Zur Forschung im letzten Jahrzehnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Christof Wingertszahn Der verlorene Faden. Die Quelle von Achim von Arnims Erzählung „Frau von Saverne“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Steffen Dietzsch ‚Dienemann‘ bei Arnim und als Verleger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
Johannes Barth „Oder die ‚Kronenwächter‘, ein so schönes Buch“. Hugo von Hofmannsthal und Achim von Arnim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
Yvonne Pietsch Edierende Dichterin, dichtende Editorin. Bettina von Arnim als Herausgeberin der „Sämmtlichen Werke“ Ludwig Achim von Arnims
113
Roswitha Burwick „Und er ward ein König über Thiere und Menschen, im G e i s t ; sonder S p r a c h e “ . Bettina von Arnims Märchen „Der Königssohn“ . . . . . . . . .
129
Petra Maisak Bettina von Arnim als Zeichnerin oder der Versuch, alte Bilder in eine neue Mythologie zu verwandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
VI
Inhalt
Sheila Dickson Eine unbekannte Übersetzung aus Bettina von Arnims „Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
Renate Moering Ludvig Holberg und August von Kotzebue. Eine unbekannte Quelle für Clemens Brentano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
Stefan Nienhaus Zu viel „Tiefsinn“ und zu wenig „kindliche Freude“. Tiecks vergebliche Mahnung an Runge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211
Claudia Nitschke Die Natur als Metamorphosler? Chamissos „Peter Schlemihl“ zwischen Krise und Kreationismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221
Hermann Patsch „Für einen Dichter habe ich ihn nie gehalten“. Die Claudius-Rezeptionin der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
Kurt Krolop Zur Rezeptionsgeschichte der Seumeschen „Apokryphen“ in zeitsatirischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
Jürgen Knaack Wie die „Völkerschlacht“ bei Leipzig 1813 zu ihrem Namen kam . . . . .
269
Gian Franco Frigo Von der spekulativen Rolle des Lichts in Schellings Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
279
Stefano Poggi Neurologie, sensorium commune, Seele. Romantische Neurologie – Romantische Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
291
Gerhard R. Kaiser Confiance / Vertrauen. Louis-Sébastien Merciers Diagnose des ancien régime im „Tableau de Paris“ und die Intimisierung personaler Nähe in der deutschen Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
327
Helmut Hühn Nachtgedanken. Annäherungen an ein Meisterwerk von Caspar David Friedrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365
Die Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
379
Vorbemerkung
Consiliis hominum pax non reparatur in orbe (Goethe in Arnims Stammbuch, 9. März 1806)
Vor zehn Jahren, im April 2000, erschien ein erster Band der Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Damit entstand ein maßgebliches Periodicum zur weiteren Erforschung der Frühromantik, das die gleichzeitig gegründete, in Tübingen bei Niemeyer verlegte Historisch-kritische Ausgabe der Werke und des Briefwechsels Ludwig Achim von Arnims in einen weiten interdisziplinären Horizont werk-, zeit- und personengeschichtlicher Recherchen stellt. An beiden Projekten ist der Weimarer Philologe Heinz Härtl als einer ihrer Gründer beteiligt. – Er hat in den vergangenen 40 Jahren ein großes wissenschaftliches und editorisches Werk zur Erforschung der deutschen Frühromantik, namentlich zu Bettina und Clemens Brentano sowie zu Achim von Arnim vorgelegt. Am Beginn steht eine fulminante Hallenser Dissertation (1971) über die Beziehung Achim von Arnims zu Goethe, die die damals gewohnten Sichtweisen zum Verhältnis von Weimarer Klassik und Frühromantik quellenkundlich in Frage stellte. Im folgenden Jahrzehnt war Heinz Härtl im Lehrbetrieb an den Universitäten in Brünn/Mähren und Halle an der Saale tätig. Seit 1980 arbeitete er am Institut für klassische deutsche Literatur der – dann nach 1990 gegründeten – Stiftung Weimarer Klassik. Hier war er seit 1993 Leiter der Arnim-Arbeitsstelle. – Unter den zahlreichen Arbeiten zur Literatur der Goethezeit sind es neben vielen überraschenden Brief- und Textfunden namentlich Arnims Briefe an Savigny (1982), eine Dokumentation zur zeitgenössischen Wirkung von Goethes Wahlverwandtschaften (1983, neue Edition 2010), die zweibändige Bettina-von-Arnim-Ausgabe (1986/1989) und jüngst die im letzten Jahrzehnt besorgten Briefbände 30 und 31 der Historisch-kritischen Weimarer Arnim-Ausgabe, die Heinz Härtls wissenschaftliche Reputation ausmachen. – Er gehört damit zu den weltweit führenden Romantikkennern. Daneben überrascht Heinz Härtl immer wieder auch mit neuen Erkenntnissen zu anderen Facetten der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts, so zu Johann Gottfried Seume oder zu Johann Peter Hebel. Ganz zu schweigen von, fast möchte man es Arkanwissen nennen, Autoren, die selbst schon zu ihren Lebzeiten unter Varia firmierten. Heinz Härtl wird im April 2010 Siebzig. Der hier vorgelegte Band ist diesem Anlaß gewidmet. Der Titel Arnim und sein Kreis meint nicht nur Arnim
VIII
Vorbemerkung
und dessen Freunde bzw. Dichterkollegen, sondern auch die Kreise und Spuren, die Werke der Romantik in der Kunst gezogen und hinterlassen haben und deren Erforschung sich Heinz Härtl und sein wissenschaftlicher Freundeskreis (nicht zuletzt in diesem Band) widmen. Wir bedanken uns bei den Kollegen und Freunden von Heinz Härtl, die sich mit ihren germanistischen, komparatistischen, editionswissenschaftlichen und philosophischen Beiträgen hier zu seinen Ehren versammelt haben. Unser Dank gilt des weiteren dem Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, dem Freien Deutschen Hochstift zu Frankfurt am Main sowie Susanna Immergrün und Adam Krippenstapel.
Berlin / Weimar, Januar 2010
Steffen Dietzsch / Ariane Ludwig
Hans Eichner1
Chronologie zu Leben und Werk Friedrich Schlegels
... mein lieber alter Freund Heinz Härtl ... (in einem Brief)
28. August 1749 10. November 1759 19. Mai 1762 2. September 1763 24. Oktober 1764
8. September 1767
21. November 1768 1770 2. Mai 1771 10. März 1772
31. Mai 1773 13. Juli 1773 17. Januar 1775 7. November 1775 14. August 1776 3. April 1783
Goethe geboren. Schiller geboren. Fichte geboren. Caroline Michaelis (später Böhmer, Schlegel, Schelling) geboren. Brendel Mendelssohn (seit 1804 Dorothea Schlegel) geboren. Eltern: Moses und Fromet Mendelssohn. August Wilhelm Schlegel (künftig: AWS) geboren. Eltern: Johann Adolph und Johanna Christiane Erdmuthe Schlegel. Schleiermacher geboren. Beethoven, Hegel, Hölderlin und Wordsworth geboren. Georg Philipp Friedrich von Hardenberg (Novalis) geboren. Carl Wilhelm Friedrich Schlegel (künftig: FS) in Hannover geboren, Jugend bei den Eltern in Hannover. Ludwig Tieck geboren. Wackenroder geboren. Schelling geboren. Goethe zieht nach Weimar. Friedrich Tieck geboren. Brendel Mendelssohn heiratet Simon Veit.
––––––– 1
Vorabdruck aus: Friedrich Schlegel im Spiegel seiner Zeitgenossen. Herausgegeben und kommentiert von Hans Eichner. 4 Bände. Mit Genehmigung von Kari Grimstad.
2
Hans Eichner
15. Juni 1784
Caroline Michaelis heiratet Johann Franz Wilhelm Böhmer. Die Allgemeine Literatur-Zeitung (ALZ) beginnt zu erscheinen. Auguste Böhmer geboren. AWS in Göttingen immatrikuliert. FS kurzfristig Lehrling bei dem Bankier Schlemm in Leipzig. Vorbereitung zum Universitätsstudium unter der Leitung von AWS. Schiller zieht nach Weimar. Böhmer gestorben. Eichendorff geboren. Schiller zieht nach Jena. Erste Bekanntschaft mit Christian Gottfried Körner in Dresden. AWS wird Hofmeister bei dem Bankier Henry Muilman in Amsterdam.
1. Januar 1785 28. April 1785 3. Mai 1786 1787/88
21. Juli 1787 4. Januar 1788 10. März 1788 11. Mai 1789 1789 und 1790 Mitte Mai 1791
26. April bis Mitte August 1790 und Anfang Oktober 1790 bis Ostern 1791 Studium in Göttingen.
Mai 1791 bis Januar 1794: Leipzig Mitte Mai 1791 bis Januar 1794 Januar 1792 Mitte Mai 1792 Spätestens Sommer 1792 Spätsommer/Herbst 1792 10. März 1793 Ab Mitte 1793 2. August 1793
16. September 1793
Studium der Jurisprudenz, dann zunehmend der Humaniora in Leipzig. FS und Novalis lernen sich in Leipzig kennen. FSs erste Begegnung mit Schiller. FS beginnt, massiv Schulden zu machen. Kostspielige Werbung um die Gunst einer verheirateten Frau, Laura Limburger. Novalis verläßt Leipzig und studiert von April 1793 bis Juni 1794 Jurisprudenz in Wittenberg. Intensives Studium der Altertumswissenschaften. Erste Begegnung mit Caroline Böhmer. Betreuung Carolines zur Zeit der Geburt ihres Sohnes Wilhelm Julius Dubois-Crancé (Cranz) bis Ende Januar 1794. Johann Adolf Schlegel gestorben.
Chronologie zu Leben und Werk Friedrich Schlegels
3
Mitte Januar 1794 bis zum 21. Juli 1796: Dresden Enger Verkehr mit seiner Schwester Charlotte, Gemahlin des Hofmarschalls Ludwig Emmanuel Ernst. Intensives Studium des griechischen Altertums und der griechischen Poesie. Verkehr mit Christian Gottfried Körner. Sommer 1794 (wie auch oft später) 14. Mai 1794 18. Mai 1794 Ende Oktober bis November 1794
Januar 1795 bis Oktober 1796 15. Januar 1795
20. Februar 1795 12. Juni 1795 22. Juni 1795
Juli–August 1795 Oktober 1795 Juli 1795
Aufenthalt bei Ernsts in ihrem Sommerquartier in Pillnitz. Schiller zieht erneut nach Jena. Fichtes Ankunft in Jena als Professor der Philosophie. FSs erste Veröffentlichungen: Von den Schulen der griechischen Poesie, Über die weiblichen Charaktere in den griechischen Dichtern, Vom ästhetischen Werte der griechischen Komödie. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre erscheint in 4 Bänden. Das erste Heft von Schillers Die Horen erscheint; darin u. a. Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1.–9. Brief. Die Horen, 2. St.; darin Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 10.–16. Brief. Schiller lädt AWS zur Mitarbeit an den Horen und seinem Musenalmanach ein. Die Horen, 6. St.; darin Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 17.–27. Brief (Abschluß) und Goethes Römische Elegien. FSs Aufsatz Über die Diotima erscheint in der Berlinischen Monatsschrift. Über das Studium der griechischen Poesie dem Druck übergeben.2 AWS kehrt nach Deutschland zurück, zunächst nach Hannover, dann nach Braunschweig zu Caroline Böhmer.
––––––– 2
Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Hans Eichner und Jean-Jacques Anstett (fortgeführt von Andreas Arndt). 35 Bde. München, Paderborn, Wien, Zürich 1958ff. (künftig: KFSA). Bd. 23. Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bis zur Begründung der romantischen Schule. 15. September 1788–15. Juli 1797. Hrsg. von Ernst Behler. 1987, S. 347.
4
Hans Eichner
24. November 1795 bis 22. Januar 1796 15. Dezember 1795 Ungefähr Februar 1796
April 1796 Spätestens Mai 1796
1. Juli 1796 21. Juli 1796
Ende Juli 1796
August 1796 bis ungefähr Mai 1797
Schillers Die Horen, 1795, 11. St.: Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung. Schillers Musenalmanach für das Jahr 1796 erscheint. FS beginnt die Mitarbeit an Johann Friedrich Reichardts Monatsschrift Deutschland: Vorabdruck eines kurzen Abschnitts über Goethe aus FSs Über das Studium der griechischen Poesie in Deutschland, 2. St., irrtümlich mit „A. W. Schlegel“ unterzeichnet.3 Johann Wilhelm Ritter in Jena immatrikuliert. Die ersten 10 Bogen von Über das Studium der griechischen Poesie ausgedruckt; gegen Ende Mai 1796 hat der Verleger (Michaelis) „circa 25 Bogen Manuscript in Händen“. AWS heiratet Caroline Böhmer und übersiedelt am 7. Juli nach Jena. FS verläßt Dresden, reist zunächst nach Leipzig und besucht vom 29. Juli bis zum 6. August Novalis in Dürrenberg bei Weißenfels. FSs Rezension von Schillers Musenalmanach für das Jahr 1796 erscheint in Reichardts Deutschland, 6.St.; darin u. a. Verspottung von Schillers Gedicht Würde der Frauen. Zunehmend scharfe Rezensionen von Schillers Horen in Deutschland, 7.–12.St.
7. August 1796 bis 3. Juli 1797: Erster Aufenthalt in Jena August/September 1796 September 1796 29. September 1796
Ungefähr Oktober 1796
Begegnung mit Fichte, Schiller u. a., Reise nach Weimar, Begegnung mit Wieland und Böttiger. FSs Rezension von Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar erscheint in Deutschland, 8. St. Schillers Musenalmanach für das Jahr 1797 erscheint; darin Goethes und Schillers Xenien, von denen 19 gegen FS gerichtet sind. Der letzte Band von Goethes Wilhelm Meister erscheint.
––––––– 3
KFSA Bd. 1. Friedrich Schlegel: Studien des klassischen Altertums. Eingeleitet und hrsg. von Ernst Behler. 1979, S. 259–261.
Chronologie zu Leben und Werk Friedrich Schlegels
Januar 1797
Vor Ende Januar 1797
21. und 22. März 1797
Gegen Ostern 1797 26. Mai 1797 31. Mai 1797
3. Juli 1797
5
FSs Rezension von Schillers Musenalmanach für das Jahr 1797 erscheint in Deutschland, 10. St. Die Griechen und Römer. Historische Versuche über das klassische Altertum. 1. (und einziger) Bd. erscheint; darin eine Vorrede, der Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie und Nachdrucke der Aufsätze Über die weiblichen Charaktere in den griechischen Dichtern und Über die Diotima. FSs Rezension von Friedrich Immanuel Niethammers Philosophischem Journal erscheint in der ALZ. FSs Georg Forster erscheint in Reichardts Lyceum der schönen Künste, 1. Bd., 1. Teil. FS trifft Goethe. Schiller kündigt AWS aufgrund von FSs Angriffen auf die Horen die Mitarbeit an dieser Zeitschrift. Abreise von Jena, Besuch bei Novalis in Weissenfels bis etwa 17. Juli, Ankunft in Berlin ungefähr 20. Juli.
20. Juli 1797 bis Ende August 1799: Berlin und Dresden Ende Juli 1797 August 1797 Ende August 1797 September 1797 21. September 1797
September/Oktober 1797 Oktober 1797 Anfang November 1797 21. Dezember 1797 13. Februar 1798
Reichardt führt FS in den Salon von Henriette Herz ein. FS macht die Bekanntschaft Schleiermachers in Ignaz Feßlers Mittwochsgesellschaft. Bekanntschaft mit Rahel Levin. Bekanntschaft mit Brendel (Dorothea) Veit. FS an Körner: „Ich war auf dem besten Wege von der Welt mich im Studium der Antiken zu petrifizieren. Doch hoffe ich, war es noch Zeit genung, um die Biegsamkeit des Geistes zu retten.“ Über Lessing und Kritische Fragmente erscheinen im Lyceum, 1. Bd., 2. Teil. Goethes Hermann und Dorothea als Taschenbuch für 1798 gedruckt. Bruch mit Reichardt. Einzug in Schleiermachers Dienstwohnung in Berlin. Wackenroder stirbt.
6
28. Februar 1798
April 1798 9. Mai 1798
Gegen Ende Mai 1798
Vor Mitte Juni 1798 Gegen Ende Juni/ Anfang Juli 1798 30. Juni bis Ende August
30. Juli 1798
Hans Eichner
Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, 1. Bd., 1. St.; Beginn der Drucklegung. Friedrich Nicolais Leben und Meinungen Semprosius Gundiberts erscheint. AWS schickt Goethe „das erste vollständige Exemplar des ersten Stücks vom Athenäum“; darin von FS die Einleitung zu AWSs Übersetzung von griechischen Elegien und vier Beiträge zu Novalis’ Blütenstaub. Geschichte der Poesie der Griechen und Römer. Ersten Bandes erste [und einzige] Abteilung erscheint. Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, 1. Bd. erscheint. Athenäum, 1. Bd., 2. St.; darin u. a. die Fragmente und FSs Über Goethes Meister. FS in Dresden; dort Ende August das ‚Romantiker-Treffen‘ mit AWS, Novalis, Schelling, Dorothea Veit, Caroline Schlegel, Auguste Böhmer, Rahel Levin und Johann Diederich Gries. Ernennung von AWS und Schelling als a. o. Professoren in Jena.
Im Wintersemester in Jena liest Schelling über Naturphilosophie und transzendentalen Idealismus, AWS über Ästhetik und Geschichte der deutschen Poesie. Oktober 1798
Oktober 1798 bis September 1800 20. Oktober 1798
Vor dem 22. Dezember 1798 1. Januar 1799 Februar 1799 14. Februar bis 14. Mai
In Fichtes Philosophischem Journal erscheinen ein Aufsatz von ihm und ein Aufsatz von Friedrich Karl Forberg, die Fichte den Vorwurf des Atheismus eintragen und schließlich zu seiner Entlassung führen. Jean Paul in Weimar. FS an Novalis: „Diesen Winter denke ich wohl einen leichtfertigen Roman Lucinde leicht zu fertigen.“ Einigung mit Heinrich Frölich zur Fortsetzung des Athenäums. Scheidung von Dorothea und Simon Veit. Abschriften früher Kapitel der Lucinde beginnen unter FSs Freunden zu zirkulieren. Schleiermacher in Potsdam.
Chronologie zu Leben und Werk Friedrich Schlegels
7
Knapp vor Ende Februar 1799 Athenäum, 2. Bd., 1. St. erscheint; darin von FS der Aufsatz Über die Philosophie. An Dorothea. Ende März/Anfang April 1799 Friedrich Nicolai, Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundin Julie** erscheinen. 29. März 1799 Fichte in Jena entlassen. Vor dem 29. April 1799 FS schlägt Schleiermacher das Projekt einer gemeinsamen Platon-Übersetzung vor. Gegen Ende Mai 1799 Lucinde. Ein Roman von Friedrich Schlegel. Erster Teil erscheint bei Heinrich Frölich. Anfang Juli 1799 Fichte zieht nach Berlin. Vor dem 4. Juli 1799 Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern erscheint. Anfang August Athenäum, 2. Bd., 2. St. erscheint; darin von FS Rezensionen von Schleiermachers Reden über die Religion und Tiecks Übersetzung des Don Quixote sowie zwei Preis-Aufgaben, in denen Nicolai, Ramdohr, Humboldt und Matthison verspottet werden. Vor Ende August 1799 Ludwig Tieck, Romantische Dichtungen, 1. Bd. erscheint.
Anfang September 1799 bis Ende November 1801: Zweiter Aufenthalt in Jena 2. September 1799
Gegen Anfang Oktobe 1799 6. Oktober 1799 17. Oktober 1799 26. Oktober 1799
Etwa November 1799 9. November 1799 6. Dezember 1799
Ende Dezember 1799
FS trifft in Jena ein, wo er bis September 1800 bei AWS und Caroline in der Leutragasse wohnt. Kotzebue, Der hyperboreeische Esel erscheint. Dorothea trifft in Jena ein. Tieck zieht mit seiner Familie nach Jena, wo er bis ungefähr 20. Juni 1800 bleibt. Ludwig Ferdinand Hubers Rezension von Nicolais Vertrauten Briefen erscheint in der ALZ; Anlaß zu AWSs Bruch mit der Zeitschrift. Anonym (Daniel Jenisch) Diogenes Laterne erscheint. Coup d’état in Paris; Machtergreifung Napoleons. Tieck an Sophie Bernhardi: „Schelling macht der [Caroline] Schlegel die Cour, daß es in der ganzen Stadt einen Skandal gibt.“ Schleiermachers Monologen. Eine Neujahrsgabe erscheint.
8
Vor dem 10. März 1800
März 1800
Vor Ende März 1800
Gegen Ende März 1800 29. März 1800
Anfang Mai 1800
Mai 1800 1. Juni 1800 Juni 1800 12. Juli 1800 Juli 1800
Ende Juli 1800 Vor dem 27. Juli 1800
Hans Eichner
FS schließt mit Friedrich Frommann einen Vertrag über die als Gemeinschaftsarbeit geplante Platon-Übersetzung ab, in dem Schleiermacher nicht erwähnt wird. Caroline erkrankt an einem „Nervenfieber“, reist Anfang Mai zur Erholung nach Bad Bocklet, begibt sich nach dem dort am 12. Juli 1800 erfolgten Tod Auguste Böhmers nach Bamberg, besucht im September ihre Schwester Luise Wiedemann in Braunschweig und kehrt erst am 23. April 1801 nach Jena zurück. Athenäum, 3. Bd., 1. Stück erscheint; darin u. a. FSs erstes Gedicht (An Heliodora), die Ideen und der erste Teil von FSs Gespräch über die Poesie. AWS, Gedichte. FS kündet im Intelligenzblatt der ALZ die geplante Platon-Übersetzung an, ohne Schleiermacher zu erwähnen. Schelling zieht nach Bamberg, kehrt aber, um FS nicht das Feld zu überlassen, im Oktober nach Jena zurück und nimmt seine philosophischen Vorlesungen wieder auf. Heftige Erkrankung Dorotheas. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg konvertiert. Schleiermachers Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde erscheinen. Auguste Böhmer stirbt in Bad Bocklet. AWS verläßt Jena, lebt in Bad Bocklet, Bamberg, Hannover und Braunschweig und reist am 21. Februar 1801 nach Berlin ab, wo er vom Dezember 1801 bis Ostern 1803 literaturhistorische Vorträge hält. Tiecks Poetisches Journal, 1. Stück erscheint. Athenäum, 3. Bd., 2. St. erscheint; darin von FS An die Deutschen, der Abschluß des Gesprächs über die Poesie, seine Erläuterung zu AWSs Übersetzung von Idyllen aus dem Griechischen, der Aufsatz Über die Unverständlichkeit und vier Sonette.
Ungefähr August bis Oktober 1800 FSs Liebschaft mit Sophie Mereau. 23. August 1800
FS promoviert zum Dr. phil. in Jena.
Chronologie zu Leben und Werk Friedrich Schlegels
Vor dem 24. August 1800
September 1800 18. Oktober 1800
27. Oktober 1800 bis 24. März 1801
16. Dezember 1800
Anfang 1801 Mitte Januar 1801
21. Februar 1801
Februar bis April 1801
14. März 1801
24. März 1801 25. März 1801 23. April 1801
Mai 1801 und Januar 1802
9
Johann Bernhard Vermehrens Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde zur richtigen Würdigung derselben erscheinen. Übersiedlung in eine andere Wohnung in der südöstlichen Ecke der Stadt. FS habilitiert sich in Jena. Probevorlesung Vom Enthusiasmus oder der Schwärmerei (nicht erhalten, von FS nie erwähnt). FS liest über Transzendentalphilosophie – gleichzeitig mit Schelling über dasselbe Thema – und öffentlich, d.h. gratis Über die Bestimmung des Gelehrten (nicht erhalten). Die ersten Exemplare von AWSs Ehrenpforte und Triumphbogen für den Theater-Präsidenten von Kotzebue […] werden ausgeschickt. Der 1. Band von Brentanos Godwi oder das steinernde Bild der Mutter erscheint. Vorausexemplare von Dorotheas Florentin an Freunde ausgeschickt; der Verleger des Romans, Friedrich Bohn, zeigt den Roman am 4. Februar als „soeben erschienen“ an. AWS zieht nach Berlin, ist vom 11. August bis Anfang November wieder in Jena und kehrt dann nach Berlin zurück. AWS plant eine Fortsetzung des Athenäums, die zwar von Frölich im Meß-Katalog angekündigt wird, aber nicht zustande kommt. Habilitations-Disputation mit skandalösem Verlauf. Respondent ist Friedrich Ast. Für die Kosten hatte FS über Clemens Brentano einen Wechsel in Höhe von 40 Lou-isd’or auf ein Jahr vermittelt bekommen. FS begibt sich nach Weißenfels, letztes Gespräch mit Novalis. Novalis stirbt. Caroline kehrt nach Jena zurück und zieht in das Haus in der Leutragasse ein. Beginn ihrer Hetze gegen Friedrich und Dorothea in ihren Briefen an AWS. FS erhält von Frölich Vorschüsse im Betrag von 10 Louisd’or und 55 Reichstalern für den nicht zustande gekommenen 2. Teil der Lucinde.
10
Hans Eichner
Anfang Mai 1801
Mitte Mai 1801
Gegen Ende Juli 1801 11. August bis Anfang November 1801 Oktober 1801 Anfang Oktober 1801
Anfang Dezember 1801
Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie erscheint in der Zeitschrift für spekulative Physik. Charakteristiken und Kritiken erscheinen in zwei Bänden kurz nacheinander; darin in Bd. 1 u. a. FSs Über Lessing mit einem für diese Aufsatzsammlung geschriebenen Abschluß, in Bd. 2 Bericht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio. Tieck, Poetisches Journal, 1. Heft erscheint. AWS in Jena, dann wieder in Berlin. Arbeit am Alarcos beendigt. Ungebundene Vorausexemplare des Musenalmanachs für das Jahr 1802. Hrsg. von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck verschickt; Exemplare auf Schreibpapier gab es seit November, die eigentlichen Druckexemplare auf Velin wurden erst am 26. November ausgeliefert. Darin von FS u. a.: Abendröte (Zyklus), Alte Gedichte aus dem Spanischen, Romanze vom Licht. Vermehrens Musenalmanach auf das Jahr 1802 erscheint.
2. Dezember 1801 bis Ende Mai 1802: Berlin, Dresden und Leipzig 2. Dezember 1801 bis 27. Januar 1802 2. Januar 1802
Januar 1802
Januar 1802 Ende Januar bis Mitte Mai 1802
Mitte März 1802 15. und 16. Mai
FS in Berlin, Wohnung bei Schleiermacher. Uraufführung von AWSs Ion in Weimar durch Goethe, bei Abwesenheit des Autors, am 4. Januar wiederholt. Das erste Stück des von Schelling und Hegel herausgegebenen Kritischen Journal der Philosophie erscheint. Iffland in Berlin lehnt indirekt die Aufführung des Alarcos ab. FS und Dorothea in Dresden, dann zur Ostermesse in Leipzig, von wo sie über Weimar und Frankfurt nach Paris reisen. FSs Alarcos erscheint im Verlag Unger. Aufführung des Ion durch Iffland in Berlin.
Chronologie zu Leben und Werk Friedrich Schlegels
29. Mai 1802
Anfang Juni 1802 Juni 1802
Juni 1802
Zweite Hälfte Juni 1802
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Uraufführung des Alarcos in Weimar durch Goethe, der FS auf der Reise nach Paris beiwohnt; weitere Aufführungen am 13. und 14. Juni in Lauchstädt sowie am 16. September in Rudolstadt. Schleiermacher zieht als Hofprediger nach Stolp. Geschichte der Jungfrau von Orleans erschienen (am 15. Juni 1802 in der Erlanger LiteraturZeitung angezeigt). Dorothea machte die Übersetzung, FS trug bei. Novalis, Heinrich von Ofterdingen erscheint als Einzelband, dann im Oktober nochmals als 1. Bd. seiner Schriften. Die Erlanger Literatur-Zeitung stellt ihr Erscheinen ein.
Juli 1802 bis April 1804: Paris Vor dem 18. Juli 1802
FS kommt in Paris an.
FS besucht die Pariser Kunstsammlungen und die Nationalbibliothek; seit Ende 1802 persische Studien mit Antoine-Léonhard de Chézy, dann Beginn des Sanskrit-Studiums. September 1802 24. Oktober 1802 Letzte Hälfte November 1802 bis Ostern 1803 Winter 1802/1803
Anfang 1803 Vor dem 8. März 1803
19. März 1803
Vermehrens Musenalmanach auf das Jahr 1803 an Schleiermacher geschickt. Das Manuskript zum 1. Heft der Europa „bis auf wenige Restanten“ an Wilmans geschickt. AWS hält in Berlin literaturhistorische Vorlesungen. FS hält öffentliche Vorlesungen über deutsche Sprache, Literatur und Philosophie (nicht erhalten). Novalis Schriften, 2. Bd. erscheinen. Europa. Eine Zeitschrift. Hrsg. von Friedrich Schlegel, 1. Bd., 1. Teil erscheint; darin u. a. FSs Reise nach Frankreich, Literatur und Nachricht von den Gemälden in Paris. Uraufführung von Schillers Die Braut von Messina.
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Hans Eichner
2. April 1803 15. Mai 1803 17. Mai 1803 26. Juni 1803 Sommer 1803 August 1803
30. Juli 1803 20. September 1803
Gegen Ende September 1803
Gegen Ende September 1803
25. September 1803 bis 11. April 1804
Gegen Ende 1803 1. Januar 1804
6. April 1804 Ende April 1804
Uraufführung von Goethes Die natürliche Tochter. In einem Brief an AWS letzte Erwähnung des geplanten zweiten Teils der Lucinde. AWS und Caroline geschieden. Schelling und Caroline heiraten. Helmina von Chézy zieht zu Schlegels in die Maison d’Holbach, Rue Clichy. Europa, 1. Bd., 2. Teil erscheint; darin u. a. von FS Vom Raphael, Beiträge zur Geschichte der modernen Poesie und höchstwahrscheinlich auch alle in KFSA 3, gedruckten Miszellen.4 FS schickt Wilmans die Druckvorlage der Europa, 2. Bd., 1. Teil. Ankunft der Brüder Sulpiz und Melchior Boisserée und ihres Freundes Johann Baptist Bertram in Paris. AWSs Blumensträuße italiänischer, spanischer und portugiesischer Poesie erscheinen mit der Jahreszahl 1804. Europa, 2. Bd., 1. Teil erscheint; darin von FS Nachtrag italiänischer Gemählde, Probe einer metrischen Übersetzung des Racine und die Vorerinnerung zu Achim von Arnims Erzählungen von Schauspielen. Privatissimum für die Brüder Boisserée und Bertram über die Geschichte der europäischen Literatur und der griechischen Philosophie. Schleiermachers Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre erscheinen. Die ALZ übersiedelt nach Halle. Die erste Nummer der von Goethe gegründeten Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung erscheint. Taufe Dorotheas und Trauung mit FS. FS reist mit den Brüdern Boisserée und Bertram durch Belgien über Aachen und Düsseldorf nach Köln; Dorothea folgt Ende Mai/Anfang Juni.
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Vgl. KFSA Bd. 3. Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken II (1802–1829). Hrsg. und eingeleitet von Hans Eichner. 1975, S. 345–349.
Chronologie zu Leben und Werk Friedrich Schlegels
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April 1804 bis April 1808: Köln Wahrscheinlich Mai 1804 18. Mai 1804 Etwa 22. Mai 1804
Lessings Gedanken und Meinungen […] erläutert von Friedrich Schlegel erscheinen. Napoleon wird erblicher Kaiser (Krönung am 2. Dezember 1804). AWS kommt in Mme de Staëls Schloß in Coppet an.
Tiecks Kaiser Oktavian erscheint zur Ostermesse 1804. Wahrscheinlich gegen Mitte Juni 1804 – durch den Aufenthalt in Coppet und Paris vom September 1804 bis März 1805 unterbrochene und nach der Rückkehr nach Köln (10. März 1805) wieder aufgenommene – Vorlesungen für die Boisserées über die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern. 28. Juni bis 8. September 1804
Ungefähr September 1804
1. August bis Anfang Oktober 1804 19. September 1804
Gegen Ende Dezember 1804
16. Dezember 1804 Januar 1805 bis etwa Juni 1805 Ungefähr 10. März 1805
9. Mai 1805 Juni bis mindestens Mitte August 1805
Wiederholung „mit Veränderungen“ der für die Boisserées in Paris 1803/04 vorgetragenen Geschichte der europäischen Literatur. Sammlung romantischer Dichtungen des Mittelalters. Hrsg. von Friedrich Schlegel, 2 Bde., übersetzt von Helmina von Hastfer und Dorothea mit geringfügiger Beihilfe FSs. Mme de Staël und AWS in Genf. FS reist nach Genf ab, wo er sich nach ungefähr achttägiger Reise mit AWS und Mme de Staël trifft, dann 2. Oktober bis 8. November 1804 in Coppet, danach zum Zweck seiner Sanskrit-Studien in Paris und erst etwa 10. März 1805 wieder in Köln. Europa, 2. Bd., 2. Heft; darin u. a. FSs Zweiter Nachtrag italiänischer Gemählde, Dritter Nachtrag alter Gemählde. Johann Friedrich Gottlob Unger stirbt. Mme de Staël und AWS in Italien. FS wieder in Köln; wahrscheinlich Wiederaufnahme des Privatissimums über die Entwicklung der Philosophie. Schiller stirbt. wahrscheinlich öffentliche Vorlesungen über deutsche Sprache und Literatur.
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Ende September 1805 September 1805 2.–12. Oktober, 26. November bis 12. Dezember 1805, 16. Januar bis 18. März und 2. Juni bis 1. Juli 1806 Gegen November 1805 bis gegen Ende Juli 1806
27. Juni 1806 Gegen Ende Juli 1806 29. Juli 1806
6. August 1806
14. Oktober 1806 14. Oktober 1806 31. Oktober 1806 Anfang März 1807 12. Juni bis 21. August 1807
Vor dem 8. Oktober 1807
Hans Eichner
Poetisches Taschenbuch für das Jahr 1806 erscheint. Des Knaben Wunderhorn, 1. Bd. erscheint (mit der Jahresangabe 1806).
Privatissimum über Universalgeschichte für die Boisserées, Bertram und vielleicht auch Wallraf. Kolleg an der Kölner École secondaire provisoire über Propädeutik und Logik mit einem Anhang zur Kritik der philosophischen Systeme. Gründung des Rheinbunds. FS wird in Köln eine Professur der Logik angeboten. FS reist mit Philipp Veit nach Frankfurt, wo er den Knaben seinem Vater übergibt, und besucht dann Karl von Hardenberg auf dessen Gut in Unterzell bei Würzburg. Von dort kehrt er erst Ende September/ Oktober über Dresden und Frankfurt nach Köln zurück. Aber noch vor Ende Oktober reist er wieder ab, vom 6.–26. November weilt er in Paris und macht dann bis zum April 1807 einen langen Besuch bei Mme de Staël auf Schloß Accosta in Aubergenville, wo er ihr eine Privatvorlesung über Métaphysique hält. Im März 1807 reist er nach Paris weiter und kehrt erst Anfang Mai 1807 nach Köln zurück. Franz II. (Franz I. als Kaiser von Österreich) verzichtet auf die römisch-deutsche Kaiserkrone. Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Schlacht bei Jena und Auerstedt. Goethes Trauung mit Christiane Vulpius. Sophie Brentano-Mereau stirbt. Rostorfs Dichter-Garten Erster Gang erscheint mit vielen Beiträgen FSs. Privatissimum Über deutsche Sprache und Literatur für die Boisserées und ihre Freunde in Köln. Abschluß der Arbeit an dem Buch Über die Sprache und Weisheit der Indier, das aber am 1. Dezember noch nicht ganz abgeschrieben ist.
Chronologie zu Leben und Werk Friedrich Schlegels
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Mme de Staël ist vom 28. Dezember 1807 bis zum 22. Mai 1808 in Wien. AWS weilt vom 14. Januar 1808 bis 23. Mai 1808 in Wien, wo er ab 31. März 1808 seine 15 Vorlesungen hält. Mme de Staël verläßt am 22. Mai Wien und läßt ihren Sohn Albert zurück, der dort die Kadettenschule besucht. Anfang Februar 1808
16. März 1808
17. März 1808
April 1808 Juni 1808 16. April 1808 24. April 1808
FSs Schrift Über die Sprache und Weisheit der Indier im Morgenblatt als „vollendet“ angekündigt. FSs Rezension von drei Schriften Fichtes dem Verleger der Heidelbergischen Jahrbücher der Literatur, Johann Georg Zimmer, geschickt und ziemlich prompt gedruckt. Die Vorrede zu dem Indier-Buch abgeschickt, das am 21. April 1808 im Morgenblatt angezeigt wird und gegen Ende April erscheint. Goethes Faust. Eine Tragödie erscheint. FSs Rezension von Stolbergs Geschichte der Religion Jesu Christi erscheint. FS wird katholisch getauft. FS verläßt Köln und reist über Frankfurt, Weissenfels, Weimar (5.–6. Mai), Leipzig, Dresden (16. Mai–17. Juni) und Prag nach Wien, wo er am 22. Juni eintrifft.
Juni 1808–April 1809: Wien 18. Juli 1808
FSs Rezension von Stolbergs Geschichte der Religion Jesu Christi ist „eben erschienen“.
Dorothea ist vom 26. September bis zum 22. Oktober 1808 bei Ernsts in Pillnitz zu Besuch und kommt in Wien am 31. Oktober oder 1. November an. Ende März 1809 4. April 1809 Ende April 1809
FSs Gedichte (Berlin, bei Eduard Julius Hitzig) ausgedruckt. FS als Hofsekretär bei der Armee-Kommission angestellt. Der erste Band von AWSs Wiener Vorlesungen Über dramatische Kunst und Literatur wird Ende April 1809 ausgedruckt, aber erst im September 1809 ausgegeben. Der zweite Band folgt Mitte November 1809, der dritte erst 1811.
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Hans Eichner
Etwa 6. April bis etwa 18. Dezember 1809: Im Armee-Hauptquartier 5. April 1809 9. April 1809 April 1809
21.–22. Mai 1809 24. Juni bis 16. Dezember 1809 5.–6. Juli 1809 12. Juli 1809 27. August bis 5. November 1809 7. September 1809 12. Oktober 1809
FS reist zum Armeehauptquartier. Kriegserklärung Österreichs; das berühmte Kriegs-Manifest schrieb Friedrich Gentz. Schellings Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit erscheinen im 1. Bd. seiner Philosophischen Schriften. Schlacht bei Aspern (Sieg Erzherzog Karls). FS gibt die Österreichische Zeitung heraus. Schlacht bei Wagram (Sieg Napoleons). Waffenstillstand von Znaim.
Dorothea besucht FS in Buda und Pesth. Caroline Schelling stirbt. Metternich wird zum leitenden Minister in Österreich. 14. Oktober 1809 Friede von Schönbrunn. Ungefähr 18. Dezember 1809 FS wieder in Wien. 18. November 1809 Goethes Wahlverwandtschaften erscheinen.
Dezember 1809–1829: Vornehmlich in Wien 23. Januar 1810 19. Februar bis 9. Mai 1810 11. März 1809 9. Juni 1810 26. Juli 1810 25. September 1810 Oktober 1810 bis April 1813 Ende Oktober 1810 Gegen Ende 1810
21. Januar 1811 11. März 1811 29. April 1811
Johann Wilhelm Ritter stirbt. FS hält seine Vorlesungen Über die neuere Geschichte. Napoleon heiratet Erzherzogin Maria Louise. Philipp Veit konvertiert. Jonas Veit konvertiert. Konfiskation von Mme de Staëls De l’Allemagne. Eichendorff in Wien. Mme de Staëls De l’Allemagne erscheint in London. AWSs Vorlesungen Über dramatische Kunst und Literatur, 3. Bd. erscheint (mit der Jahreszahl 1811). Schlegels Mutter Johanna Christiane Erdmuthe Schlegel stirbt. Achim von Arnim heiratet Bettina Brentano. FS schickt AWS die beiden ersten Exemplare der Vorlesungen Über die neuere Geschichte.
Chronologie zu Leben und Werk Friedrich Schlegels
Mai 1811 bis 6. April 1813 3. Juli 1811 August 1811 bis März 1813 Oktober 1811
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Philipp Veit in Wien. AWS in Wien; am 27. Juli wieder in Coppet. Theodor Körner in Wien. FS und Dorothea übersiedeln in eine neue Wohnung (Neutor-Bastei Nr. 1244). 1812–1813 FSs Deutsches Museum erscheint monatlich. 4. Januar 1812 FS nennt Schleiermacher in einem Brief an die Brüder Boisserée einen „Potrimpos“ (prussischen Gott) und plant Schriften gegen ihn und Schelling. 27. Februar bis 30. April 1812 FS liest über die Geschichte der alten und neuen Literatur (im Druck erschienen erst im Spätherbst 1814 mit der Jahreszahl 1815). Gegen Ende 1812 Schellings Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen erscheint. 10. Mai 1812 Schelling heiratet Pauline Gotter. 14. Mai bis 11. Juni 1812 Adam Müller hält 12 Reden über die Beredsamkeit und deren Zerfall in Deutschland. 6. Juni 1812 Mme de Staël und AWS sind auf der Flucht vor Napoleon in Wien angekommen und reisen Ende des Monats nach Schweden und England weiter. Sommer 1812 FS verbringt einen Teil des Sommers in Heiligenstadt; Kontakt mit Friedrich Gentz, Adam Müller und Alois von Pilat. 14. September 1812 Napoleon zieht in Moskau ein. 12. Februar 1813 Preußische Mobilmachung. 2. Mai 1813 Schlacht bei Lützen. 4. Juni 1813 Waffenstillstand. 11. August 1813 Kriegserklärung Österreichs an Frankreich. Ab Oktober 1813 FS hat politische Aufträge und verfaßt Denkschriften für Metternich. 16.–19.10.1813 Völkerschlacht bei Leipzig. 10. März 1814 Paris kapituliert. 11. April 1814 Napoleon dankt ab. 18. September 1814 Eröffnung des Wiener Kongresses. Ende Oktober 1814 Der erste Band von FSs Geschichte der alten und neuen Literatur erscheint, nachdem er im Bücherverzeichnis der Leipziger Ostermesse schon im April 1814 angezeigt worden war. 1. Juni 1815 Unterredung mit Metternich. 18. Juni 1815 Schlacht bei Waterloo. 11. August 1815 FS erhält den päpstlichen Christus-Orden. 19. August 1815 Philipp Veit reist von Wien in Richtung Rom ab.
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Hans Eichner
4. Oktober 1815
FS wird zum Legations-Sekretär bei der Österreichischen Gesandtschaft am Frankfurter Bundestag ernannt.
20. November 1815 bis 10. November 1818: Frankfurt (einschließlich der Hin- und Rückreise) 27. November 1815 Ab Anfang 1816 17. April 1816 5. November 1816 14. Juli 1817 23. Januar 1818
6. April 1818 20. oder 21. April 1818
14. Mai 1818
13.–18. Juni und 15.–20. Juli 22. Juli bis 5. August 1818 30. August 1818 6. September 1818 Gegen September 1818 25. Februar 1819 bis 21. Juli 1819 21. Juli 1818 2. März 1819
FS kommt in Frankfurt an. Ausführliche Berichte an Metternich aus Frankfurt. Dorothea kommt in Frankfurt an. Eröffnung des Bundestages in Frankfurt. Mme de Staël stirbt in Paris; AWS kehrt nach Deutschland zurück. FSs Chef Johann Rudolf von Buol-Schauenstein, der die Stelle für seinen Sohn haben will, beantragt FSs Abberufung. Kaiserliche Genehmigung von FSs Abberufung. Dorothea tritt die Reise zu ihren Söhnen in Italien an, von wo sie erst Ende Juni 1820 nach Wien zurückkehrt. FS begleitet sie bis nach Heidelberg. AWS kommt aus Paris in Frankfurt an und macht vom 23. Mai bis zum 3. Juni eine Rheinreise mit FS. Im Sommer leiht er FS 200 Fl., damit dieser seine dringendsten Schulden bezahlen und Frankfurt verlassen kann. FS in Wiesbaden, wo ihm die Bäder „unglaublich wohltätig sind“. FS in Heidelberg. AWS heiratet Sophie Paulus, die ihn Anfang November verläßt. FS spricht mit Metternich auf dem Johannisberg. FS lernt Franziska von LeĞniowska kennen. FSs italienische Reise.5 FS wohnt zunächst bei Pilat, dann zusammen mit Bucholtz in der Spiegelgasse. Karl Ludwig Sand ermordet Kotzebue.
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Zu den Daten vgl. KFSA Bd. 4. Friedrich Schlegel: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst. Hrsg. und eingeleitet von Hans Eichner. 1959, S. XXXVI–XLII.
Chronologie zu Leben und Werk Friedrich Schlegels
10. August 1819
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FS schickt Metternich seine Schrift Zu dem Gesetz über Preßfreiheit, Zeitungen und politische Flugschriften. 1. Oktober 1819 Simon Veit stirbt. Gegen April/Mai 1820 FSs Rezension von Johann Gottlieb Rhodes Schrift Über den Anfang unsrer Geschichte und die letzte Revolution der Erde (Breslau 1819) erscheint. Ende Mai 1820 bis April 1826 Magnetische Behandlung der Franziska von Lésniowska. Anfang August bis Ende Dezember 1820 Die ersten fünf Hefte von FSs Zeitschrift Concordia erscheinen; das sechste und letzte Heft erscheint erst Ende August 1823. In dieser Zeitschrift von FS vor allem im 1., 3. und 6. Heft die Abhandlung Signatur des Zeitalters. 8. Juli 1820 Dorothea wieder in Wien. 10. Juli 1820 FSs „Bearbeitung“ des ersten Teils seiner Geschichte der alten und neuen Literatur für seine Sämtlichen Schriften. 11. Januar 1821 Karl Wilhelm Ferdinand Solger an Tieck: „Die Oberflächlichkeit seines Buchs über die Indier ist gar nicht auszusprechen, und geht weit über meine Vorstellung, wenn ich die Sachen näher erforsche.“ 29. Januar 1821 Schelling an Per Daniel Atterbohm: „Wie Sie mir Fr. Schlegel [in einem nicht erhaltenen Brief] schildern, habe ich ihn genau [im November 1820] gefunden, und fast der bloße Anblick reichte hin, die entschiedne Abstoßung hervorzurufen. Eine solche entsetzliche Veränderung habe ich nie gesehen; was er auch unternehmen möge, von diesem Menschen kann nie mehr, ohne Wunder, etwas Reines kommen.“ Gegen Ende Mai 1821 FSs Sämtliche Schriften, Zweite, verbesserte und vermehrte Ausgabe, 1. Bd. erscheinen. 24. März 1822 Börne an Jeanette Wohl: „Erst neulich sagte mir Cotta, Friedrich Schlegel wäre ihm mehrere tausend Gulden schuldig, die er sich auf seine herauszugebenden sämtlichen Werke habe vorschießen lassen. Und hintendrein hat er seine Werke einem andern Buchhändler verkauft […].“
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Frühjahr 1822
7. Mai 1822
1822 Frühjahr 1823
Ab 20. September 1824 Ende September 1824 23. November 1824 19. August bis 26. September 1825
Hans Eichner
Bd. 3–4 von FSs Sämtliche Schriften (Studien des klassischen Altertums) erscheinen; der 3. Bd. fast fertig. F. S. J. W. Bruchmann an seinen Vater: „Es waren noch Staatsbeamte hier [in Wien], die wirklich in einem höhern Sinne handelten; die den Staat in Verbindung mit der Religion betrachtend von einer großen leitenden Idee ausgingen. Dies waren die Diplomaten, und unter ihnen der Riesengeist – – Schlegel. […] Diesen Winter kam ich öfters zu Schlegel, und teils mit ihm allein, teils in den dortigen Abendgesellschaften konversierend.“ FSs Ueber Jacobi in den Wiener Jahrbüchern der Literatur. FS, Sämtliche Schriften, Bd. 5–9 erscheinen. Da sich die Verleger der Ausgabe, Jakob Meyer und Schmidl, zerstreiten, erscheint der 10. Bd. erst im Frühjahr 1825. Sechswöchiger Besuch in Dresden bei Charlotte Ernst. FS übersiedelt ins Haus Caroline Pichlers. Matthäus von Collin stirbt.
FS und Christine Stranski treffen sich in Kreuth und München. Mitte bis 26. September 1825 FS in München, wo er sich u. a. mit Schelling und Ringseis trifft; Rückreise über Salzburg, Ankunft in Wien 11. Oktober. 14. November 1825 Jean Paul stirbt. Vor dem 3. Juni 1826 Moritz Schlegel stirbt. 17. Mai 1826 Ludwig Emanuel Ernst stirbt. 25. Mai 1826 Charlotte Ernst stirbt. Juli bis September 1826 Sommerurlaub in Perchtoldsdorf. 26. März bis 31. Mai 1827, dienstags und donnerstags, mit kleineren Unterbrechungen FS hält Vorlesungen über Philosophie des Lebens. Spätestens Mitte April 1827 21. August bis gegen Ende September 1827 November 1827 Gegen Ende Januar 1828
Vorabdruck der ersten drei Vorlesungen erscheint. FS und Dorothea in München und Augsburg. FS unwohl („Magenübel“). FSs Philosophie des Lebens, gehalten zu Wien im Jahre 1827 erscheint.
Chronologie zu Leben und Werk Friedrich Schlegels
Vor dem 21. März 1828 31. März bis 30. Mai 1828 10. September 1828 Ende Oktober 1828 Ende Oktober 1828 Dezember 1828 5. Dezember 1828 bis 10. Januar 1829
11. Januar 1829
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AWSs Berichtigung einiger Mißdeutungen. FS liest über Philosophie der Geschichte. Der erste Band der Vorlesungen über Philosophie der Geschichte ist ausgedruckt. FSs Philosophie der Geschichte. In achtzehn Vorlesungen […], 2 Bde., erscheint. FS reist nach Dresden ab. Wiedersehen mit Tieck. FS hält Philosophische Vorlesungen insbesondere über die Philosophie der Sprache und des Wortes. FS stirbt in der Nacht vom 11. zum 12. Januar 1829 in Dresden.
Nachrufe und Gegenschriften 20. Januar 1829
[Pilat], Nekrolog im Österreichischen Beobachter. 25.–27. Januar 1829 [Böttiger], Friedrich von Schlegel. 6. Februar 1829 Korrespondenznachrichten. 10. Februar 1829 [Hormayr], Korrespondenz. 18. Februar 1829 [Görres], Über das Recht der Toten. 27. Februar 1829 Fr. L. Lindtner, Das Recht der Lebenden. 28. Februar 1829 W. B. Mönnich, Das Recht der Lebenden. 4.–6. März (23. Februar) 1829 Böttiger, Erklärung. 5. März–01. April 1829 Prokop Freiherr von Freyberg-Eisenberg, Denkmal für Friedrich Schlegel. 13.–16. März 1829 Bucholtz, Zur Erinnerung an Friedrich von Schlegel. Wahrscheinlich gegen Ende März 1829 K. H. Burchard, Friedrich von Schlegels Tod. Friedrich Baron de la Motte Fouqué Erinnerung an edle Verstorbene. Friedrich Schlegel.
Hildegard Baumgart
Ein Künstler, zwei Frauen und die Sinnlichkeit „Raphael und seine Nachbarinnen“, 1823
Bettine hat mit ihrem Monument unter der Hand eine Theorie über das Entstehen von Kunst vorgeführt. Der vom Geist durchwehte Künstler bringt Klang und Werk mit Hilfe der Psyche in die Welt, weil sie in die Saiten greift. Die Gestalten, die Goethe geschaffen hat, von denen wichtige auf dem Monument erscheinen – Mignon und die Gauklerin Bettine, von allen Goethefiguren die zweideutigsten –, sollen auf diese Weise entstanden sein. Die kleine Psyche hat mit Amor noch nichts zu tun, sie ist unschuldig und kindlich, nichts Derbsinnliches stört den Einklang von Schöpfer und Verwirklichung. Von der zugleich zarten und kühnen Doppeldeutigkeit, die Bettine in Kunst und Leben praktizierte, ist in ihrem Entwurf nicht nichts, aber besonders wenig zu spüren. Es ist eine naive idealistische Sicht auf Künstler und Werk und läßt sich, wie von den Kritikern bemerkt, in einer gleichsam fleischlosen Zeichnung besser darstellen als im „Runden“.1
Raphael und seine Nachbarinnen, eine Lieblingsarbeit Auch Arnim beschäftigte sich zur gleichen Zeit zum erstenmal seit den Kronenwächtern wieder mit der Künstlerthematik. In der Erzählung Raphael und seine Nachbarinnen2 geht es nicht um Dichtung, sondern um Malerei, aber die Beziehung zwischen Künstler und Werk ist mit unvergleichlich größerer Lebendigkeit aufgefaßt als in Bettines Skulptur und zweifellos aus persönlicher Erfahrung heraus erzählt. Bettine lebte – noch, später würde sich das ändern – neben
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1
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Das bisher 23. Kapitel eines Buches über die Arnims während der Ehezeit. Christian Daniel Rauch an Carl Ritter, 10.2.1822: Der Einfall Bettines, schreibt Rauch, hätte ihn interessiert, wenn er ihn selber hätte realisieren sollen. Aber da „Frau Bettina von Arnim und Herr p. Wichmann“ sich schon darangemacht hätten und das Ganze „als ein rundes Skulpturwerk [...] weder schön noch brauchbar“ sei, werde er die Arbeit nicht übernehmen. In: Karl Eggers: Rauch und Goethe. Urkundliche Mittheilungen. Berlin: Fontane 1889, S. 97f. Genaueres darüber enthält das vorhergehende Kapitel meines entstehenden Buches. Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack, Paul Michael Lützeler, Renate Moering, Ulfert Ricklefs, Hermann F. Weiß. Bd. 4. Achim von Arnim: Sämtliche Erzählungen 1818–1830. Hrsg. von Renate Moering. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 259–315, künftig: Arnim: Werke Bd. 4.
Hildegard Baumgart
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der Kunst, als Beobachterin, Beschreiberin und Bewunderin. Sie blieb, was sie immer wieder betonte, Dilettantin. Arnim dagegen mußte sich damit herumschlagen, Kunst als Hauptsache zu machen, getrieben von innen, gehemmt von außen. Vor allem war er gequält von der seiner Kunst innewohnenden Spannung zwischen Harmonie und Schönheit und deren unheimlichen, abstrusen und oft auch komischen Untergründen. Seit 1821 beschäftigte Arnim diese „Lieblingsarbeit“3 über den von den Romantikern besonders verehrten Maler Raffael4 (1483–1520). Sein Verleger und Lektor Wendt, in dessen Zeitschrift5 die Erzählung 1823 erschien, hätte die neutralere Überschrift Aus Raphaels Leben lieber gesehen, aber Arnim blieb mit Recht bei seinem ursprünglichen Vorschlag, eben Raphael und seine Nachbarinnen, der fröhlicher, alltäglicher und interessanter klingt und zudem das zentrale Thema deutlicher bezeichnet: Raphael hat zwei Nachbarinnen, zuerst Mädchen, dann erwachsene Frauen, die, jedenfalls nach Arnims Ansicht, zwei Pole von Raffaels Lebens und Kunst bezeichnen: ungehemmte Sinnlichkeit und heilige geweihte Liebe. Der Beginn der Geschichte gehört, wie einige andere Jugendszenen in seinem Werk – in Isabella von Ägypten, in den Kronenwächtern, besonders im Anton-Roman, aber auch in der Päpstin Johanna – zum Bezauberndsten, was Arnim geschrieben hat. Es geht um drei ganz junge Leute in Urbino: Raphael selbst, vielleicht sechzehnjährig; Ghita, die Tochter eines Bäckers, etwas älter, denn sie ist schon „in der reichen Fülle jungfräulicher Entwicklung“;6 und Benedetta, Töpferstocher, sehr zart und trotzdem von ihrem Vater zu schwerer nächtlicher Arbeit angehalten, sicher nicht älter als fünfzehn. Beide Mädchen wohnen nebenan und bereiten für die Feueröfen ihrer Väter zu frühester Morgenstunde Teig und Ton vor. Benedetta muß Teller vor dem Brennen bemalen und schläft dabei oft wieder ein. Raphael kann Ghita nicht leiden, sie ist ihm zu zudringlich, aber Benedetta gehört sein Herz. Um ihr zu helfen, klettert er über die Mauer vor seinem Fenster auf die Keule einer marmornen Herkulesstatue (der Töpfervater ist im Nebenberuf Kalkbrenner und verarbeitet dafür antiken Marmor) und dann in den Hof der Nachbarn hinunter. Er bemalt dort die bereitstehenden Teller und ist wieder weg, als Benedetta schlaftrunken zur Arbeit kommt. Sie schreibt die schönen Malereien der Hilfe von Engeln zu. Die Tonwaren sind auf dem Markt sofort sehr begehrt, es ist „Raphaels erster Malertriumph“,7 er schwebt in allen
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Reinhold Steig und Herman Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Bd. 1–3. Bd. 3: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Stuttgart, Berlin: Cotta 1904. (Künftig: Steig 3), S. 538, Arnim an Jacob und Wilhelm Grimm, 29.1.1824. Im Folgenden schreibe ich Raphael, wenn die Figur der Erzählung gemeint ist, Raffael, wenn es sich um den historischen Maler handelt. Das Taschenbuch zum geselligen Vergnügen, das jeweils am Ende des Jahres für das nächste erschien. Die Raphael-Novelle erschien also 1823 im Taschenbuch zum geselligen Vergnügen auf das Jahr 1824. Arnim veröffentlichte bei Wendt seit 1819: Die MajoratsHerren 1819, Owen Tudor 1820, Die Kirchenordnung 1821. Arnim: Werke Bd. 4, S. 266. Ebd., S. 269.
Ein Künstler, zwei Frauen und die Sinnlichkeit
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Himmeln, und als Ghita, die mit ihren runden Armen frisches Brot verkauft, ihm einen Kranz aufsetzt – ohne etwas zu wissen, einfach aus erotischer Freundlichkeit – ist er ihr schon weniger böse. Benedetta, die vorher recht banal gepinselt hat, ahmt seine Arbeiten so getreu und geschickt nach, daß er sie von seinen eigenen nicht unterscheiden kann. Der erste Teil der Erzählung ist überschrieben Zu Raphaels Psyche, der zweite Zu Raphaels Madonnen und der dritte Zu Raphaels Verklärung. Arnim bezieht sich also auf Werke Raphaels – die Fresken über das antike Märchen von Psyche und Amor in der römischen Villa Farnesina;8 die berühmten Madonnen; und Raffaels letztes und vielleicht bedeutendstes Bild, die Verklärung Christi. Aber die Überschriften sind doppeldeutig. Sie meinen auch Zustände von Raphaels Kunst und Biographie. Arnim kannte Raffaels Werk vermutlich sehr gut. Als er 1803 in Paris war, hatte er Gelegenheit, viele Bilder von ihm zu sehen, die Napoleon zusammengetragen hatte – Beutekunst aus mehreren Ländern Europas. Außerdem waren Raffaels Werke schon zu seinen Lebzeiten und unter seiner Aufsicht in Kupferstichen abgebildet und verbreitet worden. Arnim sammelte, so lange er Geld hatte, Kupferstiche und begleitete mit großem Interesse als Zuschauer und Rezensent die Bewegungen der aktuellen Kunst seiner Zeit. 1820 wurde der 300. Todestag Raffaels gefeiert und rückte den Künstler zweifellos auch in Arnims besondere Aufmerksamkeit. Für einen Kunsthistoriker muß die Geschichte höchst merkwürdig wirken. Arnim geht assoziativ mit den angeschlagenen Themen um und erklärt Raffaels Werke ohne historische Zuverlässigkeit aus Charakterzügen und Ereignissen, die er teils erfand, teils aus der Raffael-Literatur hatte, besonders aus der berühmten Lebensbeschreibung Giorgio Vasaris von 1550.9 Was ihn beschäftigte, war ein zentrales Thema aller Kunst, auch seiner eigenen: wie sind die Beziehungen zwischen Erfahrung und Produktion? Wie die zwischen (beweglicher) Sinnlichkeit und (festlegender) Gestaltung? Wie die zwischen dem „thierischen Element“10 und der geistigen oder geistlichen Aufgabe, die sich der Künstler stellt?
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Die neue Villa des reichsten Mannes von Rom, Agostino Chigi, in Trastevere wurde 1517/18 anläßlich von dessen Hochzeit von Raffael und seinen Mitarbeitern in einer Loggia durch viele Szenen aus der Amor-und-Psyche-Geschichte geschmückt. Dieses Märchen aus dem Goldenen Esel des Apuleius ist relativ neu, es stammt aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert, hat aber einen grundsätzlichen Konflikt in der Liebesauffassung der europäischen Kultur derartig schlüssig benannt, daß es großen Einfluß gewann und bis heute viele Veränderungen und Fortentwicklungen erfuhr – wie ein echter, seit Urzeiten tradierter Mythos (etwa seelische und sinnliche Liebe, Vertrauen und Verdacht, Einsamkeit und gesellige Einbindung der Liebe, sich selbst gehören und dem andern verpflichtet sein, Liebe zwischen Erwachsenen und Kindern...). Giorgio Vasari: Das Leben des Raffael. Neu übersetzt von Hana Gründler und Victoria Lorini, kommentiert und herausgegeben von Hana Gründler. Berlin: Wagenbach 2004, künftig: Vasari. Arnim an Jacob und Wilhelm Grimm, 29.1.1824, Steig 3, S. 537f.
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Arnim verband in seiner Raphael-Geschichte die Ambivalenz in der Kunst mit einem Bereich, der ihn in Kunst und Leben immer wieder beschäftigte: seine zwiespältige Haltung zu Frauen. Bereits in der langen Zeit vor der Ehe kamen in seinen Liebesbriefen an Bettine bei aller Leidenschaft immer wieder Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit zum Ausdruck, sogar Vorwürfe wegen ihrer zu sorglosen Sinnlichkeit.11 Wie sehr sie ihn anzog, ist trotz aller depressiven Nörgelei, trotz aller Konflikte in den zwanzig Ehejahren immer wieder zu spüren, nicht nur an den letzten drei Kindern, die zweifellos nicht „gewollt“ waren, besonders (wenn es denn noch ein „besonders“ gibt) Bettines Spätkind Gisela, geboren 1827, als sie schon 42 war, dem dann freilich ihre ganze Liebe galt. Raphael und die beiden Mädchen, Benedetta und Ghita also, haben ein vielschichtiges gemeinsames Erlebnis: im Hof des kalkbrennenden Töpfervaters steht eine Göttinenstatue, in der Raphael beim ersten Anblick Benedetta zu sehen meint: die herrliche Gestalt [...], die Zierlichkeit des anliegenden, gleichsam nassen Gewandes, das wie von starkem Nachttau durchdrungen schien, den Ernst der Züge, die entweder warnend oder segnend erhobenen beiden Finger der rechten Hand.12
Der große Junge, der hier zum jungen Mann wird, glaubt also einen Augenblick lang seine – allererste – Geliebte so schön und so leibhaftig und so mit sich allein zu sehen wie nie zuvor. Die zarten weiblichen Formen sind doppelt anziehend durch die „Zierlichkeit“ der Verhüllung. Aber im gleichen Augen-Blick macht ihr makelloser Ernst sie heilig. Die Hand ist im Redegestus erhoben: „der eine Arm des Marmorbildes war sanft erhoben, der Zeigefinger ausgestreckt“.13 Was will sie sagen? „Diese Statue,“ fährt der Erzähler fort, „war die erste, die vor seinen Augen nicht Stein geblieben, nicht Fleisch geworden war, sondern Seele.“14 Die Überschrift dieses ersten Abschnittes lautet, wie gesagt: Zu Raphaels Psyche. Raphaels eigene Seele wird für immer geprägt sein durch diese Erfahrung eines von der Kunst durchleuchteten Leibes. „Dieses Fleisch ist Geist geworden“, sagt auch Arnim, in ganz anderm Zusammenhang, in seiner ganz anderen Eigenart, ruhiger, zarter, komplizierter als die dezidierte Bettine, aber doch: wie seine Frau. Dem anschließenden Teil, Zu Raphaels Madonnen, liegt eine etwas sonderbare Auffassung Arnims zugrunde. Er schreibt 1822, als die Geschichte bis auf einige kleine Änderungen fertig war, an Ludwig Grimm: Ganz gewiß gehörte es nicht zu den Vollkommenheiten Raffaels, daß er so verschiedenartige Gesichter zu Madonnen erhob, sondern zu der Zerstreuung und Zerstörung, die in seinem Leben waltet; nicht, daß ich wünschte, er hätte eins dieser Gesichter weniger
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Hildegard Baumgart: Bettine Brentano und Achim von Arnim. Lehrjahre einer Liebe. Berlin: Berlin Verlag 1999. Vgl. besonders S. 288–292. Arnim: Werke Bd. 4, S. 268. Ebd., S. 277. Unterstreichung von Arnim, ebd., S. 268.
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gemalt, sondern nur, weil ich mich wundere, daß er sie alle für Madonnen halten konnte, da in manchen eher etwas von einer Potiphar15 zu finden.16
Hatte Arnim da möglicherweise die ganz unindividuellen und niemals sinnlichen Heiligen und Madonnen seiner eigenen Zeit, besonders der Nazarener im Sinn? Damit haben Raffaels blonde junge Gottesmütter zum Glück wenig zu tun. Sie sind Frauen von Fleisch und Blut, nicht nur ergebene Repräsentantinnen göttlicher Vorhaben, sondern bei aller Jugend schon von einem irdischen Schicksal gezeichnet. Die Lebensechtheit von Raffaels Kunst war einer der wichtigsten Fortschritte in der Malerei, der von seinen Zeitgenossen sofort erkannt und im höchsten Maße bewundert wurde.17 Die „Zerstreuung und Zerstörung“ seines Lebens außerhalb der Kunst hat Arnim viel mehr betont als Vasari selbst, von dem er den Hinweis auf Raffaels geradezu fanatische Sinnlichkeit und seine Neigung zu Exzessen übernommen hat. An einer solchen Maßlosigkeit, so Vasari, sei Raffael an seinem 37. Geburtstag, Karfreitag 1520, in Rom gestorben. Die „Zerstreuung und Zerstörung“ Raffaels ist das eigentliche Thema von Arnims Erzählung. Sie sei eine der Grundlagen seiner Kunst, behauptet der dichtende Arnim. Wie sein Raphael am Ende seines kurzen Lebens durch menschliche Hilfe, göttliche Gnade und die übermenschliche, unablässige Anstrengung der Kunst schließlich die Rettung erlangt, das zeigt der dritte Teil, Zu Raphaels Verklärung. Es geht um das ungeheure Bild der Transfiguration, der Verklärung Christi,18 aber eben auch um Raphaels eigene Verklärung, die seiner Liebe zu den Frauen und eigentlich um seine Aufhebung im dreifachen Hegelschen Sinn (negare, conservare, elevare).19 Woher nahm Raphael seine Madonnen? Es geht hier nicht um Filiationen in der Malerei, sondern um die ausgedachte Lebensgeschichte, die Arnim brauchte, um seine Auffassung vom Zusammenhang zwischen Erfahrung und Kunstwerk zu zeigen. In einer weiteren Nacht im mondbeleuchteten Nachbarshof trifft der junge Maler seine beiden Mädchen wieder, er will Benedetta einen glückbringenden Ring schenken. Sie ist zu bescheiden und hält die Hände vors Gesicht. Aber Ghita greift nach dem Ring. Raphael läßt ihn der Statue auf den
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Arnim meint Potiphars Weib aus der biblischen Geschichte von Joseph – die Frau, die den frommen Joseph verführen will und ihn, als er sie abweist, durch ihre Verleumdung ins Gefängnis bringt (1. Mose 1,20). Raimund Pissin: Zehn ungedruckte Briefe von Bettina und Achim von Arnim an Ludwig Emil Grimm, Preußische Jahrbücher 240. April bis Juni 1935. Berlin, S. 109–127. Darin: Arnim an Ludwig Emil Grimm, 2.12.1822, S. 116. Vgl. etwa die Bemerkung über die Darstellung der Kinder Johannes und Jesus auf dem Gemälde der Madonna mit dem Zeisig: sie seien „so gut koloriert und mit solcher Sorgfalt ausgeführt, daß sie eher wie lebendiges Fleisch erscheinen, als durch Farben und disegno gestaltet“. (Vasari 23). Lukas 9, 28–36. Ob Arnim hier an Hegel gedacht hat, kann ich nicht sagen. Zweifellos kannte er aber das Werk wie den Mann. 1807 war Hegels Phänomenologie des Geistes erschienen. Von 1818 an war Hegel Professor in Berlin und las wöchentlich 10 Stunden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Arnim gelegentlich in seine Vorlesungen ging. Hegel war elf Jahre älter als Arnim und starb im selben Jahr wie er, 1831.
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Finger gleiten und sagt lachend, er habe ja schon eine Braut, nämlich eine „steinerne“.20 Die energische Ghita will den Ring, natürlich, abziehen, findet aber den Finger der Skulptur gekrümmt – ein Wunder!21 Als Benedetta herantritt, ist der Finger wieder gestreckt, sie zieht den Ring ganz leicht ab und behält ihn. Raphael empfindet ein „Grauen der Ehrfurcht“. Vor diesem „fremden schaurigen Gefühl“, das sich „zwischen die ersten zutraulich zusammengebeugten Rosen drängt“ wie „ein scharfer Wind, der ihr Aufblühen verhindert“, läuft er davon. „Er bat den Himmel, ihn vor allen Engeln und Teufeln zu schützen, und ihm den gewöhnlichen Weltlauf zu gönnen, der ihm so wohl gefalle.“22 Er versucht fortan, sich dem Leben anzuvertrauen, das ihn vor dem Adel seines Auftrags schützen soll, und gerät so in einen zehrenden Zwiespalt zwischen unersättlicher Sinnlichkeit und dem ebenso unersättlichen Zwang, sie in der Kunst zu überwinden und umzuformen. Die Madonnen, die eher Potiphars Weib ähnlich sehen sollen als der lieblichen Himmelsmutter, an deren kreatürliche Möglichkeiten die Kirche zu Raffaels Zeiten nicht dachte (wohl aber die Bibel, wenn sie von Jesu Brüdern berichtet) – Arnim bringt sie zusammen mit Raphaels Ausschweifungen, er wird von seinen Kumpanen aufgezogen wegen der Madonna mit dem Fisch, für die er eins der leichten Mädchen zum Vorbild genommen habe: Hier zu Land Gilt die Hand, Die mit Kunst Lohnt die Gunst Sünd’ger Frauen, Daß sie schauen Sich im Bild Heilig mild: Raphael, Gut Gesell, Male mich, Ich bitte Dich.
Und anzüglich: Frische Fische, Gute Fische.23
Raphael, ein bekannt schöner und freundlicher Mann, dessen Anmut und Liebenswürdigkeit auch von Vasari bewundernd geschildert wird, hat dennoch keine Zeit für die feineren Seiten der Werbung. So fällt er „fast nur den Schlau-
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Arnim: Werke Bd. 4, S. 277. Das Ringwunder war ein Motiv, das mehrmals in der Romantik auftauchte, vgl. Arnim: Werke Bd. 4, S. 1130. Arnim verwendet es auch in seiner Päpstin Johanna und in der Erzählung Melück Maria Blainville. Arnim: Werke Bd. 4, S. 278. Ebd., S. 280f.
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esten anheim“,24 den Verworfensten, könnte man ergänzen. Sein Verlöbnis mit Benedetta, das durch den Ring weiter besteht, hat er gebrochen, weil er Ghita, immer noch Bäckerin, inzwischen ein „dickes Mamachen“,25 wiedertrifft und sie sich gleich beherzt seiner bemächtigt. Sie wird seine Geliebte, er wohnt mit ihr zusammen. „Der Umgang mit Weibern war ihm ein Bedürfnis“, ihm vom Teufel aufgedrängt, „[...]und er mußte sich durch neue [Sünden] immer wieder auf einige Zeit auslösen.“26 Es ist also nicht nur Ghita, die ihn umtreibt, sondern viele andere Frauen – ganze Orgien werden gefeiert, die in die Nähe antiker Opferhandlungen führen. Aber auch Ghita läßt sich von andern Männern lieben, sie ist vergnügungssüchtig und trinkt zuviel Wein. Raphaels Freunde, die sich über die nicht gerade schöne Bäckerin Ghita wundern, beschuldigt er der Unfähigkeit zu sehen. „Du sollst sie kennen lernen“, sagt er zu seinem Freund und Adlatus Baviera,27 der all diese Geschichten aufzeichnet, „diese Ghita, in der aller Welt Todsünden zu lauter Leben aufgehen, wenn ich ihr Bild fertig habe; denn das Beste im menschlichen Antlitz ist Euch verschlossen.“28 Arnim bezieht sich hier auf das wohl schönste, jedenfalls rätselhafteste Portrait von Raffael, die sogenannte Fornarina, die Bäckerin also, eine zugleich sehr sinnliche und sehr überlegene (halbnackte) Schönheit, die nach der Tradition Raffaels Geliebte Margherita Luti, die Tochter eines Bäckers, darstellt.29 Es fällt allerdings schwer, sich die Ghita aus Arnims Erzählung unter dieser edlen und eleganten Gestalt vorzustellen, wie auch die liebevolle Verkleinerungsform fornarina für die schöne, kühl und etwas ironische blickende Frau, die mit ihrer Sexualität nicht anders als selbständig umgehen kann, nicht recht passen will. Arnim selbst wird damit seine Schwierigkeiten gehabt haben, denn er motiviert den schöpferischen Blick Raphaels etwas plump durch eine Teufelsbrille. Auch darin zeigt sich, daß Gott und Teufel in der Kunst ihre Hand im Spiel haben – Arnims Hauptproblem in dieser Geschichte. Um vorzuführen, wie übel die Tiefen sind, die in der Kunst zum Ausdruck drängen, führt Arnim in die Erzählung eine Figur ein, die verstört: einen malenden Affen, der sich wie eine Schlammspur durch den letzten Teil zieht. Er ist denn doch keine Affe, sondern ein hergereister Nürnberger, der sogar mit Ghita verheiratet ist – eine der grotesken Arnim-Gestalten, die schon zu seinen Lebzeiten wenig oder keinen Anklang fanden. Der Affenmensch malt raphaelische
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Ebd., S. 282. Ebd., S. 283. Ebd., S. 282. Baviera, eine historische Figur, die auch bei Vasari vorkommt, wird von Arnim zu einem Jungen aus dem Volk stilisiert, der Drucker und Kupferstecher wird und Raphael von ganzem Herzen ergeben ist. Dieser Erzählumweg ermöglicht Arnim humorvolle Kommentare und naive Sichtweisen, die in eine „ernsthafte“ Behandlung des Themas nicht gepaßt hätten. Arnim: Werke Bd. 4, S. 284. Sehr wahrscheinlich wurde sie auch in ganz anderer Aufmachung, aber mit demselben Schmuckstück wie die Fornarina als La Velata (die Dame mit dem Umhang) von ihm gemalt.
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Bilder, deren „Inhalt eben nicht seiner [Raphaels] Sitte entsprach“,30 an denen alles gut ist, „nur nicht die Hauptsache“. Wunderliche Dinge läßt Arnim Raphael sagen: diese unsittlichen Gemälde seien „sehr tragische Bilder“, denn: sie wirkten auf ihn wie eine Forsetzung seiner Psyche-Fresken, nachdem Psyche (die Seele also) „mit Amor, der flüchtigen Erscheinung, für immer verbunden ist“.31 Arnim wollte hier die „thierische Natur“ der Kunst so deutlich wie möglich zeigen und ließ sich auch von den Einwänden seines klugen Verlegers Wendt, der unter anderm geschrieben hatte, daß ihm „die Absicht zu sehr hervorstäche“,32 nicht umstimmen. Wie viele Autoren war er sehr eigensinnig. So haben wir Leser also mit dem Nürnberger Bäbe, dem Affen, dem Dummkopf, dem begabten Schwächling und Pantoffelhelden umzugehen. Natürlich wird er am Ende aus der Erzählung hinausgeschrieben, wie man es heute bei Fernsehfortsetzungen macht – er prügelt sich mit Ghita und springt dann mit einer Mappe raphaelischer Zeichnungen aus dem Fenster, die er in Deutschland für viel Geld verkauft. Vorher aber erleben wir nächtlich einen schlafenden Raphael, der in somnambulem Zustand dem koboldartigen Ungeheuer Anweisungen gibt: „Am rechten Beine, rief er, mehr Weiß; mehr Rot in den Schatten!“ Auf diese Weise sollen also die „Bilder unschicklichen Inhalts aus der Göttergeschichte“33 entstanden sein, die das Schlafzimmer von Raphael und Ghita schmücken. Bisher ist das raphaelische Werk von zwei Wesen gemalt worden, Raphael also in zwei Aufspaltungen aufgetreten: als Raffael, dessen bekannte Bilder Arnim zitiert, und als „tierisch“ delegierte Künstlermarionette, der „die Hauptsache“ fehlt. Am Ende kommt eine dritte Person dazu: noch jemand malt nämlich Bilder, die man für Werke Raphaels halten könnte: eine Malerin, die im Kloster wohnt.34 Größerer Ernst, aber weniger Lieblichkeit im Ausdruck der Gesichter sind die Kennzeichen ihrer Werke. Sie malt „Blüten einer gereinigten Welt“.35 Wer Arnims Geschichte liest, wartet schon lange auf die Wiederkehr Benedettens: natürlich ist sie es, die ebenso, wie sie damals die Teller nach Raphaels Art bemalte, jetzt weiter in seinem Geiste arbeitet und sich ihm immer noch verlobt fühlt: „an ihrem Finger glänzt jener entscheidende Ring“.36 Sie bringt aber noch mehr mit: zwei kleine Söhne von Raphael und Ghita, die der
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Arnim: Werke Bd. 4, S. 288. Ebd., S. 289. Hermann F. Weiss: Unveröffentlichte Briefe Achim von Anims nebst andern Lebenszeugnissen. II: 1811–1830. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch im Auftrage der Görres-Gesellschaft. N. F. 29 (1981), S. 71–154. Darin: Arnim an August Amadeus Wendt, 24.7.1822, S. 130–132. Arnim: Werke Bd. 4, S. 304. Arnim: Werke Bd. 4, S. 298. Vgl. dazu Uwe Japp: Die Identität des Künstlers. Arnims Erzählung „Raphael und seine Nachbarinnen“. In: Romantische Identitätskonstruktionen: Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie. Glasgower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hrsg. von Sheila Dickson und Walter Pape. Tübingen: Niemeyer 2003 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft 4), S. 217–227. Arnim: Werke Bd 4, S. 296. Ebd., S. 311.
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Mutter vorsichtshalber weggenommen und Benedetta anvertraut wurden. Raphael, der geschonte und vor allem in Arbeit, aber auch in Ausschweifungen versunkene Künstler, hat von allem nichts gemerkt. Benedetta ist zu einer Art Schutzgeist geworden, will allerdings eins vollbringen: ihn von Ghita trennen, also vom Leben in Sünde. An Rivalität zu denken, verbietet sich in diesem Zusammenhang – jedenfalls Arnim tut es nicht. . . Wir folgen weiter seinen verrückten und wunderbaren Spinnereien: Raphael findet in Benedettas Kirche die Marmorstatue wieder, gleichsam getauft, mit dem klassisch blauen Gewand der Muttergottes bekleidet. Die alten Zeiten der Unschuld fallen ihm wieder ein, die schöne Mondnacht, und das lange verschobene Werk der Verklärung. Die Erinnerung wird zur Inspiration: „Ich sehe noch die blaue Luft mit dem leichten goldigen Gewölk,37 wie sie einst über dem Hause der Geliebten standen; sie bildeten mir den Herrn vor mit Moses und Elias, unten aber stand um uns die ganze Erdenwelt.“38 Über den letzten Seiten liegt eine wehmütige, zärtliche Abschiedsstimmung, Raphael spürt seinen nahen frühen Tod. Die Verklärung aber wird fertig, und nebenbei läßt Arnim ein Auftragswerk entstehen, die Madonna mit dem heiligen Sixtus und der heiligen Barbara, die Sixtinische also, die Arnim sicher am besten kannte, weil er sie schon als junger Mann in Dresden gesehen hatte.39 Noch bevor er Benedetta wiedergesehen hat, so will es Arnim, schwebt sie als Muttergottes in ernster, tief erschrockener Lieblichkeit mit ungebrauchten Füssen und dem sanften Wind der Ewigkeit im Gewand auf den Betrachter zu. Raphael wünscht sie sich als Fürsprecherin. „Ich meine, Gott könne dem Flehen eines solchen Antlitzes nicht widerstehen.“ Die zarte junge Frau scheint das übergroße, sich verschreckt anschmiegende40 nackte Kind ohne Mühe zu halten.
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Die Wolken in Raffaels Gemälde sind weiß, nicht golden. Als Arnim die Verklärung in Paris sah, waren sie durch den Firnis einer unsachgemäßen Restaurierung gelblich. Sie sind inzwischen erneut restauriert worden. Die Wolken um die verklärte Erscheinung sind auch eigentlich keine Mondwolken. (Vgl. ebd., S. 1133) Was hätte Arnim erfunden, hätten die Wolken die originale Farbe gehabt? Die Erscheinung in der Bibel findet tagsüber statt (Matth. 17, 1–9). Arnim: Werke Bd. 4, S. 297. Arnim nimmt es wie immer mit den historischen Daten nicht genau. Die Madonna für die Kirche des heiligen Sixtus ist 1512/13 entstanden, die Transfiguration 1820, im Todesjahr Raffaels. Der ernste Blick von Mutter und Kind erklärt sich daraus, daß das Gemälde an seinem ursprünglichen Ort in der Kapelle des heiligen Papstes Sixtus (gestorben 258 in Rom) einem großen Kruzifix gegenüber aufgehängt war. Dorthin, nämlich aus dem Bild heraus, weist auch die Hand des heiligen Sixtus, der die Züge des mäzenatischen Papstes Julius II. trägt. Wer das nicht weiß, darf auch annehmen, Entsetzen, Trauer und Mitleid der Madonna gälten der gefallenen Welt überhaupt. – Hätte Arnim Biographie und Charakter des Papstes berücksichtigt, so hätte er wieder ein Beispiel für die Erhebung „triebhafter“ Erfahrung ins Gottselige und Heilige gehabt. Julius war zwar nicht homosexuell wie sein Onkel, der Papst Sixtus IV, aber ihm wurde Jähzorn und Trunksucht nachgesagt, und er hatte drei Töchter. Vor seiner Papstwahl wurde er durch die Begünstigung des Onkels vom 18. Lebensjahr an nacheinander in dreizehn reiche Diözesen eingesetzt, was ihm die Mittel verschaffte, die Künstler und Architekten seiner Zeit mit ihren Werken zu beauftragen. Er
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„Nie war sie herrlicher,“ sagt Raphael, „als wenn sie Morgens in ihrem leichten Gewande hervortrat; sie ging nicht, sie schwebte in ihrem Morgengewande, und ihre himmlischen Glieder herrschten über jede Schranke der Gewohnheit.“41 Immer aber könnte Raphael mit der heiligen Welt der Benedetta nicht umgehen, so sehr er sich auch danach sehnt. Sein Brot ist nicht das Brot des Lebens, sondern das Brot der Ghita, der Fornarina. Berühmter als das ganze Gemälde sind heute die erstaunlichen, millionenfach reproduzierten und ausgebeuteten Putti, die sich unten im Gemälde langweilen. Auch sie zeigen weiß Gott die unheilige Seite Raffaels, denn wer hat jemals in einem frommen Bild Engel gesehen, die die ganze Andacht offensichtlich fad finden und sich etwas wünschen – ja was? Vielleicht daß sie sich als Eroten bei der „unschicklichen“ raffaelischen Psyche frei bewegen und wohlfühlen können. Unser Arnim macht in ihrer Deutung einen Kopfsprung, den merkwürdigerweise niemand kritisiert hat: es sind Raphaels Kinder – „Ja, herrliche Knaben sind es [...] unten, wo mich der leere Raum ärgerte, da stehen sie übergelehnt hinaufblickend mit bunten Flügeln.“42 Arnims Tendenz, Spannungen zu einem ausgleichenden Ende zu führen, läßt sich in dieser Erzählung nicht durchhalten, jedenfalls nicht auf der Ebene des irdischen Lebens. Als retardierendes Moment bietet sich zum Schluß eine Situation an, mit der jeder naive Leser zufrieden sein könnte: Benedetta ist die Raphael zugedachte Nichte des Kardinals, die zwei Kinder erkennen sie auf dem Madonnenbild und nennen sie Mutter, Ghita wird zur Heilung von Leib und Seele frommen Schwestern übergeben. Raphael bittet sogar Benedetta um ihre Hand. Aber er weiß, daß er auf Erden ohne Ghita nicht leben kann. In einem zeichenhaften Traum kurz vor seinem Ende, als er sich mit Benedetta vermählt glaubt, erlebt er, wie „sie über irdische Lust erhaben“ ist und „wie ein Schneeberg über ihn hinausragt“. Dadurch geht ihm die Kunst verloren. „Mich ergriff eine Sehnsucht nach der Sünde, um die empfundene Leere zu füllen.“ Beim Aufwachen ist er schwer krank, aber er sehnt sich „stärker als je nach Ghitas stärkendem Kusse.“43 Es klingt wie eine Erinnerung an Anna Katharina Emmerick, Clemens Brentanos heilige Freundin, die seit 1820 die Passion Christi miterlebte, wenn Arnim schildert, wie Raphael sterbend das Leiden Jesu als Zeuge durchleidet. „Er berichtete Alles, was in der Bibel steht, und Vieles, was sich sehr wohl damit verbinden ließ.“ Als er sich wie Jesus gekreuzigt fühlt, „weil er den Ruhm aller Maler vor ihm in der Welt verdunkelt habe“, ist er zugleich gerettet durch die Verheißung des Paradieses.44 Im Augenblick des Todes ist es nicht die sündige Sinnlichkeit, sondern der große Ruhm, der verziehen werden muß. Und doch wieder Harmonie, das
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war ein rücksichsloser Kriegsherr und hatte den Beinamen „il terribile“. Luther nannte ihn einen „Blutsäufer“. Arnim: Werke Bd. 4, S. 303. Ebd., S. 310. Ebd., S. 312. Ebd.
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glückliche Ende der Divina Commedia, als die Arnim in all seiner Depressivität die Welt doch sah: es geht alles gut aus.
Biographische Bezüge? Aber was hat nun diese Geschichte über Frauen und Kunst mit Arnim und seiner Ehe zu tun? Kurz nach seiner Hochzeit schrieb Arnim an Jacob Grimm, er „teile nun Freud und Leid mit der ganzen Erde.“45 Dazu hatte er, der Dichter, der Künstler, sich entschlossen. Wie einverstanden er mit diesem allgemeinen Los war, darüber geben seine und Bettines Briefe der ersten sieben bis acht Ehejahre deutlichen Aufschluß. „[I]mmer habe ich [...] in Gedanken mit Dir zu tun, Du mein guter Geist, mein liebes Fleisch“, schreibt er einmal, und das mag für viele ähnliche Gedanken stehen.46 „Liebe Seele“ war eine häufige Anrede in romantischen Briefen, etwas pathetisch überreizt etwa im Humboldtschen Ehebriefwechsel. „Du meine Seele, du mein Herz“, Rückerts Gedicht in der Vertonung von Schumann, wird manchem in den Ohren klingen, wenn es um dieses Thema geht. Das Fleisch wird nicht erwähnt. Die Herzlichkeit und Wärme, mit der das bei den Arnims geschieht, wäre selbstverständlich in keiner Weise für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen. Aber auch bei ihnen ist immer weniger von dem die Rede, was die Bibel Ein-Fleisch-Sein nennt; es ist wegen der Schwangerschaften gefährlich und daher gefährdet, und das In-einander-Leben der beiden Seelen geht im groben Wellenschlag des Alltags fast ganz unter. Manchmal noch fällt es einem von beiden wieder ein, hoffentlich öfter, als es zur Sprache kommt. Immerhin schreibt Arnim noch nach fast zehn Jahren Ehe von seiner Schwabenreise „[...] ich küsse Dich, Du mein Leib, und Deine Seele ruht in der meinen.“47 Arnim als Künstler – und um die eheähnliche Beziehung eins Künstlers geht es ja in der Raphael-Geschichte – fühlte sich aber zweifellos immer weniger aufgehoben und gestützt durch seine Frau, so sehr sie auch oft anders redete. Sein Raphael heiratet nicht. Er treibt sich exzessiv auf Gelagen und bei andern Frauen herum und weiß das Gleiche von Ghita. Dennoch denkt er nicht daran, sich von ihr zu trennen. Er erträgt bewußt ihre Untreue. [...] sie weiß nichts von leerer Sehnsucht und Unzufriedenheit; ihr Dasein ist Genuß, und die Fülle ihrer Liebe zwingt sie zur Verschwendung. Sie läßt Andere mitgenießen; denn wie wenig Zeit kann ich ihr schenken? Sie mischt sich nicht in meine Kunst, aber sie weiß mich zur Kunst aufzumuntern; sie verschleiert mir die Sorgen des täglichen Lebens, sie will mich nicht lenken, ich brauche sie nicht zu beherrschen; bald ist sie meine Seele, bald
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Arnim an Jacob Grimm, April 1811, Steig 3, S. 113. Achim und Bettina in ihren Briefen. Briefwechsel Achim von Arnim und Bettina Brentano. Hrsg. von Werner Vordtriede. Mit einer Einleitung von Rudolf Alexander Schröder. 2 Bde. Frankfurt: Suhrkamp 1961. (künftig: Ehe) Darin: Arnim an Bettine, 18.8.1817, S. 86. Arnim an Bettine, 21.11.1820 (Ehe 254).
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mein Leib; aber nie will sie Beides zugleich sein; und darum sind wir einander notwendig. Sie ist der Boden, der mich trägt. Mit Benedetta hätte ich fliegen können, aber wer weiß es nicht, daß er nicht immer fliegen kann.
Der Kommentar seines Begleiters Baviera lautet: „Mit herunterhängendem Unterkiefer hörte ich dieser Herzensergießung zu, ich staunte [...]“48 Er staunt allerdings vor allem über die Abwesenheit von Eifersucht. Staunen heutige Leser über das ganze Beziehungsbild? Für Arnim war es eine merkwürdige Utopie, ganz fern von seinen eigenen strengen Lebensregeln. Ghita ist eine Vorläuferin der Bohème-Gestalten späterer Zeit, aber auch eine Nachfahrin von Goethes Philine. Man kann sich nicht gut vorstellen, daß Arnim im wirklichen Leben jemals eine ähnliche Person kennengelernt hat, aber ebenso kaum eine, die der erwachsenen Benedetta gliche. (Die Jugendgestalten beider dagegen haben mit den ganz jungen Mädchen aller Zeiten zu tun.) Es sind Gedanken- und Gefühlsphantasien über das Thema Frau, ein Auffliegen des Künstlers Arnim fernab von der Alltagswelt. Beim Nachdenken über den Zusammenhang zwischen der RaphaelGeschichte und Arnims Ehezustand fällt etwas Sonderbares auf: ohne viel Zusammenhang wird ein Komet eingeführt, den Raphael zur Zeit seiner letzten Begegnung mit der jungen Benedetta gesehen hat. Eins von Arnims wirklich gelungenen Gedichten49 folgt: Ich sehe ihn wieder Den lieblichen Stern, Er winket hernieder, Er nahte mir gern; Die Haare ihm fliegen, Er eilet mir zu! Das Volk träumt von Kriegen, Ich träume von Ruh; Die Andern sich deuten Was künftig daraus; Vergangene Zeiten Mir leuchten in’s Haus.50
Arnim und die meisten seiner Zeitgenossen konnten bei dem Wort Komet nur an die große Himmelserscheinung von 1811 denken, als ein geschweifter Stern über acht Monate51 mit bloßem Auge zu sehen war und also die erste Ehezeit der Arnims und auch viele Monate von Bettines erster Schwangerschaft beglei-
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Arnim: Werke Bd. 4, S. 300f. Zwei Zeichen deuten darauf hin, daß dieses Gedicht aus älterer Zeit stammt: zunächst die Erwähnung des Kometen überhaupt, dann aber auch die Erwähnung von Kriegen, die nicht in den Zusammenhang der Erzählung, wohl aber in das Jahr 1811 paßt. Die „vergangenen Zeiten“ allerdings ließen sich höchstens auf das romantische Grundinteresse beziehen, denn 1811 hat Arnim sehr wohl den Kometen als glückliches Omen für sein Kind, aber auch für das bevorstehende Fürstenkind in Weimar gedeutet. Arnim: Werke Bd. 4, S. 301f. Erst der Hale-Bopp-Komet von 1997 war länger zu sehen, nämlich 18 Monate.
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tete. Es war ein gesegnetes Jahr mit einem langen heißen Herbst, das einen berühmten Wein hervorbrachte und im Oktober noch einmal Frühlingsblumen blühen ließ. Arnim spricht in einem Brief von 1825 geradezu von „unserer Kometenreise“52 und mag also auch im Namen Raphaels an viele warme Nächte unterm Sternenhimmel gedacht haben. Es war schon oft zu sehen, wie Arnim sich von Assoziationen unterhalb bewußter Planung leiten ließ – dürfen wir hier also annehmen, daß ihm beim Erinnern des erwachsenen und todesnahen Raphael, der Benedetta als schöne Mutterfrau malt, seine junge schwangere Bettine einfällt? Bei dieser Frage wollen wir es belassen. Das Echo auf dieses Werk Arnims war vielfältig und widersprüchlich. Man kann das in der schönen Ausgabe des Klassikerverlages von Renate Moering nachlesen. Was Bettine von der Erzählung dachte, wissen wir leider nicht.
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Arnim an Bettine, 30.9.1825 (Ehe 564).
Lothar Ehrlich
Ludwig Achim von Arnims Dramatik Zur Forschung im letzten Jahrzehnt
Vor zehn Jahren hatte der Autor einen Aufsatz über Arnims poetisch-politisches Theaterprojekt und die ‚Schaubühne‘ von 1813 mit einer – wie er glaubte – realistischen Prognose abgeschlossen: Selbst wenn die Literaturwissenschaft in den nächsten Jahren mehr Verständnis für die Bedeutung der Schaubühne bei der Formulierung von Neuansätzen in der deutschen Dramaturgie durch die Romantik um 1800 aufbringen sollte, mit einer – auch praktisch relevanten – Neubewertung von Arnims Leistung als Dramatiker dürfte indessen wohl nicht zu rechnen sein.1
Seitdem sind nun einige Arbeiten zu Arnims Schauspielen im Kontext der romantischen Dramatik vorgelegt worden. Und immerhin sind für zwei seiner wichtigsten dramatischen Projekte durch die Weimarer Arnim-Ausgabe (WAA) die editorischen Voraussetzungen für neue Interpretationen geschaffen worden: 2006 erschien Die Päpstin Johanna,2 2010 folgt Die Schaubühne.3 Im Zusammenhang mit der WAA entstanden außerdem mehrere analytische Beiträge zu einzelnen Werken, sowohl von den Bearbeitern schon publizierter beziehungsweise in Kürze erscheinender Bände, Johannes Barth4 und Yvonne
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Lothar Ehrlich: Arnims poetisch-politisches Theaterprojekt und die „Schaubühne“ von 1813. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809– 1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. Tübingen: Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen ArnimGesellschaft 1), S. 101–115, hier S. 115. Ludwig Achim von Arnim: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Weimarer Klassik hrsg. von Roswitha Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Christof Wingertszahn. Weimarer Arnim-Ausgabe (WAA). Bd. 10. Die Päpstin Johanna. Hrsg. von Johannes Barth. Tübingen: Niemeyer 2006. Die Edition basiert auf der Habilitationsschrift des Herausgebers an der Bergischen Universität Wuppertal (Betreuer: Heinz Rölleke). WAA. Bd. 13. Die Schaubühne. Hrsg. von Yvonne Pietsch. Tübingen: Niemeyer 2010. Die Edition geht auf die Dissertation der Herausgeberin an der Ludwig-MaximiliansUniversität München zurück (Betreuerin: Anne Bohnenkamp-Renken). Johannes Barth: „Dieses Elend der Gelehrten“ – Wissenschaftskritik in Arnims „Die Päpstin Johanna“. In: Universelle Entwürfe, S. 117–132; „Des Knaben Wunderhorn“ und Arnims „Die Päpstin Johanna“. In: Das „Wunderhorn“ und die Heidelberger Romantik. Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Performanz. Heidelberger Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hrsg. von Walter Pape. Tübingen: Niemeyer 2005 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft 5), S. 111–121.
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Pietsch,5 als auch von Ulfert Ricklefs,6 der die Herausgabe von Halle und Jerusalem vorbereitet und dessen profunde alte und neue Studien zur Päpstin Johanna7 notwendige Bausteine für die Edition und Interpretation dieser epischdramatischen Dichtung darstellen, die für das Verständnis des Arnimschen Gesamtwerkes von essentieller Bedeutung ist. Herausgeber der WAA lieferten also, über ihre editorische Tätigkeit hinausgehend, Beiträge zur ArnimForschung. Philologische und literaturwissenschaftliche Praxis bilden eine untrennbare, höchst fruchtbare Einheit, die ebenso für die anderen literarischen Gattungen charakteristisch ist. Im Horizont der WAA sind daher im letzten Jahrzehnt, auch im Zusammenhang mit den regelmäßig alle zwei Jahre veranstalteten Kolloquien der Internationalen Arnim-Gesellschaft, einige wichtige Arbeiten zum dramatischen Werk Arnims veröffentlicht worden.8 Gleichzeitig wurde seit einer Tagung zum romantischen Drama im Jahre 1999 am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Karlsruhe unter Leitung von Uwe Japp eine dort angesiedelte Forschergruppe wirksam, die in ihre Untersuchungen partiell auch die Dramen Arnims einbezog. Nicht nur der Konferenzband,9 sondern weitere Arbeiten von Japp,10 zumal zur Komödie der
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Yvonne Pietsch: Von einem der auszog, das Dienen zu lernen: Arnims Posse „Jann’s erster Dienst“ und John Lockes Vertragstheorie. In: Romantische Identitätskonstruktionen: Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie. Glasgower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hrsg. von Sheila Dickson und Walter Pape. Tübingen: Niemeyer 2003 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft 4), S. 105–116; Das ‚Fortmalen‘ ins Weite – zum Umgang mit Text und Bild in Ludwig Achim von Arnims Die Vertreibung der Spanier aus Wesel. In: Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Roger Lüdeke und Erika Greber. Göttingen: Wallstein 2004 (Münchener Universitätsschriften. Münchener Komparatistische Studien 5), S. 264– 282; „Wie soll ich mich gebährden, was soll ich sprechen?“ Die sprachlichen Gestaltungsprinzipien im Drama am Beispiel der „Schaubühne“. In: Das „Wunderhorn“, S. 135– 144; Die „unendliche Welt holder möglicher Geschicke“: Die Darstellung von Liebe in Arnims Schaubühnen-Dramen „Der Auerhahn“, „Die Vertreibung der Spanier aus Wesel“ und „Die Appelmänner“. In: Neue Zeitung für Einsiedler 6/7 (2006/2007), S. 20–53; „Für Büchermotten wollte ich nicht schreiben“: Arnims poetologische Verortung in den Jahren 1811–1812 und in der „Schaubühne“. In: Ebd., S. 54–65. Ulfert Ricklefs: Ahasvers Sohn. Arnims Städtedrama „Halle und Jerusalem“. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug, S. 143–244. Ulfert Ricklefs: Arnims „Päpstin Johanna“-Dichtung. Mit einer Untersuchung zur poetologischen Theorie Arnims und einem Anhang unveröffentlichter Texte. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1990. – Erweiterte Fassung der Dissertation: Magie und Grenze. Studien zu L. Achim von Arnims „Päpstin Johanna“-Dichtung. Entstehungsgeschichte und Interpretation. Göttingen 1972 (Masch.). Vgl. die genannten Arbeiten von Johannes Barth, Lothar Ehrlich, Claudia Nitschke, Yvonne Pietsch, Ulfert Ricklefs und Friederike Schaible. Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. Hrsg. von Uwe Japp, Stefan Scherer und Claudia Stockinger. Tübingen: Niemeyer 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 103). Uwe Japp: Auftritte: Inszenierte Dramatik in Prosa („Melück Maria Blainville“, „Don Juan“, „Massimilla Doni“). In: Das „Wunderhorn“, S. 123–133); Virtuelle Inszenierung: Achim von Arnims Schattenspiel „Das Loch“ multimedial. In: Neue Zeitung für Einsiedler 2 (2002), S. 7–21, über die von ihm während der Karlsruher Tagung am 14. September
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Romantik,11 sowie zwei seiner Mitarbeiter wären hier zu nennen: die Habilitationsschrift von Stefan Scherer zu Ludwig Tieck und dem Drama der Romantik12 und die Dissertation von Claudia Stockinger, die eine neue Bewertung der Dramen Friedrich de la Motte Fouques erbrachte.13 Später legte die Autorin, zunächst in den USA, dann in Deutschland, einen Überblick zum romantischen Drama vor, der auf einigen Seiten Arnim berücksichtigt.14 Obwohl Uwe Japp inzwischen an Tagungen der Arnim-Gesellschaft teilgenommen hat, kam es, von gelegentlichen Kontakten abgesehen, bislang zu keiner engeren Kooperation zwischen den Karlsruher Wissenschaftlern und den an der WAA mit Dramatik beschäftigten Herausgebern. Diese Zusammenarbeit wäre deswegen wünschenswert, weil auf diese Weise eine Vernetzung der Erforschung der Dramatik Arnims und der Romantik insofern realisiert werden könnte, als einerseits die konkreten philologischen Analysen von Werken auf die Geschichte des romantischen Dramas allgemein bezogen und andererseits mehr interpretatorisch sowie dramaturgisch und gattungstypologisch orientierte Untersuchungen unmittelbarer in die editorische Arbeit einfließen würden. Der methodische und sachliche Gewinn wäre beträchtlich, zumal es im Hinblick auf spezifische dramaturgische und theatergeschichtliche Fragestellungen in der Arnim-Forschung immer noch Defizite gibt. Das setzte allerdings voraus, daß Uwe Japp und seine Mitarbeiter sich auch in den nächsten Jahren mit der romantischen Dramatik weiter befassen und daß alle Wissenschaftler, die solche einschlägigen Themen behandeln, stärker, als das bisher geschehen ist, ihre Forschungsergebnisse wechselseitig reflektieren. Im folgenden sollen die in den letzten zehn Jahren entstandenen Publikationen kritisch referiert werden, und zwar in zwei Schritten: zunächst die zur Theorie und Geschichte des romantischen Dramas und auch zu Arnim erschienenen, danach die im Umkreis der WAA zu inhaltlichen und formalen Aspekten ausgewählter Stücke entstandenen. Mit dieser Reihenfolge ist die Absicht verbunden, Darstellungen zu Arnims dramatischem Werk im ideellen und ästhetischen Zusammenhang mit den in der Frühromantik entworfenen Alternativen zum aufklärerisch-klassischen Drama und Theater begreifen zu können. Daß es sich bei alledem um komplizierte widersprüchliche Beziehungen zwischen allgemeiner romantischer Theorieentwicklung und speziellem dramatischen Werk,
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1999 initiierte „virtuelle Inszenierung des gesamten Stückes“ (S. 7), weil sich die Aufführung mit Schauspielern auf einem Theater zerschlagen hatte. Uwe Japp: Die Komödie der Romantik. Typologie und Überblick. Tübingen: Niemeyer 1999 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 100). Stefan Scherer: Witzige Spielgemälde. Tieck und das Drama der Romantik. Berlin, New York: de Gruyter 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 26). Claudia Stockinger: Das dramatische Werk Friedrich de la Motte Fouques. Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas. Tübingen: Niemeyer 2000 (Phil. Diss. Karlsruhe 1999; Studien zur deutschen Literatur 158). Claudia Stockinger: Das Drama der deutschen Romantik – ein Überblick (Tieck, Brentano, Arnim, Fouque und Eichendorff). In: The Literature of German Romanticism. Ed. by Dennis F. Mahoney. Rochester, NY: Camden House 2004, S. 125–145. Zweitpublikation in: Goethezeitportal (eingestellt 2005).
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gerade bei dem poetisch-theatralisch äußerst vielfältigen Arnim, handelt, ist evident. Zugleich wird das nach wie vor ungenügende Interesse der germanistischen Literaturwissenschaft oder gar der Theaterwissenschaft an dem wohl unspektakulären Gegenstand deutlich werden und daß es, von einer Ausnahme abgesehen,15 neben den Bemühungen an der Universität Karlsruhe, der ArnimGesellschaft und der WAA im letzten Jahrzehnt keine weiteren Forschungsaktivitäten gegeben hat. Die Karlsruher Tagung vom 13. bis 15. September 1999 markiert einen neuen Auftakt in der Erforschung des romantischen Dramas im vergangenen Jahrzehnt, nachdem es in den neunziger Jahren kaum wissenschaftliche Bemühungen gab. Dieser Impuls ist Uwe Japp zu verdanken. In seiner Einleitung zum bereits ein Jahr später vorgelegten Band moniert er mit Recht, daß es bislang keine neuere systematische Darstellung sowohl zur romantischen Dramatik als auch zu einzelnen Autoren gäbe, und umreißt das Ziel der Tagung: Das Hauptinteresse der Auseinandersetzungen mit dem romantischen Drama sollte auf der Vermittlung zwischen aktueller Romantikforschung und der dramatischen Literatur der kanonisierten romantischen Autoren liegen.16
Es ist von besonderer Bedeutung, daß der Beitrag von Gerhard Schulz Romantisches Drama. Befragung eines Begriffs den Band eröffnet. Der Autor, dessen vorzüglichen beiden Bücher Die deutsche Literatur zwischen Französischer Literatur und Restauration die romantische Dramatik und auch Arnim mit souveräner Sachkenntnis ausführlich, aber mit gutem Grund ohne den Versuch einer Definition des Begriffs behandelt hatte,17 problematisiert erneut solche vergeblichen Versuche, weil es, wie schon in seinem Standardwerk zu lesen war, „im Grunde kein romantisches Drama gibt, weder in der Theorie noch in der Praxis.“18 Allenfalls versteht sich Schulz nun darin, eine grundsätzliche geschichtliche Standortbestimmung vorzunehmen, wenn er zum Begriff des romantischen Dramas festhält: „Er markiert den Übergang aus dem Zeitalter des Dramas, das innerhalb der europäischen Kultur in der Antike seinen Anfang nahm, in das Zeitalter des Romans.“19 Schulz definiert das romantische Drama als „Lesedrama“, und zwar im Kontext einer einsetzenden markanten Rezep-
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Caroline Pross: Kunstfeste. Drama, Politik und Öffentlichkeit in der Romantik. Freiburg i. B.: Rombach 2001 (Phil. Diss. München; Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae 91); Verschobene Anfänge. Bruch und Begründung in Kleists „Hermannsschlacht“, Arnims „Die Vertreibung der Spanier“ und Brentanos „Viktoria und ihre Geschwister“. In: KleistJahrbuch 2003, S. 150–164. Das romantische Drama, S. IX. Vgl. Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Zweiter Teil. 1806–1830. München: Beck 1983. Das Drama im Umkreis des Romantischen, zu Arnim S. 615–620. Ebd., Zweiter Teil, S. 597. Schulz begründet diese Feststellung: „In der Theorie gibt es nur das, was man sich jeweils darunter vorstellt, und das weicht je nach den Voraussetzungen, Positionen und Neigungen der einzelnen Theoretiker beträchtlich voneinander ab.“ Das romantische Drama, S. 19.
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tionstendenz zur Lektüre. Arnim ist für ihn der „wohl fruchtbarste Dramatiker seiner Zeit“,20 und er bedauert, daß in der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags am Ende auf die Aufnahme dramatischer Werke verzichtet worden war.21 Die beiden Arnim-Studien des Tagungsbandes wenden sich seinen interessantesten, aber auch schwierigsten dramatischen Dichtungen zu: Detlef Kremer schreibt über das „uferlose Drama Halle und Jerusalem“,22 Uwe Japp über Die Päpstin Johanna.23 Sicher ist nicht zu widersprechen, wenn Kremer im Doppeldrama von 1811 ein „intertextuelles Schreibverfahren“ wahrnimmt, das in vielfältiger Weise mit geschichtlichen und literarischen Vorlagen der Kulturgeschichte sowie dem eigenen poetischen Werk vernetzt ist, doch erfassen Etikettierungen wie „wahre antiquarische Bastelei“ oder „intertextuelle Bastelei“24 die ästhetische Eigentümlichkeit Arnims wohl nicht adäquat, weil sie eine im Grunde beliebige und nicht bewußte poetische Kompositionsweise suggerieren.25 Kremer versteht Halle und Jerusalem als ein „manieristisches Gesamtkunstwerk“: Unter der Perspektive der Gattungsvermischung erscheint Halle und Jerusalem der Tendenz nach als manieristisches Gesamtkunstwerk, dessen Prinzip labyrinthische Summenbildung ist. Die Heterogenität der intertextuellen Beziehungen setzt sich in der Hybridität der Gattungen und Formen fort.26
Zwar erfassen die Beschreibungen der intertextuellen Strukturen im einzelnen die gestalterischen literarischen Momente dieses Kunstwerks, doch bleiben sie zumeist an der Oberfläche der Texte, weil Kremer ihre Tiefenschichten nicht als sinnbildlichen Ausdruck eines spezifischem Welt-, Religions- und Poesieverständnisses des Autors freizulegen vermag.27 Weil sie außerdem mehr als
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Ebd., S. 2. Schulz sieht ein romantisches Drama am ehesten im Werk Kleists realisiert: „Wenn es überhaupt ein romantisches Drama bei den Deutschen gab, so erfüllte es sich vor allem in Kleist.“ (S. 19). Ursprünglich war tatsächlich ein Band Lyrik und Dramatik geplant. Der Herausgeber Ulfert Ricklefs entschied sich wegen der Fülle des Materials und des Umfangs des Kommentars am Ende jedoch allein für die Gedichte. Vgl. Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack, Paul Michael Lützeler, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Hermann F. Weiss. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989–1994. Bd. 5. Detlef Kremer: Durch die Wüste. Achim von Arnims uferloses Drama Halle und Jerusalem. In: Das romantische Drama, S. 137–157. Kremer behandelt Arnims Dramen überblicksmäßig in: Romantik. Lehrbuch der Germanistik. 3., aktualisierte Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 218–222 („Arnims tragikomische Dramen“) und S. 255–256 („Arnims patriotische Schauspiele“). Uwe Japp: Dramaturgie der Vertauschung. Achim von Arnims „Die Päpstin Johanna.“ In: Das romantische Drama, S. 159–173. Detlef Kremer: Durch die Wüste, S. 138–139 und öfter. Vgl. im Gegensatz dazu die Interpretation von Ulfert Ricklefs: Ahasvers Sohn. Vgl. S. 53f. des vorliegenden Aufsatzes. Detlef Kremer: Durch die Wüste, S. 147. Vgl. Ulfert Ricklefs: Ahasvers Sohn.
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literarische und nicht als theatralische Strategien wahrgenommen werden, beachten sie nicht die von Japp deklarierten Zusammenhänge und Beziehungen zwischen Theorie und Praxis des romantischen Dramas. Uwe Japp geht in seinem Aufsatz auf die Stellung der Päpstin Johanna innerhalb der romantischen Ästhetik des Dramas ein und bescheinigt ihr, bei aller universalpoetischen Tendenz im Sinne der Frühromantik, eine „Prävalenz des Dramatischen.“28 Unter Verweis auf die intertextuellen Interpretationsergebnisse von Ricklefs29 beschränkt er sich jedoch weitgehend auf gattungstheoretische Problemstellungen und faßt die ästhetische Besonderheit des Dramatikers Arnim mit einer sehr vagen Formulierung zusammen: „Arnims Neigung zum generischen Experiment bestätigt sich auf dramatischem und epischem Gebiet. So wie das Drama zum Roman tendiert, so der Roman zum Drama.“30 Das ist wahrlich kein neues Forschungsergebnis. Die „Konfiguration einer inszenierten Dramatik in Prosa“ untersucht Japp in einem Beitrag zur Heidelberger Tagung der Arnim-Gesellschaft von 2004, in dem er E. T. A. Hoffmanns Don Juan, Honoré de Balzacs Massimilla Doni mit Arnims Melück Maria Blainville vergleicht und dadurch die in der europäischen Literatur dieser Jahrzehnte auftretende Mischung der Gattungen als Moment der romantischen Ästhetik und ihrer Folgen erörtert.31 Besonderes, wenn auch polemisches Interesse verdient Japps Werk Die Komödie der Romantik. Typologie und Überblick,32 und zwar deswegen, weil er bestrebt ist, verschiedene Kategorien von romantischen Komödien oder, besser gesagt, der Komödie in der Romantik zu bestimmen. Nun wird eine solche Absicht immer die problematischen Züge von systematisch ordnenden Definitionen zu erkennen geben, und dies wohl in besonderer Weise, wenn es sich um romantische Dramatik handelt, in der vielfältige Mischformen nicht als Folge eines unkonzentrierten Gestaltungsvermögens ihrer Autoren auftreten, sondern im Sinne einer universalpoetischen, synthetischen Idealform mehr oder weniger geradezu angestrebt werden. Japp klassifiziert zunächst drei Typen von Komödien: 1. parabatische 2. illudierende 3. die in einem bestimmten Sinne auch zur Romantik gehören, obwohl sie von der oben genannten Typologie nicht erfaßt werden.33
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Uwe Japp: Dramaturgie der Vertauschung, S. 162. Vgl. Ulfert Ricklefs: Arnims „Päpstin Johanna“-Dichtung. Uwe Japp: Dramaturgie der Vertauschung, S. 165. Uwe Japp: Auftritte: Inszenierte Dramatik in Prosa („Melück Maria Blainville“, „Don Juan“, „Massimilla Doni“). In: Das „Wunderhorn“, S. 123–133, das Zitat, S. 123. Uwe Japp: Die Komödie der Romantik. Ebd., S. 5f.
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Später bietet er für die offensichtlich diffuse dritte Kategorie recht schematisch noch folgende „Subformen“ an: „perturbierend“, „universalisierend“, „historisierend“ und „mikrologisch“.34 Abgesehen davon, daß diese Klassifizierungen schon theoretisch unproduktiv sein dürften, sind sie praktisch kaum sinnvoll anzuwenden und werden außerdem den Werken oft nicht gerecht. Sicher ist nicht zu bezweifeln, daß es möglich ist, die „parabatische“ Komödie relativ verläßlich in Tiecks Literatursatire Der gestiefelte Kater verwirklicht zu finden, obwohl selbst Japp einschränkt: dieser Typ „dominiert in der Literatursatire“.35 Die Existenz eines (in welcher Intensität auch immer) vorherrschendem Moments schließt eben nicht aus, daß zugleich andere Elemente des europäischen Dramas und Theater seit der Antike über die Commedia dell’arte bis zur frühromantischen Ästhetik die Struktur und die Form der Komödien der Romantik beeinflußt haben und daher andere Klassifizierungskriterien nahelegen. Doch die „Subformen“ des dritten Typs, der ja ohnehin nur „in einem bestimmten Sinn auch zur Romantik gehören“ soll (in welchem Sinn eigentlich, wird dabei nicht recht klar), treten realtypologisch nicht klar in Erscheinung. Im Klappentext ist sogar die Rede davon, das Buch behandele „zwei Ausprägungen der romantischen Komödie (parabatisch, illudierend) und berücksichtigt noch eine dritte Kategorie.“36 Demnach gehört dieser dritte Typ nur bedingt zur romantischen Literatur. Der gravierende Widerspruch zwischen theoretischer typologischer Fixierung und praktischer romantischer Dramaturgie wird in Japps Darstellung immer dann deutlich, wenn er Werkbeispiele anführt oder einzelne Autoren vorstellt. Was die Komödien Arnims betrifft, so ist zunächst merkwürdig, daß er ihre Aufnahme in seine Abhandlung damit begründet, der Dichter gehöre „auf eindeutige Weise zur romantischen Schule“, bei „allen Schwierigkeiten der Zuordnung“.37 Die Zugehörigkeit auf „eindeutige Weise“ wird allerdings dadurch wieder eingeschränkt, daß die „Subformen“ nur „in einem bestimmten Sinn auch zur Romantik gehören.“ Denn Arnims Lustspiele aus der Schaubühne subsumiert Japp samt und sonders unter der dritten Kategorie: „Arnim gehört damit zu jenen Autoren, die auch den zuvor erwähnten dritten Typus kultiviert haben: jenen Typus, der die Stücke vereint, die sich einer distinktiven Zuordnung entziehen.“38 Über die wissenschaftliche Relevanz solcher Urteile mag man geteilter Meinung sein, denn offensichtlich erbringen derartige Typologisierungen für die Bestimmung des literatur- und theatergeschichtlichen sowie gattungs- und genregeschichtlichen Standortes z. B. der inhaltlich und dramaturgisch vielseitigen Lustspiele Arnims in der Schaubühne kaum plausible Ergebnisse. Eine dramaturgische Profilierung etwa der „Komödien“ als in der „Tradition des
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Ebd., S. 14. Ebd., S. 21. Ebd., Klappentext. Ebd., S. 11. Ebd., S. 71.
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europäischen Volkstheaters“ stehend, könnte für die Forschung vielleicht mehr erbringen. Denn in den Stücken der Schaubühne wird mit jeweils differenziert ausgeprägter künstlerischer Phantasie an diese nicht-literarische Theatertradition angeknüpft, die in der Aufnahme und Fortführung bereichert wird, indem der Autor „Posse, Farce, auch Fastnachtsspiel, Puppenspiel etc. integriert und sich an Shakespeare und seinen Vorläufern (Marlowe, altenglische Komödien) sowie an der italienischen Commedia dell’arte orientiert.“39 Außerdem könnte ein weiterer Einwand gegen solche letztlich allzu formalen Typologisierungen vorgebracht werden: sie bezeichnen den ästhetischen Habitus der Stücke ohnehin nur ungenau und lassen überdies die zu Grunde liegenden inhaltlichen Absichten weitgehend außer acht. Wenn Japp z. B. im Hinblick auf den Autor des patriotischen historischen Lustspiels Die Kapitulation von Oggersheim feststellt, daß er „dem illudierenden Typus erkennbar zugearbeitet“ habe,40 und für das „Schattenspiel“ Das Loch einerseits eine Affinität zur „parabatischen“ Kategorie einräumt, wobei es sich aber andererseits „dem illudierenden Typus der romantischen Komödie“ „nähert“,41 dann werden nicht nur die Konturen unscharf, sondern es bleibt die utopische, politisch-gesellschaftlich motivierte theatralische Programmatik, die die ästhetische Gestaltung determiniert, außerhalb der Klassifizierung: Die Installierung eines deutschen Volkstheaters, das, verstanden in der komplexen, untrennbaren Einheit von Repertoire, Schauspielkunst, Bühne und Publikum, eine Poetisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse befördern sollte. Das Konzept einer dabei die Standesgrenzen überschreitenden ästhetischen Bildung und Erziehung des preußischen Staates und der deutschen Nation durch Volkspoesie und Volkstheater […].42
Ausgehend von der Kennzeichnung der dramengeschichtlichen Situation in Deutschland um 1800, bestimmt Claudia Stockinger in ihrer Einführung in die Theorie und Praxis der romantischen Dramatik43 die neu entstehende Theaterliteratur in ihren geistigen und ästhetischen Erscheinungsweisen und Traditionsbeziehungen. Dabei werden, bei Würdigung der neueren Arbeiten von Uwe Japp und seines Teams (zu dem sie ursprünglich gehörte), aber auch der literaturgeschichtlichen Gesamtdarstellung von Gerhard Schulz, die Desiderate bei der Erforschung dieser romantischen Gattung sichtbar. Im Kapitel über Arnim zitiert sie allerdings kritiklos Detlef Kremers Kennzeichnung seiner dra-
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Lothar Ehrlich: Arnims poetisch-politisches Theaterprojekt, S. 103. Uwe Japp: Die Komödie der Romantik, S. 66. Hier findet sich auch die (im ersten Teil wiederholte) Einschätzung Arnims, „daß seine Lustspiele die Zuordnung erschweren und in einer Art zurückgenommener Schwebe verharren.“ Ebd., S. 70. Lothar Ehrlich: Arnims poetisch-politisches Theaterprojekt, S. 102. Vgl. dazu auch: Edi Spoglianti: Arnims Plan eines nationalen Volkstheaters. In: „Frische Jugend, reich an Hoffen“. Der junge Arnim. Zernikower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hrsg. von Roswitha Burwick und Heinz Härtl. Tübingen: Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft 2), S. 189–200. Claudia Stockinger: Das Drama der deutschen Romantik.
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matischen Produktionsweise als „intertextuelle Bastelei“44 und resümiert, von Halle und Jerusalem ausgehend: Dieser christlich geprägte Glaube an eine poetische Erlösung des Menschen bestimmt als Leitidee das gesamte dramatische Werk Arnims, das jenseits aller beobachteten Formlosigkeit immer auch konkrete positive Botschaften artikulierte.45
Positiv ist, daß Stockinger die meisten Dramen Arnims wenigstens kurz charakterisiert, selbst das sonst meist vergessene „Universaldrama“46 Die Päpstin Johanna, dessen Edition in der WAA die Autorin noch nicht zur Kenntnis nehmen konnte. Zu bemängeln ist freilich, daß die Studie von Ulfert Ricklefs zu Halle und Jerusalem von 200047 keine Erwähnung findet – hierbei bleibt es, was die neuere Forschung betrifft, bei einem Verweis auf Detlef Kremer.48 Einen herausragenden Beitrag zur Erforschung des romantischen Dramas und speziell Ludwig Tiecks stellt die Karlsruher Habilitationsschrift von Stefan Scherer dar.49 Nach einer tiefgründigen, systematisch und historisch angelegten Einleitung zur Epoche, sowohl im Hinblick die literaturgeschichtlichen Prozesse als auch die allgemeinen ästhetischen und speziellen dramaturgischen Fragen, erfährt Tiecks dramatisches Werk (am Beginn der Entstehung des Dramas der Romantik) auf über 300 Seiten eine umfassende Darstellung. Im zweiten Teil der Arbeit wird Arnims dramatisches Werk als künstlerischer Ausdruck einer „Dramaturgie des Kaleidoskops“ begriffen.50 Scherer interpretiert die dramaturgisch widerspruchsvoll strukturierten Inhalte der wichtigsten Dramen, die letztlich von einem Leitmotiv durchdrungen seien, dem Gedanken vom tatkräftigen Charakter als Erfüllungsinstanz und Medium idealer Gemeinschaftlichkeit. Religiös artikuliert sich dieses Telos in der Überwindung weltlicher Schuld durch Buße zur Wiedererlangung einer höheren Ganzheit.51
Halle und Jerusalem stellt für Scherer den Höhepunkt von Arnims dramatischem Werk dar, er analysiert es in Übereinstimmung mit Ulfert Ricklefs dichtungsgeschichtlich (vor allem in Beziehung zur Gräfin Dolores und zur Päpstin Johanna) aufgeladener Metapher einer „signifikanten Doppelstruktur von zeitaktuellem Städte- bzw. Gesellschaftsdrama und religiösem Erlösungsbzw. Gnadendrama“.52 Dabei greift er die in der Forschung immer wieder, zuletzt von Kremer,53 thematisierte Antisemitismus-Problematik auf und setzt
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Vgl. Anm. 24. Claudia Stockinger: Das Drama der deutschen Romantik, S. 11. Ebd., S. 13. Vgl. Anm. 6. Vgl. Anm. 22. Stefan Scherer: Witzige Spielgemälde. Ebd., S. 519–553. Ebd., S. 520. Ebd., S. 527. Vgl. Detlef Kremer: Durch die Wüste, S. 145.
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sich differenziert mit Ricklefs Argumentationen auseinander, der mit Blick auf die dann von Arnim nicht verwandte Zueignung an die Juden geschlußfolgert hatte: In diesem Sinn war Arnims Drama eine christliche bzw. christlich-maurerische Unterweisung für Juden – wie für Christen – über Titanismus, moralische Autonomie, Buße und menschliche Endlichkeit, über das Geisterreich und die Symbolik des Grabes; dies anhand eines modernisierten christlichen Stückes von Gryphius.54
Gleichwohl bleibt Scherer skeptisch, ob sich dadurch der Antisemitismus-Verdacht erledigt habe. Diese Passagen mögen als exemplarische Beispiele dafür dienen, wie intensiv Scherer frühere Interpretationsergebnisse erörtert und verarbeitet, wodurch gleichzeitig der gegenwärtige Forschungsstand mitgeliefert wird. Auch seine Darstellungsmethode bei der Analyse der Schaubühne und der anderen Stücke, einschließlich des späten Marino Caboga, beeindruckt durch strikte Texttreue und abwägende Einbeziehung der bisherigen Sekundärliteratur. Scherers Gesamteinschätzung der Genesis von Arnims dramatischem Werk ist voll und ganz zuzustimmen: Bei Arnim reicht die Entwicklung vom radikal romantischen Buch Ariel’s Offenbarungen (im Bann der frühromantischen Poetik) über die Päpstin Johanna, das teils geschlossene Halle und Jerusalem-Schauspiel bei finaler Entgrenzung ins offen Religiöse zum vielfältigen Genre-Spiel in der Schaubühne bis zu einer frührealistischen Geschichtsdramatik.55
Schließlich ist hervorzuheben, daß es dem Autor gelingt, die für Ludwig Tieck ermittelten Forschungsergebnisse auf die Analysen der übrigen romantischen Dramatik anzuwenden. Im Hinblick auf Arnims Werk sei lediglich der Exkurs „Radikalisierte Gattungsentgrenzung, szenische Integration und dramatische Elemente im romantischen Universalroman“ erwähnt, der Ariel’s Offenbarungen und Gräfin Dolores behandelt.56 Einen neuen methodischen Ansatzpunkt bringt die Dissertation von Caroline Pross Kunstfeste. Drama, Politik und Öffentlichkeit in der Romantik in die Arnim-Forschung ein. Sie untersucht im zeitgenössischen politischen und im kulturgeschichtlichen Horizont Tiecks Die verkehrte Welt, Brentanos Viktoria und ihre Geschwister, Eichendorffs Die Freier sowie Arnims Die Vertreibung der Spanier aus Wesel und den Plan zu einem Festspiele beym Feste des allgemeinen Friedens (1814) als Beiträge zu einer kollektiven öffentlichen Festkultur, die von Friedrich Schlegel, Ludwig Tieck und Adam Müller theoretisch entworfen worden war. Dabei geht die Autorin der Frage nach, „in welcher Weise romantische Auffassungen über die Begründung, Behauptung und Beförderung von sozialer und nationaler Gemeinschaft sich in symbolischen
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Vgl. Ulfert Ricklefs: Ahasvers Sohn, S. 169. Stefan Scherer: Witzige Spielgemälde, S. 553. Ebd., S. 474–490.
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Vorstellungen niederschlagen […]“,57 die zu Festen, Spielen und Inszenierungen innerhalb und außerhalb des Theaters führen. Daß Arnims Bemühungen um das Berliner Theater nach 1813 auf eine gesellschaftliche Wirkung zielten, ist für sie ein konstitutives Moment seines strategischen Kulturprogramms. Pross würdigt Arnims Dramen-Sammlung als eines der wenigen konstruktiven Beispiele in der Geschichte des deutschen Theaters: Die Schaubühne ist das einzige Werk geblieben, in dem Arnims Projekt einer literarischen Nationalrepräsentation in der Nachfolge von Johann Christian Gottsched, Gotthold Ephraim Lessing und Ludwig Tieck konkrete Gestalt angenommen hat.58
Pross’ Darlegungen über den Plan zu einem Festspiel beym Feste des allgemeinen Friedens gehen über die bisherige Forschung hinaus, obwohl die faktischen Zusammenhänge um eine Aufführung am Berliner Königlichen Nationaltheater 1814 nicht unbekannt waren. Diese Vorgänge trugen wesentlich zu Arnims Enttäuschung über seine geringen patriotischen Wirkungsmöglichkeiten in Preußen und – als Konsequenz – zu seinem endgültigen Rückzug nach Wiepersdorf bei. Offensichtlich inspiriert durch ihre Dissertation, publizierte die Autorin einen Aufsatz, der sich, neben Kleists Hermannsschlacht und Brentanos Viktoria und ihre Geschwister, wieder Arnims Die Vertreibung der Spanier aus Wesel widmete.59 Diskurse von Greimas, Lotman, Derrida und Carl Schmitt aufgreifend, wendet sie sich dem „Sujet der Transformation eines Staates oder eines Gemeinwesens“ unter den Aspekten des geschichtlichen „Bruches“ und der projektierten „Anfänge“ und geistigen „Neubegründungen“ zu.60 „Verschobene Anfänge“ meint dabei, daß sich in Arnims Die Vertreibung der Spanier aus Wesel der Beginn eines erhofften neuen Staates und einer harmonischen Gemeinschaft nicht erfüllen ließ und sich daher in der dramatischen Darstellung zeitlich „verschiebt“. Dies wiederum begreift Pross, mit Carl Schmitt, als „Beleg für das Unvermögen der ‚politischen Romantik‘ […], auf Diskontinuitäten und Brüche anders als ablehnend oder mit einem ‚Ausweichen‘ zu reagieren.“61 Im zweiten Teil des Forschungsberichts sind die in der WAA vorgelegten Editionen der Dramen (Die Päpstin Johanna und Die Schaubühne) und die im Zusammenhang mit der Vorbereitung von Bänden, auch von Halle und Jerusalem, entstandenen Analysen zu besprechen.62 Die Päpstin Johanna, herausgegeben von Johannes Barth, ist die „erste kritische Edition“ des Werkes: „Den Schwerpunkt des edierten Textes bildet der zusammenhängende Abdruck der hier als Fassung F 2 bezeichneten chronologisch letzten Redaktion der Dichtung, die Arnim selbst für druckreif hielt.“63
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Caroline Pross: Kunstfeste. Zu Arnim, S. 207–243, hier S. 11. Ebd., S. 229. Caroline Pross: Verschobene Anfänge. Ebd., S. 151. Ebd., S. 163. Vgl. die Anm. 1–8. WAA. Bd. 10, S. 477.
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Eine Ausnahme stellt die Wiedergabe des Frühlingsfestes nach dem Erstdruck der Schaubühne (1813) dar. Entsprechend den Editionsprinzipien der WAA, werden alle überlieferten Textvarianten zusätzlich im Textteil des Bandes geboten, so daß die Genese der Dichtung von den ersten Entwürfen bis zur letzten, von Arnim autorisierten Fassung unmittelbar fortlaufend zur Kenntnis genommen werden kann. Von Arnim „autorisierte Drucke“ existieren nicht, das Werk ist vollständig im Goethe- und Schiller-Archiv „als Handschriftenkonvolut mit einer recht komplexen Binnenvarianz überliefert.“64 Den „Eingriffen“ in den Text von Bettina von Arnim bei der ersten Herausgabe des Werks in den Sämtlichen Werken „kommt keinerlei textkritische Relevanz für die vorliegende Edition“ zu,65 obwohl diese Veränderungen im Apparat mitgeteilt werden. Der Band bietet eine ausführliche Beschreibung der Überlieferung und der Entstehung der Dichtung sowie eine Dokumentation der Quellentexte und die Erläuterung von Einzelstellen, so daß damit für dieses Werk die notwendigen philologischen Voraussetzungen für Interpretationen gegeben sind. Der Herausgeber konnte auf die reichhaltigen Ergebnisse der jahrzehntelangen Beschäftigung von Ulfert Ricklefs zurückgreifen, die schon mit seiner Göttinger Dissertation von 1973 einsetzte und ihn immer wieder zu dem Werk führte.66 Ricklefs „kombinierte in seiner Darstellung philologische Analyse und darauf fußende Werkinterpretation“, und ihm sei der mit wissenschaftlicher Akribie geführte Nachweis zu verdanken, daß Die Päpstin Johanna die „Wendung von romantisch-idealistischen Tendenzen im Frühwerk des Autors zum symbolische Realismus“ bezeichne.67 Barth würdigt den von Ricklefs gesetzten „Meilenstein der Arnimforschung“, muß aber bedauern, daß es neben dessen Arbeiten und einem Aufsatz von Uwe Japp (auch zwei eigenen) keine Publikationen zur Päpstin Johanna gibt.68 Schon auf dem Wiepersdorfer Kolloquium der Arnim-Gesellschaft hatte Johannes Barth die Wissenschaftskritik Arnims in der Päpstin Johanna vor ihrem „persönlich-biographischen Hintergrund“69 dargestellt und einerseits mit der paradigmatischen Abwendung von den frühen naturwissenschaftlichen Arbeiten nach 1801 und andererseits der programmatischen Auseinandersetzung mit Johann Heinrich Voß über Des Knaben Wunderhorn begründet. Arnims Ziel bestand demnach seit dieser Zeit darin, „Gelehrsamkeit im besseren Sinne und Dichtung zu verbinden“. Deswegen sei, so seine Folgerung, „in der ver-
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Ebd., S. 478. Ebd., S. 481. Vgl. Anm. 7. WAA. Bd. 10, S. 720. Ebd., S. 721. Vgl. zu Uwe Japp Anm. 23. – Substantielle „Einzelbeobachtungen“ von Ulfert Ricklefs in: Geschichte, Volk, Verfassung und das Recht der Gegenwart: Achim von Arnim. In: Volk –Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe. Hrsg. von Alexander von Bormann u. a. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 65–104; Sprachen der Liebe bei Achim von Arnim. In: Codierungen von Liebe in der Kunstperiode. Hrsg. von Walter Hinderer. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 237–291. Johannes Barth: „Dieses Elend der Gelehrten“, S. 130.
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söhnlichen Schlußutopie der Dichtung für die Repräsentanten der Gelehrsamkeit [Spiegelglanz und Chrysoloras] kein Platz mehr.“70 Sicher wäre weiter zu hinterfragen, welches Wissenschaftskonzept Arnim wirklich ablehnt und wie er sich eine konstruktive Synthese mit der Poesie tatsächlich vorzustellen vermag. Mit der Schaubühne, herausgegeben von Yvonne Pietsch, liegt jene Sammlung von kleinen volkstümlichen Dramen wieder gedruckt vor, die Arnims auf ethische Erneuerung gerichtetes operatives Theaterprogramm in der Zeit der antinapoleonischen Befreiungskriege zum Ausdruck brachte. Es sind jene Bearbeitungen und originären dramatischen Werke, die am ehesten den Weg auf die Bühne finden könnten. Es sind keine romantischen „Lesedramen“, sondern dramaturgisch pointierte für eine Inszenierung geschriebene und technisch ohne Schwierigkeiten aufführbare Theaterstücke.71 Yvonne Pietsch ist eine der jüngeren Mitarbeiterinnen der WAA.72 Sie hat zunächst, in Verbindung mit der Weimarer Arbeitsstelle, 2001 an der Universität Erlangen-Nürnberg eine Magisterarbeit über Ludwig Achim von Arnims Bearbeitungen altdeutscher, altenglischer und französischer Vorlagen in der Schaubühne (1813) verfaßt. Danach entstand im Rahmen des Promotionsstudienganges „Literaturwissenschaft“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München die Dissertation Ludwig Achim von Arnims Schaubühne (1813) – Textkonstitution, historisch-kritische Kommentierung und Interpretation (2006), die die Grundlage für die Herausgabe der Schaubühne in der WAA darstellte, wobei beide Arbeiten textlich nicht identisch sind. Neben den entstehungsgeschichtlichen und den kommentierenden Erläuterungen bietet der Band alle wichtigen originalen historischen und literarischen Quellentexte, die Arnim benutzt hat und für die Verwirklichung seiner nationalen Wirkungsabsichten von Drama und Theater von konstitutiver Bedeutung waren. Neben ihren akademischen Qualifizierungsschriften und der Edition der Schaubühne hat Yvonne Pietsch regelmäßig mit Vorträgen an den Kolloquien der Arnim-Gesellschaft teilgenommen und zu inhaltlichen und ästhetischen Aspekten der von ihr herausgegebenen Theaterstücke publiziert.73 In einer ersten Studie über Jann’s erster Dienst untersucht sie die Figurenbeziehung zwischen dem Herrn und dem Diener im Hinblick auf John Locke, obwohl sie
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Ebd., S. 131f. Trotzdem fanden nur Die Vertreibung der Spanier aus Wesel (einmalig) und Das Loch (mehrmalig) den Weg auf eine öffentliche oder private Bühne. Vor ihr befaßte sich Friederike Schaible mit der Transkription von Handschriften und anderen vorbereitenden Arbeiten für die drei projektierten Schaubühne-Bände (einschließlich des handschriftlichen Nachlasses). Sie schrieb in Erlangen-Nürnberg eine Magisterarbeit: Das unbekannte Dramenfragment „Die Wiedertäufer“ von Ludwig Achim von Arnim. Edition – Quellendokumentation – Analyse (1997) und publizierte: Die Geschichte zur Wahrheit läutern: Arnims „Wiedertäufer“-Fragment. Szenenfolge und Edition einer Szene des Fragments. In: „Frische Jugend, reich an Hoffen“, S. 201–215, der die stoff- und motivgeschichtlichen sowie entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen skizziert, eine knappe Interpretation bietet und das Fragment in die Entwicklung des Dramatikers Arnim einordnet. Vgl. die Zusammenstellung in Anm. 5.
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nicht davon ausgehen kann, daß Arnim dessen Zwei Abhandlungen über die Regierung zur Kenntnis genommen hat.74 Trotzdem macht Yvonne Pietsch plausibel, daß der gesellschaftspolitisch ambitionierte Autor das Verhältnis der Herrschenden und Beherrschten und deren soziale Befindlichkeiten differenziert thematisiert und dabei „die Lockeschen Zentraltermini Freiheit, Mündigkeit und das Recht auf Selbsterhaltung auch zentrale Aspekte in Arnims Posse sind.“75 Dem Verhältnis von bildender Kunst und Literatur in der Vertreibung der Spanier aus Wesel ist ein zweiter Aufsatz gewidmet. Dieses Stück wurde gleichermaßen durch einen Kupferstich und einen Chroniktext aus Matthäus Merians Theatrum Europaeum angeregt. Bei der Vertreibung der Spanier handele es sich um eine dramaturgische „Funktionalisierung des Bildes und Chroniktextes“ von 1629 für eine aktuelle gesellschaftspolitische Aussage. Die Frage jedoch, inwieweit es sich bei diesem ästhetischen Verfahren tatsächlich um moderne „Intermedialität“ handelt, wird leider nicht überzeugend beantwortet.76 Daß Arnim in der Schaubühne die traditionellen Redeweisen der dramatischen Gattung überschreitet, demonstriert Yvonne Pietsch in einem dritten Aufsatz: Auf phonetischer, semantischer und performativer Ebene kommt es immer zu Verdoppelungen, die gelegentlich zu einer Auflösung der dramatisch-dialogischen Situation führen und teilweise an Gestaltungsprinzipien des Dramas aus dem frühen 17. Jahrhundert erinnern.77
Diese sprachlichen Phänomene werden als Kennzeichen für die epischen Tendenzen des „iterativen bzw. überexplikativen Dramenstils“ von Arnim charakterisiert.78 Zwei Aufsätze im letzten Heft der Neuen Zeitung für Einsiedler gehen unmittelbar auf ihre Dissertation zurück und lassen unterschiedliche methodische Ansätze erkennen: der eine wendet sich den Liebesdiskursen in der Dramensammlung von 1813 zu, speziell im Schicksalsdrama Der Auerhahn, und untersucht die Beziehungen zwischen Liebe und geschichtlichem Engagement in der Vertreibung der Spanier aus Wesel und den Appelmännern. In den Befreiungskriegen möge „der heroische, soldatistische Beruf die Ideale der romantischen Liebe und der Ehe ersetzen.“79 Arnim verfolge dabei die Absicht, die individuellen und gesellschaftlichen Ansprüche und Erfahrungen im spannungsvollen Verhältnis von privatem und öffentlichem Leben, das Liebe und Politik einschließt, letztlich im Sinne seines weitgreifenden nationalen Erneuerungskonzeptes beispielhaft zu versöhnen.
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Yvonne Pietsch: Von einem der auszog, S. 111. Ebd., S. 113–114. Yvonne Pietsch: Das „Fortmalen“ ins Weite, S. 280. Yvonne Pietsch: „Wie soll ich mich gebährden“, S. 136. Ebd., S. 144. Yvonne Pietsch: Die „unendliche Welt holder möglicher Geschicke“, S. 49.
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Der zweite Aufsatz über die poetische Konzeption Arnims zur Zeit der Schaubühne80 ist der intertextuellen Interpretationsmethode verpflichtet, die Ulfert Ricklefs mit profundem Ergebnis auf die zwischen 1809 und 1813 entstandenen großen dramatischen Kunstwerke (Halle und Jerusalem, Die Päpstin Johanna) in ihrer stofflich-motivischen und überhaupt historische und poetische Quellen verarbeitenden Vernetzung angewandt hat, und orientiert sich an der von Arnim abgelehnten Unterscheidung von Natur- und Kunstpoesie durch Jacob Grimm. In diesem Horizont gelingt es ihr, die literarisch-theatralische Produktions- und Wirkungsästhetik der Schaubühne, die – mit den Worten des Dichters – ein „Abbild des vollen mannigfaltigen Weltlebens“81 vermitteln sollte, zutreffend zu bestimmen. Ein anderes Theaterstück der Schaubühne, das Schattenspiel Das Loch oder das wiedergefundene Paradies, wird von Claudia Nitschke, der Mitherausgeberin der Novellensammlung Wintergarten (1809), in dem Sammelband Das Unterhaltungsstück um 1800 dramentypologisch verortet.82 Der Aufsatz findet sich in einem Sammelband, der beabsichtigt, das „Unterhaltungstheater um 1800 neu zu profilieren,“ und dabei nicht nur einschlägig bekannte Autoren wie August Wilhelm Iffland, August von Kotzebue, Friedrich Ludwig Schröder, Joseph Mario Babo oder gar Johanna von Weißenthurn berücksichtigt, sondern alle Schreibenden und Texte, die sich nicht primär einer Ästhetik der Originalität und Autonomie verschreiben [!], sondern subjektive und individuelle Schreibimpulse […] mit den pragmatischen Ansprüchen wirtschaftlich arbeitender Theaterbühnen in Balance zu bringen versuchen.83
Was bedeuten diese Annahmen für eine Interpretation? Und zumal: Wie verhalten sich „Originalität“ und „Autonomie“ zu ethischen oder politischen Wirkungsintentionen, die nicht unbedingt an „pragmatischen Ansprüchen wirtschaftlich arbeitender Theaterbühnen“ orientiert sein müssen. Andererseits verstehen die Herausgeber „das Unterhaltungsdrama als ein wichtiges Reflexionsmedium von Gesellschaft, Politik und Literatur [und] als Begleit- und Beobachtungsmedium der um 1800 sich vollziehenden Modernisierungsprozesse“84 í eine Feststellung, die wohl auf die meisten künstlerischen Produkte zutrifft. Ob von diesen unklaren Prämissen her tatsächlich ein neuer Zugang zum Verständnis und zur Bewertung der Unterhaltungsdramatik dieser Epoche zu finden ist, mag dahin gestellt bleiben, hier kann lediglich die Frage von Belang sein, ob die Aufnahme von Arnims Loch in dieses Genre gerechtfertigt ist.
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Yvonne Pietsch: „Für Büchermotten wollte ich nicht schreiben“. Anm. zum Erstdruck der Schaubühne. Berlin 1813, S. 308. Claudia Nitschke: Unterhaltung im Dienst politischer Ideen. Ludwig Achim von Arnims Schattenspiel „Das Loch, oder das wiedergefundene Paradies“. In: Das Unterhaltungsstück um 1800. Literaturhistorische Konfigurationen – Signaturen der Moderne. Hrsg. von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter. Hannover: Wehrhahn 2007 (Forum für deutschsprachiges Drama und Theater in Geschichte und Gegenwart 1), S. 189–207. Ebd., S. XVII. Ebd.
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Eingangs bezieht Claudia Nitschke Kategorien von Japps Typologisierung der romantischen Komödie85 auf Arnims Schattenspiel, um dann das zentrale Problem von gesellschaftspolitischer Strategie und komischer Struktur an Handlung und Sprache des Stückes zu erörtern. Der in der Sekundärliteratur zur zeitgenössischen Dramatik weitgehend unstrittige, sich ausschließende Gegensatz von Unterhaltungsstück (Kotzebue, Iffland) und Komödie bzw. Lustspiel (Arnim) wird von der Autorin nicht weiter reflektiert, obwohl er bei der Interpretation im Sinne einer möglichen Akzeptanz dieser Differenz beachtet werden müßte. In der neuesten Forschung zur Dramatik Arnims, etwa bei Uwe Japp und Yvonne Pietsch, gehört Das Loch keineswegs zum Dramentyp „Unterhaltungsstück“. Und auch Nitschkes Interpretation begründet eine solche Klassifizierung nicht. Die Existenz eines „unterhaltsamen Rahmen[s]“86 und anderer unterhaltender komischer Elemente im Stück dürfte jedenfalls kein Argument dafür sein. Als ob Unterhaltung nicht eine ästhetische Funktion, und zwar nicht nur von romantischer Dramatik wäre, ohne daß Stücke typologisch dem Genre zeitgenössische „Unterhaltungsdramatik“ zugeordnet werden müßten. Von einem „Meilenstein der Arnimforschung“ war mit Blick auf die Interpretation der Päpstin Johanna durch Ulfert Ricklefs schon die Rede, und diese Einschätzung ist außerdem auf seine Interpretation des zweiteiligen „Städtedramas“ Halle und Jerusalem zu beziehen. In der ersten Anmerkung zu dieser Abhandlung findet sich Ricklefs editorisches und literaturanalytisches Credo: Kommentierung bedarf der Matrix, eines Fundaments der Orientierung, das Interpretationsarbeit voraussetzt. Nur so sind die Kontextsetzungen, die der Kommentar leistet, hinsichtlich ihrer Relevanz, ist Kommentarbedürftiges auf der Folie der voraussetzenden Zusammenhänge und Verflechtungen abschätzbar. Die Untersuchung bietet so nicht nur einen Referenztext für den Kommentar, sondern einen Einblick in den poetischen Kosmos des Werks und die zugehörigen Kontexte für den Leser […].87
Für Ulfert Ricklefs bilden editorische und interpretatorische Tätigkeit also eine untrennbare, wechselseitig erhellende Einheit. Das ganzheitliche Verständnis eines poetischen Textes sei eine notwendige Voraussetzung für seine Kommentierung, weil nur auf diese Weise ein kontextueller „Referenzrahmen“ geschaffen werden könnte, in dem vor allem der Überblickskommentar und die Erläuterung von Einzelstellen entstehen sollten. Mit der subtilen intertextuellen Interpretation von Halle und Jerusalem schafft sich der Literaturhistoriker Ricklefs die Basis für einen Kommentar, der wiederum präzisierend oder korrigierend auf die Interpretation zurückwirkt. Ein so entstandener Kommentar einer historisch-kritischen Edition leistet freilich mehr für die Interpretation eines Kunstwerkes als es bislang zumeist geschah. Der Kommentar könnte bei diesem Verfahren interpretativ so „angereichert“ werden, daß er tendentiell selbst eine Interpretation darstellte.
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Vgl. Anm. 11 und S. 42–44. Claudia Nitschke: Unterhaltung im Dienst politischer Ideen, S. 203. Ulfert Ricklefs: Ahasvers Sohn, S. 143.
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Zunächst skizziert Ulfert Ricklefs die biographischen und entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen, unter denen das Werk gedichtet wurde. Die Berliner Jahre zwischen 1809 und 1813 werden mit ihren hauptsächlichen Personen und Situationen sowie in ihrem individual- und zeitgeschichtlichen Zusammenhang dargestellt, ebenso die Herausbildung von Arnims ästhetischen Auffassungen, die dann auf die Interpretation von Halle und Jerusalem angewandt werden. Die zentrale Idee des Doppeldramas bestehe in der Vermittlung einer „umfassenden Lehre“, die an Charakter und Entwicklung der Hauptfigur Cardenio und ihren Beziehungen zur Welt transparent werde: Der Sturz des strahlenden Titanen, der Luziferfigur Cardenio in Halle, als Tragödie der Subjektivität; und die spirituelle und politische Erneuerung einer europäischen Elite – im Geist einer in Agape und Tat-Ethos lebenszugewandten, in der Grabmystik transzendent orientierten christlich-maurerischen Ordensgesinnung in Jerusalem.88
Wie schon bei der Erörterung des Antisemitismus-Verdachts in der Publikation von Stefan Scherer deutlich wurde,89 wollte Arnim in diesen utopischen Entwurf einer neuen „europäischen Elite“ zur habituellen Erneuerung des Kontinents ursprünglich auch die Juden integrieren. Er hatte die Absicht, in dem Doppeldrama „tatsächlich wohl die Perspektive auf eine Vereinigung von Christen und Juden im Rahmen eines nationalen christlichen Staates und darüber hinaus eines europäischen, christlichen Kulturraums“ auszurichten.90 Auf Grund seiner geschichtlichen Erfahrung gab der Dichter diese Idee jedoch schließlich auf, weil es „ein Zeichen des Verfalls von Volkssinn wie von Glauben [sei], wenn die Völker sich mit Leichtsinn Juden, Türken und Heiden einbürgern lassen.“91 Arnim bestand also auf der Anerkennung des Christentums als alleinigem religiösen Fundament der deutschen Gesellschaft. Ricklefs interpretiert die innere Wandlung des Helden Cardenio in ihren einzelnen Stufen, seine letztliche Abkehr vom „idealischen Narzißmus“,92 wie den mit ihr verbundenen „mythologischen Subtext“, wodurch die Fabelerzählung eine „umfassende Dimension und Bedeutung“ erhalte.93 Dabei verfolgt er im zweiten Teil der Dichtung sowohl die „Spuren der Ordens- und Geheimgesellschaftsmotivik“94 als auch die dominierenden Motive der christlichen Mythologie. Am Ende des Dramas werde allerdings „die Befreiung zur Liebe durch die Auferstehung Christi“ glorifiziert, und der Interpret zitiert des Autors „Lieblingssatz“ aus der Bibel: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe
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Ebd., S. 164. Vgl. S. 45. Ulfert Ricklefs: Ahasvers Sohn, S. 164–165. Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. Zitiert nach: ebd., S. 165. Ebd., S. 194. Ebd., S. 177. Ebd., S. 195–222.
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lebt, der lebt in Gott.“95 Darin besteht die letzte Botschaft des protestantischen romantischen Dramatikers Arnim, mit der die Interpretation seines „den poetischen Kosmos des Werks und die zugehörigen Kontexte“96 erschließenden Herausgebers Ulfert Ricklefs endet. Die umfangreiche Analyse legt die ästhetischen Strukturen, Formen und Mittel der Dichtung frei, entfaltet ihren „symbolischen Realismus“. Ohne ein solches integriertes Verfahren wäre eine so tiefsinnige Interpretation überhaupt nicht möglich gewesen, die nur über die Vermittlung der Inhalte durch die spezifische literarisch-künstlerische und sprachliche Darstellungsweise zu gewinnen war. Insofern handelt es sich bei Ricklefs Untersuchung um eine wahrhaftig große, geradezu mustergültige Interpretation. Am Ende des Forschungsberichts soll die eingangs gestellte Frage nach einer möglichen „Neubewertung von Arnims Leistung als Dramatiker“ im letzten Jahrzehnt nochmals aufgegriffen werden. Die Frage zielte vornehmlich auf die theatralischen Profile seiner dramatischen Werke, nicht so sehr auf ihre weltanschaulichen und politisch-sozialen Inhalte. Was diese betrifft, so sind nach 2000 einige die Forschung bereichernde Arbeiten vorgelegt worden. Die zuletzt besprochene Interpretation von Ulfert Ricklefs ist sicherlich ein nur schwer zu erreichendes oder gar zu überbietendes Modell, aber auch die Habilitationsschrift von Stefan Scherer sowie die Dissertation und die Aufsätze von Yvonne Pietsch waren besonders hervorzuheben. Daneben erbrachten die stärker auf die Dramaturgie des romantischen Dramas gerichteten Beiträge, allen voran Uwe Japps (wenn auch problematischer) Versuch einer typologischen Klassifizierung der romantischen Komödie innovative Erkenntnisse. Andererseits bleibt es bei einem Defizit im Hinblick auf die detaillierte Erörterung und Klärung dramen- und theaterästhetischer Prämissen, Intentionen und Wirkungsstrategien der Arnimschen Werke. Darüber können einzelne erhellende Beobachtungen und Einsichten in der jüngsten Sekundärliteratur nicht hinwegtäuschen. Selbst Ricklefs vorzügliche Interpretation enthält sich weitgehend einer Darstellung spezifischer dramaturgischer Aspekte, was nicht zu monieren ist, weil er sein wissenschaftliches Erkenntnisstreben darin zu verwirklichen trachtet, den universellen Gehalt möglichst vollständig in all seinen religiösen, weltanschaulichen, politisch-sozialen, ethischen und ästhetischen Momenten und Verbindungen zu erfassen. Eine „Neubewertung von Arnims Leistung als Dramatiker“ fand also nicht statt – trotz der Forschungen des letzten Jahrzehnts im Umfeld der Weimarer Arnim-Ausgabe und am Institut für Literaturwissenschaft der Universität
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Ebd., S. 243. Vgl. 1. Joh., 4, 16. Auch im Brief an Bettina vom 22. Dezember 1809 zitiert: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott.“ (Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hrsg. von Reinhold Steig und Herman Grimm. Bd. 1–3. Bd. 2. Bettina Brentano. Stuttgart, Berlin: Cotta 1904, S. 362). – Das Zitat lautet in der Übertragung Martin Luthers: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott in ihm.“ Vgl. das Zitat auf S. 52 (Anm. 87).
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Karlsruhe. Aber vielleicht war dies eine Erwartungshaltung, die wegen des anhaltend mangelnden Interesses der akademischen Literatur- und Theaterwissenschaft ohnehin nur enttäuscht werden konnte – ganz abgesehen davon, daß die Berechtigung einer „Neubewertung“ überhaupt strittig bleiben dürfte.
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Der verlorene Faden Die Quelle von Achim von Arnims Erzählung „Frau von Saverne“
In Arnims erzählerischem Werk nimmt die im Oktober 1817 gedruckte Erzählung Frau von Saverne eine Sonderstellung ein. Sie ist kürzer und einsträngiger in der Handlung als die großen Erzählungen etwa vom Tollen Invaliden oder von den Majorats-Herren und erinnert an die ältere romanische Novellentradition. Auch der „triadische Geschichtssymbolismus“, die „Poesiethematik“ und die „Struktursymbolik“, die romantische Erzählungen überhaupt und viele Arnims prägen,1 sind in ihr zumindest auf den ersten Blick nicht festzustellen. Dennoch haben nahezu alle Interpreten des Textes in ihm die Arnimsche Signatur des Phantastischen, Unkonventionellen, Beunruhigenden erkannt und sie als Beleg für seinen Überdruß an der preußischen Restaurationspolitik gedeutet. Nur Walther Migge hat festgestellt, daß die Erzählung sicher auf eine noch unbekannte Quelle zurückgehe;2 die letzte kritische Edition des Textes weist dagegen darauf hin, der Autor habe „die Atmosphäre Südfrankreichs und der Hauptstadt […] nach eigenem Erleben der Jahre 1802/03 schildern“ können.3 Ließe sich die besondere Stilistik dieses Prosastücks vielleicht dadurch erklären, daß ihm eine ältere Quelle zugrundeliegt? Auskunft über die Frage gibt ein Fund an unvermuteter Stelle. 1845 erschien im 26. Band der irischen Zeitschrift Dublin University Magazine anonym die englischsprachige Erzählung Madame de Saverne.4 Der Text entspricht vollkommen dem Handlungsgang von Arnims Erzählung, fällt aber um einiges umfangreicher aus. Für die Quellenfrage ergibt sich damit folgende Ausgangslage: Entweder ist der englische Text in der irischen Zeitschrift eine um eigene Zusätze erweiterte Übersetzung von Arnims Erzählung und damit eine Rezeption. Oder aber er geht auf eine
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Wolfgang Frühwald: Achim von Arnim und Clemens Brentano. In: Handbuch der deutschen Erzählung. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. Düsseldorf: Bagel 1981, S. 145– 158, hier S. 148. Achim von Arnim: Sämtliche Romane und Erzählungen. Auf Grund der Erstdrucke herausgegeben von Walther Migge. München: Carl Hanser Verlag 1963, 2. Bd., S. 911. Achim von Arnim: Werke in 6 Bänden. Hrsg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack, Paul Michael Lützeler, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Hermann F. Weiss. Bd. 3: Sämtliche Erzählungen 1802–1817 aus den Quellen ediert und umfassend kommentiert. Hrsg. von Renate Moering. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990 (künftig: Sämtliche Erzählungen 1802–1817), S. 1365. Dublin University Magazine, Bd. 26 (1845), Nr. 156: December, S. 656–667; s. den Abdruck am Ende meines Aufsatzes. Stellennachweise für diese Quelle erscheinen künftig in Klammern im Text.
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bisher unbekannte Vorlage zurück, die auch Arnim für seine Erzählung genutzt hat, und stellt damit eine spätere Überlieferung von Arnims Quelle dar. Diese Vorlage müßte zwischen 1804 und Oktober 1817 erschienen sein. Der terminus post quem ergibt sich aus dem Motiv des Drehrads, denn die „rotatory machine“ wurde 1804 von dem englischen Arzt und Irrenhausbesitzer J. M. Cox beschrieben.5 Die Fassung des Dublin University Magazine enthält einen Schlußsatz, der Arnims Text6 fehlt; er ergänzt die Attacke gegen die „dummen Einfälle“ der „Gesetzgeber“ (975) durch den Zusatz, dies gelte auch für die Macher der „poorlaws“ (667), also des Armenrechts. Der Satz kann sich auf die Vorschläge zur Änderung des alten Armenrechts beziehen, die 1816 in einem parlamentarischen Ausschuß auf Initiative von J. C. Curwen verhandelt wurden und dann 1818/19 in die sogenannten Sturges-Bourne Acts mündeten. Andererseits läßt sich auch ein Bezug auf die weitreichende Änderung der Armenfürsorge in den Jahren 1834 denken, als der „Poor Law Amendment Act“ das noch aus der Elisabethanischen Zeit datierende System völlig umkrempelte. Sollte sich der Satz auf dieses „New Poor Law“ beziehen, dann mag dieser Zusatz von dem Herausgeber der englischen Fassung mit Blick auf die zeitgenössische Situation ergänzt worden sein. Der Fund gibt erst einmal neue Rätsel um die Erzählung auf. Im für die Arnim-Edition besten Falle entspricht der Text des Dublin University Magazine der Quelle für Frau von Saverne. Sei dieser englische Text aber nun eine Weiterdichtung von Arnims Erzählung oder sei es, daß er Arnims Bearbeitung einer älteren Vorlage verdeutlicht: Die Eigenart des Arnimschen Erzählens wird durch das Textdouble auf jeden Fall neuartig erhellt. Im vorliegenden Fall wäre sogar Madame de Saverne als literarische Umarbeitung der Frau von Saverne die ungleich interessantere Option, denn über die Bearbeitungsvorlieben des ‚Wunderhornisten‘ ist schon einiges bekannt. Meiner Ansicht nach stellt der Text des Dublin University Magazine den Nachdruck einer englischsprachigen Erzählung dar, die Arnim als Vorlage für seine Erzählung genutzt hat. Diese ältere Vorlage konnte ich allerdings bisher trotz intensiver Suche in deutschen, französischen und englischen Bibliotheken nicht ermitteln. Für meine Hypothese sprechen folgende Gründe: 1.) In der Regel bringen literarische Bearbeitungen von Texten gestraffte und stilistisch verbesserte Texte hervor. Es dürfte eher die Ausnahme sein, daß die Bearbeitung den Text bei einem Grundbestand an punktgenauer Übertragung um etliche dramatische Dialogszenen und erzählerische Reflexionen erweitert. 2.) Für Arnim ist die Bearbeitung älterer Vorlagen charakteristisch und belegt. Die Erzählungen Laura (1809/10) und Wenda (1810) gehen auf französische Quellen zurück;7 nahezu der gesamte Zyklus des Wintergartens (1809) stellt eine Bear-
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Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1975, S. 95. Frau von Saverne wird im folgenden zitiert nach Renate Moerings Edition in Sämtliche Erzählungen 1802–1817 (wie Anm. 3), S. 963–975. Sämtliche Erzählungen 1802–1817, S. 1206f. und 1211f.
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beitung deutscher, französischer und englischer Quellen dar. 3.) Für eine englischsprachige Vorlage spricht die Textlogik. Madame de Saverne spielt zwar in Frankreich, aber sie stellt die französische Mentalität und die Großstadt Paris als intrigant und gefährlich dar. Ausgangspunkt ist der Unabhängigkeitskrieg der amerikanischen Kolonien, der für England eine Niederlage und das die Aufständischen unterstützende Frankreich den Sieg brachte. Die Einleitung spricht der „great nation“ (656) als eine ihrer lebhaftesten Empfindungen „Haß gegen England“ zu. Und in den Text sind etliche französische Brocken eingestreut, die spürbar ein Ressentiment gegen französische Lebensart kultivieren. Zudem wissen wir aus Sheila Dicksons Untersuchung über die Brüder Gordon, daß Arnim englischsprachige Akten mit großem Talent und Feingefühl für seine Erzählung Mistris Lee übersetzt hat; dabei wurden Dialogpassagen ersetzt durch indirekte Rede.8 Gegen die Hypothese, Madame de Saverne gehe auf Arnims eigentliche Quelle für Frau von Saverne zurück, gibt es allerdings auch mögliche Einwände. Das Dublin University Magazine ist nämlich seit seinem Erscheinen ein wichtiger Umschlagplatz für deutsche Literatur in Großbritannien. Es beförderte die „increasing knowledge of German literature in this country“9 und war ein Sprachrohr der Tories. Zu den Gründern und Herausgebern dieser politischen und literarischen Monatsschrift zählt neben dem späteren Politiker Isaac Butt (1813–1879) und dem Dichter John Francis Waller (1810–1894) auch John Martin Anster (1793–1867), der erste Übersetzer von Goethes Faust ins Englische (erste Teilübersetzung 1820 in Blackwood’s Magazine). Der bedeutende irische Dichter James Clarence Mangan (1803–1849) steuerte in den ersten zehn Jahrgängen des Magazins etliche Übersetzungen deutscher Lyrik in der Rubrik Anthologia Germanica bei, die 1845 dann gesammelt als German Anthology herauskam.10 In den Übertragungen Mangans, der als „Ireland’s German Poet“11 galt, ist Arnim aber nicht vertreten; das Schwergewicht gilt Gottfried August Bürger, Goethe, Schiller, Uhland, Tieck, Justinus Kerner und der Lyrik des Vormärz, die insgesamt in der Zeitschrift umfangreicher rezipiert ist als die der Romantik. Das Dublin University Magazine nahm auch deutsche Erzählungen wahr; Fouqués Undine ist darin angezeigt,12 E. T. A. Hoffmanns Datura fastuosa als Werk eines der „most remarkable writers in what has been termed the
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Sheila Dickson: An Apology for the Conduct of the Gordons: Dichtung and Wahrheit in Achim von Arnims „Mistris Lee“. In: European Romantic Review 11 (2000), S. 300–321. Tutti frutti. In: Dublin University Magazine, Bd. 4 (1834), Nr. 19: July, S. 93. Vgl. Walter Roloff/Morton E. Mix/Martha Nicolai: German Literature in British Magazines 1750– 1860. Madison: University of Wisconsin Press 1949, S. 57. Anthologia Germanica. German Anthology. A Series of Translations from the most Popular of the German Poets. 2 vols. Dublin: William Curry, Jun. and Company 1845. Vgl. hier das Vorwort zu Bd. 1, S. III. Zitiert nach Horst Oppel: Englisch-deutsche Literaturbeziehungen. II. Von der Romantik bis zur Gegenwart. Berlin: E. Schmidt 1971 (Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik 2), S. 64. Dublin University Magazine, Bd. 5 (1835), Nr. 27: March, S. 365.
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Fantastic School of German Fiction“ ins Englische übersetzt.13 Viele der Texte in der Rubrik „narratives/fiction“ aber sind generell ohne Angabe des Autors und/oder Übersetzers gedruckt. 1853 erschien im Dublin University Magazine eine englische Übersetzung von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas,14 ohne Angabe des Autors und eines Übersetzers, die eine „einschneidende Kürzung des Dichtwerks“ vornimmt, dies aufgrund einer konservativen und anglikanisch-protestantischen Indienstnahme der Textes.15 Angesichts der hervorragenden Kenntnisse deutscher Literatur in der Zeitschrift und der Bearbeitungstendenz von Kleists Novelle drängt sich der Verdacht auf, daß man genausogut auch Arnims Erzählung für das irische Publikum bearbeitet haben könnte.16 Dafür hätte wohl nicht der Erstdruck in der von Gubitz herausgegebenen prominenten Berliner Zeitschrift Der Gesellschafter in Frage kommen können, sondern die Ausgabe der Sechs Erzählungen aus dem Nachlaß Arnims, die 1835 in Berlin und Königsberg in der Neumark erschien; in dieser Ausgabe steht Frau von Saverne am Anfang. Dagegen spricht aber die Unbekanntheit von Arnims Werk in Großbritannien17 und die innere Textlogik. In Kleists Erzählung hat der anonyme Übersetzer gekürzt; die englische Fassung der Madame de Saverne jedoch ist umfangreicher als die kondensierte deutsche Anekdote und macht einen in sich geschlossenen und konsistenten Eindruck. Tatsächlich wäre es viel schwieriger, Arnims Text in dieser Form auszuspinnen, als umgekehrt aus einer umfangreicheren englischen Fassung die Geschichte der Frau von Saverne veredelnd herauszupräparieren. Einzig ein Detail aus Arnims Geschichte fehlt in der englischen Version: nämlich der anfangs genannte Name des Vaters der Heldin „Lonny“ (963). Dieser für die Handlung völlig unwesentliche Zug gibt allerdings Rätsel auf. Es läßt sich kein Grund denken, weshalb der Nachdruck im Dublin University Magazine den Namen weglassen sollte, denn er erwähnt auch den ähnlich folgenlosen Eigennamen von Frau von Savernes früherer Bedienung Jeannette (657). Möglicherweise war die hypothetische Urquelle an dieser Stelle umfangreicher, so daß sowohl Arnim als auch der Bearbeiter im Dublin University Magazine unterschiedlich gründlich auswählten. Oder handelt es sich etwa hierbei um eine eigenwillige Hinzufügung Arnims? Stellt der Name vielleicht eine Anspielung auf einen Zeitgenossen oder Bekannten dar? Ich habe keinen ermitteln können. Soll er zusätzliches historisches Kolorit erzeugen? Zu wenig eigentlich für einen einzigen Namen. Oder handelt es sich dabei gar um einen romantischen joke, ein Anagramm, das „Lyon“, den fran-
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Ebd., Bd. 13 (1839), Nr. 78: June, S. 707–727, Zitat S. 707. Ebd., Bd. 41 (1853), Nr. 245: Mai, S. 556–578. Mary Howard: Vom Sonderling zum Klassiker. Hundert Jahre Kleist-Rezeption in Großbritannien. Berlin: E. Schmidt 1990 (Philologische Studien und Quellen 119), S. 75–83, Zitat S. 76. Zumal im Dublin University Magazine unmittelbar auf Madame de Saverne eine Übertragung von Karl Ludwig Fernows Gedanken über Raphael’s Tapestries folgt, allerdings mit Nennung des Autors. In der Zusammenstellung von Roloff/Mix/Nicolai, German Literature in British Magazines sind im 19. Jahrhundert bis 1860 nur 2 Erwähnungen Achim von Arnims aufgeführt (S. 111).
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zösischen Geburtsort der Saverne, kombiniert mit dem englisch klingenden „Lonny“ als Hinweis auf eine englische Vaterschaft der Anekdote? Woher Arnim den Text bezogen haben könnte? Wahrscheinlich aus einer englischsprachigen Zeitschrift oder Zeitung. „Zeitungen sind […] die einzige lebende Poesieen der Engländer“, schrieb er am 5. Juli 1803 aus London an Clemens Brentano.18 Als Vermittler kommt auch Arnims älterer Bruder Carl Otto in Frage, der einige Zeit seines Lebens als Diplomat in England und Irland verbrachte.19 Ich gehe im folgenden davon aus, daß Arnims Quelle der englischen Version des Dublin University Magazine entspricht; sollte es sich bei dieser aber stattdessen um eine späte Bearbeitung von Arnims Erzählung handeln, so wären deutscher und englischer Text durch ein umgekehrtes Perspektiv zu betrachten. In jedem Fall aber gewinnt die Arnimsche Version des Stoffs, weil sie literarisch anspruchsvoller ist. Arnims Einleitung in die Erzählung macht nur einen Satz aus, danach folgt die Perspektivierung auf das weibliche Geschlecht: Der amerikanische Krieg hatte England gedemütigt und den Ruhm der französischen Waffen hergestellt, ganz Frankreich jubelte und besang die Weisheit seines Königs Ludwig des Sechszehnten. Weil das weibliche Geschlecht dort etwas mehr als in andern Ländern an den öffentlichen Angelegenheiten Teil nahm, so wurde auch manche Frau von der Begeisterung für den König ergriffen, nur hielt sich diese mehr an die Gestalt und Person als an die Weisheit, die nur eine allegorische Figur sein kann. Es war nichts Seltenes in Frankreich, des Königs Brustbild, mit Blumen geschmückt, wie einen Hausgott in den Schlafzimmern reicher Frauen zu finden, wo sonst nur Haubenstöcke und Modepuppen gesehen wurden. (963)
Die englische Madame de Saverne dagegen breitet den sitten- bzw. kulturgeschichtlichen Rahmen der Erzählung aus und illustriert die Geschichte mit etlichen realistischen Einzelzügen: The short-lived popularity of the ill-fated Louis the Sixteenth was in its culminating point at the close of the American war. The ‚great nation‘ had been gratified in its two liveliest feelings, love of military glory and hatred of England, and its devotion to the monarch whose wise policy had brought about the happy result, amounted for the time to a species of idolatry. The fairer portion of the subjects of Louis shared in the general enthusiasm, and the king’s bust, chapletted each morning with fresh flowers, like the image of a patron saint, was the most indispensable ornament of the bed-chamber of every Frenchwoman who made any pretensions to be considered comme il faut. (656)
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In: Ludwig Achim von Arnim: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Weimarer Klassik hrsg. von Roswitha Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Christof Wingertszahn. Bd. 31: Briefwechsel 1802–1804. Hrsg. von Heinz Härtl. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2004, S. 267, Z. 148f. Vgl. Sheila Dickson und Christof Wingertszahn: „Selig sind deine Selbsttäuschungen“: Carl Otto Ludwig von Arnim (1779–1861). In: Romantische Identitätskonstruktionen: Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie. Hrsg. von Sheila Dickson und Walter Pape. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2003, S. 139–159.
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Diese Darstellung transportiert Bewertungen, die in Arnims Text fehlen: den Verweis auf das Schicksal Ludwig XVI., die Charakteristik Frankreichs durch militärische Ruhmesliebe und Haß gegen England. Sie bemüht auch den Topos der „grande nation“, der eigentlich erst ab 1797 von Napoleon in Umlauf gebracht wurde, wenn er auch schon vorher vereinzelt, etwa in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), zu finden ist.20 Und Arnim beseitigt die französischen Reizvokabeln („comme il faut“), die das savoir vivre der Franzosen und ihre prägende Geselligkeitskultur markieren. Auch die Situation in der Provinz ist dem Deutschen nur einen Nebensatz wert: „während entferntere Provinzen noch in Ehrfurcht und Bewunderung zu dem fernen Könige verharrten“ (963). Dagegen schildert die englische Fasssung die abnehmende Begeisterung für den König mit Nennung etlicher Landstriche zwischen dem Mittelmeer und dem Golf von Biskaya bis zur Rhone und Garonne (656). Ähnlich im folgenden Text. Der Bruder des Beichtvaters weilt in der englischen Fassung in der Romagna (656), während Arnim sich über diese Exkursion ausschweigt; Frau von Saverne beschäftigt vor ihrer Zofe Manon eine andere namens Jeannette (657) usw. Die englische Geschichte erzählt wesentlich mehr. Sie baut Frau von Savernes Rechtfertigung ihrer Reise nach Paris mit dem Hinweis auf die amourösen Eskapaden der Madame Grosgrisard aus, die eindeutig auf der Suche nach einem „vaurien“ (657) ist; sie schildert detailliert das Gespräch zwischen Madame de Saverne und ihrer französischen Wirtin (658), das bei Arnim nahezu fehlt; sie gibt einen Dialog etlicher französischer Arbeiter über die „mad lady from Avignon“ ausführlich wieder, garniert mit den Ausrufen „Diable!“, „Parbleu!“ und „Ma foi!“ (659) und schildert farbig die Unsinnsreden der Insassinnen des Irrenhauses (662f.). Wo Arnim wiederum nur in einem Nebensatz zusammenfaßt, daß Frau von Savernes „Verehrung für den König den Schein gegeben, daß ihre Freigebigkeit ihn vermehrt und ihre Einsamkeit Jedermann darin bestärkt hatte“ (971), sie sei wahnsinnig, führt die englische Fassung weidlich aus, daß die Pariser Loyalität und Güte nur als Zeichen des Irrsinns betrachteten: Had she every where railed at Louis as the author of all the woes of France, the oppressor and afflicter of his subjects in every possible and impossible way, – had she spent her fortune on dress, and her time in the theatre and the assembly, – had she lived without doing good to any mortal in this world, and without thinking of the next, a doubt would never have been entertained of the soundness of her mind; but to revere the king, to give her money to people who had nothing to give her for it but their prayers, and, above all, to pass the greater part of her time at home! – what Parisian could require more unequivocal proofs of madness? (663)
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Für den Hinweis danke ich herzlich Gerhard Sauder (Saarbrücken). Vgl. Georg Büchmann: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes gesammelt und erläutert von Georg Büchmann. Fortgesetzt von Walter Robert-Tornow. 32. Auflage vollständig neubearbeitet von Gunther Haupt und Winfried Hofmann. Berlin: Haude & Spener 1972, S. 649.
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Arnims Bearbeitung der Vorlage beschränkt sich aber nicht auf die Tilgung der Dialoge und des illustrativen Beiwerks sowie auf die Auslassung der Nationalklischees, sondern zielt auf eine Umstilisierung der Anekdote. Er unterdrückt den Charakter einer Kriminalgeschichte und deutet stattdessen eine diffuse Atmosphäre der Bedrohung an. So läßt er den frühen Hinweis des Erzählers wegfallen, daß die Zofe Manon offenbar ein Komplott mit dem „Nußknacker“ geschmiedet hat. Der Reiter, der Frau von Saverne in der englischen Fassung bis zum Hotel verfolgt, verschwindet bei Arnim vorher aus dem Blickfeld der Dame: „Sonderbar war es ihr, daß ein Reiter den Wagen bis nach Versailles begleitete, den Niemand kannte und der auch mit ihr an demselben Hotel abstieg“ (965). Die englische Fassung führt diese Verfolgung als verdächtig auf und legt dem Leser durch die ausführliche Erörterung der Umstände nahe, daß hier ein Komplott geplant ist: It struck her as singular that a horseman rode the whole way at the side of her carriage, until they were within a short distance of Versailles, when he gallopped on, and was lost sight of for a short time. She addressed a remark to her maid on the oddity of the circumstance, but Manon replied, somewhat sulkily, that she found nothing odd in there being other people going to Versailles as well as themselves. Madame de Saverne then asked the coachman if he knew any thing of the man, but his only reply was an elevation of the shoulders, which might either mean that he knew nothing, or that he knew more than he chose to tell. A few minutes after the carriage drove into Versailles, and stopped at an hotel, where the lady, as she alighted, perceived the person who had awakened her curiosity standing in the midst of a group in the doorway. As she appeared, he withdrew into the house […] (658).
Die Fäden der Kriminalgeschichte werden abgeschnitten und an ihrer Statt ist das subjektive Grauen der Saverne verstärkt, die sich nicht erklären kann, was ihr geschieht. Auf sie trifft zu, was der Erzähler an den Geschichten der Zofe Manon hervorhebt: „sie wußte viel von ihren Schicksalen zu erzählen, aber es war immer, als ob der Faden fehlte, der all das Seltsame verbinden sollte“ (964). Karl Gutzkow hat „dieses mährchenhafte Clärobscur“ als besondere Eigenart von Arnims Erzählen in einer Rezension dieser Geschichte scharfsichtig festgehalten: „Wer fühlte hier nicht, daß ihm der Boden unter den Füßen schwindet, und geheime Fäden gesponnen und gezogen werden, welche die Illusion des Lesers in das Gespinnst mit hinein verweben, so daß man zulezt nicht mehr weiß, woran man ist und Wen man närrisch nennen soll?“21 Im Vergleich der Frau von Saverne mit der umfangreicheren Vorlage wird deutlich, wie Arnim den Eindruck des Mysteriösen erzeugt: durch Aussparen des Lokalkolorits und Umwandeln der zahlreichen Dialoge in indirekt gebrochene Darstellung, in „erzählerische Reflexion“.22 Er verunklärt die Hinweise
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Karl Gutzkow: Rezension von „Sechs Erzählungen. Nachlaß von L. Achim von Arnim“. Berlin und Königsberg in der Neumark 1835. In: Karl Gutzkow: Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur. Stuttgart 1836. Reprint Frankfurt a. M.: Athenäum 1973, Bd. 1, S. 321–327, Zitate S. 323f. Ebd., S. 324.
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auf den vermeintlichen Irrsinn der Heldin, die in der englischen Version gegeben sind: „she could give only vague hints of mysterious danger, which she hoped might induce her friends to come to her relief. In fact, she did not know what to make of the way in which she was treated; and the bewilderment in which she wrote gave to her letters the character of a fantastic romance, which might awaken grave doubts as to the sanity of the writer“ (662). Bei Arnim sind diese Briefe nur „unverständlich, denn sie wollte ihre Lage nicht deutlich machen, nur ihre Freunde reizen: ihr zu Hülfe zu kommen“ (969). Dabei verliert nicht nur die Heldin den Faden, sondern auch der Leser. Sicher kann die Überwältigung der Witwe als Kritik an der „surveillance“ (661), einer allwissenden Machttechnologie im Foucaultschen Sinne, gelesen werden; damit unterschätzt man aber die Komplexität dieses Erzählverfahrens.23 Der verlorene Faden ist nicht nur einer der Kriminalgeschichte, sondern der einer erotischen Affäre. Arnim arrangiert die Wahrnehmungen seiner schwärmerischen Heldin so, daß ihre Reise zum König die Allegorie einer amourösen Tour wird, in der fortwährend „fremde Männer“, sei es mit oder ohne „Stelzfuß“, vor dem Schlafzimmer der Witwe auftreten, worin die Büste des Königs mit Blumen geschmückt wird (968f.). Auf die erstaunliche Zweideutigkeit dieser Erzählung habe ich schon an anderer Stelle hingewiesen: „Die Erzählung kann politisch wie sexuell entziffert werden. Der Reiz des Textes besteht darin, daß, vermittelt durch urbane Ironie, wie hinter einem Schleier despektierliche Bedeutungen aufscheinen. Arnim verwendet Wörter, die im volkstümlichen Sprachgebrauch sexuell markiert sind: „Garten“, „Esel“, „Reiter“ usw. „König“ erhält auf der ‚allegorischen‘ Bedeutungsebene die Bedeutung ‚Phallus‘.“24 Im Lichte der englischen Quelle betrachtet, verstärkt Arnim die schon in der Vorlage enthaltene ironische Tendenz gegenüber der Schwärmerin. Sein Verfahren, aus der Vorlage einen zweiten Sinn herauszupräparieren, mag man im Sinne romantischer Ironie aus der Charakteristik von Manons Rede durch den Erzähler herauslesen: in der Tat fehlt hier ein „Faden […], der all das Seltsame verbindet“ – die Vorlage nämlich. Der anekdotische Zuschnitt dieser Vorlage mag Arnim als Liebhaber von Anekdoten besonders gereizt haben; bekanntlich schätzten sowohl er als auch Bettina und ihr Bruder Clemens „charakteristische Individualitäten und kuriose Begebenheiten“, ein „Leben aus dem Stegreif“.25 Madame de Saverne bot die Möglichkeit, alternative Erotik und Verdruß gegen die preußische „Polizei-
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S. dazu Christof Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achims von Arnim. Mit einem Anhang ungedruckter Texte aus Arnims Nachlaß. St. Ingbert: Werner J. Röhrig 1990 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 23), S. 169–176. Ebd., S. 170. Heinz Härtl. In: „Anekdoten, die wir erlebten und hörten“. Ludwig Achim von Arnim; Bettina von Arnim; Clemens Brentano. Hrsg. von Heinz Härtl. Göttingen: Wallstein 2003, S. 86.
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bande“26 in einer Bearbeitung zu artikulieren, wobei die Vorteile dieser Gattung einer „nicht offiziellen und indiskreten Geschichtsschreibung“ ausgenutzt werden konnten: „Was unter der historischen Oberfläche lag, die von der apologetischen Historiographie und der offiziösen Memoirenliteratur geglättet worden war, deckte die anekdotische Mitteilungsweise mitunter als subversive Geschichte auf.“27 In der Quelle hat Arnim einen Text gefunden, der es ihm erlaubte, seine Kritik an der preußischen Restaurationspolitik und seinen „Eckel gegen Hardenbergs Civilverwaltung“ zu formulieren.28 Dabei brauchte im Gang der Handlung nichts geändert werden; die für Preußen latent vorhandene Deutungsmöglichkeit muß Arnim sehr gereizt haben. Die englische Vorlage operiert von einem konservativen und protestantischen, „loyalistischen“ Standort aus, die auch den katholischen Beichtvater der Saverne als Vertreter des Papstes ins Zwielicht taucht. Zwar rettet er sein Beichtkind aus der Gewalt der „esprits forts“ (666), aber die anfängliche Unterstellung der Saverne, er verlöre durch ihren Weggang seinen einträglichen Mittagstisch und ein Legat (657), klingt nicht schmeichelhaft. Tatsächlich hat er etwas von einem gerissenen Betrüger. Trifft die Feststellung zu, daß wir im Dublin University Magazine die Quelle für Frau von Saverne im Nachdruck haben, dann ist es erstaunlich, wieviele Züge dieser Madame de Saverne der deutsche Bearbeiter finden konnte, die auf berlinische Verhältnisse gedeutet werden konnten. Auch die Metropolenabneigung des Gutsbesitzers Arnim fand hier eine Vorlage. Das auffälligste Motiv ist das der Drehmaschine, die der französische Arzt benutzt – sie wurde eigentlich in England erfunden und wanderte dann nach Frankreich und Deutschland. Sie beruht auf der Theorie, daß Geistesstörungen „eine den ganzen Organismus umfassend besetzende körperliche Krankheit“ seien, die durch eine gegenläufige, von außen aufgezwungene Krankheit geheilt werden könne: „Eben diese neue, heilende Krankheit sollte durch einen Apparat künstlich produziert werden, der durch eine beliebig zu beschleunigende […] Drehung des in ihm befestigten Patienten Schwindel, Erbrechen, Kreislaufkollaps bis zur Bewußtlosigkeit und gelegentlich bis zu Krämpfen auslöst“.29 An der Berliner Charité wurde das Drehrad von dem Professor für praktische Medizin Ernst Horn (1774–1848) eingesetzt. Die preußische Psychiatrie brachte es offenbar fertig, die schon von Hallaran 1810 perfektionierte rotatory machine so zu modernisieren, „daß man statt vier nur noch einen Gehilfen benötigte und 120 Um-
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So Arnim am 31. Dezember 1814 an Joseph Görres. In diesem Brief heißt es: „Die „Polizeibande […] gibt unbemerkt tausend Gesetze, die das Wohl und Wehe der Menschen bestimmen, deren Zustand sie nicht kennen; hochfahrend ist sie geworden durch das Bücherwesen und die sogenannte wissenschaftliche Bildung, frech in dem Druck der Zeit, der alle Verfassungen unterdrückte; gleisnerisch reden sie von Volksglück, wenn sie stehlen […].“ In: Joseph von Görres: Gesammelte Schriften. Bd. 2: Gesammelte Briefe. Freundesbriefe. (Von 1802–1821.) Hrsg. von Franz Binder. München 1874 (künftig: Görres, Briefe), S. 446–449, hier S. 448. Härtl: „Anekdoten“, S. 87. Arnim an Görres, [Wiepersdorf 1815]. In: Görres, Briefe, S. 449. Dörner: Bürger und Irre, S. 95.
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drehungen/Min. erreichte“.30 Horn wurde 1818 wegen fahrlässiger Tötung eines Irren entlassen. Von den Berliner Zuständen dürfte Arnim gewußt haben. Schon 1813 erschien in dem von Horn herausgebenen Archiv für medizinische Erfahrung ein Bericht über die Behandlung eines Irren mit der „Coxischen Drehmaschine“, die angeblich zur Folge hatte, „daß er auf der Stelle sein ganzes Wesen änderte, und einen vollständigen Wiedereintritt der Harmonie der psychischen Funktionen zu erkennen gab“.31 Mit den zeitgenössischen Methoden der Psychiatrie, die bei den Kranken auf „Erweckung der Furcht und des Gehorsams“32 aus war, konnte Arnim kaum einverstanden sein. 1817 hat er sich mit der Thematik des Wahnsinns nicht nur in Frau von Saverne, sondern auch im Tollen Invaliden auf dem Fort Ratonneau befaßt. Zieht man die Meisternovelle heran, so läßt sich darin auch quellengeschichtlich die Reaktion auf die Saverne-Anekdote lesen. Die in der Motivik vielfach verwandten Texte sind komplementär. Beide behandeln Fälle im Bereich der Psychiatrie, in beiden Fallgeschichten entpuppen sich aber die vermeintlichen Geistesstörungen als Zuschreibungen und Machinationen der Mitmenschen. Mit Blick auf die Quellenbearbeitung erscheint der Tolle Invalide als Beispiel eines kreativen Umgangs mit einer Vorlage, worin der französische Fallbericht von dem Wahnsinnigen auf dem Château d’If in eine versöhnliche Anekdote umgedichtet wird, in der Deutsche und Franzosen Völkerfreundschaft praktizieren. Sie überholt damit Arnims eigene Straffung der englischen Quelle von Madame de Saverne, die ein englisches Nationalvorurteil gegen Frankreich überliefert.
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Ebd., S. 274. Ernst Horn: Glückliche Heilung eines Wahnsinns, nebst Bemerkungen über die heilsame Wirkung der Cox’schen Drehmaschine in Geisteszerrüttungen. In: Archiv für medizinische Erfahrung. Jg. 1813. Berlin: Julius Eduard Hitzig, S. 114–129, Zitate S. 128f. So die Notiz über einen Vortrag Horns vom 24. November 1815 über die „Anwendung der Drehmaschine“ in: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Hrsg. von C. W. Hufeland und J. Ch. F. Harles. Bd. 42. Berlin 1816: Realschulbuchhandlung, S. 118.
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Madame de Saverne The short-lived popularity of the ill-fated Louis the Sixteenth was in its culminating point at the close of the American war. The „great nation“ had been gratified in its two liveliest feelings, love of military glory and hatred of England, and its devotion to the monarch whose wise policy had brought about the happy result, amounted for the time to a species of idolatry. The fairer portion of the subjects of Louis shared in the general enthusiasm, and the king’s bust, chapletted each morning with fresh flowers, like the image of a patron saint, was the most indispensable ornament of the bed-chamber of every Frenchwoman who made any pretensions to be considered comme il faut. This fit of summer loyalty was hottest and briefest at Paris: the first symptom of a „cool“ was the disappearance of the flowers, then the august head found itself pressed into the service of the toilette, and did duty as a cap-block, or even (where ladies wore such a thing) as the supporter of a wig; from this stage the decline of the royal popularity went on with gathering speed, portraits gave place to carica-tures, panegyrics to pasquinades; the king was blamed for every evil under which France had to groan, from a deficient revenue to a rainy Sunday, and the unmeasured admiration of which he had for a while been the object, seemed but to have prepared the way for an odium equally unmeasured and far more un-deserved. In the provinces, however, the change was more gradual, and that in the proportion of their distance from Paris. The disaffection of the capital was slow in making its way to the shores of the Mediterranean and of the Bay of Biscay, and the person of majesty was still warmly venerated on the remote banks of the Rhone and the Garonne, when it had long ceased to be referred to on those of the Seine, except in the tone of indifference or of abuse. Among the fair loyalists whose devotion did so much honour to themselves and to its object, there were few to compare, either in the ardour or the durability of their patriotic enthusiasm, with Madame de Saverne, the rich widow of a papal functionary in Avignon. A Frenchwoman by birth (she was the daughter of a wealthy silk manufacturer of Lyons), she could not cease to consider herself a subject of Louis, and indeed continued such in all her thoughts, though from her marriage and present circumstances her outward allegiance was due to the triple crown. We need not say whether the king’s bust occupied its customary place of honour in her house; it was, in truth, the first object on which her eyes opened each morning, and to crown it with the brightest flowers the south’s sunny gardens could furnish, was her daily care. This was a sore scandal to her confessor, who in vain exhorted her to discard this worldly idol, and to supply its place with something edifying – say the image of St. Peter. Madame de Saverne professed the most entire veneration for St. Peter, but urged the claims which, even on religious grounds, the earthly sovereign also has to the homage of the subject, whereupon the confessor reminded her, with some sharpness, that her sovereign was not Louis but the pope, and that busts of the holy father, as well as of the most Christian king,
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were to be had in Avignon. But what was the consternation of the good Dominican when his spiritual daughter announced to him her determination of making a journey to Paris, for the purpose of sunning herself in the direct beams of the royal countenance. It was to no purpose that he represented to her the sinfulness of this excessive reverence of a mortal and a layman, that he painted the corruption of the capital in the darkest colours, that he exhibited in fearful array the perils that threatened the souls, bodies, and purses of such thoughtless beings as suffered a fatal curiosity to draw them within its precincts, that he confided to her the passion with which she had inspired his brother, a most promising young man, and a captain in the pope’s army, then on duty somewhere in Romagna, but shortly expected home; Madame |657| de Saverne had made up her mind; she would see the king, were it but once, were it but for a moment; she would taste this beatitude, and then be content to die, still more so to live; she thought, she said, it was a most innocent wish, a most natural one, and if Madame Grosgrisard had travelled to Paris last year for no other purpose than to see herself surrounded by suitors, that she might have a greater number out of which to choose the greatest vaurien to bestow her deceased husband’s wealth upon, surely she, whose enthusiasm was so pure, might blamelessly give way to it – surely she might indulge a wish engendered only by devotion to the father of her country. But the confessor maintained that the purity of her feelings was the very reason that she should not go to Paris; it was no place, he insisted, for good intentions and laudable motives, but only for mischief, roguery, and ungodliness of every kind; a very fit place, in short, for Madame Grosgrisard to look for a vaurien, but the last place in the world for Madame de Saverne to seek the kind of earthly god she pictured to herself in the French monarch. The resolution, however, of the lady was not to be changed; she attributed her spiritual director’s horror of Paris to prejudice, and a monk’s ignorance of the world, and anticipated the pleasure she should have, on her return to Avignon, in enlarging his contracted views. Nevertheless, his last words, pronounced with a kind of prophetic solemnity, as she tenderly imbedded the royal bust in cotton, and with reverential hands deposited it in the well-wadded box provided for its reception, left an unpleasant impression on her ear, which did not speedily wear off. He said – „You now lavish on that image a care, a respect almost idolatrous – you will cumber your carriage with it – you will anxiously guard it from every jolt – you will dandle it on your knees, I doubt not, as if it were a child; but when you come back you will not take in your hand a piece of coin that bears the same image without shuddering: such is the price at which you will purchase this hour’s pleasure.“ But whatever momentary uneasiness a warning so darkly ominous might have given her, Madame de Saverne was not frightened from her purpose: the good father, she believed, felt angry at her having turned her property at Avignon into cash, and lodged it in the hands of a banker, who gave her bills for it on Paris, when he had reckoned confidently on her making it a present to his
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monastery; she suspected, too, that he was annoyed at the loss of her very wellappointed table, at which a „cover“ had as regularly been placed for him as for herself, and this impression went far to counteract the force of any thing he could advance against her intended journey. His labours, however, had been crowned with more fruit in another quarter: Jeannette, Madame de Saverne’s maid, was fairly terrified from accompanying her mistress to a place which her pastor depicted to her as little better than the fore-porch of hell, and the lady, to her no small vexation, was obliged to take a stranger to wait upon her, a native of Paris, who had travelled as a nursery governess, or bonne d’enfant, and was now anxious for an opportunity to return to the place of her birth. This person, who was called Manon, had long left the giddy years of youth behind her; she described herself as having „beaucoup souffert,“ and on the whole inspired her new mistress with more distrust than confidence. On the other hand, she was active and clever, knew what travelling was, and was, therefore, probably more helpful to Madame de Saverne on the journey than her simple Jeannette would have been. Arrived at Paris, she proved a „treasure;“ the bewildering maze of the streets was no maze for her; she knew whither to go and where to stop, and soon piloted Madame de Saverne to a lodging-house, the mistress of which received the party with many smiles, and declared her apartments ready to receive them the same moment. Madame de Saverne asked but one question – how far was the house from the Tuileries? –and on learning that the palace was not more than five minutes’ walk distant, she at once took the lodgings for a month. Without stopping to take either refreshment or rest, or, indeed, to do any thing but unpack the revered bust of majesty, and instal it in her future sleepingroom, Madame de Saverne now requested her landlady to shew |658| her the way to the palace, that she might lose no time in satisfying her longing eyes with a sight of the king, whom she pictured to herself as stepping out, every half hour or so, on a balcony at the first floor windows, to beam a beatific regard on his passing subjects. It was some time before the landlady could believe that she rightly understood her lodger, and that the only motive of the latter for a journey from Avignon to Paris had been the desire of seeing the king. Was it that madame had any business with the king? she asked. Had she, perhaps, a petition – a memorial – to present to his majesty? No – Madame de Saverne had but yielded to a wish common, she presumed, to every French bosom, to contemplate him who was at once the happiness and the glory of France. „You, madame,“ said she, „who have the good fortune to reside in the capital, must often have reflected with compassion on the lot of those, whom their more distant abode forbids for years together, perhaps for their whole lives, the sight of those august and benign features. How natural, then, must you find it, that I, to whom destiny has assigned such a lot, should have resolved at least once to enjoy a felicity without which you, doubtless, could not exist a single day.“ „Mon dieu, madame!“ exclaimed the landlady, „for my own part, I assure you, I would not go two steps out of my way for the sake of seeing the king, nor
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is there, I will venture to say, in all Paris, a human being that would ever ask to see him again. A king who suffers the bakers to put plaster of Paris in their bread instead of flour! – nay, some are of opinion that it is not even plaster of Paris, but pounded glass! Can madame conceive such a horror?“ Madame de Saverne could scarcely believe her ears: she held, however, what the landlady said for a mauvaise plaisanterie, but, as she understood33 no jesting on such a subject, she contented herself with coldly remarking that it was, apparently, inconvenient to madame to accompany her to the palace; she would, therefore, take her maid as a guide, and had only to express her regret at having troubled madame with an indiscreet request. The landlady begged an infinity of pardons, and declared that nothing would yield her so much happiness as to have the honour of showing madame the way, but expressed her surprise at finding madame, as she apprehended, unacquainted with the circumstance that the king did not live at the Tuileries, but at Versailles. This was an unexpected blow for Madame de Saverne: however, she did not take long to deliberate: the carriage was still before the door, and scarcely more than half unpacked; she immediately directed that every thing should be replaced in statum quo, ordered fresh horses, and, to the inexpressible chagrin of Mademoiselle Manon, set off for Versailles the same hour, after making the landlady a present of a month’s rent. It struck her as singular that a horseman rode the whole way at the side of her carriage, until they were within a short distance of Versailles, when he gallopped on, and was lost sight of for a short time. She addressed a remark to her maid on the oddity of the circumstance, but Manon replied, somewhat sulkily, that she found nothing odd in there being other people going to Versailles as well as themselves. Madame de Saverne then asked the coachman if he knew any thing of the man, but his only reply was an elevation of the shoulders, which might either mean that he knew nothing, or that he knew more than he chose to tell. A few minutes after the carriage drove into Versailles, and stopped at an hotel, where the lady, as she alighted, perceived the person who had awakened her curiosity standing in the midst of a group in the doorway. As she appeared, he withdrew into the house, and the people of the hotel came forward to meet her with looks of curiosity, which she could not help being struck by. They seemed to know that she was come to Versailles for the purpose of seeing the king, and told her that he seldom visited the gardens now, on account of indisposition. „Heavens!“ cried the loyal lady, „and is France exposed to the unspeakable – the irreparable“ – „I have the honour to supplicate madame,“ said the landlord with a smile, as her emotion interrupted her speech, „to re-assure herself: the indisposition of his
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majesty is not such as to give room for any grave uneasiness as |659| to the destinies of France. Will madame give herself the trouble to walk in?“ Madame de Saverne found Versailles charming, aud was at once decided to settle there. She looked at some houses in the vicinity of the palace, but was no less surprised than mortified to find that the proprietors had no mind to deal with her, though she offered terms considerably above those of a fair bargain. Another thing that puzzled her was to find, wherever she went, that she seemed to be known. In many of the houses for which she made proposals, the people looked at each other, and remarked, „C’est cette dame,“ or asked, „C’est madame qui est d’Avignon?“ – and, on being answered in the affirmative, politely informed her that the house was not to be let for the present. She had, therefore, to return to her hotel, and to take an apartment by the day – a mode of lodging herself, more expensive than her judgment approved; but what could she do? There was, in fact, no choice. In her new lodging, Madame de Saverne observed the strictest retirement: a number of works relating to the history of France, and in particular to that of the late war, ordered from a neighbouring bookseller’s, formed her amusement for in-doors, and her maid was her only society. She had contracted habits of seclusion during the life of her husband, who saw no company, and the representations of her confessor, as to the dangerous character of Parisian society (under which term she conceived that of Versailles to be included), were not without their influence upon her. Books in the morning, and the palace-gardens in the afternoon, gave her full occupation. The construction of a new terrace at this time employed a great number of workmen in the gardens, and some of these were one day engaged in recounting to each other their respective histories, as Madame de Saverne sat on a bench within hearing. One of them described his captivity among the savages during the American war, the tortures he had seen inflicted on his comrades, and prepared for himself, his escape, and the perils and privations he had encountered in his return to the French camp, concluding with a bitter complaint that for all this he had now no pension, but must work for his bread like any pekin who had never handled iron, save in the shape of a spade or a pick-axe, nor set foot over the borders of France all his days. Madame de Saverne heard this complaint with pain, less on account of him who uttered it, than of him on whom it seemed to reflect: she approached the man, slipped a piece of gold into his hand, and said, – „Attribute it to the ill health of your king, my friend, that your claims have hitherto been overlooked, and pray for his restoration, not only for your own, but for France’s sake: in the meantime accept this trifle from one who honours brave men.“ The man seemed confounded; he looked from face to face of his comrades, as she hasted away without waiting for his thanks, then at the gold piece in his hand, then at the retiring figure of his benefactress, then at his companions again. „Diable!“ said he, when he at last found speech.
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„’Tis the mad lady from Avignon,“ said one of the workmen: „she is come all the way hither to see the king, who has had the happiness to inspire her with a grande passion.“ „Parbleu!“ said another, „’tis a happiness thrown away upon him: one of us had known better how to profit by such a bonne fortune.“ „’Tis a brave lady,“ cried the receiver of the gold piece: „we will drink this evening to the recovery of her understanding.“ „Ma foi!“ said he that had spoken before, „I would rather drink to the spread of her madness among the rich ladies of the court: they will do us little good as long as they have their senses.“ The next day Madame de Saverne was accosted by a whole troop of workmen, each of whom related to her his deeds in the war, and the ingratitude of his country: she gave something to each of them, notwithstanding the strenuous remonstrances of her maid, who assured her that she was played upon, and that the most of the fellows had certainly never been out of France. „Suppose it so,“ said Madame de Saverne; „to what purpose did Hea|660|ven give me so much fortune, and so few wants, if I may not give of my superfluity to those who have not enough?“ Manon represented that, in this manner, she would soon leave herself without any fortune, and pursued the subject so far, and so much in the tone of a governess with her pupil, that Madame de Saverne at length became impatient of being schooled by her maid, and the next morning said to her – „Manon, I have no further need of your services. There is what I owe you. Farewell.“ „Madame cannot dismiss me before the end of my term,“ answered the maid, saucily. „I will certainly not leave madame till the period of my engagement is expired.“ „I am quite ready to pay you up to the end of the term,“ said Madame de Saverne; „but I repeat that I have no occasion for your services, and, in short, you cannot stay with me any longer.“ „We shall see,“ said Manon, and left the room. In a short time she returned, accompanied by an officer of police, who, without much ceremony, acquainted the lady that she could not part with her maid before the expiration of a certain term, without having what should seem to the police a sufficient cause for the proceeding. Madame de Saverne, of course, could not tell whether this was really the law of France, or whether she was imposed on: the official was a pattern of the plebeian insolence and brutality which were at that time characteristic of the service he belonged to; she was intimidated by his ill-manners, and saw no resource but to await, with what patience she could, the lapse of the time specified. Some days after it was announced that the king would that evening celebrate the re-establishment of his health by a visit to the gardens. That was a joyful day: Madame de Saverne decorated her bust in the morning with a double quantity of flowers, and was the first in the evening to take her place near the door at which the king was to come out. People soon began to assemble, and she remar-
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ked, standing not far from her, the very man who had accompanied her on the road from Paris to Versailles, and whose features were sufficiently marked to have fixed themselves indelibly in her remembrance – his immense nose and chin, with the enormous mouth that gaped between them, giving him the appearance of a magnified nutcracker. The crowd gradually increased, and at length the Swiss guards gave the signal that the king was coming. Madame34 de Saverne bends forward to catch the first glimpse; others, crowding from behind, push her out of the line, and she finds herself standing alone in the very midst of the passage which the Swiss are exerting themselves to keep clear for the king; in the same moment she is seized by the „nutcracker,“ with the remark, that it is not becoming in a female to throw herself so in the king’s way. She represents, as well as fright and eagerness will permit her, that it is not her fault, that she has been pressed forwards by the throng, that she is satisfied to stand anywhere, so she may have but a moment’s view of the king; – in vain: the man draws her inexorably away, while the crowd shouts its „Vive le Roi!“ – and the longed-for sight of majesty is snatched from her in the moment when she thought herself sure of it. The crowd now closes up after the king; the throng is not to be penetrated; the moment is lost; Madame de Saverne can scarcely keep back her tears, – she feels hurt, offended, mortified, – and is laughed at to boot, by several persons who have joined the nutcracker. Arriving, in a disconsolate mood, at her lodging, and involuntarily thinking of the warnings of her confessor, she found a person awaiting her arrival, who announced himself as a discharged soldier. He had lost a leg in the war, and was disabled for service; he had been, however, before he enlisted, an artisan, and, had he but a small capital, could now return to his former business, marry the girl to whom he had long been engaged, and live a life of industrious independence: the reputation of Madame de Saverne’s beneficence had encouraged him to make his circumstances known to her, – he was provided with the best testimonials – would she cast an eye over them, she would see that he enjoyed the character of a good workman, and, would she assist him with |661| the loan of a small sum, he trusted, in the course of a few years, to be able repay it, with such interest as she might deem reasonable. Madame de Saverne forgot her vexation; she felt that she had been drawn away from the spectacle by Providence itself, for the purpose of doing a beneficent action, and gave the man a thousand livres, which she told him he should repay, without interest, as soon as his industry should have made a rich man of him: she stipulated only that he should this day drink a glass to the king’s health, whose recovery he had to thank for what she had done for him. The man would have thrown himself at her feet, but she retired into her sleeping-room to avoid his thanks. Immediately after, voices were heard in violent altercation in the antechamber: Manon, who had been playing the eaves-dropper while her mistress spoke with the invalid, was opposing the departure of the latter, exclaiming that
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Madame de Saverne had nothing to give away, that her property was not under her own control, that she was an object of surveillance, and that any one who received money from her might count upon being sent to the galleys. To her voice was soon added that of the police-officer, who demanded that the money should immediately be delivered to him. On this the lady came out of her chamber, and insisted, with much indignation, that the man should be suffered to depart unmolested, and that neither her maid, nor any one else, should presume to interfere with the exercise of her bounty. In effect, the invalid was no longer hindered to depart, but both Manon and the policeman regarded the lady with looks of such strange meaning, that she withdrew again, disconcerted and perplexed, into her chamber, and the thought of her confessor recurred with greater force than ever. The rest of the day she occupied herself with books of devotion, and was much provoked by her maid, who told her it would show more sense to amuse herself with a comedy of Moliere, and that, for her own part, she would sooner, were she so happy as to be rich, give two thousand livres for a handsome gown than one to a wooden-legged soldier. The next day Madame de Saverne was waited on by the nutcracker: he wore an official uniform, and declared himself sent by the police authorities to make inquiries concerning her fortune, in consequence of the singular reports of which she was the subject. He was accompanied by another man, who approached the lady with an air half familiar, half shy, and made as if he would kiss her hand, but used the opportunity to feel her pulse. Madame de Saverne, surprised and flurried, placed no doubt in the correctness of the business, and, as her affairs were in excellent order, a very brief inspection of her papers was sufficient to put the official perfectly in possession of the state of them. A conversation on different topics ensued: the nutcracker’s friend, however, soon turned the discourse on the king, and the lady, in her southern openness and vivacity, made no secret of the great expectations she entertained for the country from the royal goodness and wisdom. The two men exchanged significant glances, and took their leave, saying they would do themselves the honour of calling on her again in the afternoon. After dinner, Madame de Saverne was going out for her usual promenade in the gardens, when the nutcracker came up to her as she stepped from the door, and said she must immediately enter a carriage which he had in waiting, and appear herself before the police authorities, to give an account of her circumstances, and her business at Versailles, the account which he, the nutcracker, had had the honour to receive from her in the morning not having proved satisfactory. In vain she objected that he had no warrant, and that without such, and without consulting an advocate, she did not feel herself obliged to attend him: his answer to her hesitating representations was, that in case she did not go quietly, he must take her by force; and that if madame did not know when she was treated well, she would have but herself to blame for treatment of a different kind. At the same time he seized her hand; she cried for help; people came running up, among the rest the officer of police who had twice before
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interfered with her. One or two appeared disposed to befriend her, so far at least as to |662| remonstrate against the employment of violence to a lady of her appearance; but no sooner had the nutcracker whispered a word in their ears, than, with shrugs and grimaces of pity, they drew back: the word, whatever it was, flew through the crowd, and the unfortunate lady heard on all sides expressions of „Ah! c’est différent!“ „C’est bien dommage!“ „Tant pis pour elle!“ „I beseech you,“ cried she, appealing to those who uttered these remarks, „what is it they charge me with? – what are they going to do with me?“ Her distress was so great, her looks and her accents so piteous, that the eyes of many of the by-standers filled with tears. The officials, however, were proof against all appeals to the feelings; and the nutcracker, weary of delay, seized her about the waist, and, with the help of the policeman, was lifting her into the carriage, when, indignation and despair giving her strength, she resisted with such good effect, that not only did she extricate herself from their grasp, but left them, amid the „bravos!“ of the crowd, with bloody marks of her prowess on both ill-favoured faces, while staggering, breathless, exhausted, she fled back into her chamber. Her foes did not pursue her, but two other men entered the chamber: she asked their business, but a shrug was the only answer: they seated themselves in silence, and, even when night came on, did not quit the chamber. Madame de Saverne now saw the error she had committed in avoiding to make any acquaintance in the place; she called the landlord, – no one came; she attempted to quit the room, – the men silently placed themselves between her and the door, and, with expressive shrugs, forbid her the passage. Seeing now that she had no choice but to pass the night in the presence of these extraordinary intruders, she resolved to sit up, and employ herself in writing letters to her confessor, and to some of her relations at Lyons. Her mind, however, was too much disturbed to allow her to write any coherent account of her situation: she could give only vague hints of mysterious danger, which she hoped might induce her friends to come to her relief. In fact, she did not know what to make of the way in which she was treated; and the bewilderment in which she wrote gave to her letters the character of a fantastic romance, which might awaken grave doubts as to the sanity of the writer. Before she had finished, a carriage drove up to the hotel, and, presently after, several men entered the room, and, coming up to her, bound her with strange bandages, which deprived her of all power of motion: in the mean time, one of the men took her desk, while another locked her presses, and read through the letters she had been writing. She attempted to cry out, but a bandage was immediately fixed over her mouth: she now gave up all resistance, a handkerchief was bound across her eyes, she was wrapped in a cloak, carried out of the hotel, and placed in a carriage, which immediately drove off at full speed. Overpowered by fatigue and drowsiness, she sank more than once into a troubled sleep, but the jolting of the carriage as often awaked her. She could not, however, calculate how far she had journeyed when the carriage stopped, and she was lifted out, and carried up several flights of stairs into a chamber, where the bandages were removed from her eyes, mouth, and limbs.
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„Where am I?“ were the first words she uttered on regaining the powers of speech. The men who had carried her away made no answer, but pointed to a bed which, with two others, formed the entire furniture of the room, and then withdrew. The bed to which the men had pointed was unoccupied, but out of each of the others an odd-looking face peered at her, with an absurd sort of over-wise expression, and with a multitude of winks, and other signs of intelligence, that made the poor lady’s heart die within her. „Madame la Baronne wishes to know where she is,“ said one of her strange room-fellows, as soon as the men had disappeared: „I have the honour to inform madame that she is at the court of the king of Ivetot: madame is appointed third lady of the bed-chamber to the Princess Hoquerlin: I have the honour to felicitate Madame la Baronne“ – „We have rather35 to felicitate ourselves, Madame la Comtesse,“ broke in the other tenant of the room, „on the |663| accession of Madame la Baronne to our society, which she was formed to adorn. Yes, madame,“ proceeded she, addressing herself to Madame de Saverne, “I, the Duchesse de St. Charivari, welcome you to the sphere for which the great qualities of your head and heart so eminently qualify you, and of which 1 hope long to see you the ornament.“ The two women now gabbled incoherently and together, vying with each other in noise, till steps were heard approaching the door, at the sound of which they became still: the door was opened, a man of a surly expression of countenance appeared, fixed a significant regard for a few seconds on the two women, and disappeared again without speaking a word. From that moment all was silent in the chamber. In the morning, Madame de Saverne endeavoured to collect herself, to restrain her natural impetuosity, to call her prudence into exercise, and to show, if the place she was in was, as she suspected, a mad-house, that she had been brought into it by mistake. She had succeeded in bringing herself to a very composed frame of mind, when the same person entered the room who had visited her at Versailles with the nutcracker. He was accompanied by several young men, who called him „Monsieur le docteur,“ and who themselves had the appearance of students, their study, as it seemed, at this moment, being to give themselves an air of great wisdom and experience before the patients. One of these luminaries approached Madame de Saverne, and asked her if she did not consider the king the handsomest man in France. „His majesty,“ she replied, „is not merely the handsomest, but the wisest and the best man in France, but he has some very bad servants.“ The moment she said this, the doctor made a sign to a couple of men who stood at the door; they advanced, laid hold on the lady, and placed her in a kind of wheel, in which she was whirled about so frightfully, that she thought her last moment was come. When taken out, she was asked what she thought of the king now. In utter exhaustion, she faltered out –
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„He cannot protect all his children, God help us!“ „You see,“ observed the doctor, „she is already more rational. Continue the treatment every day. Her madness is the result of a sedentary life, acting upon a mind disturbed by political enthusiasm and unsatisfied love.“ While the doctor proceeded learnedly to descant upon her case, Madame de Saverne’s eyes opened to the whole extent of her misery: she was looked on as a maniac, and saw herself, as the consequence of this fatal mistake, deprived both of fortune and liberty. Who, thought she, could have set on foot such a report? Was it a piece of malice devised by Manon, in revenge for her mistress’s intention of parting with her? Or was it a plot of somebody’s to get possession of her fortune? Could any of her relations be so wicked? The conversation of the doctor’s booby pupils soon furnished a solution of the riddle which so perplexed her: it was, she learned, her veneration for the king that had given the first ground of suspicion that she was insane, her extraordinary munificence had strengthened it, and the solitude in which she lived had been held conclusive. Had she every where railed at Louis as the author of all the woes of France, the oppressor and afflicter of his subjects in every possible and impossible way, – had she spent her fortune on dress, and her time in the theatre and the assembly, – had she lived without doing good to any mortal in this world, and without thinking of the next, a doubt would never have been entertained of the soundness of her mind; but to revere the king, to give her money to people who had nothing to give her for it but their prayers, and, above all, to pass the greater part of her time at home! – what Parisian could require more unequivocal proofs of madness? But might not she make the whole matter clear to the doctor? Alas! the doctor was not a man to whom it was easy to make anything clear. Again, and again, she made the attempt, but hardly had she spoken three words on the subject when the doctor smiled with an air of great sagacity, and ordered her into the dreaded wheel. Her courage grew with despair; no whirling could silence her complaints; she was plunged in water till half-drowned, but the first use |664| she made of her breath was to renew her indignant remonstrance. At last, the doctor with expressions of heartfelt compassion, declared her incurable. She could not feel angry with him; it was evident that he wished to do her good. He would, no doubt, have made an excellent horse doctor; his own evil genius, and that of mankind, had willed that his patients should be human. With horror she looked foward to the consequences of his verdict: confinement for life seemed to be her inevitable destiny. The thought of putting an end to so wretched an existence presented itself, and she sat with her face buried in her hands, when a voice, which she had heard before, startled her. It was the nutcracker, who, as he said, could no longer withstand the interest which prompted him to see her. The sympathy he expressed in her woeful destiny inspired her with a sudden confidence, and she entreated him to say if there were no means – if there was no hope of deliverance for her. One way, he replied, there might be – and but one; but he doubted if she would embrace it.
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What a doubt! there was no way from which she would shrink: worse than death it could scarcely be; and she was already resolved that death should release her from her misery, if no means less fearful offered. The nutcracker flattered himself she would find the means he had to propose infinitely less fearful than death: he confessed that her beauty had touched his heart from the moment he had first seen her; he believed she was no more mad than himself; but the doctor was a fool, and the intendant of police, who had given the warrant for her being taken thither, was another; for the rest, they were both de bons diables, particular friends of his (the nutcracker’s); and, in fact, he could do anything with them he pleased; – a word from him would bring the sanest man in Paris into that house, or get the maddest inmate it contained out of it. Now, that word should be spoken before another hour was past, if Madame de Saverne would, in short, marry him. The lady suppressed a shudder: it was at once plain to her by whose machinations she had been brought into this abode of despair, and for what purpose: she saw, however, the advantages which the scoundrel’s proposal offered, and resolved to avail herself of them. „But my papers,“ said she; „I know not into what hands they are fallen: if they be lost, you will have in me a portionless wife.“ „A dieu ne plaise!“ said he; „the papers are safe in my hands: I intended to deliver them up to your friends, in case you had really turned out to be mad; but as that, happily, is not the case, we will keep them for ourselves, and your fortune, mon ange, will enable me to retire from the fatigues of office, and to cultivate the milder virtues in that domestic life, which I have ever believed to be their most congenial soil.“ „I can never live at Paris,“ said Madame de Saverne, „it has been the scene of too many horrors to me. Will you go with me to Avignon? You have heard, no doubt, of Petrarch’s grotto.“ The nutcracker exclaimed in ecstacy that his fiancée was the most adorable of her sesque – that the south had ever been the object of his longings – that Petrarch was his idol. The lady expressed her joy to find that their tastes were so completely in unison: she proposed that their union should be solemnized at Avignon, and added, that he must see if the doctor could not be induced to bear them company; it would grieve her, she said, to have no opportunity of marking her sentiments towards one who, though without thinking it, had been the occasion of their forming this alliance. The nutcracker declared it his greatest happiness to conform to her wishes in every respect, and undertook to answer for the doctor’s readiness to accompany them. He then talked of the house they could keep – the establishment they could maintain – the style in which they could live, for he had made himself accurately acquainted with her circumstances, and was, for the rest, too fatuously vain to harbour a moment’s suspicion that she could mean to play him a trick. The next day he came to take Madame de Saverne away as incurable. He told the keepers that he had to conduct her to the hospital for idiots; but, instead
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of this, he brought her to Versailles, that she might look over |665| her effects, and pack up for the journey as expeditiously as possible. She found everything except her desk – packed up everything except the king’s bust, which she could not look at without an inward horror. Her fortune, consisting chiefly in papers, but papers as good as cash, the nutcracker had taken into his own custody, otherwise she might have been tempted to set off without him, though in so doing she would have had to forego the best part of her revenge. However, in less than a week he came, accompanied by the doctor, and announced himself ready for the journey. The doctor was astonished to find his former patient so completely recovered, and congratulated both her and himself very heartily thereupon: he took all the credit of her cure, as was reasonable, to himself, and gave her to understand that that admirable wheel, of the virtues of which her restored understanding would, he trusted, prove a lasting monument, was an invention of his own. Madame de Saverne made her acknowledgments, and assured him that, once at Avignon, she would give him proofs that she had not forgot his wheel, and that he himself should have cause to remember, as long as he lived, his having put her into it. In setting off she observed where the nutcracker put her desk, and on the journey took care not to lose sight of it. The chief topic of conversation on the way was the police, of the omnipotence, omniscience, omnipresence, and other divine attributes of which, the nutcracker took great pains to give her an adequate idea. He explained to her that, in the present disjointed condition of the times, the police was, in reality, the only power in the state, all others, even royalty itself, subsisting only so long as the police thought it expedient to sustain them; all hotel and lodging-house keepers, all servants, all ladies’, and other maids, were, he said, in its pay. Thus, nothing was hid from it: in your own house, or in public places, you were equally under its eye; it was in the secret of all your plans, which, unknown to you, it either impeded or furthered according as they contravened or fell in with its own. These revelations filled the poor lady with new uneasiness; the very air of France seemed to her to breathe espionage and treachery, and she did not feel at her ease till she once more saw the papal arms, and found herself within the gates of Avignon. Her betrothed and their mutual friend, the doctor, she obliged to make her house their quarters; and, with downcast eyes, if not exactly with blushes, she told the former that she would speak with her confessor the same day, on the subject nearest her heart. The nutcracker warbled airs out of Armida; his soul was lapped in Elysian hopes – he seemed to himself another Petrarch, and talked the doctor half mad about his Laura. He had no longer any anxiety about the desk with the papers, which he now considered as safe in its mistress’s hands as in his own, and Madame de Saverne took care to have it conveyed out of his reach. When the confessor came she wept, not less for joy at seeing him again, than for the recollection of the sufferings to which her disregard of his warnings had exposed her. On her calling him a prophet, he showed her a louis d’or, and said –
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„Look, my daughter, how clear is the impress of wisdom and goodness on these royal features! – how –“ „For God’s sake, reverend father,“ cried the poor lady, „do not put me in mind that every piece of coin bears that fatal head, or the very touch of money will fill me with horror as long as I live!“ „Ay,“ said the monk, „’tis better living under the triple crown than under the single. I know all that has happened: a brother of mine, who sought you in Paris, but came too late, told me the whole story. Never mind; bring your friends this evening to the monastery – tell them I will perform the ceremony in my own church at once, according to the custom here. Don’t say a word against my plans: you may be very sure I would rather marry you to the devil than to one of these miscreants – but I have a surprize in store not only for ces messieurs, but for yourself also.“ How enraptured was the betrothed man when he heard that he was to be married in a few hours, and thought that the well-known desk, with its precious contents, would so shortly be |666| his own. He told the lady he hoped to place the police of Avignon on a similar footing to that of Paris, and promised the doctor the superintendence of all the mad-houses in the pope’s dominions. „Your wheel shall be heard of, mon vieux,“ cried he, clapping his friend on the back: „these Avignon folks will long remember our visit to them.“ „I dare prophecy they will,“ said Madame de Saverne. How stately was the strut of our nutcracker as he walked at the side of his fair fiancée to the monastery church. With how ineffable an air of importance did he enter the confessional, which he seemed to look upon as a sort of subsidiary police-office. The confession on his part was a mere form; he had really no sins to confess, for, as to the trick he had played on Madame de Saverne, he termed it an ingenious gallantry. The only penance the confessor gave him was to say six paternosters in a dark place. „He takes me for a baby,“ chuckled the nutcracker, inwardly, „that a dark place should frighten me to mend my life.“ To add to his amusement, he was speedily joined by the doctor, to whom a similar penance had been prescribed, and the two esprits forts, hugely tickled at the folly of these priest-ridden Avignonese, entered together into a partitioned place adjoining the church, and perfectly dark: the door was forthwith locked upon them. „Ca sent diablement!“ muttered the nutcracker – „what sort of a place have they brought us to?“ „Parbleu,“ said the doctor, „I will tell you what it smells of; oui c’est ça, it smells of asses – ‘tis a stable.“ „A very good place to pray in,“ laughed the nutcracker; „what if we were to pray – hee haw! hee haw! Methinks that is the natural language of the devout.“ „He is an ass that prays at all,“ replied the doctor. „1 will take the liberty of changing my paternosters into something I am more at home in,“ and he began to chaunt in an under tone – „Malbrouk s’en va-t-en guerre,
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Ta ron ton, ta ron ton, ta ron taine.“ „Ma foi!“ said the nutcracker, „six Malbrouks will make me quite as good a Catholic as six paternosters,“ and he chimed in with a second to the doctor. „But what the devil is this?“ cried the doctor – „I feel the ground move. Mon Dieu! ’tis certainly an earthquake!“ „An earthquake!“ exclaimed the nutcracker, in terror. „Help! – the door! Pitiful heavens! and we are locked up here, and no one within hearing. Help! – the door! Pour l’amour de dieu! – the door!“ Cursing Petrarch, and vowing in his inmost soul that nothing should induce him, once Madame de Saverne’s fortune was legally his, to tarry another day in the sunny south, the nutcracker as well as his co-penitent, bawled energetically for deliverance: the horrid thought occurred to them, that the monks had fled from the cloister, and that they were doomed to be buried in its ruins. They now began to gabble paternosters in earnest, as the motion of the floor beneath them became every moment more violent, and the awful termination seemed nearer. Their situation, however, was not quite so desperate as their fears represented; the floor moved, not from the effect of an earthquake, but from that of their own frantic jumps; for, in short, they were in the great tread-wheel that worked the oil-mill of the monastery, and in which many and many a couple of asses had done duty before them. They soon perceived this, and if the discovery in some measure quieted their terrors, it did not prove particularly flattering to their vanity. Having once begun to move, they could not check themselves; the confessor, immediately on their entering the wheel, had had the bolts withdrawn which kept it still, their weight was then sufficient to set it in motion, and their tread increased its speed every moment. Swifter and swifter it rolled; the two penitents were obliged to run, to avoid being thrown on their faces; the mill went merrily, and, when all was in full action, a shutter was removed, light streamed in upon our labourers, and the confessor, with Madame de Saverne, appeared looking in upon them at a grating. „My children,“ said the monk, „you are giving yourselves a deal of trouble. You will never get through your paternosters at this rate!“ |667| „I never thought a Frenchman would let his bride wait so long,“ said the lady; „I begin to find this wearisome, and, if monsieur is much longer at his devotions, I shall hardly think myself good enough to be the wife of so pious a man.“ The nutcracker attempted to reply, but could only gasp out broken syllables in tones scarcely human. The monks came running to see what was going on, and exulted like schoolboys: they only saw the joke, and did not know that this was the punishment of the crimes which these wretches had committed against the lady. „If that does not cure you,“ said the confessor to the doctor, „you are incurably a fool – if that does not reform you,“ to the nutcracker, „you are incurably a villain.“ A young officer now appeared, who was presented by the confessor to Madame de Saverne as his brother. She was surprised, blushed, and said –
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„I have already had the pleasure of the acquaintance of monsieur, but why have I never seen or heard from you since the death of my husband? As long as he lived, indeed, I could not permit your importunities, but“ – „I believed myself hated,“ said the officer, „and ventured not to approach you again.“ „A foolish modesty,“ said the confessor; „you would neither of you listen to me, and, therefore, have both had to suffer. You shall now marry at once for penance, if ce monsieur, there in the wheel, has nothing against it.“ „No – no,“ cried the nutcracker. „He says no, no,“ cried the confessor; „he will not consent; ‘tis a pity; he must wheel it a little longer.“ „Yes – yes – I con – sent,“ gasped the jilted man. „A la bonne heure!“ said the confessor. You see he is already more rational! I begin to think our doctor’s mode of treatment here, no such bad thing, after all. Well, this honourable lady yields to her destiny, and you two sinners shall be witnesses of her happiness, and afterwards be escorted by our police over the frontier, unless monsieur le docteur would prefer an engagement in the monastery, and take his turn at our mill?“ The doctor cried „No – no!“ and the confessor added – „For the trouble you have taken, gentlemen both, in escorting madame home, she requests that you will accept of a very handsome bust of his majesty, King Louis the Sixteenth, which she has left behind her at Versailles, as a monument of her visit to that place: in lieu thereof, we will place an image of St. Peter in the chamber of madame.“ The witnesses came in a piteous condition out of the wheel; the nutcracker’s wedding-coat was burst at every seam, and the doctor declared, with many sighs, that he had never had an idea before of the effects of his own invention; he now saw how infallible means it must be for making mad people sane; for it had been within a little of making him, a sane mad-doctor, mad. The marriage followed, after which the two witnesses malgré36 eux, were con-ducted over the papal frontier. The next day at dinner, the confessor said to his sister-in-law – „Now, is not the surveillance of a confessor, after all, more endurable than the surveillance of an unprincipled policeman? And are not our fasts more bearable than the curatives invented by such a doctor for other people, but which he never tries on himself? Would that all charlatan legislators were obliged to try the effects of their blockhead fancies on themselves first, like those gentlemen, before they bring mankind into temptation and desperation with them!“ To which, when we think of poorlaws and their makers and administrators, how can we but yield our cordialest Amen?
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verbessert aus malgrè
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Die Natur hatte ihre Schöpfung vollendet ... da fehlte noch etwas worüber sie am Ende lachen könnte; die Karikatur ging hervor – und es war der Mensch! (August Klingemann, 1798)
I. Während seines Studiums an der Universität in Halle an der Saale (10. Mai 1798–April 1800) lernte Achim von Arnim 1799 einen bemerkenswerten Kommilitonen kennen. Der hatte seit 1797 an der benachbarten Leipziger Universität mit Philosophie und Jura begonnen und war jetzt für drei Semester nach Halle gewechselt. Es war Johann Ferdinand Dienemann. – Er stammte aus Penig, einer kleinen Stadt, 15 km nördlich von Chemnitz, an der Zwickauer Mulde. Hier wurde er am 18. April 1780 geboren. Sein Vater, Dr. jur. Carl Dienemann (Lößnig 1749–1825 Penig), hatte in Leipzig promoviert, kam 1776 nach Penig und war seit 1778 mit Amalie Caroline Zöllner verheiratet. Er gehörte, seit 1780, als Königl.-Sächs. Generalaccise-Inspektor1 des Reichsgrafen Schönburg zu den Honoratioren der Gesellschaft. Aus der kursächsischen Grafschaft Schönburg2 stammten zwei für die Entwicklung der deutschen Romantik interessante Persönlichkeiten; beide wurden im April 1780 geboren. Am 26. April kam im Pfarrhaus von Hohenstein (am Fuß des Erzgebirges) Gotthilf Heinrich Schubert3 zur Welt und ein paar Tage vorher, am 18. April, in Penig eben Dienemann jun., der dann 1804 als Verleger
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Vgl. Gustav Lippold: Dienemann. Eine Familiengeschichte aus Penigs Vergangenheit. In: Geschichtsblätter. Sonderbeilage zum Tageblatt für Penig und Lunzenau. 2. Bd. (1929), S. 1–7. – Die Quelle Lippolds ist: Carl Dienemann: Geschichtserzählung der ihn betroffenen Unglücksfälle. Penig: Dienemann 1808. Vgl. Vinzenz Czech: Legitimation und Repräsentation. Zum Selbstverständnis thüringischsächsischer Reichsgrafen. Berlin: Lukas Verlag 2003, S. 181ff. u. 228ff. Vgl. Steffen Dietzsch: Gotthilf Heinrich Schubert. In: Thomas Bach und Olaf Breidbach (Hrsg.): Naturphilosophie nach Schelling. Stuttgart, Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2005, S. 673–699.
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den literarischen Erstling Gotthilf Heinrich Schuberts Die Kirche und die Götter4 publizieren wird. Erzogen wird er zunächst von einem Hofmeister, bevor er 1792–1797 das Gymnasium in Altenburg besucht. „Ich benutzte hier“, so vermerkt er später in seinem Lebenslauf für die Universität Jena, „außer den gewöhnlichen Schulunterricht noch die Vorlesungen des Herrn Professor Doehler über Mathematik und Physik, den Unterricht in der französischen Sprache von Herrn Sprachmeister Bergerat und in der englischen von dem Herrn Vizedirektor Lorenz.“5 Zu Michaelis 1797 wird er an der Leipziger Universität immatrikuliert.6 Seine akademischen Lehrer der Philosophischen Fakultät sind hier die Professoren Christian Daniel Beck, neben seinem Amt als Philologe noch Universitätsbibliothekar und Redakteur der Leipziger Zeitung, Carl Adolph Caesar für antike Philosophie, der Historiker Karl Dilling, die beiden Juristen Karl Theodor Gutjahr und Christian Gottlieb Haubold, sowie Ernst Platner, der über Philosophie und Medizin las. In dieser Zeit war die Messestadt „in dem Zustand einer sorglosen Glückseligkeit […] Fast Jedermann war im Stande, so viel zu erwerben, dass er […] wenig oder gar nicht Ursache hatte zu klagen.“7 Hier lernt Dienemann Weltoffenheit und das savoir vivre einer Handelsmetropole schätzen; für sich selber ist er namentlich vom Musikbetrieb und vom Verlags- und Buchhandelsgewerbe der Stadt beeindruckt. In Halle traf er dann mit dem Jurastudenten Arnim auf einen Geistesverwandten, einen der sich auch um eine, mit dem zeitgenössischen Modebegriff enzyklopädisch zu bezeichnende, naturwissenschaftliches und literarisches Wissen einschließende Bildung bemühte, einen „von der zeitgenössischen Lesewut Besessenen, der Bucherwurm genannt wurde und sich auch schon für Bücherauktionen und gelehrte Zeitschriften interessierte.“8 Beide gehören wohl auch zu den Hallenser Freunden freyer Unterhaltung. Hier in diesen Kreisen lernte Dienemann viele seiner späteren Autoren kennen. Von Arnims gewissermaßen theatralischer Sendung erfahren wir sehr früh, als ein Schulfreund nachfragt: „Daß du nun gar ein horrender Trauerspiel Dichter wirst hat mir baß erstaunl. geschienen. Ich dächte du überließest diese
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Vgl. Hans-Georg von Arburg: Gotthilf Heinrich Schuberts Roman Die Kirche und die Götter (1804) – ein frühromantischer Roman in literatur- und medizinhistorischer Sicht. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 11 (2001), S. 93–121. Johann Ferdinand Dienemann: Curriculum vitae, vom 15. April 1805. In: Universitätsarchiv Jena, Dekanatsakten, Bestand M, Nr. 222 (Phil.Fak.), Dekanat Hennings 1805, fol. 18 u. 18R. Georg Erler: Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig. Bd. 3: WS 1709–SS 1809. Leipzig: Gieseke & Devrient 1909, S. 63. – Im Eintrag wird ein falsches Geburtdatum (12. Mai) vermerkt! Emil Kneschke: Leipzig seit 100 Jahren. Leipzig: Selbstverlag 1867, S. 164f. Heinz Härtl: Zur geistigen Physiognomie des jungen Arnim. In: „Frische Jugend, reich an Hoffen“. Der junge Arnim. Zernikower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hrsg. von Roswitha Burwick und Heinz Härtl. Tübingen: Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft 2), S. 27.
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branche literarischer Productionen á votre cher frère.“9 Durch seinen Hallenser Studentenkreis und den Erfahrungen mit der Universität und der literarischen Öffentlichkeit (namentlich das Theater) entwickeln sich bei Arnim sukzessive seine zeit- und kulturkritischen Wahrnehmungen, die ihn allmählich Ausdrucksformen finden lassen, um dann von der wissenschaftlichen in die künstlerische Welt zu gelangen. – Sein Studentenspiel Halle, das sich dann zu dem Doppeldrama Halle und Jerusalem auswächst, ist ein markantes Zeugnis dieser Entwicklung. Hier in diesem Stück erinnert Arnim mit der Figur des Studenten Dienemann an die Nachhaltigkeit ihrer Begegnung in der Hallenser Gelehrtenrepublik. Beider Wege trennen sich dann, als Arnim nach Göttingen wechselt. Auch Dienemann beginnt etwas Neues: Zu Michaelis 1800 verließ ich die Universität Halle, hoffte meine wissenschaftliche Bildung in meiner Vaterstadt noch zu vervollkommnen, wo ich unter der Leitung meines Vaters mich für die juristische Praxis bestimmte und etablirte hier endlich im Jahre 1802 aus besondrer Vorliebe für die Litteratur eine Verlagbuchhandlung die ich bis jetzt noch fortsetze.10
II. Penig bot sich als Verlagsort an, da sich am Ort – gewissermaßen in der Nachbarschaft des Verlagshauses am Markt – einige gut eingeführte Papiermühlen befanden; die früheste wurde hier 1537 von Burckhard Schmidt errichtet. Dienemann bezog das Papier seinerzeit von Christian August Käferstein11 (gest. 1805). Der Verlag F. Dienemann und Comp. in Penig bietet sofort ein vielseitiges und marktfähiges Programm an: Reise- und Sprachführer, moderne Romane, Reihen verschiedener Thematik, Schulbücher. Schon im Gründungsjahr bringt er neuartige Ratgeberliteratur für den Lebensalltag heraus.12 Daneben dann
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Friedrich von Raumer an Achim von Arnim, vom letzten Drittel April 1798. In: Achim von Arnim: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 30. Briefwechsel 1788–1801. Hrsg. von Heinz Härtl. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 69. Johann Ferdinand Dienemann: Curriculum vitae, vom 15. April 1805. In: Universitätsarchiv Jena, Dekanatsakten, Bestand M (Phil.Fak.), Nr. 222, Dekanat Hennings 1805, fol. 18R u. 22. Vgl. Johannes Mädel und Heiner Unger: Die Peniger Papiermühlen und ihre Wasserzeichen. Niederfrohna: Mironde Verlag 2009. Allgemeiner Heyrathstempel für Verehelichte und Unverehelichte beiderley Geschlechts. Penig: Dienemann. Jg. 1802, Nr. 1–5.
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Sprachführer,13 Zeitschriften,14 Grammatiken,15 Musikalien16 und agrarökonomische Handbücher,17 sowie Zeit- bzw. Sozialgeschichtliches.18 Mit Friedrich Murhard, Gemälde von Konstantinopel, einem Reisehandbuch, das 1804 (und in zweiter Auflage 1805) in drei Bänden bei Dienemann erschien, hat der Verlag „unstreitig eins der wichtigsten Produkte des ganzen Marktes“19 vorgelegt. In besonders intensiver Weise widmet sich Johann Ferdinand Dienemann der Herausgabe neuer deutscher und Übersetzungen ausländischer Belletristik. Dabei inaugurierte er eine ganz neue Editionsform für die kontinuierliche Präsentation neuer literarischer Texte: Dienemann begründete 1802 das Journal von neuen deutschen Original Romanen, in acht Lieferungen jährlich. Hier kamen vor allem literarische Debütanten zu Wort. Probleme, die er mit einigen seiner Jungautoren hatte, drückte einmal Varnhagen von Ense in den Spottreim aus: „Der Dienemann will nicht dem Mann mehr dienen. / Weil sie nichts sind, so nennen sie sich Werden.“20 Dieses „werden“ bezieht sich dabei auf zwei von Dienemanns – pseudonymen! – Zeitschriftenherausgebern21 ‚Adolph Werden‘ und ‚Julius Werden‘,22 hinter denen sich die Autoren Friedrich Th. Mann und Johann G. Winzer verbargen.
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J. F. A. Belin: Esprit de la langue françoise. Penig: Dienemann 1803, sowie: Esprit de la langue Francaise, oder kurze, fassliche und gründliche Anleitung zur baldigen und leichten Erlernung dieser Sprache. Penig: Dienemann 1803, und J. F. A. Belin: Dictionnaire des Proverbes, Idiotismes et Expressions figurées de la Langue françoise avec les Proverbes allemands. Penig: Dienemann 1805. Z. B. Polychorda. Hrsg. von Theodor Heinrich August Bode. Penig: Dienemann 1805. Sammlung deutscher Beyspiele zum Gebrauch neben der grossen Bröder’schen Grammatik. Penig: Dienemann 1804. Musikalisches Taschenbuch auf das Jahr 1803. Hrsg. von Julius Werden und Adolph Werden. Penig: Dienemann 1802; und: Gesang der Engel am Weihnachtsmorgen, komponiert von Wilhelm Schneider. Penig, Leipzig 1803, oder auch: Trauerode auf den Tod der Großfürstin Helena, nach Klopstocks Ode: Die todte Clarissa, in Musik gesetzt von Johann Friedrich Reichardt. Penig: Dienemann 1806. Oekonomisches Hauptrechnungsmanual. Penig: Dienemann 1804, und: F. C. Touchy: Oekonomisches Rechenbuch, und [F. C. Touchy:] Der Verwalter, wie er sein sollte. Oder praktischer Unterricht in allen Fächern der Landwirtschaft, als Handbuch. Penig: Dienemann 1806; Tägliches Hand- und Taschenbuch für Ökonomen, oder Anweisung zur vortheilhaftesten Ackerbau. Penig: Dienemann 1806. Über das Armenwesen in Sachsen, nebst einigen Vorschlägen zu einer zweckmässigen Einrichtung daselbst befindlichen Armenanstalten. Penig: Dienemann 1803. Zeitung für die elegante Welt, 23. Juni 1804, Nr. 75, Sp. 593. Abgedruckt im Anhang bei Hubert Beckers: Schellings Geistesentwicklung. München: Verlag der K. B. Akademie 1875, S. 92 [hier wird mit ‚so können sie sich werden‘ eine verderbte Textvariante wiedergegeben]. Beide organisierten die Zeitschrift Apollon, 2 Bde., in 12 Heften, Penig: Dienemann 1803. – Friedrich Theodor Mann (1780–1853), seit Sommersemester 1800 Student in Halle, wurde später (1826) Superintendent in Berlin-Charlottenburg und Johann Gottlieb Winzer, ab 1801 Jurastudent in Halle, war Justizkommissar in Berlin (er ist seit 1809 verschollen). Julius Werden: Friedrich Julius Lebensjahre und endliche Bildung. Ein Roman für die elegante Welt. Penig: Dienemann 1803.
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Diese Editionsreihe veröffentlichte 1802 im Ersten Jahrgang, Bd. 1: Franz Horn,23 Viktors Wallfahrten; Bd. 2: Friedrich Küchelbecker,24 Quintessenz meiner Fußreise in süddeutsche Gegenden im Jahre 1800, mit 16 wahrhaften Abenteuern; Bd. 3–6: Karl Nikolai und Franz von Werden; Bd. 7: Franz Solden / Gustav Emmerich, Geschichte eines helvetischen Landsmanns; Bd. 8: Johann Friedrich Ernst Albrecht, Blümchen sanfterer Freuden, in den Gefilden der Natur und der Liebe gepflückt. Der Zweite Jahrgang 1803 beginnt mit Bd. 1–3: Karl Nikolai, Eduard von Kroneck; Bd. 4 u. 5: Friedrich Küchelbecker, Mumien; Bd. 6: Adolph Werden, Iduna; Bd. 7: Junius Laetus [Pseud. für: Wilhelm Adolf Lindau], Lionellos Arabesken; Bd. 8: Dr. Albrecht, Novellen. Der literarische Höhepunkt ist dann der Dritte Jahrgang 1804: Bd. 1, Sophie Brentano, Spanische und italienische Novellen, Erster Band; Dienemann avisiert an Sophie Brentano am Ende des Jahres die Möglichkeit eines weiteren Textbandes, er schreibt: Ihr schätzbares Schreiben vom 25 9bre erhielt ich zusammen mit dem lezten u habe das Vergnügen Ihnen zu melden dass ich den 2ten Theil der Novellen recht gern drucken lassen will. Da wir noch eine Novelle übrig haben so haben Sie die Güte u senden mir nun noch etwa so viel Mst da diese schon 8–9 Bogen füllen wird. Sehr angenehm wäre mir es wenn ich es recht bald bekäme.25
Bd. 2: Karl Anton von Gruber, Das Ideal; Bd. 3 u. 4: Die Kirche und die Götter;26 Bd. 5: Carlo, Blumenleben; Bd. 6: F. M., Giulio; Bd. 7: Die Nachtwachen. Von Bonaventura. – Mit dieser Edition ist dem Dienemann-Verlag ein literaturhistorisches Kabinettstück erster Ordnung gelungen. Die Nachtwachen sind uns bis heute nahe als ein Schwanengesang auf eine Zeit des Umsturzes und des Zerfalls in der politischen und geistigen Welt. Denn, wie erinnert Bonaventura an die Lebens- und Bewußtseinslagen seiner Leser? – „Hinter euch liegt die ganze Weltgeschichte wie ein alberner Roman, in dem es einige wenige leidliche Charaktere, und eine Unzahl erbärmlicher gibt.“27
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Franz Horn (1783–1837), Pädagoge in Bremen und Berlin, Literaturhistoriker, Umrisse zur Geschichte und Kritik der schönen Literatur Deutschlands, während der Jahre 1790 bis 1818, Berlin: Th. Ch. Fr. Enslin 1821. Friedrich Küchelbecker (1778–1814), aus dem Penig benachbarten Frohburg. – Er ist literarisch wohl neben Johann August Kanne der momentan engste Jean-Paul-Schüler. – Der Hinweis auf 16 Abenteuer im Titel läßt an die 16 Nachtwachen bei Bonaventura denken. Ferdinand Dienemann an Sophie Brentano, vom 22. Dezember 1804, unveröffentl. – Ich danke Herrn Dr. Heinz Härtl (Weimar) für diesen Hinweis. Der Verfasser ist Gotthilf Heinrich Schubert – vgl. Anm. 4. – Die Vermittlung zum Dienemann-Verlag stellte der Jenaer Physiker Johann Wilhelm Ritter (1776–1810) her. Nachtwachen. Von Bonaventura, mit sechzehn Radierungen von Michael Diller. Hrsg. von Steffen Dietzsch. Leipzig: Reclam 1991, S. 54.
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Dieser Text galt als ein Paradebeispiel des Nihilismus, als „ein nihilistisches Gesamtkunstwerk, [...] neben dem Lovell [von Tieck] das reinste dieser Art.“28 In ihm wird die Geschichte einer Suche nach der unbekannten Herkunft eines Ich erzählt. Die Recherche endet im Schauhaus, hier identifiziert das Ich seinen toten Erzeuger, der bei einer Berührung zu Staub zerfällt, und – so die Schlußsentenz: ich streue diese Handvoll väterlichen Staub in die Lüfte und es bleibt nichts ! Drüben auf dem Grab steht noch der Geisterseher und umarmt – nichts ! Und der Widerhall im Gebeinhaus ruft zum letzten Male – nichts !29
Der Autor war der in Braunschweig lebende freie Theaterautor August Klingemann (1777–1831), worauf Jost Schillemeit30 und Horst Fleig31 in unabhängig voneinander und methodisch unterschiedlichen Indizienbeweisen hinwiesen und was dann durch einen handschriftlichen Fund von Ruth Haag in Amsterdam bewiesen wurde. Bei diesem exorbitanten Fund handelt es sich um eine autobiographische Skizze Klingemanns von 1830, die offensichtlich für einen lexikalischen Zweck vorbereitet wurde, vielleicht für eine Neuauflage von Friedrich Rassmanns Pseudonymen-Lexikon, die aber nicht zustande kam, weil Rassmann 1831 einige Wochen nach Klingemanns Tod selber starb. In einem Oeuvre-Verzeichnis, das jenem Artikel beigefügt war, hat Klingemann die Nachtwachen als sein Werk eigenhändig ausgewiesen.32 – Klingemann hatte sich bislang theatergeschichtlich einen Namen gemacht als derjenige, der 1829 Goethes Faust. Erster Theil in Braunschweig zur Uraufführung brachte. Ein biedermeierlicher Leser erschrak noch vor diesem Text als „einem der merkwürdigsten und entsetzlichsten Bücher, die je geschrieben worden.“33 Uns heutigen scheint es „an Genialität nur von Brentanos Godwi übertroffen“34 zu werden. Dieser Text faßt ein skeptisches Lebensgefühl zusammen, das wir auch von anderen jüngeren deutschen Autoren jener Zeit kennen, etwa seit Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei (1797) – natürlich aus dem Freundeskreis Jean Pauls, mit Passagen, wie „Der Mensch ist
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Werner Kohlschmidt: Nihilismus der Romantik. In: Romantikforschung seit 1945. Hrsg. von Klaus Peter. Königstein/Ts.: Anton Hain 1980, S. 63. Nachtwachen. Von Bonaventura. Hrsg. von Steffen Dietzsch, S. 141. Jost Schillemeit: Bonaventura. Der Verfasser der Nachtwachen, München: Beck 1973; vgl. auch die von ihm edierte Nachtwachen-Ausgabe, Insel-Verlag 1974. Horst Fleig: Literarischer Vampirismus. Klingemanns Nachtwachen von Bonaventura. Tübingen: Niemeyer 1985. Ruth Haag: Noch einmal: Der Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura. In: Euphorion, H. 3/1987, S. 295. Ernst von Lasaulx an Joseph von Görres, vom 28. März 1831. In: Remigius Stölzle: Ernst von Lasaulx (1805–1861), ein Lebensbild. Münster: Aschendorff 1904, S. 29. Carl Georg von Maassen: Der grundgescheute Antiquarius. Frechen: Bartmann Verlag 1966, S. 105.
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und bleibt ein Nachtwandler, trotz all euern Philosophemen! Alles irdische Bewußtseyn, auch das klarste, irrt ewig im Zwielichte der Phantasie und in den Träumen der Zeit umher“;35 aber auch bei August Mahlmann Die Kur der Eitelkeit (1803), wo es heißt: „‚Nichts!‘ rief der kleine Buckel und seufzte. – ‚Nichts!‘ schallte ihm das dumpfe Echo des Gewölbes zurück.“36 Die Nachtwachen stehen am Beginn einer literarischen Entwicklung in Europa, die zu Georg Büchner, Charles Baudelaire, Jules Laforgue, Friedrich Nietzsche, Alfred Kubin, Franz Kafka, Stanislaw Mrozek, Samuel Beckett und anderen führt. Das sie alle verbindende geistige Element, zu dem auch Bonaventura seine Ironie steigert, ist der schwarze Humor, damit wird Ironie subversiv. Aber in den Nachtwachen begegnet uns gerade hier ein verborgener Moralismus, der sichtbar wird eben im Gelächter, das genau dort einsetzt, wo es auf den ersten Blick gar nichts zu lachen gibt. Das Lachen trägt somit dazu bei, die verkehrte Logik einer verkehrten Welt erkenn- und ertragbar zu machen. Denn, und so konnte es Bonaventura schon in einem französischen Aufklärungstraktat über das Lachen nachlesen, jenes Lachen „ist gewiß keine Wirkung der Freude [...] Das Lachen ist so ganz unabhängig von jedem frohen Eindrucke, daß es oft mitten in der Traurigkeit und in der finstersten Langeweile wie ein Blitz im Dunkeln hervorbricht, ohne jedoch die Seele aus ihrem traurigen Zustande zu reißen.“37 Das Nachtwachen-Bonaventura-Motiv finden wir zeitgenössisch häufig, etwa bei Alois Wilhelm Schreiber,38 Ignatius Aurelius Feßler,39 Heinrich August Müller,40 Eduard Freiherr von der Oelsnitz41 und Franz Dingelstedt.42 – Auch unsere Gegenwart ist gelegentlich fasziniert von diesem Thema.43 – Übrigens
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Johann Ernst Wagner: Reisen aus der Fremde in die Heimath. Hildburghausen: Joh. Gottfr. Hanisch’s Erben 1808, S. 118f. (Aph. Nr. 131). – Oder an anderer Stelle: „Ueberall […] bleibt er Nichts – und der ganze Mensch ist nichts weiter als ein organisirter Windstoß.“ (ebd., S. 60). August Mahlmann: Sämmtliche Schriften. 5. Bd. Leipzig: F. Volckmar 1840, S. 27. [Louis Poinsinet de Sivry:] Psychologische und physiologische Untersuchungen über das Lachen; aus dem Franz., nebst einer Abhandlung, in welcher Kants Erklärung des Lachens erläutert, und Herrn D. Platners Theorie des Lächerlichen geprüft wird. Wolfenbüttel 1794, S. 66. Auch: Manfred Frank: Vom Lachen. Über Komik, Witz und Ironie. Überlegungen im Ausgang von der Frühromantik. In: Luzifer lacht. Hrsg. von Steffen Dietzsch. Leipzig: Reclam 1993, S. 189–214. [Schreiber, Alois Wilhelm:] Die Nachtwachen des Einsiedlers von Athos (1790). Ignatius A. Feßler: Bonaventuras mystische Nächte (1807, neu ed. 1810), und: Der Nachtwächter Benedikt (1809). [Müller, Heinrich A.:] Bonaventura, der Geweihte der Nacht. Vom Vf. des Fiorenzo (1811). Heinrich von Hohenlinden [Pseud. für von d. Oelsnitz]: Bonaventura oder Leipzigs geheimnisvolles Haus (1832). [Franz Dingelstedt:] Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters (1841). Etwa: Max Bense: Bonaventuras Rede vor den Ruinen und Särgen. In: Vision. Deutsche Beiträge zum geistigen Bestand 1 (1947/48), H. 2, S. 132–135.
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hat auch Achim von Arnim jenes Nachtwachen- Motiv verwendet, als Untertitel eines Essays in Friedrich Schlegels Europa (in Bd. II, 1. H., S. 146). Die Nachtwachen. Von Bonaventura sind als Doppeldruck erschienen: bei einer Lieferung ist links der Reihentitel ‚Journal von neuen deutschen Original Romanen‘, Dritter Jahrgang. 1804, Siebente Lieferung und im Verlagstitel die Jahreszahl 1804 und auf dem rechten Titelblatt die Jahreszahl 1805 abgedruckt, während eine andere Lieferung ohne diesen Reihentitel und mit der Jahresangabe 1805 erschienen ist. Als letzter Band 1804 erscheint als Bd. 8: F. Hanack, Lehrjahre der Liebe. Der Vierte Jahrgang 1805 beginnt mit dem Weimarer Bibliothekar und Modeschriftsteller Christian August Vulpius,44 er ist der älteste aller Dienemann-Autoren. Bd. 1: Vulpius, Wellental; Bd. 2: [Vulpius], Don Juan der Wüstling; Bd. 3: Carl Anton von Gruber, Torquato Tasso; und als letzter Bd. 4: Sophie Brentano, Spanische und italienische Novellen. Zweiter Band. Insgesamt ist vom Verleger Dienemann zu sagen: Er konzipierte sein Verlagsprogramm mit viel Gespür für literarische Novitäten und ohne Scheu vor dem verlegerischen Risiko. Damit profilierte er sich als Verlag für junge Autoren. Einige brannten ihre ungestümen Talente wie in einem Feuerwerk ab, sie gaben ihr Debüt und verschwanden wieder. Einige waren literarische Flaneurs, aufmüpfig, beißende Ironiker, denen die Zensur im Nacken saß, wie dem genialen Johann Arnold Kanne,45 der auch unter dem Pseudonym ‚Walter Bergius‘46 höchst zweifelhafte Texte publizierte. Jean Paul, der ihn außerordentlich schätzte, hat ihn einmal dem Gothaischen Herzog empfohlen als „einen Jüngling, der eben so viel griechische Gelehrsamkeit als brittischen Witz besitzt und zu allem diesen eine Raphaelische Stirn und ein freies offnes Angesicht hat und macht.“47 Andere literarische Publikationen bei Dienemann außerhalb des ‚RomanJournals‘ waren – u. a. auch anonyme – Texte von Karl Heinrich Ludwig Giese-
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Christian August Vulpius (1762–1827), Jurist, Schwager Goethes; Rinaldo Rinaldino, der Räuberhauptmann (Leipzig 1800, 2 Bde.). F. [recte; Johann] August Kanne: Il Ciclope. Duodrama di Metastasio. Penig: Dienemann o.J., ders.: Sappho. Monodram. In Musik gesetzt von Johann August Kanne. Penig: Dienemann o.J. Walter Bergius [Pseud. J. A. Kanne]: Kleine Handreise im Schooße einer Jungfrau. Penig: Dienemann 1803. Allerdings: der Zusatz ‚im Schooße einer Jungfrau‘ fiel beim Druck der Zensur zum Opfer: vgl. Jean Paul an Walter Bergius, vom 17. September 1801 (Jean Paul: Sämtliche Werke. Hrsg. von Eduard Berend, III. Abt.: Briefe, 4. Bd., Berlin: Akademie 1960, S. 104). Jean Paul an Herzog Emil August von Gotha, vom 12. Oktober 1805. (Jean Paul: Sämtliche Werke, III. Abt.: Briefe, 5. Bd., Berlin: Akademie 1961, S. 60).
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brecht,48 J. C. Rühl,49 Gottfried Fähse.50 – Gelegentlich wurden auch akademische Schriften51 bei Dienemann aufgelegt. Daß sich der Dienemann-Verlag mit seinen vielen jungen, noch unbekannten Autoren als Verlag der sich in Mitteldeutschland herausbildenden frühen Romantik profilieren wollte, geht aus einer Notiz von Varnhagen hervor, als er schrieb: „Der Buchhändler Dienemann in Penig widmete sich dem Dienst der romantischen Schule und machte große Verlagsanstalten für dieselbe. Für guten Druck und feines Papier sorgte er bestens.“52 Im Frühjahr 1805 beantragte Dienemann bei der Philosophischen Fakultät der Universität Jena die Eröffnung eines Promotionsverfahrens zur Erlangung der philosophischen Doktorwürde. Damit war aber kein Umstieg in eine akademische Kariere intendiert. Vielmehr gehörte das zu dem Plan, seinen Verlag um eine bedeutende großstädtische Filiale zu erweitern. Dafür sollte auch das Renommée des Verlagsleiters gehoben werden. In einem Brief von Prof. Eichstädt an den Dekan der Philosophischen Fakultät, J. Chr. Hennings vom 13. Mai 1805 wird das Dienemannsche Anliegen vorgetragen. Dienemann hatte mit Eichstädt als – seit dem Vorjahr – Oberbibliothekar der Jenaer Universitätsbibliothek und – seit 1803 – Herausgeber der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung schon geschäftliche Beziehungen und Eichstädt war auch Autor bei Dienemann. – Er bekommt dann mit dem Diplom vom 21. Mai den akademischen Grad. Dienemann hatte allerdings keine schriftliche Arbeit eingereicht und sich keiner Disputation gestellt, sondern sich den Doktortitel – für acht Louisdor – gekauft. Es wird eben alles, so hat er es von seinen Jenaer Autoren gelernt, „mit romantischer Ironie angesehen und dargestellt.“53 Dieser Haltung eines Connaisseurs gegenüber jenem akademischen Ritual hat sich dann Achim von Arnim in Halle und Jerusalem einmal so erinnert:
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Carl Heinrich Ludwig Giesebrecht: Armida. Eine Tragödie. Penig: Dienemann 1804. – Carl H. L. Giesebrecht (1782–1832) war der Bruder des Dichter Ludwig Giesebrecht (1792–1873). J. C. Rühl: Ossians Gedichte in Umrissen. Penig: Dienemann 1805. Pindaros Siegeshymnen, metrisch übersetzt von Gottfr. Fähse, Penig: Dienemann 1804– 1806, 2 Bde. – Davon erschien 1824 ein Neudruck bei Johann Friedrich Leich in Leipzig (der die Bestände des ehemaligen Dienemann-Verlags übernommen hatte). Heinrich Carl Abraham Eichstädt: De imaginibus Romanorum dissertationes duae. Accessit oratio de bonis Academiae Jenensis, et D. Gabrielis Henry versio utriusque scriptionis Gallica. 2. Aufl. Penig, St. Petersburg: Dienemann 1806. – Diese Sammlung erschienen aus Anlaß der Ankunft und Heirat der russischen Erbprinzessin Maria Pawlowna (1786–1859) in Weimar 1804. – Gabriel Henry (1752–1835) war damals französischer Emigrant in Jena. Briefwechsel zwischen Clemens Brentano und Sophie Mereau. Nach den Handschriften hrsg. von Heinz Amelung. Potsdam: Rütten & Loening 1939, S. 439. – Nicht zuletzt war das Honorar sehr gut: „Dienemann zahlte 1 Louidor für den Bogen [ihrer ‚Span. Novellen‘]“, wie Sophie Brentano am 21. Sept. 1803 an Bruder Clemens schreibt. Novalis: Schriften, 3. Bd.: Das philosophische Werk II. Hrsg. von Richard Samuel. Stuttgart: Kohlhammer 1983, S. 326.
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92 GEVATTERIN. Weiß gar nicht, warum sie mir nicht mal so einen alten Doktorhut verehren, was die all’wissen, weiß ich lange schon, hab’s lange an den Schuhen abgelaufen.54
III. Zwischen 1804 und 1809 schreibt Arnim an seinem Halle und Jerusalem.55 1811 wird es bei Mohr & Zimmer in Heidelberg veröffentlicht. – Es wird entworfen als Bearbeitung einer barocken Vorlage des Andreas Gryphius. Unter der Hand Arnims wird aber der theatralische und geistige Horizont der alten Vorlage sehr erweitert. Es entsteht dabei ein selber origineller literarischer Text, „das einzige religiöse Großdrama der Romantik, das sich mit der eigenen Gegenwart befaßt. Es enthält Elemente des romantischen Nihilismus […] in dem lockeren Rahmen einer dramatischen Großform.“56 Zugleich ist es viel mehr als nur eine Bearbeitung, es ist „das einzige Beispiel eines völlig verwandelten und selbstständig erneuerten Kunstwerks aus der älteren Zeit.“57 Wie Arnim das Gegenwärtige in diese barocke Vorlage hinein konstruiert, läßt sich u. a. an der Figur des Studenten Dienemann im Ersten Aufzug des Stückes bemerken. Daß die Absicht mit diesem neuen Stück auf einer Konstruktion gründet, ist Arnim natürlich klar. Was er hier künstlerisch unternimmt, ist, wie er es selber sieht, „eine Erfindung, die ich für durchaus neu und einen bedeutenden Schritt in der darstellenden Kunst halte.“58 Mit ‚Erfindung‘ wird hier zunächst an die ars inveniendi erinnert als einer methodischen Tugend, die beim Dichten und Denken in Deutschland von den jungen Intellektuellen um 1800 höchst phantasievoll eingesetzt wurde. „Das Wesentliche der wahren Konstruktion besteht in der Vereinigung des Philosophischen und Historischen.“59 Oder dann auf die Dichtkunst bezogen heißt das: „Dichtungen sind nicht Wahrheit, wie wir sie vom […] Verkehr mit Zeitgenossen fordern“, denn es „ist
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Arnim: Halle und Jerusalem. Arnims Werke: Hrsg. Alfred Schier. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut o.J., Bd. 3, Erster Aufzug, Fünfter Auftritt, S. 29. Ulfert Ricklefs: ‚Ahasvers Sohn‘. Arnims Städtedrama „Halle und Jerusalem“. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809–1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. Tübingen: Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft 1), S. 143–244. Roger Paulin: Gryphius’ ‚Cardenio und Celinde‘ und Arnims ‚Halle und Jerusalem‘. Eine vergleichende Untersuchung. Tübingen: Niemeyer 1968, S. 4. Ebd., S. 12. Vgl. auch S. 173. Arnim an Brentano, vom 27. Februar 1805 (Reinhold Steig und Herman Grimm (Hrsg): Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Bd. 1–3. Bd. 1. Achim von Arnim und Clemens Brentano. Stuttgart: Cotta 1894, S. 134). Friedrich Schlegel: Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler, JeanJacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 13, Paderborn: Ferdinand Schöningh 1964, S. 323.
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das Dichten ein Sehen höherer Art zu nennen“ und nur so wird „die Geschichte zur Wahrheit geläutert.“60 Gerade mit dem Studenten Dienemann werden uns Arnims „stark wirkenden Erinnerungen an seine Universitätsstudien in Halle, an seinen Verkehr mit den halleschen ‚Romantikern‘ um Reichardt“61 plausibel. Um und mit Dienemann erzeugt Arnim einen sozusagen kritisch-nihilistischen Subtext innerhalb des dramatischen Bühnenspiels. Hier werden empirische, wirkliche Erinnerungsfragmente nicht einfach impressiv zitiert, sondern sie werden gewissermaßen erst zusammengesetzt und so bühnenförmig gemacht. Mit Dienemann werden vor allem der Universitätsbetrieb und das Promotionswesen in der Aufklärung, namentlich in der Figur Wagner, die Studentenhybris und die Philisterei ironisiert. Ganz hintergründig läßt Arnim seinen Dienemann schon anfangs aus einem der Erfolgsromane des DienemannVerlags, den Nachtwachen des Bonaventura klandestin zitieren: „Halt still, was schlägt’s da? Wahrhaftig schon eilf Uhr.“62 Auch weist Dienemanns erster Bühnenauftritt überhaupt auf seine polyglott überlegene Natur hin. Mit einem spöttischen Zitat – aus Giovanni Veneroni’s Le maître italien63 – kommentiert er lautmalerisch den Auftritt einer der beiden Hauptpersonen des Stückes, Ahasverus [der sich am Ende als Cardenios Vater erweist …]: „Tschaskeduno sa, ke la tschetschita die Tschiudäi e Schismatitschi“,64 also ungefähr, daß nichts dem Universum mehr zuwider sei als die Ungläubigen. Und Dienemann macht auch zuerst auf genealogische Offensichtlichkeiten in der Physis beider (Ahasverus & Cardenio) aufmerksam. Cardenio, der Privatdozent an der Universität, kommt immer mit dem Pulk seiner immer flachsenden Studenten. Sie erzeugen übrigens um sich herum so etwas, wie „eine Art von geistigem Bordell.“65 Der romantisch-nihilistische Subtext erscheint im Bühnengeschehen noch einmal zugespitzt um die Promotion Wagners. Sein Bühnenname läßt nicht zufällig an den aufklärerischen Gegenspieler Fausts bei Goethe denken. Auch der Wagner hier ist einer, der viel weiß, doch alles wissen möcht’ … der „des Aberglaubens Vorhang kühn zerissen, die Offenbarungen vernichtet hat, vor ihm bestehen keine Religionen.“66 Kurz, wie Kommilitone Suppius bemerkt: „sollt’ ich mir die Aufklärung versinnlicht denken, der Wagner wär ihr Bruder.“67
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Achim von Arnim: Die Kronenwächter. Einleitung. Arnims Werke. Hrsg. Alfred Schier. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut o.J., Bd. 1, S. 16. Lothar Ehrlich: Ludwig Achim von Arnim als Dramatiker, Diss. Halle (Saale) 1970, S. 90. Arnim: Halle und Jerusalem. Erster Aufzug, Erster Auftritt, S. 16. – Mit je einer solchen Sentenz eröffnet der Nachtwächter in den Nachtwachen des Bonaventura seinen Rundgang in der Ersten und Zweiten Nachtwache, auch in der Vierten Nachtwache spielt die Stunde um die Mitternachtszahl eine wichtige dramaturgische Rolle. Erschienen: Amsterdam 1740, S. 39. Arnim: Halle und Jerusalem. Erster Aufzug, Erster Auftritt, S. 16. Ebd. Zweiter Auftritt, S. 23. Ebd. Fünfter Auftritt, S. 31. Ebd.
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Dienemann fungiert bei dieser Veranstaltung als eine Art ‚Maître de Plaisir‘, er koordiniert die Musikanten, und er verkündet auch das traurige Ende der Disputatio – „da guckt ja Dienemann heraus, hält sich das Schnupftuch vor die Augen“68 – mit dem überlegenen Dozenten Cardenio, der „dem armen Wagner alles wilde philosophische Fleisch“69 weggeätzt hat. Er ist dann gestorben, wie es augenzwinkernd über dieses Collegium Logicum heißt, an „seiner Schlüsse ungeheurer Folge, an einem Untersatz ist er geblieben, der alles schließen sollte.“70 Indem dann, wie es in der Bühnenanweisung heißt, die Leiche Wagners, mit Doktormantel und Doktorhut bekleidet, im Bühnenvordergrund niedergelassen wird, wird durch Achim von Arnim die Aufklärung71 theatralisch und öffentlich begraben. Am Ende der Dienemann-Episode entläßt Arnim den Zuschauer mit einem Diktum, das am Ende des Jahrhundert von einem späten, allzuspäten Romantiker, leicht variiert, wieder aufgenommen wird: „Das Denken ist ein Tanzen auf dem Seile, das zwischen Gott und dem Menschenleben gespannt ist.“72
V. Mit dem Amtsantritt des neuen Zaren Alexander I. 1801 scheint das geistige Leben im Zarenreich flexibler zu werden, das Einfuhrverbot für ausländische Bücher wurde aufgehoben und es wurden Privatdruckereien wieder erlaubt. Ein erstmals (8. September 1802) eingerichtetes ‚Ministerium für Volksaufklärung‘ unter Minister Michail N. Murav’ev erweitert das Universitätsangebot. Zur lange einzigen Universität des Reichs in Moskau (seit 1755) kommen Neugründungen in St. Petersburg, Kasan und Charkow, damals die Hauptstadt der Ukraine. – Die neuen Lehrkräfte73 dafür kommen größernteils aus Mitteldeutschland, aus Jena und Leipzig. Auch Dienemann-Autoren sind unter den
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Ebd. Fünfter Auftritt, S. 32. Ebd. Ebd. Fünfter Auftritt, S. 33. Vgl. Daniel Fulda: Himmel und Halle. Vom Ort der Aufklärung zur Verklärung der Orte in Achim von Arnims Studenten und Pilgerdrama. In: Raumkonfigurationen in der Romantik. Eisenacher Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hrsg. von Walter Pape. Tübingen: Niemeyer 2009 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft 7), S. 121– 137. Arnim: Halle und Jerusalem. Erster Aufzug, Fünfter Auftritt, S. 34. Vgl. Wilhelm Stieda: Deutsche Gelehrte als Professoren an der Moskauer Universität. Leipzig: S. Hirzel 1930, und Dietrich von Engelhardt: Deutsch-russische Wissenschaftsbeziehungen im 18. und 19. Jahrhundert. In: Deutsch-russische Beziehungen in Medizin und Naturwissenschaft. Hrsg. von Dietrich von Engelhardt und Ingrid Kästner. Aachen: Shaker Verlag 2000, S. 1–18.
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Interessenten für solche neue Stellen, exemplarisch sei Johann Arnold Kanne74 erwähnt. Die für Dienemann (werbe-)maßgebliche Leipziger Zeitung für die elegante Welt hat allein im zweiten Halbjahr 1804 halbdutzend Berichte aus St. Petersburg über gelehrte Institutionen, Mode, Gesellschaften, Theater75 veröffentlicht. Hier in der Stadt ist außerdem der Sitz der Akademie der Wissenschaften. Eine Literaturhandlung sollte hier beste Bedingungen vorfinden. – So entschließt sich Dienemann im Sommer 1805, in der russischen Hauptstadt eine Verlags- und Buchhandelsdependence zu eröffnen. Er quartiert sich am Newskiprospekt ein, im damals ‚Weberschen Haus‘ Nr. 85. Es ist gedacht als eine Entscheidung auf lange Dauer, eine große Investition, die all seine Mittel beanspruchte.76 Sein Petersburger Entree gab Dienemann mit dem großen stadtgeschichtlichen Werk zur Zarenresidenz des aus Estland stammenden kaiserl.-russ. Staatsrats Hans Christian von Reimers77 und 1805 mit einer Zeitschrift Konstantinopel und St. Petersburg, hrsg. von H. Chr. V. Reimers und Fr. Murhard. Dienemann hatte sich 1806 nach Petersburg eine (anonyme) Schrift78 kommen lassen, die ihm zeitgeschichtlich interessant schien und die er pflichtgemäß den Behörden bekannt gemacht hatte. Aber: „Der Ausbruch des letzten Krieges, und die durch denselben so schnell veränderten Verhältnisse zwischen Sachsen und Russland setzten ihn in eine höchst kritische und gefährliche Lage.“79 Das Buch, das den Weg zur ‚Dreikaiser-Schlacht‘ von Austerlitz schilderte, war natürlich in Rußland verboten und auch die preußische Zensur80 untersagte den Vertrieb dieses sächsischen Druckes in Preußen. In St. Petersburg wurde darauf hysterisch reagiert: das Geschäft Dienemanns wurde Anfang Februar 1807 geschlossen, er selber binnen Stundenfrist via Wyborg nach Schweden ausge-
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Vgl. Johann August Kanne an Christoph Meiners, vom 25. November 1805. In: Wilhelm Stieda: Anm. 73, S. 92–93. Vgl. Svetlana I. Mel’nikova: Das Deutsche Theater in Sankt Petersburg am Anfang des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), H. 4, S. 523ff. Vgl. dazu zusammenfassend Alla Keuten: Der Verleger der „Nachtwachen von Bonaventura“ Ferdinand Dienemann und seine Schicksale in St. Petersburg. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 61 (2007), S. 201–212. Hans Christian von Reimers: St. Petersburg am Ende seines ersten Jahrhunderts. 2 Bde. Penig, St. Petersburg: Dienemann 1805. Das Werk ist reich ausgestattet, mit Kupferstichen, Frontispiz und fünf gefalteten Stadtplänen. [Dietrich Freiherr von Bülow:] Der Feldzug von 1805. Leipzig: Gerhard Fleischer Verlag 1806. Korrespondenz- und Notizen-Blatt. In: Zeitung für die elegante Welt, Freitag, 10. April 1807, Nr. 58, Sp. 463. – Dienemann annoncierte noch einmal seine russische Reiseliteratur in der Zeitung für die elegante Welt, im Intelligenzblatt der ZfdW, Freitag, 24. April 1807, Nr. 25. Acta die Censur die Schrift: der Feldzug von 1805 militärisch-politische betrachtet vom Verfasser des neuen Kriegs-Systems, 88 S. In: GStAPK, Rep. IX, F 2a, fasz. 47, fol 32 u. 32v. – „Meines Erachtens nach waren aber diese Urtheile und Meinungen mehr als kühn, mit unter beleidigend, in immer unanständigen, abstoßenden Ton ausgedrückt, und ich versagte daher jenen 88 Seiten das Imprimatur.“ (Geh.OFinanz Rath Hüttel an den König, 19. Juli 1806, fol. 32).
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wiesen. – Drei Monate später war er wieder in Penig, gesundheitlich angeschlagen, geschäftlich ruiniert.
VI. Nachdem Dienemann lange – ab 1807 – als verschollen galt (wie nachher viele seiner literarischen Editionen, wie manche seiner Autoren), gibt es inzwischen neue Nachrichten81 über seinen weiteren Verbleib. – Er verließ Penig und ging als Kaufmann nach Breda in Holland. Hier heiratete er 1814 Henrica Elisabeth van Dooren (1789–1838); sie bekamen eine Tochter, Caroline Elisabeth (1815– 1855). Wann Johann Ferdinand Dienemann gestorben ist, bleibt bis heute unbekannt.
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www.home.zonnet.nl/h.muntjewerff/genealogy/vdooren/vdooren.htm.
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Abb. 1: Johann Ferdinand Dienemann, Dissertationsurkunde, Universität Jena, vom 21. Mai 1805 [Uni. Archiv, Bestand M: Phil.Fak., Nr. 222, Dekanatsakten, fol. 74].
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„Oder die ‚Kronenwächter‘, ein so schönes Buch“ Hugo von Hofmannsthal und Achim von Arnim
„Was soll ich viel von mir hören lassen, die Welt mag mich nicht hören.“ Diese resignierten Worte Ludwig Achim von Arnims aus einem Brief an Wilhelm Grimm vom 25. November 18151 haben sich bekanntlich auch in Bezug auf seinen Nachruhm bestätigt: Arnim ist ein Autor für die ‚happy few‘ geblieben, zu denen allerdings stets auch namhafte Literaten und Künstler gehörten.2 Das gilt nicht zuletzt für eins seiner bedeutendsten Werke, das Romanfragment Die Kronenwächter.3 Arnims eigene Mitteilung an die Brüder Grimm im Oktober des Erscheinungsjahrs 1817, das Buch werde „stark gelesen“,4 hat sich als ganz und gar unzutreffend erwiesen; auch das Interesse der Literaturwissenschaft setzte intensiv erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein. Andererseits hat erstmals Werner Vordtriede 1962 darauf aufmerksam gemacht, daß kein Geringerer als Hugo von Hofmannsthal sich geradezu überschwenglich lobend über den Roman geäußert hat.5 Seitdem ist dieses Rezeptionszeugnis häufig von namhaften Arnim-Kennern in Interpretationen und Editionen des Romans herangezogen und zitiert worden, so von Heinz Härtl, Ulfert Ricklefs und Paul-Michael Lützeler.6 Über den Kreis der Arnim-Spezialisten hinaus ist
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Reinhold Steig (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Bd. 3: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Stuttgart, Berlin: Cotta 1904, S. 336. Neue Zeugnisse und Studien zu prominenten Arnim-Lektüren bis in die jüngste Gegenwart hat in letzter Zeit vor allem die von der Internationalen Arnim-Gesellschaft herausgegebene Neue Zeitung für Einsiedler vorgelegt; vgl. besonders Heinz Härtl: Moderne ArnimRezeptionen. Eine Dokumentation. In: Neue Zeitung für Einsiedler Jg. 6/7 (2006/2007), S. 109–123. Der Roman wird zitiert nach der Ausgabe: Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack, Paul Michael Lützeler, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Hermann F. Weiss. (künftig: Arnim: Werke) Bd. 2: Die Kronenwächter. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989 (Bibliothek deutscher Klassiker 42). Steig: Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Bd. 3 (wie Anm. 1), S. 400. Werner Vordtriede: Achim von Arnims „Kronenwächter“. In: Die Neue Rundschau 73 (1962) Heft 1, S. 136–145 (künftig: Vordtriede: „Kronenwächter“), hier S. 143. Heinz Härtl: Nachwort. In: Achim von Arnim: Die Kronenwächter. Leipzig: Reclam 1980, S. 567–597 (künftig: Härtl: Nachwort), hier S. 596f.; Ulfert Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik. Das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der „Kronenwächter“. Tübingen: Niemeyer 1990 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 56) (künftig: Ricklefs: Kunstthematik), S. 130; Lützeler in Arnim: Werke Bd. 2, S. 634.
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Hofmannsthals Urteil über den Roman allerdings bis heute weniger bekannt, zumal er selbst es nicht veröffentlichte, sondern lediglich 1918 (nicht 1917, wie es bei Vordtriede irrtümlich heißt) in sein Tagebuch notierte.7 Derzeit ist Hofmannsthals Charakterisierung der Kronenwächter am leichtesten in der von Bernd Schoeller besorgten zehnbändigen HofmannsthalAusgabe des Fischer-Verlags zugänglich;8 der entsprechende Band der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe ist noch nicht erschienen.9 Die Passage hat im Tagebuch die Überschrift „Arnims ‚Kronenwächter‘ (ältere Notiz, aus dem Exemplar.)“; es handelt sich also um die Übertragung einer zunächst in ein Handexemplar des Romans geschriebenen Aufzeichnung. Da im Zuge der Arbeiten an der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe inzwischen ein ausführlicher kommentierter Katalog der heute im Freien Deutschen Hochstift/Frankfurter Goethe-Haus aufbewahrten Handbibliothek Hofmannsthals erstellt worden ist, der als SW Bd. XL erscheinen wird, läßt sich diese Angabe überprüfen und präzisieren:10 In Hofmannsthals Bibliothek finden sich die Kronenwächter in zwei Ausgaben; zum einen im 2. Band der von Reinhold Steig herausgegebenen Werkauswahl im Insel-Verlag aus dem Jahr 1911, zum anderen als Einzelausgabe im Spemann-Verlag aus dem Jahr 1881.11 Die letztere Edition, neben der ebenfalls 1881 (Arnims hundertstem Geburts- und fünfzigstem Todesjahr) erschienenen Reclam-Ausgabe die erste Neuveröffentlichung des Romans,12 enthält auf der Rückseite des Titelblatts die später ins Tagebuch übertragenen Reflexionen. Da diese erste Fassung in einigen kleineren Punkten von der jüngeren, in der Fischer-Ausgabe nachgedruckten abweicht, sei sie hier wiedergegeben:
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Signatur der Handschrift der Tagebuchnotiz in der Hofmannsthal-Sammlung der Houghton Library (Harvard University): H VII 10, S. 119f. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1979/80. (künftig: GW) [Bd. 10:] Reden und Aufsätze III 1925–1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen 1889–1929, S. 547. Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. von Rudolf Hirsch u.a.. Frankfurt a. M.: Fischer 1975ff. (künftig: SW mit Bandangabe in römischen Ziffern.) Die Tagebuchnotiz wird in Bd. XXXVIII enthalten sein. Ich danke Katja Kaluga, Redakteurin der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe, und Heinz Rölleke, der seit 1989 die editorischen Arbeiten leitet, herzlich für hilfreiche Unterstützung und zahlreiche Auskünfte sowie nicht zuletzt für die Möglichkeit, bereits vor der Veröffentlichung Einsicht in den Bibliothekskatalog zu nehmen. Der Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts/Frankfurter Goethe-Hauses, Anne Bohnenkamp-Renken, habe ich für die Erlaubnis zu danken, aus den Eintragungen in Hofmannsthals Handexemplar der Kronenwächter zu zitieren. Achim von Arnims Werke. Ausgewählt und hrsg. von Reinhold Steig. Bd. 1–3 [in Hofmannsthals Bibliothek nur Bd. 1–2]. Leipzig: Insel [1911] (künftig: Steig: Arnim); Ludwig Achim von Arnim: Die Kronenwächter. Mit einer Einleitung von Johannes Scherr. Berlin, Stuttgart: Spemann [1881] (Deutsche Hand- und Hausbibliothek. Collection Spemann 9) (künftig: Scherr). Vgl. Otto Mallon: Arnim-Bibliographie. Berlin: Fraenkel 1925, S. 57 (Nr. 88 b,c).
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es ist eines der tiefdurchdachtesten Kunstwerke Eine wundervolle indirecte Charakteristik. Kein Haschen nach dem Umriss, dem relief. Der Autor scheint allein um den Fluss der Vorgänge die Verwebung der Situationen besorgt und die Figuren malen sich indem sie in den schnell wechselnden Situationen sich ganz individuell verhalten: so trägt Berthold das Bürgerliche scheinbar ganz wohl, und handelt doch unbürgerlich, es zieht ihn in die andere Welt, mit der eigenen ist er ohne Contact, er thut Dinge so als ob sein Blut aus ihm heraus handelte (das Project die Stadt reichsunmittelbar zu machen); so ist Apollonias schwankendes Verhalten von höchster Kunst, so ist Anna mit kaum merklichen Strichen gezeichnet wie sie in der Lebensluft existiert, durch Unterlassungen mehr als durch Handlungen ist sie charakterisiert. Mit höchster Kunst der Betrieb der Kronenwächter ideal und zugleich fast grotesk gemalt: wirklich so wirken alte Kräfte in der Zeit. Kaiser Max als Figur. (Episoden: Herzog Ulrich. Dr Faust)
Am Ende des Kronenwächter-Exemplars hat Hofmannsthal noch einige Bemerkungen eingetragen, die nicht ins Tagebuch übernommen wurden (auch eine Auswertung der zahlreichen Anstreichungen im Text, die im Bibliothekskatalog ebenfalls mitgeteilt werden, wäre sicher von Interesse): Anton gemässigtes Blut durchaus die Entfremdung zwischen Mutter u. Tochter, genährt durch die beiden Mägde welche beide Anton unerwidert lieben wundervollste Gegenständlichkeit: Hohenstock
In diesen Notizen sind verschiedene Punkte hervorgehoben, die gerade aus Sicht der neueren Arnim-Forschung in der Tat die Qualität des Arnimschen Erzählens im allgemeinen und der Kronenwächter im besonderen ausmachen. Hofmannsthals vornehmliches Interesse gilt offenbar Arnims Charakterisierungskunst, die mit der Bezeichnung „indirecte Charakteristik“ ihrerseits sehr treffend charakterisiert scheint: Berthold und die übrigen Personen „malen sich“ selbst durch ihre Reaktionen auf den „Fluss der Vorgänge die Verwebung der Situationen“, die also nur scheinbar, wie es Kritiker Arnims häufig meinten und meinen, Selbstzweck sind; eine Figur wie Anna ist gar „durch Unterlassungen mehr als durch Handlungen“ charakterisiert. Diese Beobachtungen zeigen eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit eigenen Äußerungen Arnims etwa in seinem nachgelassenen Werk Die Päpstin Johanna (entstanden 1812/13), die Hofmannsthal sicher unbekannt waren: Was Hofmannsthal das „Haschen nach dem Umriss, dem relief“ nennt, wird dort als die Art abgelehnt, „wie Dichter sich ihre menschlichen Maschienen zu aller Art aus einem Holze schnitzen. Jeder lebende Mensch ist aber nicht blos Eigenschaft, sondern ein Daseyn eigner Art, das sich wohl bezwingen, aber nie vernichten läst, denn es ist zugleich die Quelle des Lebens.“13 Diese Kritik an
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Ludwig Achim von Arnim: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. (Weimarer Arnim-Ausgabe) In Zusammenarbeit mit der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen hrsg. von Roswitha Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Christof Wingertszahn. Bd. 10: Die Päpstin Johanna. Hrsg. von Johannes Barth. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 197.
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literarischem „Maschienenspiel“, die aus Arnims Auseinandersetzung mit der germanischen Dichtung im Kontext der Diskussion mit Jacob Grimm über Natur- und Kunstpoesie hervorging, aber auch zeitgenössische Autoren wie Fouqué einschloß,14 wird in einer Rezension von 1809 ausdrücklich auch auf die Gattung des Romans bezogen: „[…] jeder andre [im Roman] soll auch nicht bloß als eine ideelle Figur, sondern mit seiner ganzen Realität ausgestattet dastehen, mit seiner Erde und seiner Luft. [Vgl. Hofmannsthal Formulierung „Lebensluft“.] […] alle Poesie ruht auf einer derben, eckigen Realität, und ohne diese menschlichen Züge ist alles Übermenschliche ein Licht ohne Gestalt.“15 Zumal der Schlußsatz der Notiz über die Geheimgesellschaft der Kronenwächter selbst nimmt Erkenntnisse späterer Interpretationen vorweg: Sowohl die Betonung der Kontrastierung von idealen und grotesken Zügen bei der Zeichnung dieser Gruppe (auch die Heraushebung der „wundervollsten Gegenständlichkeit“ des Hohenstock-Kapitels [3. Buch, 4. Geschichte] ist in diesem Zusammenhang von Interesse) als auch die Deutung, daß damit das zwiespältige „Wirken alter Kräfte in der Zeit“ dargestellt werden solle, deckt sich mit neueren Untersuchungen, die eben die Ambivalenz der Kronenwächter betonen.16 Im frühen 20. Jahrhundert wurden sie hingegen ansonsten noch eher idealisiert als Träger einer „Reichsidee“ verstanden, mit deren Zielen sich Arnim gänzlich identifiziere.17 Diese Tendenz findet sich auch im „Zusatz des Herausgebers“ Reinhold Steig am Ende des 2. Bandes seiner von Hofmannsthal rezipierten Arnim-Auswahl: Gemäß Steigs aus heutiger Sicht fragwürdigen politischen Auffassung Arnims, die bekanntlich auch sonst seine zahlreichen Arbeiten zu diesem Dichter prägt, bezieht er in seinem Bericht über die von Bettina von Arnim 1854 herausgegebene angebliche Fortsetzung des Romans den dort erwähnten „von Gott [b]egnadeten“ künftigen Herrscher18 auf Wilhelm I.: Dem Dichter erfüllten diese Sehnsucht die Freiheitskriege noch nicht, erst 1870 erschien der von Gott Begnadete dem deutschen Volke. Aber dem Dichter ist das Heil widerfahren, die neue deutsche Kaisermacht, das Deutsche Reich vorausgesehen und der Größe seines Volkes im Geiste vorgearbeitet zu haben.19
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Vgl. ausführlich den Kommentar zu der zitierten Stelle ebd., S. 986. Arnim: Werke Bd. 6: Schriften, S. 271. Vgl. z.B. Ricklefs: Kunstthematik, der die „ungeheure Diskrepanz zwischen der Idealität der Ideen und Überlieferungen, mit denen [die Kronenwächter] umgehen und auf die sie sich berufen, und ihren eigenen Gesinnungen, Taten und politischen Einflußnahmen“ hervorhebt (S. 183). Vgl. Lützelers Forschungsbericht in seinem Aufsatz über die Kronenwächter in: Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Neue Interpretationen. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Stuttgart: Reclam 1983, S. 38–72, hier S. 40f. Vgl. Arnim: Werke Bd. 2, S. 380. Steig: Arnim Bd. 2, S. 457.
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Natürlich sah Hofmannsthal hier, wie wohl auch bei seinen übrigen Beobachtungen über dieses ‚tiefdurchdachte Kunstwerk‘,20 sicher auch Parallelen zu Problemstellungen, die ihn selbst beschäftigten: Es ist vielleicht kein Zufall, daß er die Notiz gerade im letzten Jahr des 1. Weltkriegs in sein Tagebuch übertrug. Die besonders bei der Gemeinschaft der Kronenwächter und ihrer Burg deutlich werdende „Qual etwas Untergegangenes, wie die edle Zeit der Hohenstaufen, künstlich erhalten zu wollen“, wie Arnim 1816 in einem Brief an Savigny das Thema des Romans formulierte,21 hat jedenfalls offensichtliche Bezüge zu Hofmannsthals zunehmend verzweifelt wirkenden Versuchen, die „österreichische Idee“22 auch angesichts der Katastrophe des Weltkriegs aufrechtzuerhalten. Hofmannsthals Urteile erscheinen bemerkenswert hellsichtig nicht nur im Kontrast zu der ‚wilhelminischen‘ Interpretation Steigs, sondern vor allem auch im Vergleich mit den Darlegungen des Verfassers der Einleitung seiner älteren Kronenwächter-Ausgabe, des Schriftstellers, Literatur- und Kulturhistorikers Johannes Scherr, eines Teilnehmers der Märzrevolution von 1848, der übrigens im Erscheinungsjahr der Erstausgabe des Romans, 1817, geboren wurde und 1886 verstarb. Obwohl Scherr nach eigenem Bekunden Arnim neben Kleist für den „genialsten“ Vertreter der Romantik (die er insgesamt allerdings nicht sehr hoch schätzt) hält,23 ist er doch ganz und gar in den alten klassizistischen Vorurteilen gegenüber diesem Dichter befangen, dessen künstlerisches Schaffen „gar oft eine fahrige Willkür“ beeinträchtige.24 Zwar lobt auch Scherr, wenngleich ohne tiefere Begründung, „die Gestaltenbildung im ganzen Roman […] namentlich auch an den Frauenbildern“,25 seine weitgehende Verständnislosigkeit gegenüber den Kronenwächtern wie auch Arnims Dichtung im allgemeinen26 zeigt sich jedoch daran, daß er, ganz im Gegensatz zu Hofmannsthal, die
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Vgl. zu den Bemerkungen über Arnims Charakterisierungskunst etwa das erfundene Gespräch zwischen Balzac und Hammer-Purgstall Über Charaktere im Roman und im Drama (1902), wo Balzac als das Faszinierende am „wirklichen“ Charakter, wie ihn seine Romane darstellen, im Unterschied zum dramatischen vor allem „seine Breite“ bezeichnet: „Seine Breite, welche die Basis seines Schicksals ist. […] ich sehe nicht den Menschen, ich sehe Schicksale. […] Meine Menschen sind nichts als das Lackmuspapier, das rot oder blau reagiert. Das Lebende, das Große, das Wirkliche sind die Säuren: die Mächte, die Schicksale“ (SW Bd. XXXI, S. 31). Heinz Härtl: „Findet, so werdet ihr suchen!“ Briefe Achim von Arnims an verschiedene Empfänger 1803–1830. Mit weiteren Quellen als Anhang. In: Impulse 8 (1985), S. 242– 279, hier S. 244. Vgl. seinen gleichnamigen Aufsatz von 1917 (GW [Bd. 9:] Reden und Aufsätze II 1914– 1924, S. 454–458). Scherr, S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 14. Es sei offen eingestanden, daß der Verfasser dieses Aufsatzes als Herausgeber der Päpstin Johanna im Rahmen der Weimarer Arnim-Ausgabe möglicherweise durch folgendes Urteil Scherrs über dieses Werk etwas gegen den Autor voreingenommen sein mag: „Will man so recht erfahren, was solche Verirrungen einer reichen Dichternatur zuwegebringen können, so mute man sich zu – denn es ist eine starke Zumutung – Arnims ‚Päpstin Johanna‘ zu lesen. In diesem tollen Gemengsel von Vers und Prosa, in diesem Mischmasch von epischen, lyrischen und dramatischen Motiven und Anläufen feiern die Formlosigkeit, die
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„schemenhafte“ Darstellung der titelgebenden Geheimgesellschaft für ein Zeugnis der Unfähigkeit des Verfassers hält, „aus der Kronenwächterei etwas Rechtes zu machen“.27 Wie bereits erwähnt, wurde Hofmannsthals Notiz über die Kronenwächter bei der Übertragung ins Tagebuch, wo sie übrigens, wie die Angabe in der Fischer-Ausgabe zu präzisieren ist, unter dem Datum des 18. Juli 1918 steht, von ihrem Verfasser in einigen Einzelheiten verändert, was meist wohl nur der Absicht entsprang, kleinere Nachlässigkeiten im Ausdruck zu korrigieren. So ist im Tagebuch vom „Handeln“ statt vom „Betrieb“ der Kronenwächter die Rede, obwohl die frühere Formulierung durch ihre selbst beinahe grotesk anmutende Assoziation der mit idealistischem Anspruch agierenden Staufer-Guerilla mit einem industriell-kommerziellen Unternehmen fast passender erscheint. Bemerkenswerter ist jedoch, daß die Fassung im Tagebuch der Notiz einen neuen Schluß anfügt: „(Aber: Fehlen des eigentlichen Mittelpunkts.)“ Hier scheint der ältere Hofmannsthal die uneingeschränkte Begeisterung des jüngeren doch zu relativieren und rekurriert auf den geradezu topischen Vorwurf der Formlosigkeit, der Arnims Werken seit Goethe immer wieder gemacht worden ist28 und auch Johannes Scherrs Einleitung prägt, die dem Roman einen Mangel an „fester Fugung der Komposition“ vorwirft.29 Aber um wieviele Jahre jünger war Hofmannsthal eigentlich, als er die Beurteilung der Kronenwächter ursprünglich schrieb? Der Tagebucheintrag enthält keinen Hinweis darauf, wann die „ältere Notiz“ genau entstanden sei; möglicherweise war Hofmannsthal das zu diesem Zeitpunkt selbst nicht mehr gegenwärtig. Die Fischer-Ausgabe ergänzt in einem Herausgeberzusatz „1906“ als Entstehungsjahr der ursprünglichen Aufzeichnung. Einer Leseliste Hofmannsthals zufolge30 las der Dichter das Buch aber vielmehr im Oktober 1912 – also gar nicht so lange vor dem Tagebucheintrag. Dies wird durch ein Zitat bestätigt, das Hofmannsthal am 3. Oktober 1912 aus der 6. Geschichte des 1. Buchs der Kronenwächter notierte und das bezeichnenderweise von der Last der Geschichte handelt: „[…] die Gewalt der Jahrhunderte fällt wie ein Fels unerwartet, oft unerkannt auf die Brust des Erwachsenen, der gegen sie immer nur ein Neugeborner ist […]“.31 Die Frage nach dem Datum von Hofmannsthals Lektüre der Kronenwächter ist durchaus bedeutsam im Lichte einer früheren Stelle aus seinem Werk, die in
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Willkür, die Kaprice, die Zerfahrenheit und Verblasenheit einen chaotischen Triumph“ (Scherr, S. 9). Scherr, S. 15. Vgl. dazu z.B. Christof Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achims von Arnim. Mit einem Anhang unbekannter Texte aus Arnims Nachlaß. St. Ingbert: Röhrig 1990 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 23), S. 12; Michael Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in Achim von Arnims Erzählwerk. Bern u.a.: Lang 1996, S. 51–57. Scherr, S. 15. H VII 10, S. 49; die Liste wird in SW Bd. XXXVIII erscheinen. Arnim: Werke Bd. 2, S. 78. Signatur der Tagebuchnotiz: H VB 16.30; sie wird ebenfalls in SW Bd. XXXVIII veröffentlicht werden.
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diesem Zusammenhang bislang nicht beachtet wurde. In Hofmannsthals erster veröffentlichter Rezension aus dem Jahr 1891, Zur Physiologie der modernen Liebe, die sich, recht ironisch und distanziert, mit Paul Bourgets Veröffentlichung angeblicher Fragmente aus dem Nachlaß des fiktiven Schriftstellers Claude Larcher befaßt, findet sich die folgende Passage: Claude Larcher schreibt mit der Hamletseele, der geistfunkelnden, zynischen, schillernden, sentimentalen, ‚oberen‘ Seele; und stirbt an der ‚unteren‘, der Tierseele, dem kranken Willen des Körpers, der seine eigene Angst und Eifersucht, seine eigene Eitelkeit und Erinnerung hat: nur der Tod ist beiden gemeinsam. Das ist die grauenhafte Allegorie des Mittelalters von dem Königssohn, der blutleer dahinfriert, bis ihm die Ärzte Blut aus dem Leib eines starken Knechts in die Adern leiten; und wie er dann weiterlebt und das Bauernblut ihm die Königsgedanken mit Tierinstinkten durchtränkt; und wie er endlich stirbt an der Wunde, die zur selben Stunde eine Dirne dem Knecht in den Hals gebissen – – –32
Jedem Kenner der Kronenwächter wird auffallen, daß diese angebliche mittelalterliche Erzählung tatsächlich einen zentralen Handlungsstrang des 2. und 3. Buchs des Romans variiert: Der kränkliche und früh gealterte Berthold wird durch die von dem Scharlatan Doktor Faust vollzogene Blutübertragung des kräftigen jungen Anton verjüngt und stirbt in dem Moment, als Anton, wiederum durch Faust, mit einem Messer an derselben Stelle seines Arms verwundet wird, an der ihm der Doktor zuvor das Blut entnommen hatte. Diese Motivik ist hier als „Allegorie“ auf die Décadence-Problematik des überreflektierten Dilettanten à la Claude Larcher bezogen, die im Zusammenhang steht mit der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben, die bekanntlich Hofmannsthals gesamtes Frühwerk prägt, wofür das lyrische Drama Der Tor und der Tod (1893) eins der berühmtesten Beispiel darstellt.33 Hofmannsthal, wie auch Hermann Bahr, erkannte in Larchers Unfähigkeit, „obere“ und „untere“ Seele zu einer Einheit zu integrieren, das für ihn zentrale Problem der Ich-Spaltung.34 Entsprechend wird aus der komplexeren Behandlung des Motivs der Bluttrans-
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GW [Bd. 8:] Reden und Aufsätze I 1891–1913, S. 94; im Rahmen der SW wird der Aufsatz in Bd. XXXII erscheinen. Zum Zusammenhang zwischen Hofmannsthals Bourget-Rezeption und seiner Auseinandersetzung mit der Ästhetizismusproblematik vgl. Joëlle Stoupy: Maître de l’heure. Die Rezeption Paul Bourgets in der deutschsprachigen Literatur um 1890. Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Leopold von Andrian, Heinrich Mann, Thomas Mann und Friedrich Nietzsche. Frankfurt a. M. u.a.: Lang 1996 (Analysen und Dokumente 35) (künftig: Stoupy: Maître de l’heure), S. 123–125. Vgl. ebd., S. 127f. Das Thema der Persönlichkeitsspaltung spielt durchaus auch bei Arnim, in dessen Gesamtwerk die Notwendigkeit der Überwindung des dualistischen „Risses“ in der Welt wie im einzelnen Menschen oft thematisiert wird, eine Rolle: Berthold und Anton sind sowohl durch die Bluttransfusion (vgl. Arnim: Werke Bd. 2, S. 117: „[…] [Berthold] fühlte ein lebendiges Wohlwollen gegen [Anton], als gehörte er zu ihm, […] ja er meinte einige Ähnlichkeit im Knaben mit seinem Bilde, das daneben stand, wahrzunehmen […]“) als auch durch ihre gemeinsame Abstammung von den Staufern auf geheimnisvolle Weise aneinandergekettet und exemplifizieren zugleich die fatale Entzweiung der Angehörigen dieses Geschlechts, die die Pläne der Kronenwächter immer wieder zunichte macht (vgl. ebd., S. 271 und S. 303).
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fusion bei Arnim, wo Anton zwar ein „derber, lebenslustiger Bengel“,35 aber auch eine Künstlerfigur ist, ein reiner Geist-Körper-Dualismus, bei dem der Empfänger der Übertragung mit den „Tierinstinkten“ des Leibes, auf die er doch nicht verzichten kann, zu kämpfen hat und ihnen schließlich erliegt.36 Bezeichnenderweise ist keine Rede davon, daß der „Königssohn“, wie Berthold, durch die Transfusion physisch verjüngt und aktiver würde oder sich dies auch nur wünschte; der Konflikt bleibt auf sein Inneres beschränkt. Anders als bei Arnim handelt es sich hier zudem nur um eine einseitige Übertragung, nicht um einen Blutaustausch, und die Wirkung auf den anderen Beteiligten, in den Kronenwächtern Anton, hier der „Knecht“, spielt dementsprechend keine Rolle. Den Schwerpunkt der „Allegorie“ bildet, wie bei Hofmannsthal nicht anders zu erwarten, der „grauenhafte“ Tod des Protagonisten, der, wiederum im Unterschied zur Vorlage, mit Motiven einer als ‚tierisch‘ konnotierten Sexualität verbunden ist. Hofmannsthals Bezug der Kronenwächter-Episode auf das Dilettantismusproblem mag dadurch mit angeregt sein, daß, wie er an anderer Stelle der Rezension andeutet, auch die modernen Dilettanten regressive Züge erkennen lassen, wie sie bei Arnim die Blutübertragung als Versuch, die Zeit zurückzudrehen,37 mit Bertholds angelesener Sehnsucht nach der untergegangenen Ritterzeit38 und den entsprechenden anachronistischen Bestrebungen der Geheimgesellschaft verbinden. Nach Hofmannsthals Interpretation zeigt nämlich, wenn nicht Claude Larcher, so doch sein Schöpfer Paul Bourget eine geheime „Sehnsucht nach Einheit und Naivität“,39 die, wie Hofmannsthal, bezeichnenderweise wieder unter Verwendung der Blutmetapher, im Kontext einer an Nietzsche anknüpfenden Kritik des Historismus nahelegt, mit den Tendenzen dieser Bewegung vergleichbar ist: „[…] hinauszuflüchten aus der verknöcherten Schablonenleidenschaft der Gegenwart, Menschen, versunkene Geschlechter,
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Arnim: Werke Bd. 2, S. 118. Vgl. die Beobachtungen von Ulfert Ricklefs über Bezüge des Motivs bei Arnim zu zeitgenössischen medizinischen Theorien (Brownianismus), die sich mit Vorstellungen des Fin de siècle (Ricklefs nennt das Frühwerk Thomas Manns) über das Verhältnis von Geist und Vitalität vergleichen lassen: Ulfert Ricklefs: „… diese Zeit in aller Wahrheit der Geschichte aus Quellen“. Die „Kronenwächter“ als geschichtskritischer Roman: Historische Erinnerung, Deutung von Geschichtlichkeit, Zukunftsrelationen. In: Wolfgang Bunzel und Hans Schultheiss (Hrsg.): Dichtung und Geschichte in Achim von Arnims Roman „Die Kronenwächter“. Waiblingen, Remshalden: BAG-Verlag 2007, S. 53–81 (künftig: Ricklefs: Die „Kronenwächter“ als geschichtskritischer Roman), hier S. 63f. „[…] auch kam es mir [nach der Transfusion] vor, als gingen die Uhren rückwärts, so wendeten sich auch die Jahreszeiten in umgekehrter Ordnung um mich her […]“ (Arnim: Werke Bd. 2, S. 119). „[…] meine Welt war die Vorzeit, denn was die Gegenwart brachte, konnte mich nur erschrecken, da ich sie in keiner Art zu bestreiten wußte“ (Arnim: Werke Bd. 2, S. 126). Wie Ulfert Ricklefs beobachtet, ist Berthold damit „Exponent seiner Epoche“ (Ricklefs: Die „Kronenwächter“ als geschichtskritischer Roman, S. 65) wie nach Hofmannsthals Ansicht Claude Larcher bzw. sein Erfinder Bourget in gewisser Weise Exponent der seinen. So Stoupy: Maître de l’heure, S. 127 mit Bezug auf GW Bd. 8, S. 96.
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lieben und fluchen zu hören, rauschendes, lebendes Blut zu fühlen: à sentir sentir.“40 Auch in Hofmannsthals Eintragungen in sein Kronenwächter-Exemplar wird auf das Motiv der Blutübertragung angespielt: Es wird betont, daß in Bertholds ‚heroischen‘ Aktionen „sein Blut aus ihm heraus“ zu handeln scheint, und eine der zusätzlichen Notizen verweist, wie bereits zitiert, auf Antons im Gegenzug „gemässigtes Blut durchaus“.41 Bei diesem deutlichen Interesse Hofmannsthals an dem Motiv ist es nicht verwunderlich, daß es noch in eins der späten Projekte des Dichters einfloß: in die zwischen 1920 und 1925 entstandenen Notizen zu einer Adaption von Jakob Bidermanns Barockschauspiel Cenodoxus (1602) unter dem Titel Xenodoxus, die freilich nie ausgeführt wurde.42 Übrigens verwendete Hofmannsthal auch Motive aus einer anderen bedeutenden Dichtung der Romantik, Brentanos Romanzen vom Rosenkranz, in den Aufzeichnungen zu diesem Plan.43 Das Stück sollte als Volksschauspiel an den Erfolg des Jedermann anknüpfen, weist als Geschichte eines Teufelsbündners aber auch Bezüge zum Fauststoff auf. Nach der Zusammenfassung der Handlung durch die Herausgeberin der Notizen in den SW, Ellen Ritter, sollte hier ein reicher Ratsherr den berühmten Arzt Xenodoxus „zu sich kommen lassen, um sich durch eine Bluttransfusion – sein Blut soll gegen das einer Jungfrau ausgetauscht werden – zu verjüngen. Als Blutspenderin wird, durch Einwirken des Teufels, Justina ausersehen, die, auf der Suche nach ihrem Verführer [Xenodoxus], von dem sie schwanger ist, in derselben Stadt die Dienste einer Magd versieht und von ihrer geldgierigen Herrin zum Blutabzapfen verschachert wird.“44 Diese Transfusion sollte aber wohl nicht zustandekommen; Justina wird stattdessen vergiftet. Sofern es sich aus den Aufzeichnungen erkennen läßt, war die Blutübertragung hier also letztlich ein blindes Motiv. Demgemäß lassen sich nur
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GW Bd. 8, S. 97. Vgl. Fausts Worte zu Anton in der 8. Geschichte des 3. Buchs: „[…] du bist mir dein gemäßigtes, ruhiges Blut schuldig“ (Arnim: Werke Bd. 2, S. 310). Auch Johannes Scherr hebt in seiner Einleitung zu den Kronenwächtern übrigens die „faustischen Szenen“ lobend hervor, allerdings weniger aus Interesse an dem Motiv der Transfusion, sondern mit der Begründung, daß diese Passagen durch die ungewöhnliche „derbrealistische Faustgestalt“ „vielleicht die gesundesten im ganzen Roman“ seien (Scherr, S. 14). Auf den Bezug zu den Kronenwächtern, der im entsprechenden Band der SW (XIX) noch nicht vermerkt ist, weist der Kommentar des Katalogs der Hofmannsthal-Bibliothek hin. Vgl. SW Bd. XIX, S. 357f. Auf Beziehungen zwischen den Werken Hofmannsthals und Brentanos hat es häufiger Hinweise gegeben als auf Bezüge Hofmannsthals zu Arnim; vgl. Heinz Rölleke: Hugo von Hofmannsthal und ‚Des Knaben Wunderhorn‘. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1976, S. 439–453, besonders S. 453; Marlies Janz: Marmorbilder. Weiblichkeit und Tod bei Clemens Brentano und Hugo von Hofmannsthal. Königstein/Ts.: Athenäum 1986, besonders S. 121–126, wo die Verfasserin sich mit einer Äußerung Hofmannsthals zu Brentano in den Aufzeichnungen Ad me ipsum auseinandersetzt. SW Bd. XIX, S. 353f. Der Einfachheit halber werden in den folgenden beiden Absätzen, die sich mit dem Xenodoxus befassen, bei Zitaten aus diesem Werk nur die entsprechende Notiznummer und Seitenzahl in diesem Band der SW im Text angegeben.
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Spekulationen darüber anstellen, welche Bedeutung es im ausgeführten Werk gehabt hätte, abgesehen davon, daß hier wohl keine Beziehung zur Dilettantismus-Problematik mehr besteht.45 Deutlich ist jedenfalls, daß im Xenodoxus, anders als in der Bourget-Rezension, der Aspekt der Verjüngung des ‚Patienten‘ durch die Transfusion im Mittelpunkt gestanden hätte. Betont wird dies etwa in der Notiz N 91, wo Xenodoxus’ Diener Caspar den Ratsherrn „begierig auf Bluttransfusion [macht] indem er ihn vom Balcon ausschauen lässt nach jungen kräftigen Leuten, mit denen er den Leib tauschen möchte“ (S. 98f.). Obwohl der Alte im Unterschied zu Arnims eher bemitleidenswertem Berthold eine deutlich negative Figur und geradezu Verkörperung der Hoffart ist („herrschsüchtig u. hoffärtig über die Massen“, N 93; S. 99), ist die soziale Stellung des reichen Ratsherrn mit der des wohlhabenden Bürgermeisters Berthold offensichtlich vergleichbar46 und hat die Adaption vielleicht mit angeregt, ebenso natürlich der Umstand, daß bei Arnim (der hier freilich sehr eigenwillig gestaltete) Doktor Faust die Übertragung vornimmt. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß in den Xenodoxus offenbar auch das bereits im Jedermann bedeutsame Thema der Kapitalismuskritik hineinspielen sollte, wozu auch die in N 88 (S. 98) erwähnte „absolute Goldanbetung“ des alten Ratsherrn zu vergleichen ist. Dementsprechend sollte Justinas alte Dienstherrin das Mädchen quasi an Xenodoxus verkaufen und „ihr Recht übers Blut ihres Dienstboten, als Ersatz für entgangene Arbeit“ beanspruchen (N 69, S. 90). Wie der Kommentar der SW bemerkt, war hier möglicherweise das 3. Kapitel des 4. Buchs von Klingers Faustroman von 1791 von Einfluß, wo, weit drastischer als bei Arnim, demonstriert wird, „daß das Gold eine […] unwiderstehliche Macht über das Herz des Menschen hat“, indem Eltern einem „kränkelnden König“ ihre Säuglinge verkaufen, der sich durch Genuß ihres Blutes verjüngen will.47 Mit der Ersetzung eines Mannes als Quelle der Blutauffrischung durch eine Jungfrau, die zudem von Xenodoxus verführt worden war und mit seinem Kind schwanger ist, bekommt das Motiv bei Hofmannsthal deutlich sexuelle Konnotationen; der „alte Bock“ hofft als Folge der Behandlung nicht zuletzt auf
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Auch Walter Benjamins Untersuchung Ursprung des deutschen Trauerspiels, die erst 1925 in der Schlußphase der Arbeiten am Xenodoxus einflußreich für die Neukonzeption des Protagonisten als gelehrtem Melancholiker wurde, hatte für das Motiv der Bluttransfusion offenbar keine Bedeutung mehr. Vgl. Lorenz Jäger: Hofmannsthal und der ‚Ursprung des deutschen Trauerspiels‘. In: Hofmannsthal-Blätter 31/32 (1985), S. 83–107. Schon in der Bourget-Rezension wurde der soziale Unterschied zwischen den Beteiligten an der Transfusion durch die Gegenüberstellung von „Königssohn“ und „Knecht“ besonders betont, was dort auf den Dualismus von „oberer“ und „unterer“ Seele, vielleicht auch auf die ‚aristokratische‘ Arroganz der Dilettanten gegenüber dem einfachen ‚Leben‘ und seinen Repräsentanten verweist. Klingers Werke in zwei Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von Hans Jürgen Geerdts. 4. Aufl. Berlin, Weimar: Aufbau Verlag 1981 (Bibliothek deutscher Klassiker). Bd. 2, S. 142. – In den Kronenwächtern wäre hier die nach der Interpretation von Ulfert Ricklefs den gesamten Roman prägende „Parallelität von Geld (Schatz, Gold) und Blut“ zu vergleichen (Ricklefs: Kunstthematik, S. 173); siehe besonders Arnim: Werke Bd. 2, S. 114, wo Berthold zunächst vor dem Gedanken zurückschreckt „einem andern sein gesundes, junges Blut für Geld abkaufen“ zu sollen.
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Wiederkehr seiner „Potenz“ (N 93; S. 98) – ein Aspekt, der bei Arnims Berthold, der nach seiner Verjüngung die Tochter seiner Jugendliebe Apollonia freit, natürlich auch eine nicht unwesentliche, wenngleich subtilere Rolle spielt.48 Da Justina offenbar ein Sinnbild der Reinheit wie ihr Vorbild in Calderóns Der wundertätige Magus (vgl. S. 358) und als Erlöserin des Helden Gegenspielerin des Teufels sein sollte, hätte die Transfusion bei Hofmannsthal jedoch zugleich eine geradezu religiöse Dimension gewonnen; vgl. die Notiz N 73 (S. 92): Demnach will der Teufel auf diese Weise Justinas „Kraft […] schwächen – ferner Bluthandel macht ihn unter allen Umständen gewinnen. (Das heiligmäßige Blut der Jungfrau einem alten Bock zuführen.)“. Hier ist die Arnimsche Vorlage offenbar nicht mehr prägend; der Kommentar der SW verweist vielmehr auf Parallelen zu Hartmanns von Aue Armem Heinrich, dessen Erlösungsmotivik dann freilich ‚satanisch‘ pervertiert worden wäre. Hofmannsthals Interesse an dem Arnimschen Motiv der Bluttransfusion umspannt also fast die gesamte Dauer seines literarischen Schaffens – es bleibt jedoch die noch ungeklärte und bedeutsame Frage, wann es ihm zuerst bekannt geworden ist. Wenn Hofmannsthal die Kronenwächter erst 1912 gelesen hat, konnte er deren Handlung schwerlich bereits in der Rezension von 1891 adaptieren. Zweifellos hat Hofmannsthal sich 1912 noch einmal eingehend mit dem Roman beschäftigt; in das ab diesem Jahr entstandene Märchen Die Frau ohne Schatten sind beispielsweise Motive aus der 6. Geschichte des 1. Buchs („Die hohe Fremde und ihr Ritter“) der Kronenwächter eingegangen, aus dem der Dichter sich ja auch, wie oben schon angeführt, am 3. Oktober 1912 ein Zitat notiert hatte.49 Andererseits läßt bereits der Umstand, daß Hofmannsthal nicht
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Vgl. auch Bertholds Erinnerung an seinen Traum nach der Transfusion, der an die Empfindungen von Goethes Faust nach seiner Verjüngung in der Hexenküche, möglicherweise einer der Referenztexte für diese Episode bei Arnim, gemahnt: „[…] ich sah schöne Frauen mit Anteil […]“ (Arnim: Werke Bd. 2, S. 119). Vgl. die „Korrekturen und Ergänzungen“ zu den bisherigen Bänden der SW auf der Website „HvH online“. Es handelt sich um das zentrale 4. Kapitel des Märchens, wo der Kaiser zu einem numinosen Ort kommt, nämlich der Höhle, wo er seine ungeborenen Kinder trifft und versteinert wird, wie Bertholds Vater in der 6. Geschichte des 1. Buchs der Kronenwächter, laut der Erzählung seiner Witwe, zur Kronenburg gelangt. Angesichts der Bedeutung der Jagdleidenschaft des Kaisers in Hofmannsthals Märchen darf man vielleicht auch an Arnims Maximilian denken und an die 5. Geschichte des 2. Buchs („Die Rose“), wo dieser sich auf der „Gemsenjagd“ verirrt und selbst der Kronenburg nahekommt (Arnim: Werke Bd. 2, S. 167). Zu erinnern ist auch an den Beginn des „Hausmärchens“ (2. Buch, 8. Geschichte), wo die „Jagdlust“ des Königs ein zentrales Motiv darstellt und diesen „über die Grenzen des Lebens“ hinaus in den Bereich des Wunderbaren führt (ebd., S. 218). Vgl. auch den deutlichen Anklang des Beginns des 4. Kapitels bei Hofmannsthal („Am Abend des dritten Tages zog sich die Jagd oben am Hange eines tiefen Tales hin“; SW Bd. XXVIII, S. 139) an den Anfang des „Ersten Bildes“ des Hausmärchens: „Es war nun der dritte Tag, daß der König dem wunderbaren […] Vogel über Höhen und Tiefen bis zum Anfang des dichten Schwarzwaldes nachschlich“ (Arnim: Werke Bd. 2, S. 204). Auffällig ist im übrigen, daß auch die Arnim-Adaption in der Bourget-Rezension Merkmale eines Märchens hat, so die Namenlosigkeit der Figuren und die Ersetzung des bürgerlichen Helden Berthold durch einen „Königssohn“ (bei dem man andererseits vielleicht auch schon an den gleichfalls anonymen „Kaufmannssohn“ des Märchens der 672. Nacht von
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nur die ein Jahr zuvor erschienene Steig-Ausgabe, sondern auch die Edition von 1881 besaß, die ihm als Handexemplar diente, die Vermutung zu, daß die Lektüre von 1912 nicht eine erstmalige, sondern eine erneute (und wohl intensivere) war. Reinhold Steigs Arnim-Auswahl spielte dabei allerdings sicher eine anregende Rolle; Hofmannsthal rezipierte diese Edition, genauer gesagt die ersten beiden Bände mit den Novellen und Romanen, offenbar schon bald nach deren Erscheinen. Einige Belege dafür seien im folgenden kurz referiert, da sie auch ein Licht auf Hofmannsthals kontinuierliches Interesse an Arnims Werk im allgemeinen werfen: Das früheste eingetragene Lesedatum in der Steig-Ausgabe aus der Handbibliothek ist laut dem Katalog der 12. Februar 1912 (bei der Novelle Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber). Dies stand vielleicht auch im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, einen Text für die 1912 im Insel-Verlag erschienene vierbändige Anthologie Deutsche Erzähler auszuwählen. (Hofmannsthal wollte zunächst Arnims Novelle Fürst Ganzgott und Sänger Halbgott aufnehmen,50 die schon in der ersten bekannten Notiz über den Plan zu der Sammlung vom Oktober 1910 erwähnt wird,51 entschied sich dann aber in einem Brief an Anton Kippenberg vom 8. März 1912 „nach abermaliger Überlegung“ für den Tollen Invaliden auf dem Fort Ratonneau, der in den 2. Band einging.52) Am 23. September 1912 empfahl Hofmannsthal seiner Freundin Helene von Nostitz in einem Brief die Kronenwächter neben Isabella von Ägypten in der Steig-Edition: „Es gibt eine Ausgabe, neu, im Inselverlag.“53 Im Herbst 1917 scheint Hofmannsthal sich vor allem mit Arnims Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores (1810) befaßt zu haben:54 Laut einem eingetragenen Lesedatum las er im Oktober 1917 die um die
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1895 denken darf, den bekanntlich ein vergleichbarer häßlicher Tod ereilt). Auch der Xenodoxus als Volksstück hätte, wie der Jedermann, Märchenzüge gehabt. Interessanterweise hebt auch Johannes Scherr in seiner, wie oben dargestellt, ansonsten für Hofmannsthal wohl kaum inspirierenden Einleitung zu den Kronenwächtern diese Novelle als die gelungenste aus Arnims Werk hervor, da Arnim sich hier am entschiedensten „zur reinen Formschönheit“ erhoben habe (Scherr, S. 8). Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901–1929. Hrsg. von Gerhard Schuster. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 1985 (künftig: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag), Sp. 385, Anm. 315; vgl. auch ebd., Sp. 383f. die Liste der vorgeschlagenen Erzählungen vom 27. Februar 1911. Eine Notiz zur Einleitung des Bandes vom 7. Oktober 1910 (H VB 16.43), die in SW Bd. XXXVIII erscheinen wird, enthält auch Reflexionen über Arnims Novelle. Hofmannsthal könnte hier, neben dem bereits im Titel angedeuteten Thema des Verhältnisses von Kunst und Leben (der Fürst und der Sänger sind Doppelgänger, die zeitweise die Rollen tauschen), vielleicht auch die folgende geschichtsphilosophische Reflexion angesprochen haben, die mit der Problematik der Kronenwächter vergleichbar ist: „[…] die Geschichte ist keine Rechenmaschine, und was vorbei ist, läßt sich nicht mehr monieren, noch weniger ausradieren“ (Arnim: Werke Bd. 4: Sämtliche Erzählungen 1818–1830, S. 77). Briefwechsel mit dem Insel-Verlag, Sp. 444. Hugo von Hofmannsthal/Helene von Nostitz: Briefwechsel. Hrsg. von Oswalt von Nostitz. Frankfurt a. M.: Fischer 1965, S. 119. Bereits am 3. Februar 1912 hatte Hofmannsthal „eine Originalausgabe der Gräfin Dolores von Arnim“ an Anton Kippenberg mit der Bitte geschickt, sie für ihn einbinden zu lassen
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eingelegten Novellen und einige der Gedichte verkürzte Fassung des Romans im 2. Band der Steig-Ausgabe und machte sich auf dem letzten Blatt des Bandes Notizen über die Figur der Romana in dem Fragment gebliebenen AndreasRoman.55 In dieser Zeit empfahl Hofmannsthal den Roman „wegen der eingestreuten Gedichte“ offenbar auch Richard Strauss, der allerdings, wie aus seinem Brief vom 25. Dezember hervorgeht, Arnim mit Brentano verwechselte und statt auf die Dolores auf den Godwi stieß. Hofmannsthal korrigierte den Irrtum in seiner Antwort vom „Silvestertag“ und wies auf die „gute gekürzte Ausgabe im ‚Insel‘-Arnim“ hin.56 Daß Hofmannsthal am 30. September 1917 in einem Brief an Rudolf Pannwitz sein Romanprojekt in die Tradition von „Arnim, Eichendorff, W. Meister“ stellte,57 kann sich ebenso wie auf die Kronenwächter auch auf die Gräfin Dolores oder auf beide Romane beziehen. Tatsächlich hat man gelegentlich Parallelen zwischen den Romanfragmenten Die Kronenwächter und Andreas gezogen, so schon Werner Vordtriede, der beide unter anderem durch „die dauernde Verzahnung nicht auszuschöpfender Bezüge“ geprägt sah.58 Dies führt zurück zu der Ausgangsfrage nach Hofmannsthals erster Lektüre dieses Arnimschen Romans. Zweifellos war er schon sehr früh Arnim-Leser, wie der im selben Jahr wie die Bourget-Rezension, am 9. September 1891, entstandene Brief an Arthur Schnitzler über dessen Novelle Reichtum zeigt, deren Beginn Hofmannsthal „etwas phantastisches, arnimeskes“ zu versprechen schien.59 Tatsächlich kann man bei der Bestimmung eines terminus ante quem für Hofmannsthals Kenntnis speziell der Kronenwächter zumindest bis zum 12. Juli 1907 zurückgehen, wo er seinem Freund Eberhard von Bodenhausen den Roman mit den Worten empfahl, denen der Titel des vorliegenden Aufsatzes entnommen ist: „Lies doch die ‚Wahlverwandtschaften‘ wieder! Oder die ‚Kronenwächter‘, ein so schönes Buch.“60 Bereits Werner Vordtriede hat jedoch auf ein noch früheres Rezeptionszeugnis hingewiesen, nämlich ein lyrisches „Bruchstück“, das laut Vordtriede aus dem Jahr 1893 stammt, das sich aber tatsächlich unter Aufzeichnungen Hofmannsthals vom Juli 1894 über das verfallene Wien findet:
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(Briefwechsel mit dem Insel-Verlag, Sp. 441); dieses Exemplar ist jedoch in der Bibliothek nicht erhalten. Vgl. SW Bd. XXX, S. 154 (N 201). Richard Strauss/Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel. Gesamtausgabe. Hrsg. von Franz und Alice Strauss. Bearbeitet von Willi Schuh. Zürich: Atlantis Verlag 1952, S. 389f. Hugo von Hofmannsthal/Rudolf Pannwitz: Briefwechsel 1907–1926. In Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv hrsg. von Gerhard Schuster. Frankfurt a. M.: Fischer 1993, S. 116. Vordtriede: „Kronenwächter“, S. 143; vgl. auch Härtl: Nachwort, S. 597. Hugo von Hofmannsthal/Arthur Schnitzler: Briefwechsel. Hrsg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M.: Fischer 1964, S. 13. Hugo von Hofmannsthal/Eberhard von Bodenhausen: Briefe der Freundschaft. Berlin: Diederichs 1953, S. 103. Die dort angegebene Jahreszahl 1908 wird in der Hugo-vonHofmannsthal-Briefchronik (hrsg. von Martin E. Schmid, Bd. 1, Heidelberg: Winter 2003, Sp. 1054) in 1907 korrigiert.
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Johannes Barth
so gehen wir umher in dieser Stadt, die Kronenwächter des versunknen Reichs. letzte Wissende, letzte Träger eines adeligen Bluts.61
Bereits hier also bezieht Hofmannsthal die Problematik der Geheimgesellschaft der Kronenwächter, wie in der Bourget-Rezension das Motiv der Bluttransfusion, auf sich selbst und seine Zeitgenossen. Würde tatsächlich eine „Allegorie des Mittelalters“ in der von Hofmannsthal 1891 beschriebenen Weise existieren, wäre das für die Arnim-Forschung von höchstem Interesse: Dann läge nämlich die Annahme nahe, daß es sich dabei um eine unbekannte Quelle für diesen Handlungsstrang in den Kronenwächter handelt.62 Nach den hier dargelegten Indizien wird man aber vielmehr umgekehrt davon ausgehen können, daß Hofmannsthal zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes die Kronenwächter bereits kannte und das zentrale Motiv der Blutübertragung produktiv ‚umdichtete‘. Wie in der vorliegenden kleinen Studie deutlich wurde, wird ein vollständiges Bild der Rezeption Arnims durch Hofmannsthal allerdings erst zu gewinnen sein, wenn dessen Aufzeichnungen vollständig in den letzten Bänden der SW ediert sein werden, denen man auch in dieser Hinsicht gespannt entgegensehen darf.
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Vordtriede: „Kronenwächter“, S. 143. Die Notiz (H VB 8.34) wird in SW Bd. XXXVIII erscheinen. Vorbilder für die Kronenwächter-Episode sind bislang nicht bekannt; abgesehen von der Vorstellung des Jungbrunnens (vgl. Ricklefs: Die „Kronenwächter“ als geschichtskritischer Roman, S. 64) bzw. konkreter der Altweibermühle, auf die Arnim selbst hinweist (Arnim: Werke Bd. 2, S. 114) und die auch an anderer Stelle in seinem Werk eine Rolle spielt (vgl. das Gedicht Die Mühle alte Leute jung zu machen; Arnim: Werke Bd. 5: Gedichte, S. 262– 268 und die Novelle Die Heiratsnot des Pfalzgrafen; Arnim: Werke Bd. 4, S. 792).
Yvonne Pietsch
Edierende Dichterin, dichtende Editorin Bettina von Arnim als Herausgeberin der „Sämmtlichen Werke“ Ludwig Achim von Arnims
Ludwig Achim von Arnims Werk, das zu seiner Zeit in zahlreichen Publikationen in Almanachen bzw. Zeitschriften und insgesamt elf Buchausgaben vorlag, erfuhr zu Lebzeiten keine Neuauflage. Acht Jahre nach seinem Tod begann auf Initiative Bettina von Arnims die Arbeit an einer Gesamtausgabe seiner Texte unter dem Titel Sämmtliche Werke. Als Herausgeber fungierte Wilhelm Grimm, der bei der Konzeption der Bände jedoch lediglich beratende Funktion übernahm1 und das 11-seitige Vorwort für den ersten Band schrieb.2 Tatsächlich wirkte Bettina von Arnim als spiritus rector der Sämmtlichen Werke: Sie edierte neben den autorisierten Romanen, Erzählungen, Novellen, Gedichten und Dramen bis dahin unveröffentlichte Texte, so etwa Arnims nachgelassene dramatische Arbeiten Die Capitulation von Oggersheim, Der echte und der falsche Waldemar, Der Stralauer Fischzug, Glinde, Bürgermeister von Stettin und Markgraf Carl Philipp von Brandenburg.3 Ebenfalls aus dem Nachlaß stammten außerdem Die Päpstin Johanna, der zweite Band der Kronenwächter, die kürzeren Prosatexte Die Ehenschmiede, Martin Martir, Der Pfalzgraf, ein
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Auf Wilhelm Grimms Anregung hin wurde beispielsweise der Titel der Ausgabe von Ludwig Achim von Arnims sämmtliche Werke in Ludwig Achims von Arnim sämmtliche Werke geändert, vgl. an Bettina, 29. März 1839; Hartwig Schultz (Hrsg.): Der Briefwechsel Bettina von Arnims mit den Brüdern Grimm. Frankfurt a. M.: Insel 1985, S. 79. Der Band enthielt die vier Novellen Isabella von Aegypten, Melück Maria Blainville, Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber sowie Angelika, die Genueserin und Cosmus, der Seilspringer. Der vollständige Titel lautete: Ludwig Achim’s von Arnim / sämmtliche Werke. / Herausgegeben / von / Wilhelm Grimm. / Erster Band. // Novellen / von Ludwig Achim von Arnim. / Herausgegeben von Wilhelm Grimm. / Erster Band. Nebst einem Musikblatte. Berlin: Veit & Comp. 1839. Wilhelm Grimms Vorwort enthält eine biographische, charakterliche und literarische Würdigung Arnims. Arnim war wohl der „fruchtbarste Dramatiker seiner Zeit“ (Gerhard Schulz: Romantisches Drama. Befragung eines Begriffes. In: Uwe Japp, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hrsg.): Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Niemeyer, S. 1–19, hier S. 2). In seinem Nachlaß befinden sich ca. 1500 Seiten handschriftliche Entwürfe dramatischer Texte, teils vollständig ausgearbeitete Szenen, teils grob skizzierte Handlungsentwürfe. Neben Vorarbeiten und Varianten zu bereits edierten Dramen handelt es sich bei etwa der Hälfte des handschriftlich überlieferten Materials um bislang unbekannte Stücke, Fragmente und Entwürfe. Eine vollständige Edition der dramatischen Arbeiten wird in der „Weimarer Arnim-Ausgabe“ in den Bänden 14–15 unternommen.
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Yvonne Pietsch
Goldwäscher sowie einer von ursprünglich zwei geplanten Gedichtbänden.4 Gerade bei den beiden zuerst genannten Texten hatte Bettina ein umfangreiches Handschriftenmaterial zu sichten, zu ordnen und in einen sinnvollen Handlungszusammenhang zu überführen. Fragen der Chronologie, der Vor- und Endfassungen sowie der Anordnung des überlieferten Materials stellten sie dabei oft vor Schwierigkeiten.5 Darüber hinaus mußte sie sich bei den zu Lebzeiten gedruckten Texten Achims um die Rechte für den Nachdruck kümmern.6 In ihren Briefen an die Brüder Grimm dankte sie den Adressaten gelegentlich für ihre Ratschläge,7 bei der Konzeption der Gedichtbände wurde sie von Varnhagen von Ense unterstützt. Bis ins Jahr 1856 wuchs die Ausgabe auf 22 Bände an8 und ermöglichte erstmals überhaupt einen Überblick über die Vielseitigkeit des dichterischen Schaffens Ludwig Achim von Arnims: Die Sämmtlichen Werke enthalten 12 Bände Prosa sowie jeweils fünf Bände Dramen und Gedichte. Bettinas Tätigkeit als Herausgeberin der Sämmtlichen Werke ihres Mannes wurde bislang kaum Beachtung zuteil9 bzw. ihre editorischen Fähigkeiten
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Vgl. Ulfert Ricklefs: Anmerkungen zum Projekt einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Ludwig Achim von Arnims. In: editio 1 (1987), S 209–223, hier S. 214 sowie Ulfert Ricklefs: Bettine und Arnim: Rezeption und Gespräch. Mit Bemerkungen zur Edition der „Sämmtlichen Werke“ durch Bettine von Arnim, in: „Der Geist muß die Freiheit genießen ...!“. Studien zu Werk und Bildungsprogramm Bettine von Arnims. Hrsg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. (Bettine von ArnimStudien Bd. 2). Berlin: FSP, Saint-Albin 1992, S. 76–105. Vgl. ebd., S. 76–105. Eine entsprechende Anfrage ging zum Beispiel an den Verleger Georg Andreas Reimer, der seit 1800 die Realschulbuchhandlung leitete, in der mehrere Bücher Achims erschienen waren. Nach anfänglichem Schweigen gab Reimer Bettina seine Einwilligung zum Nachdruck, wie sie in einem Brief vom 25. März 1839 an Wilhelm Grimm schrieb, vgl. Schultz (Hrsg.): Der Briefwechsel Bettina von Arnims mit den Brüdern Grimm, S. 342–343. Vgl. u. a. an Wilhelm Grimm, ¢Anfang Januar 1838²; ebd., S. 319: „Sie geben mir guten Rath wegen Arnims Nachlaß“. Die Sämmtlichen Werke erfuhren 1853 und 1857 zwei weitere Auflagen, wobei es sich um reine Titelauflagen handelte. Die erneute Auflage von 1857 weist eine andere Bandaufteilung auf: Bd. 1–5 enthält die Novellen, Bd. 6–9 die Dramen. 1976 wurden die Sämmtlichen Werke durch die (bereits von Bettina geplante) Edition eines weiteren, aus dem Nachlaß herausgegebenen Lyrik-Bandes vervollständigt, vgl. Gedichte. Zweiter Teil. (Nachlaß: Siebenter Band) In Zusammenarbeit mit dem Freien Deutschen Hochstift hrsg. von Herbert R. Liedke und Alfred Anger. Tübingen: Niemeyer 1976. Oftmals findet in biographischen Darstellungen Bettinas Herausgebertätigkeit keinerlei Erwähnung, vgl. etwa das Kapitel „Biographisches (1835–1840)“ in Konstanze von Bäumer, Hartwig Schultz: Bettina von Arnim. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995 (Sammlung Metzler Bd. 255), S. 68–76; in ähnlicher Weise Wolfgang Bunzel: „Die Welt umwälzen“. Bettine von Arnim geb. Brentano (1785 – 1859). Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift. Frankfurt a. M.: Frankfurter Goethe-Museum 2009. Heinz Rölleke geht auf die Qualität der in den Sämmtlichen Werken herausgegeben Wunderhorn-Bände ein, vgl. Heinz Rölleke (Hrsg.): Des Knaben Wunderhorn. Historisch-kritische Ausgabe. Lesarten und Erläuterungen zu Des Knaben Wunderhon I. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe (Frankfurter Brentano-Ausgabe) Bd. 9,1. Stuttgart: Kohlhammer 1975, S. 27–28, S. 32, S. 35–36.
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wurden angezweifelt oder wegen textlogischer Ungereimtheiten und Widersprüchen kritisiert.10 Lediglich Ulfert Ricklefs und Ulrike Landfester gehen ausführlicher und positiv-würdigend auf Bettinas Herausgebertätigkeit ein. Ricklefs stellt in seinem Aufsatz Bettine und Arnim: Rezeption und Gespräch. Mit Bemerkungen zur Edition der „Sämmtlichen Werke“ durch Bettine von Arnim detailliert die Editionsgeschichte der Sämmtlichen Werke dar.11 Bereits in seinen Anmerkungen zum Projekt einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Ludwig Achim von Arnims hatte Ricklefs gefordert, daß untersucht werden müsse, „wie systematisch bzw. zufällig solche [von Bettina vorgenommenen] Änderungen [gegenüber den autorisierten Vorlagen] sind und ob sie bei den verschiedenen Verlagen oder bei einzelnen Bänden bzw. Werken differieren, das heißt, ob sich darin ein bestimmter editorischer Wille geltend macht.“12 In seiner Analyse kommt er zu dem Schluß, daß Bettina eine „zwar eigenwillig, aber doch sehr verantwortliche und engagierte Herausgeberin“13 gewesen sei. Ulrike Landfester stellt die Sämmtlichen Werke in den Kontext von Bettinas schriftstellerischem Werdegang. Als fundamentalen Unterschied zwischen Bettinas Umgang mit dem Werk ihres Mannes und ihrem eigenen literarischen Werk benennt Landfester, daß sich Bettina „auf auffallend wenige Eingriffe“ bei der Herausgabe der Sämmtlichen Werke beschränkte, während sie bei ihren anderen Publikationen mit fremden Texten „keineswegs zimperlich“ umgegangen sei.14 In welchem Umfang diese Eingriffe in den Sämmtlichen Werken feststellbar sind, wird von Landfester nicht nachgewiesen. Demnach ist eine Klärung en detail, wie präzise Bettina bei der Veröffentlichung sowohl nachgelassener als auch autorisierter Texte vorging und welche bzw. in welchem Umfang sie Veränderungen vornahm, bislang noch Forschungsdesiderat geblieben. Eine Antwort kann nur über den kontrastiven Vergleich, das heißt über die intensive Kollationierung von autorisiertem Erstdruck bzw. Handschrift und posthum herausgegebenem Text, erfolgen.15 Daran anschließende Fragestellungen lassen sich durch die Detailauswertung differenzierter beantworten: Inwieweit tritt Bettina von Arnim im Rahmen ihrer Herausgeberschaft der Sämmtlichen Werke als ‚edierende Dichterin‘, als eigenschöpferische Herausgeberin auf? Kann also eine kreative Mitwirkung an Arnims nachgelassenen Werken konstatiert werden und damit der für die Autorin von Goethes Briefwechsel mit einem Kinde so charakteristische Drang nach Selbststilisierung
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Ricklefs: Anmerkungen zum Projekt einer historisch-kritischen Gesamtausgabe, S. 213. Vgl. Ricklefs: Bettine und Arnim: Rezeption und Gespräch, S. 76–105. Ebd., S. 213. Ebd. Ulrike Landfester: Die Kronenwächterin: Ludwig Achim von Arnim und Bettine von Arnims politisches Werk. In: Arnim und die Berliner Romantik: Kunst, Literatur und Politik. Berliner Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hrsg. von Walter Pape. Tübingen: Niemeyer 2001 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft 3), S. 53–70, hier S. 62. Dies ist insofern bedeutsam, als in der Sekundärliteratur häufig aus den Sämmtlichen Werken zitiert wird, ohne sich kritisch mit der Textüberlieferung auseinanderzusetzen.
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als Muse und Co-Autorin des Dichters?16 Ist die retrospektive Auseinandersetzung mit Arnims Werk durch die Veröffentlichung zugleich ein Akt des Sich-Lösens und der Selbstfindung als emanzipiertes, schreibendes Ich? Oder tritt Bettina als ‚dichtende Editorin‘ bei der Herausgabe der Sämmtlichen Werke eher in den Hintergrund und beabsichtigt lediglich eine nachträgliche Würdigung ihres Mannes als Literat? Diesen Fragen soll neben einem Überblick über die Editionsgeschichte der Sämmtlichen Werke im folgenden nachgegangen werden. Als Beispiel für Bettinas Edition eines nachgelassenen Textes wird Die Päpstin Johanna herangezogen, zur Untersuchung der Genauigkeit des editorischen Verfahrens bei einem autorisierten Text dient die von Arnim 1813 herausgegebene Schaubühne.
Zur Editionsgeschichte der Sämmtlichen Werke Bereits am 1. Februar 1831, zehn Tage nach Achims Tod, bestimmte Bettina in einem Schreiben an die Brüder Grimm einen Nachlaßverwalter der literarischen Hinterlassenschaft ihres Mannes. Ihre Wahl fiel schon zu diesem Zeitpunkt auf Wilhelm Grimm, mit dem Arnim einen intensiveren und freundschaftlicheren Austausch gepflegt hatte als mit dessen Bruder: wenn der Zufall guten Willen hat so bringt er uns bald zusammen. und dann werden Wir den Arnim gewiß in unserer Mitte haben dem Wilhelm ist zugedacht daß er seinen Nachlaß ordne er soll sich daher darauf freuen wenn es wird für ihn gewiß der reichhaltigste Lohn draus erwachsen ich sage euch tausendfältiges neue und was Ihr nicht in ihm geahndet das werdet ihr entdecken, Arnim war so bescheiden ja so keusch mit seinen Poesien daß es Pflicht ist diese Bücher die er so sehr gehütet daß er selbst nicht litt wenn man sie von aussen berühren ¢wo²llte nur dem reinsten kindlichen Herzen anzuvertrauen […].17
Das von Bettina hier entworfene Dichterbild ist leicht als Projektion zu dechiffrieren, denn Arnim hatte mit seinen Dichtungen, abgesehen von einigen Prosatexten, wenig öffentlichen Beifall erringen können. Die positive Rezeption seiner Texte beschränkte sich meist auf den Arnimschen Freundeskreis. Die mangelnde Beachtung, die seinem Werk zuteil wurde, war einer der Gründe, warum sich Arnim ab 1815 immer mehr vom literarischen Leben verabschiedete und sich auf sein Gut in Wiepersdorf zurückzog. Die poetische Verklärung Arnims in den Briefen kurz nach seinem plötzlichen Tod am 21. Januar 1831 und auch in späterer Zeit täuscht darüber hinaus auch über das tatsächliche
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Vgl. zu Bettinas unterschiedlichen Selbststilisierungen in Bezug auf Goethe unter anderem Markus Wallenborn: Frauen. Dichten. Goethe. Die produktive Goethe-Rezeption bei Charlotte von Stein, Marianne von Willemer und Bettine von Arnim. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 247–313. An Jacob und Wilhelm Grimm, ¢1. Februar 1831²; Heinz Härtl, Ulrike Landfester und Sibylle von Steinsdorff (Hrsg.): Bettine von Arnim, Briefe. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2004, S. 283.
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Verhältnis der Eheleute hinweg. Die Briefe in den Jahren kurz vor Achims Tod zeigen eine sich von ihrem Mann distanzierende Bettina und einen zunehmend wortkargen Achim, der – räumlich getrennt von Frau und Kindern – seinen Verpflichtungen auf seinem Gut nachging.18 Gleichwohl hatte Bettina schon vor dem Tod ihres Mannes „die schöpferische Umschrift des schreibenden Gutsherrn zum idealen Dichter“19 betrieben und Achim immer wieder dazu ermutigen wollen, erneut als Literat an die Berliner Öffentlichkeit heranzutreten. Bei der Ordnung seines literarischen Nachlasses und der Herausgabe der Sämmtlichen Werke ging es Bettina also letztendlich um die Rehabilitierung ihres Mannes als Dichter, so wie sie ihn sehen wollte.20 Die Vehemenz, mit der sie an Achims Berufung als Schriftsteller glaubte, geht unter anderem aus einem Brief vom 22. Mai 1821 an Achim hervor, in dem sie ihn entschieden zum Handeln aufrief, hier in Bezug auf seine dramatischen Werke: Ja ich wünsche mir nichts mehr, nächst dem was zum Glück Deines Lebens gehört, als ein Stück von Dir auf dem Theater zu sehen, damit erstens Deine Ansicht von Dir in diesem Bezug deutlich werde, u. Du über das Auspfeifen hinaus sein mögest, zweitens so wie jeder, der sich als Mann fühlt, seine Kräfte benützt, um noch einmal geistig in andern aufzuleben u. für andere zu leben, so wie er für sich physisch lebt, daß auch der, der vom Apoll die schönste goldene Leier bekommen, dieselbe für andere u. in die empfänglichen Herzen hineinspiele; das Plectrum ist ein heiliger Zepter, der durch Töne seine Befehle giebt u. den Gehorsam u. Liebe erzwingt; wer gekrönt ist, dem ist es Pflicht zu herrschen. Daß Du die Leier empfangen, ist ein Zeichen, daß Du durch sie herrschen sollst. Es ist kein Traum, es ist keine Chimäre, das Haus, wo tausende mehr hinwallen werden u. mit gespannterem Geist aufmerken werden wie in die Kirche zur Predigt, ist in der edelsten Pracht erbaut, es fordert durch seine Verherrlichung schon zum tieferen, edleren Genuß auf; u. Du, dessen Begeisterung sich unwillkürlich zur Darstellung gewendet, regst Dich nicht.21
Indem Bettina nach Achims Tod die Aufgabe der Nachlaßverwaltung zunächst an Wilhelm Grimm delegierte, verblieb sie in der konventionell weiblich konnotierten, rezipierenden Rolle, die sie für sich auch zu Arnims Lebzeiten für adäquat hielt. Eine eigene literarische Tätigkeit zu dieser Zeit etwa stand für Bettina außer Frage. Bereits wenige Jahre nach Achims Tod hatten sich ihr Selbstbild und ihr Auftreten in der Berliner Gesellschaft jedoch insofern gewandelt, als Bettina in
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Vgl. dazu unter anderem Bäumer/Schultz: Bettina von Arnim, S. 58–60. Landfester: Die Kronenwächterin, S. 61. Tatsächlich setzte mit der Veröffentlichung der Sämmtlichen Werke eine zweite Rezeptionswelle ein, die nunmehr das bis dahin veröffentlichte Werk Arnims würdigte. Als Beispiele seien hier nur in Bezug auf die Dramenbände Josef von Eichendorff und seine ausführliche Besprechung der Arnimschen Stücke in Zur Geschichte des Dramas (1854) genannt sowie Friedrich Hebbels Lektüre der Schaubühne, die durch Tagebuchnotizen dokumentiert ist, vgl. Friedrich Hebbel: Werke. 4. Bd., hrsg. von Gerhard Fricke, Werner Keller, Karl Pörnbacher. München: Hanser 1966, S. 472–473. An Ludwig Achim von Arnim, 22. Mai 1821; Werner Vordtriede (Hrsg.): Achim und Bettina in ihren Briefen. Briefwechsel Achim von Arnim und Bettina Brentano. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1961, S. 276.
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ihrem „dritte[n] Leben“22 nun damit begonnen hatte, „in die Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit“23 zu wirken. Der endgültige Schritt zur politischen Schriftstellerin und Publizistin vollzog sich im Zuge der Veröffentlichung der Sämmtlichen Werke und ihres damit einhergehenden, beharrlichen Engagements für die Brüder Grimm. 1835 war Bettina erstmals als Autorin in Erscheinung getreten und hatte mit Goethes Briefwechsel mit einem Kinde ein ebenso erfolgreiches wie provokantes Buch vorgelegt, das den Anfang der literarischen Goethe-Verehrung markierte.24 Vier weitere Bücher sollten folgen. Dennoch ist ihr Auftreten als Autorin nicht als subversiv emanzipatorischer Befreiungsschlag zu bewerteten, wie dies vielfach durch die feministische Vereinnahmung25 Bettinas in der Sekundärliteratur geschehen ist. Bettina inszenierte sich in diesem wie auch in den später folgenden Erinnerungsbüchern stets als Kompilatorin authentischer Quellen und stellte sich dadurch (mit Ausnahme der Günderode) unter das Protektorat männlicher Namen.26 Auch im Falle der Sämmtlichen Werke holte sie sich Rückendeckung, indem sie zwar die Ausgabe nahezu eigenständig besorgte, Wilhelm Grimm aber als Herausgeber in Erscheinung treten ließ und ihren eigenen Namen sogar aus dem Vorwort des ersten Bandes strich.27 In einem Brief an die Brüder Grimm kurz vor der Veröffentlichung teilte sie die Gründe hierfür mit: „denn alles Glück bringt Ihr, nicht ich, und ich hab eine Scheu den Leuten Anlaß zu geben daß Sie über mich und Arnim sprechen.“28 Hier wird zum einen ihr Anliegen, nicht offen gegen Geschlechterkonventionen
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Bettina von Arnim. 1785–1859. Eine Chronik. Daten und Zitate zu Leben und Werk. Zusammengestellt von Heinz Härtl. Weimar: Kulturfonds Wiepersdorf 1984, S. 30. – In Anlehnung an Christa Wolfs „Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an. Ein Brief über die Bettine“ (1980). Heinz Härtl: Bettina von Arnim. Romantikerin und Demokratin. Eine Annäherung. In: Bettine von Arnim. Romantik und Sozialismus (1831–1859). Vorträge von Hartwig Schultz, Heinz Härtl und Marie-Claire Hoock-Demarle gehalten anläßlich der Ausstellung im Studienzentrum Karl-Marx-Haus, Trier, von Juni bis August 1986. Trier: Karl-MarxHaus 1987 (Schriften aus dem Karl-Marx-Haus Nr. 35), S. 27–40, hier S. 37. Vgl. ausführlich zu dem enormen Publikationserfolg Hartwig Schultz: Bettine von Arnims Weg zur politischen Schriftstellerin: Ihr Kampf für die Brüder Grimm. In: Bettine von Arnim. Romantik und Sozialismus (1831–1859). Vorträge von Hartwig Schultz, Heinz Härtl und Marie-Claire Hoock-Demarle gehalten anläßlich der Ausstellung im Studienzentrum Karl-Marx-Haus, Trier, von Juni bis August 1986. Trier: Karl-Marx-Haus 1987 (Schriften aus dem Karl-Marx-Haus Nr. 35), S. 11–26, hier S. 12. Bettina gerät immer wieder „in dem Maß, in dem sich die zeitliche Distanz zwischen ihr und ihren Rezipientinnen vergrößert, zur Projektionsfläche, auf der schreibende Frauen ihre jeweilige Gegenwart abbilden.“ (Ulrike Landfester: Von Frau zu Frau? Einige Bemerkungen über historische und ahistorische Weiblichkeitsdiskurse in der Rezeption Bettine von Arnims. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft, Bd. 8/9 (1996/97) (Festschrift für Ursula Püschel), S. 201–219, hier S. 202). Vgl. Landfester: Die Kronenwächterin, S. 61–62. Vgl. die ursprüngliche Fassung des Vorworts Wilhelm Grimms: „Frau von Arnim hat durch ihre Teilnahme die glückliche Ausführung des Plans gesichert.“ (Schultz (Hrsg.): Der Briefwechsel Bettina von Arnims mit den Brüdern Grimm, S. 89). An Jacob und Wilhelm Grimm, ¢10. Mai 1839²; ebd., S. 85.
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zu verstoßen und damit zum öffentlichen Tagesgespräch zu werden, deutlich. Zum anderen zeigt sich mit Blick auf die historischen Rahmenbedingungen die Widersprüchlichkeit ihrer Aussage. Zur Zeit der Herausgabe der ersten beiden Bände der Sämmtlichen Werke im Jahre 1839 waren die Brüder Grimm längst nicht mehr ausschließlich gute Freunde Ludwig Achim von Arnims. Durch ihre Entlassung von der Göttinger Universität 1837 wurden sie in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit als „Märtyrer und […] Helden des Liberalismus“29 wahrgenommen und in liberalen Kreisen gefeiert: Am 11. Dezember 1837 waren sie mit fünf weiteren Göttinger Universitätsprofessoren durch den neuen Hannoverschen König Ernst August von ihren Universitätsämtern entlassen worden, nachdem sie gegen den Verfassungsbruch des Königs protestiert hatten. Ernst August hatte nach seiner Thronbesteigung den Eid auf die Verfassung verweigert, den Landtag vertagt und die Verfassung für ungültig erklärt. Mit diesem „monarchische[n] Staatsstreich“30 war jeglicher Eid der Beamten auf die Verfassung aufgehoben worden. Am 18. November erklärten die „Göttinger Sieben“, sie seien weiterhin an ihren Eid gebunden und würden ihre Teilnahme an Wahlen oder anderen Aktionen, die gegen die alte Verfassung gerichtet seien, verweigern. Ernst August entließ daraufhin die beteiligten Professoren fristlos aus ihren Stellungen und verwies drei von ihnen, darunter Jacob Grimm, des Landes. Dieser kehrte nach Kassel zurück, wohin ihm Wilhelm 1838 folgte. Beide waren seit 1830 in Göttingen tätig gewesen. Die Entlassung der „Göttinger Sieben“ erregte gewaltiges Aufsehen über die Hannoversche Landesgrenzen hinweg: „Es wurde eine nationale Erfahrung.“31 Die Grimms erhielten Solidaritätsbekundungen aus allen Teilen Deutschlands. Vor allem die liberalen Kräfte sahen in der Protestation der „Göttinger Sieben“ ein hoffnungsvolles Zeichen.32 Bettina von Arnim engagierte sich nachhaltig für die langjährigen Freunde, besuchte sie 1838 zum ersten Mal nach Achims Tod in Kassel und versicherte ihnen brieflich, daß sie bereit sei, „herzhaft in die Dornen der Zeit zu greifen“,33 um eine Anstellung für sie an der Berliner Universität bzw. in Weimar, Kassel oder in Paris zu erwirken. Dementsprechend nahm sie die Veröffentlichung der ersten Bände der Sämmtlichen Werke zum Anlaß, um unter anderem mit dem Kronprinzen und ab 1840 preußischen König Friedrich Wilhelm IV. in brieflichen Kontakt zu treten und sich bei ihm für die Berufung der Brüder Grimm einzusetzen. Eine Anstellung der Grimms in Berlin war in der Zeit unmittelbar nach deren Entlassung undenkbar, da der preußische König fürchtete, dies könne als Provokation des Hannoverschen Königs empfunden werden. Die Grenzüberschreitung des etablierten politischen Normengefüges gelang Bettina in der Korrespondenz mit dem Kronprinzen zum einen über das Medium Brief
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Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte. 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München: C. H. Beck 1998, S. 376. Ebd. Ebd. Vgl. Hartwig Schultz: Karl-Marx-Aufsatz, S. 15. An Wilhelm Grimm, ¢25. März 1839²; Schultz (Hrsg.): Der Briefwechsel Bettina von Arnims mit den Brüdern Grimm, S. 77.
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und dessen nicht-öffentliche Intimität, zum anderen durch „die Rolle der mütterlich-sibyllinischen Mentorin“,34 die sie ihrem Adressaten gegenüber einnahm.35 Bettinas Bitte an Wilhelm Grimm, die Widmung und Herausgeberschaft der Sämmtlichen Werke zu übernehmen und gleichzeitig ihren Namen aus dem Vorwort zu streichen, ist vor diesem Hintergrund nicht nur eine Freundschaftsgeste gegenüber den Grimms, sondern vor allem eine politische Stellungnahme. Als Ziel der Veröffentlichung der Sämmtlichen Werke wurde nicht mehr ausschließlich die Rezeption der Arnimschen Texte durch eine möglichst breite Leserschaft bzw. ein editorisches Denkmal für den Verstorbenen fokussiert. Bettina betrieb mit der Ausgabe auch eine frühe Form der ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ für die Brüder Grimm. Letzten Endes trug sie dazu bei, daß die Brüder an die Berliner Universität berufen wurden. Bettinas Auftreten changiert zwischen politischem, öffentlichen Engagement und dem von ihr als Frau erwarteten Rückzug ins Private. Es ist ein Balanceakt zwischen dem Respekt vor gesellschaftlichen Normen und der gleichzeitigen Überschreitung dieser Grenzen. Vor diesem Hintergrund wird ihre Begründung im Brief an die Grimms verständlich, sie habe ihren Namen aus dem Vorwort gestrichen aus Scheu, die Leute könnten „über mich und Arnim sprechen […].“36 Es handelt sich nicht nur um eine Geste der Bescheidenheit, sondern auch um gesellschaftliches Kalkül, was sie zu dieser Entscheidung bringt. In einer Rezension Eduard Meyens in der junghegelianischen Zeitschrift Hallische Jahrbücher37 wird Bettina denn auch als Herausgeberin der Sämmtlichen Werke entlarvt, gleichzeitig aber wird ihr der von ihr erwünschte Platz ‚in dem Hintergrund‘ zugewiesen: Bettina ist es, der wir diese schöne Ausgabe von Arnim’s Werken verdanken. Sie löst damit die Pflicht, welche sie dem verstorbenen Gatten schuldig war, und giebt zugleich der Nation die Gelegenheit, auch ihre Schuld gegen den Dichter zu tilgen. […] Wilhelm Grimm, welcher, da Bettina ganz in dem Hintergrund bleiben wollte, seinen Namen vor die
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Landfester: Von Frau zu Frau?, S. 209. Bettina schickte die ersten beiden Novellenbände an den Kronprinzen. In ihrem Brief strich sie die philologischen Fähigkeiten der Grimms explizit heraus und wies den Kronprinzen implizit darauf hin, daß sie in enger Beziehung zu den Grimms stand und für sie das Wort zu ergreifen bereit war. Von der positiven Reaktion Friedrich Wilhelms ermutigt, sandte ihm Bettina im Frühjahr 1840 auch den dritten Band, Die Kronenwächter, zu. Ihr Begleitschreiben war ohne Unterschrift und setzte sich dieses Mal dezidiert für die Grimms ein. Bettinas Balanceakt zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre entgegen der gesellschaftlichen Konventionen war in diesem Fall erfolgreich, obwohl ihr Engagement für die Grimms freilich nicht allein der ausschlaggebende Auslöser für deren Berufung nach Berlin war. An Jacob und Wilhelm Grimm, ¢10. Mai 1839²; Schultz (Hrsg.): Der Briefwechsel Bettina von Arnims mit den Brüdern Grimm, S. 85. Vgl. zu Interferenzen zwischen Bettina und den Junghegelianern Heinz Härtl: ‚Dies Völkchen mit der vorkämpfenden Alten‘. Bettina von Arnim und die Junghegelianer. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1992, S. 213–254, vgl. zu den Hallischen Jahrbüchern insbesondere S. 223.
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Ausgabe gesetzt und dieselbe eingeleitet hat, verheißt uns indeß jetzt eine biographische Schilderung Arnim’s, über den Werth desselben als Dichter giebt er nach seiner edlen, einfach gefühlvollen Weise einige vortreffliche allgemeine Andeutungen.38
Die ihr hier zugeschriebene Rolle der aus Pflichtgefühl und Hingabe agierenden Witwe39 ermöglichte es Bettina, ihr öffentliches Interagieren erfolgreich zu kaschieren. Inwieweit sie Meyen diese Sätze in die Feder diktierte, muß offen bleiben.40 Mit der Veröffentlichung der Sämmtlichen Werke erprobte sie die Publikation publizistischer und politischer Texte sowie den freien Umgang mit fremden Texten, die sie in späterer Zeit immer freieren Bearbeitungen unterzog. Zusammenfassend läßt sich vor dem historischen Hintergrund, vor dem die Sämmtlichen Werke erschienen, feststellen, daß Bettina mit der Ausgabe zwei Ziele verfolgte – zum einen legitimierte sie mit der Veröffentlichung der ersten Bände ihr politisches Engagement und verschob damit ihre Rolle von der ‚dichtenden Editorin‘ hin zur ‚edierenden Politikerin‘, zum anderen trat sie für die bislang wenig beachteten Texte ihres Mannes ein und holte damit das nach, was Achim in ihren Augen immer versäumt hatte. Sie verstand sich demnach als „Testamentseditor[in]“41, die der Intention ihres Mannes so weit wie möglich zu entsprechen suchte, um ihm den Ruhm zu bescheren, den sie ihm zu Lebzeiten bereits verheißen hatte.
Bettinas Herausgabe der Päpstin Johanna Die Päpstin Johanna erschien 1846 als Band 19 der Sämmtlichen Werke. Arnim war auf die mittelalterliche Sage und die Dramatisierung des Stoffs durch Gottscheds Nöthigen Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst aufmerksam gemacht worden. Er verarbeitete den Stoff zunächst als Einlage in seinem Roman Die Gräfin Dolores und dramatisierte ihn in den
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Eduard Meyen: Achim von Arnim’s sämmtliche Werke, in: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst, Nr. 261, 31.10.1839, Sp. 2081–2086. Nr. 262. 1.11.1839, Sp. 2094–2096, hier Sp. 2081. Diese Haltung nahm sie auch in Briefen an die Grimms an, in denen sie wiederholt um „ein paar Worte, die die Herausgabe als von Ihnen geleitet ins Licht stellt“ gebeten hatte: „dies gebe dem Ganzen einen feierlichen, Arnims würdigen Halt und mir einen Trost.“ (an Wilhelm Grimm, 5. Februar ¢1839²; Schultz (Hrsg.): Der Briefwechsel Bettina von Arnims mit den Brüdern Grimm, S. 57). Bettina ließ auch in späterer Zeit immer wieder befreundete Publizisten über ihr soziales Engagement berichten. Vgl. Schultz: Bettine von Arnims Weg zur politischen Schriftstellerin, S. 20. Vgl. zur Terminologie Winfried Woesler: Theorie und Praxis der Nachlaßedition. In: Die Nachlaßedition. Akten des vom Centre National de la Recherche Scientifique und der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstalteten französisch-deutschen Editorenkolloquiums Paris 1977, hrsg. von Louis Hay, Winfried Woesler. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1979 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A Bd. 4), S. 42–53, hier S. 44–45.
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Jahren 1812/1813. Diese erste Fassung bestand aus „gereimten Jamben“,42 was Arnim aber auf Anraten seines Verlegers Georg Andreas Reimer wieder rückgängig machte und große Teile in Prosa umschrieb. Ursprünglich war der Text, der aus lyrischen, epischen und dramatischen Elementen besteht, für eine Veröffentlichung in der Schaubühne vorgesehen, wurde aber von Arnim letztendlich nie für den Druck fertig gestellt. Glücklicherweise haben sich die Handschriften nahezu vollständig erhalten, von ersten Skizzen und Entwürfen über vier Vorfassungen bis hin zur Fassung letzter Hand. Die komplizierte Textgenese der Päpstin Johanna wurde von Ulfert Ricklefs43 sowie später von Johannes Barth in der historisch-kritischen Weimarer Arnim-Ausgabe nachgewiesen. Dabei wurden Bettinas Eingriffe in den Text bzw. ihre Bearbeitung des Manuskripts für die Druckausgabe entsprechend aufgezeigt und ausgewertet.44 Bettinas Veröffentlichung der Päpstin Johanna ist nicht nur motiviert durch ihre Hingabe an Arnim45, sondern auch durch ihre Begeisterung für den Text – so schätzte sie zum Beispiel das in der Päpstin Johanna enthaltene Frühlingsfest46 besonders und setzte einige Passagen daraus in Musik. Ihre Edition des Gesamttextes changiert zwischen philologischer Reproduktion mit behutsamen Modernisierungen und kreativer Produktion durch inhaltliche Veränderungen, Streichung von ihr unverständlichen Passagen, das Aneinandermontieren verschiedener Textfassungen, die Tilgung widersprüchlicher Passagen sowie tiefgreifendere Änderungen wie die Erfindung einer ganzen Szene47 oder die Verwendung eines Gedichtes Arnims aus einem anderen Kontext.48 Stilistische Eingriffe sind am häufigsten zu verzeichnen.49 Gerade anhand des von ihr in den Text integrierten Gedichts, das sich stimmig in den Kontext einfügt,50 wird Bettinas Fähigkeit, „Autorschaft als Partnerschaft“51 zu verstehen und im Falle der Sämmtlichen Werke behutsam Eingriffe vorzunehmen, offenbar. Ihre Herausgebertätigkeit geriert sich in dieser Hinsicht als aktive und affektive
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An Clemens Brentano, 16. Januar 1813; Hartwig Schultz (Hrsg.): Freundschaftsbriefe II (1807–1823). Bd. 2. Frankfurt a. M.: Eichborn 1998, S. 672. Ulfert Ricklefs: Magie und Grenze. Arnims „Päpstin-Johanna“-Dichtung. Mit einer Untersuchung zur poetologischen Theorie Arnims und einem Anhang unveröffentlichter Texte. (Palaestra 285). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990. Ricklefs geht auf die Päpstin Johanna ebenfalls in seinem Aufsatz Bettine und Arnim: Rezeption und Gespräch ein. Vgl. ebd., S. 95–98. Vgl. den kritischen Apparat bei Johannes Barth: Ludwig Achim von Arnim: Die Päpstin Johanna, hrsg. von Johannes Barth. Teil 2: Kommentar. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 723– 749 (nachfolgend zitiert als WAA 10/2). Vgl. Landfester: Die Kronenwächterin, S. 62. Arnim veröffentlichte das Stück als Nachspiel 1813 in seiner Schaubühne. Es ist damit der einzige Teil der Päpstin Johanna, der zu Lebzeiten erschien. Dabei handelt es sich um einen von Bettina eingeschobenen Rückblick Johannas auf ihre Jugend, vgl. WAA 10/2, S. 713. Vgl. das Gedicht Hochzeit der Sonne mit dem Frühling, vgl. WAA 10/2, S. 714. Ebd., S. 712. Vgl. ebd., S. 714. Ingeborg Drewitz: „… darum muß man nichts als leben“. Bettine von Arnim. München: Econ & List 1999, S. 187.
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Teilhabe am Text, beschränkt sich dabei aber – im Gegensatz zu den in ihren Erinnerungsbüchern vorgenommenen Eingriffen in authentisches Briefmaterial – auf weniger drastische Änderungen.
Bettinas Eingriffe in autorisierte Werke am Beispiel der Schaubühne Die Dramensammlung Ludwig Achim von Arnims Schaubühne, die insgesamt zehn Stücke enthält, erschien 1813 während der „Befreiungskriege“ und war von Arnim als Auftakt einer ganzen Reihe von Dramenbänden geplant. Aufgrund der spärlichen Resonanz auf seine Stücke ließ Achim es jedoch bei diesem ersten Band bewenden. Bettina veröffentlichte die Dramensammlung 1840 in den Bänden 5 und 6 der Sämmtlichen Werke und gab zwei weitere unautorisierte Schaubühnen-Bände heraus. Bei einer genauen Kollation von Erstdruck und Sämmtlichen Werken läßt sich feststellen, daß Unregelmäßigkeiten in Orthographie und Interpunktion von Arnims Hand (bzw. der für die Drucklegung zuständigen Setzer) verbessert wurden.52 In vielen Fällen kann eine Modernisierung der Schreibweise nachgewiesen werden, etwa bei der Groß- und Kleinschreibung von Anredepronomen. Markante Eingriffe auf strukturell entscheidenden Ebenen des poetischen Textes wie etwa Syntax und Umfang, Stil und Wortschatz liegen nur in wenigen Fällen vor. Die nicht lautverändernden bzw. nicht sinnentstellenden Änderungen des autorisierten Texts zeigen die veränderten Gepflogenheiten in der Verwendung der Orthographie, wie sie sich innerhalb von 27 Jahren (1813/1840) vollzogen. Zudem waren auch individuelle Vorlieben bei der Handhabung der Interpunktion noch üblich, wie etwa eine Satzanweisung Bettinas zeigt, die sie, in einem anderen Zusammenhang bei der Herausgabe eines ihrer Werke, dem Setzer oder Korrektor zukommen ließ: Sie tun mir einen besonderen Gefallen, wenn Sie vorläufig die Druckfehler korrigieren wollen und die notdürftigen Komma austeilen, aber nur so gering als möglich, zum Beispiel vor dem Wörtlein daß setze ich gewöhnlich kein Komma, wenn nicht höchst nötig.53
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Alfred Schier hat in seiner Edition einiger Schaubühnen-Dramen (Der Auerhahn, Das Loch, Die Appelmänner) einen kurzen textkritischen Vergleich zwischen Erstdruck und den Sämmtlichen Werken von 1853 vorgenommen. Einen Teil der Lesarten bietet er im Anhang (vgl. Alfred Schier (Hrsg.): Achim von Arnims Werke. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Leipzig: Bibliographisches Institut 1920, S. 476–477 [Kommentar]). Dabei unterlaufen ihm bei der Angabe der Varianten einige Fehler (vgl. ebd.: falsch sind die Angaben zu 258,22, 263,10, 290,15, 305,30, 313,22, 384,8). Schiers Wiedergabe der Dramentexte ist nicht identisch mit der Editio princeps, sondern eine Mischung der Schaubühnen-Editionen von 1813 (Erstdruck) und 1853 (posthum von Bettina herausgegebene Ausgabe). Hervorhebung im Text; Schultz (Hrsg.): Der Briefwechsel Bettina von Arnims mit den Brüdern Grimm, S. 380.
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Die am Text vorgenommenen Veränderungen orientieren sich demnach an den Normen der Zeit sowie an dem subjektiven Gutdünken Bettinas (oder des instruierten Setzers), wobei die Möglichkeit besteht, daß Modernisierungen in Orthographie, Groß- und Kleinschreibung sowie Zeichensetzung durch einen Setzer bzw. Korrektor vorgenommen wurden und diese somit kaum eine Aussage über Bettinas Vorgehensweise, sondern über Druckkonventionen um 1840 liefern. Da die weiteren Auflagen der Sämmtlichen Werke keine Bereinigung der manchmal inkonsequent gehandhabten Orthographie oder Interpunktion bzw. eine Revision der gegenüber der autorisierten Ausgabe von 1813 festzustellenden Druckfehler aufweist, ist zu vermuten, daß Bettina entweder keinen Vergleich zwischen Editio princeps und ihrer eigenen Edition vornahm oder den Aufwand einer erneuten Textdurchsicht für zu hoch hielt. Sowohl im Erstdruck als auch in den Sämmtlichen Werken kommt es vor, daß dasselbe Wort in unterschiedlicher Schreibung auftaucht. Der Umgang mit Rechtschreibung war um 1813 – sieht man von Johann Christoph Adelungs Normierungstendenzen durch die Herausgabe der Grundsätze der deutschen Orthographie (1782) und der Vollständigen Anweisung zur Deutschen Orthographie (1788) einmal ab – noch stark von individuellen Vorlieben geprägt.54 Dies galt zwar zum Teil auch noch für 1840, aber es lassen sich bestimmte konsequent durchgehaltene Änderungen bzw. Normierungen feststellen, die auf eine Regelbildung schließen lassen. Anredeformeln „ihr“, „er“, „sie“, „euch“, „du“, „deine“ sowie die Possessivpronomen „ihr“, „eure/ euer“, „dein“ etc. werden in der Editio princeps durchgängig mit Minuskel, in den Sämmtlichen Werken mit Majuskel geschrieben. Der Diphtong „-ey“ verändert sich in den Sämmtlichen Werken generell zu „-ei“. So wird zum Beispiel das als Kopula oder Hilfsverb verwendete Wort „sein“, das sich im Erstdruck in der Schreibung „seyn“ findet, in den Sämmtlichen Werken zu „sein“ (analog „seyd“ zu „seid“, „frey“ zu „frei“, „Ey“ zu „Ei“ etc.). Eine ähnliche Modernisierung der Orthographie findet sich bei der Veränderung von „ss“ zu „ß“: „dreissig“ zu „dreißig“, „weisse“ zu „weiße“ etc. sowie bei der Verwendung der Umlaute „Ä“ und „Ü“, statt „Ae“, „Ue“ am Beginn eines Wortes, zum Beispiel „Aegypten“ zu „Ägypten“. In den Sämmtlichen Werken fällt zudem die nicht immer konsequente, aber häufige Verwendung von Apostrophen auf, während im Erstdruck Elisionen ohne diakritische Zeichen auftreten (zum Beispiel „könnts“ zu „könnt’s“, „heilge“ zu „heil’ge“ etc.). Die Markierung des Genitivs (zum Beispiel „Erdwurms“ zu „Erdwurm’s“) erfolgt im Erstdruck ohne55, in den Sämmtlichen Werken mit Apostroph. Einige Wörter wurden einer noch heute üblichen Schreibweise angepaßt, etwa „befiel/st/t“ (von „befehlen“) zu „befiehl/st/t“, „fröhlig“, „Fröhligkeit“ zu
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Vgl. Klaus Kanzog: Sprechakt und Zeichensetzung: zur Transkription in audio-visuellen Medien. In: editio 5 (1991), S. 82–95, hier S. 82–84. Mit Ausnahme des Titelblatts (Arnim’s Schaubühne) und dem Titel des ersten Stücks (Jann’s erster Dienst).
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„fröhlich“, „Fröhlichkeit“, „Hüner“ zu „Hühner“, „Huth“ zu „Hut“, „jezt“ zu „jetzt“, „Öhl“ zu „Öl“, „Schwerdt“ zu „Schwert“ etc. Nicht immer konsequent verfährt die Ausgabe von 1840 bei der Behandlung von Komposita, die in der Editio princeps häufig in getrennter Schreibung auftreten, in den Sämmtlichen Werken dagegen zu einem Wort zusammengefaßt werden, zum Beispiel „aus einander“ zu „auseinander“, „ein und dreissigste“ zu „einunddreißigste“, „fort bleiben“ zu „fortbleiben“, „Gotteswillen“ zu „Gottes willen“ etc.56 Eine den heutigen Normen nicht angepaßte Schreibung, die vermutlich dialektal geprägt ist, findet sich bei „Hering“ zu „Häring“, „pattrulieren“ zu „patrollieren“, „Tinte“, „Tintfaß“, „Tintenklecker“ zu „Dinte“, „Dintfaß“, „Dintenklecker“. Weitere Modernisierungen lassen sich interessanterweise bei Begriffen nachweisen, die Arnim bewußt in der von ihm verwendeten, zum Teil bereits zu seiner Zeit veralteten Form gebrauchte: „Burgemeister“ zu „Bürgermeister“, „ahnden“, „Ahndung“, „Ahndungsfülle“ zu „ahnen“, „Ahnung“, „Ahnungsfülle“.57 In ähnlicher Weise wird mit aus dem Französischen stammenden Begriffen verfahren, die im Erstdruck stets in eingedeutschter Form auftreten. Grund hierfür mag Arnims Abneigung gegen französischen Einfluß allgemein in den Jahren der Besatzungszeit und der „Befreiungskriege“ gewesen sein. Die Sämmtlichen Werke bevorzugen dagegen die französische Schreibweise, was zum Teil eine lautliche Änderung zur Folge hat: „Kontor(bediente)“ zu „Comptoir(bediente)“, „Lieferei“ zu „Livree“58, „Manöver“ zu „Manövre“, „militärisch“ zu „militairisch“. Bei der Groß- und Kleinschreibung von Pronomen und substantivierten Superlativen läßt sich ebenfalls ein genereller Unterschied zwischen Erstdruck
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An einigen Stellen ist in den Sämmtlichen Werken jedoch auch eine umgekehrte Handhabung zu beobachten, vgl.: „nahverwandten“ zu „nah verwandten“, „wiedersehen“ zu „wieder sehen“, „zurückereißen“ zu „zurücke reißen“. In der Schaubühne verwendet Arnim das Wort „ahnden“ bzw. „Ahndung“ in der Bedeutung „dunkele Empfindung des Zukünftigen und nicht als Bezeichnung einer Bestrafung, so wohl mit Worten, als mit der That“ (Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Bd. 1. Leipzig: Breitkopf, Sp. 187). „Ahnden“ wurde zu Arnims Zeit synonym zu dem heute gängigen Begriff „Ahnen“ verwendet. Bettina von Arnim dagegen markiert bereits den Unterschied zwischen „Ahnen“ und „Ahnden“, was sich durch die in den Dramen vorgenommenen Ähnderungen belegen läßt. Sie gebraucht durchgängig „ahnen“ bzw. „Ahnung“. Ein Grund für die Änderung in den Sämmtlichen Werken mag gewesen sein, daß das Wort in dieser Form nur in gehobener Sprache verwendet wurde und die französische Schreibweise und Aussprache üblich geworden war (vgl. DWb 12, Sp. 1073). In den Sämmtlichen Werken begegnet nach der ersten Nennung des Begriffs auch die Schreibung „Lieferei“. Zu Beginn des 6. Auftritts, nachdem einige Zeit nicht mehr davon gesprochen wurde, wird erneut die französische Form „Livree“ verwendet, anschließend tritt wieder der eingedeutschte Ausdruck auf. Es kann sich hier jedoch auch um die Druckgepflogenheiten von zwei verschiedenen Setzern handeln, wobei der eine die französische Schreibweise bevorzugte, der andere der Vorlage getreu arbeitete.
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und Sämmtlichen Werken feststellen. Die Pronomen „eine“ und „andere“ werden 1813 kleingeschrieben, in den Sämmtlichen Werken mit Majuskel. Gleiches gilt für substantivierte Superlative wie etwa „ärmste“ zu „Ärmste“, „schlimmste“ zu „Schlimmste“ etc. Die Interpunktion wird an einigen Stellen normiert, folgt jedoch nicht immer einer konsequent nachvollziehbaren Regel, so daß hier Sprachgefühl und subjektives Empfinden der Herausgeberin oder des Setzers eine wesentliche Rolle bei der Zeichensetzung gespielt haben mögen. Nach einem Befehl kann zum Beispiel in der posthum veröffentlichten Ausgabe ein Ausrufezeichen auftreten, während Arnim einen Punkt setzt: „zieh dich an.“ zu „zieh Dich an!“. Einige Kommata wurden 1840 hinzugefügt, besonders im Zusammenhang mit der Interjektion „ach“, zum Beispiel „ach da dacht ich“ zu „ach, da dacht ich“. Bei Regieanweisungen, die in Klammern hinter die Sprecherangabe gesetzt sind, wird in den Sämmtlichen Werken einheitlich der Punkt hinter die Klammer gestellt, zum Beispiel „(Er beißt ein).“59 Grammatikalische Verbesserungen, Veränderung der Metrik, Wortumstellungen und Auslassungen treten in fast allen Dramen vereinzelt auf. Eine besonders nachlässige Textdarbietung liegt im Fall des Stückes Die Appelmänner vor. Dort finden sich häufige Weglassungen einzelner Wörter oder gar einer ganzen Textpassage, die von keinem behutsamen Umgang mit der Vorlage zeugen. Das Drama, das in jambischen Metren verfaßt ist, gerät durch die in den Sämmtlichen Werken vorgenommenen Eingriffe an einigen Stellen aus dem Rhythmus. Grund dafür ist die Ergänzung von bei Arnim getilgten Buchstaben. Die Elision des „i“ im Suffix „-ig“ dient zum Beispiel im Erstdruck der Rhythmisierung der Sprache. In der Ausgabe von 1840 werden diese Auslassungen zum Teil rückgängig gemacht, wodurch die metrische Folge gestört wird, zum Beispiel: „Heut ist für dich ein wichtger Tag“ zu „Heut ist für dich ein wichtiger Tag“. Diese Eingriffe in die poetisch-rhythmisierte Sprache wirken der Intention Arnims entgegen, der das jambische Metrum auch in anderen Dramen anwandte (in Der Auerhahn, teilweise unterbrochen durch trochäisches Versmaß sowie in großen Teilen von Die Vertreibung der Spanier aus Wesel60). In Jann’s erster Dienst, Missverständnisse sowie Jemand und Niemand geht die Prosa zuweilen unvermittelt in Jamben über. Auch dort lassen sich für die Sämmtlichen Werke
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Die Handhabung der Interpunktion im Erstdruck weist dagegen Varianten auf, vgl. „(Er beißt ein.)“ mit Punkt vor der Klammer, „(kommt heraus)“ ohne Punkt, „(an die Zuschauer),“ mit Komma statt Punkt und die am häufigsten auftretende Form, Punkt hinter der Klammer, „(ruft seine Frau).“. In seiner Theorie in Fragmenten äußert sich Arnim zum Versmaß dieses Dramas: „Ich glaube in den Stücken die durchaus zwischen phant. und historischer Wahrheit schweben eine Art freye jambische Retorik angemessen, in der Befreyung von Wesel war sie eigentlich überflüssig und hat mich doch wohl zu weilen an dem rechten Ausdruck behindert. Der Vers darf nie blos seines Wohllauts wegen da seyn, dieser Wohllaut muß einem inneren Grund als Folie dienen“ (FDH B 44).
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an einigen Stellen Eingriffe in den Sprachrhythmus durch die Auflösung von Elisionen feststellen. Bei den Weglassungen kann es sich – wie oben bereits angedeutet wurde – um ganze Textpassagen, um einzelne Wörter61 oder um Phoneme handeln. Auch hier sind alle Schaubühnen-Stücke mit Ausnahme des Frühlingsfests betroffen, jedoch in unterschiedlichem Ausmaß. Ein Grund für diese (vermutlich ungewollten) Streichungen ist wahrscheinlich in der Nachlässigkeit des Setzers bei der Drucklegung zu finden. Ähnliches gilt für Inversionen62, die wesentlich seltener auftreten. Neben diesen kritischen Anmerkungen zur Unzuverlässigkeit der Edition von 1840 müssen auch positiv zu bewertende Emendationen erwähnt werden. Die Personenverzeichnisse, in denen im Erstdruck gelegentlich einige Nebenfiguren nicht genannt werden, sind in den Sämmtlichen Werken ergänzt worden. Alle falschen Sprecherbezeichnungen bzw. unterschiedliche Namenschreibweisen in der Editio princeps wurden in den Sämmtlichen Werken verbessert bzw. vereinheitlicht. Grammatikalische Fehler, die in der Ausgabe von 1813 hin und wieder auftreten, wurden in den Sämmtlichen Werken ebenfalls teilweise emendiert. Insgesamt handelt es sich bei den Sämmtlichen Werken – das darf bei einer etwaigen Verwendung der Ausgabe in literaturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten nicht vergessen werden – nicht um eine textkritische Edition, gleichwohl ein gewisser „editorischer Respekt“63 Bettinas sowohl vor dem ungedruckten als auch vor dem autorisierten Text konstatiert werden kann. Die von Bettina vorgenommenen Änderungen erfolgen zum Teil systematisch (vgl. zum Beispiel die Modernisierung der Orthographie), erscheinen aber an anderen Stellen willkürlich (wie etwa bei der Veränderung des Sprachrhythmus’). Während inhaltliche Eingriffe in den autorisierten Text eher als Übertragungsfehler bewertet werden müssen, läßt sich für die ungedruckte Päpstin Johanna eine freiere Handhabung mit dem fremden Text feststellen, auch wenn die vorgenommenen Änderungen behutsam vorgenommen wurden und vom künstlerischen Standpunkt her als durchaus gerechtfertigt erscheinen. Die Frage, ob sich in Bettinas Herausgebertätigkeit „ein bestimmter editorischer Wille geltend“ mache,64 läßt sich demnach unter den angegebenen Gründen nur zum Teil mit „Ja“ beantworten, sofern man die Emendationen offensichtlicher Druckfehler, grammatikalischer Fehler und die Vereinheitlichung von Sprecherangaben als Argumente einbezieht. Letztendlich handelt es sich bei den Sämmtlichen Werken um ein posthumes Rezeptionszeugnis, das beispielsweise die Schaubühne einem breiteren Publikum zugänglich machte, als dies durch den Erstdruck mit
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So zum Beispiel in den „Missverständnissen“, wo zwei Adjektive wegfallen: „meine liebe Mutter“ zu „meine Mutter“ und „delikates fettes Schwein“ zu „delikates Schwein“. Vgl. zum Beispiel die andere Anordnung der Satzelemente in Die Appelmänner: „und ich die Feuerleiter war trotz der Gefahr hinauf gestiegen“ zu „und ich trotz der Gefahr die Feuerleiter war hinaufgestiegen“. Landfester: Die Kronenwächterin, S. 62. Ricklefs: Anmerkungen zum Projekt einer historisch-kritischen Gesamtausgabe, S. 213.
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seiner Auflage von 400 Exemplaren möglich war. Neben diesem wichtigen Stellenwert, der den Sämmtlichen Werken in der Rezeptionsgeschichte der Arnimschen Werke zukommt, markiert die Ausgabe eine entscheidende Wandlung von Bettinas Selbstbild zur politischen Schriftstellerin, die sich in der Folgezeit immer mehr zur ‚edierenden Dichterin‘ entwickeln sollte.
Roswitha Burwick
„Und er ward ein König über Thiere und Menschen, im Geist; sonder Sprache“ Bettina von Arnims Märchen „Der Königssohn“.1
Die Märchenforschung klassifiziert das Genre im Allgemeinen in die beiden Grundtypen von „Volksmärchen“ und „Kunstmärchen“, wobei das romantische Märchen mit dem Erscheinen der Kinder- und Hausmärchen und den Erzählungen namhafter Dichter eine zentrale Stelle im Diskurs einnimmt. Auch die im letzten Jahrzehnt erschienenen Enzyklopädien und „Companions“ machen dabei keine Ausnahme.2 So verortet Kari Lokke in ihrem Beitrag The Romantic Fairy Tale das romantische Märchen in Friedrich Schillers klassischer Dichotomie von naiver und sentimentaler Poesie und bindet das Genre ein in den theoretischen und ästhetischen Diskurs der romantischen Literatur.3 Unter dem Untertitel Nostalgia for Nature and Romantic Reflexivity klassifiziert sie dann die Sammelwerke von Arnim und Brentano (Des Knaben Wunderhorn) sowie der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm (Kinder und Hausmärchen) als Versuch, Lieder und Märchen als das Werk einer kollektiven, volkstümlichen und anonymen Stimme nachzuahmen bzw. nachzuschaffen.4 Im Gegensatz zum Volksmärchen charakterisiert Lokke das Kunstmärchen als Genre, in dem die Forderungen nach Authentizität aufgehoben sind und der Selbstreflexivität und Kreativität freier Raum gelassen werden konnten. So werden Novalis (Heinrich von Ofterdingen), Goethe (Märchen), Tieck (Der blonde Eckbert), E. T. A. Hoffmann (Der goldene Topf) oder Heine (Elementargeister und Die Götter im Exil) als Beispiele für das deutsche Kunstmärchen angeführt, da sie die Schillersche Typologie des durch die Selbstreflexivität poetisierten Sentimentalen exemplarisch vertreten. Am Schluß des Beitrags weist Lokke noch auf die zeitgenössischen feministischen Märchen von Angela Carter, Ursula LeGuin, Anne Sexton, und Olga Broumas hin – hier wäre noch Margaret Atwood hinzuzufügen –, die Anspruch auf die romantischen Assoziationen von Frau, Natur und
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Gustav Konrad (Hrsg.): Märchen der Bettine, Armgart und Gisela von Arnim. Frechen: Bartmann 1965. Titel von Konrad. Vgl. Jack Zipes (ed.): The Oxford Companion to Fairy Tales. Oxford: Oxford University Press 2000. Kari Lokke: The Romantic Fairy Tale. In: Michael Ferber (ed.): A companion to European Romanticism. Oxford: Blackwell 2007, S. 138–156. Lokke: „Acknowledging the enormous impact of Schiller’s typology, this chapter surveys a literary phenomenon characteristic of and in some senses unique to the Romantic era – the effort of the individual, self conscious poet to imitate and recreate the effort of folk art that is the product of a collective, popular, and anonymous voice.” (ebd., S. 139).
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Nichtrationalem in den Neufassungen der traditionellen Märchen erheben und diese neu thematisieren.5 Eingebettet in eine Fußnote ist der Hinweis auf Bettina Brentano von Arnims Märchen Der Königssohn, das Lokke als faszinierenden Vorläufer dieser feministischen Richtung bezeichnet. Da Lokke Bettinas hybride Erzählung weder in die Rubrik „Volksmärchen“ noch in die von „Kunstmärchen“ einordnen kann, relegiert sie die Autorin in die Marginalität einer Anmerkung. Bettinas Erzählung gehört demnach weder zum Kanon der Volksmärchen, noch zu den von männlichen Autoren dominierten Kunstmärchen. Da Lokke weiter keine Erklärung für ihre Klassifikation von Bettina als Vorläuferin im feministischen Diskurs des Märchens liefert, bleibt offen, ob es die Autorin oder aber die weibliche Hauptfigur ist, die eine solche Typologie rechtfertigt. Unbeantwortet bleibt weiterhin, in wiefern Bettina mit ihren „Nachfolgerinnen“ Carter, Sexton oder Atwood verglichen werden kann, die bewußt die geschlechtsspezifischen Normen in Frage stellen und in ihren Neufassungen der traditionellen Märchen die weiblichen Forderungen nach Selbstbestimmung narrativ gestalten. In seinem Beitrag The fairy tale, the fantastic tale bespricht auch Jörn Steigerwald den Unterschied zwischen Volks- und Kunstmärchen und argumentiert, daß es insbesondere das Kunstmärchen ist, das durch sein bewußtes Überschreiten der Grenzen des Märchens ein neues Genre schafft, das speziell in der Romantik durch die Instrumentalisierung des Phantastischen fruchtbar wird.6 Auch Steigerwalds Klassifikationssystem ist genderspezifisch normiert, indem alle namhaften Autoren des Phantastischen männlichen Geschlechts sind. Im Hinblick auf Bettinas Märchen kann allerdings Steigerwalds Theorie eines neuen Genres weiterführen, indem die Zuordnung des Textes als Experiment bzw. als Vermischung der beiden Erzählformen gelten könnte. Die Hybridität von Bettinas Erzählung ist nicht allein problematisch für die typologische Zuordnung in den neuesten Kompendien und Nachschlagewerken zur Romantik; bereits 1808 schien der Text für eine Veröffentlichung in der Zeitung für Einsiedler ungeeignet, da sich Achim von Arnim entschloß, ihn dort nicht mit aufzunehmen. In seinem kurzen Beitrag zu Bettinas Märchen kommt auch Heinz Rölleke zu diesem Schluß: „Ob es sich bei Bettinas Dichtung um ein Kunstmärchen oder nicht doch eher lediglich um eine allegorische Erzählung handelt, steht dahin.“7 In einer genaueren Untersuchung des Märchens in seinem theoretischen, historischen und literarischen Kontext soll hier versucht werden, die Hybridität
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„[...] who reclaim and rewrite the Romantic association of women, nature, and the nonrational, never again is the genre marked by such a clear effort to celebrate and replicate, at a self conscious level, the naïve, folkloric voice.“ (ebd., S. 155). Jörg Steigerwald: The fairy tale, the fantastic tale. In: Gerald Gillespie, Manfred Engel, Bernard Dieterle (eds.): Romantic prose fiction. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins 2008, S. 324–344, hier S. 325. Heinz Rölleke: Bettines Märchen. In: Christoph Perels (Hrsg.): Herzhaft in die Dornen der Zeit greifen…. Bettine von Arnim. 1785–1859. Ausstellungskatalog, Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. Frankfurt a. M. 1985, S. 225–232, hier S. 228.
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des Textes und speziell der geschlechtsspezifischen Erzählstruktur zu hinterfragen, um neues Licht auf den für Bettina eigenen Stil zu werfen, mit dem sie für das Genre des Volks- und Kunstmärchens einen Handlungsraum und eine narrative Struktur schuf, die die Normen aufbrachen und zu den feministischen Um- und Neubearbeitungen der Gegenwart führen konnten. Rölleke betonte bereits, daß Bettinas Name „von allem Anfang an und für alle Zeiten aufs engste mit dem erfolgreichsten deutschsprachigen Buch verknüpft“ ist, das ihr in allen Auflagen zu Lebzeiten der Brüder Grimm gewidmet war, „als Huldigung an ihr kindliches Gemüt, ihre poetische Erscheinung, ihre vorbildliche Hilfsbereitschaft, an ihr ganzes Wesen, das immer erneut mit der Lust der ersten Jugend sich auch und gerade den schlichten Erscheinungen der Natur und eben der Naturpoesie zu erfreuen fähig war und blieb.“8 Angeregt von Clemens Brentano hatten die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm ihre Märchensammlung 1807 begonnen und den ersten Band 1812 fertiggestellt. Nach seinem Besuch der Grimms in Kassel hatte Arnim die Verlagsverhandlungen mit Reimer geführt, so daß Ende September das Druckmanuskript nach Berlin ging und die Märchen noch zu Weihnachten erscheinen konnten.9 Mitten in der Diskussion Arnims mit den Grimms um Kunst- und Naturpoesie erhielten die Arnims Weihnachten 1812 den Band mit der Widmung „An die Frau Elisabeth von Arnim für den kleinen Johannes Freimund“.10 Während Brentano einige Märchenquellen aus seiner eigenen Bibliothek zur Verfügung gestellt und Arnim neun Texte vermittelt hatte, lassen sich keine Beiträge Bettinas nachweisen. Rölleke vermutet, daß Bettina in der Zeit der Sammeltätigkeit für die Märchensammlung ausschließlich dem Wunderhorn (20 Liedbeiträge) und Arnims Zeitung für Einsiedler zuarbeitete und die spätere Korrespondenz mit den Brüdern Grimm zum Thema „Märchen als Naturpoesie“ über Arnim lief. Rölleke zitiert den Schluß der KHM-Vorrede von 1819, in dem die Brüder Grimm noch einmal eindeutig von einem freien „Auffassen der Märchen zu eignen, ganz der Zeit angehörenden Dichtungen“ Abstand nahmen,11 da sie – wie es die Auseinandersetzung mit Arnim dokumentiert – die Selbstreflexivität in den Nach- und Umdichtungen der fragmentarisch erhaltenen „Volkspoesie“ als Fälschungen der Authentizität der Quellen ablehnten. Rölleke weist darauf hin, daß die Grimms ursprünglich Arnim um Vermittlung von Märchen durch Bettina gebeten hatten. Die Korrespondenz zwischen Arnim und Bettina dokumentiert jedoch, daß Arnim Bettina mit der Sammlung von Märchen beauftragte, um Material für seine Zeitung zu
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Ebd., S. 225; z. T. zitiert aus dem Ende der Widmung der 5. KHM-Auflage von 1843. Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hrsg. von Reinhold Steig und Herman Grimm. Bd. 1–3. Bd. 3: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Stuttgart, Berlin: Cotta 1904, S. 213. Ebd., S. 251. Zur Diskussion um Natur- und Kunstpoesie und die Märchen vgl. ebd., S. 115–144; 213–273. Rölleke: Bettines Märchen, S. 225.
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erhalten.12 Am 1. April 1808 bat er sie, sich aus dem „heimlichen Schatz“ der Frau „Lehnhardtin“, der Amme der Savignys, Märchen erzählen zu lassen: Aus Grimms Briefe erfuhr ich den heimlichen Schatz, der in der Frau Lehnhardtin verborgen, o wäre ich ein guter Bergknappe und Steiger um diese Kindermährchen aus ihr loszuhauen, laß Dir doch welche davon erzählen, es finden sich wahrscheinlich ein Paar gute darunter [...].13
Bettina setzte sich daraufhin mit der Amme in Verbindung, die ihr mehrere Märchen lieferte. So konnte sie Arnim bereits am 10. April 1808 mitteilen, daß sie das Märchen vom Hans ohne Bart „von Frau Lehnhart zum Theil schon aufgeschrieben“ habe.14 Ein von ihr selbst skizziertes Einsiedlermärchen erschien, von Arnim überarbeitet, am 23. April 1808 in der Zeitung für Einsiedler unter dem Titel Scherzendes Gemisch von der Nachahmung des Heiligen.“15 Zwischen Ende April und Anfang Mai 1808 sandte sie, eingefügt in ihre Briefe, in zwei Teilen die Erzählung vom Tierkönig, das Märchen vom starken Hans und die Legende von der blinden Königstochter. Am 30. Juni1809 folgte eine Kurzfassung des Märchens von einem ins Wunderland versetzten Kind.16 Die Texte wurden ohne das Märchen vom Kinde 1912 von Steig in leicht bearbeiteter Fassung veröffentlicht; 1963 erschienen alle Erzählungen in der Werke- und Briefausgabe von Gustav Konrad.17 Wie die Korrespondenz belegt, stammten die Aufzeichnungen zum Hans ohne Bart und zur blinden Königstochter von Informanten, der Amme Lehnhardt und dem Straßburger Professor Arnold, den Bettina 1808 in Frankfurt
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Ebd., S. 226. Handschrift im Freien Deutschen Hochstift, Signatur FDH 7254. Der Brief ist von Arnim auf den 1. April datiert – so auch sein Exzerpt –; Bettina notierte darauf irrtümlich „2 April“. Die mit der Handschrift kollationierten Fassungen der Briefe Achim von Arnims und Bettina Brentanos verdanke ich Renate Moering. Vgl. auch Bettine und Arnim. Briefe der Freundschaft und Liebe. Hrsg., eingeführt und kommentiert von Otto Betz und Veronika Straub. 2 Bde. (1806–1808) und (1808–1811). Frankfurt a. M.: Knecht 1986–1987, S. 198. Handschrift im Freien Deutschen Hochstift, Signatur FDH 7419. Ebd., S. 207. Zeitung für Einsiedler, Nr. 7, 23.4.1808, Sp. 49–51. Ein Abdruck von Bettinas Text und die Überarbeitung Arnims findet sich auch bei Rölleke: Bettines Märchen, S. 227. Vgl. auch eine z. T. fehlerhafte Version von Reinhold Steig. In: Euphorion 19 (1912), S. 230. Die Handschrift ist erstmals mit Varianten ediert von Renate Moering: Arabeske vom Einsiedler. Eine Mischhandschrift von Bettine Brentano und Achim von Arnim. In: Wolfgang Bunzel, Konrad Feilchenfeldt und Walter Schmitz (Hrsg.): Schnittpunkt Romantik. Textund Quellenstudien zur Literatur des 19. Jahrhunderts. Festschrift für Sybille von Steinsdorff. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 51–57 (mit Abbildung). Betz/Straub, hier: Bettine an Arnim, Bd. 1, S. 224–230 (Nr. B 39); Bettine an Arnim, Bd. 1, S. 240–242 (Nr. B 43); Bettine an Arnim, Bd. 1, S. 233–235 (Nr. B 41); Bettine an Arnim, Bd. 2, S. 206 (Nr. B 104). Ein Entwurf zum Tierkönig befindet sich im Goetheund Schiller-Archiv Weimar, Signatur 03/456 (5 S.). Vgl. Rölleke: Bettines Märchen, S. 226. Reinhold Steig: Drei Märchen von Bettina Brentano. In: Westermanns Monatshefte, Nr. 113/ II (1912), S. 554–558. Gustav Konrad (Hrsg.): Bettina von Arnim. Werke und Briefe. Bd. 4. Frechen: Bartmann 1963, S. 5–11.
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kennengelernt hatte.18 Das Märchen vom Königssohn und die kurze Skizze vom Kind, das in den Brunnen gefallen ist, sind dagegen von Bettina selbst verfaßt, wie sie auf Arnims Fragen nach der Herkunft der Erzählungen bestätigt. Aus den Briefen wird deutlich, daß es Bettina hier keineswegs allein um die Übersendung der bei Bekannten gehörten Märchen als „Zuarbeiten“ für die Zeitung für Einsiedler ging. Gerade das Märchen vom Königssohn, das sie, in zwei Teilen in ihre Briefe integriert, an Arnim schrieb, zeigt, daß sie die Grenzen des Genres bewußt erweiterte und eine eigene Erzählform schuf, die man – vielleicht zu vergleichen mit ihren Briefromanen – als „Brieferzählungen“ klassifizieren könnte. Arnim hatte Bettina in seinem Schreiben vom 27. Februar 1808 von Clemens’ Vorschlag berichtet, daß sie Briefe einer Einsiedlerin für seine Zeitung schreiben solle. Im Brief vom 2. März spricht Arnim sie als „meine liebe Einsiedlerin“ an und erklärt ihr nun näher, wie er sich ihre Mitarbeit vorstellt: Ich verstehe unter Briefen einer Einsiedlerin alles das etwas geordnet und gekürzt, was Du gern von Deinen Anschauungen, wenn Du in bewegter Stimmung hie und da, in Marburg auf deinem Thurme, in Cassel bey Deiner Gräfin Bohlen, im goldnen Kopfe bey Tische gewesen, anderen erzählst, was Dir merkwürdig ist, daß Du es gefühlt hast und wie Du es gefühlt, dahin gehören auch Deine Fabeln; das schreib auf, wie es dir einfällt, Du brauchst kein besondres begeisterndes Feuer zu erwarten, denn das ist es, daß es einfällt und daß Du es erlebt hast [...].19
Arnim schlägt weiterhin vor, daß er das von ihr eingeschickte Material selbst ordnen und es unter dem Pseudonym „Morella“ veröffentlichen wolle. [...] wir sprechen dahinter wie durch Masken ungestört mit einander, blinkten einander zu und nickten, von mir sollte gewiß niemand erfahren, wer sie gemacht, oder ich bildete den Leuten ein, es wäre von einer Dame in Weimar.20
Bettina griff den Gedanken in ihrem Brief vom 3. März auf, indem sie bekannte, daß sie in Marburg „oft Fablen erdacht“ habe, „die mir jezt noch so fest im Gedächtniß sind, als wie die Kindermärgen, das will ich all aufschreiben.“21 Den ersten Teil des Märchens vom Königssohn fügte sie als „Gute-NachtGeschichte“ ein in ihren Brief vom 25. April 1808, wo er als Ausdruck ihrer Liebe und Fürsorge für Arnim gedacht ist und auf seine scheinbare Kälte ihren Gefühlen gegenüber aufmerksam zu machen versucht: Läsest du meinen Brief nicht, so mögt ich jezt in tausend Schmeicheleien und Liebkosungen, mich ergießen, denn ich hab dich über alle Maasen lieb und kann nicht genug in dich hinein denken und mich an dich halten, mit Worten, und allem freundlichen Thun, aber du antwortest mir nie auf mein liebendes Benehmen, das beschämt mich, und benimt mir zum
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Rölleke: Bettines Märchen, S. 228. Handschrift im Freien Deutschen Hochstift, Signatur FDH 7248. Vgl. Betz/Straub, Arnim an Bettine, Bd. 1, S. 166f. (Nr. A 29). Handschrift im Freien Deutschen Hochstift, Signatur FDH 7248. Vgl. ebd., S. 167. Handschrift im Freien Deutschen Hochstift, Signatur FDH 7407. Vgl. ebd., S. 169.
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Theil eine Art Zutrauen ich schweich also still! hörst du’s und sag dir nicht, daß ich oft um alles in der Welt, einen Moment, dir ins Gesicht sehen mögte, oder vor dem Schlafen gehen dich an mein Herz drücken, und dir Gute Nacht wünschen daß wenn wir zusammen spazieren gehen, ich oft voraus laufe, um in Gedanken an deiner Seite zu gehn. ich erzehl dir besser ein Märchen:22
Sie unterbrach ihre Erzählung, da die Post abging und versprach in einem am nächsten Tag folgenden Brief die Fortsetzung. Der Brief vom 26. April begann ohne einleitende Worte mit dem Märchen und endete mit einem Abschiedswort: Adieu mein lieber Arnim nicht einmal hab ich mehr Zeit dir noch eine freundliche Zeile zu schreiben, ich hab Dir das Märgen so hingekrizelt, und wird Dir vielleicht mehr Mühe kosten es zu lesen, als es werth ist.23
In seinem Antwortbrief vom 26. April 1808 reagierte Arnim zunächst auf Bettinas Klage über sein mangelndes Vertrauen und betonte, daß sie, indem sie „so wenig Aufmerksamkeit auf die Leute“ verwende, oft das Wahre und das Falsche nicht zu unterscheiden wisse und ihn unwissentlich gekränkt habe. Ohne Übergang geht er dann auf das Märchen ein: Hätte ich nun erst allerley Artiges gesagt, was mir doch in dem Augenblick entfernter lag, weil man jede Liebe wie das gute Wetter verleben muß in glücklichem Gefühl oder Arbeit, aber im bösen Wetter Zeit zum notiren des Barometers erhält, so wäre Dir meine Bemerkung über Müller nicht aufgefallen, aber so mit der Thür ins Haus zu fallen, es ist entsetzlich, das beste Kind fressen die wilden Thiere, und die sechs Schreyhälse bleiben übrig. Das Mährchen ist recht artig, hast Du es unverändert so von der Fr Lehnhardt, ich meine im Wesentlichen, nicht die Worte? Mir schwebt so eine Geschichte vor.24
Er bittet sie nun auch um die Geschichte vom starken Hans: Schick doch auch die Geschichte vom starken Hans, es vermischt sich darin der Christophel und der Siegfried. Im Prometheus habe ich den Anfang der Pandora gelesen – ich wollte es wäre die Fortsetzung der Eugenie. Hat man so einen Geschmack im Munde und es werden noch so gute Weine vorgesetzt, wahrhaftig ich bitte immer noch um ein Glas von dem bewusten.25
In ihrem Antwortbrief lenkt Bettina zunächst ein: Nein! ich mag diesen Unmuth ja nicht entbehren er ist mir werth und theuer du hast immer recht wie Du es meinst, aber ich begreif niemals geschwind genug, wie ichs zu verstehn hab, besonders da die Sachen, die Du rügst gewöhnlich nur durch Zufall bei mir eine so
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Bettine an Arnim in Heidelberg. Frankfurt a. M., (25. April 1808). Handschrift des freien Deutschen Hochstifts, Signatur FDH 7423. Vgl. Betz/Straub, Bettine an Arnim, Bd. 1, S. 222–226 (Nr. B 39). Bettine an Arnim in Heidelberg. Frankfurt a. M., 25. oder 26. April 1808. Handschrift des Freien Deutschen Hochstifts, Signatur FDH 7424. Vgl. Betz/Straub, Bd. 1, S. 226–230 (Nr. B 40). Ebd. Ebd.
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wichtige Stelle einnehmen, denn wie könnte aus meinem Herzen, und mit ernster Überlegung etwas geschrieben seyn, was dich aergert oder kränkt; versprech mir nur daß dich so was nicht zurück halten soll, mir doch immer die Wahrheit zu sagen26
Danach erklärt sie: Das Märchen ist von mir; daß es Dir etwas dunkel vor schwebt wird wohl seyn, weil ich dir einmal sprach daß ich ein solches schreiben wolte, die lezte Hälfte schrieb ich grad so in Deinen Brief, und ich weiß nicht einmal, ob es so recht an die erste Hälfte paßt, die ich gestern verlohren hatte.27
Bettina betont hier die Spontaneität, mit der sie das Märchen im Moment des Erinnerns aufgezeichnet hatte; unreflektiert und aus dem Unterbewußten heraus will sie es erfunden haben. Zugleich beharrt sie aber auch auf ihrer Autorschaft – „Das Märchen ist von mir“. Arnim, dem das Märchen bekannt schien, erwiderte sie, daß er es nur kenne, da sie es ihm bereits früher schon einmal mitgeteilt habe. Der gleichzeitige Anspruch auf Autorschaft, d. h. auf die Selbstreflexivität der Moderne und auf Intuition, wie sie in Schillers Rubrik des Naiven verstanden wurde, bedeutet für Bettina keine sich ausschließende Polarität; gerade in der Spannung der von den Rubriken geschaffenen Dichotomie schuf sie sich einen Erzählraum, in dem sie Individuelles mit dem Kollektiven verbinden konnte. Ein Vergleich mit den Modellen, die später durch die Grimmsche Bearbeitung der Kinder- und Hausmärchen kodifiziert wurden, zeigt, daß sie in der ihr eigenen Erzählweise die Normen der Gattung aufbrechen würde. So werden in Struktur und Thematik hierarchische Ordnungen aufgelöst und wiederhergestellt, patriarchalische und matriarchalische Prinzipien in einander integriert, so daß die Auflösung der Problematik in einem Neben- und Ineinander von männlicher Dominanz und weiblicher Unterwerfung im erweiterten Handlungsraum einer neuen Gesellschaftsordnung gefeiert werden kann. In der Korrespondenz um 1808 geht es hier, wie Arnim betont, im Wesentlichen um die Frage nach der Authentizität des Erzählten, nicht nach der sprachlichen Wiedergabe des Textes. Die Tatsache, daß Arnim die Erzählung nicht in seine Zeitung für Einsiedler aufnahm, läßt darauf schließen, daß für ihn das Märchen kein „Volksmärchen“, d. h. kein Text war, der in der oralen Überlieferung tradiert war und, wenn auch fragmentiert erhalten, vom Erzähler neu erzählt bzw. neu gefaßt werden konnte.28 Im Gegensatz zu den Brüdern Grimm, die darauf beharrten, daß nur durch eine naive und unreflektierte Erzählweise
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Bettine an Arnim. Bettine Brentano an Arnim in Heidelberg. Frankfurt a. M., nach dem 26., vor dem 29. April 1808. Poststempel: R1.FRANCFORT. Handschrift im Freien Deutschen Hochstift, Signatur FDH 7425. Vgl. Betz/Straub Bd. 1, S. 232–235 (Nr. B 41). Ebd. In Fairy Tales. A New History. New York: New York State University Press 2009 argumentiert Ruth Bottigheimer gegen die Theorie, daß es seine mündliche Tradition der Märchenerzählung gibt. Sie glaubt, nachweisen zu können, daß die Märchen immer als schriftlicher Text tradiert wurden.
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die Authentizität der Quelle erhalten werden könne, argumentierte Arnim in seiner Theorie über die Natur- und Kunstpoesie, daß der Leser bzw. der Erzähler in seiner Rezeption den Text unbewußt weiterdichtete und somit als Glied in der Kette der Tradierung eines kollektiven Kulturerbes fungiere. warum willst Du den einzelnen Dichtern nicht einräumen, daß sie auch unbewußt an einem größeren Gedichte fortarbeiten, das die Zukunft zusammenstellen wird? Und wenn eine Kritik sein soll, ist es doch wohl die, das, was sich in jedem einzelnen Buche Eigenthümliches entwickelt hat, erkennen und durch liebevolles Auffassen zu einer allgemeineren Berührung zu bringen.29
Während Bettinas Märchen in Sprache und Thematik der von den Grimms vertretenen Auffassung von Naturpoesie nahesteht, scheint sie in der Art der Bearbeitung Arnims Theorie von Kunstpoesie zu erfüllen, wie er sie in seinem Blatt Theoretische Untersuchung noch einmal für die Grimms zusammenfassend formulierte: Wie ich mich in meinen poetischen Arbeiten immer mehr überzeuge, daß mir nur das nach einiger Zeit genügt, was sich selbst gemacht hat, wozu ich gekommen ich weiß nicht wie, während das, wo ich mich bezwungen, immerdar kränkelt, so gehts auch mit Theorieen, es ist nur eine anders gerichtete Erfindung, und die meisten Theorieen geriethen wohl immer so ganz schlecht, weil die Leute darauf ausgingen, sich eine zu schaffen, die noch nicht dagewesen. [...] Meine Theorie poetischer Erfindungen, die ich Euch letztlich aufstellte, wie die Phantasie nur dann wahr sei, wenn sie täuschend sich selbst täuscht, wie der Verstand nur dann Ueberzeugung fühlt, wenn er von der Wahrheit, die er sucht, selbst wahr gemacht wird: so z. B. auf Zeichnung angewendet, so ist da erst eine Schönheit, und das ist Wahrheit, der Phantasie vorhanden, wenn das Angeschaute im Kopfe, das ich darstellen möchte, womit ich die Leute täuschen möchte, mich selbst so ergreift, daß ich es zuletzt nicht mehr von dem Angeschauten unterscheiden kann, ja sogar dieses Angeschaute gänzlich verliere, oder erst wieder durch das erschaffene Bild hervorbringen kann.30
Die Frage Arnims nach der Herkunft des Märchens deutet auf die Problematik hin, die Bettinas Erzählung im Diskurs um die Typologie des Genres verkörperte. In der Bearbeitung der Quellen für die Zeitung für Einsiedler kam es ihm vor allem darauf an, alte Texte neu zu bearbeiten und im zeitgenössichen Kontext relevant zu machen. Wäre Bettinas Erzählung eines dieser „authentischen“ Texte gewesen, so könnte man spekulieren, hätte Arnim eine Bearbeitung wie die des Textes vom Scherzenden Gemisch von der Nachahmung des Heiligen vornehmen können. Da das Märchen nach ihrer Behauptung jedoch von ihr nur „nachempfunden,“ d. h. „nachgedichtet“ war und im Grunde die Normen des Märchenmodells unterlief, wollte er es nicht veröffentlichen, da es weder den Forderungen des „Volksmärchens“ noch seinen eigenen Prinzipien für die „Erneuerung“ der Quellen durch den individuellen Dichter entsprach. Auch inhaltlich hatte er auszusetzen, daß die Trauer der Königin wohl „wahr“ und „natürlich“ sei, die Idee der siebenjährigen Schwangerschaft der Königin
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Steig Bd. 3, S. 224. Ebd., S. 242.
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jedoch als störend empfunden werden könne. „[...] manchen möchte die Idee darin stören, daß sie eine böse Sieben erst in sich getragen, mich nicht, sie kommt mir vor wie eine Ameisenkönigin, die ihr ganzes Volk geboren.“31 Im Vergleich zu den als literarische Texte publizierten Kunstmärchen von Novalis, Tieck oder Hoffmann, die bald als repräsentativ für das Genre galten, blieb Bettinas Märchen unbeachtet in der Privatsphäre ihrer Korrespondenz und fand nie Aufnahme in den von den männlichen Autoren bestimmten Kanon. Sogar Arnim kam es darauf an, ihre Texte entweder anonym oder von ihm bearbeitet unter einem Pseudonym zu veröffentlichen. In dem Diskurs um Volks- und Kunstmärchen schafft Bettinas Text eine eigene Rubrik, da er nicht allein in die „Geschichte“ ihrer Liebe zu Arnim eingebettet ist, sondern auch in ihrem Selbstverständnis als Erzählerin in den Identitäten der „Mutterfigur“ und „Kind-Frau“ in Performanz übergeht. Während sie die Rolle der fürsorgenden Mutter spielt, die ihr zorniges Kind zu beruhigen versucht, stellt sie sich gleichzeitig als unreflektiert und intuitiv erzählend dar und setzt damit die orale Tradition der weiblichen Erzählerin fort. Indem sie den Text aufschreibt, steht sie neben den Grimms, die sich um den Erhalt der Volksmärchen bemühen. So gibt sie vor, daß sie sich nicht mehr an die am Vortage aufgeschriebene Geschichte erinnern kann, schreibt aber am nächsten Tag nahtlos an der unterbrochenen Erzählung weiter. Ein im Goethe- und Schiller-Archiv erhaltener Entwurf zum Märchen vom Tierkönig bezeugt nun, daß Bettina keineswegs aus dem Stegreif phantasierte, sondern daß sie sich ihre „Fabeln“ aufschrieb und die in den Brief eingefügte Fassung eine bereits überarbeitete und für den Druck in der Zeitung für Einsiedler gedachten Publikation war. Die Handschrift hat den gleichen Umfang wie die Brieffassung, enthält Varianten und ist stilistisch eher dem von Bettina für sich beanspruchten unreflektierten Schreibprozeß zuzuordnen. Zu datieren wäre dieser Entwurf auf die Zeit zwischen dem 27. Februar 1808, an dem Arnim Bettina zur Mitarbeit an der Zeitung für Einsiedler aufforderte, und dem 25. April 1808, dem Zeitpunkt der Niederschrift der überarbeiteten Fassung. In diesem Datierungsversuch kann noch der Brief vom 3. März genannt werden, in dem sie die in Marburg erdachten Fabeln aufzuschreiben gedachte. Die Eingliederung der „vollendeten Fassung“ des Märchens in die Unmittelbarkeit der brieflichen Mitteilung stellt den Versuch dar, die zum geschriebenen Text gewordene Erzählung wieder in die Form der mündlich überlieferten und von Informanten tradierten Märchen zurückzuführen. Ihre geplanten Beiträge zur Zeitung für Einsiedler sind demnach in der Form von Einlagen in Briefen als neue Formen des Erzählens gedacht, die durch die Performanz des dialogischen Schreibens Unmittelbarkeit beanspruchen. Die Unterbrechung der Erzählung, die am folgenden Tag weitergeführt wird, ist somit ebenfalls bewußt in der orientalischen
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Heidelberg, 29. April 1808. Handschrift im Freien Deutschen Hochstift, Signatur FDH 7261.
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Tradition der Märchen von 1001 Nacht eingesetzt und verstanden, wie Arnims Anrede „Liebe Milesierin und Persianerin“ andeutet.32 Das Märchen ist in drei Teile gegliedert: 1) die Eheschließung des Königs mit der schönen Königin; 2) die siebenjährige Schwangerschaft der Königin, ihr Exil in der Wildnis, die Geburt der sieben Kinder und der Raub des ältesten Sohnes durch die Bärin; 3) die Wiederaufnahme der Königin als „Glohrreiche Mutter“33 in den Kreis der zivilisierten Welt, die durch die Heimkehr des nun erwachsenen Sohnes und dessen Übernahme der Herrschaft ihren Höhepunkt und Abschluß findet. Diese Dreiteilung ist strukturiert durch die heilsgeschichtliche Thematik von Harmonie zwischen Mensch und wildem Tier (Paradies), Verlust der Harmonie durch das Exil der Mutter und den Raub des erstgeborenen Sohnes (Vertreibung aus dem Paradies) und Wiederherstellung der Harmonie nach der Rückkehr des Sohnes (Erlösung durch den verlorengeglaubten Sohn). Der Verlust der Harmonie zwischen Mensch und Tier ist bereits vorbereitet durch den Umschlag der Gefühle des Königs für die Königin, die er vor allem wegen ihrer Schönheit geheiratet hatte. Als sie nach der abgelaufenen Zeit der Schwangerschaft nicht gebären konnte, wurde er zuerst traurig, da er sie krank glaubte. Als sie jedoch wie ein „gesundes Weib“ Speise und Trank zu sich nahm, ärgerte er sich über ihre „Misgestalt,“ ließ „ihre Kammer von der seinigen Trennen“ und verbannte sie in die hintere „Seite der Burg.“ Die Reaktion des Königs auf die durch ihre Sexualität zum Monstrum gewordenen Frau ist nicht allein Abscheu, sondern auch Furcht vor dem weiblichen Körper und der damit verbundenen Macht über die Erbnachfolge. Im folgenden soll durch den Vergleich der Brieffassung mit dem Entwurf gezeigt werden, daß mit einigen wenigen Veränderungen nicht nur der Ton des Märchens, sondern auch die Intention umgeformt wurden. Das Märchen beginnt mit der Beschreibung des Königreichs, das trotz der Grenze zwischen Zivilisation und ungezähmter Natur durch die friedliche Koexistenz der Welt des Herrschers mit dem Reich der wilden Tiere eine paradisische Landschaft darstellt. Während in der Brieffassung nur die Bären den Fluß überquerten und in den Garten des Königs eindrangen, betont der Entwurf das Miteinanderleben der Bewohner von Menschen- und Tierwelt. Briefmärchen: Hinter der Burg waren schöne Gärten zu seiner Lust erbaut, die waren mit herrlichen Flüssen umgeben und mit dichten Wäldern, die ganz mit wilden Tieren erfüllt waren. Löwen, Tiger hatten ihre Wohnung da, wilde Katzen saßen auf den Bäumen, Füchse und Wölfe sprangen im Dickicht umher, weiße Bären und auch mit goldnem Fell schwammen oft paarweis über die Flüsse und kamen in des Königs Garten. Auf dem Gipfel der Bäume nisteten die Stoßadler, Geier und Falken. Es waren diese Wälder ein wahres Reich der Tiere, welches des Königs seines begrenzte, und war als ihr Eigentum angesehen.
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Heidelberg, 29. April 1808. Handschrift im Freien Deutschen Hochstift, Signatur FDH 7261. Frankfurt a. M., 29. April 1808. Handschrift im Freien Deutschen Hochstift, Signatur FDH 7423.
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Entwurf: Es war einmal ein König der konnte von seiner Burg aus viele Länder übersehen und diese waren alle in seiner Gewallt, hinter der Burg aber waren schöne Gärten zu seiner34 Lust35, die waren mit herrlichen Flüssen um geben, und mit Wäldern darin der König jagen ging mit seinen Getreuen; das edle Wild, es waren da Lewen und Tiger, wilde Kazen saßen auf den Bäumen [,] die Füchse und Wölfen sprangen im Dickicht36 umher die Baeren mit goldnem Fell, und auch weise schwammen oft paarweis über die Flüsse und kamen in des Königs Garten, auf den Gipflen der Baume nisteten die Stoßadler, und es waren diese Walder ein andres reich37 der Thiere, welches dasselbe des Königs begränzte, der König aber nahm ein Weib um ihrer Schönheit willen,38 [...].
Mit der Schilderung des Handlungsraums ist der Charakter des Königs impliziert: der Leser erwartet einen milden und gerechten König, der nicht allein seine Umgebung prägt, sondern auch von ihr geprägt wird. Die eingangs konstruierte utopische Welt wird zunächst durch das Märchenmotiv der schönen Königin bestätigt, zugleich jedoch durch die völlig realistischen Absichten des Königs wieder in Frage gestellt, der sich „ein Weib“ nahm, „um ihrer Schönheit willen, und daß er Kinder bekomme.“ Schönheit und Erbnachfolge – eine Zufügung im Briefmärchen – kennzeichnen den materialistischen und auf das Fortbestehen seines Hauses bedachten Herrscher. Sobald die Frau schwanger ist, wird sie hoch geehrt, da die Nachfolge gesichert scheint. Anders als in den Märchen, in denen die Frau nach der Geburt des Kindes verstummt und in den Hintergrund tritt, oft sogar stirbt, wird die Mutter nun die zentrale Gestalt, um die sich die Erzählung dreht. Die Ausgrenzung der monströsen und zum Gebären unfähigen Frau aus dem Reich der Menschen verlagert ihren Handlungsraum in das Reich der Natur, in dem sie sich ebenfalls als Außenseiterin versteht, da der natürliche Zyklus von Empfängnis und Geburt von den Tieren vorgelebt wird, was sie ständig daran erinnert, daß sie die Liebe des Königs verloren hat und als Frau und Mutter keinen Nachkommen ihres „edlen Stammes“ hervorbringen und erziehen kann. Die Freude über die nach siebenjähriger Schwangerschaft erfolgte Geburt eines Sohnes, „der gleich sam, die Kräfte eines 7jährigen Knaben zu haben schien,“ schlägt jedoch sofort in Schmerz und Trauer um, wenn das Kind der Bärin nachjagt und von ihr in den Wald mitgenommen wird. Der Verlust des Kindes wird demnach nicht durch eine gewalttätige Entführung eines Neugeborenen durch ein wildes Tier herbeigeführt; vielmehr folgt das Kind dem Tier aus seinem neugewonnen Gefühl von Freiheit und Kraft in einer eher spielerischen Geste. Die Geburt von sechs weiteren Kindern, „von welchen eins immer fröhlicher und stärker schien als das andere“ kompensiert wohl den König und sein
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seiner] aus seinem ? danach gestr. Zeit vertreib Lust] über gestr. Zeit vertreib Dickicht] danach gestr. h reich] aus Königreich willen,] danach gestr. das
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Volk für den Verlust des Erstgeborenen, nicht aber die Königin, die über den Verlust des Kindes nicht hinwegzukommen vermag. Bettina änderte hier die Beschreibung der Kinder, von denen im Entwurf „eins immer jünger und schwächer schien als das andere,“ was bedeutet, daß nicht nur die Kräfte der Kinder, sondern auch die der Mutter nachließen. Zusammen mit den sechs Säuglingen wird die Frau zunächst als „Glohrreiche Mutter, vor den König gebracht, der sie mit Ehrenbezeugung, und Freuden aufnahm.“ Während die große Zahl der Kinder die Erbfolge zu sichern und den König mit seiner Frau auszusöhnen schien, trauerte diese weiterhin dem Erstgeborenen nach. In beiden Fassungen erklärt Bettina die mütterliche Liebe und die Trauer um den totgeglaubten Sohn damit, daß für eine Mutter sechs Kinder nicht das verlorene siebte Kind ersetzen können. Während im Briefmärchen die Frau ihre mütterlichen Pflichten zu den sechs Kindern in der täglichen Pflege in der Burg erfüllt und ihre nächtliche Trauer im Reich der wilden Tiere zum Ausdruck bringt, heißt es im Entwurf „sie bekümmert sich auch in ihrem Herzen, ganz wenig, um die andre Kinder, denn allein um diesen, und konnte nicht glauben daß er sey umgekommen.“ Die Analogie mit dem Schäfer, der sich mehr um das verlorene Lamm kümmert als um die ganze Herde, ist nicht allein eine biblische Anspielung, in der das Verhalten der Mutter gerechtfertigt wird, sondern auch eine Anklage, nicht fähig gewesen zu sein, den Sohn vor dem Unheil zu bewahren. Während der Entwurf den Verlust des Kindes als Versagen der von Selbstvorwürfen getriebenen Frau versteht, ist das Motiv der Schuld in der Brieffassung abgeschwächt, indem die mütterliche Liebe und die Trauer um den Sohn als Reaktion über einen Verlust, der den Wert des Abwesenden erhöht, gedeutet wird. Im Gegensatz zum traditionellen Märchen, in dem das Phantastische eine Rolle spielt, ist hier das Außerordentliche auf die siebenjährige Schwangerschaft der Königin beschränkt. Arnim versteht die magische Zahl in ihrer Ambiguität, indem die „böse Sieben,“ die die Königin in sich getragen hat, zugleich auf die mythischen Wurzeln eines Volkes hinweist. Als „Ameisenkönigin, die ihr ganzes Volk geboren,“ verkörpert sie sowohl die Phantastik des Märchens, als auch die Urmutter, die im kollektiven Glauben an Wirklichkeit und Wahrheit verortet ist. Wissen wird nun durch Erzählung, d. h. mündliche Erzählung vermittelt, hier eingebettet in den Schöpfungsmythos einer neuen, d. h. modernen politischen und gesellschaftlichen Ordnung, die aus einem matriarchalischen Model entstanden ist. Die Sprachlosigkeit des von der Bärin aufgezogenen Sohnes kann zwar als außergewöhnlich bezeichnet werden, war jedoch seit der Legende von Romulus und Remus in der Literatur belegt und durch Geschichten von Kindern, die bei wilden Tieren ohne Kontakt zu Menschen aufwuchsen, als sensationelle Begebenheiten verbreitet. Carl Linné führt in seinem Systema Naturae sechs Fälle des homo ferus auf, zu denen „der wilde Peter von Hameln,“ auch „der wilde Peter von Hannover“ (1711–1785) genannt, gezählt wird. In den bei Linné genannten Beispielen handelt es sich meistens um geistig behinderte Kinder ungeklärter Herkunft, die nicht sozialisiert werden konnten und als „Halbmenschen“ entweder zu wissenschaftlichen
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oder schaustellerischen Zwecken mißbraucht wurden.39 Neu ist hier, daß das Motiv des Schweigens nicht auf die Figur eines Ausgestoßenen, sondern auf die Herrscherfigur übertragen ist, wodurch das Recht des primogenitur bewahrt werden kann. Das aus Lessings Parabel der Drei Ringe bekannte Motiv der Gleichheit der Söhne wird hier durch Krone/Ring aufgegriffen und weitergeführt, indem ausdrücklich gesagt wird, daß der König kein Recht hatte, „sein Land zu theilen, oder ihm mehr denn einen Herrn zu geben:“ [...] so lang euer Sinn so rein bleibt wie dieß Gold, und daß Ihr so einig seid, daß Ihr eure Häupter all mögt in diesen Ring fassen und Euch liebend Küssen so mag ich wohl sagen, mein Land hat nur einen Herrn, und obwohl viele Leiber, hat es doch nur einen Geist [...].40
In diese patriarchalische Ordnung, die durch die Selbstwahl des ältesten Sohnes zum König bewahrt bleibt, ist nun die matriarchalische Ordnung der Gleichheit integriert: [...] daher nimt er die Krohn und dreht sie 7fach um sein Haupt, auch riß er mit seiner starken Hand einen Oelbaum aus dem Erdboden, und gab den 6 Brüdern, einem jeden einen Zweig, sich selbst behielt er den Stamm welches heißen soll: Ich bin der Herr! aber Ihr sollt in Frieden mit mir Leben [...].
Mit dem Bild des Baumes und seiner Zweige als organisches Ganzes wird betont, daß die Hierarchie ohne Streit und Machtansprüche der jüngeren Geschwister der natürlichen Ordnung entspricht, in der auch die Tiere des Waldes zusammen leben. Die Abwesenheit des Sohnes und sein Aufwachsen unter den Tieren bedeutet damit keineswegs die Rückkehr eines verlorenen Sohnes aus dem Exil oder der Wildnis, sondern die Heimkehr des durch seine Erfahrungen bereicherten Jünglings, der sich das Recht erworben hat, gerade durch sein Mitund Zusammenleben mit den Tieren eine neue politische und gesellschaftliche Ordnung zu schaffen und sie als Herrscher zu verkörpern. Ruth Bottigheimer hat darauf hingewiesen, daß es meistens die guten Frauen sind, die in den traditionellen Märchen keine Stimme haben, zum Schweigen verurteilt sind, oder durch ihr oft von außen auferlegtes Stummsein eigene Fehltritte sühnen oder Geschwister/Geliebte erlösen können.41 Nach Bottigheimer sind es die bösen Frauen und Männer, die durch ihre Sprachgewalt die Handlung bestimmen und Macht über die anderen ausüben. Während die guten Frauen eher das Opfer sind, werden böse Frauen zu Tätern. Dem wäre entgegenzuhalten, daß in den Märchen gerade Frauen zu alternativen Mitteln greifen, um handeln zu können und damit die dominierenden Gesellschaftsstrukturen zu
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Carl Linné: Systema Naturae per Regna Tria Naturae, Secundum Classes, Ordines, Genera, Species, cum Characteribus, Differentiis, Synonymis, Locis. T. I. 10. Aufl. Holmiae: Salvius 1758, p. 20. Handschrift FDH 7424. Ruth Bottigheimer: Grimm’s Bad Girls and Bold Boys: The Moral and Social Vision of the Tales. New Haven, London: Yale University Press 1989. Vgl. besonders Patterns of Speech, ebd., S. 51–56; Paradigms for Powerlessness, ebd., S. 72–80.
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unterlaufen. So gehorcht wohl Gretel anfangs Hänsels Gebot „Sei still, Gretel;“ im zweiten Teil wird sie jedoch die Tätige, indem sie Hänsel den Knochen gibt, die Hexe überlistet und ihren Bruder befreit. Indem die Gestik des stummen Herrschers sofort verstanden wird und er als Machtperson Anerkennung findet, verarbeitet Bettina Motive des traditionellen Märchens, rückt aber den Königssohn in die Nähe der stummen aber starken Frauen, die alternative Kommunikationsformen finden, um sich zu verständigen. Im Gegensatz zu den Märchen, in denen diese alternativen Normen der Kommunikation auf die „Eingeweihten“ der Leserschaft beschränkt bleibt, ist die gegenseitige Kommunikation der Handelnden im Königssohn ohne Zwischenträger möglich. Alle verstehen den Neuankömmling, der natürlich und ohne Gewaltanwendung seinen Platz als Herrscher eines Volkes einnimmt. Gestik und Körpersprache werden somit eine wichtige Komponente der weiblichen – und hier auch männlichen – Performanz, die nicht geschlechtsspezifisch bleibt, sondern auf die beiden Geschlechter anwendbar ist. Bettina rückt mit ihrem Modell einer neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung in die Nähe der englischen Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, die in ihrem bahnbrechenden Werk A Vindication of the Rights of Woman für eine neue Perspektive plädierte, die nicht allein die Stellung der Frau in der Gesellschaft betraf, sondern auch eine grundlegende Veränderung des Verständnisses und der Erwartung des Mannes mit einbezog. Der Anspruch auf Gleichberechtigung bedeutete somit die Anerkennung der Frau auf intellektueller und sozialer Ebene aber auch in ihrer Weiblichkeit. In A Vindication of the Rights of Woman betont Wollstonecraft immer wieder ihre weibliche Perspektive, wenn sie ausdrücklich auf „my sex“ rekurriert, um ihr Argument zu befürworten. Während Wollstonecraft im philosophischen Diskurs ihre Stimme fand, wählte Bettina die ihr persönlich angemessene Ausdruckform des Erzählens, das, eingebettet in die Form des Briefes diskursiv bleibt, da sie im Dialog mit Arnim ihre Ideen in der von ihr beanspruchten Spontaneität aussprechen, d. h. ausschreiben kann. Wie Wollstonecraft sieht auch Bettina die Moderne nicht in der Zerstörung der Traditionen, sondern in der Änderung der Normen und der systemischen Strukturen innerhalb der Kulturen. Angela Carters Um-Schreibung des Blaubartmärchens in The Bloody Chamber oder The Tiger’s Bride problematisiert die Synonymität von Unschuld als das weibliche Nicht-Wissen-Wollen von Sexualität. Indem sie die kulturell determinierten Normen der Geschlechterbeziehungen in Frage stellt, legt sie die systemischen Strukturen von männlicher Dominanz und weiblicher Unterwerfung frei und definiert sie neu in der asexuellen Menage a trois des Klavierstimmers mit Mutter und Tochter (The Bloody Chamber) oder der „Freilassung“ der tierischen Natur in der Umwandlung der Frau in eine Tigerin (Tiger’s Bride). In Margaret Atwoods Bluebeard’s Egg, der Um-Schreibung des Grimmschen Märchens Fitschers Vogel, wird die Thematik von Blaubarts Geheimnis umgekehrt, da nun das Ei – traditionell mit der Fruchtbarkeit der Frau assoziiert – umgedeutet ist in die Glätte und Undurchsichtigkeit des Mannes, die die Frau nicht zu hinterfragen wagt, da sie die Wahrheit nicht wissen will. Während
„Und er ward ein König über Thiere und Menschen“
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Bettina noch für eine Integration der männlichen und weiblichen Handlungsräume plädieren kann, dekonstruieren Carter und Atwood die traditionellen Vorstellungen von weiblicher und männlicher Identität, indem sie eine Subjektivität beschreiben, die die Begriffe von „männlich“ und „weiblich“ aus sich selbst heraus bestimmt und damit die kulturell und sozial determinierten geschlechterspezifischen Normen neu definiert. Im Gegensatz zu den feministischen Autoren des 20. Jahrhunderts geht es Bettina nicht um die Selbstbestimmung der weiblichen Hauptfigur oder um das Phantastische; es geht ihr vielmehr darum, eine ihr selbst gemäße Form des Erzählens und Schreibens zu finden. Wie ihre Briefromane ist auch ihr Briefmärchen keiner normativen Kategorie zuzuordnen und steht mit Recht am Anfang einer Tradition des weiblichen Schreibens, das aus ihrer Individualität und Subjektivität hervorgeht.
Petra Maisak
Bettina von Arnim als Zeichnerin Oder der Versuch, alte Bilder in eine neue Mythologie zu verwandeln
„Meine Seele ringt nach allen Seiten, es ist nichts was sie nicht als Mittel ergreift sich auszusprechen Musick und Kunst und Sprache und die Liebe alles mögte ich innerhalb meiner Grenzen bringen, ich mögte es beherrschen ausgenommen die Liebe die soll mich beherrschen [...]“, schreibt Bettina von Arnim in treffender Selbstbetrachtung an den Fürsten Pückler-Muskau.1 Ihre Kreativität manifestiert sich als unaufhaltsamer, mitreißender Fluß, der jedes Medium in Kunst und Leben zu erfassen, durchdringen und transformieren sucht. Die frühromantische Idee einer „Poetisierung der Welt“ schlägt sich bei Bettina in allen Bereichen nieder, getragen vom Streben nach enthusiastischer Liebe als Lebens- und Ausdrucksform. Sie eignet sich Masken und Rollenspiele an, um ihr Ideal zumindest im ästhetischen Vorschein zu verwirklichen, und erfindet dazu ein kohärentes System von Zeichen und Bildern. Ein Feuerwerk von Sprachbildern entsteht auf diese Weise, aber auch eine besondere Bildsprache, die sich an Bettinas Zeichnungen ablesen läßt. Ihr Zeichnen dient nicht der deskriptiven Abbildung von Realität, sondern, ganz im Sinn der Romantik, als „Hieroglyphenschrift“, der Bettina eine tiefere Bedeutung beilegt. In Goethes Briefwechsel mit einem Kinde definiert sie die Kunst als Medium der Transzendenz und charakterisiert dergestalt ihre eigenen Bestrebungen: „Offenbarung des Geistes in den Sinnen ist die Kunst [...] Was die Menschen in der Kunst zusammentragen, was sie hervorbringen, [...] immer ist es ein Buchstabieren des göttlichen Es werde“.2 So versucht auch Bettina in einem fortgesetzten schöpferischen Prozeß zwischen Geist und Materie zu vermitteln; ihre Bilderfindungen sind als Chiffren zu verstehen, die diesen Prozeß anschaulich machen. Wenn Friedrich Schlegel im Athenäum klagt, es fehle der Poesie – und damit auch der Kunst in ihrer Gesamtheit – an einem Mittelpunkt, der nach dem Verlust der alten nur durch eine neue Mythologie wieder zu konstituieren sei, so verinnerlicht Bettina dieses frühromantische Postulat und trägt ihm mit ihren mythopoetischen Schöpfungen Rechnung. Ihre Bilder sind eine eigenwillige Replik auf Schlegels Diktum: „Und was ist jede schöne Mytho-
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Im April 1832; Bettine von Arnim / Hermann von Pückler-Muskau: „Die Leidenschaft ist der Schlüssel zur Welt“. Briefwechsel 1832–1844. Hrsg. und erläutert von Enid Gajek und Bernhard Gajek. Stuttgart: Cotta 2001, S. 75. Bettina von Arnim. Werke 1. Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Hrsg. von Heinz Härtl. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1986, S. 404. Heinz Härtl und seiner Ausgabe verdanke ich wichtige Impulse für die Bearbeitung der Zeichnungen Bettina von Arnims.
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Petra Maisak
logie anders als ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in dieser Verklärung von Phantasie und Liebe?“3 Bettina von Arnim besaß nicht die genuine, durchschlagende Begabung der bildenden Künstler, die sie bewunderte, eines Schinkel, Runge oder Blechen. Ebensowenig besaß sie die handwerkliche Solidität eines ‚Kleinmeisters‘ wie Carl Funke, der ihren Entwurf des Goethe-Denkmals im Kupferstich reproduzierte. Ihre Zeichentechnik blieb immer dem Dilettantismus verhaftet, doch etwas anderes prädestinierte sie zur Künstlerin: ihre Phantasie als unerschöpfliche Quelle der Inspiration und ihr Wille zur Form, zur Gestaltgebung dieser Phantasie. Immer wieder finden sich Äußerungen, mit denen Bettina ihre besondere Stellung als angeblich ganz ungeschultes ‚Naturkind‘ im Reich der professionellen Künstler verteidigt und gerade die amateurhaften Schwächen ihrer Technik zum Markenzeichen erhebt. Das Zeitalter der Aufklärung hatte ein umfassendes Bildungsideal etabliert, zu dem als integraler Bestand auch die Ausübung der schönen Künste gehörte; diesem Ideal zumindest als Liebhaber, als Dilettant nahe zu kommen, galt als Grundlage einer glückenden Lebensführung. Wie so viele Kinder aus gutem Haus zeichnete Bettina von früh an, eifrig dazu angehalten von ihrem Bruder Clemens Brentano,4 der selbst als Zeichner dilettierte. Der berühmteste Zeitgenosse, der eine Doppelbegabung auf dem Feld der Sprache und Bildkunst aufwies, war Goethe, und es ist nicht auszuschließen, daß Bettina auch hierin dem verehrten Meister nachzueifern suchte. Doch gerade Goethe gegenüber verleugnete sie ihre langjährige Zeichenübung und stellte sich als Naturtalent dar, das nur aus dem eigenen Ingenium zu schöpfen brauchte.5 Auf keinen Fall wollte sie mit dem akademischen Kanon oder der geistlosen Formelhaftigkeit des Kunstbetriebs in Verbindung gebracht werden. Originalität war für Bettina eine unabdingbare Voraussetzung, um Bilder zu erfinden, die als Bausteine zu einer neuen Mythologie dienen konnten. Dazu kam als weiterer Faktor ein synkretistisches Spiel mit den hergebrachten Formen der antiken Mythologie, die sie – wie es Karl Philipp Moritz in seiner Götterlehre 1791 formuliert – als ‚Sprache der Phantasie‘ verstand, bei der sich die Menschenwelt in der Welt der Götter
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Athenäum. Eine Zeitschrift 1798–1800 von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Bd. 2, bearb. von Curt Grützmacher. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. 177. So stellt Bettina es jedenfalls im Frühlingskranz dar. Schon im ersten Brief von Clemens heißt es: „Sei fleißig in der Musik und Zeichnung, es sind die unschuldigsten Organe der Schönheit“; Bettina von Arnim. Werke 2. Die Günderode. Clemens Brentanos Frühlingskranz. Hrsg. von Heinz Härtl. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1989, S. 481. Vom Zeichnen ist in der Korrespondenz noch öfters die Rede, z. B. S. 509. In Bezug auf ihren Entwurf des Goethe-Denkmals schreibt Bettina: „beifolgende Zeichnung gebe Dir einen Beweis von dem, was Inspiration vermag ohne Übung der Kunst, denn ich habe nie gezeichnet oder gemalt, sondern nur immer den Künstlern zugesehen und mich gewundert über ihre beharrliche Ausdauer in der Beschränkung, indem sie nur das achten, was einmal Sprachgebrauch in der Kunst geworden, und wohl das gedankenlose Wort achten, nie aber den Gedanken, der erst das Wort heiligen soll“; Härtl 1986 (a. a. O., Anm. 2), S. 422f.
Bettina von Arnim als Zeichnerin
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spiegelt. Eine Ausgabe der Götterlehre hatte Bettina von Clemens Brentano erhalten; Motive aus diesem anregenden Kompendium lassen sich in ihren Zeichnungen nachweisen. Zahlreiche Selbstaussagen und Zeugnisse von Zeitgenossen geben Aufschluß über Bettina von Arnims Zeichentätigkeit. Konkreten Einblick in ihr künstlerisches Verfahren bieten die eigenhändigen Blätter, die sich erhalten haben.6 Vorzugsweise legte sie ihre Entwürfe auf einer Schiefertafel an, so daß Veränderungen leicht zu bewerkstelligen waren. Trotz ihrer beharrlichen Versicherungen, ganz eigenständig, gewissermaßen im Wildwuchs und künstlerischen Freiraum zu arbeiten, bediente sie sich gern professioneller Hilfe, um ihren Kompositionen eine bessere Form zu geben. Achim von Arnim erzählt sie beispielsweise, daß der Maler Karl Wilhelm Wach, ein einflußreicher Lehrer der Berliner Akademie, sie beim Entwurf ihres Goethe-Denkmals tatkräftig unterstützt habe: „Wach war sogar so gut Abends spät noch zu mir zu kommen und daran zu korrigieren, und ich kann nicht läugnen daß es durch seinen Rath unendlich gewonnen“.7 Auch Karl Friedrich Schinkel, mit dem sie in regem Austausch stand, ist sicher manche Korrektur ihrer Zeichnungen zu danken. In seinem Nachlaß haben sich Zeichnungen Bettina von Arnims gefunden, die stark von seinem Duktus beeinflußt sind.8 Bettina von Arnim hat ihre Bilderfindungen wieder und wieder bearbeitet, auf transparentes Pauspapier übertragen, kopiert, modifiziert und neu zusammengesetzt. Die Serienproduktion mit Versatzstücken und Kopien bedeutete in ihren Augen keinen Qualitätsverlust, sondern eine Steigerung ihrer künstlerischen Möglichkeiten. Aus diesem Prozeß bildet sich ein Repertoire an Motiven und Bildzeichen heraus, die mit einem bestimmten Sinn unterlegt sind und wie Buchstaben aus einem Alphabet in unterschiedlichem Kontext verwendet und dementsprechend ‚gelesen‘ werden können. Ihren Kristallisationspunkt finden diese Module in zwei großen, äußerst ambitionierten Projekten: in Bettinas Entwürfen für ein Goethe-Denkmal und für das König Ludwig I. von Bayern gewidmete Octoberfest. Die Pläne für das Goethe-Denkmal reichen bis in den Sommer 1822 zurück, nehmen 1823 konkrete Form an und werden noch Jahrzehnte lang weiter verfolgt. Goethe wird als thronender Olympier dargestellt, zwischen dessen Knien
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Neben der Klassik Stiftung Weimar besitzt das Freie Deutsche Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum einen gewichtigen Bestand; vgl. dazu Petra Maisak: Alltag und Apotheose. Bettines Umgang mit der bildenden Kunst. In: Bettine von Arnim 1785–1859, Katalog des Freien Deutschen Hochstifts – Frankfurter Goethe-Museums. Hrsg. von Christoph Perels. Frankfurt a. M. 1985, S. 202–224, sowie dies.: Dies Bild gehört dem König. Bettine von Arnim und ihre Töchter zwischen Salon, Kunst und preußischem Hof. In: Preußen. Die Kunst und das Individuum. Beiträge gewidmet Helmut Börsch-Supan. Hrsg. von Hans Dickel und Christoph Martin Vogtherr. Berlin: Akademie-Verlag 2003, S. 261–282. Am 16. November 1823; Bettine von Arnim: Werke und Briefe. Hrsg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff, Bd. 4: Briefe. Hrsg. von Heinz Härtl, Ulrike Landfester und Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2004, S. 231. Vgl. Helmut Börsch-Supan: Bild-Erfindungen (= Karl Friedrich Schinkel. Lebenswerk, Bd. XX), München, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2007, S. 632f.
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Petra Maisak
die kindliche Psyche mit Schmetterlingsflügeln – ein weithin bekannter Rollenentwurf Bettinas – in die Leier greift.9 Den Thron sollten Reliefs schmücken, in die Bettina weitere Rollenbilder wie Mignon aus Wilhelm Meister und die „kindliche Mänade“ aus den Venezianischen Epigrammen integriert. Auf der Rückseite sollte ein Basrelief des „Sonnenweibs“ zwischen Aloe-Stauden prangen.10 Im Lauf der Zeit schmückte Bettina ihren Entwurf des GoetheDenkmals immer üppiger aus und ersann einen prunkvollen Unterbau mit einem Fries von Basreliefs, für die sie Motive aus dem Octoberfest verwendete und daraus kurzerhand einen ‚Triumphzug zum Dichterkönig‘ generierte. Am Octoberfest arbeitete sie seit 1827.11 1830 überreichte sie dem bayerischen Königspaar in Bad Brückenau die „Mächtige große Zeichnung [...] die über 3 Bogen Papier hinausreicht“.12 Sulpiz Boisserée sah die Komposition am 12. August 1830: „Großes Basrelief im antiken Stil das October-Fest von München vorstellend, unbegreifliche schöne Anordnung und großer Reichtum von Gedanken und Gruppen. Ich söhne mich über dieser Zeichnung fast mit dem wunderlichen Wesen aus“.13 Auf den kaum zu überschätzenden Einfluß, den Schinkel, insbesondere durch seine Entwürfe für die Fresken im Neuen Museum, auf die Zeichnerin Bettina ausübte, wurde bereits hingewiesen. Noch nicht gesehen wurde bisher die große Affinität des Octoberfests zu Schinkels Umrißzeichnung Heimkehr des Königs aus dem Krieg, die zu den um 1827 entstandenen Entwürfen für einen Zyklus idealer Darstellungen aus der Geschichte der Befreiungskriege gehört.14 Die langgestreckte basreliefartige Komposition mit dem Zug der antikisch gestalteten, allegorisch aufgeladenen Figuren muß Bettina bekannt gewesen sein. Wie inspirierend ihr Octoberfest wiederum auf Schinkel wirkte, belegt die Adaption des Motivs des thronenden Königs mit Ganymed an seiner Seite im Entwurf der Götterversammlung für die GoetheGalerie im Weimarer Schloß, der um 1835/40 entstand, allerdings nicht zur Ausführung kam.15
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Bettina beschreibt ihren Entwurf ausführlich in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde; Härtl 1986 (a. a. O., Anm. 2), S. 423f. Zu ihrer Selbstinszenierung als Psyche vgl. Christiane Holm: Amor und Psyche. Die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765–1840), München, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006, S. 226– 231, sowie Wolfgang Bunzel: „Die Welt umwälzen“. Bettine von Arnim. Hrsg. vom Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. Frankfurt a. M. 2009, S. 46ff. Abb. bei Bunzel 2009, S. 75; Entwurfszeichnung im Freien Deutschen Hochstift. Vgl. Petra Maisak: Bettine von Arnims „Octoberfest“. Idee, Genese und Rekonstruktion. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1990, S. 184–217. Die Entwurfszeichnungen befinden sich im Hochstift. An Meline von Guaita im Oktober 1827; Bettine Briefe (a. a. O., Anm. 7), S. 274. Sulpiz Boisserée: Tagebücher. Hrsg. von Hans-J. Weitz, Bd. II (1823–1834), Darmstadt: Roether 1981, S. 498. Vgl. Börsch-Supan 2007 (a. a. O., Anm. 8), S. 478f. (mit Abb. 294,3). Vgl. ebd., S. 524–534 (mit Abb. 328, 2a).
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Blatt 1a: Psyche. Zwei Figurenstudien zum Goethe-Denkmal.
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Blatt 1b: Genius der Bildhauerkunst.
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Blatt 2: Amor und Psyche über einer Weinlaube mit Genien.
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Blatt 3: Knabe mit Eule.
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Blatt 4: Die Nacht mit ihren Kindern.
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Blatt 5: Doppelgruppe von Venus und Amor.
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Blatt 6: Die Nacht mit ihren Kindern (Abschreibung).
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Blatt 7a und b: Figurenstudien eines Paares.
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Blatt 8: Mythischer König.
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Blatt 9: Trunkene Bacchantin.
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Blatt 10: Reiterzug.
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Blatt 11: Reiter im Kampf (Abschreibung).
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Blatt 12: Meeresnymphe und Genius (Abschreibung).
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Blatt 13: Verherrlichung der Dichtkunst.
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Bettina von Arnim als Zeichnerin
Blatt 14: Verherrlichung der Dichtkunst.
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Blatt 15: Studienblatt mit Genien.
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Blatt 16: Seitenansicht des Goethe-Denkmals (Abschreibung).
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Die Bettina zugeschriebenen Zeichnungen aus dem Nachlaß Forbes-Mosse Das Freie Deutsche Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum besitzt mehrere Konvolute mit Zeichnungen Bettina von Arnims aus dem Nachlaß ihrer Töchter, die einen repräsentativen Überblick über ihr bildkünstlerisches Schaffen bieten. Erstmals soll hier eine Serie von 16 Blättern vorgestellt werden, die traditionell Bettina zugeschrieben und bislang nur vereinzelt veröffentlicht wurden. Sie gehören zu einer Folge von insgesamt 64 Arbeiten der Arnim-Familie, insbesondere der Töchter Maximiliane, Armgart und Gisela von Arnim sowie von Herman Grimm und anderen. Aufbewahrt werden sie in einer mit geblümtem schwarzem Stoff bezogenen Kassette (Inv. Nr. IV–1960–13, Nr. 16, Blatt 1–64), die zusammen mit Alben, Erinnerungsstücken und Bildern,16 insbesondere aber mit Hunderten von Handschriften17 aus dem Nachlaß von Irene Forbes-Mosse ans Hochstift gelangte. Irene Forbes-Mosse (1864–1946), die sich als Schriftstellerin einen Namen machte, war die Enkelin Bettinas und die Tochter von Armgart und Albert Graf von Flemming, dem preußischen Gesandten am badischen Hof. Ihre ältere Schwester war die Schriftstellerin Elisabeth von Heyking geb. Flemming. Irene heiratete 1884 ihren Cousin, den preußischen Rittmeister Roderich Graf von Oriola, von dem sie 1895 geschieden wurde. 1896 ging sie eine zweite Ehe mit dem englischen Oberst John Forbes-Mosse ein und lebte mit ihm bis zu seinem Tod 1904 in Florenz. Hier begann ihre schriftstellerische Tätigkeit. Ab 1931 wohnte Irene Forbes-Mosse mit ihrer Freundin Berthy Moser in Villeneuve am Genfersee, wo sie im Dezember 1946 starb. Im November 1960 übergab Berthy Moser den sorgfältig gehüteten Nachlaß der Arnim-Nachfahrin dem Freien Deutschen Hochstift. Schon 1935 hatte Irene Forbes-Mosse dem Hochstift Carl Johann Arnolds großes, postum entstandenes Pastellporträt der Bettina von Arnim sowie diverse Erinnerungsstücke geschenkt. Die 64 Blätter der geblümten Kassette wurden von unterschiedlicher Hand – nicht von Bettina – beschriftet und durchnumeriert. Dabei fallen zwei verschiedene Zählungen auf, die belegen, daß die ursprüngliche Anordnung geändert und Arbeiten aus anderen Kontexten integriert wurden. Dafür spricht auch das uneinheitliche Format der Untersatzkartons, auf den die Zeichnungen montiert wurden. Die jetzige, wahrscheinlich von Irene Forbes-Mosse vorgenommene Anordnung beginnt mit den 16 Bettina zugeschriebenen Blättern, die in der Folge vorgestellt werden sollen. Abgesehen von einer Radierung handelt es sich um Zeichnungen, die sorgfältig auf dickeres Papier bzw. Karton aufgezogen
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Kunstsammlungen, Inv. Nr. IV–1960–13/1–22; Kassette: IV–1960–13/16. Handschriften-Sammlung, Inv. Nr. II–14083–15100, 15429–15509, 15512–15515, 15704– 15715, darunter zahlreiche Briefen von und an Achim und Bettina von Arnim, die Töchter, Herman Grimm, die Brentano-Familie, Carl Friedrich und Gunda von Savigny, Joseph Joachim, Franz Liszt, sowie König Friedrich Wilhelm von Preußen. An KünstlerKorrespondenz sind Briefe von Adolph Menzel, Bertel Thorvaldsen, Peter Cornelius und den Schwestern Bardua zu nennen.
Bettina von Arnim als Zeichnerin
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und mit Rahmungslinien versehen wurden. Auf Blatt 1 und Blatt 7 sind jeweils zwei Zeichnungen montiert. Blatt 1a Psyche. Zwei Figurenstudien zum Goethe-Denkmal (Abb. S. 149) Bez. auf dem Untersatzkarton u. l.: „zum Goethedenkmal / Psyche“; u. r.: „Bettine“; o. l.: „15“; o. r.: „1“. Umrißzeichnung in Graphit, teilweise durchgepaust, auf transparentem Papier, auf hellen Karton kaschiert und auf grauen Untersatzkarton montiert, mit Rahmungslinien aus Tusche. Zeichnung: 18,6 x 9,7 cm; Untersatzkarton für 1a + 1b: 40,1 x 50,5 cm Die beiden Skizzen der Psyche für das Goethe-Denkmal veranschaulichen Bettinas Arbeitsweise: Bei beiden wird dieselbe Vorlage durchgezeichnet und in mehr oder weniger ausführlicher Durchformung modifiziert. Bei beiden fehlt noch die Leier; die Arme greifen ins Leere. Die obere Figur besitzt als obligatorisches Attribut der Psyche bereits die kleinen, Schmetterlingsflügel und weist die maskenhafte Stilisierung des Gesichts auf, die für Bettinas Gestalten so typisch ist. Bei der unteren Figur wird die Andeutung weiblicher Rundungen so weit zurückgenommen, daß sie völlig geschlechtslos und kindlich erscheint. Ein Hinweis auf dieses Verfahren findet sich im Brief Bettinas an Achim von Arnim vom 7. Januar 1823: „Zeichnen thue ich nur mäßig heute hab ich der Psyche ein gut Theil von ihrem Hintern hinweg genommen und sie dadurch verschönert [...] erzähle dem Schinckel von meiner großen Kunstanlage und wie ich mirs sauer werden lasse“.18 Der Mythos von Amor und Psyche erfreute sich während des Klassizismus im Rückgriff auf die Antike und auf Raffaels Fresken in der Farnesina größter Beliebtheit; formale Vorbilder waren allerorten zu finden. Es gab Skulpturen von Canova, Thorvaldsen, Dannecker und Rauch, Kupferstiche in Almanachen und Produkte des Kunsthandwerks. Eine Zusammenstellung antiker Vorbilder, von Gemmen bis zur kanonbildenden Kapitolinischen Gruppe liefert Hirt auf einer Kupfertafel in seinem Bilderbuch für Mythologie.19 Auch in der Götterlehre von Moritz wird der Mythos von Amor und Psyche besprochen und mit einer Vignette nach Carstens illustriert. „Unter der Psyche, mit Schmetterlingsflügeln abgebildet, dachte man sich gleichsam ein zartes geistiges Wesen“,20 erklärt Moritz, und Bettina knüpft an diese Abgrenzung vom konventionellen
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Bettine Briefe (a. a. O., Anm. 7), S. 223. Aloys Hirt: Bilderbuch für Mythologie, Archäologie und Kunst, Heft 2. Die Untergötter und Dämonen. Berlin, Leipzig: Nauck 1816, S. 222f. und Tafel 32. Daß Bettina den „weitberühmten Hirt“ kennt, belegt ihr Brief vom 3. Februar 1824; (a. a. O., Anm. 7), S. 232. Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Mit Abbildungen nach antiken geschnittenen Steinen und anderen Denkmälern des Altertums [nach Zeichnungen von Asmus Jakob Carstens], Reprint, Frankfurt a. M.: Insel 1979, S. 291 (mit Abb.).
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emblematisch-allegorischen Gebrauch des Bildes an, wenn sie konstatiert: „Die Psyche ist keine Allegorie, sie ist Geist in dem alles zerfließt durch die Sinne“.21 Blatt 1b Genius der Bildhauerkunst (Abb. S. 150) Alle Angaben wie Blatt 1a. Der nackte Jüngling mit Hammer und Meißel, den Attributen des Bildhauers, ist aus dem Octoberfest von 1830 bekannt. Dort stellt Bettina die Landung eines Nachens mit der Personifikation der schönen Künste dar. Zu der Dreiergruppe der bildenden Kunst gehören – neben dem Bildhauer – der Maler mit der Palette sowie der Baumeister mit dem Zirkel. 1833 plante Bettina, das Octoberfest durch einen professionellen Kupferstecher reproduzieren zu lassen und nahm im Hinblick auf dieses letztlich gescheiterte Projekt gründliche Korrekturen vor, insbesondere bei den Repräsentanten der Kunst im Nachen: „jede einzelne Figur gehe ich nach der Natur durch; [...] die Buckelichen im Schiff haben schon tüchtig Hobelspäne gelassen“.22 In diesem Zusammenhang wird auch die Zeichnung entstanden sein. Mit ihrem Genius knüpft Bettina an traditionelle ikonographische Muster an; so verfügt etwa Karl Wilhelm Ramler: „Die Bildhauerkunst wird mit Meißel und Hammer abgebildet“ und rät, sie gemeinsam mit Bau- und Malerkunst darzustellen.23 Die nach dem klassischen Ideal geformte Aktfigur des Bildhauers erinnert mit ihrem anmutigen Kontrapost und dem hochgezogenen Arm an die rechte Jünglingsfigur der antiken Ildefonso-Gruppe. Diese wurde von Winckelmann als Doppelstandbild des Orest und Pylades interpretiert, von Lessing dagegen als die Personifikation von Schlaf und Tod, Hypnos und Thanatos, da der rechte Jüngling zwei Fackeln trägt. Bettina variiert die Haltung der Arme, macht aus den Fackeln die Werkzeuge des Bildhauers und aus dem Kranz eine Mütze. Die berühmte Gruppe war als Abguß in Goethes Treppenhaus am Frauenplan ebenso präsent wie im Park von Sanssouci oder im Schloß Charlottenburg und überdies durch zahllose Repliken in allen Größen und Materialien verbreitet. Viele klassizistische Bildhauer von Canova über Schadow bis Thorvaldsen wurden von ihr zu eigenen Werken inspiriert. Blatt 2 Amor und Psyche über einer Weinlaube mit Genien (Abb. S. 151) Bez. auf dem Untersatzkarton u. l.: „vermutlich Goethedenkmal / Zeichnung im Besitz von Stephanie von Raumer“; o. l.: „48“; u. r.: „Bettine“ und „2“. Zeichnung in Graphit, teilweise durchgepaust, mit segmentbogenförmigem Abschluß, auf transparentem Papier, auf grauen Untersatzkarton montiert, mit Rahmungs-
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An Clemens Brentano, 26. Mai 1837; Bettine Briefe (a. a. O., Anm. 7), S. 314. Am 16. Februar 1833 an Siegmund von Arnim; ebd., S. 292. Karl Wilhelm Ramler: Allegorische Personen zum Gebrauche der bildenden Künstler, mit Kupfern von Bernhard Rode. Berlin: Verlag der Akademischen Kunst- und Buchhandlung 1788, S. 65.
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linien aus schwarzem Glanzpapier und Goldpapier. Zeichnung: 24 x 20 cm, Untersatzkarton 52,8 x 41,2 cm Die ungewöhnliche Darstellung vereint die Aktfiguren von Amor (rechts) und Psyche (links) mit fünf kindlichen Figuren oder Genien in einer dichten Weinlaube zu Füßen des Paars. Psyche erscheint als Mädchen mit weiblichen Formen, kleinen Schmetterlingsflügeln und einem am Hals gerafften langen Umhang. Sie faßt Amor, der sich abwendet, an der Schulter, als wolle sie ihn zurückhalten. Amor, ein deutlich größerer und nur bis zum Knie sichtbarer Jüngling, breitet die Schwingen aus und hält, sich entblößend, in Hüfthöhe ein geöffnetes Tuch. In der mit Früchten und Trauben behängten Laube kniet links Amor mit dem Bogen, in der Mitte sitzt ein eng aneinander geschmiegtes Paar auf einer kleinen Bank, rechts kauert ein sich küssendes Paar. Der Einfluß der Kupferstichfolge der Zeiten von Philipp Otto Runge, die auch in Bettinas Besitz war,24 ist unverkennbar. Im Zentrum von Runges Komposition Der Tag steht eine Laube mit kindlichen Genien; zwei weitere schweben darüber. Von welcher Bedeutung Runge für Clemens Brentano sowie für Achim und Bettina von Arnim war, muß hier nicht wiederholt werden. Versucht man die Zeichnung in Bettinas Werk einzuordnen, finden sich Anhaltspunkte in ihrer Korrespondenz mit Schinkel. Jener schreibt Bettina am 29. September 1837, er sei im Besitz ihrer Zeichnung „der Traum aus Faust“, und sie gibt eine Schilderung dieses Bildes, das sie zur Ansicht wünscht: „Kleine Kinder die in Lauben von Trauben sitzen worüber zwei Figuren schweben, aber in Laub verschlungen wieder kleine Genien p. p. – diese Zeichnung hatte ich einst die Kühnheit Ihnen zum Geburtstag 13 März zu senden“.25 Die Motive entsprechen der vorliegenden Zeichnung zumindest in Grundzügen; es dürfte sich um eine der Kompositionen handeln, die sie mehrfach variierte. Der Titel Der Traum aus Faust verweist auf die Studierzimmer-Szene in Goethes Faust I, wo der Gesang der Geister Faust in den Schlaf wiegt (Vers 1447– 1505): Schwindet, ihr dunkeln Wölbungen droben! [...] Himmlischer Söhne Geistige Schöne, Schwankende Beugung Schwebet vorüber. Sehnende Neigung
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Komplette Folge der 1805 erstmals aufgelegten vier Kupferstiche nach den Zeichnungen Runges mit dem Besitzervermerk Bettina von Arnims im Freien Deutsche Hochstift. Zitiert nach Hartwig Schultz: Kunst und Homöopathie. Unbekannte Briefzeugnisse aus Bettine von Arnims Korrespondenz mit Karl Friedrich und Susanne Schinkel. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft. Forum für die Erforschung von Romantik und Vormärz. Hrsg. von Wolfgang Bunzel und Uwe Lemm, Bd. 20/21, 2008/2009, S. 37–56 (S. 40f.).
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170 Folget hinüber; [...] Flatternde Bänder [...] Decken die Laube, Wo sich fürs Leben Tief in Gedanken, Liebende geben. Laube bei Laube! Sprossende Ranken! Lastende Traube.
Die Zeichnung ist nicht als Illustration zu verstehen, sondern als ein – für Bettina typisches – assoziatives Spiel mit dem Text, dessen Aussage und Stimmung sie in ihre eigene Vorstellungswelt überträgt. Ihre Arbeit an einem Traum aus Faust erwähnt Clemens Brentano schon 1825; das Thema muß sie nachhaltig beschäftigt haben.26 1834 hat auch Schinkel ein Traumbild in Anlehnung an Faust gestaltet, allerdings ein nächtliches, von Dämonen bevölkertes Szenario zum zweiten Teil.27 Blatt 3 Knabe mit Eule (Abb. S. 152) Bez. auf dem Untersatzkarton o. l.: „59“; u. l.: „Bettine“ und „3“. Zeichnung in Graphit, teilweise durchgepaust, auf transparentem Papier, auf hellen Karton kaschiert, darüber Passepartout aus grauen und hellen Papierstreifen, mit Rahmungslinien in Tusche. Zeichnung: 37,5 x 20,4 cm, Untersatzkarton 50,6 x 39,5 cm Das Motiv des über Stand- und Spielbein leicht zurückgelehnten Knaben, der eine Krone hält, ist in mehreren Versionen bekannt und taucht wie Blatt 1b auch in den Entwürfen für das Octoberfest auf. Dort schmiegt der Knabe sich wie ein Ganymed ans Knie des mythischen Königs; eine Durchzeichnung findet sich auf Blatt 8. Auf Blatt 3 lehnt er, nun mit einem lorbeergeschmückten Diadem versehen, in einer rundbogigen Mauernische an einer Säule. Das nestartige Kapitell der Säule, direkt über dem Kopf des Knaben, ist aus Schlangen gebildet. Darauf hockt eine riesige Eule, Sinnbild der Nacht sowie (Minerva zugeordnet) der Weisheit, und hält eine Maus in der Kralle. Eine Vogelschar hat sich im Bereich des Rundbogens niedergelassen, auf dessen Scheitelpunkt ein Nest mit einem Taubenpärchen zu sehen ist, Begleiter der Venus und Sinnbild der Liebe. An beiden Seiten der Nische ranken Weinstöcke mit Trauben, die Attribute des Bacchus. Eine ähnliche, technisch noch verfeinerte und kompositorisch erweiterte Zeichnung befand sich im Besitz von Karl Friedrich Schinkel; das Motiv der Nische mit dem Knaben und der Eule wird hier durch eine felsige Landschaft mit Wasserfall und einem Baum bereichert. Schinkel lobt am 29. September
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Vgl. Maisak 1985 (a. a. O., Anm. 6), S. 212. Vgl. Börsch-Supan 2007 (a. a. O., Anm. 8), Nr. 318, S. 165 (Abb.) und 514.
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1837: „für die vortreffliche Eule mit Buben umher und schönster Landschaft danke ich verbindlichst, in letzterer, welcher Fortschritt!“ Bescheiden und ehrlich (wie sich am Duktus erkennen läßt) wehrt Bettina ab: „Für ihren dank danke ich auch herzlich obschon er mich nicht trift die Eule ist aus einem A.b.c.buch durchgezeichnet die Landschaft ist zwar von mir erfunden, allein der Wasserfall ist von einem Wasser chirurg von allen Hemmungen befreit und endlich auf die Beine gebracht [...]“.28 Bettinas Interpretation der Zeichnung in dem 1848 veröffentlichten Briefroman Ilius Pamphilius legt ihr eigenwilliges mythopoetisches Verfahren offen: „Der junge Knabe in der einsamen Felsnische hält die Krone in der Hand wer also das Bild sieht der will wissen wer er ist. Man sagt, es sei ein Dichter aus dessen Gedicht die Zeichnung entlehnt ist. – Ich die Eule, ohne Falsch wie die Tauben, klug wie die um die Säule sich windenden Schlangen, hab eine Maus gefangen. Der junge Dichter dem alles wie Ideal erscheint hält diese Maus in der Klaue der Eule für Weisheit und sieht nicht daß seine eigne Gedanken diese Unschuldstauben sind, die die finstere Eule umschweben, und daß die Schlangen die Säule magnetisieren und ihr Zauberkraft geben [...]“.29 Blatt 4 Die Nacht mit ihren Kindern (Abb. S. 153) Bez. auf dem Untersatzkarton u. l.: „Goethedenkmal / Nacht / Rückseite des Thrones / Pause nach 6“; u. r.: „Bettine“; o. l.: „49“; o. r.: „4“. Umrißzeichnung in Graphit, teils durchgepaust, auf transparentem Papier, auf hellen Karton kaschiert, mit Rahmungsstreifen aus schwarzem Glanzpapier. Zeichnung: 33,5 x 32 cm, Untersatzkarton 40,6 x 52,8 cm Seit der Antike ist die Darstellung der Nacht „als Nährmutter der Zwillingsknaben, den Schlaf und den Tod, auf den Armen tragend“, bekannt; zuweilen erscheint sie mit einem Mantel und ausgebreiteten Schwingen.30 Dergestalt zeichnet auch Bettina die Gruppe der Nacht mit ihren Kindern. Die Kleinen sitzen mit geschlossenen Augen auf den Knien der Mutter und lehnen sich an ihre Schultern. Kein Attribut zeichnet sie als Schlaf oder Tod aus. Das Haupt der Nacht schmückt ein Kranz mit großen Kapseln des Schlafmohns; ihre gekreuzten Füße ruhen auf einer Wasser speienden Maske in Form der Medusa Rondanini. Sicher kannte Bettina die Vignette der Nacht mit ihren Kindern, die Asmus Jakob Carstens im Konturenstil nach der Beschreibung des Pausanias für die Götterlehre von Karl Philipp Moritz entwarf: Es ist die „Nacht, wie sie den Tod
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Vgl. Hartwig Schultz, Karl Friedrich Schinkel und die Brentano-Geschwister. In: Schinkel und Brentano. Wettstreit der Künstlerfreunde. Hrsg. von Birgit Verwiebe, Katalog der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Dresden: Sandstein 2008, S. 29–50 (S. 46f.), Abb. 12. Bettine von Arnim: Politische Schriften. Hrsg. von Wolfgang Bunzel, Ulrike Landfester, Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt a. M. : Deutscher Klassiker Verlag 1995, S. 575f. Vgl. auch Maisak 2003 (a. a. O., Anm. 6), S. 276. Vgl. Hirt 1816 (a. a. O., Anm. 19), S. 196.
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und den Schlaf in ihren Mantel hüllt und aus einer Felsengrotte zu ihren Füßen die phantastischen Gestalten der Träume hervorblicken [...]. Die Nacht selbst ist, als fruchtbare Gebärerin aller Dinge, in jugendlicher Kraft und Schönheit dargestellt“.31 Die Dämonenfratzen der Träume zu Füßen der Nacht ersetzt Bettina, Carstens an schöner Klassizität überbietend, durch die von Goethe so geschätzte Medusa Rondanini, deren Bild sie ebenfalls in der Götterlehre finden konnte. 1795 griff Carstens das Motiv der Nacht mit ihren Kindern Schlaf und Tod in einer Kreidezeichnung auf, die 1804 durch Carl Ludwig Fernows Vermittlung in die Herzogliche Kunstsammlung zu Weimar gelangte. Möglich, daß Bettina in Weimar dieses herausragende Blatt zu Gesicht bekam. Ein gewisser Einfluß kann auch von Runges Folge der Zeiten ausgegangen sein – mehr noch von der Gruppe der Caritas mit den beiden Kindern im Tag als von der Gestalt der Luna zwischen Mohnblüten in der Nacht und deren Umformung in der Schlußillustration von Clemens Brentanos Märchen Gockel, Hinkel und Gackeleia. Auch Bertel Thorvaldsens 1815 entstandenes und oft reproduziertes Relief der geflügelten Nacht, die Mohnblumen über der Stirn trägt und ihre Kinder im Arm hält, wird Bettina bekannt gewesen sein.32 Bei Runge ist die Nacht in den Zyklus des Werdens und Vergehens eingebunden, und auch Thorvaldsen schuf als Pendant das Relief des Tags. Analog zu diesem zyklischen Denken, das auch Schinkels Entwürfe für die Museumsfresken leitet, könnte Bettina die Nacht mit ihren Kindern als Gegenstück zu dem Sonnenweib entworfen haben, das ihr Goethe-Denkmal schmücken sollte.33 Blatt 5 Doppelgruppe von Venus und Amor (Abb. S. 154) Bez. auf dem Untersatzkarton u. r.: „Bettine“, o. l.: „33“, o. r.: „5“. Radierung auf hellem Papier, auf grauen Untersatzkarton montiert, mit Rahmungslinien aus Goldpapier und schwarzem Glanzpapier. Platte: 25,4 x 39,6 cm; Blatt: 32,6 x 46,9 cm; Untersatzkarton: 40,9 x 52,4 cm Die Radierung gehört zu Bettinas gelungensten und bekanntesten bildkünstlerischen Arbeiten; ein Exemplar mit ihrer Widmung „an Goethe“ befindet sich in der Klassik Stiftung Weimar, ein anderes soll im Besitz des Fürsten PücklerMuskau gewesen sein.34 In der Mittelachse der spiegelsymmetrisch aufgebauten Komposition erhebt sich ein zierlicher Laubbaum mit zahlreichen Vögeln und ihren Nestern, rechts und links davon sitzt jeweils eine weibliche Aktfigur mit
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Vgl. Moritz 1979 (a. a. O., Anm. 20), S. 39f. Vgl. Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770–1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde, Katalog des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, bearb. von Ursula Peters, Nürnberg 1991, S. 562 (mit Abb.). Vgl. Maisak 1985 (a. a. O., Anm. 6), S. 216 und 223; Abb. bei Bunzel 2009 (a. a. O., Anm. 9), S. 75. Bei Gajek 2001 (a. a. O., Anm. 1), Abb. 6 (Ex. der Klassik Stiftung Weimar), wird die Radierung unter dem Titel Amor und Psyche mehrfach als Bettinas Geschenk einer Zeichnung (!) an Pückler erwähnt, allerdings ohne Nachweis, daß es sich dabei wirklich um die fragliche Komposition handelt (Briefe 5, 6, 41, 51, 52).
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einem geflügelten Amor am Boden. Über den Rücken der gut proportionierten Akte fällt ein weiter Umhang, in den auch die Amoretten gehüllt werden. Auf den ausgestreckten Beinen der linken Gestalt kniet Amor, umfaßt von oben ihren Kopf und küßt ihren Mund. Die rechte Gestalt beugt sich zu Amor herunter, zieht ihn zwischen die Knie, umschlingt und küßt ihn. Im Hintergrund wird in höchst sparsamen, aber treffsicheren Linien eine südliche Landschaft mit Bergen und Meeresbuchten evoziert; rechts ist ein winziges Segelschiff zu sehen. Dieser Landschaftshintergrund ist für Bettinas Zeichenmodus ganz uncharakteristisch, so daß wohl eine helfende Hand eingegriffen hat. Vielleicht war es Schinkel, der von seinen beiden Italienreisen zahlreiche Skizzen mitbrachte. Auch die technische Ausführung der Radierung geht – entgegen der ursprünglichen Annahme – sicher nicht auf Bettina selbst, sondern auf einen erfahrenen Stecher zurück. Sowohl bei der Reproduktion ihres Goethe-Denkmals als auch bei den geplanten, aber nicht zustande gekommenen Radierungen nach dem Octoberfest beauftragte sie professionelle Stecher mit dem Druck.35 Die nach klassischem Ideal gebildeten Aktfiguren mit den Amoretten werden zuweilen auch als Doppelgruppe von Amor und Psyche interpretiert, da Bettina sich gern mit diesem Thema auseinandersetzt. Ihren Darstellungen der Psyche verleiht sie jedoch meist eine sehr kindliche Gestalt und vergißt selten die Schmetterlingsflügel. Die Akte der Radierung weisen hingegen reife weibliche Formen auf, die eher für eine Deutung als Venus sprechen. Eine Interpretation der Vögel im Baum als Tauben, die der Venus heilig sind und allgemein als Liebessymbol gelten, unterstützt diese These. Als weiterer Beleg läßt sich Bettinas Zeichnung von Venus, einem schönem Frauenakt, und Amor in einer Weinlaube heranziehen.36 Das Motiv der Venus im zärtlichen Umgang mit Amor besitzt seit der Antike eine lange ikonographische Tradition, an die u. a. Bertel Thorvaldsen in einer Zeichnung und einem Marmorrelief von 1809 anknüpft.37 Verblüffend an Bettinas Adaption des Motivs ist, daß sie die Gruppe verdoppelt, vielleicht in einer sehr freien Variation der Darstellung der himmlischen und der irdischen Liebe. Die Aktfiguren in der Landschaft könnten auch als Nymphen gedeutet werden, deren Darstellung in der Kunst oft von Venus kaum zu unterscheiden ist. Manchmal haben sie statt der üblichen Satyrn Amoretten als Begleiter. Nymphen gehörten zu Bettinas Motivschatz; mit Blatt 5 nicht zu verwechseln ist allerdings ihr „Broullion von den badenden Nymfen“, den sie am 21. August 1830 gegenüber Achim von Arnim erwähnt.38 Dem entspricht eine Komposition mit zahlreichen weiblichen Akten um ein Wasserbecken, zu dem Stufen hinab-
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Vgl. Bettine Briefe (a. a. O., Anm. 7), S. 292. Vgl. Maisak 1985 (a. a. O., Anm. 6), S. 221, S. 210 und Nr. 261. Amor beklagt sich bei Venus über den Stich einer Biene; vgl. Thorvaldsen 1992 (a. a. O., Anm. 32), S. 664f. (mit Abb.). Hier erscheint Venus, nur mit einem Tuch drapiert, im Halbprofil und zieht einen geflügelten Amor mit Lockenkopf zu sich heran; zu ihren Füßen schnäbelt ein Taubenpaar. Vgl. Bettine Briefe (a. a. O., Anm. 7), S. 278.
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führen.39 Eine Durchzeichnung schickt sie Fürst Pückler, der ihr am 14. Januar 1833 launig antwortet: „So bilden Deine Badenden den Fensterschirm in meinem Badezimmer und sehen mich zweymal die Woche nackt“.40 Blatt 6 Die Nacht mit ihren Kindern (Abb. S. 155) Bez. auf dem Untersatzkarton u. l.: „Goethedenkmal / Nacht / Rückseite des Throns“; u. r.: „Bettine“, o. l.: „79“; o. r. „6“. Feder in Braun, auf dünnem bräunlichem Papier, auf hellen Untersatzkarton montiert, mit Rahmungslinien aus Tusche und schwarzem Glanzpapier. Zeichnung: 26,9 x 28,1 cm; Untersatzkarton: 41 x 52,3 cm Eindeutig stammt diese souveräne, mit wenigen flotten Federstrichen skizzierte Zeichnung nicht von Bettina. Wie auf Blatt 4 („Pause nach 6“) vermerkt, handelt es sich bei Blatt 6 um das Vorbild, das sie kopiert, indem sie die professionell ausgeführte Figuration von der Rückseite durchpaust, so daß sie auf Blatt 4 spiegelverkehrt erscheint. Blatt 6 unterscheidet sich noch in weiteren Details von Blatt 4: so weist es statt der Meduse zu Füßen der Nacht eine blütenförmige Arabeske auf, vegetabile Arabesken breiten sich seitlich ihres Kopfes aus und darüber liegt ein Gesims. Das ganze Gebilde erhält auf diese Weise den Anschein einer Konsole oder eines Reliefs, das als Schmuckelement in einem größeren architektonischen Kontext fungiert. In diese Richtung zielt auch der Hinweis auf das Goethe-Denkmal, der sich auf dem Untersatzkarton findet. Für ein Relief an der nischenartig ausgebildeten Rückseite des Throns entwarf Bettina „die Gottheit der Sonne, ein Jünglingsweib“, das von der Erde aufschwebt.41 Die Nacht mit ihren Kindern könnte als Gegenstück zu diesem Sonnenweib geplant worden sein, um den Reliefschmuck des Goethe-Denkmals zu vervollständigen. Blatt 7a Figurenstudie eines Paares (links; Abb. S. 156) Bez. auf dem Untersatzkarton u. r.: „Bettine“; o. l.: „43“; o. r. „7“. Umrißzeichnung in Graphit, teils durchgepaust, auf transparentem Papier, auf hellen Untersatzkarton montiert, mit Rahmungslinie aus schwarzem Glanzpapier. Zeichnung: 33 x 23 cm; Untersatzkarton: 41 x 53 cm Das liebevoll einander zugewandte Paar hat seinen festen Platz in Bettinas zeichnerischem Repertoire. Die beiden Studien auf Blatt 7 demonstrieren ihr Verfahren: 7a zeigt ein frühes Stadium des Entwurfs, in dem nur die Umrißlinien durchgepaust und nachgezogen werden; auffällige Pentimenti am rechten Bein der Frau lassen die Unsicherheit der Strichführung erkennen.
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Unveröffentlichte Graphitzeichnung Bettina von Arnims, Freies Deutsches Hochstift, Inv. Nr. III–13897–10. Gajek 2001 (a. a. O., Anm. 1), S. 192. Bettina 1846 in einem Brief an Varnhagen; vgl. Bunzel 2009 (a. a. O., Anm. 9), S. 75ff. (mit Abb.).
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Blatt 7b Figurenstudie eines Paares (rechts; Abb. S. 156) Bez. wie Blatt 7a. Graphit, gewischt, teils durchgepaust, auf transparentem Papier, Untersatzkarton wie Blatt 7a. Zeichnung: 28,5 x 23 cm Weiter fortgeschritten ist der Entwurf auf 7b, wo Bettina die durchgezeichneten Gestalten kräftiger konturiert und mittels einer Wischtechnik auch plastischer zu modellieren versucht. Anatomie, Proportion und Haltung werden stimmiger, die Gesichter ausdrucksvoller und die Gewänder, die den Körper durchscheinen lassen, in der Art eines antiken Chitons deutlicher ausgeführt. Die Frau trägt einen Schleier, was nach der traditionellen Ikonographie als „Kennzeichen der ehelichen Liebe“ gedeutet werden kann.42 Eine ähnliche Figuration, das Paar unter einem Baum mit Sternenkranz, schenkte Bettina am Neujahrstag 1843 König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen.43 Eine weitere, durch einen Landschaftshintergrund ergänzte Fassung gelangte in den Besitz von Schinkel.44 Sucht man nach einem formalen Vorbild für 7a und 7b, fällt die Affinität zu Asmus Jakob Carstens Graphitzeichnung Hektors Abschied von Andromache von 1797/98 auf: Der in Profilansicht gegebene Hektor beugt sich zu seiner verschleierten Gattin herab und hält mit der Rechten ihre linke Hand. Das Blatt gelangte 1804 in die herzogliche Sammlung zu Weimar.45 Blatt 8 Mythischer König (Abb. S. 157) Bez. auf dem Untersatzkarton u. l.: „Goethedenkmal / antiker Dichterkönig / Stufenunterbau“; u. r.: „Bettine“; o. l.: „66“; o. r. „8“. Graphit, gewischt, teils durchgepaust, auf transparentem Papier, auf hellen Untersatzkarton montiert, mit Rahmungslinie aus schwarzem Glanzpapier. Zeichnung: 28,5 x 43 cm, Untersatzkarton: 41,1 x 52,2 cm Das Motiv des thronenden Königs, den verschiedene Assistenzfiguren umgeben, ist aus dem Mittelteil von Bettinas Octoberfest und zahlreichen Wiederholungen bekannt.46 Auf Blatt 8 zeichnet sie einen Ausschnitt dieser Komposition durch, um sie für ein Basrelief am Piedestal ihres Goethe-Denkmals zu nutzen: Ein antiker Triumphzug sollte sich von zwei Seiten dem „nackten König, hinten am Wasser [dem Monumentalbrunnen] angebracht“, nähern.47 In der Zeichnung erscheint rechts auf einem Thron mit gestuftem Unterbau, Baluster und zeltartiger Draperie der König als männlich-kräftige Aktfigur, die
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Vgl. Ramler 1788 (a. a. O., Anm. 23), S. 56. Vgl. Maisak 2003 (a. a. O., Anm. 6), S. 74f. (mit Abb.). Vgl. Börsch-Supan 2007 (a. a. O., Anm. 8), S. 632f. (mit Abb.). Vgl. den Katalog: Asmus Jakob Carstens. Goethes Erwerbungen für Weimar, bearb. von Renate Barth und Margarete Oppel. Hrsg. vom Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum Schloß Gottorf, Schleswig 1992, Nr. 172 (mit Abb.). Vgl. Maisak (a. a. O., Anm. 11), S. 191 sowie Abb. 3 und 4; vgl. auch Bunzel 2009 (a. a. O., Anm. 9), S. 72f. Aus dem Nachlaß Varnhagen’s von Ense. Tagebücher von K. A. Varnhagen von Ense, 14 Bde., Leipzig: Brockhaus 1861–1870, Bd. 13, S. 235.
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an antike Darstellungen von Jupiter bzw. Serapis erinnert, wie ihn beispielsweise eine Vignette der Götterlehre darstellt.48 Ein wenig klingt auch Michelangelos Moses nach. Die machtvolle Gestalt des Königs nimmt in Bettinas zeichnerischem Werk, das fast ausschließlich kindliche oder jugendliche Figuren kennt, eine Sonderstellung ein. Sie wirkt wie ein Idol, das seine wahre Bestimmung erst in Bezug auf Ludwig I. oder auf Goethe entfaltet. In der Rechten hält der König eine Schriftrolle, die ihn als Dichterfürsten auszeichnet. Ein Knabe lehnt sich an sein Knie, der dem Typus des Ganymed entspricht, aber auch dem Knaben mit Eule (Blatt 3) ähnelt. Mit verschränkten Armen hält er einen Kronreif, der an Schinkels Titelvignette der 1817 erschienenen Kronenwächter von Achim von Arnim denken läßt. Auf dem Unterbau des Throns sitzt zu Füßen des Königs ein Jüngling mit Leier, eine Variation des Psyche-Motivs in Bettinas Goethe-Denkmal. Ein kindliches, eng umschlungenes Paar schließt sich an, und im Vordergrund erblickt man drei Mädchenakte mit Schwänen, Badende, die auf den Mythos von Leda mit dem Schwan anspielen. Schwäne sind auch dem Dichtergott Apoll geheiligt. Im Hintergrund nähert sich von links ein Reiterzug; eine Skizze der Reiter, allerdings im Gegensinn, findet sich auf Blatt 10. An einer Komposition wie dieser läßt sich Bettinas synkretistisches Verfahren sowie ihre Neigung zur seriellen Produktion besonders deutlich nachvollziehen. Blatt 9 Trunkene Bacchantin (Abb. S. 158) Bez. auf dem Untersatzkarton u. l.: „vermutlich Goethedenkmal / trunkene Mänade“; u. r.: „Bettine“; o. l.: „69“; o. r. „9“. Graphit, gewischt, teils durchgepaust, auf transparentem Papier mit segmentbogenförmigem Abschluß, in Passepartout aus hellem Karton, auf grauen Untersatzkarton montiert, mit Rahmungslinien aus Goldpapier und schwarzem Glanzpapier. Zeichnung; 28,5 x 38,5 cm, Untersatzkarton: 40,2 x 50,5 cm Vor einer Felsgrotte, an der sich links ein Weinstock mit Trauben empor rankt, liegt eine weibliche Aktfigur in aufreizender Haltung über einen Stein hingestreckt; eine große Raubkatze leckt die Brust der Schlafenden. Ihrer linken Hand ist eine Fackel entglitten, die auf Schlaf und Tod verweist. Der Weinstock und der Leopard – in der Kunst manchmal auch als Panther oder Tiger dargestellt – sind dem Dionysos / Bacchus heilig; die Grotte spielt eine wichtige Rolle bei den eleusinischen Mysterien. Die dionysische Symbolik weist die Schlafende als Mänade oder Bacchantin aus. Das bestätigt eine Durchzeichnung des Motivs aus dem Nachlaß Ottilie von Goethes, bezeichnet von Bettinas Hand: „Eine vom Duft des Weines betäubte Bachantin nach der Natur gezeichnet und erfunden Bettine v. Arnim“.49 Ob das stimmt, ist zu bezweifeln, denn es gibt eine sehr ähnliche Version der ungewöhnlichen Liegefigur mit dem hochgewölbten Rücken bei Karl Friedrich Schinkel. Dort ist es ein androgyner
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Vgl. Moritz 1979 (a. a. O., Anm. 20), S. 118f. Klassik Stiftung Weimar; vgl. Gajek 2001 (a. a. O., Anm. 1), S. 573 und Abb. 5.
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Jüngling, der Sterbende Genius der Baukunst, der (allerdings im Gegensinn) über einer zerborstenen Säule liegt. Der Genius gehört zu einer Folge von Tonreliefs, die Schinkel 1831 für die Fensterbrüstungen der neuen Bauakademie in Berlin entwarf. Das inzwischen zerstörte Gebäude wurde zwischen 1832 und 1836 ausgeführt, die Reliefs der Fensterbrüstungen 1833 in einem Stichwerk reproduziert.50 Die Kombination eines Frauenaktes mit einer Raubkatze konnte Bettina durch eine der populärsten Skulpturengruppen des 19. Jahrhunderts bekannt sein: Johann Heinrich Danneckers Ariadne auf dem Panther, die als Braut des Dionysos ein sieghaft lebensvolles Gegenmodell zu Bettinas niedergestreckter Bacchantin bildet. Nach Danneckers 1803 entstandenem Tonmodell gab der Bankier Simon Moritz von Bethmann eine Marmorfassung in Auftrag, die 1816 vollendet wurde und in Frankfurt später im eigens erbauten Ariadneum eine tempelähnliche Aufstellung fand. Die Trunkene Bacchantin mit der Raubkatze findet sich als Teil einer mehrfigurigen Komposition auch in Bettinas Zeichnung Bacchus rettet Psyche aus dem dionysischen Taumel, die sie im Kontext ihres Goethe-Denkmals entwarf.51 Das Motiv, das eine unverhohlen sinnliche Botschaft ausstrahlt, muß Bettina fasziniert haben, denn sie wiederholt es mehrfach und schickt es unter anderem an den Fürsten Hermann von Pückler-Muskau. Jener dankt am 26. Februar 1832: „Sie haben einen höheren Geist als ich, und hundertmal schönere Körper im Kopfe, wie Ihre himmlischen Zeichnungen darthun. Tausend Dank für die letzte, eine Ariadne, nicht wahr? So reizend, daß selbst ein Leopard ihr wollüstig die Brüste küßt, und so lieblichen, stillen Ausdruckes im Gesicht, daß man nicht weiß ob sie wirklich todt ist, oder nur schläft. Wie gern erweckte ich sie, und nähme sie, ohngeachtet meiner migraine, zu mir ins Bett, denn auf mich Erdensohn wirkt die Kunst meist nur sinnlich“.52 Bettina repliziert: „Nein eine Ariadne ist meine von der Gährung und dem Duft des Weines betäubte trunckne Bachantin nicht, aber Sieh: der Tieger ahndet den Gott der ihr die Besinnung raubte, und das göttliche ihrer Trunckenheit macht ihn besonnen daß er liebend mit heiliger Scheu ihr liebkoßt daß er sie duldend trägt, und daß seine Zunge nicht bößlich an ihr handelt wie sie auch immer Preiß gegeben ist. sollte ich Dir das noch deutlicher erklären müssen?“53 Pückler reagiert enttäuscht: „Was? Meine schöne, todte Ariadne ist nur eine betrunkene Bachantin. Ich sehe gar nicht ein, warum es nicht auch eine Ariadne seyn könnte, und für mich bleibt sie es, wie sie im Schmerz die Fackel ergriffen hat, ihren Ungetreuen zu suchen, die
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Das Tonrelief befindet sich heute in der Friedrichwerderschen Kirche. Vgl. Helmut Börsch-Supan und Lucius Grisebach: Karl Friedrich Schinkel. Architektur Malerei Kunstgewerbe, Berlin: Nicolai 1981, S. 88–192 und Abb. 82f. Vgl. Maisak 1985 (a. a. O., Anm. 6), S. 216, sowie Bunzel 2009 (a. a. O., Anm. 9), S. 49. Auf dieses Bacchanal bezieht sich Bettina auch in einem undatierten Brief an Schinkel; vgl. Schultz 2008/09 (a. a. O., Anm. 25), S. 43: „Auf der Zeichnung welche ich verlange liegt auch noch der Tieger auf welchem die Bachantin liegt der er die Brust leckt und worüber wir mehrmals gesprochen haben“. Gajek 2001 (a. a. O., Anm. 1), S. 17. Am 27. [?] Februar 1832; ebd., S. 22.
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jetzt ihrer Hand entsunken, mit ihrem Leben verlischt, während der Leopard (denn da er gefleckt ist, ist er kein Tiger) wie ein getreuer Hund die schöne Brust ihr leckt. Doch Ariadne oder Bachantin, tausend Dank dafür, es ist ein schönes und gewürdigtes Geschenk“.54 Noch einmal nimmt Bettina auf das Motiv Bezug und schreibt Pückler: „Die Bachantin hat in Lebensgröße meinem ungeschickten Pinsel müssen still halten, [...] in diesen Tagen werde ich den Tieger nach der Natur malen“.55 Blatt 10 Reiterzug (Abb. S. 159) Bez. auf dem Untersatzkarton u. l.: „Goethedenkmal / Triumphzug / Stufenunterbau“; u. r.: „Bettine“; o. l.: „73“; o. r.: „10“. Umrißzeichnung in Graphit, teilweise durchgepaust, auf transparentem Papier, auf grauen Untersatzkarton montiert, Blendpassepartout aus hellem Karton, mit Rahmungslinien aus Goldpapier und schwarzem Glanzpapier. Zeichnung: 19 x 26,5 cm; Untersatzkarton: 40 x 50,5 cm Der Reiterzug mit den vier nackten Jünglingen zu Pferd gehört ebenso wie der Genius der Baukunst (Blatt 1b) in den Kontext des Octoberfests,56 aber auch des Goethe-Denkmals. Ein ähnliches Motiv findet sich im Hintergrund des Mythischen Königs (Blatt 8). Die Darstellung im Basrelief-Stil greift auf Vorbilder der antiken und klassizistischen Kunst zurück. Blatt 11 Reiter im Kampf (Abb. S. 160) Bez. auf dem Untersatzkarton o. l.: „37“; u. r.: „Bettine“ und „11“. Feder in Braun, auf dünnem bräunlichem Papier, auf braunen Untersatzkarton montiert, mit Rahmungslinien aus schwarzem Glanzpapier und Silberpapier. Zeichnung: 40,8 x 24,5 cm; Untersatzkarton: 52,2 x 41,2 cm Offensichtlich wird der Ausschnitt aus einer Kampfszene dargestellt: ein sich zurückwendender Reiter in Rüstung auf einem sich aufbäumenden Pferd, unter dessen Vorderhufen der Kopf eines Gefallenen liegt. Der Duktus und die kompositorische Anlage von Ross und Reiter weichen insbesondere im Vergleich mit dem Reiterzug (Blatt 10) stark von Bettinas Zeichenweise ab. Ihre Autorschaft ist zu bezweifeln. Blatt 12 Meeresnymphe und Genius (Abb. S. 161) Bez. auf dem Untersatzkarton o. l.: „61“; u. r.: „Bettine“; o. r.: „12“. Pinsel in Braun, auf dünnem bräunlichem Papier, auf grauen Untersatzkarton montiert,
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Am 27. Februar 1832; ebd., S. 26. Am 23. Mai 1832; ebd., S. 157. Über die Ausführung ist nichts bekannt. In der Korrespondenz setzt Bettina das Rollenspiel mit Bacchantin und Tiger fort; vgl. S. 215f. Pückler ist nicht amüsiert und verbittet sich „die dithyrambische Raserei einer achtzehnjährigen Bachantin, mit bloßer Gehirnsinnlichkeit“ (ebd., S. 238). Vgl. Maisak 1990 (a. a. O., Anm. 11), S. 188.
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mit Rahmungslinien in Tusche. Zeichnung: 16,8 x 20,4 cm; Untersatzkarton: 39,6 x 51,5 cm Auch die flüssige, mit sicherem Schwung vorgetragene Pinselzeichnung unterscheidet sich erheblich von Bettinas Duktus. Vielleicht stammt die Idee zu der Konfiguration von ihr und wurde von anderer Hand ausgeführt. Links sieht man eine Meeresnymphe oder Nixe mit elegant geschwungenem Fischschwanz, die eine Harfe in den Händen hält, rechts einen schwebenden Genius mit Flügeln, dessen langes Haar in dasjenige der Nixe übergeht. Das Paar wirkt wie ein phantastisches Gegenmodell zu Amor und Psyche. Möglicherweise besteht ein kombinatorischer Bezug zu Schinkels Entwurf der Allegorie der Musik auf einer Einladungskarte für die Berliner Singakademie: Auf der Vorderseite der Karte schwebt mit ausgebreiteten Flügeln der Genius der Musik und spielt auf einer Harfe; ein Putto oder Amor begleitet ihn. Auf der Rückseite findet sich der Sänger Arion mit der Leier, der auf einem Delphin reitend.57 Blatt 13 Verherrlichung der Dichtkunst (Abb. S. 162) Bez. auf dem Untersatzkarton u. l.: „Goethedenkmal / Königstochter und Hirt / Rückseite des Thrones“; u. r.: „Bettine“ und „13“. Graphit, teilweise durchgepaust, zahlreiche Pentimenti, auf transparentem Papier, auf hellen Untersatzkarton montiert, mit Rahmungslinie aus schwarzem Glanzpapier. Zeichnung: 35,4 x 24,1 cm; Untersatzkarton: 51,2 x 40,6 cm Ein nackter Jüngling in Profilansicht fängt in seinen Armen ein nacktes Mädchen mit Krone auf, das zu ihm herabgestiegen ist und vertrauensvoll die Wange an seine lehnt. Das Paar kniet über dem Haupt einer Meduse mit Schlangenhaar und Flügeln, aus deren Mund sich ein Wasserstrahl ergießt. Der Wasserspeier vom Typus der Medusa Rondanini ist schon aus Blatt 4, der Nacht, bekannt. Bei den Kompositionen handelt es sich um Entwürfe für Bettinas Goethe-Denkmal, das sie in Erweiterung ihrer ursprünglichen Pläne mit einem reich verzierten Unterbau, Marmorreliefs und einem Monumentalbrunnen versehen wollte. Die Wasser speienden Medusen sind wohl als bauplastische Teile des Brunnens zu verstehen. Das innig verbundene Paar ist nach Bettinas Vorstellung ein „junger Hirte“, der eine „Königstochter in den Armen“ hält, die zu ihm herabgestiegen ist – ein neues poetisches Bild für die „Verherrlichung der alle Standesunterschiede aufhebenden Dichtung“.58 Nach Bettinas Entwurf fertigte der Bildhauer Albert Wolff ein Gipsrelief der Verherrlichung der
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Vgl. Börsch-Supan 2007 (a. a. O., Anm. 8), S. 511, datiert nach 1832. Vgl. Karl Obser: Bettina von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser. In: Neue Heidelberger Jahrbücher 12 (1903), S. 85–137 (S. 136).
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Dichtkunst an, das als Modell für die Rückseite des Throns ihres GoetheDenkmals dienen sollte.59 Blatt 14 Verherrlichung der Dichtkunst (Abb. S. 163) Bez. auf dem Untersatzkarton o. l.: „60“; u. l.: „Goethedenkmal / Königstochter und Hirt / Rückseite des Thrones“; u. r.: „Bettine“ und „14“. Umrißzeichnung in Graphit, teilweise durchgepaust, ausradiert, gewischt, auf transparentem Papier, am unteren Rand bogenförmig ausgerissen, auf hellen Untersatzkarton montiert, mit Blendpassepartout und Rahmungslinien in Tusche. Zeichnung: 36,5 x 29,9 cm; Untersatzkarton: 40,5 x 32, 2 cm, Passepartout: 45 x 37 cm Darstellung desselben Motivs wie auf Blatt 13, darüber hinaus wird im Hintergrund Weinlaub angedeutet. Die Köpfe des Paars sind auf Blatt 14 differenzierter, aber auch maskenhafter gezeichnet, die Körper dagegen weniger sorgfältig ausführt. An Hals und Armen fallen grobe Verzeichnungen und Überschneidungen auf. Die Meduse wird nur schematisch skizziert. Blatt 15 Studienblatt mit Genien (Abb. S. 164) Bez. auf dem Untersatzkarton o. l.: „27“; u. r.: „Bettine“; o. r.: „15“. Graphit, teilweise durchgepaust, auf transparentem Papier, auf hellen Untersatzkarton montiert, mit Rahmungslinie aus schwarzem Glanzpapier. Zeichnung: 28,6 x 44,3 cm; Untersatzkarton: 40,8 x 51,8 cm Das Blatt versammelt 19 Skizzen von kindlichen Aktfiguren, die bis auf eine Ausnahme mit Flügeln wie Amoretten versehen sind. Die kleinen Genien werden in unterschiedlichen Positionen und Ansichten wiedergegeben; die meisten sitzen, knien oder kauern auf Säulenkapitellen. Alle beschäftigen sich mit Wappenschildern bzw. Kartuschen, von denen zwei links unten undeutliche Embleme aufweisen. Möglicherweise handelt es sich um Ideenskizzen für das Goethe-Denkmal. Bettina erzählt mehrfach, daß sie ihre Kinder als Modell herangezogen und nach dem Leben gezeichnet habe; in mythisch-poetischer Verklärung bevölkern sie dann ihre Kompositionen. Studien nach der Natur können diesem Blatt zugrunde liegen, doch ebenso stark wirken Anregungen nach, die von der bildenden Kunst ausgehen, man denke nur an die Genien in Philipp Otto Runges Zyklus der Zeiten und deren Adaption durch Clemens Brentano für die Illustration von Gockel, Hinkel und Gackeleia. Auch in den zeitgenössischen Almanachen und Taschenbüchern spielen solche Motive eine große Rolle; kindliche Genien in unterschiedlichster Haltung, die teilweise große Ähnlichkeit zu Bettinas Figuren aufweisen, schmücken beispielsweise
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Vgl. Maisak 1985 (a. a. O., Anm. 6), S. 216 und 224. Das Gipsmodell von Wolff befindet sich ebenfalls im Freien Deutschen Hochstift; Abb. bei Bunzel 2009 (a. a. O., Anm. 9), S. 76.
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das rahmende Rankenwerk im Titelkupfer der Allgemeinen Literaturzeitung von 1803.60 Blatt 16 Seitenansicht des Goethe-Denkmals (Abb. S. 165) Bez. auf Zeichnung o. l.: „52“, auf dem Untersatzkarton u. l.: „Goethedenkmal“, o. r.: „16“. Graphit, auf festem hellem Papier, auf graubraunen Untersatzkarton montiert, mit Rahmungslinie aus schwarzem Glanzpapier. Zeichnung: 34,5 x 46,6 cm; Untersatzkarton: 39,9 x 50,9 cm Das letzte Bettina zugeschriebene Blatt der Folge zeigt den Nexus ihres zeichnerischen Schaffens: das Goethe-Denkmal, hier in seiner rechten Seitenansicht. Die Zeichnung wirkt etwas unbeholfen und dilettantisch, unterscheidet sich durch die kräftige, summarische Strichführung und das porträtähnlich ausgeführte Profil Goethes aber deutlich von Bettinas typischer Handschrift. Auch die Tatsache, daß bei der alten Beschriftung des Untersatzkartons der Namenszug „Bettine“ fehlt, spricht dafür, daß ursprünglich eine andere Autorschaft angenommen wurde, die man später übersah. Die Skizze gibt das Denkmal in der Entwurfsphase wieder, in der Bettina bereits den aufwendigen Unterbau und den Monumentalbrunnen konzipiert hat. Der Sockel mit dem Thron ruht auf einem langgestreckten Piedestal, der seitlich in fünf Felder mit flachem Bogenabschluß unterteilt ist, dazwischen sind Thyrsos-Stäbe mit Pinienzapfen angebracht, an denen Kränze hängen. Der Sockel des Throns gliedert sich in zwei Felder, welche – ebenso wie der hohe Rücken und die Seitenlehne des Thronsessels – die von Bettina entworfenen Reliefs aufnehmen sollten. An der Seitenlehne erkennt man die Inschrift „Der Erde ein weniges“. Analog zu früheren Entwürfen und Bettinas Beschreibungen des Monuments sitzt Goethe mit wallendem Umhang im Profil nach rechts auf dem Thron, in der Rechten den herabhängenden Lorbeerkranz. Die Linke greift in die Leier der Psyche, die nur schemenhaft angedeutet wird. Unterhalb des Throns, breitet ein Schwan seine Schwingen aus und erzeugt eine Wasserfontäne. An der Vorderkante des Sockels rankt Weinlaub, an der Rückseite ragt eine gewaltige Aloestaude empor. „Aloe“ nannte man gemeinhin die Agave americana, die einen über 10 m hohen Blütenschaft treibt, der Legende nach aber erst mit 100 Jahren zur Blüte gelangt und dann abstirbt. Eine blühende Agave, deren Duft berauscht, galt in deutschen Gärten seit dem Barock als kostbare Rarität und wurde mit Herrschersymbolik, Macht und Fruchtbarkeit konnotiert. Bettina war dieser Aloe-Mythos geläufig; so schreibt sie im September 1822 an Philipp Hössli: „erblühe Du endlich gleich der hundertjährigen Aloe, nach deren Kelchen, die es erleben, mit Leitern steigen, um in ihrem Duft sich zu berauschen“.61 Bettina lenkt den ganzen schöpferischen Strom ihrer Phantasie auf das Goethe-Denkmal, das noch weit reicher ausgestaltet werden sollte, als die
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Bd. 4, Kupferstich Eros und Anteros von Ferdinand Hartmann. Bettine Briefe (a. a. O., Anm. 7), S. 211.
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Zeichnung erkennen läßt. Einen Eindruck von der Vielfalt des Schmucks geben diejenigen der oben besprochenen Blätter, die sie im Hinblick auf die Basreliefs des Monuments entworfen hat. Wenige eignen sich allerdings so gut für die plastische Umsetzung wie die Nacht mit ihren Kindern (Blatt 4 und 6) oder die Verherrlichung der Dichtkunst (Blatt 13 und 14). Alles scheint auf ihren Zeichnungen im Fluß zu sein, die Komposition, die Körper, die Linienführung – „lebende Bilder“, wie sie damals auch in Berlin en vogue waren, hätten vielleicht das adäquate Medium der Transformation ergeben. Der unabgeschlossene, offene Charakter, der Bettinas bildkünstlerische Produktion auszeichnet, die Wandlungsfähigkeit der Ideen und Module erklärt die Faszination, die ihre Zeitgenossen empfanden.
Sheila Dickson
Eine unbekannte Übersetzung aus Bettina von Arnims „Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde“
Der in diesem Beitrag edierte französische Text wurde als Schülerarbeit Achim von Arnims im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar archiviert und sollte für den Band Schriften der Schüler- und Studentenzeit der historisch-kritischen Arnim-Ausgabe ediert werden. Bei der Sichtung der Handschrift stellte sich aber heraus, daß die darin geschilderte Anekdote von dem französischen Soldaten, dem die Flucht durch ein junges Mädchen ermöglicht wird, an prominenter Stelle schon einmal gedruckt wurde: nämlich in dem bekanntesten Werk von Arnims Ehefrau Bettina, Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, das 1835, vier Jahre nach Arnims Tod, erschienen ist. Die vermeintliche Schülerarbeit Achims entpuppt sich also als Übertragung eines Teils von Bettinas Goethebuch ins Französische.1 Und Achim von Arnim ist, das geht sowohl aus dem Entstehungszeitraum dieses Werkes als auch aus dem graphologischen Befund hervor, nicht ihr Schreiber.
I.
Bettinas Offenbacher Zeit
Im vorliegenden Manuskript wird eine Geschichte erzählt, die während Bettinas Aufenthalt bei ihrer Großmutter in Offenbach vorgekommen sein soll. Angesichts eines feindlichen Angriffes österreichischer Truppen verstecken sich die Einwohner der Stadt in den Kellern. Die junge Bettina wagt sich nach oben, um einige Schätze ihrer Großmutter zu bergen, und beobachtet dabei einen jungen französischen Soldaten, der sich vor den Feinden zu retten versucht. Sie bietet ihm heimlich Unterschlupf und Hilfe an und begleitet ihn am Abend bis zum Fluß und damit außer Gefahr.2 Der Wahrheitsgehalt der Anekdote ist, wie so oft
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Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Hrsg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff (künftig: Werke und Briefe in vier Bänden). Bd. 2. Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. Hrsg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 500–506 (künftig: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde). Für den ersten Hinweis auf die Quelle danke ich herzlich Jürgen Storost (Berlin), für die Durchsicht meines Manuskriptes Christof Wingertszahn. Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, S. 500–506.
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Sheila Dickson
bei Bettina, ungewiß.3 Bekannt ist, daß sie Ende Juli 1797 mit ihren Schwestern Lulu und Meline nach Offenbach zog. Seit 1794 hatten die Geschwister im Ursulinenkloster in Fritzlar gewohnt, aber nach dem Tod des Vaters am 9. März 1797 und angesichts der französischen Besetzung Fritzlars wurde die Erziehung der Schwestern der Großmutter Sophie von La Roche in Offenbach anvertraut.4 Im Haus wohnte auch eine Tante, Luise von Möhn, und eine Base des Herrn von La Roche, Cordula.5 Diese Hausgemeinschaft versteckte sich laut Bettinas Anekdote im Keller vor den österreichischen Truppen. In Offenbach erlebte Bettina die Besetzung der linksrheinischen Gebiete nach dem Frieden von Lunéville (9. Februar 1801), nach dem „das Territorium der französischen Republik bis vor die Tore Frankfurts [reichte]“.6 Sie blieb bis Ende 1802 dort, bis sie wieder nach Frankfurt, ins Haus des Bruders Franz Brentano und seiner Frau Antonia, zog, um die Pflichten einer Hausfrau zu erlernen. Das sollte die letzte Station ihrer Erziehung sein. Den Offenbacher Wohnsitz der Frau von La Roche, die Kulisse der hier übersetzten Anekdote, hat Bettina auch in Clemens Brentanos Frühlingskranz (1844) beschrieben, als sie ihre Eindrücke von Clemens’ Besuch wiedergab: Die frankfurter Allee hat allen Glanz verloren sie ist ganz öde in der Nebelluft, weil Du nicht mit dem Abend dort mir entgegen kommst! – So war doch der Morgen immer auch noch schön wenn Du am Abend dagewesen warst. Weil Du willst ich soll früh aufstehen wegen dem Gold der Morgenstunde, so wollt ich es ihr aus dem Mund nehmen und lief früh mit der Dämmerung schon durch die Allee wo all Deine Tritte in den Kies geprägt und schön bereift waren, wär ich später gegangen so hätten die Marktleute drauf herum getrampelt. Ach die langen Winterwege die Du gemacht hast, mir zu Lieb alle! – Aus dem lustigen Haus, wo die Geschwister und Hausfreunde zusammen Witze machten, heraus über die Schneefelder, auf der kalten einsamen Hoftreppe wo wir die Winde zusammen flüstern hörten. Und im Schneegestöber bist Du wieder allein in der Nacht den langen Weg nach Haus gewandert! [...] Ich war in Sorgen um Deinen langen einsamen Weg in der Nacht, die Sterne haben wohl noch mit Dir fortgeplaudert!7
In ihrem Goethebuch hat Bettina die Beschreibung ihrer eigenen Erlebnisse und Gefühle ebenfalls mit denen eines vertrauten Du vermischt: sie appelliert an
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Zu Bettinas Dichtungslehre vgl. Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 1. Clemens Brentano’s Frühlingskranz. Die Günderode. Hrsg. Von Walter Schmitz, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1986, S. 879–883 (künftig: Clemens Brentano’s Frühlingskranz. Die Günderode). Schmitz vermerkt „die Literarisierung ihres Lebenskreises“ (S. 765) und charakterisiert ihre Dichtungslehre mit dem Zitat: „Was ist wahrhaftiger als Phantasie?“ (S. 879f.). Vgl. den Brief von Gunda (Kunigunde) an Clemens Brentano, Anfang Juni 1797. In: Die Andacht zum Menschenbild. Unbekannte Briefe von Bettine Brentano. Hrsg. von Wilhelm Schellberg und Friedrich Fuchs. Jena: Diederichs 1942, S. 11. Vgl. Clemens Brentano’s Frühlingskranz. Die Günderode, S. 763f. Fritz Böttger: Bettina von Arnim. Ein Leben zwischen Tag und Traum. 3. Aufl. Berlin: Verlag der Nation 1986, S. 39. Zu Bettinas Offenbacher Zeit vgl. auch Ursula Püschel: „… wider die Philister und die bleierne Zeit“. Untersuchungen, Essays Aufsätze über Bettina von Arnim. Berlin: Oliver Seifert 1996, S. 29–44. Clemens Brentano’s Frühlingskranz. Die Günderode, S. 14.
Eine unbekannte Übersetzung
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Goethe, der aber im Jahr 1775 in Offenbach verkehrte und mit dem sie keine gemeinsamen Erinnerungen haben konnte.8 Der Nachbar André, der, anstatt sich in seinem Keller zu verstecken, das Kriegsgeschehen von seinem Observatorium aus beobachtete, spielt auch im Frühlingskranz eine Rolle in Bettinas Beschreibung eines weggewehten Briefes ihres Bruders Clemens: Dein fliegend Blatt ist mit dem Morgenwind nicht zum Fenster herein, sondern hinaus geflogen. Eben hatte ich meinen Sitz zum Schreiben zurecht gerückt, so macht der Wind die Tür auf, packt mein Blatt und ab mit zum Fenster hinaus, dahin von wannen er gekommen war, was kein Mensch weiß wo das ist, ich seh ihm nach und entdecke, daß er mit dem Blatt in den Schornstein unsers Nachbars Johann Andree sich retiriert, er konnte in den Suppennapf fallen und dem Herrn Andree aufgetischt werden, um dem zuvor zu kommen sprang ich hinunter, fand das Blatt schon unterwegs nach dem Kanal, es schwebte über dem Wasser, nur ein Wunder konnte es retten, das war eine graue Mütze die es auffing, die dem Arnim gehörte, der vor mir stand, mit einem zweiten Brief in der Hand, den er mir von Dir mitbrachte.9
In diesem Werk beschreibt Bettina wie auch in der folgenden Handschrift einen Spaziergang am Kanal und ihre französischen Nachbarn in Offenbach. [I]ch ging um die Ecke am Kanal längs den Gärten, da sind so viel Veilchen, man steckt sie in den Busen sie duften Dir ein Weilchen, es ist ihre Sprache. Als ich vom frühen Spaziergang heim ging, sah ich den Bäckerjungen laufen, er schellte am Haus wo die Emigranten wohnen, der Duc de Choiseul guckte aus dem Fenster und kaufte Milchbrot, ich wollte ihn nicht beschämen und kehrte wieder um, als ich zum zweitenmal zurück kam, trat die Milchfrau ans Fenster, die ihm die Milch abmaß. Da kamen noch viele Milchtöpfchen zu allen Fenstern heraus; einer der sich von Spitzbuben umringt sieht kann sich nicht ängstlicher durchschleichen als ich zwischen dem Milchhandel dieser vornehmen Emigranten, ehemals waren sie von einer großen Valetaille umringt, die sich wieder bedienen ließ von allerlei Gesindel, und nun sind sie eingerichtet in eigner Person, wie kompendiöse englische Reisenecessiare wo man alles beisammen hat, selbst das Überflüssige. Ists möglich daß man ein Heer von Müßiggängern beschäftige mit Angelegenheiten die nur der Müßiggang notwendig macht. Sie malen, sie schleifen in Glas, sie sticken Blumen auf Bandschleifen, sie drechslen, sie überschwemmen das Land mit närrischen Künsten, und die Großmama wundert sich daß unter allen keine Gelehrten sich finden.10
Auch im Haus der Großmutter verkehrten französische Emigranten – Louise de Gachet verbrachte einige Zeit dort11 – und die Großmutter, lange Zeit eine Verehrerin Mirabeaus, teilte die Empörung ihrer Nachbarn über die politischen Verhältnisse.12 Bettina und ihre Schwestern hatten einen französischen Tanz-
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Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, S. 1097, Erl. zu S. 501,1. In einem Brief an Karoline von Günderrode erinnerte sich Bettina auch noch an die Pappeln, „diese Zeugen meiner frühsten Spielstunden“. (Clemens Brentano’s Frühlingskranz. Die Günderode, S. 580). Ebd., S. 170. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 17f. Ebd., S. 57–74; S. 1048, Erl. zu S. 52–55 und S. 54,14f. Vgl. ebd., S. 764. Zu Mirabeau s. auch Böttger: Tag und Traum, S. 39f.
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meister, und Französisch wurde auch von den Deutschen in Offenbach gesprochen.13 Die Einwohner der Stadt waren um diese Zeit in der Tat alle Flüchtlinge, die durch den Krieg zusammengeweht worden waren und ständig noch mit dem Krieg konfrontiert wurden. Angesichts dieser Notsituation berichtete Bettina ihrem Bruder von einem Gelübde: Abends beim Sternenschimmer, wo ich den Kopf weit aus unserm Mansardfenster streckte, um recht viele Sterne zu Zeugen meines feierlichen Schwures aufzurufen, tat ich das Gelübde, Alles dran zu wagen wenn ich einen Menschen in Gefahr sehe und wenn auch selbst das Messer schon über sein Haupt schwebt. – Ein rascher Entschluß vermag viel, aber Zagen ist das Verderben aller Großtaten! Hätt ich nur einen Augenblick mich besonnen, so lebte jetzt kein Männewei mehr!14
Bettina zeigte bekanntlich später im Leben immer wieder Mut und Zivilcourage und setzte sich für Menschen in Gefahr ein. Die Anekdote des vorliegenden Manuskripts liefert aber vielleicht das erste Beispiel dafür.
II.
Entstehung und Autorschaft
Zur Entstehung und Autorschaft dieser Übersetzung kann man nur Vermutungen anstellen. Als Entstehungsdatum kommt wohl der Zeitraum zwischen der Publikation des Goethebuchs 1835 und der französischen Übersetzung 1843 in Frage. Die Handschrift läßt sich nicht eindeutig einem Schreiber oder einer Schreiberin zuordnen. Die neun Blätter sind in lateinischer Schrift abgefaßt, die Bettina gelegentlich für fremdsprachige Texte benutzte, z. B. für das Vorwort zur englischen Übersetzung des Goethebuchs.15 Dieses ist aber nicht durchgehend in dieser Schrift geschrieben, und Bettina verwendete die deutsche Schrift auch in Briefen, die sie auf französisch schrieb. Handschriftenvergleiche des vorliegenden Textes mit einem englischsprachigen Brief16 und mit anderen Manuskripten konnten Bettina als Schreiberin der Übertragung ausschließen. Handschriftenproben der Kinder Bettinas wiesen auch keine Ähnlichkeiten mit der Schrift des vorliegenden Textes auf.17 Auch wenn es sich jedoch nicht um Bettinas Handschrift handelt, könnte man trotzdem spekulieren, daß sie am Text
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Clemens Brentano’s Frühlingskranz. Die Günderode, S. 75, S. 20. Ebd., S. 184. Bettine v. Arnim: „‚Preamble‘. Englisches Vorwort zur englischen Ausgabe von ‚Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde‘“. Freies Deutsches Hochstift, Sign. Hs. 15109. Für den Hinweis auf diese Handschrift danke ich Bettina Bauer im Freien Deutschen Hochstift sehr herzlich. Von 1834 an Sarah Austin in London mit der Bitte, ihr Übersetzungsprojekt voranzutreiben. Freies Deutsches Hochstift, Sign. Hs. 20086. Für den Hinweis auf diese Handschrift danke ich Bettina Bauer im Freien Deutschen Hochstift sehr herzlich. Für diese Handschriftenvergleiche bin ich Bettina Bauer, Konrad Heumann und Renate Moering im Freien Deutschen Hochstift sehr zu Dank verpflichtet.
Eine unbekannte Übersetzung
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beteiligt gewesen sein, ihn womöglich diktiert oder mitgestaltet haben könnte. Darüber unten mehr. Der Nachlaß Achim und Bettina von Arnims wurde 1929 aus finanzieller Not von der Arnimschen Familie beim Auktionshaus Henrici in Berlin versteigert. Im Auktions-Katalog 148 dieser Firma steht folgender Eintrag: Nr. 58: Bettine. Tagebuch. 1.) Eigh. Manuskript zu einer französischen Ausgabe des Tagebuches […] 240 Seiten 40 und Folio. 2.) Französische Vokabeln von Bettine eigh. notiert für ihre Übersetzung des Tagebuchs. 10 Seiten. 80.– 3.) Französische Übersetzung des ersten Teiles des Tagebuchs, von fremder Hand. 72 Seiten. 40.18
Welche dieser Handschriften veräußert worden sind, ist unklar. Die von Henrici nicht verkauften Manuskripte wurden im Familienbesitz in Wiepersdorf erhalten, bis der Nachlaß nach dem zweiten Weltkrieg ins Goethe- und SchillerArchiv nach Weimar kam.19 Die französischen Texte sind darin aber nicht erhalten und gelten als verschollen. Die Vermutung liegt nahe, daß die im folgenden edierte Handschrift Teil von Nr. 1 oder Nr. 2 des Henricischen Konvoluts ist. Warum sollte aber gerade diese Anekdote allein erhalten geblieben sein? Ist es Zufall der Überlieferung oder galt dieser Teil des Manuskripts als besonders wichtig oder gelungen? Für die Familie war das Manuskript wohl wertvoll genug, um als Teil des Nachlasses aufbewahrt zu werden.
III. Die französischen Übersetzungen des Goethebuchs Bettina hatte von Anfang an den Plan gehegt, die deutsche, englische und französische Version ihres Goethebuches gleichzeitig erscheinen zu lassen. Sie wäre viel eher in der Lage gewesen, eine französische als eine englische Übersetzung anzufertigen, denn ihre Französischkenntnisse waren aufgrund der oben skizzierten Erziehungsmaßnahmen und Lebenserfahrungen sehr gut, wohingegen sie gar kein Englisch gelernt hatte. Wegen ihrer eigenen Unzufriedenheit mit der englischen Übertragung von Sarah Austin widmete sie sich aber zuerst diesem Projekt und verfasste ihre eigene Übersetzung, die 1837/38 in Berlin verlegt wurde.20 Das Goethebuch erschien erst 1843 in einer französischen Übersetzung von Sebastien Albin, einem Pseudonym für Hortense Cornu (1812–
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Henrici-Auktionskatalog, Versteigerung 148, 1929: „Bettine von Arnim. Literarisches und Politisches aus ihrem Nachlass darunter Goethes Briefwechsel mit einem Kinde.“ Hervorhebung im Original (Fett). Vgl. Konstanze Bäumer, Hartwig Schultz: Bettina von Arnim. Sammlung Metzler. Realien zur Literatur. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 168f. Zur englischen Übersetzung vgl. Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, S. 943–961; Werner Vordtriede: Bettinas englisches Wagnis. In: Euphorion 51 (1957), S. 271–294.
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1875), in zwei Bänden in Paris unter dem Titel Goethe et Bettina. Correspondance inédite de Goethe et de Mme. Bettina d’Arnim, ohne Beteiligung von Bettina.21 Aus dem Briefwechsel zwischen Bettina und Cornu sind neun Briefe überliefert, die 1926 von Otto Mallon veröffentlicht wurden, angefangen mit der Überreichung des französischen Textes am 17. Juli 1843 von Cornu.22 Kein Gegenbrief Bettinas ist bekannt und keine Reaktion darauf ist in Briefen an andere überliefert. Bis 1843 ruhte Bettinas Vorhaben aber keineswegs. Schon 1834 verlief ein früherer Übersetzungsversuch von seiten eines M. de la Nourais im Sande. In einem Brief an Nikolaus Heinrich Julius, der für die englische Übersetzung in London warb, notierte Bettina am 27. Mai 1834 in einem Postskriptum: „Wahrscheinlich wird mein Buch auch ins Französische übersetzt“.23 Im folgenden Brief vom 4. Juni 1834 schrieb sie ausführlicher: [E]in Franzose Ms. de la Nourais, ein Mann von ungemeinem Geist hat Hoffmann und mehreres von Jeanpaul übersetzt, […] dieser hat nur weniges von unserem Manuscript gesehen war aber gleich so eingenommen davon dass er um die Erlaubniss gebeten es zu übersetzen, […] und es wird alles mögliche geschehen um dem Buch Eingang in Frankreich zu verschaffen.24
Als sich aber herausstellte, daß nur diese Ausschnitte in Zeitschriften veröffentlicht werden sollten, weigerte sich Bettina entschieden gegen dieses Vorhaben, da sie ihr Kunstwerk als ein Ganzes betrachtete, das nicht zerstückelt werden durfte.25 Im Juli 1834 teilte sie Julius mit, wieder als Postskriptum: Was die französische Übersetzung anbelangt, so sein Sie in dieser Beziehung unbesorgt, denn auch diese kann vor dem Frühjahr nicht erscheinen, und ich vermuthe sehr dass von der Hand gar nichts daraus wird, indem die Franzosen nicht einmal geneigt sind anderes als was Journale mittheilen zu lesen, ich aber gar nicht geneigt bin, es in Journalen zersetzt mittheilen zu lassen. so werde ich denn den zweiten Band nicht eher dem Übersetzer zukommen lassen als bis er mit der englischen gleich steht.26
Damit beharrte Bettina auf ihrem Standpunkt, brach aber die Verhandlungen nicht ganz ab. Ob Nourais oder jemand anderes an einer Übersetzung weiterarbeitete, und ob er oder sie den zweiten und gar den dritten Band bekam, ist unbekannt, aber im August 1837 behauptete Bettina im Briefwechsel mit dem
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Camille Pitollet behauptet, Cornu sei von einem Artikel von Louis Prevost 1841 in der Revue de Paris inspiriert worden. (Camille Pitollet: Bettine von Arnim. Lettres inédites touchant la „Correspondance de Goethe avec une Enfant“. In: Revue Germanique 7 (1911), S 558–568, S. 560, Anm. 3). Otto Mallon: Bettina von Arnims Briefwechsel mit Hortense Cornu. In: Euphorion 27 (1926), S. 398–408. Pitollet: Lettres inédites, S. 563. Ebd., S. 564. Denselben Kampf um eine vollständige Übertragung hatte sie mit der englischen Übersetzerin Mrs Austin geführt, vgl. Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, S. 944, 950f. Pitollet: Lettres inédites, S. 568.
Eine unbekannte Übersetzung
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ältesten Sohn Freimund, „die französische Übersetzung wird mir auch nicht wenig eintragen“.27 Im November desselben Jahres schrieb der jüngere Sohn Friedmund an Bettina: „Hast Du vielleicht gar den Plan gefaßt Dein Buch in das Französische zu übersetzen? Dann möchte ich Gott fast bitten, daß er alle übrigen Sprachen verdorren läßt“.28 Aus dem zweiten Brief läßt sich vermuten, daß Bettina zu dem Zeitpunkt doch selber die Übersetzung vornehmen wollte. Leider ist der Brief von Bettina, auf den sich Friedmund bezieht, nicht überliefert. Im Briefwechsel mit dem jungen Dichter Philipp Nathusius, als Ilius Pamphilius und die Ambrosia 1847 erschienen, bezweifelte Nathusius in einem Brief vom 20. Dezember 1838, ob sich das Buch überhaupt ins Französische würde übersetzen lassen: Man will Dein Buch ins Französische übersetzen ob die französische Sprache nicht davor zurückschrecken wird? – Man müßte Wunder an ihr thun, wenn Dein Buch nicht unausstehlich in ihr klingen sollte. Sie kommt mir vor wie ein fertiger Mensch, mit dem nichts mehr anzufangen ist.29
Das Indefinitpronomen deutet auf eine fremde Person als Übersetzer. Bald darauf jedoch, zwischen Dezember 1838 und Januar 1839, berichtete ihm Bettina:
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Bettine von Arnims Briefwechsel mit ihren Söhnen. Bd. 1. „Du bist mir Vater und Bruder und Sohn“ Bettine von Arnims Briefwechsel mit ihrem Sohn Freimund. Hrsg. von Wolfgang Bunzel und Ulrike Landfester. Göttingen: Wallstein 1999, S. 18. Bettine von Arnims Briefwechsel mit ihren Söhnen. Bd. 3. „In allem einverstanden mit Dir“ Bettine von Arnims Briefwechsel mit ihrem Sohn Friedmund. Hrsg. von Wolfgang Bunzel und Ulrike Landfester. Göttingen: Wallstein 2001, S. 30 (künftig: „In allem einverstanden mit Dir“). Bettina Arnim: Ilius Pamphilius und die Ambrosia. Bd. 1. 2. Aufl. Leipzig: Friedrich Volckmar (Expedition des v. Arnim’schen Verlags) 1848, S. 288. Hervorhebung (Sperrung) im Original (künftig: Ilius Pamphilius und die Ambrosia). Nathusius fährt aber widersinnig fort: „Aber was sich die Englische prächtig ausnimmt! Es klingt mir fast noch schöner als im Deutschen, als ob ihm die Sprache noch von ihrer Gediegenheit hinzugefügt hätte“, S. 288f. Vgl. auch S. 286 zur englischen Ausgabe. Zur Datierung: Die Jahreszahlen wurden für den Druck entfernt (vgl. Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 3. Bettine von Arnim. Politische Schriften. Hrsg. von Wolfgang Bunzel, Ulrike Landfester, Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1995, S. 1152; künftig: Bettine von Arnim. Politische Schriften). Hinweise auf das Entstehungsjahr dieses Briefes, überschrieben mit dem Datum 20. Dezember, sind erstens die Auskunft Nathusius’, er habe die englische Ausgabe des Tagebuchs gerade bekommen (S. 286), die in der zweiten Hälfte 1838 in Berlin erschien, und zweitens Bettinas Erwähnung ihres „Projects“, zu den Grimms zu fahren in einem früheren zwischen Juli und August geschriebenen Brief (S. 244f.), was sie nachweislich Oktober/November 1838 tat (vgl. Bettine von Arnim. Politische Schriften, S. 1190, Erl. zu S. 585, 13f.). Im „Gedruckten Manuscript von Ilius Pamphilius u. d. Ambrosia“, im Goethe-Museum Düsseldorf aufbewahrt, steht am Anfang dieses Briefs die Jahreszahl 1838 durchgestrichen im Text. Für diese Recherche danke ich Frau Regine Zeller im Goethe-Museum sehr herzlich.
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Nun geh ich noch jeden Abend eine Stunde zu dem armen russischen Fräulein, deren beide Schwestern ich im Todeskampf sehen mußte und nicht vergessen kann; […] Dort übersetze ich um sie zu zerstreuen etwas aus dem Tagebuche ins Französische was sich recht gut anläßt.30
Aus einer Tagebucheintragung Eduard Devrients vom 27. März 1840 kann man ebenfalls entnehmen, daß „sie angefangen hat“, ihr Werk „ins Französische zu übersetzen“.31 Ist der im folgenden edierte Text in diesem Zusammenhang entstanden? Ist er vielleicht eins der Manuskripte, die von Henrici versteigert werden sollten? Wenn Bettina den Text nicht selber aufschrieb, hat sie ihn möglicherweise diktiert oder war zumindest an der Übersetzung beteiligt. Es scheint mir auf jeden Fall vertretbar, die Vermutung, die vorliegende Übertragung sei unter Bettinas Regie entstanden, im Kontext der eben zitierten Äußerungen Bettinas und anderer als These zur Diskussion zu stellen. Wie gelungen sind die französischen Übersetzungen? Angesichts der langen Vorgeschichte bis zur Publikation von Cornu und der eben zitierten unterschiedlichen Meinungen zur Übersetzbarkeit des Werkes ist es interessant, die beiden uns jetzt vorliegenden Versuche zu vergleichen. Ingrid Leitner und Sibylle von Steinsdorff verglichen schon Cornus Übersetzung mit dem deutschen Original.32 Sie stellen einen „positivistisch anmutenden Erklärungsdrang“ und die „Verkürzung des Inhalts des ‚Goethebuches‘ auf seine biographische Faktizität“ fest, die zur Simplifizierung und Fehlinterpretation des Textes führen.33 In der Edition des Goethebuches von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff wird diese Tendenz insbesondere im Tagebuch identifiziert.34 Unser Vergleichstext liefert dafür ein gutes Beispiel, denn Cornu läßt die eingehende Beschreibung der „mystische[n] Nation“ einfach aus.35 In dem hier edierten Text dagegen wird diese Passage Satz für Satz übertragen. Auch als ganzer ist er in einem eindeutig anderen Stil als dem von Cornu abgefaßt. Er hält sich enger an das Original und
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Bettina Arnim: Ilius Pamphilius und die Ambrosia, S. 299f. Unterzeichnet am 31. Januar, aber mit der Anmerkung am Schluß: „Dieser Brief war vor drei Wochen angefangen und erst heute beendigt“, S. 308. Im „Gedruckten Manuscript von Ilius Pamphilius u. d. Ambrosia“, im Goethe-Museum Düsseldorf aufbewahrt, steht am Anfang dieses Briefs die Jahreszahl 1839 durchgestrichen im Text. Für diese Recherche danke ich Regine Zeller im Goethe-Museum sehr herzlich. Vgl. Bunzel und Landfester: „In allem einverstanden mit Dir“, S. 293. Ingrid Leitner und Sibylle von Steinsdorff: „…wunderliche Bilder … Gedanken in tönenden Strömen…“ Überlegungen zu Bettine von Arnims romantischem Stil anhand der russischen und der französischen Übersetzung von ‚Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde‘. In: „Der Geist muß Freiheit genießen…!“ Studien zu Werk und Bildungsprogramm Bettine von Arnims. Bettine-Kolloquium vom 6. bis 9. Juli 1989 in München. Hrsg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Berlin: Saint Albin Verlag 1992, S. 174–207. Leitner und von Steinsdorff: „…wunderliche Bilder …“, S. 185, S. 187. Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, S. 963. Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, S. 500, Z. 28–S. 501, Z. 28; Goethe et Bettina. Correspondance inédite de Goethe et de Mme. Bettina. d’Arnim. Traduit de l’allemand de Seb[astien] Albin. 2 Bde. Paris: Comptoir des Imprimeurs Unis 1843. Bd. 2, S. 280. Die Übersetzung der hier behandelten Anekdote erscheint in dieser Ausgabe S. 279–286 (künftig: Goethe et Bettina).
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vermittelt eher den Eindruck, daß der Autor bzw. die Autorin sich jeden Satz einzeln vorgenommen hat, während Cornu die Vermittlung bestimmter Ideen und Bilder in den Vordergrund stellt und deswegen freizügiger und souveräner mit dem Originaltext umgeht. Diese Unterschiede lassen vermuten, daß es sich bei vorliegender Übersetzung nicht um die Arbeit eines französischen Muttersprachlers handelt. Dieser Text ist unvollendet, wie den alternativen Vorschlägen zu einzelnen Wörtern und Wendungen über der Zeile zu entnehmen ist, und aus diesem Grund gewährt er einen Einblick in den Übersetzungsvorgang. Erläuternde Zusätze werden erwogen, z. B. als Übersetzung für die „kräftigen Stämme der Kastanienallee“ „cette allée (d’antiques &) de vigoureux chataigners“.36 Zum „wimmelnden Leben[]“ (S. 500, Z. 23) auf dem Fluss werden „peuplée“ und „couverte de bateaux“ (Z. 13) erwogen. Alternativen werden angegeben, so wie „la doux paix (le doux calme)“ (Z. 5f.) und „mon patient se laissa faire, se tint tout tranquille“ (Z. 133) (bei Cornu heißt das „il me laissa faire“, S. 284). Jeder Übersetzer überlegt verschiedene Möglichkeiten, aber in diesem Fall deuten sie vielleicht auf die Unsicherheit eines Nicht-Muttersprachlers, der nicht genau weiß, was in der Fremdsprache besser klingt und der aus Verlegenheit Alternativen aufreiht, als auf die Gewissenhaftigkeit eines professionellen oder erfahrenen Übersetzers, der die genauste Äquivalenz einer Wendung oder eines Gedankens sucht. Ein ausländischer Laie würde eventuell zuerst „son visage“ schreiben und danach zu „le visage“ verbessern (Z. 107 und Variante); er wüßte vielleicht z. B. nicht, ob „quand la nuit arrivait“ oder „quand le jour faisait place à la nuit“ (Z. 46) passender sei, oder ob der Fluß „peuplée“ oder „couverte de bateaux“ (Z. 13) sei, ob man die erste Kugel „boulet“ oder „balle“ (Z. 71) nennen oder ob man die Nachtigallen als „doux ménages“ oder „aimables hôtes“ (Z. 165) bezeichnen solle. Der zweite Satz des Textes ist gleich eine Fehlübersetzung, denn man floh „vor dem Getümmel der Österreicher mit den Franzosen“ (S. 500, Z. 9f.) und nicht mit den Franzosen vor den Österreichern. Andere Stellen werden ungenau übersetzt, z. B. „la contrée si riante, si embellie qui faisait de cette petite ville un paradis“ (Z. 2f.) für „unser kleines Stadtparadies mit seinen wohlgeordneten Lustrevieren“ (S. 500, Z. 9f.) und „[l]’ennemi n’avait que traverser rapidement les champs et les bois“ (Z. 4f.) für „[d]er Feind war nur flüchtig durch Feld und Wald gesprengt“ (S. 500, Z. 12f.), wobei in diesem Fall die richtigere Alternative „après avoir traversé“ über der Zeile erwogen wird (Variante zu Z. 4). Ich „riß den Laden auf“ (S. 503, Z. 35) ändert sich in „j’entr’ouvrais le contrevent“ (Z. 102). Dasselbe Adjektiv, „riant“, wird dreimal verwendet, als Zusatz (Z. 2/S. 500, Z. 11) und als Übersetzung von „heiter“ (Z. 12/S. 500, Z. 23) und „lustig“ (Z. 35/S. 501, Z. 19), was eventuell auf einen eingeschränkten Wortschatz hinweist.
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Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, S. 500, Z. 18/Vgl. den unten edierten Text, Z. 8. Weitere Angaben aus dem edierten Text, aus dem Original und aus Cornus Übersetzung werden im Text nach dem Zitat angegeben.
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Obwohl sich diese Übersetzung enger an das Original als die von Cornu hält, werden die phantasievollen Beschreibungen doch nicht genau übersetzt, z. B. der Appell an die Erinnerungen Goethes, des angeredeten Du, dessen Träume sie mit jungen Nachtigallen vergleicht, und die darauffolgende Beschreibung des Flusses am Abend (Z. 7–16/S. 500, Z. 18–28). Hier sind die „reinlichen“ Straßen bloß „jolis“ (Z. 16/S. 500, Z. 26). Trotzdem werden Einzelheiten nicht weggelassen, wie bei Cornu, sondern zum Teil anders formuliert. Diese Ungenauigkeiten könnten aus Zeitdruck, Unkonzentriertheit oder aus Unkenntnis entstanden sein. Andere Beispiele weisen vielleicht deutlicher auf Flüchtigkeit hin, wie die Talare, die „vertes“ oder „bleue“ sind, aber nicht „Purpur“ oder „gelb“ (Z. 23f./S. 501, Z. 3), und die Heldin, die etwas sagte, anstatt es zu denken (Z. 101/S. 503, Z. 34). Die Reihenfolge der aufgezählten Schätze in der Bibliothek gerät ebenfalls durcheinander, und die getrockneten Pflanzen sind ausgelassen (Z. 87–91/S. 503, Z. 14–21). Einige sehr einfache Wörter und Wendungen werden überhaupt nicht übersetzt, z. B. „mit langen Bärten“ (Z. 23/S. 501, Z. 3), „wunderschön“ (Z. 24/S. 501, Z. 5), „mancher Wasserstrahl“ der „emporschießt“ (Z. 40/S. 501, Z. 25f.), von der Köchin: „sie liess sich’s gefallen“ (Z. 147/S. 505, Z. 22), und „jetzt durchsuchte ich den Sessel“ (Z. 160/S. 506, Z. 2). Wahrscheinlich sind dies ebenfalls Flüchtigkeitsfehler, denn sie sind eben so leicht zu übersehen wie zu übersetzen, aber doch auch ein Zeichen, daß der Übersetzer bzw. die Übersetzerin eher laienhaft als professionell arbeitet. Fehler, Auslassungen und Ungenauigkeiten können als unzulängliche Arbeit interpretiert werden; sie legen jedoch oft Zeugnis von der Einstellung des Bearbeiters zum Text ab, indem sie auf Prioritäten schließen lassen. Laut Leitner und von Steinsdorff vernachlässigte Cornu bewußt die „poetische Überformung“ des Briefwechsels, denn „das Interesse der Übersetzerin gilt überwiegend dem biographischen ‚Dokument‘“.37 Ihre Auslassung einer langen Beschreibung wurde oben schon erwähnt. Das Übersetzen ist dazu auch noch bekanntlich eine kreative Tätigkeit, erst recht in der Romantik und bei einer Dichterin wie Bettina, und die beiden französischen Übersetzungen dieser Anekdote schaffen auf ihre unterschiedliche Art eine Potenzierung des Textes durch die Vermittlung des Übertragungsvorgangs, indem sie etwas von dem Übersetzer mitgeben.38 Leitner und von Steinsdorff identifizieren „schulmeisterlich anmutende[] Konkretisationen und Überformungen“,39 und in dem kleinen Ausschnitt, der hier behandelt wird, übersetzt Cornu „ich mag nicht daran denken“ mit „je ne veux pas y penser, cela me fait mal“ (S. 500, Z. 22/Cornu S. 280): Ein eindeutiger inter-
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Leitner und von Steinsdorff: „…wunderliche Bilder …“, S. 187. Vgl. Clemens Brentano: „Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem Seinigen mitgiebt, ist romantisch“. (Clemens Brentano. Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald, Detlev Lüders. Bd. 16. Prosa I. Godwi oder das steinere Bild der Mutter. Text, Lesarten und Erläuterungen. Hrsg. von Werner Bellmann. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1978, S. 314). Leitner und von Steinsdorff: „…wunderliche Bilder …“, S. 187.
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pretatorischer Eingriff der Übersetzerin, der eindeutig ausspricht, was Bettina in der Schwebe läßt. In den hier edierten Text wird auch eingegriffen. So ersetzt ein Bild von „le seul son des oiseaux de la rive courbant leur tête aux Zéphirs“ die „ruheflüsternde[] Schilfgestade“ (Z. 14f./S. 500, Z. 24) und „ne prends-tu point part a ma joie […]? De toutes les expressions flatteuses de reconnaissance sorties de sa bouche, ce qui me toucha le plus furent les mots […]“ verändert den deutschen Text „freut es Dich nicht […] mehr als alle Schmeichelreden, die ich Dir sagen könnte?“ (Z. 124–126/S. 504, Z. 28–30). Der lapidare Satz „er küßte mich“ wird romantischer mit „Ses adieux furent scellés d’un baiser“ ausgedrückt (Z. 170/S. 506, Z. 14). Ergänzende Kommentare werden vom Übersetzer eingeschoben, z. B. „Mais son salut etait encore peu assuré“ (Z. 127), „avec un charme mêlé de surprise“ (Z. 50f.) und „c’est un evenement“ (Z. 136). Der Zusatz in Klammern bei „cette allée (d’antiques &) de vigoureux chataigners“ (Z. 8) wurde schon erwähnt. Nur in der Übersetzung sind die Hemdsärmel des jungen Soldaten grün (Z. 106). Neu am Schluß steht: „Nous arrivons au terme; mon jeune soldat, j’ignore encore s’il etait jeune en effet“ (Z. 165f.); „dans l’enthousiasme de sa reconnaissance“ (Z. 167) und „[il] appelle sur moi la bénédiction divine“ (Z. 168f.). Bei allen diesen Eingriffen handelt es sich um zusätzliche oder alternative Informationen, teilweise um Korrekturen, und viele liefern wirklich neue Einzelheiten, die das Bild ergänzen, während es die Eingriffe der Cornu eher einschränken. Das deutet auf eine echt romantisch-kreative Souveränität hin, die von der im Text erwiesenen sprachlichen Kompetenz abzuweichen scheint. Sie sind auch anders als die üblichen Erklärungen kulturell spezifischer Ausdrücke für eine ausländische Leserschaft: In ihrer englischen Übersetzung des Tagebuches hat Bettina erläuternde Anmerkungen und Fußnoten eingefügt, ebenso Cornu in ihrer Übersetzung.40 In vorliegendem Fall kann man nur spekulieren, ob diese Zusätze dem Wunsch eines Übersetzers entspringen, den Text lebhafter oder klarer zu machen, oder dem überlegenen Wissen eines Autors, der beim neuen Durchgang des eigenen Textes einiges wegläßt und dafür anderes einfügt. Alle hier gewagten Äußerungen zur Autorschaft des folgenden, zum erstenmal edierten Textes sollen zur weiteren Diskussion anregen. Fest steht aber, daß dieses Manuskript, das bis zum Schluß im Familienbesitz aufbewahrt wurde und noch einen Teil des Nachlasses bildet, während Cornus publizierte Übersetzung keinen Platz in der Arnimschen Bibliothek einnimmt,41 uns eine neue, sehr differenzierte und spannende Vermittlung von Bettinas Kunst in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde darbietet.
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Bettina erläuterte die „Rotmäntel“ und den „Totenköpfe“ in diesem Text, vgl. Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, S. 1098, Erl. zu S. 502,20 und 21; dazu schrieb Cornu: „Régimens hessois ainsi nommés de leurs uniformes rouges et des têtes de mort qu’ils portaient sur ces uniformes“ (Goethe et Bettina, S. 281). Sondersammlung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar. http://www.klassikstiftung.de/einrichtungen/herzogin-anna-amalia-bibliothek/ bestaende/ sondersammlungensonderbestaende/ arnimbibliothek.html
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La guerre nous avait forcés de nous réfugier dans la ville. Nous fuyions avec les Français les troupes autrichiennes: bientôt peut-être la contrée si riante, si embellie qui faisait de cette petite ville un paradis, allait être foulée sous les pieds des chevaux de la cavalerie. L’ennemi n’avait que traverser rapidement les champs et les bois, avait passé la rivière, tandis que et la douce paix (le doux calme) du printemps régnait sur les guérets, dont la tendre verdure perçait la neige bientôt fondue: c’est alors que nous revînmes à la ville. Tu connais bien cette allée (d’antiques &) de vigoureux chataigners. Combien de fois n’as tu pas sous leur ombre, & aux chants d’une population naissante de rossignols, promené ton imagination rêveuse; combien de fois à la douce clarté de la lune n’y as tu adressé tes pas accompagné de l’objet de ta tendresse: je n’y veux point penser. Tu n’as point oublié sans doute ces vues riantes, ni cette vie tumultueuse sur la rivière (peuplée) couverte de bateaux pendant le jour, ni le calme des chaudes nuits d’été, où le seul son des oiseaux de la rive courbant leur tête aux Zéphirs se faisait entendre; ni ces jardins fleuris à l’entour, ni ces jolis sentiers qui les partagent & qui facilitaient os amours. Depuis ce temps & cette contrée, & le genre de |1r| vie & la population, ont terriblement changé (ont été exposés à des chances extraordinaires) merveilleuses) personne sans l’avoir vu, ne pourrait le croire, & le voyageur qui son journal à la poche, y passerait après avoir parcouru le monde, ne se penserait conduit dans la ville des merveilles. |1v| On y voit, parmi les habitans, vivre une nation dans son costume varié & bizarre, les vieillards & les hommes faits en longues robes (traînantes) vertes & bleues; la moitié du vêtement, toujours de couleur différente; les jeunes garçons & les adolescens au teint fleuré en vestes serrées bordées (brodées d’or, montés en pantalons (culottes) verts jaune ou rouge, sur des chevaux fougueux, Au cou garni de clochettes d’argent, ou le soir préludant sur la guitarre ou la flûte aux airs, chants qu’ils vont faire entendre sous la fenêtre de leur bien-aimée. Représente-toi tout cela, & sous un doux ciel d’été, l’horizon peuplé d’êtres animés par la danse & la musique; vois le prince de cette nation, avec sa barbe blanche comme ses vêtements, sur le chemin public, devant la porte de son palais, couché, assis, sur des tapis superbes, entouré de sa cour, dont chaque membre porte une marque particulière de son emploi ou de sa dignité sur son costume d’une singularité presque fabuleuse. Là il prend en plein air son repas (sous la voûte du ciel) en face d’un jardin riant fermé, bordé, de grilles élégantes, à travers les quelles s’élèvent en pyramides des arbustes & des plantes fleurissantes (en fleur), on voit derrière un treillis léger marcher fièrement le paon & le faison doré, à côté de la |2r| tourterelle plaintive, & parmi le chant joyeux des petits oiseaux, tout est environné d’un tendre & vert gazon; de jeunes garçons en habits ornés de garnitures servent les mets dans des plats d’or, & |2v| une douce musique retentit des fenêtres du palais. Nous autres enfans, nous arrêtions souvent en passant à voir & entendre cette réunion de beaux jeunes gens, chantant, accompagnés de la flûte, ou de la guitarre: Mais
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alors je ne savais pas encore que le monde n’offre pas partout avec tant d’attraits des jouissances si pures, & à tout cela je ne voyais rien d’extraordinaire. Bientôt quand la nuit arrivait (quand le jour faisait place à la nuit) un orchestre formé des premiers artistes exécutait dans le jardin voisin de belles symphonies. Des lampes nombreuses, de mille différentes couleurs, pepitaient, brillaient jusqu’à la cime élevée des arbres; le ciel était resplendissant d’étoiles: Dans ces moments je cherchais un sentier solitaire, & regardais avec un charme mêlé de surprise, les vers luisans promener en volant leur singulière lumière & se croiser en mille directions: J’y rêvais la nuit & hâtais par mes désirs de les revoir le retour de la soirée du lendemain; parmi ces sensations, les créatures humaines n’occupaient point ma pensée; je ne les comprenais point, & je ne concevait pas comment on pouvait s’entendre avec les hommes. Maintes fois dans les nuits d’été la chapelle composée d’instruments à vent remontait & descendait la rivière dans une barque, suivie d’une foule de bateaux; les bouches restaient silencieuses, les oreilles attentives: le moindre chuchotement était entendu. |3r| & moi aussi, il fallait que je me visse doucement balancée sur les eaux; mes yeux réjouis du jeu des ombres & des lumières, & des accidents formés par les rayons de la lune, mes mains cherchant la fraîcheur dans le courant |3v| Telle était la vie dont on jouissait dans la belle saison, quand elle fut subitement troublée par le retour des scènes guerrières. La fuite était impossible. Le matin, à notre reveil, nous sommes frappés des cris – à la cave – à la cave. On canonne la ville; les Français s’y sont jetés: les manteaux rouges, & les têtes de mort (hussards de la mort) voltigent de tous côtés à leur poursuite. La foule remplissaient les rues & les manteaux rouges disait-on ne font point de quartier & passent au fil de l’épée & leurs terribles moustaches! leurs yeux farouches, leurs manteaux rouges, pour rendre moins visibles les taches du sang! Peu à peu les contrevents se ferment: les rues sont désertes. Au premier boulet qui y pénètre (à la première balle qu’on entend siffler, tout court dans les caves, & nous aussi, ma Grand’mère ma tante, une cousine âgée de 80 ans, la cuisinière, la femme de chambre, un homme qui vivait chez nous (un commensal). Là, renfermés, le temps nous semblait long à ne faire qu’écouter: une bombe tombe, éclate dans notre cour; c’était pourtant une diversion, mais le feu pouvait prendre à la maison; & sur le champ ma grand’mère songe à tout ce qu’il peut devorer, & avant toute chose à ses livres & à ses tableaux qu’elle aurait bien voulu sauver dans la cave. Notre commensal objecte l’impossibilité de descendre de la salle le pesant tableau de St. Jean; morceau que la crédulité attribuait à Raphaël. Pendant ces discours |4r| moi je m’éloigne doucement, je monte, je lève & mets sur mon dos attachée par son cordon, la lourde peinture, & avant que la discussion soit finie me voilà (au grand étonnement de tous, à la joie extrème de ma grand’mère) courbée sous mon fardeau dégringolant l’escalier: j’ai regardé par la fenêtre de la salle: tout est tranquille, & avec la permision de sauver d’autres objets je reçois la clef de la bibliothèque pour en tirer les estampes. Je franchis les escaliers jusque dans ce sanctuaire, où j’aurais souvent voulu me glisser. Là était une collection de superbes coquillages, de pierres remarquables, d’armures antiques; des oeufs d’autruche, des noix de
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coces pendaient aux murs: un gros aimant était heriné d’aiguilles à coudre, à tricoter: ici des caisses remplies de lettres; là des toilettes avec un vieux attirail & des moyens de parure, des agrafes à étoiles de pierres de couleur. Quelle joie pour moi d’être maîtresse de cette clef! je descendis tout ce qu’on demandait, & après avoir tiré la clef, je laissai la porte entr’ouverte, me promettant dans le silence de la nuit de me repaître tout à mon aise du bonheur de voir & d’éxaminer tant de belles choses. On avait recommencé à tirer: le galop de quelques cavaliers détachés interrompait seul le silence effrayant de la rue: la terreur croissait dans notre souterrain; on ne songeait pas cependant que je fusse exposée à quelque atteinte: je ne le pensais pas moi-même, je ne témoignais, |5r| ni n’éprouvais véritablement aucune peur: aussi pris-je sur moi le noble emploi, de servir tout le monde, de m’occuper des besoins de tous. J’entendais de moment en moment des cavaliers galoper dans la rue: c’est un manteau rouge, disois-je; vite j’entr’ouvrais le contrevent du rez-de-chaussée – & j’en voyais un en effet, arrêté au milieu de la rue, le sabre à la main, grande moustache ombrageant les joues, des cheveux noirs tressés en queue epaisse ressortant sous son bonnet à poil: puis il remontait la rue: son manteau flottait derrière lui puis le silence des morts. D’abord après j’aperçois un jeune homme en vertes manches de chemise, la tête nue, la paleur de la mort sur le visage, couvert de sang, monter, redescendre la rue & se livrer au désespoir. Il frappe aux portes des maisons, aux boutiques: tout reste fermé. Mon coeur palpite; je lui fais signe: il ne le voit pas, mais bientôt il se précipite vers moi avec des regards suppliants; le son des pas d’un cheval le fait s’enfoncer dans l’encognure de la grande porte de la cour: le cavalier qui est à la recherche passe sans l’apercevoir, s’arrête un instant, le cherche des yeux au loin, & disparaît enfin. Oh comme chaque regard, comme le moindre geste du cavalier & de son cheval sont restés imprints dans ma mémoire. Le pauvre objet de mon angoisse se presse & soutenu du faible bras d’une enfant s’élance derrière une muraille protectrice. Il était temps; le cavalier reparaît devant |6r| moi; je reste tranquille à ma fenêtre, il me demande un verre d’eau que je vais chercher à la cuisine. |6v| après qu’il l’a bu, & qu’il a quitté la rue, alors seulement je ferme les volets, & m’occupe de la victime que j’ai sauvée. Le cavalier l’eût découverte s’il s’était un peu dressé sur les étriers. Le jeune Français encore tremblant couvre mes mains de larmes et de baisers: il dit tout bas Mon dieu! mon dieu! Pour moi je ris de joie; je pleure de bonheur d’avoir sauvé un homme sans réflexion & sans plus savoir comment. Et toi, ne prends-tu point part à ma joie, à mon succès? De toutes les expressions flatteuses de reconnaissance sorties de sa bouche, ce qui me toucha le plus furent ces mots „Sauvez-moi, cachez-moi – mon père & ma mère prieront pour vous“ Mais son salut était encore peu assuré: je le conduisis par la main, en silence par la cour, dans le bûcher: là je l’éxaminai sa plaie à la tête, l’eau me manquait pour la laver & je n’osais pas en aller chercher. Notre voisin Andrée que tu peux te rappeler était avec plusiers amis, monté sur son observatoire pour voir les évènements de la guerre; il aurait pu me remarquer: un seul moyen me restait: je léchai le sang; car l’assuyer avec ma salive me semblait peu convenable. Mon patient se laissa faire (se tint tout tranquille). J’écartai
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doucement les cheveux colés ensemble. Dans ce moment une poule que nous avons effrayée, sort en criant du haut du bûcher où elle a coutume de pondre ses oeufs. C’est un événement. |7r| je grimpe & je rapporte l’oeuf qu’elle vient de déposer; & de la pellicule je couvre la plaie: j’éspère qu’elle l’aura guérie. Enfin je retourne dans notre cave. Une de mes soeurs dormait: l’autre priait: ma grand’mère écrivait sur une petite table, à la lumière d’une bougie son testament. Ma tante avait fait le thé: on me donna les clefs de l’office pour aller prendre du vin & quelques viandes froides: mais je songeai en même temps à mon pauvre prisonnier, à qui je portai du pain et du vin. ainsi s’écoule la journée, & le danger cessa: on quitta la cave. Mon secret commençait à me peser. J’épiais tous les mouvements des gens de la maison: j’aidais à la cuisinière dans sa cuisine & avec son aveu Je me chargeais du soin d’aller chercher l’eau et le bois, sous le pretexte qu’il pouvait être encore dangereux de se montrer à découvert: enfin, enfin la nuit arriva. Notre voisin nous avait rapporté que, pour le moment, il n’y avait point de sujet de crainte, et l’on alla se coucher: on avait grand besoin de repos. Mon lit était dans la chambre attenante à celle de ma grand’mère; je pouvais de là observer le bûcher qui était éclairé par la lune. Je formai mon plan. Avant tout il fallait trouver des habits propres à déguiser un soldat. que j’étais heureuse d’avoir laissé la bibliothèque ouverte! Là se trouvait un habit de chasse & un bonnet: |8r| Pour la forme de l’habit, & s’il était vieux ou neuf, c’est ce qui ne m’occupait guère: je me glisse sans souliers en passant devant la porte de ma tante, je porte le précieux costume à la main avec précaution de peur du bruit qu’auraient pu faire les boutons de métal en frappant le mur. L’habit allait parfaitement: un bon génie l’avait fait faire à sa taille, & le bonnet à sa tête. J’avais toujours mis derrière le coussin de peau d’un fauteuil l’argent qu’on me donnait, parce que je n’en avais pas d’emploi: la somme était passable, & je la remis à mon protégé. Puis je le conduisis à travers le jardin, éclairé par la lune, & embaumé du parfum des fleurs. Nous marchâmes d’un pas lent, nous tenant par la main jusque derrière la rangée de peupliers qui longe le mur où, tous les ans, les rossignols construisent leurs nids: c’était justement l’époque. Mais pour cette fois il fallait troubler ces doux ménages (ces aimables hôtes). Nous arrivons au terme; mon jeune soldat, j’ignore encore s’il était jeune en effet, dans l’enthousiasme de sa reconnaissance me prend dans ses bras, m’élève vers le ciel, jette son bonnet, penche sa tête sur mon sein & appelle sur moi la bénédiction divine: que pouvais-je faire? Mes bras étaient libres, je me joignis à sa prière en les croisant sur sa tête: Ses adieux furent scellés d’un baiser. Et je le vis sauter par dessus le mur garni d’une haie de rosiers dans le jardin qui conduit au Mein où les bateaux qui s’y trouvaient lui auront fait passer le fleuve. |9r|
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Varianten
Folgende Abkürzungen werden in den Varianten verwendet: üdZ über der Zeile alR am linken Rand arR am rechten Rand Unterpungierte Buchstaben oder Wörter in spitzen Klammern bezeichnen eine unsichere Lesung. Ein unlesbarer Buchstabe wird durch ein kursives x in spitzen Klammern gekennzeichnet. Drei kursive x in spitzen Klammern bezeichnen drei oder mehr unlesbare Buchstaben. 1 ville.] danach gestrichen 3 cette] aus notre 4 n’avait que traverser] üdZ erwogen après avoir traversé 6 perçait] danach gestrichen à travers 8 cette [...] &)] arR 8 de vigoureux] de aus ces 9 leur] darüber gestrichen 9 naissante de] de arR 11 tu] danach gestrichen pa 11 tendresse] aus amour 13 tumultueuse] üdZ eingefügt 13 (peuplée)] alR 13f. le calme [...] d’été,] aus pendant les tranquilles qui ; le calme des chauds üdZ ; nuits d’été arR 16 os] aus 18 terriblement] üdZ erwogen étrangement 18 été] über gestrichen souffert 18 à des] davor ungestrichen d 18 extraordinaires] üdZ erwogen étranges 19 le croire] le aus 21 conduit] üdZ erwogen transporté 22 son] aus 22 varié] aus variés 25 serrées] üdZ erwogen colantes 26 jaune] üdZ eingefügt 30 animés] üdZ erwogen joyeux 30 le] aus leur 30 barbe] aus bal 31 sur le chemin public] davor gestrichen en public ; üdZ erwogen publiquement dans la rue 31 porte] aus porte, 33f. son costume] son aus 35 d’un jardin] aus d’élégants jardins
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36 en pyramides] üdZ eingefügt 37 fleur),] danach gestrichen à côté 38 le paon &] üdZ eingefügt 38f. parmi le] über gestrichen du 39 petits] üdZ eingefügt ; danach gestrichen angesetzter Buchstabe 41 &] wiederholt am Anfang von 3r 44 alors] üdZ eingefügt 44 n’offre] über gestrichen und durch Unterpungieren wieder eingesetzt 44f. avec tant d’attraits] davor gestrichen si attrayant 45 à] üdZ 45 je] aus me 47 formé] aus fri 47 dans le jardin voisin] üdZ eingefügt 48 pepitaient] gestrichen und durch Unterpungieren wieder eingesetzt 49 cime] danach gestrichen de 50 un charme] un üdZ 51 en [...] lumière] (1) dans leur (2) dans leur vol (3) Text: dans ungestrichen 54 & je ne] ne aus non 56 dans [...] d’été] üdZ eingefügt 56 composée [...] vent] nachträglich in freigelassene Stelle eingefügt 59f. doucement] üdZ eingefügt 60 yeux] davor gestrichen rej 66 à leur] üdZ eingefügt 68 passent] danach gestrichen tout 68 l’épée] aus l’épée, 68 moustaches!] aus moustaches, 69 moins] über gestrichen peu 70 contrevents] aus fe 71 qui] aus 77 peut] üdZ eingefügt 77 devorer] danach gestrichen 77 avant tout chose] über gestrichen à qui lui importait le plus ; avant aus
78 voulu] aus vol 79 descendre] üdZ erwogen transporter 79 tableau] danach gestrichen tableau 80 moi] alR eingefügt 81 lève &] üdZ eingefügt 82f. (au [...] grand’mère)] arR eingefügt 84 avec] über gestrichen j’atteins 89 d’aiguilles] danach gestrichen & d’épingles de fer 90 avec] darüber gestrichen angesetzter Buchstabe 90 un] aus de 90 attirail] danach gestrichen (1) de parure (2) & de m 91 moyens] über gestrichen objets
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Sheila Dickson
91 à étoiles] über gestrichen garnies 91 pierres de couleur] davor gestrichen diamant 92 je] aus j’ 93f. dans [...] aise] aus de me repaître tout à mon aise (1) pendant (2) dans le silence de la nuit 97 on] aus 97 songeait] (1) supposait (2) me songeait (3) Text 97 que je fusse] üdZ eingefügt ; je aus j’étais 98 le] üdZ 98 témoignais,] danach gestrichen & je 98f. ni éprouvais véritablement] eingefügt über gestrichen ne témoignais 101 en moment] über gestrichen à autres (fréquemment) 101 galoper] über gestrichen courir 102 vite] davor gestrichen j’e 102 le contrevent] aus 102 rez] aus riz 103 ombrageant] (1) d (2) noire/épaisse (3) Text 105 son manteau [...] lui] üdZ 106 en vertes] über ungestrichen, eingefügt en 107 le] aus son 107f. monter, redescendre] aus montant, redescendant 108 se] üdZ 109 Mon coeur palpite] über gestrichen Cette vue me fait palpiter le coeur 110 se précipite] davor gestrichen accourt 110f. le son des pas] davor gestrichen à l’approche d’un 112 recherche] üdZ erwogen poursuite 113 instant,] danach gestrichen 113 loin,] danach gestrichen s’en retou 122 dit tout bas] davor gestrichen 123 sans réflexion &] üdZ eingefügt 125 me] aus te 135 effrayée] üdZ erwogen effarouchée 135 du haut] über gestrichen d’un coin 137 je] wiederholt vom Ende von 7r 137 & de] de aus je 145 cuisine [...] chargeais] & avec son aveu üdZ eingefügt ; Punkt nach cuisine nicht gestrichen ; nach chargeais üdZ eingefügt und wieder gestrichen avec l’aveu de 145 Je] aus J’ai 147 encore] üdZ eingefügt 147 découvert] aus découverte 152 propres] aus p 154 Pour] aus De 156 avec précaution] alR und üdZ eingefügt 159 le] aus un
Eine unbekannte Übersetzung
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159 d’un fauteuil] üdZ 162 marchâmes] über gestrichen marchions 162 d’un] aus 163 longe] davor gestrichen court 165 fois] aus 167 bras] aus 168 appelle] aus p 169 bénédiction] aus bénédictions 170 sa prière] sa aus ses 170 Ses] aus Il
VI. Erläuterungen 1
La guerre] Die Koalitionskriege (Erste Koalition 1792–1797; Zweite Koalition 1799–1802). Vgl. Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, S. 1097, Erl. zu S. 500,8. Zu „Kriegsszenen […] die Stadt wird beschossen“ vgl. ebenda, Erl. zu S. 502,17ff: „Am 11. und 12.7.1800 kam es zu Kriegshandlungen zwischen Franzosen und einem österreichisch-kurmainzischen Korps in und um Offenbach“. 73f. un homme qui vivait chez nous (un commensal)] Im deutschen Text „ein männlicher Hausgenosse“ (S. 502, Z. 31). Nicht erwähnt in der oben zitierten Literatur zum Haushalt der Frau von La Roche. 88 oeufs d’Autruche] Strausseneier. 129f. Notre voisin Andrée] Johann Anton André (1775–1842), Nachbar in Offenbach, Komponist und Musikverleger. 1784 übernahm er den Musikverlag seines Vaters. Vgl. Clemens Brentano’s Frühlingskranz. Die Günderode, S. 1066, Erl. zu S. 170,22. 172 Mein] Der Main.
VII. Überlieferung Die Handschrift befindet sich im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, im Konvolut „Ludwig Achim von Arnim, Schüler- und Studentenschriften“, und wurde unter „französische Schülerarbeiten“ archiviert, Signatur: GSA 03/292. Von den 9 Einzelblättern sind die Seiten 1r–4r, 5r, 6r–7r, 8r, 9r beschrieben. Die beschriebenen verso-Seiten enthalten meist nur wenige Zeilen, um einen angefangenen Satz zu Ende zu führen. Die Blätter 1–6 messen ca. 189 x 228 mm, die Blätter 7–9 ca. 208 x 265 mm. Bei dem Papier handelt es sich um bräunliches Konzept(Bl. 1–6) und gelbliches, geripptes Konzeptpapier (Bl. 7–9); der Text wurde mit Tinte geschrieben. Die Blätter 7–9 weisen Wasserzeichen auf: Bl. 7: Untere Hälfte eines Baselstabes; Bl. 8 u. 9: Untere Hälfte von nicht identifizierten
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Sheila Dickson
doppelstrichigen Antiquaversalien und Kapitälchen. Die Blätter 1r–9r sind rechts am oberen Rand foliiert, mit Ziffern und Buchstaben (1a–9i). Dem Konvolut liegt ein Papierstreifen mit folgenden Bemerkungen von einer unbekannten Hand: „ ie Arnim ren 7ber 8–9.10.“. Die Handschrift ist mit Bleistift links am unteren Rand von unbekannter Hand (Archivar[in]) paginiert.
Abb. 1: Seite 1 recto der beschriebenen Handschrift (GSA 03/292).
Eine unbekannte Übersetzung
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Renate Moering
Ludvig Holberg und August von Kotzebue Eine unbekannte Quelle für Clemens Brentano
Das Nasenrümpfen und hämische Maulziehen unsrer bettelstolzen Zeit bei der Erwähnung geistlicher Orden spielt bereits in die Grimasse eines Don Ranudo de Colibrados hinüber, der so adelstolz als hungrich, mit hochgetragner aber schnuppernder Nase und verachtendem aber wäßerndem Munde den Hirsenbrei seines essenden gutmüthigen Dieners anblickt. Noch einen Grad Armuth und Hunger mehr und die hofärtige Figur, die bereits stark mit den Knieen schlottert – was als Vivazität gemeldet wird – dürfte mit der Nase in die Schüssel fallen. Dazu aber wird der fromme Diener unter stillen Trähnen des Dankes das Benedicite sprechen. Die Infanten der hohen Herrschaft aber werden sagen: Nicht wahr, Gnaden Papa, das schmeckt beßer als hungern, Sieh, wir haben uns seit lange schon heimlich das Leben damit gefristet, haben dir auch manchmal etwas davon während deinem Mittagsschläfchen in den Mund gestrichen, den du alsdann aufzusperren pflegst. Es war immer dann geschehen wenn du nachher so artig schmatztest und die Zähne stochernd hoch und theuer versichertest, es befinde sich die hohe Familie und deren Unterthanen im blühendsten Zustande.1
Worauf Brentano in dieser satirischen Passage anspielt, wer „Don Ranudo de Colibrados“ sei, konnte bei der Edition der Handschrift nicht ermittelt werden. Die Passage steht in einer Niederschrift, die Brentano im Anschluß an eine Reise nach Paris verfaßte; Zweck dieser Fahrt mit dem Koblenzer Fabrikanten und „Armenvater“ Hermann Josef Dietz im Frühjahr 1827 war es, katholische Orden, die Schulen unterhielten, kennenzulernen. Preußen, zu dem Koblenz seit 1815 gehörte, baute sein eigenes Schulsystem auf und stand derartigen Bestrebungen ablehnend gegenüber. Deswegen wurden für die Reise vor der preußischen Behörde als Grund „Familienangelegenheiten“ angegeben, und auch anschließend nicht öffentlich darüber berichtet.2 Brentano schrieb aber seine Eindrücke und Gedanken nieder, obwohl er zunächst keine Publikation plante. Als Andreas Räß, der Herausgeber der Zeitschrift Der Katholik, ihn um Beiträge bat, antwortete er Mitte April 1828: Ich habe zufällig mehrere kleine Aufsätze geschrieben; aber ich bin unglücklich, daß die Art meiner Sprache mich gleich verräth, und ich bin daher scheu, sie dem Katholiken zu
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Renate Moering: Eine unbekannte Handschrift Clemens Brentanos zu den Aufzeichnungen nach der Paris-Reise. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1995, S. 37 f. Vgl. das Kapitel: Die Reise nach Frankreich. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe (Frankfurter Brentano-Ausgabe, zitiert: FBA). Hrsg. von Jürgen Behrens u. a. Bd. 22,2: Die Barmherzigen Schwestern. Kleine religiöse Prosa. Lesarten und Erläuterungen. Hrsg. von Renate Moering. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1990, S. 32–40. Der Reisepaß, S. 33.
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Renate Moering
geben und lasse sie liegen; denn es regt sich immer in dem, was ich schreibe, etwas das meine bessere Überzeugung nicht billigen kann. Viele Einfälle, die ich schlagend fühle, setzen mich gleich in die Nothwendigkeit, auch die Antwort des Gegners zu erfinden; da komme ich dann immer auf die Wahrheit, [...] daß es mir ziemt zu schweigen, weil ich Niemand betrüben will, da ich Niemand heilen kann.3
Erst zehn Jahre später, außerhalb Preußens in München, als seine Koblenzer Freunde durch eine verdächtige Publikation nicht mehr politisch gefährdet werden konnten, gab er einen Teil der Handschrift zum Druck, ließ aber die geistreichsten Passagen in der Schublade. Welche stilistische Brillanz auch der religiöse Brentano entwickeln konnte, wurde erst nach und nach bekannt: Nach dem Abdruck dreier Aufsätze 1838 in den Historisch-politischen Blättern bearbeitete seine Schwägerin Emilie Brentano die unpublizierte Handschrift für die postume Ausgabe von 1852 und ergänzte sogar ein Gedicht;4 die Frankfurter Brentano-Ausgabe druckte 1985 zwar zuerst den vollständigen Text samt den bislang bekannten Handschriften ab,5 doch tauchten weitere zehn Jahre später Teilmanuskripte zu diesem Komplex im Görres-Jochner-Nachlaß auf, aufgrund deren erstmals für die Hälfte des Textes die originale Formulierung Brentanos hervortrat.6 Wie verfuhr Brentano weiter mit seinen Aufzeichnungen? In München knüpfte er die Freundschaft zu dem ebenfalls aus Koblenz stammenden Joseph Görres wieder an; dadurch dürfte er sich an die dort entstandenen Manuskripte erinnert haben. Jedenfalls überließ er dessen Sohn Guido Görres, inzwischen Herausgeber der Historisch-politischen Blätter, diese Papiere und gab ihm offenbar auch das Recht, redigierend nach Gutdünken damit zu verfahren. Dieser kürzte nicht nur den Text, sondern schrieb auch Überschriften und Passagen dazu und nahm zahlreiche stilistische Veränderungen vor. Bei der im Anfang nach der Handschrift zitierten Passage hielten sich diese in Grenzen.7 Sich die „Zähne stochern“ durfte allerdings 1838 der hungernde Aristokrat nicht, das wäre wohl dem frommen Lesepublikum nicht zuzumuten gewesen. Brentanos Sorge über seine „Einfälle“ betraf, wie er Räß schrieb, seine Argumentation, vielleicht aber auch die literarischen Quellen, deren er sich bediente, denn besagte Passage bezieht sich ausgerechnet auf die Komödie eines Aufklärers, konnte also bei den Lesern dieses den liberalen Zeitgeist bekämp-
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Zitat: FBA 22,2, S. 417. Clemens Brentano’s Gesammelte Schriften (GS). Hrsg. von Christian Brentano, Bd. 4, Frankfurt a. M.: Sauerländer 1852, S. 351–399. FBA, Bd. 22,1: Die Barmherzigen Schwestern. Kleine religiöse Prosa. Text. Hrsg. von Renate Moering. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1985, S. 593–639. Die betreffende Passage steht in dem 1838 zuerst publizierten Aufsatz Der Welt Urtheile über geistliche Vereine; der Titel stammt nicht von Brentano, sondern von Guido Görres. Vgl. Anm. 1. unsrer] unserer; bereits] häufig; hungrich] hunrig; hochgetragner] hochgetragener; Nase und] Nase, mit; Vivazität] Vivacität¸ Trähnen] Thränen; Papa,] Papa!; manchmal etwas] etwas; und die Zähne stochernd hoch] und uns hoch. Handschrift verglichen mit dem Erstdruck (vgl. FBA 22,1, S. 606f.). – Eine frühere handschriftliche Fassung Brentanos ist abgedruckt in: FBA 22,1, S. 619.
Ludvig Holberg und August von Kotzebue
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fenden Textes doch einiges Kopfschütteln auslösen. 1834 hatte Brentano konsequenterweise den Namen „Don Ranudo de Colibrados“ noch weggelassen, als er die Passage gekürzt und in biblischem Tonfall seinem Emmerick-Buch Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi einfügte: „[...] und lächelten hungernd mit stolzem Mitleid der Diener und Boten, welche sie zum hochzeitlichen Mahle einluden“.8 Doch nun zu dem Theaterstück, auf das hier angespielt wird: 1684 wurde in Bergen im damals mit Dänemark unierten Norwegen Ludvig Holberg geboren, der nach Studium in Kopenhagen und Oxford und verschiedenen Reisen, u. a. nach Rom, wo er die Commedia dell’arte sah, wieder in Kopenhagen lebte, seit 1717 als Professor für Metaphysik (1720 für lateinische Rhetorik, 1730 für Geschichte). Als 1722 dort ein dänischsprachiges Theater eröffnet wurde, erhielt er den Auftrag, dafür Komödien in dänischer Sprache zu schreiben; in zwei Jahren entstanden über 20 Stücke, darunter 1723 die Standessatire Don Ranudo de Colibrados, Fattigdom og Hoffaerdighed.9 1754 starb der erfolgreiche, inzwischen auch geadelte Schriftsteller. Brentano las Holberg 1803 in Frankfurt; sein Brief an Achim von Arnim vom 30. April lobt ihn: „Vieles von Tieks Humor erscheint mir fad seit ich wieder Gozzi, Holberg, und viele altere Dichter Deutschlands laß [...].“10 Die Ausgabe, die Brentano damals (vermutlich) besaß, enthält Don Ranudo de Colibrados nicht; vgl. den Versteigerungskatalog von 1819, welcher verzeichnet: „175. Holbergs sechs Lustspiele. a. d. Dän. Copenh. 744. 8.“11 Wohl aber steht das Lustspiel in der im postumen Katalog genannte Ausgabe: „2746 v. Holberg’s dänische Schaubühne deutsch übers. 5 Bände. Kopenh. 759–762. 5 pbde“.12 Holbergs Stücke konnten also schon ziemlich bald auch von deutschen Lesern rezipiert werden, was für die fragliche Komödie umsomehr gilt, als der um 1800 erfolgreichste deutsche Bühnenautor sie adaptierte: „Don Ranudo de Colibrados. Ein Lustspiel in vier Acten. Nach Holberg frey bearbeitet von August von Kotzebue.“13 Schon 1802 war es auf dem Berliner
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FBA, Bd. 26: Das Bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi. Hrsg. von Bernhard Gajek. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1980, S. 129. Der Untertitel bedeutet: „Armut und Hoffart“. Zitiert nach: Ludwig Achim von Arnim: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Roswitha Burwick u. a. (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 31: Briefwechsel 1802–1804. Hrsg. von Heinz Härtl. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 224. Vgl. FBA 31: Briefe III, 1803–1807. Hrsg. von Lieselotte Kinskofer. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1991, S. 82; FBA 38,3: Briefe 1803–1807. Erläuterungen. Unter Mitwirkung von Sabine Gruber hrsg. von Lieselotte Kinskofer, S. 163, ohne einen Hinweis auf Don Ranudo de Colibrados. – In Heidelberg hörte Brentano Ludwig Tieck zu, der am 7. September 1806 vor Freunden Holbergs Komödie Die Wochenstube vortrug (vgl. Konrad Feilchenfeldt: Brentano Chronik. München: Hanser 1978, S. 52). Verzeichniß einer sehr reichen Sammlung von Handschriften und alten Drucken. Berlin: Bratring 1819, S. 117. Katalog der nachgelassenen Bibliotheken der Gebrüder Christ. und Clemens Brentano. Köln: J. M. Heberle 1853, S. 156. Leipzig: Paul Gotthelf Kummer 1803. Exemplar des Freien Deutschen Hochstifts, Signatur IX K 90 / E 90.
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Theater uraufgeführt worden, wobei August Wilhelm Iffland (1759–1814) in der Hauptrolle brillierte; mehrere Kupferstiche stellen ihn in schwarzem Samtkostüm mit goldenen Ärmelstulpen dar.14 Das konnte Brentano unmöglich entgehen, zumal er sich wenige Jahre vorher über den Aufklärer Kotzebue lustig gemacht hatte, als dieser es gewagt hatte, in seiner Komödie Der hyperboreeische Esel oder Die heutige Bildung (Leipzig: Kummer 1799) die Romantiker, besonders Friedrich Schlegel, zu verspotten. Er verfaßte dagegen die Literatursatire Gustav Wasa (Leipzig 1800) und übernahm damit frech den Titel von Kotzebues historischem „Schauspiel in fünf Akten“ Gustav Wasa (Leipzig 1801 gedruckt), das Brentano schon 1800 auf der Bühne gesehen hatte.15 Auf welche Fassung sich Brentano bei seiner Anspielung bezog, läßt sich schwer entscheiden, da er offenbar aus seiner Erinnerung schöpft und Handlungsdetails leicht abwandelt. Hier die Grundlagen: Die postume Ausgabe Holbergs druckt die Komödie im Vierten Band ab:16 (Haupttitel:) Die Dänische Schaubühne geschrieben von dem Freyherrn Ludwig von Holberg und nun in die deutsche Sprache übersetzet. Vierter Band. Copenhagen und Leipzig, verlegts Gabriel Christian Rothe. 1756. (Werktitel:) Don Ranudo de Colibrados, Oder Armuth und Hoffart. Ein Lustspiel in fünf Handlungen. Aus dem Dänischen des Freyherrn Ludwig von Holbergs übersetzt. Zweite und mit einigen neuen Auftritten vermehrte Auflage. Kopenhagen und Leipzig, Im Verlag der Rothischen Buchhandlung. 1755
Auf Seite 2 folgen die „Personen des Lustspiels“: Don Ranudo de Colibrados, ein Grand d’Espagne. Donna Olympia, dessen Gemahlinn. Donna Maria, deren älteste Tochter in Gonzalo verliebt. Donna Eugenia, deren jüngste Tochter. Gonzalo de la Minas, ein spanischer Edelmann und Liebhaber der Donna Maria. Isabella, dessen Schwester. Leonora, der Donna Maria Kammermädchen.
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„Kostüme auf dem Königlichen National-Theater in Berlin“, vgl. www.galerie-gaertner.de; 12.11.2009. Wilhelm Henschel schuf „Sechs Szenen aus Don Ranudo de Colibrados“, Aquatintaradierungen zu einer Folge von „Ifflands Mimischen Darstellungen“ (1809– 1819). Vgl. Clemens Brentano. 1778–1842. Ausstellungskatalog. Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum 1978. Hrsg. von Detlev Lüders, S. 28–31 (Texte von Hartwig Schultz). Hessische Landesbibliothek Wiesbaden, Signatur Lb 3592. Die Komödie steht Bd. 4, S. 1– 104.
Ludvig Holberg und August von Kotzebue
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Gusmann, des Don Ranudo Page. Pedro, Lakay des Don Ranudo. Ein Gerichtsdiener, Ein Dollmetscher. Ein Notarius. Ein Bauer. Das Gefolge eines Prinzen; in welchen sich Gonzalo verkleidet hat.
Im 1. Akt („Handlung“) unterhält sich Gonzalo mit seiner Schwester Isabella über seine aussichtslose Liebe zu Donna Maria; denn obwohl er adlig und reich ist, wollen ihre Eltern nur einen Freier akzeptieren, der wie sie seine Vorfahren bis auf die Zeit der maurischen Besetzung Spaniens zurückverfolgen kann. Pedro und Leonora, zerlumpt und halb verhungert im fürstlichen Dienst, bieten ihre Hilfe an. Man erfährt, daß die Herrschaft nur noch Erbsensuppe essen kann, sich aber dann die Zähne stochert, um ein üppiges Mahl vorzutäuschen.17 Der 2. Akt zeigt Don Ranudo und Donna Olympia in ihrer komischen „Hoffart“; sie beschäftigen sich mit Erzählungen über ihre Ahnen, um den Hunger zu vergessen, der sie so schwach macht, daß sie sich kaum auf den Beinen halten können. Ihre Kleider sind auf der Vorderseite mit Fetzen von der Rückseite ausgebessert; die Löcher in den schwarzen Strümpfen läßt sich Don Ranudo mit Tinte zumalen. Die Werbung Isabellas für Gonzalo weisen sie höflich, aber bestimmt zurück. Im 3. Akt bittet Don Ranudo einen Bauern, der vor dem Tor Brot und Käse verzehrt, herein und schwatzt ihm das meiste ab, was diesem eine „Ehre“ sein solle. Ein Gerichtsdiener erscheint und pfändet dem Ehepaar die Kleider vom Leibe. Im 4. Akt bereiten die Diener die Intrige vor: Angekündigt wird ein äthiopischer Fürst, der Donna Maria heiraten möchte; er sei Christ und sein Name: „Melchior Caspar Balthasar Theophrastus Bombastus Ariel David Georgius“.18 Seine Ahnen sollen in biblische Zeit zurückreichen, was bei Don Ranudo und Donna Olympia den gewünschten Eindruck macht. Unter allerlei Sprachwitzen kommt im 5. Akt der Ehekontrakt zustande, auf dem die entsetzten Eltern als letzte Unterschrift die des unerwünschten Schwiegersohns lesen. Beleidigt ziehen sie sich ins Kloster zurück, während das glückliche Paar heiratet. Kotzebue streicht zwei Nebenfiguren: die jüngere Tochter und den Pagen. Donna Maria ist nicht die Tochter, sondern die Nichte. Teilweise setzt er – wie in der ersten Szene – schleppende Dialoge in kleine Handlungen um. Er erfindet ein Requisit: Die Hälfte eines Ringes, den im Mittelalter der Mohrenfürst, angeblicher Kampfgegners eines Vorfahren Don Ranudos, diesem gegeben hat, damit ein späterer Enkel dessen Nachfahrin heiraten soll. Dieser Ring wird gepfändet und später von Gonzalo als angebliches Gegenstück vorgewiesen. Kotzebue erweist in diesen Veränderungen sein Gespür für Bühnenwirksamkeit, das auch Brentano schätzte. So wies dieser z. B. Arnim am 10./11. Dezember 1811 in Prag auf günstige Nachdrucke von „Kotzebüschen Sachen“
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S. 7 und 14, später S. 31, weil die angeblichen „Capaunen“ so zäh waren. S. 75.
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Renate Moering
hin.19 Nach Kotzebues Ermordung äußerte er sich entsetzt über das Attentat; seinem Bruder Christian schrieb er am 3. April 1819 aus Berlin: „Die scheusliche Ermordung Kozebues durch einen fanatischen Jüngling wirft ein fürchterliches Licht auf die Zeit, in der wir leben [...]“.20 Ende der 20er Jahre, als er die Aufzeichnungen aus Paris schrieb, äußerte er sich weder zu Kotzebue noch zu Holberg. Da er in der Passage von „Infanten“ spricht, könnte sich seine Erinnerung eher aus Holbergs Komödie als aus der Fassung Kotzebues speisen, doch sind die übrigen Anspielungen zu vage. Bemerkenswert ist die Umsetzung dieser Szenen: Den dünkelhaften Uradel vergleicht Brentano mit seinen liberalen Zeitgenossen, da beide den Hunger verleugnen. In seiner Gegenwart sah Brentano in den Koblenzer Jahren echte Hungersnot und Krankheit, welchen langfristig durch Schulbildung und Krankenpflege abgeholfen werden müßte. Die Sorge für die unteren Schichten wurde von den Staaten damals noch nicht wahrgenommen. In seinem sozialen Engagement berührte sich Clemens Brentano mit dem seiner Schwester Bettine, der er sich in der Folge über diese Fragen wieder annäherte.
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FBA 32: Clemens Brentano: Briefe. 1808–1812. Hrsg. von Sabine Oehring. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1996, S. 373. FBA 34: Clemens Brentano: Briefe. 1819–1825. Hrsg. von Sabine Oehring. Stuttgart: Kohlhammer 2005, S. 55.
Stefan Nienhaus
Zu viel „Tiefsinn“ und zu wenig „kindliche Freude“ Tiecks vergebliche Mahnung an Runge
Was in Tiecks Sommerreise als Würdigung des verstorbenen Freunde beginnt, gerät unter der Hand zu einer kritischen Abrechnung mit dem Schaffen Runges: Es war eine Freude, diesen gesunden Menschen diese Zeichnungen [die Zeiten, S.N.] selbst erklären zu hören, und zu vernehmen, was er Alles dabei gedacht. Ich suchte ihn […] darauf aufmerksam zu machen, daß er, besonders in den Randzeichnungen, die die Hauptgestalten umgeben, mehr wie einmal aus dem Symbol und der Allegorie in die zu willkürliche Bezeichnung, in die Hieroglyphe gefallen sei. Der bittre Saft, der aus der Aloe trieft, die Rittersporn, die im Deutschen durch Zufall so heißen, können nicht im Bilde an sich Leiden, Reue oder Tapferkeit und Muth andeuten. So ist in diesen Bildern manches, was Runge wohl nur allein versteht, und es ist zu fürchten, daß bei seiner verbindenden reichen Phantasie er noch tiefer in das Gebiet der Willkür geräth und er die Erscheinung selbst als solche zu sehr vernachlässigen möchte.1
Ist diese scharfe Distanzierung nur mit dem Hinweis zu erklären, daß Tieck hier aus einem Abstand von etwa zwanzig Jahren seine Begegnung mit Runge wieder aufleben läßt, nun also den Blick auf eine romantische Vergangenheit richtet, von der er sich seit langem losgelöst hat? Erinnert man an seine begeisterte Reaktion auf die Zeiten, von der Runge selbst im Brief vom 23. März 1803 an seinen Bruder mit größter Freude berichtet, so erscheint der Kontrast doch allzu groß: Wie ich in Ziebingen Tieck meine Zeichnungen zeigte, war er ganz bestürzt; er schwieg stille, wohl eine Stunde, dann meynte er, es könne nie anders, nie deutlicher ausgesprochen werden, was er immer mit der neuen Kunst gemeynt habe; […] wie nicht eine Idee ausgesprochen, sondern der Zusammenhang der Mathematik, Musik und Farben hier sichtbar in großen Blumen, Figuren und Linien hingeschrieben stehe. […] Er war ganz tiefsinnig geworden, […] die bestimmt ausgesprochene Wahrheit der Farben, der Grundbegriffe des Glaubens, und die Festigkeit meines Glaubens, womit ich zu Werke ginge, damit müsse ich alles überwinden, was sich in den Weg lege [.]2
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2
Ludwig Tieck: Schriften, Bd. 23, Berlin: Reimer 1853, S. 18f. Von irgendwelcher „Empfindung“ vor Runges Arbeiten ist nicht (mehr) die Rede; und: „In derselben Gefahr befindet sich auch wohl Friedrich“ (ebd., S. 19). Zum Begriff der „Empfindung“ und zu Tiecks Stellung zur Malerei Friedrichs vgl.: Roger Paulin: Tiecks Empfindungen vor Caspar David Friedrichs Landschaft. In: Aurora 43 (1983), S. 151–159. Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften. Hrsg. von Daniel Runge, T. 1, Hamburg: Verlag von Friedrich Perthes 1840, S. 36.
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Stefan Nienhaus
In diesen glücklichen Stunden sieht sich Runge als den schöpferischen Künstler, der in seinem Schaffen das auszudrücken vermag, was sich in den Gefühlstiefen Tiecks – und ihm von Tieck vermittelt – als „Ahnung des einen Punctes, wo alles, was die Welt geboren, zusammenstößt“,3 verbirgt. In ihrer Zusammenarbeit nur könne er Tieck davor bewahren, sich in unkreativer Kontemplation zu verlieren, während er vor der Gefahr oberflächlicher Produktion gerettet werde: Daß ich mit Tieck in allem am nächsten zusammenkomme, ist kein Zufall, sondern es muß so seyn; ich bin gleichsam die executive Gewalt, die Arbeit ist mir angeboren und ich bin nicht glücklich, wenn ich nicht hervorbringen kann. Ohne Tieck würde ich mich vielleicht in die Practik und die Virtuosität vertiefen und darin verlieren, wie es gar Raphael zulezt gethan; und ohne mein Aussprechen könnte Tieck sich in seinem Gemüth verlieren: darin sind wir einig.4
Selten sollten sich (Selbst)-Einschätzungen als dermaßen falsch erweisen: Tieck wird seine Krise(n) noch stets überwinden und ein produktiver Autor bleiben – Runge wird das mit den Zeiten Erreichte nicht fortsetzen und in den rund sieben Jahren bis zu seinem frühen Tode (am 2. Dezember 1810) nur eine begrenzte Zahl sich mühsam abgerungener Werke schaffen. Über die mannigfaltigen Anregungen, die Runges Denken durch die Schriften Tiecks, insbesondere des ersten Teils von Franz Sternbalds Wanderungen empfangen hat, sind wir gut informiert.5 Im berühmten Brief vom 9. März 1802 an seinen Bruder Daniel6 macht Runge keinen Hehl daraus, daß seine umfassenden programmatischen Überlegungen zum künstlerischen Schaffensprozeß aus den kunsttheoretischen Diskussionen mit Tieck in Dresden hervorgegangen sind. Die Verbindungen zum Sternbald, zu den Phantasien über die Kunst, zum Klosterbruder sind zahlreich, und es ist in erster Linie das „erste[] religiös-universalpoetische[] Großdrama der Romantik“,7 Leben und Tod der heiligen Genoveva, das Runge zu seinen Bemühungen um eine Grundierung der neuen Kunst in christlicher Glaubensempfindung ermutigt hat. Im Gegensatz aber gerade zum ja höchst produktiven Autor Tieck hat er mit den übrigen Vertretern der (literarischen) Frühromantik gemeinsam, daß der bedeutenden theoretischen Anstrengung zur Fundierung der neuen Kunstrichtung keine in entsprechendem Maße die gedanklichen Prämissen in künstlerische Produktion umsetzende Kreativität gegenübersteht. Runge denkt viel über Wesen, Aufgaben und Ziele der Kunst nach, sein Schaffen geht hingegen nur sehr schleppend voran, er verlangt von sich eine
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6 7
Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 38. Ebd. Weiterhin grundlegend ist die materialreiche Arbeit von Christa Franke: Philipp Otto Runge und die Kunstansichten Wackenroders und Tiecks. Marburg: Elwert 1974. Siehe auch Konrad Feilchenfeldt: Runge und die Dichter. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 21 (1977), S. 297–326; ders. (Hrsg.): Clemens Brentano – Philipp Otto Runge. Briefwechsel. Frankfurt a. M.: Insel 1974. Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 7–16. Roger Paulin: Ludwig Tieck. Stuttgart: Metzler 1987, S. 55.
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theoretische Klarheit, die offensichtlich der Produktivität zunächst einmal nicht sehr förderlich ist. Als Tischbein, nachdem er bei einem Besuch in Hamburg ein paar Zeichnungen Runges „äußerst vergnügt, entzückt sogar“ betrachtet hatte, fragte, „womit sich denn dieser Künstler hauptsächlich beschäftige?“, war er entsetzt zu hören, daß dieser sich gerade „diesen Sachen seit einem Jahr“ widme: „Damit ein Jahr? Ich weiß das nicht, ich weiß das nicht“!8 Runge ist sich der Hemmungen seiner Produktivität bewußt: „Es ist nichts leichter und gefährlicher, als sich in diesen Ideen und Phantasien so zu vertiefen und so zu verlieren, daß sie gar nie zu Ende kommen“, doch wird er davon angezogen wie die Motte vom Licht: „– aber grade da sitzt das Große und Schöne davon.“9 Als ihm Tischbeins Beunruhigung kolportiert wird, sitzt Runge gerade an der Ausarbeitung des Zeiten-Zyklus. Was ursprünglich nur als „so leichte Decorationen“10 für den Raumschmuck eines Bürgerhauses gedacht war, hatte sich unter der Hand zu einem Werk entwickelt, das er nachgerade für sein bedeutendstes hält. Am Anfang stand aber somit eine Produktion, die mit dem Serienprinzip des ornamentalen Frieses in die Nähe zu dem Bereich seiner von ihm selbst und von der Nachwelt wenig beachteten Scherenschnitte gehörte.11 Auf diesem Gebiet gelingt ihm schon seit seiner Jugendzeit alles mit einer Leichtigkeit, die ihm in der Malerei abgeht: „Ich wollte doch, daß der Zufall mir statt der Scheere etwas anderes zwischen die Finger gesteckt hätte, denn die Scheere ist bey mir nachgerade weiter nichts mehr als eine Verlängerung meiner Finger geworden, und es kommt mir vor, als wenn bey einem Mahler dies mit dem Pinsel u.s.w. eben so der Fall ist, da er denn mit diesem Zuwachs an seinen Fingern seiner Empfindung und den lebhaftesten Bildern seiner Phantasie nur nachzufühlen braucht.“12 Goethe erbittet sich nach Erhalt der Zeiten in seinem Dankesbrief ausdrücklich einige Scherenschnitte: „Sie schneiden Blumen und Kränze mit großer Leichtigkeit aus. Schicken Sie mir doch gelegentlich eine solche Arbeit, damit wir auch darin uns der Fruchtbarkeit Ihres Talents erfreuen können.“13 Daß die ziemlich zurückhaltende Würdigung der Kupferstiche, von denen Goethe immerhin sagt, daß sie ihm „sehr viel Vergnügen gemacht“ hätten, mit dieser Bitte um Silhouetten verknüpft wird, kommentiert Runge gegenüber seinem Bruder schon recht säuerlich: „Du siehst aus Goethe’s Brief, was er begehrt (Ausgeschnittenes, Silhouette); es ist doch ein rechtes großes Kind darin, welches das Spielen ordentlich wie ein Geschäft treibt; was will man dagegen machen?“14 Um wie viel mehr muß es ihn irritiert
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Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 33, Anm. Ebd., S. 34. Ebd., S. 33. Vgl. Philipp Otto Runge: Scherenschnitte. Hrsg. von Werner Hofmann. Frankfurt a. M.: Insel 1977. Brief vom 25. Januar 1897 an Johann Heinrich Besser, in: Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften. Hrsg. von Daniel Runge, T. 2, Hamburg: Verlag von Friedrich Perthes 1841, S. 4. Hinterlassene Schriften ,T. 2, S. 307. Ebd., S. 312.
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haben, daß Goethe nicht nur weitaus erfreuter auf die Sendung der Scherenschnitte reagiert als auf die vorige der Zeiten (er spricht nun von einer ungetrübten „sehr reinen Freude“…), sondern darüber hinaus die Absicht erwähnt, mit den ausgeschnittenen Blumen „nebst Ihren vier Kupfertafeln“ „ein Zimmer auszieren“15 zu wollen. Goethe, der wohl von der Entstehungsgeschichte des Zeiten-Zyklus nichts wußte, führte ihn zu seinem ursprünglichen Charakter als „Zimmerverzierungen“ zurück, zu deren Zweck als Gebrauchskunst also, über den Runge sie längst hinausgewachsen wähnte. Die Nähe des Werks zu dieser Ausgangsmotivation ist allerdings unverkennbar – ungeachtet seiner offensichtlichen Komplexität, die es eben als „etwas schwere Kost“ über die „leichte[n] Decorationen“16 hinaushebt –, sie wird auch in Goethes Besprechung in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung von 1807 weiterhin angedeutet, wenn darin von der „Erheiterung und Erquickung“17 die Rede ist, die durch die „lieblich[e], weiblich[e], zart[e]“ Zeichnung der Frauenfiguren, die „süße[] Naivetät“ der Kindergestalten und die „einfache[] Zeichnung“ der Blumen bewirkt werde. Nun ist natürlich auch dem Rezensenten aus Weimar klar, daß diese „Arabesken“ keineswegs nur ein luftiges Spiel von Symmetrien und rankenden Ornamenten darstellen, sondern der Künstler jene mit „Sinn“ und „Bedeutung“, sowohl das einzelne Element als auch die Serien betreffend, aufgeladen hat, „ja, die Bedeutung geht durch’s Allegorische in’s Mystische hinüber.“ Erfreue allein die äußerliche Form, so gebe diese Kunst doch auch zu denken. Allerdings handele es sich um „mitunter räthselhafte[] Blätter“. Schon in seinem ersten Dankesschreiben an Runge hatte Goethe Distanzierung und Anerkennung zugleich ausgedrückt. Er glaube, die „Bilder nicht eben ganz zu verstehen“,18 und beharrt auf der Weimarer Kunstauffassung, der entsprechend es keineswegs wünschend wäre, „daß die Kunst im Ganzen den Weg verfolgte“, aber daß sich hier ein „talentvolles Individuum in seiner Eigenheit“ entwickelt habe, erkennt er gleichwohl. Goethe, der begonnen hat, Runge als einen der wenigen ernstzunehmenden Diskussionspartner über die Theorie der Farben zu schätzen, gibt einen Hinweis darauf, wie sich diese Rätselhaftigkeit wenn nicht beseitigen, so doch zumindest tendenziell aufklären ließe: Da man schon den Kupferstichen entnehmen könne, daß sie ihre Wirkung erst ganz entfalten würden, wenn sie in Farbe übertragen würden, so wolle er doch den Künstler bitten, „in größerem Maasstabe mit Oelfarbe diese Werke auszuführen“.19
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Ebd., S. 329. Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 33. Dieses und die folgenden Zitate aus: Hinterlassene Schriften, T. 2, S. 514f. Dieses und die folgenden Zitate aus: Hinterlassene Schriften, T. 2, S. 307. Im gleichen Sinne einer Anerkennung des individuellen Talents, dem er nun gar – das Scheitern der neoklassizistischen Kunstpolitik indirekt zugebend – die ‚Gefahr‘ eines Modellcharakters zutraut, spricht Goethe in seiner Rezension davon, daß Runges Werk „für die Nachwelt ein würdiges Denkmal unseres Deutschen Zeitsinnes“ werden könne, „der, wenn er sich auch von der großen Straße, den die alte Kunst wandelte, nach Seitenwegen ablenkt, durch die Anmuth des Pfades und die Liebenswürdigkeit, womit er uns führt, selbst den strengeren Forderer zu versöhnen und einzunehmen weiß.“ (Hinterlassene Schriften, T. 2, S. 515). Dieses und die folgenden Zitate aus: Hinterlassene Schriften, T. 2, S. 515.
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Schon Runges Beschreibung seiner Zeichnungen in einem Brief an seiner Bruder Daniel war von einer farbigen Ausführung ausgegangen, bei der Blumen- und Farbensymbolik in eins gesetzt sind: Während Morgen und Abend „nun nur den höchsten Begriff von der Lilie und Rose auszudrücken suchen und beide nur die rothe Farbe aussprechen, so kommen dann zwey, welche das Blaue und Gelbe ausdrücken. Das Blaue beherrscht nach meiner Ansicht den Tag, das Gelbe die Nacht.“20 War es in den Jahren 1803/04 bei einer Vorstudie für die Gemäldefassung des Tags geblieben, so macht sich Runge – ermutigt von der freundlichen Reaktion Goethes und der Besprechung der Kupferstiche von Görres21 – nun erneut an die Ausarbeitung der Zeichnungen als Ölgemälde. 1808 entsteht der Kleine Morgen, im Jahr darauf der Große Morgen, von dem er eine nochmals in den Dimensionen gesteigerte Fassung plante. In der Tat – und dies schwang bei Goethes Anregung vielleicht als Hoffnung mit – wird das Symbolisch-Ornamentale in den Gemäldefassungen tendenziell reduziert, sodaß beim Großen Morgen dem Spiel der Erd-, Himmel- und Sonnenlichtfarben nun eine zentrale Rolle zukommt.22 Doch es bleibt bei diesen zwei Versuchen, keine andere der Zeiten wird ins farbige Bild übertragen. Interpreten, die sich vornehmen, die Rätselhaftigkeit der Zeiten-Zyklus aufzulösen, müssen auf Runges Farbenlehre zurückgreifen, sowie auf unsichere Übersetzungen mit Hilfe allgemeiner Symbollexika. Runge selbst hat in seinem seitenlangen Erläuterungsschreiben an seinen Bruder sich im Wesentlichen auf die Beschreibung des Gegenständlichen beschränkt, man darf annehmen, daß er der Dechiffrierungskunst Daniels vertraute. In seiner enthusiastischen zeitgenössischen Besprechung nimmt Joseph Görres hingegen die Übertragung des Bildwerkes in Worte in der Form einer recht dunklen Prosadichtung vor, die ihrerseits wieder der nicht immer leicht fallenden Ausdeutung bedarf.23 Daß jedes einzelne Element offensichtlich über sich hinaus auf eine symbolische Bedeutung verweisen soll, nicht nur als Teil einer Landschaft, sondern zugleich als Detail, führt zu Deutungsversuchen, die dem Bildtext einen Paralleltext an die Seite stellen, der, sollte er alle Einzelheiten in den Verweisungshorizont übersetzen, das Bild als Allegorie in der gelungenen Deutung aufheben und damit vernichten würde. In einem barocken Sinne müßten Runges Farben- und Blumenbilder als Scheinwelt auf ihre Entlarvung hoffen, diese selbst vom Betrachter fordern, da dieser erst dann zur Erkenntnis der hinter der Darstellung verborgenen Verweisung auf das Wahre, Höchste gelangen könnte. Doch als
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Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 32. Daß Runge sich tatsächlich in „Figuration und Farbgebung“ (Heinz Brüggemann: Religiöse Bild-Strategien der Romantik. Die ästhetische Landschaft als Andachtsraum und Denkraum. In: Romantische Religiosität. Hrsg. von Alexander von Bormann. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005, S. 96) von Görres habe anregen lassen, scheint mir hingegen recht unwahrscheinlich, und müßte erst einmal anhand einer genauen Textanalyse der Görres’schen Rezension belegt werden. Allerdings blieb der Große Morgen Fragment; es sollte „ein sehr großer Gemälderahmen“ (Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 231) hinzukommen, der aber nicht mehr ausgeführt wurde und über dessen mögliche Arabesken nur spekuliert werden kann. Vgl. Hinterlassene Schriften, T. 2, S. 515–525.
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moderne romantische Kunst können sich Runges Zeichnungen ja auf keinen verbindlichen Deutungszusammenhang stützen, der religiöse Grund seines Schaffens ist nurmehr individuelle Überzeugung, persönlicher Kreativitätsimpuls, keineswegs mehr eine verläßliche Basis für eine Verständigung zwischen Werk und Rezipient. Die von der Frühromantik geforderte „Neue Mythologie“ läßt sich am deutlichsten vielleicht gerade in Runges Farb- und Blumensymbolik als der gescheiterte Versuch erkennen, dem Publikum allein mit der Kraft der individuellen Setzung eine Deutungstotalität aufzwingen zu wollen. Ein in einer für das breite Publikum bestimmten Runge-Monographie24 enthaltener Versuch, den „ikonographischen Sachverhalt“ der Zeiten zu bestimmen, mag als Beispiel dafür dienen, wie derartige Ausdeutungen notwendigerweise zwischen eindeutiger Identifizierung und unsicherer Sinnvermutung schwanken. So heißt es etwa mit gutem von Runge selbst gelegten Grund: „Die Lilie ist Runges ‚Hieroglyphe‘ für das Licht, das aus dem dunklen Grund der Erde aufsteigt. Der Gedanke des Anfangs findet sich auch in den Darstellungen des Rahmens.“ Doch gleich darauf kann nur eine unsichere Hypothese aufgestellt werden: „In der Mitte der unteren Leiste sieht man zwei brennende Fackeln – vielleicht ist das die Welt erzeugende Urfeuer Jakob Böhmes gemeint“. Da es sich eben um die Zeichnung des modernen romantischen Malers handelt, und der Interpret darüber informiert ist, daß Runge über die Vermittlung Tiecks mit der Lehre Böhmes bekannt geworden war und sich eingängig mit dessen Werken beschäftigt hat, mag die Vermutung legitimiert sein. Lenkt der Betrachter hingegen seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß die Fackeln, zwar noch brennend, aber doch zum Boden gerichtet sind, so werden in ihm Assoziationen an die Todesbilder antiker Sarkophage und deren Erläuterungen durch Lessing nur schwer zu unterdrücken sein, und zumindest die Position der Fackeln wird ihm rätselhaft. Und so geht es immer hin- und her im Wechsel zwischen einfachem Denotat mit Hilfe eindeutiger Ikonographietradition – wie etwa, daß man zweifellos den „Schlangenring als Symbol der Ewigkeit“ identifizieren kann – und unsicheren allegorisierenden Deutungen, denen man folgen mag oder auch nicht: Zwei Rosenknospen, die sich „gleichsam im Kusse“ verbinden, sind „vielleicht ein Symbol des Liebestodes“; aus den Blüten der Aloen fallende Tropfen, sollen „vielleicht das Blut Christi symbolisieren“ und die in der oberen Rahmenleiste der Nacht zu erkennenden „drei Kinder mit Psyche-Flügeln“ sind „vielleicht Allegorien des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung“. Was denn wirklich damit gemeint sein mag, bleibt im Ungewissen, ist vor allem laut Runge als ständiger Prozeß, als Zukunftsprojekt aufzufassen: Auf solche Weise lassen sich hernach durch Blumen gar herrliche Gedanken angeben, aber immer so, daß man die Jungen dabey macht, wie ich denn glaube, daß, so lange ich lebe, es nicht möglich seyn wird, die Blumen so zu verstehen. Auch muß man erst sehen, wie die Welt das aufzunehmen im Stande ist. Daß man die Idee ausspricht, kann zu nichts dienen,
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Peter Betthausen: Philipp Otto Runge. 2. Aufl. Leipzig: Seemann 2008. Die folgenden Zitate ebd., S. 24f.
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diese muß erst durch nachfolgende Bilder, wo alle Blumen einzeln wieder darauf vorkommen, immer nur wieder in Anregung gebracht und erklärt werden. So wie ich auch an ein Bild denke, wo wir der Luft, und Felsen, Wasser und Feuer, Gestalt und Sinn geben können. Auf diese Weise könnte einst, was wir jetzt noch nicht einsehen können, aus dieser Kunst die Landschaft hervorgehen und eine bleibendere herrliche Kunst werden.25
Dies klingt ganz nach dem Begriff von „Unverständlichkeit“, wie ihn Friedrich und August Wilhelm Schlegel formuliert haben, der „eine im tieferen Sinne universale Verständlichkeit“ bedeuten soll, „weil romantische ‚Unverständlichkeit‘ die Welt der Phantasie und der Ideen aus den Erklärungsversuchen der Realität nicht ausschließt, sondern die verlorene Totalität der geistigen und der sinnlichen Welt wiederherzustellen versucht.“26 Der in Tiecks Sternbald vorgegebenen Idee entsprechend, bezeichnet die ‚absolute‘ oder ‚neue Landschaft‘ die höchste und letzte Ambition romantischer Kunst. Runge kündigt sein anspruchsvollstes Projekt Tieck gegenüber an und spricht auch in diesem Fall wortreich über „die Idee“. Ein Werk mit dem Titel Die Quelle sollte zumindest als Ahnung die totalisierende ‚Landschafts‘-Idee zur Darstellung bringen und explizit in Zeichnung umsetzen, was – wie Runge in seinem ersten erhaltenen Brief vom 1. Dezember 1802 nach Tiecks Weggang von Dresden nach Ziebingen schreibt – Tieck „eigentlich unter Landschaft meyne[]“ und er, Runge, nun „ein wenig“27 verstanden zu haben glaube. Ausdrücklich weist Runge den Freund darauf hin, daß der Plan für dieses Bild sich in den gemeinsamen Gesprächen konkretisiert habe.28 Was darunter zu verstehen sei, wird in einem assoziativ verfahrenden Text angesprochen, in welchem die eingestreuten Bibelzitate als Verdeutlichungen für die Idee eines privaten Lichtmythos fungieren sollen, bei der nicht etwa ein utopisches Phantasiegebilde wie die Novalis’sche „lichtblaue Blume“,29 sondern die Blumenwelt insgesamt zum Offenbarungsmedium wird als Zeichen der Sehnsucht der in teuflische Verblendung gesunkenen Natur nach dem Licht göttlicher Erkenntnis. Durch Darstellung des in den Blumen verborgenen Sinns soll das „werthe[] Publicum“ schritt-
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Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 21. Wolfgang Frühwald: Der Zwang zur Verständlichkeit. August Wilhelm Schlegels Begründung romantischer Esoterik aus der Kritik rationalistischer Poetologie. In: Die literarische Frühromantik. Hrsg. von Silvio Vietta. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983, S. 142. Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 23. „Sie wissen von der Idee mit der Quelle; ich habe öfters mit Ihnen davon gesprochen, und von daher sind mir alle diese Gedanken gekommen.“ (Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 26). Roger Paulin weist darauf hin, daß die Gespräche mit Tieck, insbesondere dessen Hinweis auf Böhme, den entscheidenden Impuls geben, sich von der Weimarer historischen Malerei zu entfernen: „It will deepen his conviction, that landscape – not classical figure painting – is the key to a symbolic perception of the divine. It leads Runge, for a time at least, away from Weimar, from historical painting, to a timeless mysticism.“ (Roger Paulin: Ludwig Tieck. A Literary Biography. Oxford, New York: Clarendon Press 1985 (Repr. 2002), S. 151. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. München: Hanser 1978, Bd. 1, S. 242.
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weise in „ein Land“30 gezogen werden, das Runge gemeinsam mit Tieck entdecken will. Runge ist sich selbst im Klaren darüber, daß seine spekulativen Gedanken über den Grund der Kunst in der Glaubengewißheit und das zu erstrebende „Höchste“ ihres Ausdrucks unscharf und verworren formuliert sind: „Das Rechte kann ich nur nicht so sagen, und viel weniger schreiben, wie ich’s meyne.“ Er müsse seinen Erkenntnisweg „zu den Begriffen von den Blumen und der ganzen Natur“ eben „wiedergeben in Bildern“,31 Die Quelle aber sollte das Fundament für alle seine künftigen Werke werden. In seiner ausführlichen und mit konkreten Detailhinweisen versehenen Beschreibung des Projekts ist Runge zuversichtlich, daß sich eine Lösung der Darstellungsprobleme „schon finden“ lassen werde. Das ist ihm allerdings nicht gelungen. Daniel Runge meint, daß das Bild, „so weitschichtig, wie es damals gedacht war, wohl unmöglich zu Stande kommen“32 konnte. Auch ihm gegenüber hatte Philipp Otto wenige Tage vor seinem Brief an Tieck sein Projekt ausführlich zu erklären versucht: „die Quelle aller Bilder, die ich je machen werde, die Quelle der neuen Kunst, die ich meyne, auch eine Quelle an und für sich“.33 Die Problematik, aus der von Runge intendierten Stimmungslandschaft, wie er sie in einer synästhetischen Beschreibung34 einleitend skizziert, zu einer realisierbaren Bildkomposition zu gelangen, ist evident: Es muß dir, und jedem auch, heimlich so seyn, wenn du an einer Quelle oder an einem Bach liegst, wo es recht stille umher ist, und es rieselt und rauscht nun über den Steinen, und die Blasen zerspringen, und die muntern Töne, die so aus der Tiefe des Felsens und des Bornes kommen, als wenn sie sich nun lustig in die weite Welt wagen, jeder Ton kennt seine Blume und spielt um den Kelch und wiegt sich in den Aesten der Bäume, es muß einem so vorkommen, als wenn diese Steine die Finger der Nymphe wären, und sie spielte bloß mit dem Wasser und entlockte der Harfe diese muntern Töne. Die Blasen gleiten durch ihre Finger und es hüpfen muntre Kinder heraus, wenn sie zerspringen, und gleiten in das Schilf hinab, und die Lilie steht im höchsten Licht, die Rose sieht von unten hinein in den Kelch und die weiße Lilie erröthet von dem glühenden Kuß.35
In unsicher tastenden Formulierungen, mitunter von entwaffnender Naivität, teilt Runge Tieck seine feste Überzeugung mit, die Bedeutung aller Blumen entschlüsseln zu können. Jedem Objekt der Landschaft geht seine Idee voraus, die sein Bild dem Betrachter vermitteln müßte. Bei aller Bewunderung des von Runge künstlerisch Erreichten führt diese allegorisierende Aufladung der Bildelemente Tischbein zur prägnanten Kritik an einem seiner Meinung nach gänzlich verfehlten Weg: „es ist am Ende Allegorie und Poesie, und auch das beste in dieser Art ein Wort; und da geht das eigentliche Wort selbst ja doch weiter
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Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 26. Ebd., S. 26f. Ebd., S. 244. Ebd., S. 19. Vgl. dazu: Elisabeth Décultot: Das frühromantische Thema der „musikalischen Landschaft“ bei Philipp Otto Runge und Ludwig Tieck. In: Athenäum 1995, S. 213–234. Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 19f.
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und sagt mehr.“36 Wenige Monate nachdem ihm dieser Kommentar Tischbeins übermittelt worden war, findet sich bei Runge ein Echo auf diese grundsätzlichen Einwände. Er sei oft selbst über den Bedeutungsgehalt seiner Zeichnungen erstaunt und daher sei es ihm „so schrecklich, wenn die Leute verlangen“, er solle „ihnen die Gedanken bey jedem einzelnen Dinge darin sagen“, aussprechbar sei nur die Idee des „Zusammenhangs“: ich mache eben so etwas (Wörtliches) im Großen darüber, wie mir die Sache in großen Massen vor dem Auge steht, das wird dann der richtige Total-Eindruck, und Tieck macht dann, wie er ja meynt und es mir auch sehr einleuchtet, ein Gespräch darüber, wo alles einzeln gesagt und berührt wird, und worin meine Sachen als einzelne Aufsätze vorkommen.37
Entweder hatte Runge – in der Euphorie der begeisterten Reaktion, welche die Zeiten im März 1803 ausgelöst hatten – seinen Freund hierin missverstanden oder Tieck hatte seine Ansicht inzwischen geändert. Denn in einem Schreiben vom 24. Februar 1804 – das von Daniel Runge bezeichnenderweise nicht mehr in diesen Abschnitt des ersten Teils der Hinterlassenen Schriften, sondern aus diesem Kontext gerissen in den zweiten Teil aufgenommen wurde – versucht er Runge von der Vergeblichkeit, sogar Schädlichkeit der unablässigen Reflexion über den ideellen Schaffensgrund zu überzeugen.38 Der ständige Zwang, „allen
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Ebd., S. 34, Anm. – In genauer Entgegensetzung zu diesen Bemerkungen Tischbeins gibt Görres den Zeitgenossen, die nicht mehr in der Lage seien, die „plastische Symbolik“ Runges zu verstehen, „zu bedenken, daß es nimmer noch ihnen aufgefallen, wie die Musik, die doch auch für sich eine Bedeutung hat, erst ihr höchstes erreicht, wenn sich die Poesie als ihre Seele ihr verbindet; wenn der dunkle Ton Wort bekommt, und sich in ihm articulirt, und wenn das Wort hinwiederum sich dem Ton einschmilzt, und in diesem nun reich und stolz daher fährt, und metallen in die regen Sinne tönt. So mögen sie sich denn bescheiden, daß auch die bildende Kunst durch die gleiche Verbindung sich erst vollendet, und organisch in den großen Kunstkörper aufgenommen wird, und daß die untere Schönheit am würdigsten dann erscheint, wenn sie der höheren als symbolische Bezeichnung zu ihrer Offenbarung dient.“ (Hinterlassene Schriften, T. 2, S. 523f.). Obgleich eine frühere Anmerkung Runges (in einem Brief an Daniel Runge vom 6. April 1803, Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 42f.) ähnlich klingt, so verteidigt er in dem folgenden Zitat doch die jeweils sich selbst verstehende innere Harmonie der verschiedenen Kunstsprachen: „Wie ich neulich die Jahreszeiten von Haydn aufführen hörte, ist mir es recht deutlich geworden, wie nothwendig zur Erhaltung der reinen Natur und zugleich in sich selbst verständlichen und sich selbst still verstehenden und begreifenden Unschuld des Gemüths die Symbolik oder die eigentliche Poesie, d. i. die innere Musik der drey Künste, durch Worte, Linien und Farben, sey.“ Hinterlassene Schriften, T. 1, S. 47f. Tiecks Kritik an Runge benennt bereits das generelle Dilemma der Frühromantik: „Es gehört zu den tatsächlichen und nicht nur den scheinbaren Paradoxien der Romantik, daß ihr Streben nach einer solchen Art von Verständlichkeit ihr nicht nur selbst die Grenzen des Sprachmaterials bewußt gemacht, sondern sie auch in esoterische Vereinsamung gestürzt hat, da sie sich sowohl den Gebildeten, wie dem Volk entfremdete.“ (Frühwald: Der Zwang zur Verständlichkeit, S. 144). Görres war es im Bezug auf Runges Werk „glaublich, daß diese Zeit nicht wissen mag, was sie mit solchen Bildern soll, daß solche Worte ihr unverständlich sind, daß die ganze Weise, plastische Symbolik, ihr als höchst verkehrt und sinnlos erscheinen mag“ (Hinterlassene Schriften, T. 2, S. 523). Selbstverständlich meint
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oder vielen Leuten die eigentliche Bedeutung“ und „Absicht deutlich zu machen“, habe ihn nur „an sich selbst irre“ werden lassen und „Andre irre gemacht“. Tiecks Besorgnis – und daher seine indirekte Zurückweisung von Runges Wunsch nach gemeinsamen Abfassung eines kunsttheoretischen Gesprächs – betrifft die Gefahr der Kreativitätshemmung durch den überangestrengten Versuch, die Wurzeln des eigenen künstlerischen Verfahrens sich gänzlich bewußt zu machen und damit daran das spielerisch Unbewußte, die unreflektierte Freude am Machen des Werks, „das geheimste Wunder in uns“ zu unterdrücken oder gar auszutreiben: darum können wir das nicht nennen, was uns antreibt, so oder so zu verfahren, wenn wir wahrhaft etwas Neues wollen, wir sollen es auch nicht, denn der Tiefsinn verleitet uns leicht dahin, daß wir uns selber mißverstehen und uns dadurch der kindliche Leichtsinn fremd wird, durch welchen doch einzig und allein alle Kunst würken kann.39
Anstatt sich schon „das ganze Heer künftiger idealischer und neuer Werke“ herbeizuphantasieren und deren tieferen Sinn mit „Scharfsinn“, „Combination“, „Allegorie“ und „Mystik“ schon vorab verständlich machen zu wollen, sollte Runge sich auf die „kindliche Freude“ besinnen, „etwas schaffen [zu] wollen“.40 Ohne sein Bedauern und auch die Strenge seines Urteils über Runges Unproduktivität verbergen zu können, kleidet Tieck in einem etwa anderthalb Jahre nach dessen Tod an Daniel Runge geschickten Brief vom 5. Juni 1812 die Vergeblichkeit seiner Mahnung dann in eine Würdigung des Freundes: Es ist gewiß erlaubt zu sagen, daß Er einer der wenigen Menschen war, bey denen Vorsatz und Wille (ist es denn bey seinen großen Bestrebungen nicht fast nur beym Vorsatz geblieben? konnte es fast anders kommen, da er so sehr über das irdische Leben hinaus griff?) mehr werth ist, als bey vielen Andern ein geräuschiges und unermüdetes Thun.41
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er, daß dies nur umso schlimmer für eine solche Zeit sei, die eben „allen Tact für wahrhaft Lebendiges“ (ebd.) verloren habe! Hinterlassene Schriften, T. 2, S. 263. Ebd., S. 263f. Ebd., S. 437.
Claudia Nitschke
Die Natur als Metamorphosler? Chamissos „Peter Schlemihl“ zwischen Krise und Kreationismus
Dies wunderliche Märchen, das durch seine pikante Unbestimmtheit sich überall beliebt gemacht, gehört zu jenen glücklichen Aperçüs deren Werth und Bedeutung die Poetischen in der Philosophie, und die Philosophischen in der Poesie suchen.1
Peter Schlemihls wundersame Geschichte hinterläßt aufgrund der von Eichendorff zutreffend diagnostizierten „pikanten Unbestimmtheit“ eine gewisse Ratlosigkeit: Wenn Eichendorff in der gegenseitig zugewiesenen Auslegungspflicht der „Poetischen“ und „Philosophischen“ eine sich beständig verschiebende Leere zu insinuieren scheint, zumindest aber einen poetischen Gehalt, der zwischen den zuständigen „Disziplinen“ eigentümlich in der Schwebe bleibt, so deutet sich in seinen ironischen Worten eine besondere Qualität des Textes an. Chamissos spezifische Amalgamierung eines (ästhetischen) märchenhaften Verfahrens mit einer gegen die zeitgenössische Gegenwart gerichteten (philosophischen) Modernisierungskritik. Beides wird überdies am Ende überlagert von einer naturwissenschaftlichen Perspektive (Schlemihl als Forschungsreisender), die auf den ersten Blick nicht nur mit den märchenhaften Elementen, sondern auch mit einer vehementen Fortschrittskritik in Konflikt gerät: Diese widersprüchliche Verbindung wirft die Frage auf, ob hier mit dem naturwissenschaftlichen Fokus unter der Hand eine moderne, eine fortschrittsorientierte Richtung vorgegeben wird, die den Modernisierungsvorbehalt des Anfangs unter der Hand subvertiert. Es wird im folgenden zu zeigen sein, daß die Verbindung von dem märchenhaften Siebenmeilenstiefel-Motiv mit dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisdrang Schlemihls eine religiös abgestützte Re-Affirmation einer Welt (deren Übergang in eine kapitalistische Ordnung er beklagt) nahelegt. In diesem Sinne muß insbesondere die Funktion von Schlemihls enzyklopädischem Sammeln genauer beleuchtet und im Rahmen des konservativ-resignativen Konzepts (das der Schlemihl in Abgrenzung zur modernen Warenwelt entwickelt) erläutert werden: Dazu ist es nötig, noch einmal den bekannten anti„kapitalistischen“ Befund2 seiner Gesellschaftskritik zuzuspitzen, um dann
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Joseph von Eichendorff: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. 2. Aufl. Paderborn: Schöningh 1861, T l. 2, S. 226. Vgl. dazu konzise: Dagmar Walach: Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Bd. 1. Stuttgart: Reclam 2000, S. 221–255.
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abschließend – im Rekurs auf andere, thematisch und motivisch einschlägige Texte Chamissos – die naturwissenschaftlichen Konzepte auf ihren impliziten ideologischen Gehalt zu überprüfen.
I. Ausgangssituation: Das Zeitalter des Geldes In der zunehmend funktional ausdifferenzierten Gesellschaft im Deutschland des beginnenden 19. Jahrhundert eröffnet „Geld“ beliebige – gegenwärtige und künftige – Tauschchancen mit beliebigen Tauschpartnern: Auf dieser Analyse gründet sich implizit die Ausgangssituation im Schlemihl3 – allerdings mit sich verändernden Vorzeichen, mit denen zuerst die Chancen und dann die Grenzen des neuen Mediums durchgespielt werden. Im Schlemihl ist der ubiquitären Tauschoption zunächst eine dezidierte Einschränkung entgegengesetzt, die gleich zu Beginn im (oft zitierten) Stoßseufzer Schlemihls thematisch wird: ‚Wer nicht Herr ist wenigstens einer Million‘, warf er [Thomas John] hinein, ‚der ist, man verzeihe mir das Wort, ein Schuft!‘ – ‚Oh, wie wahr!‘ rief ich aus, mit vollem überströmenden Gefühl. (PS 24)4
Der Ausschluß aus den Sozialsphären erscheint als vollkommen: Avanciert das Geld zum allein relevanten Zugangskriterium zur Gesellschaft, wird der Besitzlose zum Ausgegrenzten, zum „Schuft“, zum „armen Teufel“ (PS 24), ja mehr noch: Er verschwindet gänzlich vom Radar der gesellschaftlichen Wahrnehmung.5 In diesem verzweifelten Ausruf „aus vollem überströmenden Gefühl“ liegt zugleich eine Identitätskrise Schlemihls begründet, da sich das Individuum hier – seiner gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten beraubt – als vollständig dem Kapitalisierungsprozeß unterworfen versteht: Der Fortgang von Schlemihls Geschichte zeigt, daß vor allem auch die Gesellschaft unfähig wird, individuelle
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Damit Schlemihl weiter als Winfried Freund postuliert, indem er eine moralische Fundierung der kapitalistischen Transformation als Gegenstand des Textes sondiert: „Die ideale Lebensweise fußt auf der Synthese von Geld und Moral. Die kapitalistische Entfremdung, in der Novelle personifiziert im Grauen, bedroht diese Synthese und vermag sie, sofern der einzelne die Gefahr materieller Versklavung nicht durchschaut, auseinanderzubrechen.“ (Winfried Freund: Literarische Phantastik. Die phantastische Novelle von Tieck bis Storm. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1990, S. 58). Alle Seitenangaben mit der Sigle PS in Klammern beziehen sich auf: Adalbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Bd. 2. München: Hanser 1982. Vgl. die Gartengesellschaft bei Herrn John: „Man bekümmerte sich nicht mehr um den grauen Mann als um mich selber.“ (PS 25) Auf die spezifische Unsichtbarkeit des Grauen Mannes wird im folgenden noch einzugehen sein. Dementsprechend will sich Schlemihl aus der Gesellschaft stehlen, „was bei der unbedeutenden Rolle, die ich darinnen spielte, mir ein leichtes schien.“ (PS 27)
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Charaktereigenschaften zu erkennen oder traditionelle Moralkategorien adäquat (das heißt sinngemäß und nicht nur formelhaft) anzuwenden.6 Auffällig ist, daß dabei vor allem der Schattenlose, nicht der Seelenlose ausgegrenzt wird. Im Gegensatz zu Schlemihl erfreut sich der dem Teufel verschriebene Sir John „im Glanze seiner wohlbeleibten Selbstzufriedenheit“ (PS 23) größtmöglicher gesellschaftlicher Akzeptanz. Obwohl die positiven Identifikationsfiguren im Schlemihl Strategien finden, gesellschaftliche Anbindungen mit eigenen Wertvorstellungen punktuell zu versöhnen (Bendel und Mina in ihrem Sanatorium Schlemihlium, Schlemihl – wie noch zu erläutern sein wird – auf seinen naturkundlichen Reisen), wird doch ex negativo eine Gesellschaft vorgeführt, in der diese Werte grundsätzlich invertiert wurden und deshalb erst wieder mühsam – und vor allem individuell – zugänglich gemacht werden müssen. In diesem Sinne wird ein positives Gemeinschaftskonzept im Text immer nur individuell (im altruistischen Geben) erschließbar, nachdem auch persönliche Verbindungen im Zeichen der Liebe/ Freundschaft (mit Mina, Bendel) scheitern; die fiktive Gesellschaft im Schlemihl erscheint – unter der funktional-pekuniären Prämisse – weniger als Medium der Integration als vielmehr der irreversiblen Exklusion.7 Die Tatsache, daß die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dezidiert aus der textlichen Zielvorgabe ausgespart werden, muß im folgenden noch genauer untersucht werden. Während also mit der Referenz auf die Warenwelt symbolisch die Gesellschaft kritisiert wird, in der diese Gesetze Oberhand gewonnen haben, gehören die Objekte, die getauscht werden, in seltsamer Weise einer noch ‚verzauberten‘ Welt an. Mit ihrer Vereinnahmung durch den Warenzyklus erhalten sie einen ambivalenten Status, der eine Welt im Übergang zwischen Tradition und Marktwirtschaft indiziert, werden zugleich aber eindeutig der Warenwelt zugeordnet und in der Figur des Grauen Herren entsprechend personifiziert: Die Umbrüche der Zeit erscheinen insofern als Krise, der sich in letzter Instanz nichts und niemand entziehen kann. Indem Schlemihl daraus die Notwendigkeit ableitet, seinen Schatten zu tauschen, um mit dem Fortunatussäckel die unabdingbare gesellschaftliche Partizipationsvoraussetzung zu erwerben, zieht er die scheinbar folgerichtige Konsequenz aus seiner Krisenanalyse. Während er ohne Geld bei Herrn Johns Gesellschaft von den anderen buchstäblich nicht wahrgenommen wird8 und so als
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Während der schattenlose Schlemihl verstoßen wird, gelingt Rascal (der seinem Namen entsprechend ein „Schuft“ ist) und dem korrupten, seelenlosen Herrn John der erfolgreiche Aufstieg in die erwünschten gesellschaftlichen Kreise. Die im Schlemihl manifeste Verdinglichung, die Menschen und Sozialbeziehungen im Zuge dieser funktionalen Umstellung erfahren, wird (in der Tatsache, daß Schatten, Seelen und märchenhafte Accessoires getauscht werden können) überdies latent ins Absurde gespiegelt, indem sogar die magischen Hilfsmittel kommentarlos in die Warenwelt eingehen und der Tauschlogik untergeordnet werden. Sobald er mit dem Glückssäckel die nötigen Mittel aufbringt, ist diese „Unsichtbarkeit“ korrigiert; mit Hilfe Bendels kann er das Fehlen des Schattens verbergen und erfüllt damit die Aufnahmebedingungen: „Eben die schöne Fanny, der ich am dritten Orte wieder
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quasi unsichtbar erscheint9, visualisiert er als schattenloser Mensch eine an sich unsichtbare, defizitäre Zeiterfahrung und erzeugt auf diese Weise einen beständigen Aufruhr.10 Diese gesellschaftliche Empörung11 wird in ihrer eliminatorischen Aggressivität deutlich akzentuiert: Beginnt sein Leidensweg mit dem gutgemeinten Hinweis („Sehe sich der Herr doch vor, Sie haben Ihren Schatten verloren.“, PS 29) des „alte[n] Weib[es]“, so steigert sich die ablehnende Haltung schnell bis zum körperlichen Übergriff. (vgl. PS 30) Der Graue Herr kann ignoriert werden (und wird dies auch in geradezu ostentativer Weise),12 sein schattenloses Opfer hingegen wird schließlich in seiner unübersehbaren Auffälligkeit zur Chimäre und in einigen Fällen als Ärgernis gewaltsam ausgetrieben. In seiner Schattenlosigkeit wird er zum visuellen Gradmesser einer gesellschaftlichen Defizienz, die eigentlich verborgen bleiben sollte. In dieser performativen, nicht auszublendenden Offenlegung eines unnatürlich entfremdenden Systems besteht die größte gesellschaftliche Sünde Schlemihls, dessen Seele ja – im Gegensatz zu vielen anderen motivisch verwandten Geschichten in der Romantik13 – nicht integraler Bestandteil des eingegangenen Paktes war. Der verlorene Schatten ist in diesem Sinn ein offen lesbares Symptom, das zwar auf den anstehenden Seelenhandel verweist, gleichzeitig aber dessen Vollzug negiert. Nichtsdestoweniger liegt bereits im Schattenhandel eine spezifische Anstößigkeit, weil sich in ihm das absurde Prinzip der oben beschriebenen omnipräsenten Käuflichkeit verkörpert: Es mußte schon die Ahnung in mir aufsteigen: daß, um so viel das Gold auf Erden Verdienst und Tugend überwiegt, um so viel der Schatten höher als selbst das Gold geschätzt werde; und wie ich früher den Reichtum meinem Gewissen aufgeopfert, hatte ich
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begegnete, schenkte mir, ohne sich zu erinnern, mich jemals gesehen zu haben, einige Aufmerksamkeit; denn jetzt hatt’ ich Witz und Verstand. – Wenn ich redete, hörte man zu, und ich wußte selber nicht, wie ich zu der Kunst gekommen war, das Gespräch so leicht zu führen und zu beherrschen.“ (PS 37) „Denn keine Seele bekümmerte sich weiter um mich“ (PS 24). Auf einen weiteren (religiösen) Aspekt dieser Empörung wird im folgenden einzugehen sein. Es wird im folgenden zu zeigen sein, daß diese gesellschaftliche Erregung fraglos mehrere Ebenen hat. In ihrer Reaktion wird ex negativo auch die unwillkürliche Wahrnehmung eines religiös begründeten Stigmas deutlich. Zunächst produziert der Graue ein Fernrohr aus seiner Tasche; Schlemihl „aber sah verwundert den Mann an und wußte nicht, wie die große Maschine aus der winzigen Tasche herausgekommen war; es schien aber niemandem aufgefallen zu sein, und man bekümmerte sich nicht mehr um den grauen Mann als um mich selber.“ (PS 19). Als der Graue einen großen Teppich aus seiner Tasche zieht, reibt sich Schlemihl die Augen, „nicht wissend, was ich dazu denken sollte, besonders da niemand etwas Merkwürdiges darin fand.“ (PS 26, Hervorhebung von C. N.). Sogar ein Lustzelt findet in seinen Taschen Platz: „So verlegen und demütig der Mann selbst zu sein schien, so wenig Aufmerksamkeit ihm die anderen auch schenkten, so ward mir doch seine blasse Erscheinung […] so schauerlich, daß ich sie nicht länger ertragen konnte.“ (PS 27) Vgl. eine Auswahl bei Manfred Frank: Das kalte Herz. Texte der Romantik ausgewählt und interpretiert von Manfred Frank. Frankfurt a. M.: Insel 2005.
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jetzt den Schatten für bloßes Gold hingegeben; was konnte, was sollte auf Erden aus mir werden! (PS 30)
Obwohl in Schlemihls initialer Tauschhandlung eine ethische Fehlleistung (eine – wie er es nennt – „frühe Schuld“) repräsentiert wird, der wiederum eine verblendete Geldgier14 zugrunde liegt, kann er dem abschließenden Seelenhandel widerstehen und dokumentiert mit seiner Schattenlosigkeit am Ende weniger seine moralische Korruption, als vielmehr seine letztlich dominierende Integrität. Insofern die Menschen in seiner Umgebung das (auf ein schweres Defizit verweisende) Symptom an Schlemihl, nicht aber das Prinzip selbst erkennen können, steht die verdinglichte Gesellschaft mit ihrer differenzlosen und unreflektierten Wahrnehmung im Fadenkreuz einer moralisch motivierten Kritik. Der Graue15 gehört zwei Welten an: Erscheint er auf der einen Seite als Inkarnation des Teufels (in einer unübersehbaren Anspielung auf die gängige Volkssymbolik), verkörpert er gleichzeitig das abstrakte Tauschprinzip, an dessen Ende der Seelenhandel steht. Die Analogisierung ist wiederum eine zugleich visualisierende ‚Verzauberung‘ und Hypostasierung eines neuen gesellschaftlichen Befundes, der damit in tradierten ästhetischen Kategorien gleichermaßen beschreibbar und bewertbar gemacht wird. Mit dieser bedrückenden pekuniären Bedingtheit des modernen Menschen setzt der Schlemihl ein. Im weiteren Verlauf der Erzählung überrascht vor allem ihre scheinbar undynamische Gestaltung: Nachdem der Seelenhandel abgewendet werden konnte, die Braut für immer verloren ist und auch andere, willkürliche Maßnahmen (Unsichtbarkeit durch das Vogelnest), die ein Leben innerhalb der Gesellschaft zum Ziel hatten, gescheitert sind, wird die Erzählung – nach dem Kauf der Siebenmeilenstiefel – noch über drei Kapitel fortgesetzt. Damit wird das Ende narrativ in besonderer Weise exponiert, da es keine utopische Antizipation einer ausgesöhnten Welt formuliert, sondern bewußt die Trennung des Paares in Kauf nimmt, dessen Verbindung im konventionellen Erwartungshorizont des Lesers (vorübergehend) als eigentliches Handlungsziel fokussiert wurde.16 Auf diese Weise liegt der Akzent auf der ewigen, naturwissenschaftlichen Wanderschaft Schlemihls, die über die Figur des ewigen Wanderers (offensichtlich eine Anspielung an die Ahasver-Sage) bereits religiös gebrochen ist:
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„Ich bekam einen Schwindel, und es flimmerte mir wie doppelte Dukaten vor den Augen.“ (PS 29) Grau ist die Farbe der Geister und Zwerge. Auch der Teufel trägt im Volksglauben gelegentlich einen grauen Rock und wird „graumann“, „graumännlein“ genannt (vgl. Deutsches Wörterbuch. Hrsg. von Jacob Grimm, Wilhelm Grimm. Bd. 4.1.5. Leipzig: Hirzel 1958, Sp. 556). Das Erscheinen eines kleinen grauen Mannes ist ein schlechtes Vorzeichen und kündigt häufig den Tod an (vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli. Bd. 3, Berlin: de Gruyter 1931, Sp. 1123–1126). Diese finale Paarbeziehung wird – in einer für romantische Erzählungen typischen Weise – durch einen Umweg über eine oberflächliche Schöne, Fanny, vorbereitet: „[...] ich war nur eitel darauf, sie über mich eitel zu machen, und konnte mit selbst mit dem besten Willen nicht den Rausch aus dem Kopf ins Herz zwingen.“ (PS 37)
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Aufgrund des ersten, zwar nachvollziehbaren, aber irreversiblen Sündenfalls bleibt er aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Seine enzyklopädische Wanderschaft erweist sich als eine besondere Form des mobilen Exils, in dem Schlemihl außerhalb der sich verändernden Gesellschaft akribisch über die bestehende Natur Buch führt.
II. Literarische Motive Peter Schlemihls wundersame Geschichte scheint zwar in ihrem analytischpoetischen Impetus mit Blick auf die „Modernisierungskrise“ in origineller Weise neu, gleichzeitig allerdings gründet sie sich auf literarische Traditionen, insbesondere den Volkbüchern Historia vnd Geschicht Doctor Johannis Faustj und dem Fortunatus, mit denen sich Chamisso intensiv literarisch auseinandergesetzt hat. Bei dem Verweis auf die Volksbüchern handelt es sich indes nicht nur um eine auffällige intertextuelle Referenz im Schlemihl, sondern vor allem auch um einen werkimmanenten Verweis, insofern Chamisso seine eigene Adaption von Fortunatus und Dr. Faust vorlegt. Die Volksbücher und vor allem ihre Bearbeitung durch Chamisso scheinen Aspekte der Schlemihlschen Ausgangsposition zu antizipieren: Sie haben eine spezifische religiöse Tendenz gemeinsam,17 die es in der entsprechenden Nachhaltigkeit auch für den Schlemihl zu belegen gilt, und müssen somit als missing link in die SchlemihlInterpretation einbezogen werden. Im Fortunatus von 1509 geht es – ähnlich wie im Schlemihl – um die Vernetzung von Geld und sozialer Identität, hier transponiert in die Welt des frühneuzeitlichen Warenverkehrs; der bürgerliche Fortunatus, Sohn eines aufgrund seiner überzogenen adligen Lebensführung verarmten Bürgers, begegnet in einem Wald in Frankreich einer „junckfraw des Glücks“,18 die ihm unter sechs „tugendt“ auch Reichtum zur freien Auswahl anbietet; anstelle von „weyßhait / Reichtumb / Stercke / Gesundthait / Schoene / und langs leben“19 wählt Fortunatus Reichtum.20 Später erbeutet er überdies das Wunschhütlein,
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Hier kommt es besonders auf diese gemeinsame Tendenz der Kontexte an; vgl. zu einer genaueren Analyse: Annemarie Wambach: „Fortunati Wunschhütlein und Glückssäckel“ oder willst du hier zwischen unterschiedlichen Anführungszeichen differenzieren? in neuem Gewand. In: German Quarterly 67 (1994), S. 173–184. Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio Princeps von 1509. Herausgegeben von HansGert Roloff. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart: Reclam 1996, S. 45. Fortunatus, S. 46. In Frankreich kann Fortunatus nicht dem opulenten Leben in gewünschtem Maße frönen, insofern er durch eine unbeabsichtigte Konfrontation mit einem Grafen, da Fortunatus seinen Reichtum nicht durch eine adlige Herkunft legitimieren kann, gefangengesetzt und gefoltert wird. Hier findet sich eine dem Schlemihl-Motiv vergleichbare Restriktion: Als Nicht-Adliger kann Fortunatus seinen Reichtum im Ausland nicht legitimieren und bleibt – trotz seines Vermögens – ähnlich wie der schattenlose Schlemihl von jeder gesellschaftlichen Integration – ausgeschlossen. Anders als Schlemihl erreicht Fortunatus allerdings in
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das seinen Träger an jeden beliebigen Ort transportiert. Mit seinem Tod und der Vererbung seiner magischen Besitztümer an seine beiden Söhne setzt eine zweite Handlung ein, auf die Chamisso in seinem Fortunatus motivisch zurückgreift: Sowohl im Volksbuch als auch in Chamissos Adaption teilen der träge Ampedo und der reiselustige Andolosio gegen den Willen des Vaters Glückssäcklein und Wunschhütlein untereinander auf. Andolosia reist mit seinem Geldsäcklein nach Frankreich und England, wirbt um die englische Königin Agrippina, verliert zunächst das Glückssäcklein und schließlich auch das Wunschhütlein an sie. Im Volksbuch kann er beides schließlich wieder zurückgewinnen, provoziert aber nichtsdestoweniger durch seinen aufwendigen Lebensstil den eigenen Tod und entwertet damit alle gewonnenen irdischen Güter.21 Seiner Fortunatus-Bearbeitung legt Chamisso Ausschnitte aus dem Schicksal der beiden Fortunatus-Söhne zugrunde. Dabei wird in besonderer Weise die Waldbruder-Episode relevant, in der Andolosia versucht, Agrippina das entwendete Geldsäcklein wieder abzujagen: Anders als in der Vorlage entführt Andolosia Agrippina nicht nach Irland, sondern in „eine Wüste“, die als ein von einer Sandebene umgebenem Rasenplatz mit zwei Apfelbäumen von dem Szenario des Volksbuches (der „wiltnuß“22) deutlich abweicht – auf diese Weise exponiert, erscheinen die Äpfel noch stärker als im Original als biblische Evokation einer Verführungsszene; Chamisso folgt dem Fortunatus-Text weitgehend und läßt Agrippina mit dem Wunschhütlein entkommen, während Andolosia gedankenlos zwei verzauberte Äpfel verspeist, woraufhin ihm zwei Hörner wachsen. Dem verzweifelten Andolosia kommt nun in seiner ausweglosen Situation ein Eremit zur Hilfe, der nicht nur mit Hilfe eines Apfels vom zweiten Baum eine sofortige Rückbildung der Hörner bewirken kann, sondern auch die grundsätzliche Analyse des vorprogrammierten Unglücks beider Brüder mitliefert, indem er treffsicher diagnostiziert: „Ich kann an dir [Andolosia] wohl merken, daß umfangen / Dein Sinn und Herz von eitel irdschem Gleißen; / Vergängliches nur heget dein Verlangen, / Entfernt des Ewigen dich zu befleißen“.23 Der Eremit rät anschließend „zum Kampf denn! Woll aus deinem Herzen schlagen / Ein eitles Treiben, das das Licht beleidigt […] das hohe Kreuz wird ragen.“24 In dieser Analyse schließt sich Chamisso dem Fortunatus von 1509 an, in dem der Waldbruder ähnlich argumentiert und tatsächlich damit luzide die Quintessenz des Volksbuches resümiert: „ich kann an dir wol mercken / das dein synn und
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seiner Vaterstadt Famagusta endlich, was ihm im Ausland versagt bleibt: die vollständige Akzeptanz durch alle weltlichen Autoritäten. Er baut einen Palast, stiftet eine durch den Papst geweihte Kirche und heiratet die Tochter des zyprischen Königs. Er wird ermordet durch neidische Grafen, die als Beute das Glückssäcklein entwenden. Als schließlich Ampedo vor Trauer um seinen Bruder stirbt, nicht ohne zuvor auch das Wunschhütlein zu zerstören, verliert auch das Glückssäcklein seine Kraft. Fortunatus, S. 152. Adalbert von Chamisso: Fortunatus. In: Sämtliche Werke in zwei Bänden, Bd. 1, S. 647. Ebd., S. 647.
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gemuet swarlich beladen und umbfangen ist / mit zeitlichen und tzergengklichen sachen / schlach sy auß unnd kere dich zu gott / es ist ein grosser verlurst umb ainen klainen wollust so er hatt in disem zergengklichen unnd kurtzen leben“.25 Die solchermaßen explizite Anbindung an einen christlichen Kontext, in dessen prästabilisierten Rahmen verschiedene Modi der Verführbarkeit und Verführung durchgespielt werden (bei Chamisso besonders exponiert in der Szene um den biblisch einschlägigen Apfelbaum in seiner symbolischen Bedeutung als Medium der Verführung), erweist sich für die folgenden Überlegungen als zentral. Indirekt verweist das intertextuelle Umfeld, insbesondere in Chamissos Neubearbeitung, auf die weniger offensichtlich religiösen Implikationen des Schlemihl, die es im folgenden noch genauer zu analysieren gilt. Mit dieser religiösen Tendenz hängt auch eine weitere Frage zusammen, die sich mit Blick auf Schlemihl und seine Prätexte stellt: Warum verändert Chamisso, nachdem er an den märchenhaften (unerschöpflichen Reichtum und Bewegungsfreiheit garantierenden) Requisiten thematisch Gefallen gefunden hat, das Motiv des Wunschhütleins? Die gravierende Unschärfe bei der Anpeilung des Ziels, die den Chamissoschen Siebenmeilenstiefeln anhaftet,26 wird auf diese Weise zu einer intertextuell erklärungsbedürftigen Verschiebung. Dagmar Walach expliziert die besondere Einschränkung folgendermaßen: Wenn dem Forscherdrang des botanisierenden Schlemihl der australische Kontinent für immer verschlossen bleibt, so nicht wegen der gleichsam schadhaften Magie seiner Siebenmeilenstiefel allein. Diese Unzulänglichkeit, als Zeichen für die historische Borniertheit bürgerlicher Wissenschaft genommen, relativiert jede euphorisch gestimmte Interpretation des Schlusses als harmonisches Bild. Das große ‚Fragment‘ […], das am Ende der Geschichte steht, ist gleichermaßen Ausdruck eines beschädigten Lebens wie eines fragmentarischen Tuns, auch wenn Schlemihl/Chamisso das Fragmentarische noch nicht als historisches Faktum begreift.27
Allerdings ist die Ersatzqualität der wissenschaftlichen Reisen nachdrücklich hervorgehoben und zugleich so deutlich mit der Schuld Schlemihls verknüpft,
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Fortunatus, S. 153. Vgl. hierzu: Manfred Nagl: Fluggeräte. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hrsg. von Kurt Ranke et al. Bd. 4. Berlin, New York: de Gruyter 1984, Sp. 1365–1373: „Als Vehikel magischer Flüge dienen auch Zauber-, Wunsch- oder Siebenmeilenstiefel, die sich sowohl von der Fußbekleidung riesenhafter Dämonen als auch von Attributen der Götterboten (Hermes) herleiten lassen. (Kulturspezifische Var.n sind z.B. Gamaschen, Bund-, Bast- und Schneeschuhe.)“ (Sp. 1368). „F. wurden schon im 19. Jh. zu einem beliebten und häufigen Gegenstand populärer Drucke und der Massenmedien.“ (Sp. 1369) „Die Interpretation der F. – sei es als Elemente und Träger der Handlung, sei es als Ausdruck von Wunschbildern oder magischen Denkweisen – berührt zwar den numinosen Kernbereich des Märchens, zumal das Zaubermärchen als das eigentliche Märchen angesehen wird. Dennoch ist bisher keine Theorie der Volkspoesie, des Märchens oder des Zaubermärchens im bes. detailliert genug, um differenzierte und prägnante Aussagen über den Gehalt und die Funktion der verschiedenen F. zu erlauben.“ (Sp. 1370) Walach: Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, S. 243f.
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daß ein euphorisiertes oder auch nur harmonisches Ende mit Blick auf die gescheiterte Beziehung zu Mina ohnehin a priori unstimmig wäre:28 Durch frühe Schuld von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen, ward ich zum Ersatz an die Natur, die ich stets geliebt, gewiesen, die Erde mir zu einem reichen Garten gegeben, das Studium zur Richtung und Kraft meines Lebens, zu ihrem Ziel die Wissenschaft. (PS 72)
Daß Chamisso die beschriebene Form der Forschung als unzulänglich oder borniert empfand, scheint eher unwahrscheinlich, propagiert er damit doch eine spezifische Systematisierung, die er auch bei seinen Reisen mit wissenschaftlicher Überzeugung anwendete. Eine mögliche Erklärung für die defekten Siebenmeilenstiefel, die über Walachs Ansatz hinausgeht, findet sich in Chamissos nur wenige Seiten umfassenden dramatischen „Versuch“ (F 397) Faust. Wie im Fortunatus von 1806 findet sich auch im Faust von 1803 eine entschiedene religiöse Dimension, die jene eigentümlich exponierte räumliche Begrenzung im Schlemihl metaphysisch begründet. Chamissos Faust-Fragment29 scheint mit dem Faust-Volksbuch von 1587 vor allem hinsichtlich der Relativierung von Erkenntnisdrang und Abenteuerlust im Zeichen religiöser Verbindlichkeiten übereinzustimmen: Im Widerstreit zwischen Wissen und Glaube ist bei Chamisso wie im Dr. Faust-Volksbuch fraglos der Glaube die entscheidende Größe. Insofern der dem FaustMythos zugrundeliegende Paktgedanke im Schlemihl die entscheidende Rolle spielt, der Faust des Volksbuches gleichzeitig aber auch, stärker noch als nachfolgende Adaptionen, ein passionierter Reisender war, (der nicht nur in die Hölle hinab- und in den Sternen-Himmel hinaufsteigt, sondern auch auf dem zum geflügelten Roß mutierten Mephistopheles (also ebenfalls mit einem magischen Transportmittel) Reisen in zahlreiche Länder unternimmt) liegt die Vernetzung des Schlemihls mit dem Faust-Volksbuch nahe. In diesem Sinne konzentriert sich Chamisso in seinem Fragment verdichtend auf den Kernkonflikt des Faust-Mythos, den er als Widerstreit zwischen Erkenntnisdrang und Glauben inszeniert. Ähnlich wie in allen vorangegangenen Bearbeitungen des Faust-Motivs erscheint der wissensdurstige Faust bei Chamisso am „Schlangenbiß des Zweifels“ (F 398) erkrankt und will „gesunden in der Wahrheit Scheine“ (F 398). In der nachfolgenden Geisterbeschwörung stehen sich – in einem expliziten Antagonismus – ein Guter und ein Böser Geist gegenüber; der Gute Geist wird von Faust zunächst im Wunsch nach „Belehrung, Wahrheit und Erkenntnis“ (F 399) zurückgewiesen. Als Sprachrohr einer höheren Erkenntnis
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„Mina, wie ich damals weinte Mina, als ich dich verlor, so wein ich jetzt, dich auch in mir verloren zu haben. Bin ich denn so alt worden? – O traurige Vernunft! Nur noch ein Pulsschlag jener Zeit, ein Moment jenes Wahnes, – aber nein! einsam auf dem hohen, öden Meere deiner bittern Flut, und längst aus dem letzten Pokale der Champagner Elfe entsprüht!“ (PS 39) Alle Seitenangaben in Klammern mit der Sigle F beziehen sich auf Chamisso: Faust. In: Sämtliche Werke in zwei Bänden, Bd. 1.
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kommentiert der Gute Geist den anstehenden Seelenhandel mit Verweis auf den Sündenfall: „Den seligen Menschen / Verwehrte der Vater / Die einzige Frucht“ (F 400). Damit ist der Erkenntnisdrang des Menschen per se in einen bestimmten Bereich eingefriedet, der hier als Garten erscheint: „Den seligen Menschen / Gewährte der Vater, / Von allen den Früchten / Des Gartens zu kosten“ (F 399). Wie schon in Chamissos kleiner allegorischer Erzählung Adalberts Fabel30 von 1806 wird im Faust die komplexe Lage des Menschen zwischen Wollen und Müssen erörtert. In Adalberts Fabel erwacht der anfangs paralysierte Held aus seinem Traum – „das Antlitz gewendet gegen die in Osten aufsteigende Sonne“ (AF 13) –, nachdem er in vielsagender Symbolik die Aussöhnung zwischen Wollen und Notwendigkeit im Konzept des „Mitwollens“ durchlebt hatte: Die Erfahrung und die Aussöhnung mit dem Faktum menschlicher Bedingtheit wird in seiner Sonnenaufgangssymbolik als Aufbruch und Beginn gedeutet. Die von der vollständigen Lähmung befreiende Erkenntnis besteht also ironischerweise genau in der Einsicht in die unentrinnbare Eingebundenheit in die Notwendigkeit. Das positive Ende von Adalberts Fabel ist in diesem Sinne als spezifischer Inititationsprozeß zu verstehen, der Faust – insofern er intransigent auf seinem Willen besteht31 – zu Beginn des Fragments noch bevorsteht. Als Zeichen des geschlossenen Paktes, der im Austausch für Fausts Seele „Belehrung“, „Wahrheit“ und „Erkenntnis“ verspricht, soll Faust nun nach Maßgabe des Bösen Geistes „selbst […] den Stab über [s]eine Seele brechen“ (F 401). In einer ähnlichen Verzögerung wie im Schlemihl läßt der in die Hand gezauberte Stab noch einen Moment der Reflexion zu, wie der Gute Geist betont: „Noch, Faust, gehört des Herzens Willen dir.“ (F 402) Im Gegensatz zum Schlemihl allerdings läßt sich Faust unter dem triadischen Motto „gedacht, gewollt, gehandelt“ (F 402) auf den Seelenhandel ein und zerbricht den Stab. Statt der angestrebten Erkenntnis erwartet ihn jedoch der Hohn des Bösen Geistes, dessen spöttische Ausführungen den Guten Geist nachträglich bestätigen: „Der Zweifel ist menschlichen Wissens Gränze, / die nur der blinde Glaube überschreitet.“ (F 404) Da der „Zweifel“ des „menschlichen Wissens Gränze“ ist – eine Erkenntnis, die in der Triumphrede des Bösen Geistes gleich mehrfach wiederholt wird –, scheint der „Glaube“ die entscheidende metaphysische Größe, mit der sich die gottgegebenen Grenzen einer objektivierbaren Wahrheit und Erkenntnis allein überschreiten lassen. Die als ewig beschriebene Mauer zwischen Faust und der „ersehnten Wahrheit“ (F 405) wird nur durch den Tod Fausts überwindlich; im Eingang in ein „Land“, in dem nicht mehr „gestrebt, nicht getrachtet“ wird, erweist sich die
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Vgl. zu einer zeichentheoretischen Aufarbeitung von Schlemihl mit besonderer Berücksichtigung von Adalberts Fabel: Rolf Günter Renner: Schrift der Natur und Zeichen des Selbst. Peter Schlemihls wundersame Geschichte im Zusammenhang von Chamissos Texten. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 65 (1991), S. 653–673. Alle Seitenangaben in Klammern mit der Sigle AF beziehen sich auf Chamisso: Adalberts Fabel. In: Sämtliche Werke in zwei Bänden, Bd. 2. So resümiert der Gute Geist: „Du willst, du willst und deine Freuden welken.“ (F 401)
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unter Einsatz der Seele erzwungene Wahrheit schließlich konsequenterweise als „Rächerin“ (F 405): „Sie harret furchtbar deiner in dem Lande, […] Wo zollen einer wird des Lebens Lohn.“ (F 405) Die Bedeutung dieses Urteils bekräftigt sich ebenfalls in der formelhaften Wiederholung des Satzes. Seinen Zweifel endet Faust schließlich angesichts der Offenbarungen des Bösen Geistes mit Selbstmord: „Verdamnis, ewige, in deinen Schoß! – / Vielleicht Vernichtung nur, vielleicht Erkenntnis, / Gewißheit doch.“ (F 406) Trotz ihrer entgegengesetzten Intentionen verbürgen die beiden Geister eine implizite, gemeinsame Wahrheit gegen Faust, die sich ex negativo aus dem (sich als falsch erweisenden) umfassenden Erkenntnisanspruch Fausts ergibt: Diese Wahrheit gründet auf einem christlichen Diesseits-Jenseits-Modell, das jeweils Erlösung oder Verdammnis bereithält. Unisono wird das Streben nach ultimativer Erkenntnis von beiden Geistern mit dem Verweis auf den Glauben abgelehnt. Wenn der Gute Geist Fausts Suche nach „Wahrheit“ explizit auf den biblischen Sündenfall bezieht, verdeutlicht er die Chancen und Grenzen menschlicher Erkenntnis, deren größte Reichweite nur über den Glauben zu erzielen sei: Es gab zu ahnen das Unendliche / Der Vater dir den Geist, / Gab, liebend anzubeten, dir das Herz: / Und, rechtend mit dem Vater, wagtest du, / Vom Strahle seiner Liebe mild beschienen, / Zu fordern jene Frucht, des Todes Frucht […]. (F 400)
Dies bestätigt nach dem Seelenhandel auch der Böse Geist: „Des Glaubens Blume blühte kindlich dir / Du hast sie stolz zertreten, forderst Wahrheit.“ (F 404) Die menschlichen Wahrnehmungsorgane und Denkstrukturen als Vorbedingungen jeder Erkenntnis werden dabei als Prämisse der Begrenzung benannt: Es kann der Staubumhüllte nichts erkennen / Dem Blindgebornen kann kein Licht erscheinen. // So wie der Sprache, wie des Wortes Schall / Dir Mitler des Gedankens ist und Zeichen; / So ist des Sinns Empfinden, der Gedanke selbst / Dir Sprache bloß und eitles und leeres Zeichen / Der ewig dir verhüllten Wirklichkeit. / Du kannst nur denken durch den Mitler Sprache, / Nur mit dem Sinne schauen die Natur, / Nur nach Gesetzen der Vernunft sie denken. (F 404)
In diesem Sinne ist menschliche Suche nach Wahrheit, die außerhalb des Glaubens liegt, per se transzendental beschränkt. Im Schlemihl schließlich wird genau diese Einsicht performativ umgesetzt, indem Schlemihl auf seinen naturwissenschaftlichen Entdeckungsreisen aufgrund der ungenauen Zieljustierung seiner Stiefel bestimmte Regionen der Welt nicht erreichen und systematisch erschließen kann: Das merkwürdige, zum Verständnis der Erde und ihres sonnengewirkten Kleides, der Pflanzen- und Tierwelt, so wesentlich notwendige Neuholland und die Südsee mit ihren Zoophyteninseln waren mir untersagt, und so war im Ursprunge schon alles, was ich sammeln und erbauen sollte, bloßes Fragment zu bleiben verdammt – O mein Adalbert, was ist es doch um die Bemühungen der Menschen! (PS 73, Hervorhebung von C. N.)
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In der scheinbar willkürlich gesetzten Begrenzung spiegelt sich also – pragmatisch in einer räumlichen Beschränkung gebrochen – ein im Kern religiös motivierter Reflex: Diese Grenze wird der menschlichen Hybris entgegengesetzt und als – in Referenz auf eine alles kontrollierende göttliche Macht – als Demutsgeste inszeniert. Naturwissenschaftliches Reisen im Schlemihl ist in seiner Begrenzung immer schon ein konkreter Verweis auf den vorangegangenen (religiös konnotierten) Sündenfall, der dem Schlemihl nicht die volle Befriedigung einer vollendeten oder auch nur vollendbaren Enzyklopädie zu Teil werden läßt, zugleich aber auch ein allgemeines Symbol, das in Chamissos Sinne die Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis ins Gedächtnis ruft.
III. Die naturwissenschaftliche Implikation „Die Perspektive des Wissenschaftlers eröffnet Schlemihl neue Horizonte: ein sinnvoll ausgefülltes Leben im Fortschritt der Zeit“32 – so Dagmar Walach in ihrer Analyse des Schlemihl. Mag dies auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen, so fällt doch bei genauerem Hinsehen die Symbolik der Siebenmeilenstiefel ins Auge: Obwohl sie dem Protagonisten eine beschleunigte Reise über die Kontinente ermöglicht, handelt es sich bei diesem Utensil tatsächlich um ein Moment der Verräumlichung, die – anders als die Chamisso umgebenden Prozesse der Modernisierung, der Verzeitlichung und Vergeschichtlichung33 – statt eines Fortschritts eine räumliche Gleichzeitigkeit und eine dezidierte Enthistorisierung bedingen. Das betrifft zunächst nur den Modus der Erschließung. Ein genauerer Blick auf das Verfahren Schlemihls macht jedoch darüber hinaus deutlich, daß die Art der wissenschaftlichen Vorgehensweise eng verbunden ist mit dem Erkenntnisziel Schlemihls, das in seinem Ergebnis am Ende der Erzählung resümiert wird: Ich habe, so weit meine Stiefel gereicht, die Erde, ihre Gestaltung, ihre Höhen, ihre Temperatur, ihre Atmosphäre in ihrem Wechsel, die Erscheinungen ihrer magnetischen Kraft, das Leben auf ihr besonders im Pflanzenreiche gründlicher kennengelernt als vor mir irgendein Mensch. Ich hab die Tatsachen mit möglichster Genauigkeit in klarer Ordnung aufgestellt in mehreren Werken, meiner Folgerungen und Ansichten flüchtig in einigen Abhandlungen niedergelegt. – Ich habe die Geographie vom Innern von Afrika und von den nördlichen Polarländern, vom Innern von Asien und von seinen östlichen Küsten festgesetzt. Meine „Historia stirpium plantarum utriusque orbis“ steht da als ein großes Fragment der Flora universalis terrae und als ein Glied meines Systema naturae. Ich glaube darin nicht bloß die Zahl der bekannten Arten müßig um mehr als ein Drittel vermehrt zu haben, sondern auch etwas für das natürliche System und für die Geographie der Pflanzen getan zu haben. Ich arbeite jetzt fleißig an meiner Fauna. (PS 78–79)
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Walach: Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, S. 243. Vgl. dazu Reinhart Koselleck: ‚Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 300–348.
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Die systematische Erschließung und Einteilung der Arten mit einem Fragment bleibenden Anspruch auf die Erfassung der Flora universalis verweist dabei auf die klassifikatorisch verfahrende Naturgeschichte, allen voran auf Carl Linnés Systematik.34 Zusammen mit Albrecht von Haller und Alexander von Humboldt gehörte Linné in Schlemihls Traum von Chamissos Arbeitszimmer35 zum naturwissenschaftlichen Dreigestirn, das in Schlemihls finaler und alternativer Lebensperspektive wiederum zitiert wird; dabei erscheint der Rekurs auf Linné und Haller als maßgeblicher Indikator für ein Weltbild,36 das den verzeitlichenden Umbrüchen der modernen Gesellschaft, eine spezifische beruhigend unveränderliche Zeitlosigkeit entgegenhält. Wenn Schlemihl die Natur als „reichen Garten“ (PS 72) bezeichnet, führt er diese synchrone Qualität bereits metaphorisch ein, jedoch nicht ohne den impliziten Verweis auf den entsprechenden Schöpfer des „Gartens“, nämlich Gott. Die Naturgeschichte – als deren Vertreter Linné und Haller hier zu sehen sind – klassifiziert in eben diesem Sinne statisch: Bis ins 18. Jahrhundert wird die Naturgeschichte von der Vorstellung der ‚Kette der Wesen‘ geprägt: Gott hat die größte Zahl von Dingen geschaffen, die er schaffen konnte; in der Natur herrscht ein horror vacui; da sie keine Sprünge macht, sind alle Dinge kontinuierlich miteinander verbunden […] Die Kette der Wesen ist unendlich, außerhalb ihrer befindet sich nur der, der sie geschaffen hat: Gott.37
Auf genau diese Vorstellung bezieht sich Chamisso, wenn er im FaustFragment Faust häretisch zweifeln läßt: „Was ist die Gottheit, jeder großen Kette / Ein erstes ewig unbegriffnes Glied, / Das, nicht getragen, alle Glieder trägt?“ (F 398) In der von Faust beklagten Unerfaßbarkeit des ersten Glieds
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Vgl. dazu auch Carl Niekerk: Zwischen Naturgeschichte und Anthropologie. Lichtenberg im Kontext der Spätaufklärung. Tübingen: Niemeyer 2005, besonders S. 13–27, der diese Transition in Anlehnung an Ernst Cassirers Philosophie der Aufklärung und Foucaults These vom Epistemewechsel mit Blick auf Lichtenberg beleuchtet. Mit Blick auf Chamisso wird in diesem Kontext – trotz offensichtlicher Verschiebungen im 18. Jahrhundert (George Louis Leclerc Buffon) – der Wandel akzentuiert (das von Wolf Lepenies in diesem Sinne verkündete Ende der Naturgeschichte), vor dem Chamissos Rückgriff auf ein zunehmend veraltendes System umso deutlicher wird. „Da träumt’ es mir von dir, es ward mir, als stünde ich hinter der Glastür deines kleinen Zimmers und sähe dich von da an deinem Arbeitstische zwischen einem Skelett und einem Bunde getrockneter Pflanzen sitzen, vor dir waren Haller, Humboldt und Linné aufgeschlagen, auf deinem Sofa lagen ein Band Goethe und der Zauberring, ich betrachtete dich lange und jedes Ding in deiner Stube, und dann dich wieder, du rührtest dich aber nicht, du holtest auch nicht Atem, du warst tot.“ (PS 31) Der geträumte Tod Chamissos bricht das beruhigend Szenario mit Blick auf die kommenden Katastrophen auf und antizipiert das ambivalente Ende des zunächst unfreiwillig Forschungsreisenden. Vgl. dazu allgemein auch: Goethe und die Verzeitlichung der Natur. Hrsg. von Peter Matussek. München: Beck 1998. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 41.
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manifestiert sich im Verlauf des Fragments seine fatale, zum Seelenhandel und Selbstmord führende Verblendung, da er auf der Suche nach finalen Wahrheiten dieses Grundaxiom ignoriert, indem er es zu überschreiten versucht. In diesem Sinne gründet sich diese spezifische Form der Naturbetrachtung also auf einem religiösen Kreationismus. Indem Chamisso im Schlemihl darauf Bezug nimmt, bindet er die transformierte seelenlose Zeit in ein kompensatorisches Gesamtmodell ein, das nur auf den ersten Blick fortschrittlich scheint, sich auf den zweiten aber als religiös-restaurativ erweist. Mit diesem Rahmen kann – angesichts des Schattenhandels, der eine vollständige Reintegration verbietet – immer noch ein versöhnliches Ende erreicht werden, insofern Schlemihl innerhalb der gegebenen Grenzen der Schöpfung eine affirmative Archivierung des Bestehenden leistet. Daß er dieses Projekt – nach dem Verlust Minas – wiederum als Einsiedler ausführt, verdeutlicht die implizite religiöse Haltung im enzyklopädischen Sammeln: Wie ich durch Ägypten die alten Pyramiden und Tempel angaffte, erblickte ich in der Wüste, unfern des hunderttorigen Thebens, die Höhlen, wo christliche Einsiedler sonst wohnten. Es stand plötzlich fest und klar in mir: hier ist dein Haus. (PS 72)
Buße und Kompensation spiegeln sich überdies auch in der Ahasver-Motivik; der ewig wandernde Schlemihl wird dementsprechend bei seinem Aufenthalt im Schlemihlium „seines langen Bartes wegen“ (PS 76) für einen Juden gehalten. Diese Wanderschaft stellt zwar im Rekurs auf die Geschichte des Juden Ahasver (der Jesus während seines Kreuzganges eine kurze Rast auf seiner Schwelle verweigerte und daraufhin zu ewigem Leben und Wanderschaft verdammt wurde) weiterhin einen Indikator für die vergangene Schuld dar,38 aber sie ist zugleich eine „Buße der Versöhnung“ (PS 77). Über den Topos des Seelenhandels, den Schlemihl gerade eben nicht eingeht, werden am Beispiel des Herrn John – äußerst plastisch – überdies die gravierenden religiösen Konsequenzen im Zeichen ewiger Verdammnis vorgeführt: Ich frug ihn schnell: ‚Hatten Sie eine Unterschrift vom Herrn John?‘ – Er lächelte. – ‚Mit einem so guten Freund hab ich es keineswegs nötig gehabt.‘ – ‚Wo ist er? bei Gott, ich will es wissen!‘ Er steckte zögernd die Hand in die Tasche, und daraus bei den Haaren hervorgezogen erschien Thomas Johns bleiche, entstellte Gestalt, und die blauen Leichenlippen bewegten sich zu schweren Worten: ‚Justo judicio Dei judicatus sum; justo judicio Dei condemnatus sum.‘ Ich entsetzte mich, und schnell den klingenden Seckel in den Abgrund werfend, sprach ich zu ihm die letzten Worte: ‚So beschwör ich dich im Namen Gottes, Entsetzlicher! hebe dich von dannen und lasse dich nie wieder vor meinen Augen blicken!‘ Er erhub sich finster und verschwand sogleich hinter den Felsenmassen, die den wild bewachsenen Ort begränzten. (PS 68)
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In einem intertextuellen Verweis auf Goethes Faust ist Schlemihl ein treuer Weggefährte, der Pudel Figaro, beigesellt: Die ursprüngliche Verführbarkeit Schlemihls bleibt auf diese Weise bis zum Schluß thematisch.
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Als wesentlich bei eben dieser christlichen Fundierung der Geschichte erweist sich ein strategisches Konzept, das Chamisso in Reaktion auf die aufgeworfenen Probleme der Modernisierung entwirft: Es handelt sich um ein restauratives Programm, mit dem die entfremdenden Entwicklungen der Gegenwart nicht grundsätzlich kompensiert, aber doch individuell ertragen werden können. Jürgen Schwann hat in diesem Konzept die stoischen Einflüsse nachgewiesen, auf deren Basis Chamisso das in Adalberts Fabel beschriebene Zusammenwirken von Wollen, Notwendigkeit und Mitwollen bis in den Schlemihl weiterentwickelt:39 Die Lösung für die aufreibenden Fragen der Zeit wird in diesem Sinne für den Einzelnen in einem christlich fundierten stoischen Verhaltenskodex gesucht. Indem Schlemihl die ungünstigen Bedingungen annimmt, sucht er sein Heil allerdings in einem gesellschaftsfernen Asyl. Legitimierbar (und mit Bezug auf die gesellschaftsaffine stoische Ethik auch legitimierungsbedürftig) wird dieser radikale Ausstieg über den wissenschaftlichen Mehrwert seiner eremitären Studien; so versäumt Schlemihl nicht darauf hinzuweisen, daß er „Sorge tragen [wird], daß vor [s]einem Tode [s]eine Manuskripte bei der Berliner Universität niedergelegt werden.“ (PS 79)40 Wie deutlich wurde, beinhalten Schlemihls Ergebnisse zwar einen panoramaartigen Rundblick, in ihrer christlichen Absicherung jedoch keine gesellschaftliche Sprengkraft, was sich mit einem weiteren Blick auf das temporale Konzept nochmals bestätigt. Die Vorstellung einer „Kette der Wesen“ gründet sich nämlich auf einem festen Bestand an Lebewesen, in der zwar – wie die évolutionnistes postulieren – eine Mikroevolution im Sinne einer Entwicklung des im Kern vorgeformten denkbar erscheint, nicht aber makroevolutionäre Sprünge über die Artgrenzen hinweg.41 Infolgedessen entspricht die Linnésche Grundidee der Klassifikation (ob als natürliches oder künstliches System) zugleich seiner unerschütterlichen Überzeugung von der Unveränderlichkeit der Arten. Als weiterer Kronzeuge, den Chamisso explizit anführt, bestreitet auch Haller ähnlich vehement einen temporalisierbaren Entwicklungsbegriff.42
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In Schlemihls „radikale[r] Absage […] an die menschliche Gesellschaft und seiner Hinwendung zum Ideal der Selbstgenügsamkeit manifestiert der Autor seine Nähe zur stoischen Affektenlehre.“ (Jürgen Schwann: Vom ‚Faust‘ zum ‚Peter Schlemihl‘. Kohärenz und Kontinuität im Werk Adalbert von Chamissos. Tübingen: Narr 1984, S. 371). „Schlemihl unterstreicht mit seinem pragmatischen, der Zukunft sich öffnenden Verhalten [am Ende des Schlemihls], daß er willens ist, die Hypothek der Schattenlosigkeit zu tragen, und zwar sowohl durch den Entschluß, unter den Folgelasten der Schattenlosigkeit vernünftig, d. h. zweckrational zu planen und zu handeln […], als auch das Bestreben, sich mit seiner Geschichte zu versöhnen […] Für den Fall eines überwiegenden Rollenspiels kann dann angenommen werden, daß ein Gelingen Ausdruck ist für die Übereinstimmung von Notwendigkeit und Willen.“ (Ebd., S. 362f.). „Die Resultate seines unablässigen Forschens werden über den Prüfstand der Wissenschaft der Allgemeinheit zugute kommen.“ (Schwann, Vom ‚Faust‘ zum ‚Peter Schlemihl‘, S. 371). Vgl. Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte, S. 45. Ebd.
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Dieser theologisch fundierte Bestandscharakter der Natur ist (bezogen auf die Phylogenese) ahistorisch. Insofern erscheint dieses Konzept im späten 18. und im 19. Jahrhundert anachronistisch, da es der ausgeprägten Verzeitlichungstendenz in diesem Zeitraum substantiell widerspricht. Explizit nimmt Chamisso in einem Tagebucheintrag auf die Absurdität der Natur als „Metamorphosler“ Bezug: Unter den Seepflanzen, die ich vom Kap mitgebracht habe, hat eine, oder nach meiner Ansicht haben zwei eine große Rolle in der Wissenschaft gespielt, indem sie für die Verwandlung der Gattungen und Arten in andere Gattungen und Arten Zeugnis ablegen gesollt. Ich habe wohl in meinem Leben Märchen geschrieben, aber ich hüte mich, in der Wissenschaft die Phantasie über das Wahrgenommene hinaus schweifen zu lassen. Ich kann in einer Natur, wie die der Metamorphosler sein soll, geistig keine Ruhe gewinnen, Beständigkeit müssen die Gattungen und Arten haben, oder es gibt keine. Was trennt mich homo sapiens denn von dem Tiere, dem vollkommneren und von der Pflanze, der unvollkommneren und der vollkommneren. Wenn jedes Individuum vor- und rückschreitend aus dem einen in den andern Zustand übergehen kann?43 (Hervorhebung von C. N.)
Konsequenterweise stabilisiert diese Perspektive das Bestehende:44 Das Reich der Pflanzen und Tiere kann mit den Ständen der Gesellschaft verglichen werden, da bei diesen zwar auch Zwischenstufen sich finden, ohne daß doch ein Übergang von einem Stand zum anderen angenommen werden könnte […] Unter dem Titeln einer Oeconomia naturae und Politia naturae hat Linné eine Ständeordung der Pflanzenwelt vorgestellt, innerhalb derer die Moose die Ärmsten bilden, die Gräser als Bauern, die Kräuter als Adel und die Bäume als Fürsten anzusehen sind.45
Die Vorbedingungen natürlicher und gesellschaftlicher Organisation scheinen in diesem Sinne als nicht überschreitbar – basierend auf dieser Vorstellung, die sich angesichts der Französischen Revolution und der unvorstellbaren Revision grundlegender politischer Ordnungskonzepte als falsch erwiesen hatte, müssen die eruptiven gesellschaftlichen Entwicklungen zwangsläufig als Fehlentwicklungen erscheinen.46
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Chamisso: Reise um die Welt mit der romanzoffischen Entdeckungsexpedition in den Jahren 1815–1818. In: Sämtliche Werke in zwei Bänden, Bd. 2, S. 353–354. Wolf Lepenies hat auf Ernst Jüngers enge Verknüpfung der Geltung der Linnéschen Typen mit der unangetasteten Autorität der absoluten Monarchie hingewiesen. Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte, S. 47. Ebd., S. 48. Vor einer solchermaßen politisch aufladbaren, statischen Naturanschauung, auf der sich Chamissos naturwissenschaftliche Expeditionen und Erforschungen gründen, scheint seine explizite Distanz zur alten Ordnung zunächst ambivalent. Chamisso konnte sich – trotz seiner Vertreibung aus Frankreich – nicht mehr „den Idealen des Ancien Régime anpassen […].Das Erlebnis der zusammenbrechenden Adelsgesellschaft in Frankreich und die Erfahrungen der Exilsituation haben ihn […] den Konventionen seiner Klasse entfremdet […]. Er sucht nach einem neuen Lebensziel und orientiert sich dabei an den modernen bürgerlichen Vorstellungen der französischen Aufklärung.“ So Werner Feudels prägnante Positionierung im Nachwort zu: Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke in zwei Bänden, Bd. 1, S. 784.
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Wie aber verhält sich der Schlemihl mit seinem expliziten Bekenntnis zu dieser statischen Naturauffassung zu den politischen Konsequenzen dieses Weltbildes? Im Schlemihl wird die politische Ebene explizit in der Graf-PeterEpisode eingeführt, in der Schlemihl für den durch das Land reisenden „gute[n] König von Preußen“ (PS 41) gehalten wird; er korrigiert den Irrtum zunächst nicht, da es ihm doch „schmeichelte […], sei es auch nur so, für das verehrte Haupt angesehen worden zu sein.“ (PS 41, Hervorhebung von C. N.)47 Gegen dieses „verehrte Haupt“ werden pejorativ jene Monarchen abgegrenzt, über deren Mangel „die Welt hat nie Grund gehabt [zu klagen…], am wenigsten in unsern Tagen“ (PS 43) – ein leicht zu entziffernder Seitenhieb auf Napoleon. In dieser Opposition von „gutem König“ und dem illegitimen Usurpator scheint sich die konservative Gesamtanlage des Textes auf den ersten Blick auch politisch zu bestätigen;48 insgesamt bleibt sie jedoch im Schlemihl unterentwickelt: Hier wird die moderne Welt exemplarisch in ihrer gesellschaftlichen Deformation beschrieben, aus der Politik als Medium der Weltgestaltung (und auch als korrigierbare Rahmenbedingung) ausgeklammert scheint: Der „gute König“ wird als Mensch gelobt und spielt als Herrscher keine Rolle im Text.
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Dieses „auch nur so“ begründet sich natürlich wiederum auf einer Fehleinschätzung der Dorfbewohner, die sich vom Reichtum blenden lassen: „Die Pracht meines Festes und mein Benehmen dabei erhielten anfangs die starkgläubigen Einwohner der Stadt bei ihrer vorgefaßten Meinung. Es ergab sich freilich sehr bald aus den Zeitungen, daß die ganze fabelhafte Reise des Königs von Preußen ein bloßes ungegründetes Gerücht gewesen. Ein König war ich aber nun einmal, und mußte schlechterdings ein König bleiben, und zwar einer der reichsten und königlichsten, die es immer geben mag. Nur wußte man nicht recht, welcher.“ (PS 42–43) Nichtsdestoweniger schwingen in dieser sublimen Evokation des Mannes, mit dem halb Europa zum Zeitpunkt, als der Schlemihl verfaßt wurde, im Krieg lag, moderne, bürgerliche Vorstellungen mit, die in Chamissos Tod Napoleons gegen Bonaparte pointiert formuliert werden: „EUROPA: […] Napoleon! […] Zurück von dir nicht fordernd das vergoßne Blut, / das teure meiner Kinder; nein, den hohen Preis, / Um welchen fließen es gesollt, erschein ich dir. / Es rangen zwei Weltalter um die Herrschaft; du / Stiegst auf, du Schicksalsmächtiger, da ward es still; / Nicht Friede; schweigsam lagen sie zu Füßen dir; / Du Franklin nicht, nicht Washington, du hast gebaut / vergänglich für die trunkne Lust des Augenblicks. Du sankst, du stirbst – ich frage bang: wem beug ich nun / Den jochgewohnten Nacken? Weh! […] O hättest Freiheit du geschafft nach deiner Macht, / Noch ständen aufrecht deine Bilder, unentweiht (Chamisso: Sämtliche Werke in zwei Bänden, Bd. 1, S. 396, Hervorhebungen von C. N.) Diese explizite Freiheitsforderung (bezeichnenderweise im Zeichen von Franklin und Washington, den Protagonisten der amerikanischen Revolution), die Chamisso im Jahr 1827 im utopischen Konjunktiv zu Papier brachte, wirft Napoleon – neben der nachdrücklichen Infragestellung seiner Mittel und Zwecke – vor allem die verspielte Chance eines fundamentalen Wandels (zwei Weltalter, die miteinander ringen) vor. Nach dieser retrospektiven dramatischen Aufbereitung liegt die Katastrophe der Gegenwart – in politischer Hinsicht – unter anderem in einem stagnierenden Wandlungsprozeß, der nach dem Machtverlust Napoleons („O hättest Freiheit du geschafft nach deiner Macht, / Noch ständen aufrecht deine Bilder, unentweiht / Von Händen, die zu heben unvermögend sind / Das dir ersunkne, dein gewichtiges Herrscherschwert.“ Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke in zwei Bänden, Bd. 1, S. 396. Hervorhebungen von C. N.) nicht mehr individuell regulierbar scheint.
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Insofern erscheint der Text in hohem Maße gesellschaftsanalytisch, aber doch unpolitisch; obwohl er eine gesellschaftliche Fehlentwicklung anprangert, handelt es sich bei ihm schon konzeptuell nicht um eine littérature engagée. Chamissos moderne, bürgerliche Forderungen und konkreten Politikkonzepte spielen in einem solchen Zugriff (vor allem mit Blick auf eine zunehmende Ungestaltbarkeit) keine Rolle mehr, da sich die Analyseperspektive im Schlemihl (trotz des Fokus auf das Einzelschicksal) als umfassender erweist und die entsprechende Antwort auf die drängenden Fragen an den Modernisierungsprozeß als grundsätzlicher erscheint. Das soziale Szenario wird dabei von einem zeitlosen Rückzugsmodell aufgehoben, das der zeitgenössischen Beliebigkeit und Oberflächlichkeit moralischer Standards religiöse Höchstwerte entgegensetzt. Auf der gleichen Basis religiöser Verbindlichkeit erschließt sich in diesem Sinne für Schlemihl – sogar im gesellschaftlichen Chaos und in der zunehmenden Entfremdung des modernen Individuums – das Refugium der Natur49 in dem sich die gottgegebene Ordnung noch zuverlässig ablesen läßt. Als Gegenprogramm gegen die beschriebene Modernitäts-Krise wird also mit der naturwissenschaftlichen Schlußperspektive ein konservatives, eskapistisches, nicht etwa ein progressives Modell entwickelt, das überdies die Vorbedingungen der Depravation nicht überschreiten kann oder will – Schlemihls Rückzug aus der Welt des Markts in die Welt des religiös stabilisierten Wissens erfolgt dementsprechend unter zwangsläufiger Akzeptanz des Modernisierungsprozesses, der ihm – durch seine „frühe Schuld“ – negativ (im Fehlen des Schattens) eingeschrieben bleibt. Über die Möglichkeit, die entgleiste Gesellschaftsordnung in ihre ursprünglich gottgegebenen Bahnen zurückzulenken, wird im Schlemihl lediglich auf der persönlichen Ebene reflektiert. Auf die typisch romantische Problemanalyse der zeitgenössischen Entfremdungsvorgänge findet Chamisso dementsprechend auch eine individuelle Antwort, die sich auf eine praktikable Schadensregulierung konzentriert und dabei lose mit einer Vorstellung von Gemeinschaft verbunden bleibt wie Minas, Bendels und Schlemihls Lebensperspektiven zeigen. Vor dem Hintergrund der zeitanalytischen und naturwissenschaftlichreligiösen Symbolik im Schlemihl lohnt abschließend ein Blick auf das vieldiskutierte Schattenmotiv,50 in dem sich die oben angesprochenen Aspekte noch einmal überschneiden: 1834 fragt Chamisso selbst in einem an Peter Schlemihl adressierten Gedicht nach diesem auffälligen Tauschobjekt: Und was ist denn der Schatten? möcht ich fragen, / Wie man so oft mich selber schon gefragt, / So überschwenglich hoch es anzuschlagen, / Wie sich die arge Welt es nicht versagt? Das gibt sich schon nach neunzehntausend Tagen, / die, Weisheit bringend, über uns getagt. (PS 21–22)
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„Ich kann in einer Natur, wie die der Metamorphosler sein soll, geistig keine Ruhe gewinnen“, vgl. Fußnote 43, Hervorhebung von C. N. Vgl. dazu auch Gero von Wilpert: Der verlorene Schatten: Varianten eines literarischen Motivs. Stuttgart: Kröner 1978, S. 21–49.
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In seiner eigenen Interpretation des Schattenmotivs weist Chamisso die Frage nach der konkreten Bedeutung des Schattens zurück, akzentuiert dabei allerdings zugleich die zeitkritische Qualität des Textes, wenn er hervorhebt, daß die Relation zwischen Schatten und Wesen sich in der zeitgenössischen Gegenwart entscheidend verschoben hat: „Die wir dem Schatten Wesen sonst verliehen, / Sehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehen“ (PS 22) Die den Individuum natürlich anhängende Schattensilhouette bezieht ihr „Wesen“ nicht mehr über das „wir“, sondern treibt die Wesen als Schatten zurück – auf diese Weise wird nachträglich eine sich zuspitzende Individualitätskrise diagnostiziert, die sich in der Schattenthematik spiegelt. Chamisso zieht daraus die an dieser Stelle explizit formulierte Konsequenz, dieses Schicksal anzunehmen und im Bezug auf sich selbst einen individuellen Weg aus der Misere zu finden: Wir geben uns die Hand darauf, Schlemihl, / Wir schreiten zu und lassen es beim alten: Wir kümmern uns um alle Welt nicht viel, / Es desto fester mit uns selbst zu halten.“ (PS 22, Hervorhebung von C. N.)
1838 stellt er dann einer Ausgabe René Just Haüys Traité élémentaire de physique eine wissenschaftliche Explikation des Phänomens voran und greift mit dieser Pseudorationalisierung ironisierend eine Technik der Figur Schlemihl auf, der seinen im Metaphysischen wurzelnden Schattenverlust mit logischen Argumenten zu begründen versucht,51 ein Unterfangen, das trotz aller aufgesetzten Logik unbefriedigend bleiben muß und die Fragenden ex negativo um so nachdrücklicher auf das unangesprochene Kernproblem verweist: Mit Blick auf einen imaginären Freund, für den Schlemihl bei einem Maler einen Ersatzschatten zu bestellen versucht, erklärt er den Schattenverlust folgendermaßen: „In Rußland, wo er im vorigen Winter eine Reise tat, fror ihm einmal bei einer außerordentlichen Kälte sein Schatten dergestalt am Boden fest, daß er ihn nicht wieder losbekommen konnte.“ (PS 35) Daraufhin erwidert der Maler: ‚Der falsche Schlagschatten, den ich ihm malen könnte […] würde doch nur ein solcher sein, den er bei der leisesten Bewegung wieder verlieren müßte – zumal wer an dem eignen angebornen Schatten so wenig festhing, als aus ihrer Erzählung selbst sich abnehmen läßt; wer keinen Schatten hat, gehe nicht in die Sonne, das ist das Vernünftigste und Sicherste.‘ Er stand auf und entfernte sich, indem er auf mich einen durchbohrenden Blick warf, den der meine nicht ertragen konnte. Ich sank in meinen Sessel zurück und verhüllte mein Gesicht in meine Hände. (PS 35, Hervorhebung von C. N.)
In dieser entscheidenden Interaktion zwischen Schlemihl und dem Maler wird deutlich, daß der Schatten nicht primär in seiner materialen oder physikalischen Qualität thematisch wird, sondern im Metadiskurs immer auch als Zeichen der
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Vgl. dazu auch den Dialog mit Minas Vater: „Er fuhr mich zornig an. – ‚Gestehen Sie mir’s, mein Herr, gestehen Sie mir’s, wie sind Sie um Ihren Schatten gekommen?‘ Ich mußte wieder lügen: ‚Es trat mir dereinst ein ungeschlachter Mann so flämisch in meinen Schatten, daß er ein großes Loch darein riß – ich habe ihn nur zum Ausbessern gegeben, denn Gold vermag viel; ich habe ihn schon gestern wieder bekommen sollen.‘“ (PS 49–50)
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verlorenen Unschuld kommuniziert und verstanden wird – besonders in dem Abschnitt der Erzählung, in dem der unablösbar an den Schattenhandel gebundene Seelenverkauf noch drohend aussteht.52 Im Motiv des Schattens überlagern sich dementsprechend verschiedene Bedeutungsschichten: Sein Fehlen wird Ausdruck für die problematische Warenwelt (in der alles zur Ware werden kann) und zugleich zum Symbol einer sich anbahnenden metaphysischen Katastrophe. Im Scheitern von Schlemihls versuchter Pseudo-Rationalisierung läßt sich der „Sündenfall“ unschwer rekonstruieren. Auch darin liegt ein Hinweis auf die religiöse Stoßrichtung des Textes, die unter dem dezidiert naturwissenschaftlichen Anspruch Schlemihls/Chamissos immer wieder als entscheidende Grundlage ihres Weltbildes in den Blick rückt. Der Vielschichtigkeit des Textes, der seine Elemente mit scheinbarer Selbstverständlichkeit aus autobiographischen Erlebnissen, literarischen Traditionen und mehr oder weniger impliziten zeitgenössischen Diagnosen ableitet, liegt damit eine performative Analysequalität und ein Kompensationsmodell zugrunde. In ihr spiegelt sich eine Transitionszeit, in der Altes und Neues in derselben Weise verbindlicher Teil der fiktiven Realität sein können. Das Anachronistische ist dabei nicht akzidentell, sondern gehört ebenso integral zur Ausgangssituation wie der kritische Rekurs auf die Warenwelt. Als Reaktion auf diese diffuse Welt entwickelt der Text eine Strategie, die auf ein vorsichtig re-etablierendes Verhältnis zur Tradition setzt. Korrespondierend mit dieser bewahrenden Tendenz erscheint die literarische Umsetzung konsequent, insofern die sich entziehenden, poetisierenden Bilder für Verdinglichung sich dem Tatbestand gegenüber subversiv erweisen. Mit den zahlreichen intertextuellen Verweisen und dem dezidierten Rekurs auf eine verzauberte Welt wird – gerade die in der den neuen Regeln des Marktes unterworfene Gesellschaft – in ihrer faktischen Entzauberung beschrieben und gleichzeitig ästhetisch negiert: Die poetische Analyse weist den implizierten Tatbestand auf diese Weise nachdrücklich zurück.
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Vgl. dazu auch Bendels Reaktion: „‚Keinen Schatten?‘ rief der gute Junge erschreckt aus, und die hellen Tränen stürzten ihm aus den Augen. – ‚Weh mir, daß ich geboren ward, einem schattenlosen Herrn zu dienen!‘ Er schwieg, und ich hielt mein Gesicht in meinen Händen. –“ (PS 36)
Hermann Patsch
„Für einen Dichter habe ich ihn nie gehalten“ Die Claudius-Rezeption in der Romantik
Die Aufnahme und Wirkung eines Dichters und Schriftstellers in seiner Zeit und der Nachwelt hängt von vielerlei Faktoren ab – von den Druckauflagen, den Rezensionen, dem Freundschaftskartell, von dem, was man heute Marketing nennt –, nicht zuletzt auch von dem Eindruck, den seine zeitgenössischen Dichterkollegen von ihm erhalten, wahrnehmen und weitergeben. Das Gesamtbild eines Dichters wird schon früh geprägt und vorbestimmt, kaum je wird es im Laufe der Zeit grundlegend verändert. Zu den bleibenden Charakterisierungen, die Matthias Claudius, der „Wandsbecker Bote“, erhielt,1 gehört seine Aufnahme bei den romantischen Autoren. Sie zeichneten, um es vorweg zu sagen, eher das Bild eines frommen, freundlich-harmlosen Mannes als die Gestalt eines subjektstarken Poeten, der grundlegende Achtung verdient. Das soll im Folgenden belegt und beleuchtet werden. Matthias Claudius mit den Romantikern, zumal den Frühromantikern, zusammenzusehen, fällt auf den ersten Blick schwer, und das zunächst einmal aus der biographischen Beobachtung, daß beide Seiten sich nur rudimentär und beiläufig wahrgenommen haben. Die Spuren gegenseitiger Bezugnahme sind so selten und jedenfalls auf den ersten Blick so oberflächlich, daß zumindest die literaturhistorische Methode der Einfluß-Forschung von vornherein ins Leere läuft. Eine tiefergehende Einflußnahme hat es nicht gegeben. Das läßt sich in aller Kürze vorab belegen. Der junge Friedrich Schlegel weist Friedrich von Hardenberg im Januar 1797 amüsiert auf den soeben erschienenen Einzeldruck Urians Nachricht von der neuen Aufklärung hin,2 wozu dieser nur zu sagen weiß: „Vom Urian hab ich
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Grundlegend zur Rezeptionsforschung bleibt Reinhard Görisch: Claudius-Rezeption im 19. Jahrhundert. In: Matthias Claudius. 250 Jahre Werk und Wirkung. Symposion der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg 31. August – 2. September 1990. Hrsg. von Friedhelm Debus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 161–182. – Die Werke von Matthias Claudius zitiere ich im Folgenden nach der Ausgabe Sämtliche Werke. Hrsg. von Jost Perfahl, Rolf Siebke, Hansjörg Platschek. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989 (künftig: SW). Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe (künftig: KFSA), Bd. 23: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bis zur Begründung der romantischen Schule 15. September 1788–15. Juli 1797. Mit Einleitung und Kommentar hrsg. von Ernst Behler. Paderborn (u. a.): Schöningh 1987, S. 341 (2. Januar 1797). Urians Nachricht von der neuen Aufklärung, nebst einigen andern Kleinigkeiten. Von dem Wandbecker Bothen erschien als Einzeldruck Hamburg 1797, war also noch druckfrisch. In ASMUS VI (1798) erhielt es die
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Hermann Patsch
nur das Lied in der Zeitung gelesen, worüber mein Alter besonders sein Fest hatte.“3 August Wilhelm Schlegel nennt im Vorwort seiner satirischen Posse Ehrenpforte und Triumphbogen für den Theater-Präsidenten von Kotzebue von 1800 als Anregung „das Lied eines vom Thurm fallenden Dachdeckers von Claudius“,4 bezieht sich damit aber aller Wahrscheinlichkeit nach auf den zeitgenössischen sehr populären Kinderschriftsteller Georg Carl Claudius, von dem eine Ballade mit diesem Inhalt überliefert ist.5 Ein Bezug auf Matthias Claudius ist nirgendwo überliefert. Ludwig Tieck, der immerhin im Jahr 1800 die persönliche Bekanntschaft des „Wandsbecker Boten“ machte, will Claudius nie für einen Dichter gehalten haben, schätzt aber seinen „religiösen Sinn“.6 Der blutjunge Clemens Brentano zitiert und paraphrasiert 1793 in einem Brief an seine Schwester das Gedicht Das Kind, als der Storch ein neues bringen sollte, für sich allein und erwähnt Urians Reise um die Welt.7 Erst der katholisch gewordene Friedrich Schlegel sucht 1811, und zwar erfolgreich, über den evangelischen Verleger und Schwiegervater von Claudius Friedrich Perthes Kontakt zu
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verdeutlichende Unterzeile oder Urian und die Dänen. Das Werk erzeugte eine Menge von Gegenangriffen und Parodien. Vgl. Claudius: SW, S. 459–467, 1032f. KFSA Bd. 23, S. 342; Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage (künftig: HKA), Bd. 4: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Hrsg. von R. Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart: Kohlhammer 1975, S. 194 (Brief vom 10. Januar 1797). In welcher Zeitung lediglich das Eingangsgedicht gedruckt wurde, ist unbekannt. Vgl. den sonst sehr eingehenden Kommentar von Hans Jürgen Balmes in: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 3, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 237 (künftig: Werke). Rainer Schmitz (Hrsg.): Die ästhetische Prügeley. Streitschriften der antiromantischen Bewegung. Göttingen: Wallstein 1992, S. 50. Im Kommentar ist der Autor des „Liedes“ nicht nachgewiesen. Im Leipziger Taschenbuch für Frauenzimmer zum Nutzen und Vergnügen, aufs Jahr 1784. Leipzig: Böhme. Hrsg. von Franz Ehrenberg (Pseudonym für Georg Carl Claudius), steht ein umfängliches larmoyant-moralisches Gedicht Heinrich und Lenore. Eine deutsche Ballade (S. 66–76), in dem der junge „Schieferdecker“ am Morgen der Weihe des von ihm gedeckten Kirchturms, nach vorabendlicher ahnungsvoller Beichte und Kommunion, vom Turm fällt, woraufhin die Braut über der Leiche zusammenbricht und gleichfalls stirbt. (Die Recherche verdanke ich Reinhard Görisch.) Daß A. W. Schlegel sich habe von dieser Ballade anregen lassen, wie er schreibt, ist natürlich Ironie. Tieck an Georg Andreas Reimer, Ziebingen, 21. Juni 1812. In: Letters of Ludwig Tieck. Hitherto Unpublished 1792–1853. Collected and edited by Edwin H. Zeydel, Percy Matenko, Robert Herndon Fife. New York, London: Oxford University Press 1937 (Repr. 1973), S. 60. Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift (Frankfurter Brentano-Ausgabe, zit.: FBA), Bd. 29. Briefe. 1. Bd. 1792–1802. Nach Vorarbeiten von Jürgen Behrens und Walter Schmitz hrsg. von Lieselotte Kinskofer. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1988, Nr. 5, S. 19 (Brief an Sophie Brentano vom 5. August 1793). Vgl. die Zuschreibung in Bd. 38,1. Briefe 1: Erläuterungen. Hrsg. von Ulrike Landfester. Stuttgart: Kohlhammer 2003, S. 19f. Vgl. Claudius: SW (wie Anm. 1), S. 239, 345f.
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diesem als Beiträger seines Deutschen Museums, aber auch jetzt ist für ihn der „biedere ASMUS“ nur der „erste unserer Humoristen“.8 Als launiger Schreiber biederen Charakters wird Claudius von den Romantikern rezipiert, als gefälliger, unterhaltsamer Schriftsteller, den man gelegentlich gerne lesen kann, der aber der neuen Generation nichts Ernsthaftes zu sagen hat. Selbst Eichendorff, der Claudius in seinen späten literaturgeschichtlichen Schriften aus weltanschaulichen Gründen nicht übergehen kann, charakterisiert ihn mit dem Epitheton „wacker“: „der wackere Wandsbecker Bote“, der „mit schlichten und treuen Worten fröhliche Botschaft bringt“.9 Das ist das erste öffentliche Zeugnis. Nur Zacharias Werner erhofft sich von dem „treuherzigen Bothen“ „Friede und Trost“; nie ist Claudius in diesem Kreis so geliebt und gelobt worden. Die Zeugnisse der Jenaer Frühromantiker haben durchweg privaten Charakter. Novalis, der im März 1801 verstarb, hatte die wenigste Lebenszeit zur Kenntnisnahme des Werkes, hat Claudius aber deutlicher wahrgenommen als seine Freunde. Eine gänzlich andere Dimension erreicht die namentliche öffentliche Rezeption dann in der Heidelberger Romantik in einem Werk, der Sammlung Des Knaben Wunderhorn von 1808, ehe schließlich Claudius bei Eichendorff zur literarischen Gestalt in einer romantischen Literaturgeschichte wird. Das soll im Einzelnen gezeigt werden.
I.
Friedrich von Hardenberg
Von seinem pietistischen Elternhaus her war Novalis am ehesten veranlaßt, das bis dahin erschienene Werk von „ASMUS“ (wie er mit einer Ausnahme stets sagt) kennen und schätzen zu lernen. Das beginnt mit einem jugendlichen Gedicht aus dem Jahr 1788/89, das den Burgunderwein preisen will und sich dabei von dem populären Rheinweinlied absetzen muß: „Mag Klaudius dich tadeln Nur seinen Rheinwein adeln […] Will ich allein dich singen“.10 In den Tagebüchern des reifen Novalis heißt es am 25. Mai 1797: „Nachmittags las ich im ASMUS, wo mir manches gefiel“.11 Das ist noch nicht sehr aussagekräftig, belegt aber die mindestens gelegentliche zustimmende Lektüre der bis dahin erschienenen fünf Bände des ASMUS omnia SECUM portans, oder Sämmtliche
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Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Gesammelt und erläutert durch Josef Körner. Berlin: Kindle 1926, S. 140 (Brief vom 12. Oktober 1811). Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Bd. 6: Geschichte der Poesie. Schriften zur Literaturgeschichte. Hrsg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 79f. (wörtlich wiederholt S. 1014f.). HKA Bd. 6,1–2. Der dichterische Jugendnachlaß (1788–1791) und Stammbucheintragungen (1791–1793). Hrsg. von Hans-Joachim Mähl in Zusammenarbeit mit Martina Eicheldinger. 1. Teilband: Text. Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 321. Vgl. Claudius: SW, S. 172f. (seit 1776 mehrfach gedruckt und vertont). HKA Bd. 4, S. 40. Vgl. Claudius: SW, S. 172f.
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Werke des Wandsbecker Bothen, hier vielleicht des fünften, vor allem mit Prosa-Beiträgen religiösen und philosophischen Charakters gefüllten Teiles von 1790, denen er zustimmen mochte. In den sogenannten Teplitzer Fragmenten aus dem Sommer 1798, in denen Novalis Material für eine „Philosophie des täglichen Lebens“ sammelte, notierte er ASMUS unter „Mystizismus des gesunden Menschenverstandes.“12 Wenig später zählt er ihn zu den „Transscendenten Empirikern“, welche auf dem Weg zum „magischen Idealism“ seien.13 In den letzten Fragmenten und Studien 1799/1800, in denen Novalis um die Fortsetzung seines Romans Heinrich von Ofterdingen ringt, heißt es: „Das ist die Kunst der geltenden Menschen im gemeinen Leben – die Kunst des sogenannten Bonsens. Es ist die rhetorische Logik eines Bauern, etc. ASMUS, mein Vater […] etc. Gemeinplätze – Popularphilosophie.“14 Hier bringt Novalis Claudius, sichtlich unter dem Eindruck der prosaischen Schriften, in seinem philosophischen System unter, in dem er um die Stellung der Poesie im System des Denkens ringt. Claudius gehört für ihn zu den durch die Erfahrung bestimmten Alltagsmenschen, die sich im Sinne des gesunden Menschenverstandes äußern, auch in religiösen und philosophischen Dingen. Hardenberg beachtet den Denker und Prosaisten Claudius, aber kennzeichnenderweise nicht den Lyriker.
II.
Achim von Arnim und Clemens Brentano
Die Heidelberger Romantik hat Claudius in ein (vor-)literarisches Umfeld gestellt und ihn damit aus der Sphäre des autonomen modernen Dichters in die der unbewußt entstehenden und kollektiv überlieferten Volkspoesie eingepflanzt. Die Rede ist von Des Knaben Wunderhorn von Clemens Brentano und Achim von Arnim aus den Jahren 1806/08. Bereits Johann Gottfried Herder hatte 1778/1779 in seinen Volksliedern – 1807 posthum erweitert (und konzeptionell verändert) zu der Sammlung Stimmen der Völker in Liedern – Claudius’ Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“ als allerletztes Lied anonym mit dem Untertitel Deutsch wiedergegeben, freilich um die beiden Schlußstrophen gekürzt, und so auf den ersten Blick den Eindruck erweckt, es handle sich hier ebenfalls um ein als Naturprodukt gefundenes Volkslied. Im Register hat er das Geheimnis mit einer kennzeichnenden Begründung gelüftet: „Von Claudius. Das Lied ist nicht der Zahl wegen hergesetzt, sondern einen Wink zu geben, welches Inhalts die besten Volkslieder seyn und bleiben werden. Das Gesangbuch ist die Bibel des Volks, sein Trost und die
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HKA Bd. 2. Das philosophische Werk I. Hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Darmstadt 1981, S. 596, Nr. 6. Vgl. dazu Novalis: Werke 3 (wie Anm. 3), S. 414. HKA Bd. 2, S. 605, Nr. 56. HKA Bd. 3. Das philosophische Werk II, 3. Aufl. Darmstadt 1983, S. 640, Nr. 512 (etwa September 1800, vgl. Werke 3, S. 611).
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beste Erholung.“15 Der Wandsbecker Dichter hat für Herder – ein gelinder Widerspruch in sich – das Muster eines Volkslieds gegeben, seine Dichtung repräsentiert ihm, bewußt oder unbewußt, die „Stimme des Volks“ (so in der „Zueignung“).16 Diesen Grundgedanken sind Achim von Arnim und Clemens Brentano im dritten Band Des Knaben Wunderhorn von 1808 gefolgt, wenn sie Claudius’ Es stand ein Sternlein am Himmel (mit Namensangabe) als Volkslied deklarieren.17 In Claudius, durch Claudius hindurch spricht und singt für die Heidelberger Romantik das Volk, der „Volksgeist“, die „Volkspoesie“, überindividuell, ohne den modernen Gedanken der Autorschaft, er leiht lediglich seine Zunge, humorvoll und bieder, schlicht und treu einem „Volkslied“, das – ich zitiere Arnim – „durch die Lüfte dringt wie eine weiße Krähe“,18 „ohne Kunstregel und Schule“,19 und so die „frische Morgenluft altdeutschen Wandels“20 wieder zum Leben erweckt. Mit diesem gefühlvollen Gemälde haben die romantischen Schriftsteller ein ebenso falsches wie folgenreiches Bild von Claudius in die literarische Welt gesetzt, das noch immer weithin Gültigkeit einfordert. Aber die Verwandlung seiner Gedichte in vermeintliche Volkslieder konnte nicht ohne – wenn auch unauffällige – Eingriffe geschehen. Ganz so „ohne Kunstregel“ hatte es Claudius nicht gemacht. Herder mußte das Abendlied (trotz des Lobes von Bibel und Gesangbuch) um die beiden abschließenden Strophen kürzen, die eher pietistisch-kirchlich anmuten, um sein vorausgesetztes Bild der Volkspoesie zu gewinnen. In der Tat wurde das Lied in der Vertonung von Johann Abraham Peter Schulz zum Volkslied und gewann sogar die letzte Strophe (mit dem Gedenken an den „kranken Nachbarn“) zurück. Darüber konnte dann – das ist das Schicksal des Volksliedes – der Autor vergessen werden. Radikaler gingen Arnim und Brentano vor, obwohl sie so wenig wie Herder in den Text selber eingriffen. Zur Volkspoesie wurde bei ihnen das „Lied“ durch die alles verwandelnde Änderung der Überschrift. Claudius trauerte in seinem Gedicht Christiane über den Tod seiner Tochter, die 1796 zwanzigjährig
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Herders Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. 25: Herders Poetische Werke. Hrsg. von Carl Redlich. Erster Band. Berlin: Weidmann 1885, S. 544. Vgl. Johann Gottfried Herder. Laßt in die Herzen sie dringen. Volkslieder. Hrsg. von Christoph Michel. Frankfurt a. M., Leipzig 2003 (Insel-Bücherei Nr. 1249), wo S. 84 die Abschrift Herders, die noch alle sieben Strophen enthält, faksimiliert ist. Herder hat mit dem abschließenden Satz vorweggenommen, daß in der Tat das Abendlied später in das (evangelische) Gesangbuch aufgenommen wurde. Vgl. Reinhard Görisch: Das „Abendlied“ von Matthias Claudius im Kirchengesangbuch. Skizze einer zwiespältigen Karriere. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), S. 125–143. Es ist nicht überflüssig zu erwähnen, daß die Sammlung des 2. Teils der Volkslieder mit Goethes Das Lied vom Fischer. Deutsch beginnt (Herders Poetische Werke, ebd., S. 336f.), ebenfalls anonym, mit Angabe des Verfassers im Verzeichnis (S. 534). Was für Claudius gilt, trifft auch für Goethe zu. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Dritter Teil gesammelt von L. Achim von Arnim und Clemens Brentano. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1963, S. 105. Ebd., S. 249 (aus Arnims Aufsatz Von Volksliedern vom Januar 1805). Ebd., S. 255 (zum schottischen Bänkelgesang). Ebd., S. 258 (aus Arnims Nachschrift an den Leser vom Juli 1805).
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gestorben war, und faßte seine Trauer in das wunderbare Bild vom „Sternlein am Himmel“, „ein Sternlein guter Art“, dessen Anblick ihn erfreute und Gott gegenüber zu Dank veranlaßte – und das er nun nicht mehr findet.21 Das ist ein in höchstem Maße persönliches, individuelles Gedicht und kann schon deshalb kein Volkslied sein. In Des Knaben Wunderhorn trägt das Gedicht die Überschrift Der verschwundene Stern – und damit verändert sich alles.22 Jetzt kann man es ganz anders lesen, ja muß ihm in dem Zusammenhang einer Sammlung „alter deutscher Lieder“ und ohne Kenntnis des persönlichen Anlasses eine ganz andere Sphäre hinzudenken. Aus der Nänie des Vaters auf seine verstorbene Tochter, der das zärtliche Diminutiv „Sternlein“ gebührt, ja es geradezu erfordert, wird das melancholische Liebeslied der verlassenen Frau, die ihren Geliebten – den verschwundenen Stern – nicht mehr finden kann. Während das Diminutiv auf das junge Mädchen paßt, verwandelt das maskuline Substantiv „Stern“ das Gedicht in eine Frauenstrophe. Und damit gehört es in die vielfältige Tradition des Märchens und des Volksliedes, das das Schicksal der verlassenen, der zurückbleibenden Geliebten besingt, die den Mann nicht halten kann, der in die Welt hinaus muß. Nun kann man zwar einwenden, daß die Metapher „Stern“ für den Geliebten im Volkslied nicht bekannt ist. Aber das gilt für „Sternlein“ für die Tochter im gleichen Maße; hier hat der kreative Claudius ein neues, unmittelbar überzeugendes und berührendes Bild geschaffen. Das mußten die romantischen Herausgeber in der Überschrift, die das Verständnis steuert, verallgemeinernd abstrahieren, wenn sie den persönlichen Hintergrund tilgen wollten. Ein Kunstgriff raffiniertester Art hat, kaum zehn Jahre nach der Veröffentlichung und ohne Anfrage beim Dichter, aus einem personalen Trauergedicht ein (wie der Untertitel der Wunderhorn-Sammlung verspricht) „altes deutsches Lied“ gemacht – gewiß ein wunderbares Lied, mit Claudius’ Worten, aber im strengen Sinne nicht von Claudius. Ob der „Wandsbecker Bote“ die Transposition wahrgenommen hat, ist nicht bekannt. Die wenigen Beispiele zeigen, daß Matthias Claudius für die frühen Romantiker mit ihrem begrifflichen Instrumentarium nicht zu fassen war. Sie haben ihn in eine ästhetische Schublade gesteckt, die ihm nicht gerecht werden konnte. Claudius war weder bloß ein biederer Humorist noch ein Volkspoet. Das hätte sich sofort gezeigt, hätte die neue Generation das damals vorliegende Werk in seinem ganzen Umfang wahrgenommen. Dieses Bild hat sich in der Folgezeit nicht grundsätzlich gewandelt, wenngleich bei den einzelnen Autoren in unterschiedlicher Weise.
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Claudius: SW (wie Anm. 1), S. 473. Vgl. Reinhard Görisch: Die beiden ChristianeGedichte von Matthias Claudius. In: Euterpe. Jahrbuch für Literatur in Schleswig-Holstein 7 (1989), S. 5–15. Ferdinand Rieser schreibt in seiner grundlegenden Monographie: „Des Knaben Wunderhorn“ und seine Quellen. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Volksliedes und der Romantik. Dortmund: Ruhfus 1908 (ND Hildesheim 1983) mit Recht „Vollständig und unverändert aufgenommen“ (S. 487), erkennt aber die neue Überschrift nicht.
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III. Friedrich Schlegel Der katholische Schlegel hat Jahre nach der ersten unergiebigen Äußerung noch einen persönlichen Weg zu Claudius gefunden. Als er im Jahr 1811 die Herausgeberschaft des Deutschen Museums übernommen hatte, das bei Friedrich Perthes in Hamburg erschien, bat er diesen um Fürsprache bei dem Schwiegervater. Claudius antwortete zustimmend23 und sandte zwei Gedichte (Der Philosoph und die Sonne, Osterlied) sowie einen Brief an Andres ‚Über den Glauben‘.24 Alle drei Beiträge waren kraß antiaufklärerisch, was Schlegel sehr entgegen kam. In seiner Jacobi-Rezension von 1812, die im ersten Heft des Deutschen Museums erschien, spricht er formelhaft vom „vortrefflichen ASMUS“ und preist ihn „wegen der tiefbedeutenden Einfalt und geistvollen Klarheit seiner Denkart und Schreibart“, insbesondere wegen dessen im Wandsbecker Boten mitgeteilten Glauben an das Christenthum.25 In seinem Dankesbrief an Perthes urteilt er über die übersandten Stücke: „Der Beytrag von Matth. Claudius ist mir recht herzlich willkommen gewesen, ich sage ihm und Ihnen Dank dafür. […] Beschäftigt er sich wohl noch mit den Schriften von St. Martin und wäre ihm vielleicht genehm mitzutheilen wenn er darüber noch ein oder das andre Blatt in seinem Pulte liegen hat?“26 Das Buch von Louis-Claude Saint-Martin Des Erreurs et de la Vérité, ou les hommes rappelés au principe universel de la
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Matthias Claudius Botengänge. Briefe an Freunde. Hrsg. von Hans Jessen (1938). (Veränderte) Lizenzausgabe Berlin: Eckart 1967, S. 448 (Brief vom 12. November 1811). Claudius: SW, S. 671, 675–677, 666–670. Friedrich Schlegel. Neue philosophische Schriften. Hrsg. von Josef Körner, Frankfurt: Schulte-Bulmke 1935, S. 265, 267 (= KFSA Bd. 8. Hrsg. von Hans Eichner, Paderborn 1975, S. 443, 446). Friedrich Heinrich Jacobis Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (Leipzig 1811) erwuchs bekanntlich aus einer geplanten Rezension der letzten Bände des ASMUS und setzt sich mit Claudius’ positivem Offenbarungsbegriff auseinander, was die Freundschaft der Autoren stark belastete. Vgl. zur Sache Siobhán Donovan. Der christliche Publizist und sein Glaubensphilosoph. Zur Freundschaft zwischen Matthias Claudius und Friedrich Heinrich Jacobi. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. Einen ganz ähnlichen, geradezu stereotypen Wortschatz wie Schlegel hat Schelling in seiner Auseinandersetzung mit Jacobi zum gleichen Werk. In seinem Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi und der ihm in derselben gemachten Beschuldigung eines absichtlich täuschenden, Lüge redenden Atheismus (1812) legt er im dritten Teil, einer hochsatirischen „allegorischen Vision“, einem „sonderbaren Fremdling“ folgende respektvoll gemeinte Anrede an Claudius in den Mund: „ehrlicher ASMUS“, „du wahrer Bote, du Apostel der Einfältigen“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ausgewählte Werke [ND]. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990. Schriften von 1806–1813, S. 539–656, hier S. 635f.). Jacobi hatte diese Redeweise in seinem Werk nicht vorweggenommen, abgesehen davon, daß er durchweg den Autornamen der SW berücksichtigte: „ASMUS, Bote zu Wandsbeck“, „Eine gute brüderliche Seele“ (Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum Streit um die göttlichen Dinge und ihre Offenbarung. Hrsg. von Walter Jaeschke. Hamburg, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2000 [Werke Bd. 3], zu Claudius S. 35–72, hier S. 35 u. ö.). Körner: Briefe (wie Anm. 8), S. 152 (Brief vom 17. Januar 1812). „Empfehlen Sie ihm [Claudius] die Recension von Jakobi im 1. Heft, ich konnte da nicht vermeiden, ihn zu nennen – und wünsche daß er nicht unzufrieden damit seyn mag.“ Claudius’ Beiträge erschienen in Heft 1, 2 und 4 (1812).
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science hatte Claudius schon 1782 unter dem Titel Irrthümer und Wahrheit, oder Rückweiß für die Menschen auf das allgemeine Principium aller Erkenntniß übersetzt27 (und war darob von Goethe und Schiller in den Xenien verspottet worden28). Die Übersetzung von Fenelon’s Werke religiösen Inhalts in drei Bänden 1800–181129 scheint Schlegel nicht zu kennen. Der Brief geht weiter: Seine Sinngedichte zeichnen sich vor allem andern, was man jetzt so nennt, durch die treffende Einfalt aus. Mir ist freylich ein Lied wie das vortreffliche Osterlied noch lieber; aber Sie wissen wohl, wie – viele darin noch mit uns fühlen. Das Publikum ist von dieser Seite so gestimmt oder vielmehr verstimmt, daß man bald wird von Gott nicht anders als nur einer dem andern ins Ohr reden dürfen, wenn man nicht durch das wiedrige Gegengeschrey ganz will betäubt werden.
Das Epitheton der „Einfalt“ – was ungekünstelte „Klarheit“ meint – kennen wir aus der Jacobi-Rezension. Wenn Schlegel von „Sinngedichten“ im Plural schreibt, so mag er mehr als nur das übersandte Der Philosoph und die Sonne kennen, in dem die Sonne die Frage des Philosophen nach dem Woher ihrer Wirkung mit dem Hinweis auf Gott abweist („Weiß ich’s? Geh, frage meinen Herrn.“)30. Auf den Brief an Andres über das Verhältnis von Glaube und Bekenntnis, das mit dem Satz beginnt: „Der Mensch kann glauben; aber er kann nicht glauben, was er will.“,31 geht Schlegel nicht ein, weil er sich möglicherweise kontroverstheologisch hätte äußern müssen. Ausdrücklich lobt er das nach der reformatorischen Melodie Lobt Gott ihr Christen allzugleich zu singende Osterlied mit dem klaren Bekenntnis: „Das Grab ist leer, das Grab ist leer! / Erstanden ist der Held!“32 – mit dem ausgesprochenen Bedauern der Unzeitgemäßheit der Redeweise. In seiner Geschichte der alten und neuen Literatur, die auf Vorlesungen in Wien von 1812 zurückgeht, erwähnt Schlegel Claudius dennoch nicht; aber in der zweiten Ausgabe von 1822 trägt er schließlich ein sehr kennzeichnendes
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Zum Briefwechsel mit Johann Friedrich Reichardt über die Übersetzung siehe Hermann Patsch: „Die Leute aus der großen Welt haben Ihm ein Seil gedreht“. Matthias Claudius und Reichardt. In: Johann Friedrich Reichardt und die Literatur. Komponieren Korrespondieren Publizieren. Hrsg. von Walter Salmen. Hildesheim: Olms 2003, S. 291–321, hier S. 320f. Xenion Nr. 18 (aus Schillers Musenalmanach für das Jahr 1797): „Erreurs et Vérité. Irrthum wolltest du bringen und Wahrheit, o Bote von Wandsbeck, / Wahrheit, sie war dir zu schwer; Irrthum, den brachtest du fort!“ (Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Erste Abtheilung. 5. Band. Weimar: Böhlau 1893, S. 207). Das Xenion hat Schiller zum Verfasser. Claudius, der es Goethe zuschrieb, antwortete 1797 in der Schrift Urians Nachricht von der neuen Aufklärung sowie in einer Rezension in Distichen (SW, S. 939–946, dazu S. 1053). Vgl. Reinhard Görisch: „… mit Fleiß und Interesse für den Inhalt gemacht“. Werbung für Matthias Claudius’ Fénelon-Übersetzung. In: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft 15 (2006), S. 31–37. SW, S. 671. Ebd., S. 666. Ebd., S. 675ff.
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Lob des inzwischen verstorbenen Autors nach. Dort nennt er ihn „den liebenswürdigen Claudius […], der in dem heitern Gewande kindlicher Volksschriften, was er von den Geheimnissen des Christentums mit tiefem Sinn erkannt hatte, so klar in die Gemüter zu bringen wußte“.33 Nur wo Claudius sich religiös äußerte, konnte er einigermaßen, wenn auch etwas von oben herab, ernst genommen werden. Den Lyriker hat Schlegel nicht wahrgenommen.
IV. Zacharias Werner Als letztes muß Friedrich Schlegel zum Verdienst angerechnet werden, daß er nach dem Tode von Claudius dem Dramatiker Zacharias Werner, der wie er Konvertit war, in seiner neuen Zeitschrift Concordia 1820 eine „Anzeige“ der Sämmtliche[n] Werke des Wandsbecker Bothen, 8 Teile in 4 Bänden, (Hamburg und Wien 1819) ermöglichte, obgleich er dort sonst keinerlei Rezensionen abdruckte und deshalb eigens ein unpaginiertes Beiblatt beifügen mußte.34 Man darf das als späten Dank und grundsätzliche Anerkennung interpretieren. Der konkrete Anlaß ist unbekannt.35 Zacharias Werner fühlt sich bei Claudius „heimathlich“ und will das neuaufgelegte Werk seinen lieben Landsleuten empfehlen. „Dieser treuherzige Bothe war in allen deutschen Landen lange ein überall willkommener Gast, und, seines schlichten Ansehens ohnerachtet, bey vielen Fürsten und Herren, und in allen Ständen, von allen Leuten, denen Herz und Kopf am rechten Flecke saß, gar werthgeschätzt und wohlgelitten. Denn kein sinniges Gemüth konnte umhin zu bemerken, daß ASMUS, wiewohl im Bauernkittel, doch von sehr vornehmer Herkunft, nämlich ein Sohn ist des Genius und der Klarheit.“ „Wenige Edle gab es in Deutschland, die sich an Claudius milder Flamme nicht erwärmt hätten, und seine zwey verewigten Freunde, Klopstock und Stolberg, waren eben so stolz auf seinen Besitz, als das Vaterland es ist auf den ihrigen. Seinen heiligen Humor (könnte man sagen) nachzuahmen, das hat Niemand gewagt, auch wäre es schwerlich Einem geglückt.“ Werner erwähnt einige Gedichte, darunter das
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KFSA Bd. 6. Hrsg. von Hans Eichner. Paderborn 1961, S. 391. Concordia. Eine Zeitschrift. Hrsg. von Friedrich Schlegel. (I.–VI. Heft. 1820–1823) Wien 1820, Zweytes Heft. Anzeige von Claudius Werken. Von F. L. Z. Werner (2 unpaginierte Blätter nach S. 132). In dem Nachdruck von Ernst Behler, Darmstadt 1967, fehlt die Rezension, wohl weil in der Wiener Reproduktionsvorlage die Blätter, die im Inhaltsverzeichnis angegeben sind, nicht beigebunden waren. In den Briefen und Tagebüchern Zacharias Werners wird Claudius nirgends erwähnt. Die in Wien lebenden Autoren – Werner als Priester –, die sich seit langem kannten und schätzten, werden die Rezension privat abgesprochen haben. – Werner nennt Schlegel in seinem Brief vom 18. April 1816 seinen „verehrteste[n] und innigst geliebte[n] Freund“ (Briefe des Dichters Friedrich Ludwig Zacharias Werner. Mit einer Einführung hrsg. von Oswald Floeck. Kritisch durchgesehene und erläuterte Gesamtausgabe. Zweiter Band. München: Müller 1914, S. 280). In seiner Geschichte der alten und neuen Literatur hat sich Schlegel positiv über Werners Dramen geäußert.
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Rheinweinlied, und zitiert das Abendlied eines Bauermanns,36 schließlich rühmt er die Übersetzungen von Saint Martin und Fénelon, mit der tadelnden Einschränkung, daß Claudius gern in Gebieten verweile, wohin „glücklichere Christen“ – sprich Katholiken – „diesem suchenden Meister als Jünger nicht folgen dürfen“. „Aber welcher Christ darf auftreten und sagen: Claudius, der liebend Suchende, verdiene nicht Dank und Achtung?!“ Niemals sonst ist Claudius aus dem Kreis der Romantiker so geliebt und gelobt worden. Also laufe dann wieder einmal aus in’s deutsche Land, herrlicher Wandsbecker Bothe, mit deinem Immergrün und deinen Zeitlosen! Zwar haben wir dich vergessen, du Hoher, und das ist kein Wunder, da wir ja das Höchste vergessen haben. […] aber wo man Frieden und Trost bedarf, bist du ja gerne sie zu bringen bereit, freundlicher Bothe! Ach, wir bedürfen jetzt sehr, mehr als je, sicheren Frieden, höchsten Trost! – Bring’ uns Beydes, Vollendeter!
Es ist Schlegels spätes Verdienst, diesem Panegyrikos Raum gegeben zu haben.
V.
Ludwig Tieck
Tieck muß in jungen Jahren, wohl im Sommer 1800 anläßlich eines Aufenthalts mit Frau und Tochter bei seiner Schwiegermutter, der Pastorenwitwe Dorothea Charlotte Alberti in Hamburg,37 Claudius kennen gelernt haben. Eine direkte unmittelbare biographische Spur dafür gibt es bei Claudius, der die Familie Alberti gut kannte, nicht. Tieck erinnert sich, wenn auch mit falscher Jahresangabe, in einem Brief an den Berliner Verleger Georg Andreas Reimer vom 21. Juni 1812 folgendermaßen: Auch wegen der Poetensanction für Claudius danke ich Ihnen, ich höre zu meinem Leidwesen, daß es ihm schlecht geht, und daß er deswegen das Werkchen herausgiebt. Für einen Dichter habe ich ihn nie gehalten, aber ich liebe und verehre seinen religiösen Sinn, und seinen Glauben, der in unsern Tagen so selten ist, es war mir daher auch im Jahre 1801 sehr erwünscht, seine Persönliche Bekanntschaft zu machen.38
Die Anspielung auf die „Poetensanction“ ist nicht ganz deutlich. Vielleicht hat ihm Reimer in seinem Bezugsbrief die „Pränumerationsanzeige“ für ASMUS VIII geschickt, die das Datum vom 2. Dezember 1811 trägt,39 und dabei er-
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SW, S. 109f. Vgl. Friedrich Schlegels Brief an Ludwig Tieck vom 22. August 1800, der nach Hamburg geht (KFSA Bd. 25: Höhepunkt und Zerfall der romantischen Schule (1799–1802). Mit Einleitung und Kommentar hrsg. von Hermann Patsch. Paderborn 2009, Nr. 94 S. 159f., 500). Zum Aufenthalt Tiecks in Hamburg von etwa Juli bis November 1800 vgl. König der Romantik. Das Leben des Dichters Ludwig Tieck in Briefen, Selbstzeugnissen und Berichten. Vorgestellt von Klaus Günzel. 2. Aufl. Berlin: Verlag der Nation 1986, S. 487. Wie Anm. 6. SW, S. 605.
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wähnt, daß dieses „Werkchen“ diesmal überwiegend (polemische theologische) Prosa enthalte, d. h. keine Lyrik. Das könnte der Anlaß für die Bemerkung gewesen sein, in der Tieck Claudius das Dichtertum abspricht. So unberechtigt und ärgerlich dieses Urteil dem modernen Leser erscheinen muß, so ist es doch symptomatisch für die Auffassung der Romantiker insgesamt, die Claudius nicht als einen der ihren ansehen konnten. In späteren Jahrzehnten hat sich Tieck um die Überlieferung einiger Claudius-Briefe verdient gemacht – nein, nicht an ihn selbst, die hat es nie gegeben, sondern an Friedrich Müller, der den Künstlernamen Maler Müller trug, aus dem Jahre 1777. Wie es dazu kam, ist eine durchaus spannende Geschichte. Tieck hatte auf seiner Italienreise 1805 Müller in Rom kennen und schätzen gelernt und mit ihm das Projekt einer Werkausgabe entwickelt; Müller hat ihn dabei nach eigenen Worten zum Nachlaßverwalter und Herausgeber der in Mannheim liegenden Manuskripte ernannt.40 Maler Müllers Werke erschienen dann endlich in Heidelberg 1811. Müller, der aus Kreuznach stammte und später in Zweibrücken und Mannheim als Kabinettsmaler gefördert wurde, lebte vom Sommer 1778 bis zu seinem Tode 1825 in Rom. Der Kontakt mit Tieck blieb bestehen. In den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens trug sich Tieck mit dem Plan, seine im Laufe der Jahre entstandene Briefsammlung zu veröffentlichen. In dieser Sammlung befanden sich auch Briefe, die ihm von Müller überlassen worden waren.41 Seinem Verleger Friedrich Arnold Brockhaus berichtet er 1838, er besitze „ungedruckte“ Briefe von „ASMUS“, sagt aber noch nicht woher.42 1846 berichtet er von dem Plan einer Sammlung von „Correspondenzen“: „Es sind mehrere Briefe aus der Vorzeit von nahmhaften Männern, 3 kleinen von Lessing, einige von Claudius, Klinger, Lenz, u.s.w. dann Viele an mich selbst.“43 Schließlich 1848: „[…] weil ich mit vielen merkwürdigen Menschen verbunden war, und auch einiges frühere von 1773 (meinem Geburtsjahr) vorausschicke, einige kleine Briefe von Lessing, Klinger, Lenz, Claudius und andern.“44 Etwas später verrät er die Herkunft der Briefschaften: Ich hatte von [Maler] Müller die Freiheit erhalten, vom alten [Mannheimer Verleger] Schwan einen Kasten von alten Papieren zu nehmen und zu benutzen. Hier fand ich alte unnütze Manuscripte aber einige interessante Briefe, die ich jetzt vorn in der Briefsammlung will abdrucken lassen, 3 von Lessing, einige kleine von Claudius (ASMUS) [,]
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Vgl. das eingehende Nachwort von Gerhard vom Hofe in: [Friedrich Müller:] Mahler Müllers Werke [Hrsg. von Anton Georg Batt, J. P. Le Pique und Ludwig Tieck]. Heidelberg: Schneider 1982 (Deutsche Neudrucke Reihe: Goethe-Zeit. Hrsg. von Arthur Henkel), Bd. 3, S. [1]–[53]. Zum Schicksal dieser Sammlung vgl. Richard Littlejohns: Die Briefsammlung Ludwig Tiecks. Zur Entstehung eines literaturgeschichtlichen Problems. In: Aurora 47 (1987), S. 159–175. Aus Tiecks Novellenzeit. Briefwechsel zwischen Ludwig Tieck und F. A. Brockhaus. Hrsg. von Heinrich Lüdeke von Möllendorff. Leipzig: Brockhaus 1928, S. 125 (Brief vom 1. Februar 1838). Ebd., S. 155 (Brief vom 9. Januar 1846). Ebd., S. 166 (Brief vom 10. November 1848).
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mehrere Zettel von Lenz, einige Briefe von Klinger, und noch einigen unbekannteren Zeitgenossen.45
Diesen Plan konnte Tieck zu seinen Lebzeiten nicht mehr verwirklichen. Den Druck verantwortete schließlich Karl von Holtei in seinen Sammlungen Briefe an Ludwig Tieck (4 Teile Breslau 1864) und Dreihundert Briefe aus zwei Jahrhunderten (4 Teile Hannover 1872). Zu den Dreihundert Briefen gehören drei Briefe von Claudius an Müller aus der Zeit unmittelbar vor der Abreise von Darmstadt nach Wandsbeck im April 1777 und der Ankunft dort im August 1777 sowie ein Brief an Johann Baptist von Ruoesch aus dem Jahr 1798.46 Wie der späte Brief in Tiecks Sammlung kommen konnte, ist ebenso wenig klärbar wie ein Antwortbrief Müllers an Claudius aus dem April 1777, der sich auf den überlieferten Briefwechsel bezieht.47 Einen Claudius-Brief hat Holtei ausgelassen.48 Dafür überliefert er ein schönes Zitat aus einem Brief von Christian Schubart an Müller aus dem Jahr 1776: „Siehst Du Claudius – o flieg ihm entgegen, dem Edlen, und sag ihm, daß Schubart ihn unaussprechlich liebe. Sein ‚ASMUS‘ ist wie eine Feder, gefallen aus dem Flügel eines Engels. Sag’s ihm!“49 Diese Briefzeugnisse dokumentieren einen Ausschnitt der Freundschaft, die der Darmstädter Claudius mit dem jungen Maler und Dichter pflegte und von der sonst nur wenig bekannt wäre. Ohne die Freundschaft Tiecks mit Müller in Rom wären diese Zeugnisse vermutlich verloren gegangen. Das letzte Zeugnis Tiecks stammt aus seinem vorletzten Lebensmonat: Claudius sagte einmal zu einem Bekannten, der ihn trösten wollte: ‚mein Freund! Sie haben darüber kein Urtheil; denn jedes Kind, das man verliert, ist immer das einzige und
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Ebd., S. 171 (Brief vom 28. Februar 1849). Briefe vom 14. April 1777, 18. April 1777, 28. August 1777 (an Müller) und 12. Januar 1798 (an Ruoesch), in: Dreihundert Briefe aus zwei Jahrhunderten. Hrsg. von Karl Holtei. Band 1/1, Hannover: Rümpler 1872, S. 58–61 – entsprechend Botengänge (wie Anm. 23) S. 238f., 252f., 498f. Vgl. Friedrich Müller genannt Maler Müller. Werke und Briefe. Hrsg. von Rolf Paulus und Gerhard Sauder. Briefwechsel Kritische Ausgabe. Teil 1: Briefwechsel 1773–1811. Heidelberg: Winter 1998, S. 52, 54, 62. Der Brief vom 28. August ist dort gegenüber den vorherigen Ausgaben entschieden verbessert, u. a. durch den Nachweis, daß der mittlere Teil von Christoph Kaufmann stammt. Vgl. zu dem Briefwechsel noch Wolfgang Stammler: Neues zu Maler Müllers Leben und Schaffen. In: Zeitschrift für Bücherfreunde N. F. 5,1 (1913/14), S. 93–96. Holtei: Dreihundert Briefe 1/2, S. 189f.; Briefwechsel 1, S. 51f. Der Brief antwortet auf den bei Holtei fehlenden Brief vom „letzten Märtz 1777“ (Stammler, ebd., S. 95f.; Botengänge, S. 237; Briefwechsel 1, S. 51) und ist dementsprechend zwischen 31. März und 14. April zu datieren. Die Sammlung aus den Archiven und Drucken in der Kritischen Ausgabe hat ergeben, daß zwischen Februar und August 1777 vier Briefe von Claudius und zwei an Claudius erhalten geblieben sind, wozu noch jeweils einer zu erschließen wäre (Briefwechsel 2: Briefwechsel 1812–1825. Chronik, Korrespondentenverzeichnis, Briefverzeichnis. Heidelberg: Winter 1998, S. 1180). Brief vom 27. November 1776, in: Holtei: Dreihundert Briefe 2/3, S. 121–124, hier S. 124; Briefwechsel 1, S. 43. Schubart bezieht sich auf den zur Ostermesse 1775 in Hamburg erschienenen 1. und 2. Teil des ASMUS omnia sua SECUM portans.
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unersetzliche!‘ – Dieser fromme Mann hatte indeß den Trost der Religion auf dem nächsten Wege, und giebt es einen Trost, ist dieser der einzige und wahrhaft helfende.50
Tieck hatte selbst 1841 den Schmerz des Verlustes seiner Tochter Dorothea Sophia zu erleiden gehabt, er wußte wovon er schrieb. Aber es ist doch kennzeichnend, was ihm nicht einfiel, nämlich daß Claudius diesen unersetzlichen Verlust in ein Gedicht gefaßt hatte, eben das, welches Arnim und Brentano in das Wunderhorn aufgenommen hatten: Es stand ein Sternlein am Himmel. Das mag typisch sein für ihn wie für die romantischen Freunde. Sie nahmen Claudius als Christen ernst und respektierten seine Frömmigkeit, als „Dichter“ nahmen sie ihn nicht zur Kenntnis. Wenn sie ihn wahrnahmen, dann marginalisierten sie ihn zum Volks-Poeten, zum humoristischen biederen Schriftsteller. Die zentralen Werke seiner Lyrik blieben ihnen nicht im Gedächtnis.
VI. Joseph von Eichendorff Der Blick auf Joseph von Eichendorff zeigt kein grundsätzlich anderes, aber doch recht eigentümliches Bild. Bei diesem Dichter kann man im Bilderbuch aus meiner Jugend zwar den Vers finden: „Wir alle sind, was wir gelesen“,51 und in der Tat kann man zeigen, daß zu seinen Lektüre-Erfahrungen, die für seine eigenen Werke stofflich und strukturell bedeutsam wurden, insbesondere die frühromantischen Autoren gehören, bei dem Ehepaar Schlegel in Wien verbunden mit der persönlichen Bekanntschaft und Beratung bei seinem Erstling Ahnung und Gegenwart von 1815, entstanden 1810–1812 (der Titel soll ein Vorschlag der nunmehrigen Dorothea Schlegel sein),52 – aber ebenso deutlich ist, daß Claudius nicht dazu gehörte. Wir sind noch eine Generation weiter. Umgekehrt hat Claudius, 1815 gestorben, die Werke Eichendorffs nicht mehr kennen lernen können. Aber halt! Eine ganz frühe Rezeption gab es doch. Als der siebzehnjährige Eichendorff nach dem Beginn seines juristischen Studiums mit seinem Bruder eine Reise nach Hamburg machte, besuchte er am 21. September 1805 auch „das niedliche Städtchen“ Wandsbeck, das ihm wie ein einziger Garten vorkam. Es heißt dazu im Tagebuch: „Hier wohnt der Dichter Claudius, mit dem wir uns in einer Entfernung von 120 Meilen so oft, so traulich unterhalten hatten, der
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Brief an K. G. Carus vom 4. März 1853 (Letters of Ludwig Tieck, wie Anm. 6, S. 577). Ich verdanke dieses Zitat wie auch andere Anregungen Christian Begemann: Eichendorffs Intertextualitäten. In: Aurora 65 (2005), S. 1–23. Vgl. Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden. Bd. 5: Autobiographische Dichtungen, historische und politische Schriften. Hrsg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 378. Vgl. dazu die eingehende Darstellung bei Detlev W. Schumann: Friedrich Schlegels Bedeutung für Eichendorff. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1966, S. 336–383. Wichtige Ergänzungen zur Freundschaft Eichendorffs mit Dorothea Veits Sohn Philipp Veit bei Konrad Feilchenfeldt: Eichendorffs Freundschaft mit Benjamin Mendelssohn und Philipp Veit. Aus teilweise unveröffentlichten Quellen. In: Aurora 44 (1984), S. 79–99.
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uns so manche seelige Stunde schuf. – Wir freuten uns, uns in der Nähe dieses alten Freundes zu befinden.“53 Natürlich traute das junge Brüderpaar sich nicht, den berühmten Mann aufzusuchen. Doch es klingt wie ein Nachklapp dieses Wunsches, wenn der erwachsene Autor ein Jahrzehnt später in Ahnung und Gegenwart den Protagonisten Friedrich aus seiner Kindheit und davon erzählen läßt, wie ihm in der aufgeklärten Kleine[n] Kinderbibliothek (12 Bände, Hamburg 1779–1784) von Joachim Heinrich Campe „einige kleine Lieder“ von Matthias Claudius aus dieser „pädagogischen Fabrik“ befreiten: Sie sahen mich in meiner prosaischen Niedergeschlagenheit mit schlichten, ernsten, treuen Augen an, als wollten sie freundlich tröstend sagen: ‚Lasset die Kleinen zu mir kommen!‘ Diese Blumen machten mir den farb- und geruchslosen, zur Menschheitssaat umgepflügten Boden, in welchen sie seltsam genug verpflanzt waren, einigermaßen heimatlich. Ich entsinne mich, daß ich in dieser Zeit verschiedene Plätze im Garten hatte, welche Hamburg, Braunschweig und Wandsbek vorstellten. Da eilte ich denn von einem zum andern und brachte dem guten Claudius, mit dem ich mich besonders gerne und lange unterhielt, immer viele Grüße mit. Es war damals mein größter, innigster Wunsch, ihn einmal in meinem Leben zu sehen.54
Es ist doch interessant zu beobachten, wie der durch den aufgeklärten Pädagogen Campe aufklärerisch instrumentalisierte Claudius genau das gegenteilige als das angestrebte Ergebnis bewirkte! Die „kleinen Lieder“ kann man in etwa erschließen, auch wenn man wegen der mehrfach überarbeiteten Ausgaben der Kinderbibliothek den Umfang nicht genau kennen kann. Es werden die Lieder gewesen sein, die Johann Friedrich Reichardt von 1781–1790 als Lieder für Kinder aus Campes Kinderbibliothek mit Melodieen, bey dem Klavier zu singen veröffentlicht hat, also das Kartoffellied, Ein Lied hinterm Ofen zu singen, Ein Lied vom Reiffen, das Abendlied und fünf weitere.55 Die eigentliche religiöse Erweckung für die Romanfigur Friedrich geschieht dann freilich nicht durch Claudius, sondern in der unmittelbaren Folge durch die Lektüre der Leidensgeschichte Jesu. Diese Reihenfolge hätte Claudius gewiß gefallen. Dann scheint der Wandsbecker Dichter jahrzehntelang vergessen zu sein.56 Erst als Eichendorff im Alter literaturgeschichtliche Werke verfaßte und sich selbst historisch wurde, da kam er bei seiner Musterung der Literatur des
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Werke 5, S. 148. Im Bilderbuch aus meiner Jugend heißt es fiktiv: „Ich mit Wilhelm reite von Campe zu Claudius, bringe ihm Grüße von Overbeck.“ (S. 378). Ebd. Werke Bd. 2/1: Ahnung und Gegenwart. Erzählungen. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Brigitte Schillbach. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, S. 108. Hamburg 1781, Wolfenbüttel 1787, Braunschweig 1790. Vgl. Melodieen, bey dem Klavier zu singen. Johann Friedrich Reichardt. Lieder mit Klavierbegleitung und Chorsätze nach Texten von Matthias Claudius. Hrsg. von Hermann Patsch, Gertraud Steinhaeusser und Hans Rudolf Zöbeley. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2008. In dieser Sammlung sind Reichardts Claudius-Lieder zum ersten Mal vollständig zusammengestellt worden. Zu einer einzelnen – freilich lediglich denkbaren –Anregung auf das dichterische Werk vgl. Herbert Rowland: Überwindung des Irdischen bei Eichendorff und Matthias Claudius. Betrachtungen über eine Stelle im „Marmorbild“ und „Ein Lied hinterm Ofen zu singen“. In: Aurora 44 (1984), S. 124–129.
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18. Jahrhunderts an Matthias Claudius nicht vorbei. Abgesehen von einer eher vagen Anspielung57 hat er dabei den Lyriker vollkommen übersehen, er hat ausschließlich den theologisch-philosophischen Volksschriftsteller in den Vordergrund gestellt. Er hat durchweg – wie zu Beginn schon angedeutet – Claudius mit Respekt behandelt, aber doch als (vermeintlichen) Pietisten dem Urteil seines orthodoxen Katholizismus nicht entzogen. Der „ehrliche Wandsbecker Bote, Claudius,“ heißt es da 1847 in dem Werk Die geistliche Poesie in Deutschland, protestierte „vergebens“ gegen den Vernunftglauben der „Humanitätsreligion“ eines Herder oder Schiller, „und suchte, was er in seiner Einsamkeit vom positiven Christentum sich treu und herzlich bewahrt, in einem heiteren, freilich mehr gemachten als naturwüchsigen Volkstone unter die Leute zu bringen.“58 Nicht nur den berechtigten Protest gegen die Humanitätsreligion hält Eichendorff für erfolglos, sondern auch die gekünstelte Form, mit der er dies versucht habe. Auch Claudius gehört für ihn – wie er 1848 in Die deutschen Volksschriftsteller schreibt – zu den „gelehrte[n] Dichter[n]“, „in deren Ernst und Späßen man beständig die leise, fast unwillkürliche Ironie eines geistig aristokratischen Selbstbewußtseins hindurchfühlt; ihr ehrlich gemeinter Volkston war nicht naturwüchsig, sondern größtenteils ein künstlichzurechtgelegter, […] und konnte also im Volke, das für solche Dinge ein sehr feines Ohr hat, unmöglich nachhaltigen Anklang finden.“59 In seinem Werk Der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum von 1851 beurteilt er Claudius als „Pietist[en], wie er sein sollte“: „ohne Affektation, ohne Schwärmerei und dumme Beschränktheit. Wie die Frühlingssonne brütet er liebreich über der träumenden, ringenden Zeit, und weiß in allen literarischen und sozialen Erscheinungen den verborgenen Keim zu finden und erwärmend dem Lichte der Zukunft zuzuwenden.“60 Das ist in Eichendorffs Bildersprache gesagt und liest sich um so merkwürdiger, als Claudius gar kein Roman-Autor war und auch keine Erzählung in diesem Sinn geschrieben hat. Später konfrontiert er den „armen Claudius“ mit dem Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi, dem er mit „kindliche[r] Einfalt des Evangeliums“ geantwortet habe und auf dessen Vorstellungen gegen den Glauben an einen persönlichen
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In der kurzen Abhandlung Zur Kunstliteratur von 1835 läßt Eichendorff in einer „Anmerkung eines Phlegmatikers. Die Kunst der protestantischen Kirche?“ einen „teleologische[n] Beweis für das Dasein Gottes, weil Schnee an den Bäumen ist, von Claudius“ unter den Beispielen für „protestantische Poesie“ anführen (Joseph von Eichendorff: Werke. Bd. 6, wie Anm. 9, S. 9–12, zit. S. 10). Hier könnte eine vage Erinnerung an das Gedicht Lied vom Reiffen vorliegen (SW, S. 184–186), in dem der morgendliche Reif an den Bäumen auf einen Engel zurückgeführt wird, der bei Nacht heimlich streue. Das Gedicht kannte der jugendliche Eichendorff aus der erwähnten Kinderbibliothek von Campe. Ebd., S. 360f., wörtlich wiederholt S. 589. Ebd., S. 370, wörtlich wiederholt S. 571. Diese Auskunft mag für das katholische Deutschland partiell zutreffen, für das protestantische ist sie sachlich falsch. Ebd., S. 490.
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Christus nur mit dem Abendlied antworten könne: „Wir spinnen Luftgespinste, / Und suchen viele Künste, / Und kommen weiter von dem Ziel“.61 Eichendorff referiert das mit Empathie und schönen Zitaten – doch diese hat er nicht aus eigener Lektüre, sondern aus der Literaturgeschichte von Heinrich Gelzer aus dem Jahr 1849 mit dem kennzeichnenden Titel Die neuere Deutsche National-Literatur nach ihren ethischen und religiösen Gesichtspunkten. Zur innern Geschichte des deutschen Protestantismus.62 Der aus der Schweiz stammende reformiert-protestantische Historiker (Johann) Heinrich Gelzer (1813– 1889),63 Professor für Geschichte und Literatur in Berlin, politisch stramm monarchistisch-nationalkonservativ gesinnt, aber theologisch strikt liberal denkend, deutet die deutsche Literatur im Sinne des sittlichen Fortschritts als der eigentümlichen Aufgabe der deutschen Nation für die europäische Kultur. Dabei ist ihm Claudius, der einen „christlichen Liberalismus“ vertreten und sich erst nach der französischen Revolution politisch ins Konservative gewandelt habe,64 besonders wichtig. „[N]ur die evangelische Kirche, nur die deutsche Nation konnte eine so einzige Gestalt hervorbringen.“, lautet der Schlußsatz.65 Der katholische Literaturhistoriker Eichendorff nutzt das bei Gelzer vorgeführte Material der protestantischen Poesie seit Luther, um keineswegs den sittlichen Fortschritt, sondern genau das Gegenteil zu zeigen: Gerade die von Protestanten geschaffene „Nationalliteratur“ ist ihm das Beispiel fortschreitender Säkularisation, die die Einheit von Poesie und Religion zerstört habe. Dabei kann er Claudius durchaus als selbständigen Denker wahrnehmen, der weder als
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Ebd., S. 535–537. Hier kann nur das Morgengespräch zwischen A. und dem Kandidaten Bertram aus ASMUS VIII von 1812 (SW, S. 645–657) gemeint sein, in dem aber natürlich kein Selbstzitat des Abendlieds vorkommt. Vgl. zur Sache Donovan (wie Anm. 24), S. 217–220. Die Zutat ist keineswegs Eichendorffs eigenes literarisches Wissen, er bezieht sie aus dem Jacobi-Referat seiner Quelle Gelzer (s. die folgende Anm.). Zweite umgearbeitete und vermehrte Auflage, Bd. 2, Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung 1849, S. 6–28 (Claudius), 140–144 (Jacobi). Vgl. den Hinweis bei Schultz (Werke 6, wie Anm. 58, S. 1303). Der Titelbezug auf den Protestantismus fehlt in der einbändigen ersten Ausgabe, die den Titel trägt: Die deutsche poetische Literatur seit Klopstock und Lessing. Nach ihren ethischen und religiösen Gesichtspunkten. Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung 1841. Auf diese Ausgabe ist Eichendorff bereits 1844 brieflich als Anregung einer deutschen Literaturgeschichte hingewiesen worden (vgl. Ansgar Hillach und Klaus-Dieter Krabiel: Eichendorff Kommentar zu den theoretischen und autobiographischen Schriften und Übersetzungen. Bd. 2, München: Winkler 1972, S. 10). Bd. 1 der 2. Aufl., erschienen Leipzig 1847, behandelte speziell die Literatur des 18. Jahrhunderts bis Wieland. Das gesamte Werk ist ganz aus den Quellen erarbeitet. Ein versprochener dritter Band erschien nicht. Die Abhängigkeit Eichendorffs von Gelzer (und anderen) ist seit dem von Hermann Kunisch hrsg. Bd. 8/1 (1962) der Historisch-Kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff bekannt. Vgl. noch HillachKrabiel S. 10–13. Vgl. Karl Gelzer in: Realencyklopädie für Protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl. Bd. 6 (1899) sowie Edgar Bonjour in: Neue Deutsche Biographie 6, 1964, S. 177f. Nach der Rückkehr 1851 in die Schweiz gab Gelzer die wichtigen Protestantischen Monatsblätter für innere Zeitgeschichte heraus. Gelzer Bd. 2 (wie Anm. 62), S. 21f. Ebd., S. 28.
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orthodoxer Lutheraner noch als naiver Pietist oder gar als Anhänger einer rationalistischen „Humanitätsreligion“ zu beschreiben wäre.66 Aber gerade deshalb und um so kennzeichnender ist Claudius ihm ein bedauernswertes Beispiel für den gescheiterten protestantischen, also individualistischen und rationalistischen Entwurf einer deutschen Literatur. Dieser Ansatz erweist sich gleichfalls in Eichendorffs Behandlung des Dichters aus Wandsbeck in seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands von 1857, seinem Todesjahr. Hier wiederholt er wortwörtlich, was er zehn Jahre früher in seinem Werk Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland geschrieben hatte. Man sieht noch einmal seinen großen Respekt vor Claudius und die Ablehnung aus letzlich kirchlichreligiösen Gründen. Es heißt dort: Weit entfernt […] von Schwanken zwischen Angst und maßlosem Vertrauen, ist Matthias Claudius, der wackere Wandsbecker Bote, der zwischen Diesseits und Jenseits unermüdlich auf und abgeht und von Allem, was er dort erfahren, mit schlichten und treuen Worten fröhliche Botschaft bringt. Er gehört allerdings zu den Pietisten jener Zeit, insofern auch bei ihm ein starkgläubiges Gefühl den Kampf gegen Unglauben und toten Buchstabenglauben aufgenommen; aber er ist durchaus heiter, und erscheint unter ihnen wie einer, der gefunden hat, was jene so rastlos suchen. Wie der Abendglockenklang in einer stillen Sommerlandschaft, wenn die Ährenfelder sich leise vor dem Unsichtbaren neigen, weckt er überall ein wunderbares Heimweh, weiß aber mit seinen klaren Hindeutungen dieses Sehnen, wie schön oder vornehm es in Natur oder Kunst sich auch kundgeben mag von dem Ersehnten gar wohl zu unterscheiden.67
Hier hat Eichendorff Claudius mit den Bildern seiner eigenen Gedichte romantisiert. Nur als (vermeintlicher) Romantiker kann Claudius als „Pietist“ erträglich erscheinen, der – wie es gleich später heißt – „die göttliche Offenbarung aus der Kirche in die Menschenbrust“ setze, was „den Katholiken ganz fremd, ja unmöglich“68 sei. Das belegt Eichendorff durch ein Claudius-Zitat aus dem VI. Teil des ASMUS von 1798: der Mensch […] trägt in seiner Brust den Keim der Vollkommenheit und findet außer ihr keine Ruhe. Und darum jagt er ihren Bildern und Konterfei’s in dem sichtbaren und unsichtbaren Spiegel so rastlos nach, und hängt sich so freudig und begierig an sie, um durch sie zu genesen. Aber Bilder sind Bilder. Sie können, wenn sie getroffen sind, sehr angenehm täuschen und überraschen, aber nimmermehr befriedigen. Befriedigen kann nur das Wesen selbst, nur freies Licht und Leben – das kann niemand geben, als der es hat.69
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Vgl. dazu grundsätzlich die sachkundige Untersuchung von Herbert Rowland: Eichendorff’s critical view of Matthias Claudius in Der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts. In: Michigan Germanic Studies 11.1 (1985), p. 50–61, der freilich die quellenmäßige Abhängigkeit von Gelzer nicht berücksichtigt. Joseph von Eichendorff: Werke. Bd. 6 (wie Anm. 9), S. 1014f. (wie S. 79f.). Ebd., S. 1015. Ebd. (wie S. 80). Vgl. Claudius: SW, S. 484, wo es heißt „ihm niemand geben“ (so auch bei Gelzer).
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Eichendorff hat dieses Zitat aus der schon genannten Literaturgeschichte bezogen,70 und er hat es – als sekundären Auszug – mißverstanden. Claudius hat in seinem fiktionalen Brief an Andres (ASMUS VI, 1798) gerade dagegen polemisiert, daß „Erde und Himmel“, die „sichtbare Natur“ über sich hinauswiesen. Man kann sich durchaus an sein Gedicht Motet. Der Mensch lebt und bestehet Nur eine kleine Zeit71 erinnert fühlen. Der Mensch, schreibt Claudius, ist „reicher“ als die Natur, „und hat, was sie nicht geben (kann). Alles, was er um sich her haben sieht, stirbt; und er weiß von Unsterblichkeit. Er sieht in der sichtbaren Natur nichts als Zeitliches und Örtliches; und er weiß von einem Ewigen und Unendlichen.“72 „Selbst die Weisheit und Ordnung, die der Mensch in der sichtbaren Natur findet, legt er mehr in sie hinein als er sie aus ihr herausnimmt.“73 Das ist ein aufklärerischer, ein geradezu Kantischer Satz. „Himmel und Erde“ – geht es weiter – „sind für ihn nur eine Bestätigung von einem Wissen, des er sich in sich bewußt ist, und das ihm die Kühnheit und den Mut gibt: alles zu meistern und aus sich zu rektifizieren. Und mitten in der Herrlichkeit der Schöpfung ist und fühlt er sich größer, als alles was ihn umgibt; und sehnt sich nach etwas anderm.“ Damit ist klar, daß Eichendorffs Verdacht, der Pietismus und mit ihm Claudius habe die göttliche Offenbarung aus der Kirche in die Menschenbrust versetzt, nur eine Teilwahrheit vertritt. Nicht durch die Kirche wird die Offenbarung vermittelt, denn das wäre auch menschliche Vermittlung, sondern, das ist für den Lutheraner Claudius ganz selbstverständlich, durch Gott selbst. Das meint in Eichendorffs Zitat der Hinweis auf den, der „freies Licht und Leben“ hat. Eichendorff hat auch die Herkunft der Spiegel-Metapher nicht wahrgenommen. Claudius kannte seine Luther-Bibel, und er las bei Paulus (1. Korinther 13,12): „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort. Dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ichs stückweise. Dann aber werde ich erkennen gleich wie ich erkannt bin.“ Durch den Spiegel kann man nicht hindurchsehen. Der Spiegel ist – um es mit der romantischen Metapher zu sagen – keine Hieroglyphe. Man kann Claudius nicht zum Romantiker machen. Eichendorff hat das ganz richtig gesehen. Es ist reizvoll, sich noch einmal die Differenz klarzumachen. Das läßt sich in notwendiger Kürze an dem berühmtesten Gedicht Eichendorffs erläutern, der späten – erst 1835 entstandenen – Wünschelrute:
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Vgl. S. 1170 (= Gelzer S. 14). SW, S. 182f. (gedruckt 1783). Vgl. Reinhard Görisch: Über das Gedicht „Motet“ von Matthias Claudius. In: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft 11 (2002), S. 5–15. SW, S. 483. Ebd., S. 484, dort auch das Folgende.
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Schläft ein Lied in allen Dingen. Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort.
Der Autor hat sich selbst bekanntlich in seiner Geschichte der neuern romantischen Poesie in Deutschland von 1846 ausgespart, als hätte er zu dieser inzwischen verklungenen Epoche nicht hinzugehört. Aber er hat bei der Charakterisierung der Romantik mit der Anspielung auf die Wünschelrute sein „Definitionsmonopol“ – wie Christian Begemann sagt74 – für das Wesen der Romantik behauptet: „War jene Zeit ja selbst eine Feenzeit, da die Romantik das wunderbare Lied, das in allen Dingen gebunden schläft, zu singen anhob, wie die Waldeinsamkeit das uralte Märchen der Natur wieder erzählte.“75 Damit ist noch einmal, durchaus nicht ohne Ironie, die frühromantische Redeweise von der Natur als Hieroglyphe benannt. Die Natur ist, wie das Gedicht sagt, durchsichtig für eine zweite Welt, die durch das richtige Wort – das „Zauberwort“ des Künstlers – zum Sprechen, zum künstlerischen „Singen“ gebracht werden kann. Der alte Eichendorff hat das im Abstand der Jahre als vermessen, als zu wenig religiös im kirchlichen Sinne gesehen. Claudius hätte dem von seiner Seite aus zustimmen können; in dem von Eichendorff zitierten Text heißt es kennzeichnend genug: „Aber Bilder sind Bilder.“ Nichts weiter! Claudius hat die Welt nicht verdoppelt, sie ist keine Hieroglyphe, die nur der Künstler ahnen, entwirren, entzaubern kann. Die Welt ist weder in einem platonischen noch einem idealistischen Sinn ein Hinweis auf das Unendliche, das Absolute, das sich dem Deuter-Dichter erschließt. Die Welt – und in ihr der Mensch – ist Schöpfung und kann insoweit auch auf den Schöpfer verweisen. Aber das kann der sterbliche Mensch mit der Kraft seiner endlichen Vernunft nicht wissen, auch der Dichter mit dem Zauberstab der Poesie nicht. Diesen romantischen Weg ist Claudius nicht mitgegangen. Eichendorff hat sich unvergleichlich genauer und ernsthafter mit Claudius auseinandergesetzt als die anderen angeführten romantischen Dichter und Denker. Aber grundsätzlich ist auch er von dem Vorurteil befangen, ihn nicht als Lyriker, sondern als religiösen Prosaisten zu begreifen. Die Lyrik spielt in seiner Argumentation überhaupt keine Rolle. Das war schon bei Friedrich Schlegel, Novalis und Tieck der Fall. Es ist doch kennzeichnend, daß Eichendorff nicht die Bände des ASMUS in die Hände nimmt, sondern sich mit einer Textsammlung in einer (bewußt protestantischen) Literaturgeschichte begnügt, die Claudius als einzigartige evangelische Gestalt rühmt, und diese dann kommentiert. Tieck läßt sich von einer seelsorgerlichen Bemerkung beeindrucken und schließt dabei auf die religiöse Tiefe von Claudius, die er selbst offenbar sich nicht zu besitzen traut. Das poetische Werk wird nirgendwo erwähnt. Schlegel instrumentalisierte den Wandsbecker für seine Zeitschrift; wirkliches Interesse hätte er nur für die Übersetzungen mystischer katholischer Autoren gezeigt.
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Eichendorffs Intertextualitäten (wie Anm. 51), S. 22. Eichendorff: Werke 6, S. 30.
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Selbst die (angebliche) Volkslied-Dichtung ist vergessen. Claudius wird in die Nische des biederen, humorvollen, des ‚wackeren‘ Poeten gesetzt, dessen Charakter man achten, sogar lieben kann – am deutlichsten wird das bei Zacharias Werner ausgedrückt –, der aber sonst nicht wirklich ernst genommen werden muß. Das Vorurteil der Romantiker wirkt bis heute nach.
Kurt Krolop
Zur Rezeptionsgeschichte der Seumeschen „Apokryphen“ in zeitsatirischer Absicht
Horaz schmeckt mir, das heißt, viele seiner Verse; denn der Mensch selbst mit seiner Kriecherei ist mir ziemlich zuwider. Da ist Juvenal ein ganz anderer Mann, neben dem der Oktavianer wie ein Knabe steht … Wo Horaz zweideutig witzelt, oder gar ekelhaft schmutzig wird, sieht man überall, das es ihm gemütlich ist, so etwas zu sagen; er gefällt sich darin: Bei Juvenal aber ist es reiner, tiefer, moralischer Ingrimm. Er beleidigt mehr die Sitten als jener; aber bei ihm ist mehr Sittlichkeit. Horaz nennt die Sache noch feiner und kitzelt sich: Juvenal nennt sie, wie sie ist; aber Zorn und Unwille hat den Vers gemacht.1 (Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Erster Theil. Von Leipzig nach Syrakus, Schottwien am Semmering, Mitte Januar 1802)
Heinz Härtl hat im Nachwort zu Seumes Reisebericht Mein Sommer 1805 zum Titelthema meines Beitrags Folgendes gesagt: „Von den politischen Schriften wirkten die Apokryphen sporadisch, so in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den tschechischen Schriftsteller und Journalisten Karel Havlíþek Borovský, der aus ihnen übersetzte, und später auf Karl Kraus, der Seume als satirischen politischen Schriftsteller außerordentlich schätzte, und noch 1935 das drittletzte ‚Fackel-Heft‘ mit einer knappen Auswahl einleitete.“2 Zwischen diesen beiden Daten finden wir indessen in der tschechischen Zeitschrift Stopa (Die Spur)3 in der Juni-Nummer 1910 unter der Chiffre „_g_.“ folgenden umfangreicheren Beitrag, der bislang in der Seume-Literatur nicht berücksichtigt worden ist. Deshalb sei er in meiner Übersetzung und Verifizierung von Seume-Zitaten in vollem Umfang hier zitiert: J. G. SEUME. In diesen Tagen werden die Deutschen das Gedenken eines ihrer hervorragendsten, ohne Zweifel eines ihrer originellsten Autoren feiern, J. G. Seumes, der am 13. Juni 1810 in Teplitz (Teplice) in Böhmen gestorben ist. Wir werden viele flammende Deklamationen hören, viele große Phrasen, aber sicherlich wenig davon, was für ein Mensch Seume gewesen ist, wie seine Weltsicht war und wie er seine Zeitgenossen beurteilt hat. Im Jahre 1853 sind in Leipzig seine gesammelten Schriften in acht Teilen erschienen, seitdem sind sie auf
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Johann Gottfried Seume: Prosaische und poetische Werke. 2. Teil. Berlin: Hempel o. J. [1869], S. 39. Die Schlußwendung „aber Zorn und Unwille hat den Vers gemacht“ ist eine Anspielung auf Juvenals erste Satire („Si natura negat, facit indignatio versum“). Heinz Härtl: Nachwort in Johann Gottfried Seume: Mein Sommer 1805. Leipzig: Reclam 1978, S. 205. Über diese Zeitschrift gibt es inzwischen einen ausführlichen Beitrag im Lexikon der tschechischen Literatur. Vgl.: Dagmar Mocná und Jitka Pelikánová in: Lexikom þeské literatury. Bd. 4. Praha: Academia 2008, S. 365f.
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Kurt Krolop
dem Literaturmarkt nicht mehr herausgegeben worden,4 nur Teile seines Gesamtschaffens tauchten gelegentlich auf (so ‚Der Spaziergang nach Syrakus‘ in Reclams Universalbibliothek5). Aber das waren alles Arbeiten aufgrund deren man Seumes Wesen allenfalls erahnen, keinesfalls erkennen kann. Es genügt einige Stellen aus den gesammelten Schriften aufzuschlagen, um dafür den Grund zu sehen.
Seume ist am 29. Januar 1763 geboren; seine Jugend fiel in eine Zeit, in der der Despotismus sich noch nicht träumen ließ, es könnte ein Ende seiner willkürlichen Menschenbehandlung geben. Der ernsthaft studierende Seume, der zwecks höherer Ausbildung nach Frankreich aufbrach, wurde von Werbern des Kasseler Despoten, eines berüchtigten Menschenhändlers, abgefangen, auf die Festung Ziegenhayn (!) und im nächsten Frühjahr nach Amerika verbracht, wo er in ein Regiment eingereiht wurde, das für die Sklavenhändler kämpfte. Niemand war damals vor Gewalt sicher. Ausländer wurden ohne Rücksicht auf Stellung oder Alter gefangen und regimeterweise verkauft. Die Werber zerrissen das Seumesche Immatrikulationszeugnis, warfen seinen Paß weg, und dann sperrten sie ihn mit guten oder schlechten, aufgeklärten oder primitiven Menschen zusammen, und der junge Leipziger Student tauschte das Buchstudium für ein Studium in Lebenserfahrung ein. Das harte Leben auf der Festung, auf dem Schiff, im amerikanischen Lager und dann im preußischen Dienst, wohin der Kasseler Despot nach Seumes Rückkehr aus Amerika diesen verkaufte, haben seine Nerven und seinen Charakter gestählt. Das an ihm verübte Unrecht bestärkte ihn nur in der Überzeugung: „Ehrenvolle, thätige Gefahr ist besser als der ruhige Schlaf eines Sclaven“.6 Sein Geist war erfüllt vom Widerstand gegen schwaches Zurückweichen vor der Macht, vor bedingungslosem Gehorsam, vor der Dienstfertigkeit, die mehr Schurken erzeugt als schlechte Grundsätze, vor den Betrügereien weltlicher und geistlicher Machthaber, gegen Dummheit und Feigheit, mit deren Hilfe sich die Despoten nur zu halten vermögen, denn „[e]in Despot scheint an dem Experiment zu arbeiten, wie viel die Menschen in ihrer Wegwerfung, Narrheit und Unsinn vertragen können“.7 „Die Ketten sind zerschlagen [...] Wir wollen uns vor keinem Idole mehr beugen. Hier wollen wir der Freiheit einen Tempel bauen“,8 das war die heiße Sehnsucht seines Herzens, aber er erinnerte daran, daß ohne allgemeine Gleichheit und Gerechtigkeit der Ruf nach Freiheit eine Lästerung sei.
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Dabei hat der Verfasser dieses Beitrags die in Anmerkung 1 angeführte Ausgabe von 1869 übersehen. Vgl.: Ausführlicher Schlag- und Stichwortkatalog zu Reclams Universal-Bibliothek. Nr. 1– 6590 (bis Ende des Jahres 1925). Leipzig: Reclam o. J. [1926], S. 419 (Nr. 186/88a). J. G. Seume: Apokryphen. In: J. G. Seume: Prosaische und poetische Werke. 7. Theil. Berlin: Hempel o. J. [1869], S. 127. Dieses und alle nachfolgenden Seume-Zitate sind – mit Ausnahme des in Anm. 8 nachgewiesenen Zitats – alle den Apokryphen entnommen. Ebd., S. 147. J. G. Seume: Prosaische und poetische Werke. 7. Theil. Berlin: Hempel o. J. [1869], S. 53. Es ist das einzige Seume-Zitat, das nicht den Apokryphen entnommen ist, sondern unter der Überschrift Scholion gesondert abgedruckt wurde.
Zur Rezeptionsgeschichte der Seumeschen „Apokryphen“
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In den Privilegien Einzelner und ganzer Nationen sah er ein Übel der Menschheit. „Wenn ich nur noch zwei Secunden zu leben habe,“ so ruft er aus, „will ich noch mit meinem letzten Atemzuge rufen: ‚Wollt Ihr Euch retten, so rottet die Privilegien aus!‘“9 Er liebte sein Volk sicherlich mehr als alle die deutschen nationalistischen Eiferer zusammengenommen, aber eben deshalb hielt er ihnen den Spiegel vor, zeigte dem deutschen Volk seine Mängel, Fehler und Verbrechen. Sein scharfer Geist hatte einen weiten Horizont, er kannte das Leben der deutschen Stämme bis in alle Einzelheiten. Die Deutschen werden von ihm erzählen, daß er zu Fuß von Leipzig bis Syrakus gegangen ist und auf einem großem Umweg wieder zurück, daß er Rußland, Finnland, Schweden, Norwegen (!), Dänemark besucht hat, sie werden von seinem Wirken am Hofe Katherinas II. (!) berichten und von seinem Sterben in völliger Armut, aber sie werden nicht davon erzählen, wie er ihnen ins Gewissen geredet hat. Das hat damals weh getan und tut auch heute noch weh, vielleicht mehr als sonst. Wenigstens einige Sätze seien hier aus seinem Gesamtwerk angeführt, um zu zeigen, wie er geschaut und gedacht hat. Ich habe gemerkt, daß der Mysticismus bei Gebildeten meistens Nervenschwäche und Magenkrampf ist. Mein Freund Novalis steht an der Spitze. Schiller konnte sich mit mehr Kraft durchtragen, sonst wäre er auch förmlich dem Mysticismus unterlegen. In seiner ‚Braut von Messina‘ stand er im Vorhofe. [S. 140] Die Vergebung der Sünden ist der Vernunft ein Widerspruch, aber unser ganzes Leben ist doch fast weiter nichts als eine fortgesetzte Vergebung der Sünden. Wir können unmöglich ohne sie sein. Wenn man sie nur ordentlich menschlich nähme und nicht den Himmel darein mischte! [S. 143] Predigt nur immer brav Geduld, so ist die Sclaverei fertig! Denn von der Geduld zum Beweise, daß Ihr Alles dulden müßt, hat die Gaunerei einen leichten Übergang. [S. 155] Wenn ich von Jemand höre, er sei sehr fromm, so nehme ich mich sogleich vor seiner Gottlosigkeit in Acht. [S. 156] Unsere Religion thut auf Vernunft Verzicht, unsere Rechtslehre, unsere Politik; bald wird es auch unsere Philosophie. Alles beruht auf blindem Glauben und despotischer Willkür. [S. 169] Weist nur die Menschen in den Himmel, wenn Ihr sie um alles Irdische betrügen wollt! [S. 171] Laßt Euch nur einmal eine Offenbarung aufbürden, und man wird Euch bald so viel Unsinn offenbaren, daß Ihr vor Angst in der Nacht den großen Bär und am Tage die Sonne nicht finden könnt. [S. 179]
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Ebd., S. 204.
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Kurt Krolop
Wenn man die Menschen um das Erdenleben betrügen will, assignirt man sie gewöhnlich an den Himmel und benebelt sie mit der Dummheit des Afterglaubens, wenn man ihre Vernunft mißhandelt. [S. 193] Da sich wenige Menschen bis zur philosophischen Geduld erheben können, müssen sie wol bei der christlichen stehen bleiben. [S. 213] Wer auf Charakter hält, lebe in sich! Wer mit den Zeichen, mit Ansehen, Macht und Ruhm zufrieden ist, gehe aus sich heraus und in Andere hinein, gleichviel auf welche Weise, nur klug! [S. 139] Das erste Requisit des Lebens ist Gleichgiltigkeit gegen Lob und Tadel von den Heiligen und Profanen und kaltblütige Bekanntschaft mit dem Tode. [S. 163] Wer den Tod fürchtet, hat das Leben verloren. [S. 163] Ich pflege zu sagen: ‚Das Leben ist mir nicht so viel werth, um mich deswegen übel zu befinden.‘ [S. 163] Mit der Furcht fängt die Sklaverei an, aber auch mit Zutrauen und Sorglosigkeit. [S. 167] Wer nichts fürchtet, kann leicht ein Bösewicht werden, aber wer zu viel fürchtet, wird sicher ein Sclave. [S. 167] Jede Periode des Lebens hat ihre Leidenschaften. Das Alter, das man für die weiseste halten sollte, hat gewöhnlich die schmutzigsten. [S. 173] Ob die Weiber so viel Vernunft haben als die Männer, mag ich nicht entscheiden; aber sie haben ganz gewiß nicht so viel Unvernunft. [S. 178] Sobald ich das Wort Gnade höre, fahre ich sogleich zurück; denn da hat die Vernunft ein Ende, und es hat nur unter Verbrechern und Dummköpfen Sinn. [S. 213] Wer mehr als gewöhnlich Respect verlangt, verdient auch den gewöhnlichen nicht. [S. 220] Das Beste vom Leben ist, daß man Niemand zwingen kann zu leben. Wer durch eigene Niederträchtigkeit dazu gezwungen wird, ist sein eigener moralischer Büttel und Scharfrichter. [S. 226] Mich schlägt bei meinem Blicke in die Welt nichts mehr nieder, als daß ich so viel Gesichter sehe, die ihre Ansprüche auf irgend ein Privilegium auf die Nase gepflanzt haben. [S. 179] Wenn nur die deutschen Privilegien zerstört sind, wird schon Deutschland wieder erstehen. Nur in der Zerstörung keimt unsere Palingenesie. [S. 185] Wir Deutschen sind vorzugsweise das Volk der Privilegien, ein Document unserer Unweisheit! Darum ist es denn auch gegangen – wie wir gesehen haben und sehen. [S. 186]
Zur Rezeptionsgeschichte der Seumeschen „Apokryphen“
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Ich kann mir nicht helfen, es ist meine tiefste Ueberzeugung: der allgemeine Charakter der Deutschen seit lange Zeit ist Dummheit und Niederträchtigkeit. Das ist die Schöpfung unserer Fürsten und Edelleute, der Ertrag des Privilegienwesens. [S. 188] ‚Was ist der Mann?‘ fragen Andere. ‚Wer ist sein Herr Vater?‘ fragt der Deutsche. [S. 189] Wir sind jetzt die Nation der Titel, des Adels, des Dienstzwangs, der Fröhne, des Unsinns, der Dummheit, kurz, die priviligirte Nation oder die Nation der Privilegien. [S. 189] Alles, was man in dieser Zeit für seinen Charakter thun kann, ist, zu documentiren, daß man nicht zur Zeit gehört. [S. 189] Nach den Calabresen halte ich den Deutschen in seiner Vornehmheit für den größten Barbaren in Europa, die Finnen und Lappen nicht ausgenommen. [S. 210] Der Deutsche ist meistens Alles nur halb: nur Pedant und Privilegiat ist er ganz, auch Grobian zuweilen. [S. 213] ‚Er ist in Ungande gefallen‘, ist ein Lieblingsausdruck der Deutschen; ein Beweis, daß Diejenigen, die so reden, nicht unter der Aegide der Vernunft stehen. [S. 220] Fast jeder Deutsche wird mit irgend einem Privilegium geboren; daher unsere Titel Hochgeboren etc. etc. etc., eine herrliche Antiphrase der gesunden Philosophie. Ist das nicht, so sorgt sein Herr Vater, ihm, sobald er aus der Kappe kommt, eins zu erwerben. Das hat er denn titulo oneroso zur Last des Staats und des Menschensinns. [S. 234] Die Deutschen sind immer nur Barbaren und Halbbarbaren gewesen, haben sich nie zu allgemeiner Gerechtigkeit und Freiheit, nie zur Einheit des Vaterlands erhoben. Die Kaiser haben die Verbrechen begangen, die Heiligthümer der Nation an Einzelne zu vergeuden und dadurch die Spaltung zu verewigen. […] [S. 244] So verstümmelt ist oft die menschliche Natur, daß Tyrannen ihre Wohlthäter werden müssen. [S. 131] […] Wo keine Sclaven sind, kann kein Tyrann entstehen. [S. 132] Nur der Bürgersinn kann über die Ehre bestimmen. Nun ist dieses Geistes überall sehr wenig; also ist nur sehr wenig wahrhaft gewürdigte Ehre. [S. 138] Man giebt in unsern Staaten meistens der Gerechtigkeit ein Form, die schrecklicher ist als die Ungerechtigkeit selbst. [S. 139] Nur wo Nationen sind, giebt es Thaten, sonst ist nichts als despotische Maschinerie. [S. 143] Wer die Krankheit hat, keine Ungerechtigkeit ertragen zu können, darf nicht zum Fenster hinaussehen und muß die Stubenthür zuschließen. Vielleicht thut er auch wohl, wenn er den Spiegel wegnimmt. [S. 137]
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Kurt Krolop
Wer das erste Privilegium erfunden hat, verdient vorzugsweise so lange im Fegefeuer in Oel gesotten oder mit Nesseln gepeitscht zu werden, bis das letzte Privilegium getilgt ist. [S. 130] […] ein Privilegium ist außergesetzlich. So viel ich weiß, hat die alte ächte Latinität und Gräcität kein Wort für diese ehrlose Sache; denn jedes Privileg ist ehrlos. [S. 131] Das erste Privilegium ist der erste Ansatz zum Krebs des Staatskörpers. [S. 131] Wo ein Privilegium gilt, kann selbst der Allmächtige keinen Himmel schaffen; und die Menschen wollen damit einen vernünftigen Staat bilden! [S. 157] ‚Haben Sie die Gnade!‘ heißt wörtlich: Ich verdiene zwar das Zuchthaus, aber Sie werden mir schon einen anderen guten lucrativen Posten geben, den ich nicht verdiene. [S. 232]
Dieser sehr umfangreiche Auszug ist sicherlich der ausführlichste tschechische Rückgriff auf Seumes Apokryphen. Sein Verfasser bzw. Übersetzer, der mit dem Kürzel „_g_.“ zeichnet, ist Jan Josef Langner (1861–1919),10 seinerzeit der Wiener Korrespondent der Zeitschrift Stopa (Die Spur), der seit 1901 in Wien lebte und Prager Zeitungen und Zeitschriften mit Beiträgen versorgte, die alle im Geiste der tschechischen Fortschrittspartei geschrieben waren.11 Zufällig oder nicht fiel auch der Rückgriff auf Seume mit der ersten tschechischen Rezeption der Aphorismen von Karl Kraus zusammen, die ebenfalls um 1910 in dieser Zeitschrift erschienen sind.12 Das deutet voraus auf die Seume-Rezeption im drittletzten Heft der Fackel. Hier ist unter der Überschrift Der Satiriker eine streng symmetrische Zusammenstellung von Texten abgedruckt. Am Anfang und am Ende findet sich je ein Text von Hölderlin,13 in der Mitte der Zusammenstellung ein Text aus der Nestroy-Gesamtausgabe von Otto Rommel,14 vor und nach diesem Text stehen je 5 Aphorismen aus den Seumeschen Apokryphen.15 Die zweite dieser Folgen bezieht sich vor allem auf die Problematik des Zeitsatirikers, wenn sein Gegenstand „jeder Beschreibung spottet, die die Satire davon machen könnte.“16 Die erste dieser Folgen ist vor allem dem gewidmet,
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Vgl.: ll (Ludmila Lantová): Jan Josef Langner. In: Lexikon þeské literatury. 2. Bd. Praha 1993, S. 1146–1147. Im Lexikon der tschechischen Literatur (vgl. Anm. 10) sind Übersetzungsarbeiten von Langner nur aus dem Polnischen angegeben, seine Übersetzungen aus den Seumeschen Apokryphen jedoch nicht. Vgl.: Kurt Krolop: Zur Frühgeschichte der tschechischen Karl Kraus-Rezeption um 1910. In: brücken. Neue Folge 4. Hrsg. von M. Berger, K. Krolop, M. Papsonová. Berlin/Prag/ Prešov: brücken-Verlag 1996, S. 19–31. Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Beißner. Leipzig: Insel 1965, S. 881 (Der Tod des Empedokles, 3. Fassung, Schlußchor des 1. Aktes) und S. 962 (Reflexion). Otto Rommel: Nestroys „Volksstücke“ (Begründung der Auswahl). In: Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Fritz Brukner und Otto Rommel. 8. Bd. Wien: Schroll o. J. [1926], S. 457 u. 456. Karl Kraus: Der Satiriker. In: Die Fackel, Nr. 912–915 (August 1935), S. 1–3. Karl Kraus: Schriften. Hrsg. von Christian Wagenknecht. Bd. 12: Dritte Walpurgisnacht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 42.
Zur Rezeptionsgeschichte der Seumeschen „Apokryphen“
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was bei Seume „die schurkische Narrheit oder die närrische Schurkerei der Zeitgenossen“17 heißt, und damit ist auch weithin abgedeckt, wovon in den oben zitierten Auszügen von Jan Josef Langner die Rede gewesen ist. Die erste der von Karl Kraus zitierten Aphorismenfolgen endet mit dem Satz: „Alles was man in dieser Zeit für seinen Charakter tun kann, ist, zu dokumentieren, daß man nicht zur Zeit gehört.“18 Das ist auch der Satz, mit dem eine Auswahl aus den Apokryphen endet, die 1941, betreut von dem deutsch-jüdischen Exil-Autor Wolfgang Cordan (1909–1966), illegal in den Niederlanden erschienen ist.19 Hiermit sei die Rezeptionskette geschlossen, von der Heinz Härtl in den eingangs zitierten Worten gesprochen hat.
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Seume: Apokryphen, S. 179. Ebd., S. 189. Apokryphen. Geschrieben 1806 und 1807 von Johann Gottfried Seume. 1941. Akademische Verlagsanstalt Pantheon. Apokryphen wurden bei der Druckerei Meijer zu Wormerveer in der Perpetua-Letter gesetzt und auf Luxe-Textpapier gedruckt. Es wurden nur 250 gezählte Exemplare hergestellt. No. 113. 66 Seiten. Das anonyme Nachwort nimmt die Seiten 58–66 ein. Der zitierte letzte Satz dieser Apokryphen-Auswahl steht auf Seite 57.
Jürgen Knaack
Wie die „Völkerschlacht“ bei Leipzig 1813 zu ihrem Namen kam
Es ist ein in der Sprachgeschichte recht seltener Vorgang, daß für ein Ereignis ein eigener Name erfunden wird, der eigentlich ein allgemeiner Begriff ist. Schlachten sind im allgemeinen nach den Orten oder Gegenden benannt worden, wo sie stattgefunden haben. So z. B. die Schlacht bei den Thermopylen, auf den Katalaunischen Feldern, im Teutoburger Wald oder Ardennen-Schlacht. Selten auch einmal nach einem der Heerführer, so z. B. Varusschlacht oder auch Hermannsschlacht. Die im Befreiungskrieg 1813/14 entscheidende Schlacht zwischen den Franzosen und den Alliierten Kräften vom 16.–19. Oktober 1813 fand vor den Toren Leipzigs statt und hieß deshalb zunächst auch Schlacht bei Leipzig oder Leipziger Schlacht. Wie es zu der Bezeichnung „Völkerschlacht“ kam, ist bis heute ungeklärt. Der Stand der bisherigen Forschung beruht vor allem auf einem kleinen Aufsatz1 des Sprachhistorikers und Gymnasiallehrers Albert Gombert (1839– 1908) in einer Festgabe für die dreizehnte Hauptversammlung des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins Breslau im Jahre 1903. Gombert hatte in einem Aufsatz Über das Alter einiger Schlagworte auch das Wort „Völkerschlacht“ unter die Lupe genommen. Seine Ergebnisse übernahm dann Otto Ladendorf in sein weitverbreitetes Historisches Schlagwörterbuch,2 das 1906 erschien. Seitdem ist
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Albert Gombert: Über das Alter einiger Schlagworte. In: Festgabe für die 13. Hauptversammlung des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins zu Breslau. Breslau: Korn 1903, S. 47–82. Darin über das Schlagwort „Völkerschlacht“ von S. 74–77. Otto Ladendorf: Historisches Schlagwörterbuch. Straßburg, Berlin: Karl J. Trübner 1906, S. 327f.: „Völkerschlacht nannte Karl Freiherr von Müffling, wie Gombert, Festg. anschaulich gezeigt hat, mit sicherem Treffer die große Leipziger Schlacht vom Oktober 1813 und schuf damit ein Fahnenwort von bleibender Geltung. H. Steffens, Was ich erlebte 7, 295f. berichtet darüber aus eigener Erinnerung, nachdem er das gewaltige Heranfluten der kampfbereiten verbündeten Heere am 16. Okt. 1813 geschildert hat: ‚Immer kamen neue Scharen im Osten zum Vorschein und verschwanden die Vordersten im fernen Westen, während der Zug sich ununterbrochen fortbewegte. Man konnte glauben, ein wanderndes Volk zu erblicken. So mochten zur Zeit der Völkerwanderung die germanischen Stämme erschienen sein, als sie die deutschen Gaue überschwemmten. Der Anblick ergriff uns alle mit großer Gewalt. Lange blieben wir voll Erstaunen stehen, ihn zu genießen. Hier war es, wo Müffling der bevorstehenden Schlacht den Namen gab: er nannte sie die große Völkerschlacht; diese Bezeichnung hat sich erhalten, ja, sie ist geschichtlich geworden.‘ Diese Behauptung wird als richtig erwiesen durch den Generalstabsbericht vom 19. Okt. 1813, den nach Gomberts Feststellung eben jener Oberst von Müffling im amtlichen
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an dem Ursprung dieses Wortes nicht mehr geforscht worden, alle neueren Darstellungen bis hin zum Standardwerk über Deutsche Erinnerungsorte3 von 2002 sowie das aktuelle Wiktionary4 beruhen auf diesen Erkenntnissen. Nach diesen Forschungen stammt die Bezeichnung ‚Völkerschlacht‘ für die Schlacht bei Leipzig von Karl Freiherr von Müffling (1775–1851), dem Berichterstatter der Schlesischen Armee. Dessen Neunter Armee-Bericht, datiert auf den 19. Oktober 1813 aus Leipzig, eine erste ausführliche Beschreibung der Schlacht, erschien in mehreren deutschen Zeitungen und endet mit den Worten: „So hat die viertägige Völkerschlacht vor Leipzig das Schicksal der Welt entschieden.“5 Eine späte Bestätigung für Müffling als Urheber dieses Wortes liefert Henrik Steffens (1773–1845), der als 70-jähriger etwa 30 Jahre nach dem Ereignis im siebten Band seiner Memoiren seine persönlichen Erlebnisse beim Betrachten der Schlacht beschrieb: Man konnte glauben, ein wanderndes Volk zu erblicken. So mochten zur Zeit der Völkerwanderung die germanischen Stämme erschienen sein, als sie die deutschen Gaue überschwemmten. Der Anblick ergriff uns alle mit großer Gewalt. Lange blieben wir voll Erstaunen stehen, ihn zu genießen. Hier war es, wo Müffling der bevorstehenden Schlacht den Namen gab: er nannte sie die große Völkerschlacht; diese Bezeichnung hat sich erhalten, ja, sie ist geschichtlich geworden.6
So weit die überlieferten und bis heute unwidersprochenen Fakten. Schaut man sich jedoch die Überlieferungslage einmal etwas genauer an, so stimmen zwar
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Auftrage verfaßte. Am Schlusse dieses offiziellen Neunten Armeeberichts ist zu lesen: ‚So hat die viertägige Völkerschlacht vor Leipzig das Schicksal der Welt entschieden.‘ Gombert hat an verschiedenen Belegen das Durchdringen des neuen Schlagwortes verfolgt. Es sei nur die sachgemäße Begründung in einem Schriftchen vom November 1813 noch angeführt, welches als ‚Plan und Erklärung der großen Schlacht bei Leipzig‘ bezeichnet ist: ‚Die Schlacht, welche bei Leipzig im Oktober 1813 vorfiel, gehört unstreitig unter die merkwürdigsten, welche die Weltgeschichte aufzuweisen hat. Sie führt den Namen einer Völkerschlacht mit Recht; denn es standen fast alle Völker Europas und eines Teils von Asien aus dem Kampfplatz.‘ Neuerdings ist durch die seit einigen Jahren eingerichtete Lotterie zugunsten des längst geplanten Völkerschlachtsdenkmals das Schlagwort wieder in aller Munde.“ Kirstin Anne Schäfer: Die Völkerschlacht. In: Deutsche Erinnerungsorte. Hrsg. von Etienne François und Hagen Schulze. München: Beck 2001. Bd. 2, S. 188: „Bis heute ist umstritten, welchen Anteil die vielbeschworene nationale Begeisterung der Masse tatsächlich am militärischen Sieg über Napoleon hatte. In der Namengebung Völkerschlacht wird dieser Konflikt bereits semantisch angedeutet. Während jener Oberst Müffling, der das neue Wort in seinen Armeebericht einschleuste, es noch in seiner alten, unmetaphysischen Bedeutung verwandt und mit Völkern das Heervolk, also die Truppen absolutistischer Herrscher meinte, wurde es von anderen Zeitgenossen als Schlacht der um nationale Emanzipation ringenden Völker Europas umgedeutet.“ http: de.wiktionary.org. Fortsetzung der Nachrichten von der deutschen Schlacht. Bericht von der Schlesischen Armee. Leipzig, den 19. October 1813. In: Der Preußische Correspondent. Berlin: Realschul-Buchhandlung. Nr. 119 vom 25.10.1813, S. 1–3. Henrik Steffens: Was ich erlebte. Breslau: Josef Max 1843, Bd. 7, S. 295f.
Wie die „Völkerschlacht“ zu ihrem Namen kam
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die überlieferten Fakten, eine wichtige Quelle hat man jedoch bisher außer acht gelassen. Achim von Arnim, der seit dem 1. Oktober 1813 alleiniger Redakteur der Berliner Tageszeitung Der Preußische Correspondent war, hatte schon am Tage nach der Leipziger Schlacht den singulären Charakter dieses Ereignisses erkannt und machte bereits am 22. Oktober 1813 in seiner Zeitung den Vorschlag, diese zunächst als „Deutsche Schlacht“ zu bezeichnen, bis man die Helden dieser Schlacht kennen würde, um sie gegebenenfalls nach diesen zu benennen, ähnlich wie bei der Hermannsschlacht. Er schreibt: Die große Völkerschlacht, welche in viertägigem Kampfe vom 16ten bis zum 19ten d.M. die Freiheit der Deutschen (welche seit der Hermannsschlacht bis auf Napoleon alle Angriffe bestanden hatte) auf Jahrhunderte wieder begründet, hat wegen ihrer Ausdehnung noch keinen Namen erhalten, kaum wissen wir bis jetzt die Namen der einzelnen Orte, bei denen gefochten worden ist; noch fehlen die genaueren Nachrichten von der böhmischen Armee, die auch den 17ten im Kampfe gewesen seyn soll. Bis die Helden des Kampfes den Namen der Schlacht bestimmt haben, wollen wir sie die Deutsche Schlacht nennen und alle Nachrichten sammeln, die vereinigt eine Anschauung dieser reichen und mächtigen Tage geben können, wir nennen sie die Deutsche Schlacht nicht darum allein, weil sie die Freiheit der deutschen Völker von französischer Politik erstreitet, sondern weil in dem Feuer derselben der deutsche Volksgeist sich läuterte und zeigte, und das ewige Gesetz, das Völker einer Abkunft und Sprache verbündet, in dem Uebergange der meisten deutschen Streiter zum deutschen Heere glänzend bewährt wurde.7
Um die Tragweite für die Benutzung des Wortes „Völkerschlacht“ zu ermessen, muß man wissen, daß der Bericht Müfflings erst drei Tage später, also am 25. Oktober 1813 im Preußischen Correspondenten gedruckt ist, immerhin noch einen Tag früher als in den beiden großen konkurrierenden Berliner Zeitungen, der Vossischen und der Spenerschen, die den Bericht erst am 26. Oktober jeweils in einer Beilage druckten. Die Schlesische Zeitung hat den Bericht noch einen Tag später, am 27. Oktober, gebracht, und in der Leipziger Zeitung steht er erst am 10. November. Das heißt also, daß Arnim das Wort „Völkerschlacht“ schon drei Tage vor der Veröffentlichung von Müfflings Artikel in seinem eigenen benutzt. Ob er den Bericht Müfflings zu diesem Zeitpunkt schon in Händen hatte, ist nicht bekannt, zumindest jedoch unwahrscheinlich. Damit ist zunächst die Behauptung, Müffling hätte als erster dieses Wort publiziert, widerlegt. Ob der von Steffens gut dreißig Jahre später veröffentlichte Ausspruch Müfflings beim Anblick der Schlacht wahr oder nur eine Projektion ist, kann wegen des Fehlens weiterer Quellen nicht mehr bewiesen werden. Die viel weitergehende Frage ist jedoch, wie kommt es, daß der Begriff fast zeitgleich von zwei Männern benutzt wird, die nachweislich nichts mit einander zu tun hatten. Schon Gombert stellt sich die Frage, wie Müffling auf diesen Begriff gekommen ist. Wir müssen nun weitergehend fragen, wie Arnim und Müffling auf diesen Begriff kamen.
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Der Preußische Correspondent. Nr. 117 vom 22.10.1813, S. 1.
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Arnim benutzt zu Beginn seines Artikels das Wort „Völkerschlacht“ zunächst nur als Kennzeichnung dieses Ereignisses. Diese sehr sprechende Bezeichnung war ein durchaus ungewöhnliches Wort und findet sich in keinem Lexikon oder Wörterbuch der Zeit. Weder Johann Christoph Adelungs Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von 1801 noch Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der Deutschen Sprache von 1811 enthalten es. Arnim dagegen hatte es schon einmal in einem Brief vom 14. September 1813 an seinen Schwager Friedrich Carl von Savigny benutzt: „und die grosse Völkerschlacht kann immer noch an der Porta Westphalica, wie prophezeiht worden, gegen Ende dieses Jahres geliefert werden.“8 Härtl hat in seiner Veröffentlichung der Briefe Arnims an Savigny dieses „wie prophezeiht worden“ unkommentiert stehen lassen, mich hat es stutzig gemacht, weil mir nicht klar war, wer da was „prophezeiht“ hat. Und siehe da, eine „Völkerschlacht“ hat eine regionale Tradition in Westfalen. Denn dort gab es zu Arnims Zeiten eine Sage oder Prophezeiung von der „Völkerschlacht der Zukunft am Birkenbaume“9 Diese Prophetie ist erstmals 1701 in Köln in lateinischer Sprache gedruckt erschienen. Danach sollte „am Birkenwäldchen nahe bei Budberg“ eine Schlacht ausgetragen werden. „Auf der einen Seite werden stehen Russland, Schweden und der ganze Norden, auf der anderen Seite Frankreich, Italien, Spanien und der ganze Süden.“10 Diese Sage ist von Ferdinand Freiligrath über Friedrich Wilhelm Grimme bis hin zu Erich Mühsam literarisch verarbeitet worden. Und noch heute gibt es einen touristischen Radrundweg zwischen Werl und Unna, der sich auf die zukünftige Schlacht am Birkenbaume bezieht. Auf diese Sage von einer endzeitlichen Schlacht spielt Arnim in seiner Äusserung im Brief an Savigny an. Woher er Kenntnis von dieser Sage hatte, konnte ich bisher nicht herausfinden, auch nicht, ob der Begriff „Völkerschlacht“ aus einer fremden Quelle stammt oder von Arnim eingeführt worden ist. Vielleicht haben ihn Joseph Görres oder die Brüder Grimm damit bekannt gemacht. Oder er ist im Zusammenhang mit seinen umfangreichen Recherchen für sein nicht vollendetes Drama über die Wiedertäufer darauf gestoßen. Auffällig ist, daß die erste umfassende Publikation über diese Sage von Friedrich Zurbonsen im Jahre 1907 etwa zeitgleich mit Gomberts und Ladendorfs Veröffentlichungen den Titel Die Völkerschlacht der Zukunft am Birkenbaum trägt, obwohl dieses Wort in keiner der von ihm zitierten älteren Quellen benutzt wird. Im Zusammenhang mit Müfflings Benutzung des Wortes stellt sich Gombert die Frage, ob dieser vielleicht im Rückgriff auf eine historische
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Heinz Härtl: Arnims Briefe an Savigny 1803–1831. Weimar: Herrmann Böhlaus Nachfolger 1982, S. 70. Vgl. das gleichnamige Buch von Friedrich Zurbonsen von 1907, nachgedruckt im Bohmeier Verlag, Leipzig 2008, wonach ich zitiere. Ebd., S. 25.
Wie die „Völkerschlacht“ zu ihrem Namen kam
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„Völkerschlacht“, den Zusammenstoß der Völker auf den katalaunischen Feldern 451 n. Chr., dieses Wort prägt. So benutzt der spätantike Geschichtsschreiber Jordanes in seinem Werk De origine actibusque Getarum den Begriff „in fortissimarum gentium bello“ im Zusammenhang mit der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern. Wilhelm Martens übersetzt das 1913: „In diesem hochberühmten Kampf der tapfersten Völker“.11 Müffling und Arnim haben wahrscheinlich Kenntnis von diesem Ereignis gehabt, ob sie bei der Benutzung des Wortes daran gedacht haben, ist natürlich unbekannt. Soweit zum Ursprung dieser Bezeichnung einer Schlacht, von der StefanLudwig Hoffmann noch 1995 meint, [d]aß die Leipziger Völkerschlacht von 1813 zu den großen Wendepunkten der europäischen Geschichte gehört, steht außer Zweifel. [...] Umstritten ist jedoch bis heute, welchen Anteil eine nationale Begeisterung ‚von unten‘ am militärischen Sieg über Napoleon hatte. In der Namensgebung der ‚Völkerschlacht‘ wird dieser Konflikt semantisch angezeigt. Während Oberst von Müffling, der 1813 das neue Wort in den Armeebericht einschleuste, es sicher noch in der alten Bedeutung verwendete, mit ‚Völkern‘ die Truppen absolutistischer Herrscher zu bezeichnen, wurde es von anderen Zeitgenossen als Schlacht der um nationale Emanzipation von Napoleon ringenden ‚Völker‘ Europas umgedeutet.12
Das scheint angesichts der Verwendung des Wortes durch Arnim doch eher unwahrscheinlich. Auch nach der ersten Benutzung des Wortes fand es nur langsam Aufnahme in den allgemeinen Sprachschatz der Deutschen. Theodor Heinsius führt es in seinem Volksthümlichen Wörterbuch der Deutschen Sprache von 1822 noch nicht auf. Erst Johann Christian August Heyse schreibt 1844 in seinem Handwörterbuch der deutschen Sprache: „die Völkerschlacht, eine große, entscheidende Schlacht, von den Haupt-Streit-Kräften verschiedener Völker geliefert“13 Das Grimmsche Wörterbuch verweist lediglich auf ein nicht näher gekennzeichnetes Fliegendes Blatt von 1813. In Trübners Deutschem Wörterbuch von 1956 heißt es: „Das Wort Völkerschlacht wurde kurz vor dem Beginn des Kampfes am 16.10.1813 geprägt.“14 Die ungenannte Quelle hierfür wird Henrik Steffens Bemerkung in seinen Erinnerungen sein. Und in der Deutschen Wortgeschichte von Maurer und Rupp
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Jordanis Gotengeschichte nebst Auszügen aus seiner Römischen Geschichte Übersetzt von Wilhelm Martens. 3. neubearbeitete Aufl. Leipzig: Verlag der Dykschen Buchhandlung 1913 (Die Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit 5), S. 71. Stefan-Ludwig Hoffmann: Mythos und Geschichte. Leipziger Gedenkfeiern der Völkerschlacht im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Etienne François, Hannes Siegrist und Jakob Vogel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 110), S. 111–132, hier S. 112. Johann Christian August Heyse: Handwörterbuch der deutschen Sprache. Magdeburg Heinrichshofen 1849, Zweiter Theil, zweite Abteilung, Stehen bis Z., S. 1680. Karl Trübner: Deutsches Wörterbuch. Berlin: de Gruyter 1956. Bd. 5, S. 693.
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heißt es: „Der Ausdruck Völkerschlacht finde sich erstmalig im Generalstabsbericht des preußischen Obersten v. Müffling (19.X.1813).“15 In den weiteren Quellen kurz nach der Schlacht taucht das Wort „Völkerschlacht“ auch nur gelegentlich auf. Die Spenersche Zeitung benutzt den Begriff erstmals am 26. Oktober 1813 im Zusammenhang mit der Berliner Siegesfeier am 24. Oktober 1813. Dort heißt es: Es „war [...] die ganze Einnahme des überfüllten Opernhauses den in der Völker-Schlacht bei Leipzig verwundeten Siegern bestimmt.“16 In der Leipziger Zeitung wird der Begriff erstmals am 30. Oktober 1813 benutzt: „Leipzig, den 29sten October. Nächsten Sonntag, den 31ten October wird in den hiesigen Kirchen ein allgemeines Dankfest für den errungenen Sieg in der großen Völkerschlacht bey Leipzig und für die dadurch bewirkte Befreyung von der Knechtschaft, die sieben Jahre lang uns zu Boden drückte, gefeyert.“17 Allgemein durchsetzen tat sich das Wort jedoch zunächst nicht. So schreibt Ernst Moritz Arndt, deutsch-nationaler Denker und Patriot, 1813 nach der Schlacht das Gedicht Die Leipziger Schlacht. Dort heißt es in der dritten Strophe: „Es kamen Völker aus aller Welt, / Die zogen gegen Franzosen aus“.18 Das Wort „Völkerschlacht“ kommt bei ihm nicht vor. Der Generalfeldmarschall Neithardt von Gneisenau benutzt in seinen Briefen zunächst das Wort „große Schlacht“ am 19. Oktober an seine Frau19 und am 21. Oktober an Graf Münster: „Die große ungeheure Schlacht ist gefochten.“ Ebenfalls am 21. Oktober an General Lestocq schreibt er: „Es war dies eine Weltschlacht, wie die Geschichte nur sehr wenige kennt.“20 Arnim, der bis zum 31. Januar 1814 Herausgeber des Preußischen Correspondenten war, verwendet das Wort auch noch in den letzten Tagen seiner Herausgeberschaft, so schreibt er am 22. Januar 1814: Verkündung des Landsturms für das General-Gouvernement Frankfurt. Die drei hohen verbündeten Mächte, Oesterreich, Rußland und Preussen, in der aus eigener glorreichen Erfahrung hervorgegangenen Ueberzeugung; daß nur durch Hülfe allgemeiner Volksbewahrung der Kampf gegen Frankreich mit unbezweifelhaftem Erfolge durchgeführt werden könne, haben nach der Völkerschlacht bei Leipzig, wo durch ihrer Heere heldenmüthigen Kampf der Name und die Freiheit von Deutschland Europa’s großem Unterdrücker abgerungen worden, beschlossen: daß überall, ausser den stehenden Truppen und Freiwilligen, auch Landsturm und Landwehr aufgeboten werden solle.21
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Friedrich Maurer, Heinz Rupp: Deutsche Wortgeschichte. Bd. 2. Berlin: de Gruyter 1974, S. 405. Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen. Berlin: Verlag der Haude- und Spenerschen Buchhandlung. Nr. 128, S. 6. Leipziger Zeitung. Nr. 208, S. 7. Ernst Moritz Arndt: Gedichte. 2. Aufl. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1865, S. 276. Georg Heinrich Pertz: Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau. 3. Band, Berlin: Georg Reimer 1869, S. 473. Ebd., S. 484. Der Preußische Correspondent. Nr. 12 vom 22.1.1814, S. 2.
Wie die „Völkerschlacht“ zu ihrem Namen kam
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Und am 31. Januar 1814 über die Befreiung Wittenbergs: „doch begann die Blokade der Stadt auf dem linken Elbufer erst am 28. Okt. nach der Völkerschlacht bei Leipzig.“22 Während die Alliierten noch in Frankreich kämpften, erschienen in Deutschland schon die ersten Bücher über die Völkerschlacht. In einer Buchanzeige in der Spenerschen Zeitung vom 5. Februar 1814 heißt es: Darstellung der großen universalhistorischen Begebenheiten im Monat Oktober 1813. – Zugleich Worte des Vertrauens an die Deutschen und ihre Fürsten. Im Feldlager niedergeschrieben. Preis 10 Gr. Diese Darstellung jener ewig denkwürdigen Tage des Oktobers 1813 beruhet auf den offiziellen Berichten der verschiedenen Armeekorps und auf zuverlässigen Mittheilungen angesehener Kriegsmänner. Als Gegenstück der kleinen Schrift: ‚Leipzig während der Schreckenstage der Schlacht im Monat October 1813‘ soll sie dem deutschen Publikum einen genauen und zuverlässigen Bericht über diese großen Weltbegebenheiten mittheilen. Jene erzählt uns, was in und nahe bei der Stadt vorgefallen ist, diese aber giebt uns Nachrichten über die ganzen Operationen vor, während und nach der großen Völkerschlacht.23
Und in zwei weiteren Anzeigen in der Spenerschen Zeitung vom 24. Februar 1814, also etwa vier Monate nach der Schlacht, werden folgende Bücher angekündigt: „Leipzigs Geschichte seit dem Einmarsch der Verbündeten im April 1813, bis zur großen Völkerschlacht im October von L. Hußell.“ Sowie einige Zeilen darunter: „Von Joh. Fr. Oswald: Gedicht auf die Völkerschlacht bei Leipzig.“24 Savigny schreibt in einem Brief vom 5. März 1814 an Friedrich Creuzer: „Die Schlacht bey Leipzig hat unter andern auch vielen schriftstellerischen, auf den Code Nap. gebauten, Ruhm getödtet, Ad vocem Leipzig empfehle ich Ihnen: Auch eine Ansicht von der Völkerschlacht bey Leipzig, Lpz. 1813. Bewundernswürdig klar, verständig und frisch“25 Das Wort „Völkerschlacht“ war jetzt also in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, aber die offizielle Benennung war nach wie vor Schlacht bei Leipzig. Zur Einjahresfeier der Schlacht wird in den offiziellen Berichten immer nur von der „Leipziger Schlacht“, der „Schlacht bei Leipzig“ oder der „Schlacht von Leipzig“ geschrieben. Auch die Leipziger Zeitung verwendet den Begriff Völkerschlacht nicht, wenigstens nicht in den offiziellen Nachrichten, in einer Korrespondentenmeldung wird er jedoch benutzt: „Frankfurt, den 19ten Oct. Der Erinnerungstag der in Deutschlands Jahrbüchern unvergeßlichen Völkerschlacht bey Leipzig ward auch hier mit den dankbarsten Empfindungen und mit der größten Rührung gefeyert.“26
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Ebd. Nr. 17 vom 31.1.1814, S. 2. Berlinische Nachrichten. Nr. 16, S. 7. Ebd. Nr. 24, S. 8. Adolf Stoll: Friedrich Karl v. Savigny. Bd. 2. Berlin: Carl Heymanns 1929, S. 99. Leipziger Zeitung Nr. 211 vom 26.10.1814, S. 3004.
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Die Buchproduzenten dieser Zeit setzen jedoch weiterhin auf die Schlagkraft des Wortes. In einer weiteren Buchanzeige in der Spenerschen Zeitung vom 29. Oktober 1814 wird in einer „Bücher-Anzeige“ angekündigt: Leipzig, den 18. Oktober 1814. So eben ist bei uns erschienen und in den meisten Buchhandlungen für 1 RThlr. 15 Gr. Zu haben: Die Siegesplätze der Völkerschlacht oder Ansichten der Dörfer bei Leipzig merkwürdig geworden durch die Schlacht am 16ten bis 19ten Oktober 1813. Aufgenommen und gestochen von J. J. Wagner, mit historischen Erläuterungen von L. Hußell.27
Und am 25. Oktober 1814 enthält die Spenersche Zeitung eine „ConcertAnzeige“ zum 27. Oktober 1814. Im zweiten Teil des Konzerts wird nach einer Ouvertüre aus Cortez von Spontini angekündigt „Die Völkerschlacht bei Leipzig, ein Heldengesang von Heinrich Schmidt, Prediger in Teltow, mit musikalischen Zwischensätzen, als Jahresfeier des befreiten deutschen Vaterlandes, gesprochen von Hrn. Beschort. Textbücher von der Völkerschlacht sind am Eingange für 6 Gr. Courant zu haben.“28 Und unter „Vermischte Nachrichten“ steht: „Der Vorschlag des Herrn von Kotzebue, den ungeheuern Granitfelsen bei Reichenbach im Odenwalde, den schon die Römer zu behauen angefangen hatten, als Denkmal der Völkerschlacht nach der Gegend von Leipzig zu versetzen, hat in Wien vielen Eingang gefunden.“29 Auch zwei Jahre nach der Schlacht heißt es in der Spenerschen Zeitung: „Die Jahrestage der Völkerschlacht nahen heran, und wer sich jener ewig denkwürdigen Begebenheiten lebhaft erinnern will, dem können wir folgende zwei Werkchen als eine treue Darstellung derselben mit Recht empfehlen.“30 Und eine Woche später in derselben Zeitung: „Beschluß der diesjährigen TurnUebungen. An dem denkwürdigen Tage der Völkerschlacht bei Leipzig, den 18ten Oktober, wurden die hiesigen Turn-Uebungen auf dem dazu eingerichteten Platze in der Haasenheide [...] beschlossen.“31 Der Schriftsteller Adolf Freiherr von Seckendorff veröffentlichte 1814/15 Die Resultate meines Planes, der Völkerschlacht bey Leipzig ein Denkmal zu setzen. Mit Kupferstichen, in zwei Lieferungen erschienen. Leipzig 1814/15, die auch noch einmal in seinen sämtlichen Schriften, Band 1, von 1816 abgedruckt wurden. Der Politiker Freiherr vom Stein schreibt in seinen 1821 bis 1823 verfaßten Lebenserinnerungen: „Unterdessen gungen die Kriegsoperationen ihren raschen Gang, und die große entscheidende Völkerschlacht erfolgte den 16., 18. und
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Berlinische Nachrichten. Nr. 130, S. 6. Ebd. Nr. 128, S. 6. Ebd. Nr. 129 vom 27.10.1814, S. 4. Ebd. Nr. 123 vom 14.10.1815, Beilage S. 1. Ebd. Nr. 126 vom 21.10.1815, S. 5.
Wie die „Völkerschlacht“ zu ihrem Namen kam
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19. Oktober bei Leipzig – ich ging sogleich hin den 20. und fand hier alles in dem höchsten Jubel.“32 Der Pädagoge und Historiker Karl Friedrich von Klöden dagegen schreibt in seinen erst 1874 erschienenen Jugenderinnerungen: „Endlich wurde vom 16. bis 19. Oktober die Schlacht bei Leipzig geliefert.“33 Aus diesen ausgewählten Beispielen kann man schließen, daß der Begriff „Völkerschlacht“ zunächst überwiegend als allgemeine Bezeichnung und nicht als Eigenname für die Schlacht benutzt wurde. Johann Caspar Friedrich Manso schreibt in seiner Geschichte des Preußischen Staates: „In solcher Art endete am 19ten October die Schlacht von Leipzig, die wohl mit Recht eine allgemeine Völkerschlacht heißen mag, da in ihr der größte Theil der Europäischen und kein unbeträchtlicher der Asiatischen Völkerschaften gegen einander gestanden hatten.“34 Zum 25 jährigen Jahrestag schreibt die Leipziger Zeitung: „Leipzig, 18.Oct. (Privatmitth.) Heute, am 25. Jahrestag der Schlacht bei Leipzig, begaben sich mehre Einwohner Leipzigs nach dem 1 ½ Stunden entfernten Meisdorf“35. Doch sechs Tage später in einer Meldung aus Hamburg heißt es in er gleichen Zeitung: „Hamburg, 18. Oct. Das Andenken der Leipziger Völkerschlacht, der vor 25 Jahren Europa seine Erlösung, Deutschland seine Wiedergeburt verdankte, ist hieselbst am heutigen Tage mit einer ungewöhnlichen Festlichkeit verherrlicht worden.“36 Auch mehr als dreißig Jahre später, in der Rede zur Weihe des Denkmals auf dem Monarchenhügel bei Liebertwolkwitz am 19. Oktober 1847, gehalten von Christian Gottlob Leberecht Großmann und gedruckt bei Fischer in Leipzig erschienen, wird lediglich auf Seite 4 vom „Völkerkampf“ geschrieben. Und ein Jahr später steht in dem Band Die Denkmäler auf dem Schlachtfelde von Leipzig (hrsg. von C. Peters) zu dem Bild von der Quandtschen Tabaksmühle: „Hier weilte Napoleon am 18. October 1813, die Kämpfe der Völkerschlacht beobachtend.“ In den folgenden Jahren geriet das Ereignis publizistisch in den Hintergrund. So schreibt der Berliner Korrespondent in der Leipziger Zeitung vom 21. Oktober 1853: „Berlin, 19. October. Die Erinnerung an den blutigen Schlachttag, mit dem der Name Leipzigs so eng verknüpft ist, tritt zwar bei uns mehr und mehr in den Hintergrund“37 Immerhin heißt es einen Tag später in einer außerordentlichen Beilage der Leipziger Zeitung: „Leipzig, 19. October. Der 18. und 19. October riefen auch
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Lebenserinnerungen und Denkschriften des Freiherrn vom Stein. Mit einem Nachwort von Mario Krammer. Berlin: Verlags-Gesellschaft, o. J., S. 47. Karl Friedrich von Klödens Jugenderinnerungen. Nach der ersten von Max Jähns besorgten Ausgabe neu bearbeitet von Karl Koetschau. Leipzig: Insel-Verlag 1911, S. 353. Johann Caspar Friedrich Manso: Geschichte des Preußischen Staates. Frankfurt a. M.: Verlag der Hermannschen Buchhandlung 1820. Bd. 3, S. 225. Leipziger Zeitung. Nr. 251 vom 19.10.1838, S. 3665. Ebd. Nr. 256 vom 25.20.1838, S. 3748. Ebd. Nr. 250, S. 5217.
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in diesem Jahr, dem 40. nach der Völkerschlacht, mehrere Bewohner Leipzigs und der Umgebung auf das Schlachtfeld und zu seinen Denkmalen“38 Und zum 50. Jahrestag ist der Leipziger Zeitung vom 18. Oktober 1863 immerhin ein Faksimile39 des Berichtes aus dem Hauptquartier Rötha vom 19. Oktober 1813 beigefügt und in einem sehr ausführlichen, fast dreiseitigem Bericht heißt es zwei Tage später: Deutschland. Sachsen. Leipzig, 19. October. Wiederum hat sich unsere Stadt in Festschmuck gehüllt, um eine Feier ernster, inhaltschwerer Bedeutung zu begehen. In den fünfzig Jahren, welche seit den Tagen der Leipziger Völkerschlacht verronnen sind, hat kein auswärtiger Feind deutsche Grenzen durchbrochen.40
Auch Heinrich Beitzke tut sich in seiner 1859 erschienenen Geschichte der Deutschen Freiheitskriege schwer mit dem Begriff Völkerschlacht. Er schreibt im Kapitel 1. Die Leipziger Schlacht am 16.,17.,18. und 19. October 1813. Wie kein Völkerkampf, von dem die Geschichte berichtet, dem Kriege, dessen entscheidende Wendung wir uns nähern, sich an Bedeutung vergleichen kann, so ist namentlich der Leipziger Schlacht keine andere Entscheidungsschlacht in der Weltgeschichte ebenbürtig an die Seite zu stellen.41
Daß sich jedoch die Bezeichnung langsam durchsetzte, zeigt zum Beispiel der Titel von Ludwig Hussels 1814 erschienenen Buch Leipzig während der Schreckenstage der Schlacht im Monat October 1813, dessen 1863 von Edward Burckhardt veröffentlichte 4. Auflage inzwischen in Leipzig während der Schreckenstage der Völkerschlacht umbenannt worden war. Noch Meyers Großes Konversations-Lexikon (Band 20 von 1908) schreibt unter dem Stichwort „Völkerschlacht, die Schlacht bei Leipzig 1813 (s. Bd. 12, S. 386).“ Erst mit der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig zum 100-jährigen Jubiläum der Schlacht im Jahre 1913 hatte das Wort, das Arnim als erster publiziert hat, sich durchgesetzt.
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Ebd. Nr. 251 vom 22.10.1853, S. 5256. Ebd. Nr. 248 vom 18.10.1863. Ebd. Nr. 249 vom 20.10.1863, S. 5215. Heinrich Beitzke: Geschichte der Deutschen Freiheitskriege in den Jahren 1813 und 1814. Berlin: Duncker und Humblot 1859. Bd. 2, S. 457.
Gian Franco Frigo
Von der spekulativen Rolle des Lichts in Schellings Naturphilosophie
I.
Licht als ideelles Prinzip in der Natur
Ein Ausgangspunkt Schellings in den Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) ist die Feststellung, daß die „bisherige theoretische Philosophie, (unter dem Namen Metaphysik) […] eine Vermischung ganz heterogener Principien [war]. Ein Theil derselben enthielt Gesetze, welche zur Möglichkeit der Erfahrung gehören, (allgemeine Naturgesetze,) ein anderer Grundsätze, die über alle Erfahrung hinausreichen, (eigentlich metaphysische Principien).“1 Er behauptet hingegen, daß der Mensch autonom der Natur gegenüber handeln kann, daß er sie nach Zweck und Ziel bestimmen kann, sie vor seinen Augen handeln läßt und sie sozusagen in ihren Operationen inspiriert. Diese Verfahrensweise überwindet alle Dualismen von Anschauung versus Verstand, denn beide sind ‚fürsich‘ nur „Schattenrisse der Wirklichkeit.“2 Wirklichkeit aber, die ihren Begriff verdient, entsteht sozusagen symbiotisch aus ‚objektiver‘ und einer freien, transzendental-subjektiven Tätigkeit. Nur an dieser „ursprünglichen Kraft meines Ich bricht sich die Kraft einer Außenwelt […], wird die ursprüngliche Tätigkeit in mir erst am Objekte zum Denken, zum selbstbewussten Vorstellen.“3 Kurzum, erst im „Moment meines Selbstbewusstseins thut sich die wirkliche Welt vor mir auf. Der Glaube an die Wirklichkeit außer mir entsteht und wächst mit dem Glauben an mich selbst.“4 Schelling verknüpft also Tätigkeit mit Objektivität. Und daraus entsteht jenes neue identitätsphilosophische Diktum „Der freie Mensch allein weiß, dass
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Friedich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur. Hrsg. von Manfred Durner unter Mitwirkung von Walter Schieche. In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs und Hermann Krings. Reihe I: Werke. Stuttgart, Bad Cannstatt: FrommannHolzboog 1976ff. (künftig: AA: I), hier AA: I. Bd. 5, S. 61. Friedrich Wilhelm Joseph Schellings sämtliche Werke. Hrsg. von Karl Friedrich August Schelling. Bd. I–XIV. Stuttgart und Augsburg: Cotta 1856–1861 (künftig: SW). Hier: SW: Bd. II. S. 215. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, SW: Bd. II. S. 217. Ebd., S. 217f.
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eine Welt außer ihm ist; dem andern ist sie nichts, als ein Traum, aus dem er niemals erwacht.“5 Er setzt also eine richtige Herrschaft über die tote Materie ins Werk, eine Herrschaft, die ihm zusammen mit der Vernunft und der Freiheit ermöglicht wurde. Die Ausübung dieser Herrschaft ist jedoch nur dank einer Natur möglich, die es ihm gestattet, sich in eine Beziehung der Gegenüberstellung und Auseinandersetzung mit ihren Kräften zu stellen. In der Natur – der sozusagen ‚objektiven Seite‘ – halten sich die entgegengesetzten Kräfte der Expansion und der Repulsion im Gleichgewicht, denn, wenn eine über die andere dominieren würde, würde die Natur das zerstören, was sie bisher hervorgebracht hat, wäre Objektives wie Subjektives gleichermaßen ruiniert. Die Geschicklichkeit des Menschen besteht darin, dieses Gleichgewicht zu konzeptualisieren, um in die Geheimnisse der Natur eindringen und die Elemente, die sie bilden, unterscheiden zu können. Die Analyse, der die menschliche Wissenschaft die Natur unterzieht, hat ein „destruktives“ Element, weil sie versucht, diejenigen Kräfte freizusetzen, die im Naturzustand immer unauflöslich gebunden sind. Solche Analyse gestattet uns, den Naturprozeß in statu nascenti zu erfassen.6 Der gewöhnlichste Prozeß, in dem die Natur schafft und zerstört, ist die Verbrennung. Die Veränderung, der ein Körper bei der Verbrennung unterliegt, geschieht von innen her: Es ist also etwas Chemisches; aber bei jedem chemischen Prozeß sind mindestens zwei Elemente beteiligt, zwischen denen wir eine Anziehung annehmen müssen. Diese ist normalerweise Anziehung zwischen einem Körper und der Luft, die ihn umgibt (Sauerstoff, Lebensluft) und sie zeigt sich als Verwandtschaft zwischen dem Grundstoff des Körpers und dem der Luft.7 In diesem Zusammenhang, in dem, wie Schelling schreibt, „[d]as neue System der Chemie das Werk eines ganzen Zeitalters ist, breitet es seinen Einfluß auf die übrigen Theile der Naturwissenschaft immer weiter aus“,8 findet eben auch die Behandlung des Lichtes statt. Nach Schelling nämlich müssen die Entdeckungen der neuen Chemie schließlich die Elemente eines neuen Natursystems ergeben, das nicht die Schwierigkeiten aufweist, die die Annahme eines zusammengesetzten Prinzips,
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Ebd., S. 218. Vgl. AA: I. Bd. 5, S. 111. Schelling bezieht sich dabei auf die Arbeiten von Christoph Girtanner: Anfangsgründe der antiphlogistischen Chemie. 2. verb. u. verm. Aufl. Berlin: Unger 1795 und Antoine François de Fourcroy: Chemische Philosophie oder Grundwahrheiten der neuern Chemie auf eine neue Art geordnet. Aus dem Französischen übersetzt von D. Johann Samuel Traugott Gehler. Leipzig: Crusius 1796. AA: I. Bd. 5, S. 112.
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wie die des Phlogistons,9 bereitete, das nach Buffon eher eine Schöpfung der Chemiker war als der Natur.10 In einem Zusatz von der zweiten Ausgabe von 1803 greift Schelling auf den mythologischen Feuerbegriff der Alten zurück, den der Göttin Vesta (Hestia), um zu bemerken, daß sie damit das Feuer „nicht anders als die reine in der Körperlichkeit durchbrechende Substanz, oder dritte Dimension“,11 die aus dem chemischen Prozeß resultierende, auffaßten. Eine Ansicht, die uns nützlich ist, um den Prozeß der Verbrennung im Lichte der neuen Entdeckungen zu begreifen. Wenn der chemische Prozeß das dynamische Element innerhalb der Natur darstellt, weil er das Entstehen und Vergehen aller Formen erklärt, dann stellt der Verbrennungprozeß das bedeutendste und höchste Moment dar.12 Die Naturphänomene zeigen uns fast immer die Gleichzeitigkeit, ja Nähe von Licht und Wärme. Handelt es sich dabei um das gleiche Phänomen? Oder sind sie verschieden? Ist zum Beispiel das eine die Ursache des anderen? Sind es verschiedene Grade des gleichen Prozesses oder seine verschiedenen Momente? Das Licht erwärmt, aber ob es an sich warm ist, das können wir nicht bestimmen. Die Experimente von Marc-Auguste Pictet (1752–1825),13 Horace Bénédict de Saussure (1740–1799)14 und von Jean André Deluc (1727–1817)15 schienen zu beweisen, daß je heller die Sonnenstrahlen sind, desto geringer ist ihre Fähigkeit zu erwärmen und umgekehrt. Die Hypothese, die man daraus
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Tatsache ist, daß die „alte Physik […] sich das Phlogiston nicht als ein zusammengesetztes, sondern als ein einfaches Princip [dachte]“, und dies wäre nach Schelling „der klarste Beweis, daß sie sich selbst außer Stande sah, die Phänomene des Verbrennens zu erklären.“ (AA: I. Bd. 5, S. 117). Schelling bezieht sich auf Georges-Louis Leclerc de Buffon: Histoire naturelle, générale et particulière. Tome VI. Introduction à l’histoire des minéraux. Des élemens. Deux-Ponts 1785, S. 51. In: Oeuvres complètes. Tome I. Paris 1835, S. 314. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft (1797). 2. Aufl. 1803. SW: Bd. II, S. 82. Wie Schelling schreibt: „Der chemische Prozeß überhaupt ist die Totalität des dynamischen, worin alle Formen des letzten zusammentreffen und sich ausgleichen. Der Verbrennunsprozeß ist selbst wieder die höchste und lebendigste Erscheinung des chemischen überhaupt, wo wir die Bedeutung des letzten im Feuer sogar ausgesprochen sehn.“ (SW II, S. 82–83.) Und Schelling verweist hier auf die § 112–134 der Darstellung meines Systems der Philosophie. In: Zeitschrift für spekulative Physik. Bd. 2. Heft 2. Jena und Leipzig: Christian Ernst Gabler 1801. Vgl. Marc-Auguste Pictet: Essai sur le feu. Genf 1790; deutsch: Versuch über das Feuer. 1790, § 85. Das Experiment über die verschiedene Erwärmung der Körper durch das Sonnenlicht wird in Buffons ziterten „Histoire des minéraux. Des élemens“ (S. 29 Anm.) mitgeteilt. Schelling bezieht sich hier auf Jean André Deluc: System über die Wärme, nebst einigen neuen Beobachtungen von Herrn Pictet in Genf. In: Sammlungen zur Physik und Naturgeschichte von einigen Liebhabern dieser Wissenschaften. Bd. 2. Stück 6. Leipzig: Dyck 1782, S. 643–680, und Untersuchungen über die Atmosphäre und die zu Abmessung ihrer Veränderungen dienlichen Werkzeuge. Aus dem Französischen übersetzt. Theil 1. Leipzig: Müller 1776, S. 192f.
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ziehen konnte, ist, daß Licht und Wärme nicht verschieden waren, aber daß die Wärme eine Veränderung der ersteren ist.16 Zur Zeit Schellings meinte man, daß die Wärme entweder in totaler Kohäsion mit einem Körper (latente Wärme) erscheinen oder sich davon als eigenständiges Phänomen lösen konnte. Schelling nimmt einen dritten Wärmezustand an, in dem diese ganz autonom wird und andere Eigenschaften hat: dieser wäre das Licht: „Licht als freye Wärme, oder Wärme als gebundenes Licht betrachtet.“17 Im Verbrennungsprozeß bilden sich Wärme und Licht zusammen, die aber zugleich ihre Autonomie zeigen, die bei den phosphoreszierenden Phänomenen viel deutlicher wird, bei denen die Zersetzung Licht, nicht Wärme produziert. Die Flamme, die das Verbrennen einiger Körper begleitet, kann als „Übergang des Lichts aus dem Zustande der Sichtbarkeit in die Unsichtbarkeit“18 betrachtet werden. Außerdem beziehen sich Licht und Wärme auf zwei verschiedene Sinne: „das freygewordene Licht offenbart sich dem geistigern Organe, während das gebundne nur auf dem niederen Sinn zu wirken vermag.“19 Das Licht verbreitet sich mit sehr großer Geschwindigkeit ins Unendliche; die Wärme verbreitet sich nur in einen beschränkten Umkreis. In der Chemie und der Physik haben wir es mit dem Licht als Materie zu tun, unabhängig davon, was seine Natur auf einem höheren Niveau der Wissenschaft sei.20
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Vgl. AA: I. Bd. 5, S. 120f. Wie Manfred Durner in seiner ausführlichen Untersuchung bemerkt: „Ein wichtiger Diskussionspunkt in der Naturforschung des 18. Jahrhunderts war […] die Frage, wie das Verhältnis von Wärme und Licht – welches im Gefolge der Newtonschen Emissionstheorie von den meisten Naturforschern gleichfalls materiell aufgefaßt wurde – zu denken sei. Während Crawford der Auffassung war, daß Licht und Wärme durch ein und dieselbe Ursache hervorgebracht werden, Scheele beide als Zusammensetzungen aus Phlogiston und ‚Feuer-Luft‘ [=Sauerstoff] betrachtete und ihren Unterschied lediglich in der Differenz des quantativen Verhältnisses dieser Bestandteile sah, ging z. B. Macquer – eine Vorstellung von Descartes aufgreifend – davon aus, daß durch den Einfluß des Lichtes die kleinsten Körperteilchen in Bewegung versetzt werden und daraus wiederum die Wärmephänomene resultieren.“ (Manfred Durner: Theorien der Chemie. In: Schelling: Historisch-kritische Ausgabe. Manfred Durner/Francesco Moiso/ Jörg Jantzen: Ergänzungsband zu Werke: Band 5 bis 9. Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797–1800. Stuttgart: Frommann-Holzboog 1995, S. 105f. – Das bezieht sich auf: Isaac Newton: Optics (1704). In: Opera quae extant omnia. Commentariis illustrabat Samuel Horsey. Bd. 4. London 1782, S. 238–241; Adair Crawford: Experiments and observations on animal heat, and the inflammation of combustible bodies. 2. Aufl. London: Johnson 1788, S. 12; Carl Wilhelm Scheele: Chemische Abhandlung von der Luft und dem Feuer. Nebst einem Vorbericht von Torbern Bergman. Upsala und Leipzig: Swederus, Crusius 1777, S. 82–84; Pierre Joseph Macquers Artikel „Feuer“, „Verbrennung“. In: Chymisches Wörterbuch oder Allgemeine Begriffe der Chymie nach alphabetischer Ordnung. Aus dem Französischen nach der zweyten Ausgabe übersetztz und mit Anmerkungen und Zusätzen vermehrt von D. Johann Gottfried Leonhardi. 6 Teile. Leipzig: Weidmann 1781–1782, hier Teil 2, S. 259; Teil 5, S. 352–356. AA: I. Bd. 5, S 121. Ebd., S. 123. EBd., S. 124. Hier zitiert Schelling einen Zusatz von Georg Christoph Lichtenberg zu Erxlebens Naturlehre: „Freylich wird von der eigentlichen Natur des Feuers immer noch vieles vor unsern
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Die neuen Chemiker vermeinen, einen von der Wärme verschiedenen Lichtstoff unterscheiden zu können, auf Grund einer Reihe charakteristischer Wirkungen des Lichtes allein, wie der Einfluß des Lichtes auf die Pflanzen.21 Schelling scheint dies kein entscheidender Beweis, weil das Licht auf die Pflanzen wirkt, indem es sich in Wärme verwandelt. Das Licht ist das Mittel, dessen sich die Natur bedient, um Zersetzungen und Verbindungen zu wirken, die zur Entwicklung des pflanzlichen und tierischen Lebens notwendig sind; daher kommt die Anziehung der Körper dem Licht gegenüber. Es ist hingegen zweifelhaft, daß das Licht in die chemischen Prozesse als Grundstoff eintritt. „Sobald der Grundstoff der Luft vom Grundstoff des Körpers angezogen wird, erscheint das Licht; von diesem Moment an geht der begonnene Prozeß von allein fort, der Körper brennt und das Licht, das sich dank der Zersetzung der Luft befreit, dient dazu, die Zersetzung zu verlängern.“22 Die Anziehung der Körper geschieht nicht im Verhältnis zu ihrer Masse, sondern zu ihrer Zersetzbarkeit. Das ist ein Beweis, daß das Licht Materie ist; ein anderer, noch wichtigerer, ist von den Anziehungen, denen es unterworfen ist, gegeben: Wenn das Licht keine Hindernisse treffen würde, würde es sich in der allgemeinen Repulsivkraft verlieren. Insofern es der Anziehung und Abstoßung unterliegt, ist das Licht elastisch und der Extension und der „Compression“ unterworfen: Größere Compression erzeugt größere Wärme und umgekehrt. Das Licht unserer Atmosphäre kommt von der Sonne, aber es bleibt unerklärlich, wie es zu uns gelangt: Kommt es direkt von der Sonne zu uns, oder bewirkt es nur Veränderungen in unserer Atmosphäre, dank derer unser Planet sich erhellt? Das Licht, das wir produzieren, entsteht aus der Zersetzung der Luft. Euler hat behauptet, daß das Licht sich in gerader Linie ausbreitet „durch bloß mechanische Erschütterungen des Aethers“;23 nach Schelling aber müßte gerade die Art der Ausbreitung eine ondulatorische und nicht geradlinige Bewegung vorhersehen lassen. Das Zugeständnis, daß das Licht sich von der Atmosphäre der Sonne bis zu unserer Atmosphäre in einem leeren Raum ausbreitet,
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Augen verborgen bleiben, allein wenn auch alle diese Vorstellungsarten von der absoluten Wahrheit sehr weit entfernt bleiben, so haben sie doch immer für uns einen sehr großen relativen Wertth, sie sind schickliche Bilder, uns die mannifaltigen Erscheinungen der Natur im Zusammenhang zu denken und uns die Kenntniß derselben zu erleichtern.“ (Georg Christoph Lichtenberg: Zusatz zu § 494. In: Johann Christian Polykarp Erxleben: Anfangsgründe der Naturlehre. Sechste Auflage mit Verbesserungen und vielen Zusätzen von G. C. Lichtenberg. Göttingen: Dieterich 1794, S. 453). AA: I. Bd. 5, S. 126. Schelling beruft sich hier auf Antoine François de Fourcroy: Chemische Philosophie oder Grundwahrheiten der neuern Chemie auf eine neue Art geordnet. Aus dem Französischen übersetzt von Johann Samuel Traugott Gehler. Leipzig: Crusius 1796, S. 11. AA: I. Bd. 5, S. 126f. Ebd., S. 128. Leonhard Euler vertritt diese Position in seinen Briefen über verschiedene Gegenstände aus der Naturlehre, Bd. 1, Leipzig: Dyck 1792, Brief 18.
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könnte die Geschwindigkeit erklären, mit der es zu uns gelangt. „Wenn wir voraussetzen, dass der Himmelsraum aus einem elastischen Fluidum besteht, einem Überträger aller Kräfte, mit denen die Welten auf andere Welten wirken, dann muss dieses Fluidum immer feiner werden, je weiter man sich von den festen Körpern entfernt.“24 Wenn sich in unserer Atmosphäre das Licht nur durch Zersetzungen verbreitet, dann könnte das erklären, warum das Licht allein keine Wärme erzeugt; erst wenn es in die der Erdoberfläche näheren Schichten der Atmosphäre gelangt, die komprimiert sind, beginnt es zu wärmen. Der Tag wäre dann eine unterbrochene Modifikation der Luft, deren Einförmigkeit die Helle produzierte, und deren Ungleichheit das Morgengrauen und den Sonnenuntergang, das Nordlicht und die Meteore zur Folge hätte. Im allgemeinen kann man feststellen, daß das Licht eine bloße Modifikation der Materie ist. Eine genauere Definition muß dem Rechnung tragen, was Lichtenberg behauptete, daß nämlich die Sprache, mit der wir von dem Licht, der Wärme, dem Feuer und der Materie handeln, nur eine Bildersprache ist, die beschränkte Gültigkeit hat. Es handelt sich, so behauptet Schelling, um „Fiktionen“,25 die notwendig für die Untersuchung und die Beobachtung sind, aber schädlich, wenn wir die Gültigkeit über ihre Grenzen hinaus ausdehnen wollen. Die zahlreichen von den Physikern aufgestellten Hypothesen beweisen also, daß wir nicht imstande sind, die Ausbreitung des Lichts zu erklären: die einzige Sicherheit ist, daß für die Physik das Licht von fernen Himmelskörpern herkommende Materie ist. Wenn das Licht „vielleicht das große Mittel“26 ist, dessen sich die Natur bedient, um das Leben und die Bewegung auf jedem Himmelskörper hervorzubringen und zu erhalten, ist der Zentralkörper jedes Himmelssystems der Sitz des Lichts und der Wärme. Und wenn das Licht nur eine Veränderung der Materie ist, die notwendig zur Erhaltung eines Natursystems ist, so ist der Hauptkörper solcher Systeme die Ursache des Lichts im System. Eine Bestätigung dieser Hypothese sieht Schelling in Kants Schrift Ueber die Vulkane im Monde27 und in der „Vermuthung“ von William Herschel (1738–1822) über die atmosphärischen Phänomenen in der Sonne.28 In einem Zusatz der zweiten Ausgabe (1803) faßt Schelling seine Stellung bezüglich des Lichts so zusammen: Das Verhältnis zwischen Licht und Wärme
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AA: I. Bd. 5, S. 128f. Ebd., S. 130ff. Ebd., S. 132. Ebd., S. 132f. – Immanuel Kant: Ueber die Vulkane im Monde. In: Berlinische Monatsschrift. Bd. 5. Stück 3. Berlin 1785, S. 199–213. „Die Hypothese, daß das Licht der Sonne sich aus Zersetzungen ihrer Atmosphäre entwicklet, könnte noch wichtiger werden, sobald man diesen Gedanken weiter verfolgte. […] Wenn wir aber einmal Lichtentiwickelungen inder Atmosphäre Eines Weltkörper annehmen, so läßt sich dies auch auf die Atsmosphäre der übrigen Weltkörper anwenden.“ (Schelling: AA: I. Bd. 5, S. 136). Vgl. William Herschel: On the Nature and Construction of the Sun and fixed Stars. In: Philosophical Transactions, of the Royal Society of London. London 1795, Part I, S. 46–72.
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ist sekundär: Jede Wärme ist ein „Kohäsionsbestreben des Körpers“,29 dank dessen er seine Indifferenz wiederherstellt. Das „identische Wesen der Natur“, ihr „An-sich“, zeigt sich einerseits als reale Einheit – und das geschieht in der Materie –, andererseits als ideelle Einheit – und das geschieht im Licht; so ist das ‚An-Sich‘ die gemeine Wurzel der Materie und des Lichts. Die Materie ist der Akt der Raumerfüllung, oder der erfüllte Raum selbst; das Licht ist die „ideelle Rekonstruktion“ der Raumerfüllung nach den drei Dimensionen: es „beschreibt alle Dimensionen, ohne den Raum wirklich zu erfüllen.“30 In den letzten Zeiten hatten sich Theorien durchgesetzt, die die „Immaterialität des Lichts“ behaupteten; Schelling jedoch fand sie nicht überzeugend, weil diese nur eine „negative Bestimmung“: in Wirklichkeit ist das Licht im Idealen, was die Materie im Realen ist, so daß „reell“ immer nur die Identität von Realen und Ideellen ist.31 So, wenn die Schwere der „Grund von Existenz und empfangendes Princip“ der Körper, die Natur in der Natur der Körper, ist, das Licht „das zeugende Prinzip und das Göttliche in der Natur“.32 Es gibt keine direkte Wirkung des Lichts auf die Körper und der Körper auf das Licht, aber solche Wirkung synthetisiert sich nur im An Sich, in dem Körper und Licht eins sind. Der Zentralkörper jedes Systems ist das Zentrum, in dem durch das Schwere das Besondere der Materie ins Allgemeine zurückgebildet wird, es ist das Zentrum, in dem das Licht sich als „die lebendige Form der Einbildung des Endlichen ins Unendliche“33 zeigt. Allgemeinheit und Besonderheit offenbaren sich auch „in dem organischen Leib des Universums“ mit den leuchtenden Körpern, die „Sensoria der absoluten Identität“ sind, und mit den dunklen, die ihre „äußerliche Glieder“34 sind.
II.
Licht als das Werden der Materie
Im ersten Teil der Weltseele (1798), mit dem Titel „Über die erste Kraft der Natur“, definiert Schelling das Licht als die Materie, „die in jedem System vom
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SW: Bd. II, S. 106 mit Hinweis auf § 88 der Darstellung meines Systems der Philosophie. In: Zeitschrift für spekulative Physik. Bd. 2. Heft 2. Jena und Leipzig: Christian Ernst Gabler 1801, S. 57. SW: Bd. II, S. 107f. In der Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses (1800) hatte er schon bemerkt: „Das Licht ist also nicht Materie (erfüllter Raum), noch die Raumerfüllung (oder raumerffüllende Thätigkeit) selbst, sondern das Construiren der Raumerfüllung. Wir können überzeugt seyn, mit diesem Satz der räthselhaften Natur Lichts um ein Beträchtliches näher gerückt zu seyn. Es ist schwer zu begraifen, wie das Licht alle Eigenschaften einer Materie zu tragen scheinen kann, ohne doch wirklich Materie zu seyn. Es trägt alle diese Eigenschaften zur ideell.“ (Schelling: AA: I. Bd. 8, 2004, S. 337. SW: Bd. II, S. 109. Ebd., S. 109f. Ebd., S. 110. Ebd., S. 111.
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Zentrum gegen die Peripherie strömt“35 und sich mit einer Kraft und Geschwindigkeit bewegt, das an seiner Materialität zweifeln läßt. Außerdem scheint das Licht, zum Unterschied zu der Materie im allgemeinen, nicht der Trägheit unterworfen und dies hat einige Physiker dazu geführt, von seiner Imponderabiltät zu sprechen. In Wirklichkeit kennen wir das Licht nur in seiner Entwicklung, in einem Zustand ursprünglicher Bewegung, die das Werden der Materie charakterisiert, und es unserem Auge möglich macht, sie als Licht zu erfassen. In diesem Zustand zeigt die Materie eine sehr hohe Elastizität, die sie den Gesetzen der Trägheit entzieht, die aber das Ergebnis der ausgedehnten Kraft ist. Die Materie ist nämlich ursprünglich Bewegung und erreicht nur anscheinend einen Zustand der Ruhe: Das erklärt, warum das Licht sich in Strahlen mit so hoher Geschwindigkeit nach allen Seiten ausbreitet. Was das Licht betrifft, ist die Schwerkraft nicht abgeschafft, tendiert aber gegen Null: Schelling spricht von einer „negative[n] Schwere des Lichts“, die nicht einfache Negativität ist, sondern das Resultat einer „wirkliche[n] Entgegensetzung“ oder einer „negative[n] Anziehung“: Anders gesagt, im Licht ist eine „repulsive Kraft“ wirksam, die sich als „reale Zurückstoßung“36 zeigt. Die Schlußfolgerung von Schelling ist, daß das Licht nicht „ein einfaches Element“37 ist, sondern ein aus zwei Prinzipien hergeleitetes Produkt, von denen das eine die positive Materie des Lichts genannt werden kann, die elastischer ist als das Licht (das fluidum deferens von Deluc); das andere die negative, weniger elastische Materie. In die Erklärung der Natur hat die „dynamische Philosophie“ den Begriff „ursprünglicher Kräfte“ eingeführt, nicht als erklärende Prinzipien, sondern nur als „Gränzbegriffe der empirischen Naturlehre.“38 Wenn man also die Materialität des Lichts behauptet, bedeutet das nicht, daß man die Meinung ausschliessen muß, es sei das Resultat der Bewegung eines Mediums. Newton hatte die Existenz einer Lichtmaterie vertreten, die chemischer Verhältnisse fähig war, während Euler meinte, daß das Licht „durch bloße Erschütterung eines zersetzbaren Mediums“39 entstehe. Schelling meint die Vorteile beider Theorien vereinigen zu können, wenn er behauptet, das Licht sei „nur Phänomenon einer Entwicklung.“40
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AA: I. Bd. 6, S. 78. Vgl. dazu Johann Samuel Traugott Gehler: „Licht“. In: Physikalisches Wörterbuch. Teil 2. S. 887; und Christoph Girtanner: Anfangsgründe der antiphlogistischen Chemie. 2. verb. u. verm. Aufl. Berlin: Unger 1795, S. 14f. AA: I. Bd. 6, S. 80. Den Begriff „negative Schwere“ in: Friedrich Albert Carl Gren: Systematisches Handbuch der gesammtem Chemie. 2. umgear. Aufl. Teil 1–4. Halle: Waisenhaus-Buchhandlung 1794–1796. Teil 1, S. 136. AA: I. Bd. 6, S. 81. Vgl. Jean André Deluc: Neue Ideen über die Meteorologie. Aus dem Französischen übersetzt. Teil 1–2. Berlin und Stettin: Friedrich Nicolai 1787–1788, hier Teil 1, S. 79. AA: I. Bd. 6, S. 81. Es war Kant, der in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft eine dynamische Perspektive eingeführt hatte. Vgl. Kant: AA: IV, S. 532. AA: I. Bd. 6, S. 82. Vgl. „Ideen“, 1797, AA: I. Bd. 5, S. 128f. AA: I. Bd. 6, S. 83.
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Zur Unterstützung führt Schelling in seinen Ideen einer Philosophie der Natur die Experimente zur Geschwindigkeit des Lichts an. Er bezieht sich auf den von Herschel erbrachten Beweis, daß das Licht ein Phänomen einer „steten Decomposition“ der Sonnenatmosphäre ist, während es sich in unserer Atmosphäre „durch Erschütterung eines leicht zersetzbaren Mediums“41 ausbreitet. Das Erscheinen von Licht bei der Verbrennung, das als von der „Lebensluft“ (aer vitalis) herrührend gedeutet wird, die den Körper umgibt und die der Ursprung allen Lichts ist, das wir erzeugen. Licht ist „das Phänomen einer höhern Materie“, die verschiedener Verbindungen fähig ist, aus denen verschiedene Wirkungen sich ableiten. Im Licht gibt es eine „ursprüngliche Duplicität“, die dem universalen Dualismus entspricht, der in der Natur herrscht: Nur wenn man nämlich einen Dualismus von Kräften zugibt, ist es möglich, „eine lebendige Bewegung“ zu erzeugen, und jede Wirklichkeit setzt eine „Entzweiung“42 voraus. Das Licht also ist das „erste Phänomen der allgemeinen Naturkraft, durch welche Bewegung angefacht und unterhalten wird“;43 und es wird die positive Ursache der universalen Polarität, die in der Natur herrscht. Das Licht ist ein „Product des Aethers und des Oxigens.“44 Was die Wirkungen des Lichts auf die Körper betrifft, behauptet Schelling, daß es die Körper erwärmt, weil diese imstande sind, ihm seine negative Materie zu entziehen. Im Ersten Entwurf (1799) definiert Schelling das Licht als „[d]as Phänomen der chemische Aktion der Sonne auf die Erde;“45 insofern es Phänomen ist, wird das Licht nicht mehr als Materie betrachtet: Es wird nämlich nicht mehr als „werdende“ Materie gesehen, sondern es ist im Gegenteil das „Werden“, die „Produktivität selbst“,46 die sich im Licht ausbreitet. Die Lichtaktion der Sonne wirkt positiv im chemischen Prozeß und bezieht sich negativ auf die Aktion der Schwere: die erste ist der Ursprung der dynamischen Tendenz der Dinge; die zweite der Ursprung der statischen.47
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AA: I. Bd. 5, S. 136. AA: I. Bd. 6, S. 85. Und Schelling führt fort: „Ein solcher Dualismus aber muß angenommen werden, weil ohne entgegegesetzte Kräfte keine Bewegung möglich ist. Reelle Entgegesetzung aber ist nur zwischen Größen Einer Art denkbar. Die ursprünglichen Kräfte (auf welche endlich alle Erklärungen zurückkommen) wären sich nicht entgegengesetzt, wenn sie nicht ursprünglich Eine und dieselbe (positive) Kraft wären, die nur in entgegengesetzten Richtungen wirkt. Eben deswegen ist es nothwendig, alle Materie als ursprünglich homogen zu denken, denn nur, insofern sie homogen ist mit sich selbst, ist sie einer Entzweyung, d.h. einer reellen Entgegesetzung fähig.“ (AA: I. 6, S. 85f.). Ebd., S. 90 u. 92 Ebd., S. 94. AA: I. Bd. 7, 2001, S. 161. Ebd., S. 323. Ebd., S. 165.
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III. Licht als Prinzip der Besonderheit Im System der gesammten Philosophie (1804), in dem Schelling die Identität des Alls in der Gliederung seiner Potenzen darlegt, behandelt er das Licht in dem der „Allgemeinen Naturphilosophie oder Construktion der Natur oder des realen All“48 gewidmeten Teil. Das Leben der Dinge leitet Schelling hier von einem realen Prinzip her, das die von der Schwere charakterisierte Materie ist; und von einem idealen, das sich der Schwere widersetzt, und das das Licht ist. Das Licht beschreibt den Raum, ohne ihn zu füllen: Es ist also Bewegung im allgemeinen; die Bewegung ist das Wesen des „alles in-sich-selbst Seyns der Dinge“,49 der unendliche Gegensatz zur Schwere. Das Licht ist nicht einfache Form, ist nicht reines Accidens, sondern Substanz; aber insofern Substanz, ist es gleichzeitig auch Bewegung: eine Bewegung, die zusammen auch Bewegtes ist. Wenn die Schwere „die unendliche Selbstaffirmation der unendlichen Substanz“ ist, dann ist das Licht „das Affirmiren dieses Affirmirens“,50 das das Unendliche zur Einheit zurückführt. Die Schwere stellt die „Centripetenz“ der ewigen Natur dar, das Licht ihre „Centrifugenz“;51 die eine bewirkt die Identität der Dinge, das andere die Besonderheit, das von-dem-Zentrum-Ausgehens, die Produktion der Formen. Die Schwere ist das „Prinzip der Endlichkeit, des nichtfür-sich-Seyns der Dinge;“52 das Licht das „Prinzip des in sich-selbst-Seyns, der Beseelung der Dinge.“53 Die Schwere ist das Fundament des „Bestehens“ und der Endlichkeit der Dinge: es ist das „Princip der Nacht“ oder „der unterirdische Gott, der stygische Jupiter, der für sich getrennt vom Reich des Lichts die Besonderheiten der Dinge als bloße Schatten – und Idole – setzt“, das Licht hingegen ist „die Ursache eines sich aus der Macht der Schwere loswerdenden Reichs der Form und des besonderen Lebens.“54 Was in der Natur existiert, ist das Produkt der Schwere und des Lichts: „Die Schwere bekleidet die Dinge mit ihrem Leib; wie sie das Licht mit der Seele begabt.“55 In der Welt der Natur ist das Reale die Identität an sich von Licht und Schwere, das heißt die Substanz. Die Unterschiede entstehen aus dem verschiedenen quantitativen Verhältnis zwischen Licht und Schwere. Die ganze Natur ist die unendliche Substanz, die in den Exponenten des Realen polarisiert erscheint. In Realem zeigt sie sich als
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Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System der gesamtem Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere. Aus dem handschriftliche Nachlaß. In: SW: Bd. VI, S. 261–269. SW: Bd. VI, S. 263. Das Licht beschreibt die Dimensionen des Raums, ohne ihn „successiv oder simultan“ zu füllen. (Ebd.) SW: Bd. VI, S. 265. „In der Natur oder in der unendlichen realen Substanz absolut betrachtet, sind Schwere und Licht eins“. (Ebd.) SW: Bd. VI, S. 267. Ebd. SW: Bd. VI, S. 268. Ebd. – Schon in den Ferneren Darstellungen (1802) hatte Schelling bemerkt, daß „die in das Wesen eingebildete Form in der realen Welt als Licht erscheint.“ (SW: Bd. IV, S. 421) SW: Bd. VI, S. 269. „Die Schwere ist Versinken und Vergessen; das Licht ist Potenzierung und Leben“, also „ein Schauen der Natur, und schauend schafft das unendliche Wesen.“ (Ebd., S. 268)
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„bewußtlos schaffend, und mehr als Organ oder Gegenbild der Idee;“56 denn in jedem natürlichen Ding muß man das Wesen unterscheiden, das die Unendlichkeit der Natur ist, und die Form oder die Besonderheit, die die Substanz ist: „Alles was in der Natur existiert, gehört zum Sein und zur Idee der unendlichen Substanz.“57 Im allgemeinen kann man feststellen, daß das universale Gesetz der endlichen Erscheinung in der Materiet das Gesetz der Polarität oder Doppelheit der Identität ist. Diese zeigt sich exemplarisch in den Phänomenen des Magnetismus, der Elektrizität und des chemischen Prozesses, der als Verbrennungsprozeß die Vernichtung jeder Potenz darstellt. An dieser Stelle der Abhandlung taucht das Licht als „die unendliche ideale Substanz als An-sich aller Elektricität“58 wieder auf. Während nämlich der Magnetismus die in der Identität zurückgehaltene Partikolarität darstellt, zeigt die Elektrizität die Differenz in der Identität: Das An-sich der Differenz der Dinge, das eben als solches differenzlos ist. Nach Schelling stellt der Klang das An-sich der Identität der Dinge dar; das Licht zeigt das An-sich der Differenz der Dinge. Der Klang kann auch als „das innere, das unmittelbare Licht der Körper“ betrachtet werden; das Licht hingegen ist der „Erscheinungsausdruck der idealen Substanz“,59 und kann folglich als Licht nur im Gegensatz zum als Nicht-Licht verstandenen Körper erscheinen. Die erste Dimension des Lichtphänomens ist die reine Ausdehnung; die zweite die Reflexion oder die Färbung an der Fläche der Körper; die dritte die Refraktion. Das Fundament der Verschiedenheit der Farben liegt nicht im Licht, sondern in seinem Gegenteil, mit dem es synthetisiert wird. Eigenheit der Farbe ist es, „heller als schwarz, dunkler als Licht“60 zu sein.
IV. Das Licht als verborgenes Band aller Wesen In dem Essay Das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur oder Entwicklung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts (1806), den Schelling der Wiederauflage der Weltseele (1798) vorausschickte, stellt Schelling fest, daß die Materie weder „als etwas unabhängig von der absoluten Einheit Vorhandenes“, noch „als das bloße Nichts“ ist; vielmehr ist sie, wie bei Spinoza, ein Attribut, das die unendliche und ewige Wesenheit in sich ausdrückt. Nach dem neuen Gesichtspunkt der Systemidentität zielt die Natur, die in gleicher Art das Einzelne in dem Ganzen und das Ganze in dem Einzelnen setzt, als Schwere auf die Identifikation der Totalität, und als Lichtwesen auf die „Totalisierung der Identität“. Der ewige
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SW: Bd. VI, S. 278. Ebd., S. 281. Ebd., S. 355. Ebd., S. 356. Ebd., S. 364.
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Gegensatz und die ewige Einheit der beiden Prinzipien erzeugt als Drittes und perfekten Abdruck des universalen Wesens die Materie, „jenes sinnliche und sichtbare Kind der Natur“. Es handelt sich um die Materie in der Fülle der lebenden Form, die sich in einem gegliederten Ganzen entfaltet. Alle Formen, die nach dem Wesen des Absoluten möglich sind, müssen wirklich werden und in sich die Totalität, die Einheit und die Identität des Ganzen einschließen. Die Schwere ziehlt auf eine endliche Welt; sie ist wirksam auf den Keim der Dinge, während das Licht darauf ziehlt, die Knopse zu entfalten, „um sich selbst anzuschauen, da es als das All in Einem, oder als absolute Identität, sich nur in der vollendeten Totalität selbst erkennen kann“. Die Schwere führt zur Begrenzung des Raums, zur Kohäsion, zur Einigung von Raum und Zeit, zum Festen, zum Harten; das Lichtwesen erzeugt das Ganze im Einzelnen. Die absolute Copula der Schwere und des Lichtwesens ist die Natur , insofern sie produktiv ist, deren Bild in der Schwere vom Element des Wassers dargestellt ist, das „das Urbild der Materie am reinsten“ darstellt: aus diesen drei „Urformen“ entstehen alle Kreaturen im Reich der Schwere, die „nicht eine unterbrochene oder ins Endlose auslaufende Reihe, sondern eine stetige, in sich selbst zurückkehrende Lebenskette“ bilden. Der Lebensquell der Natur ist die Copula zwischen Schwere und Lichtwesen: Ein Quell aber, der alle Kreaturen zum Dasein bringt, der aber „in der allgemeinen Natur verborgen, nicht selbst wieder sichtbar ist“. Das Lichtwesen sucht das Wesentliche, das Band im Verbundenen; deshalb zeigt die Pflanze „unendliche Liebe zum Licht“, indem sich in ihr das dunkle Band der Schwere lichtet, sie sich aus dem Gewirr des Pflanzenreichs auslöst und sich zum Licht öffnet; so wie auf weiterer Entwicklung die „Knospe des Lichtwesens“ in dem Thierreich aufbricht. In diesem knappen Exkurs über die differenten Funktionen, die der Begriff des Lichtes in verschiedenen Gestaltungen der Naturphilosophie annimmt, zeigt sich die wichtige theoretische Rolle, die es in der Erklärung und der Konstruktion der Natur spielt. Von der neuen empirischen Befunden und neuen Theorien der damaligen Physik, Chemie und Elektrizität ausgehend, versucht Schelling eine spekulative Interpretation des Lichtes innerhalb einer dynamischen Perspektive der Natur als Ganzem. Neben den Anregungen der experimnetellen Resultate der Naturwissenschaften mischen sich in diesem Unternehmen verschiedene Impulse und Assoziationen, die von den platonischen und neuplatonischen Theorien über die Renaissance bis zum romantischen Verständnis von der Magie der Natur reichen.
Stefano Poggi
Neurologie, sensorium commune, Seele Romantische Neurologie – Romantische Psychiatrie
I.
Das Seelenorgan und die Behandlung der Geisteskrankheit: Reil
Dem Nervensystem wurde in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in der deutschen Wissenschaft große Aufmerksamkeit gewidmet. Davon zeugen die Arbeiten Döllingers, Meckels, der beiden Wenzel und Rudolphis, die alle in unterschiedlichem Ausmaß von Sömmerring und von der Wiener Medizinischen Schule beeinflußt waren. Es handelt sich dabei vor allem um anatomische Untersuchungen, in denen jedoch auch embryologische Untersuchungen zum Tragen kommen, welche die Grundlage für viele Erwägungen morphologischevolutionärer Ausrichtung waren. Dies bedeutet nicht etwa, daß die Untersuchung der Funktionen des Zentralnervensystems sowie des peripheren Nervensystems vernachlässigt wurde. Die Vielschichtigkeit der Funktionen des Nervensystems und insbesondere der an die Gehirntätigkeit gekoppelten Funktionen machten es jedoch unmöglich, die in jener Zeit zur Verfügung stehenden experimentellen Forschungsmethoden in Anwendung zu bringen. Trotzdem war das Problem von großer Bedeutung, wie die Entwicklung der Debatte um das „Seelenorgan“ zeigt, die mit der Phrenologie von Gall und mit der Physiognomie von Lavater verwoben ist. In diesem Kontext entwickelte sich die feste Überzeugung, daß die Erforschung des Nervensystems einen entschiedenen Beitrag zur Erkenntnis des Innenlebens, der „Seele“ und ihrer „Krankheiten“ liefern kann.1 Johann Christian Reil, der Begründer des Archivs für Psychologie, war einer der vehementesten Vertreter dieser Ansicht. Er war ein überzeugter Kritiker der „Lebenskraft“, und eines seiner größten Interessengebiete war die Neuroanatomie, insbesondere die Erforschung des Gehirns, in die er auch Meckel, seinen berühmtesten Schüler, einführte.2 Mit Reils Arbeit im Bereich der Neuro-
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Döllinger 1814; Meckel 1815; Wenzel/Wenzel 1806; Wenzel/Wenzel 1812; Rudolphi 1802; Prochaska 1800. Literatur: Neuburger 1897; Soury 1899; Clarke/Jacyna 1987; Hagner 1992; Hagner 1993; Hagner 1997; Dumont 1986; Mann-Dumont 1985; MannDumont 1988; Mann-Dumont 1990; Oehler-Klein 1990; Poggi 2000 (Kap. 9–11). Anm. der Hrsg.: Aufgrund der spezifischen Anlage dieses Aufsatzes wird hier eine andere Variante der formalen Präsentation der Quellen sowie der Literatur gewählt als in den anderen Beiträgen des vorliegenden Bandes; die Literaturverzeichnisse siehe am Ende des Aufsatzes. Reil 1807; Reil 1807–1808; Reil 1809; Reil 1811a; Reil 1811b. Literatur: Neuburger 1913; Schott 1988; Mocek 1995; Zaunick 1960.
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Stefano Poggi
anatomie verbindet sich außerdem ein systematisches Interesse für das Problem der Geisteskrankheit und damit auch für die neuen Erfahrungen in der Behandlung der „Törichten“, die in französischen und englischen Nervenheilanstalten gemacht wurden.3 Nach Reil können die „Geisteszerrüttungen“ von denen des Körpers nicht als grundsätzlich andersartig unterschieden werden, und als solche sind sie auf Stadien des Lebensprozesses zurückzuführen. Die These der Gegensätzlichkeit von „Cerebralsystem“ und „Gangliensystem“ bildet eine der Grundannahmen der Reilschen Auffassung. Nach Reil müssen die „Geisteszerrüttungen“ als eine Form der Regression des Organismus hin zu weniger entwickelten Stadien betrachtet werden, Stadien, in denen die gesamte Tätigkeit des Nervensystems jene Undifferenzierbarkeit aufweist, durch die sich das sogenannte sensorium commune auszeichnet.4 Die Seele ist keine einheitliche Substanz: „mit jedem Gliede, mit jedem Sinnwerkzeuge des Körpers, wird ein Theil der Seele amputiert“. All „die feinsten Spiele des Witzes, die sinnreichsten Erfindungen, die zartesten Gefühle, die brennendsten Bilder der Phantasie, die heftigsten Triebe, die die Seele unaufhaltbar zum Handeln fortreißen, wären nicht, wenn der Theil des Körpers nicht wäre, der seine Art fortpflanzt“. Es ist ausreichend, daß „ein Faser im Gehirn erschlafft, und der in uns wohnende Götterfunke ist zu einem Feen-Märchen geworden“. Das ständige Zusammenspiel der äußeren und der inneren Welt entzieht sich größtenteils unserem Wahrnehmungsvermögen und unserer Selbsterkenntnis. Die Eindrücke, die wir von außen erhalten, „dringen vorwärts an die Leitschnüre des Nervensystems, bis zum Hauptbrennpunkt der Organisation, und werden von da nach außen, oder nach andern Regionen, innerhalb ihrer Grenzen, reflectirt“. Wenn sie erst zu Vorstellungen geworden sind, führen sie ein Eigenleben. Die äußere Welt verändert sich stetig und ständig und ihr passen sich die „Reflectionspunkte in der Organisation an“. Die Tatsache, daß wir uns Trieben anvertrauen, die sich unserem Bewußtsein entziehen, sollte uns nicht verwundern. Unser Körper gehorcht sehr oft Vorstellungen, derer er sich nicht bewußt ist, deshalb kann nicht die Möglichkeit ausgeschlossen werden, „daß durch eine eigenthümliche Locomotivität aetherisch-gasförmiger Substanzen, und durch den Wechsel ihrer + und – Natur, die entgegengesezten Pole im Microcosmus umgetauscht und das Innere der Organisation gleichsam nach außen gekehrt werden können“.5 Die Behandlung der „Geisteszerrüttungen“ muß von dieser Tatsache ausgehen. Sie muß „Wirkungen auf die Seele“ verursachen, auf die Art und Weise, in der die unserem Handeln zugrundeliegenden Vorstellungen entstehen und sich entwickeln, da unser Handeln wie ein Ausdruck, ein Projizieren nach außen dessen ist, was wir im Innern unseres Organismus sind. Von der Seele kann man auch als etwas sprechen, was keinerlei Körperlichkeit aufweist: Doch die
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Heinroth 1818, I, S. 108–142; Hoffbauer 1802–1807; Hoffbauer 1810. Literatur: Leibbrand 1956; Ellenberger 1970; Verwey 1985; Marx 1990–1991. Schott 1988. Reil 1803, S. 7–10.
Neurologie, sensorium commune, Seele
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Seele „greift […] immerhin in dasselbe ein, und verrückt dem Arzt seine Zirkel, wenn er ihre geheimen Spiele nicht kennt“. Dem Philosophen, „als bloßem Naturforscher, genügt es, seinen Gegenstand ohne Rücksicht auf einen besonderen Zweck zu bearbeiten“. Er „hält sich vorzüglich an die Naturlehre der Seele in ihrem normalen Zustande“. Der Arzt hingegen bleibt von den Betrachtungen des Philosophen über die von der Seele erzeugten „moralischen Gebrechen“ vollkommen unberührt, er muß seinen Blick auf die Ursprünge der „Phänomene der Seele“ richten und auf diese einwirken. Nur so kann er davon ausgehen die „Seelenkrankheiten“ zu behandeln, und er folgt dabei dem Prinzip, das besagt: „ein krummer Baum wird gerade, wenn er an eine Stange gebunden, oder dem Windstoss, der ihn krümmt, der Zugang vermauert wird“. Eine „direkte Cur des Wahnsinns“ wäre nur möglich, wenn man den Eingriff auf das Gehirn als „Theil des Organismus [vornehmen würde], in welchem die Phänomene der Verrücktheit zunächst und zureichend gegründet sind“. Einwirken kann man aber nur auf die im Besitz der Seele befindlichen Vorstellungen. Doch benötigt die Seele das Gehirn als eines ihrer Instrumente. Der „Mechanismus“ des Gehirns ist „höchst componirt und die dynamische Temperatur seiner Theile verschieden“. Im „Seelenorgan“ muß die Existenz von Teilen erkannt werden, die durch Beziehungen miteinander verbunden sind und die „auf eine eben so bestimmte Vertheilung der Kräfte im Gehirn und dem gesammten Nervensystem gegründet“ sind. Jede Störung dieser Beziehungen verursacht „Dissonanzen, Sprünge, abnorme Vorstellungen, ähnliche Associationen, fixe Ideenreihen, und ihnen entsprechende Triebe und Handlungen“: alles Bekundungen eines fehlenden Gleichgewichts, der abhanden gekommenen Beachtung eines Naturgesetzes, das keine Ausnahmen vorsieht: das Gesetz, „daß die distributiven Aeußerungen der Lebenskraft in dem Maaße erlöschen, als ihre Wirksamkeit an einem Orte hervorstehend angestrengt wird“. „Man kann allerdings den Rasenden durch Mohnsaft zur Ruhe bringen, allein“, so Reil, „gescheut ist er deswegen nicht, sondern nur ein Narr anderer Art geworden“. Auf diese Weise ist de facto keinerlei Eingriff vorgenommen worden, mit dem die wahren Ursachen der „Seelenkrankheit“ behoben werden können, einer Krankheit, die offenbar im „Organ“ der Seele selbst anzusiedeln ist. Auf jeden Fall erregt die psychische Curmethode „das Seelenorgan specifisch, weckt die torpiden, bringt die exaltirten Theile zur Ruhe“. Das vegetative System weist Zustände der Sthenie und der Astenie auf, die einen allgemeinen Einfluß auf den gesamten Organismus ausüben. Ganz anders verhält es sich jedoch mit der „eigenthümliche[n] Energie, die das Gehirn, als ein schon gebildeter Theil, unabhängig von demselben, besitzt“.6
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Reil 1803, S. 22–27; 37–39; 44–50.
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II.
Das Seelenleben und das Bewußtsein: Reil, Nasse, Heinroth
Reil bewegt sich inmitten einer regen Debatte, in der die Probleme der „Seelenkrankheiten“ aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert werden. In dieser Debatte, in der die Schriften von Joseph Ennemoser7 einen besonderen Stellenwert einnehmen, existieren parallel zueinander eine rein medizinisch-wissenschaftliche Ausrichtung sowie ein ausgeprägtes und nachhaltiges Interesse an den Erscheinungsformen des Somnambulismus und ganz allgemein an allen Ausdrucksformen des Lebenden, die als Folge des sogenannten tierischen Magnetismus ausgelegt werden können. Die Betonung der ständigen Verkettung der Vorgänge der Seele mit jenen des Körpers verbindet sich bei ihm mit einer Abneigung gegen die traditionelle Herangehensweise der „empirischen Psychologie“, die sich darauf konzentriert, die Ergebnisse von Selbstbeobachtungen oder im Höchstfall von Charakterbeobachtungen zu registrieren und zu klassifizieren. Dazu gesellt sich ein besonderes Interesse an der Untersuchung chemischer und elektrischer Phänomene, die der sogenannten „tierischen Elektrizität“ zugeordnet werden.8 Die unbestreitbare Sonderposition der „Seelenkrankheiten“ bleibt jedoch augenfällig. Es scheint äußerst kompliziert, eine „Seelenpathologie“ auf anatomisch-physiologische Ursprünge zurückzuführen. Selbst Reil, und mit ihm sein Schüler Friedrich Nasse, der Begründer der ersten deutschen Zeitschrift für Psychiatrie,9 hält es für sinnvoll, die „somatische Cur“ durch eine „psychische Behandlung“ zu ergänzen. Noch bestimmter ist diesbezüglich der Standpunkt Johann Christian August Heinroths. Er ist der Verfasser eines Traktats, das als grundlegende Schrift der romantischen Psychiatrie über mehrere Jahrzehnte ein wichtiger Bezugspunkt für die deutsche Psychiatrie sein sollte.10 Mit den Mitteln eines konsequenten an der Seele orientierten Rationalismus definiert Heinroth den Begriff „Seele“ ausgehend von den Konzepten des Individuums und der Untrennbarkeit von Leib und Seele. Das Bewußtsein ermöglicht die Verbindung von Leib und Seele und gewährleistet die harmonische Verschmelzung der Sphäre der Leidenschaft mit jener des Intellekts und des Willens. Nur wenige Menschen gelangen zur vollkommenen Selbsterkenntnis. Alle Menschen sind jedoch von einem „inneren Gefühl“ geleitet, einem „Keim der Vervollkommnung des Bewußtseins, d. h. der Entwicklung eines wunderbaren Einklanges unserer Innerlichkeit mit uns selbst und der Welt.“ Es ist die Vernunft, die diese Entwicklung leitet. Mit der Fülle des Bewußtseins verwirklicht sich die menschliche Vernunft: der Vernunft, und nur dieser, offenbart sich Gott als unerschöpfliche Quelle der Kraft, des „Lichts“ und der „Liebe“, die der Mensch benötigt. Die Elemente der Tier- und Pflanzenwelt unterstützen und nähren den Leib,
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Ennemoser 1819; Ennemoser [1824], 1980. Über Ennemoser: Boegner, 1980. Tatar 1978; Auhuber 1986; Saul 1991. „Zeitschrift für psychische Aerzte“ (1818–1822). Nasse 1818; Nasse 1818a. Zur Literatur: Neuburger 1913; Verwey 1985. Heinroth 1818. Zur Literatur: Probst 1975; Verwey 1985; Hagner 1997.
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doch muß der Mensch das „reine und vollkommene Leben“ eines Bewußtseins erlangen, das ihn aus der „Nacht“ und dem „blinden Dasein“ heraustreten läßt. Der Mensch ist Mensch, weil er ein Wesen ist, das ein Bewußtsein hat, dessen Leben von dem ständigen Streben gekennzeichnet ist, eine Harmonie wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten. Dies ist das deutlichste Zeichen für sein vernunftgerechtes Handeln.11 Nach Heinroth sind die Schuld und die Sünde unmißverständliche Anzeichen für eine mangelnde Aufmerksamkeit des Menschen gegenüber jenem „inneren Gefühl“, das die Stimme des Bewußtseins ist und somit auch der Vernunft. Der Mensch entsagt seiner Rationalität, wenn er sein moralisches Wesen vernachlässigt. Oftmals vergißt der Mensch, daß er auf die Welt gekommen ist, weil er „Gott geweiht“ ist. Die Eintracht des Seelenlebens ermöglicht es uns, die göttliche Natur des Menschen zu erkennen. Einerseits räumt Heinroth ein, daß die Eintracht des Seelenlebens auch dessen Verwobenheit mit den körperlichen Funktionen bedingt, andererseits behauptet er kategorisch, daß nur die Tätigkeit des Bewußtseins eine wahre Verwirklichung gewährleisten kann. Wenn man Krankheit als einen Prozeß betrachten will, der entweder zur Heilung oder zur Zerstörung des von der Krankheit betroffenen Teils führt, so ist es nach Heinroth selbstredend, daß die Trübung des Bewußtseins, die den Maßstab für den Gesundheitszustand des Seelenlebens darstellt, in den meisten Fällen keine Krankheit ist, da ihr Ausgang sonst entweder die Heiligkeit oder die ewige Verdammnis sein müßte. Es ist sinnvoller jede Seelenkrankheit als einen Fall der unendlich vielen „Störungen“ zu verstehen, die sich in der Seele als Folge der unterschiedlichsten Ursachen einstellen. Die Seelenstörungen schränken die Ausübung des Bewußtseins und sogar die Freiheit und die Verantwortung des Menschen ein. Es ist jedoch nicht gesagt, daß sie immer auf die Nichtbeachtung der Stimme des Bewußtseins zurückzuführen sind. Die Ausübung des Bewußtseins kann auch durch eine Schädigung der körperlichen Funktionen gefährdet werden. Eine Schädigung des Gehirns kann ähnliche Symptome zeitigen wie ein prägender Eindruck oder Angst und Entsetzen. Mit dem Konzept „Krankheiten des Seelenorgans“ können andererseits jedoch auch nicht alle Seelenstörungen erfaßt werden. Heinroth ist sich der Tatsache bewußt, daß de facto der gesamte Körper „Seelenorgan“ ist. Gleichzeitig will er jedoch deutlich machen, daß in den allermeisten Fällen nicht der Leib, sondern die Seele die direkte und unmittelbare sowie auch einzige Ursache der Seelenstörungen ist, von denen dann auch die Körperorgane betroffen sind, doch dies nur indirekt.12 Heinroth rät in jedem Fall davon ab, daß Geistliche und Philosophen sich um Seelenstörungen kümmern, deren Behandlung er einem Arzt vorbehalten möchte, der sich im menschlichen Organismus auskennt und Geisteskranke schlicht und einfach wie leidende Kranke behandelt.13 Wenn es stimmt, daß die Seelenstörungen an Zustände der Bewußtseinstrübung gekoppelt sind, ist es
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Heinroth 1818, I, S. 3–6, 6–14, 22–23. Ebd., S. 25, 39–40, 178. Ebd., S. 43–49.
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notwendig zunächst jene Fälle zu erkennen, die eine physiologische Ursache dessen aufweisen, was zwar ein Leidenszustand ist, aber keine Krankheit im eigentlichen Sinne. Heinroth betont insbesondere den die Geisteskrankheiten bezeichnenden Charakter einer dynamischen Entwicklung und fordert gleichzeitig auf zu erkennen, daß gerade dieser Charakter die zentrale Rolle des Seelenlebens in ihnen deutlich macht. An die Seele darf man sich nicht indirekt über den Körper wenden, sondern man muß sich ihr direkt zuwenden, mit Worten, die geeignet sind, in ihr das Bewußtsein wiederzuerwecken und damit auch die Vernunft. Der Leib ist auf jeden Fall das Organ der Seele: Heinroth hat nicht den geringsten Zweifel, wenn er die große Bedeutung der Erforschung des Nervensystems unterstreicht, mit der die von der Seele ausgeübten Funktionen der Koordination entdeckt werden sollen, einer Koordination, die den ganzen Körper gleichsam erfüllt. Es bleibt für Heinroth jedoch eine wesentliche Notwendigkeit, direkt zur Seele vorzudringen, um das Bewußtsein zu erreichen. Und so betont er denn auch nachdrücklich, daß kein anderer als Reil es geschafft habe, den ganzen Sinn der englischen „moral therapy“ zu erfassen, und die Linien einer „psychischen Curmethode“ klar zu umreißen, die von den Ärzten unabhängig von ihren philosophischen und religiösen Überzeugungen praktiziert werden kann.
III.
Seelischer Organismus und körperlicher Organismus: Heinroth, Eschenmayer
Heinroth begrüßt hiermit die Tatsache, daß sich in der Erforschung der psychischen Problematik die psychologische Auffassung und d. h. die „psychische Curmethode“ durchgesetzt hat. In Anspielung auf Ernst Wilhelm Horn, der vom physiologischen Teil der Reilschen Theorie nur das Prinzip der Beeinträchtigung des sensorium commune übernommen hat, betont Heinroth, daß es äußerst angebracht gewesen sei, die „wilden Rebschösse“ der von Reil gepflanzten „Weinrebe“ zu stutzen: Es habe kein Zweifel daran bestanden, daß die Zeit dem Wachsen und Gedeihen des gesunden Teils dieser „Rebe“ Vorschub leisten würde.14 Die Diskussion über die Problematik der Seelenkrankheiten, die in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stattgefunden hat, war jedoch sehr spannungsreich und Heinroth läßt sich hier von einem gewissen Optimismus hinreißen. In der Auseinandersetzung sind antimaterialistische Standpunkte vertreten, die sich an einem eindeutig christlich ausgerichteten Spiritualismus orientieren, wie jener Friedrich Schlegels.15 Solche Positionen lassen sich zum Beispiel bei Troxler erkennen, und sie finden auch bei jenen Widerhall, die weiterhin eine auf empirische Beobachtung fußende Analyse einfor-
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Ebd., S. 161–162. Röttgers 1991.
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dern, wie sie von Kant in seiner „pragmatischen Anthropologie“ beschrieben wird, und die sich, wie Steffens es 1822 ausdrückt, dafür einsetzen, die Grundlagen und die Regeln einer Art regelrechter „Diät der empirischen Psychologie“ festzulegen.16 Auch Wissenschaftler wie Rudolphi und Burdach,17 die in der Erforschung der menschlichen Natur den Rahmen und Höhepunkt der gesamten Forschung über den lebenden Organismus sehen, verleihen mit ihrer Auffassung der physiologischen Untersuchung einer Anthropologie mit entschieden unmaterialistischer Ausrichtung zentrale Bedeutung.18 Andererseits sind jedoch die Arbeiten der meisten mit der Erforschung des lebenden Organismus befaßten Wissenschaftler – wie nicht nur Oken, sondern auch G. R. Treviranus, von Baer oder Johannes Müller – nicht von einer anthropologischen Perspektive geleitet, sondern von einer allgemeinen Wissenschaft des Lebenden, nämlich von der Biologie. Aus dieser Perspektive heraus werden auch die physiologischen Untersuchungen durchgeführt, in deren Mittelpunkt somit nicht mehr das Modell der menschlichen Physiologie steht. Nun wird die gesamte Erforschung der menschlichen Natur in den Bereich der Untersuchung von Lebensprozessen einbezogen. Dies geschieht auch auf der Ebene der Untersuchungen über die Entwicklung des Nervensystems, einer Ebene die zwar spezifisch aber von grundlegender Bedeutung ist. Das deutlichste Indiz für diese Tendenz ist die wenn auch in verschiedenen Variationen ausgedrückte, weitreichende Anerkennung, dessen, was später als „Parallelismusgesetz“ bezeichnet werden sollte und von Meckel schon 1806 ausgesprochen und 1811 genauer beschrieben und ausformuliert worden war.19 Die von Carl August Eschenmayer 1817 veröffentlichte Psychologie ist von diesen Spannungen eindeutig durchdrungen, auch wenn es sich dabei um eine systematische Abhandlung handelt, die der Psychologie die Rolle der dem gesamten Wissensgebäude zugrundeliegenden Wissenschaft zuschreiben möchte. Das Leitmotiv in der Abhandlung Eschenmayers, den eine oftmals schwierige Beziehung mit Schelling verbindet, ist die Auffassung von der Seele als einer ursprünglichen und einheitlichen Kraft und als Bürge des gesamten menschlichen Daseins. Eschenmayer steht jedoch – genauso wie viele seiner Zeitgenossen – auch unter einem starken neuplatonischen Einfluß. Die Seele ist in dem Gefängnis des Körpers eingepfercht und lebt ein Leben, das nur aus Reproduktionen der ursprünglichen Ideen besteht. Der Geist ist der erhabenste und reinste Teil der Seele, und bewegt den Menschen dazu, sich zu diesen Ideen zu erheben. Die vor das ständige Zusammenspiel eines seelischen und eines körperlichen Organismus gestellte Psychologie hat die Aufgabe zu untersuchen, wie die Vision der Ideen im Denken, Wollen und Fühlen Formen annimmt.20
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Steffens 1822, S. 3. Vgl. Herbart [1823] 1964. Rudolphi 1821, S. 22–37. Heinroth 1831. Meckel 1806; Meckel 1811; Meckel 1821, S. 409, 402. Eschenmayer [1817] 1982, S. 24, 149. Vgl. Jantzen 1994.
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Besondere Aufmerksamkeit widmet Eschenmayer deshalb den verschiedenen Varianten des Zusammenspiels von seelischem und körperlichem Organismus, die sich in Zuständen wie dem Wachsein, dem Schlaf, den Träumen und allen Erscheinungsformen des sogenannten „tierischen Magnetismus“ ausdrükken.21 Diesen letztgenannten Phänomenen widmet Eschenmayer eine Schrift, in der er eine auf physiologische und psychische Gesetze basierende Erklärung derselben darlegt.22 Doch auch in seiner Psychologie widmet er dieser Fragestellung große Aufmerksamkeit und insbesondere den Erscheinungsformen des Somnambulismus, bei denen die Sphäre der Triebe stärker ist als die des Willens. Eschenmayer, dessen Auseinandersetzung mit Schlegel über das Problem der menschlichen Freiheit nicht außer acht gelassen werden darf, ist sich der Tatsache überaus bewußt, daß sich das Seelenleben schwerlich in Reinform entfalten kann. Das Leben der Seele ist mit dem des Körpers eng verwoben. Es ist somit eine unabdingbare Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit dem Zusammenspiel des seelischen und des körperlichen Organismus zuzuwenden und den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Untersuchungen Rechnung zu tragen. Doch ist es auch eine Tatsache, daß die Physiologie des Nervensystems und insbesondere des Gehirns noch einen eigentlich embryonalen Zustand aufweist, während das Zusammenspiel von seelischem und körperlichem Organismus nicht nur stärker, sondern auch unergründbarer erscheint.23 Die Faszination, die von der Erkundung der Bereiche des Traumes und auch des Okkulten auf die Untersuchungen über das Seelenleben ausgeübt wird, kann uns nicht überraschen. Diese Erkundung scheint einerseits nicht die grundlegende Einheit als kennzeichnendes Merkmal der Seele in Frage zu stellen und andererseits sogar die Verbindung der Seele mit den in der Natur vermeintlich wirksamen Kräften zu betonen.24 Auf der Ebene der psychologischen Analyse führt dies sowohl zur Ablehnung anatomischer und physiologischer Kategorien in bezug auf das Nervensystems als auch zur Absage an eine auf Beobachtung, Beschreibung und Zerlegung der untersuchten Prozesse basierende Forschungsmethode. Doch vor allem erhält damit jener Teil des Seelenlebens, auf den das Bewußtsein am wenigsten einwirken kann, eine bislang undenkbare Bedeutung. Deutlich zeichnet sich die Überzeugung ab, daß sich die Tätigkeit der Psyche nicht nur in einem unserem Bewußtsein gegenwärtigen Bereich abspielt. Diese Tätigkeit entwickelt sich ganz im Gegenteil vor allem jenseits der Schwelle unseres Bewußtseins, nämlich in der Sphäre des Unbewußten. Es setzt sich die
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Eschenmayer [1817], 1982, S. 220. Eschenmayer 1816; Kieser 1822, S. 10–13, 15, 16–18. Erpenbeck 1985. Kohlenbach 1991. Schultz 1831, S. xvi–xvii: „Paracelsus war bemüht, die Principien der praktischen Medizin aus physiologischen Grundsätzen abzuleiten; er hat den Keim zu einer wahren Physiologie geschaffen, und diese Wissenschaft schreibt sich allein von ihm her. Die Alten hatten keine eigentliche Physiologie. Da sie alle Lebenserscheinungen des Organismus und der Aussenwelt aus gleichen allgemein physikalischen Principien erklärten, so war ihre Theorie der Organisation eine blosse allgemeine Physik: keine Wissenschaft, welche den Process des Organismus aus diesem selbst zu erkennen strebte, und somit musste sich die Paracelsische Medizin aus eimen ganz neuen Grund und Boden entwickeln“.
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Überzeugung durch, daß die richtige Methode zur Untersuchung des Seelenlebens und d. h. der Psyche die Beobachtung und Beschreibung aller Ausdrucksformen der Psyche ist, einschließlich der vom Bewußtsein nicht erfaßbaren. Die so definierte Untersuchungsmethode kann zunächst der von Reil entwickelten „psychischen Therapie“ ähnlich erscheinen. Er hatte jede Auslegung des Unbewußten als Kraft geistiger Natur weit von sich gewiesen und den eigentlichen Sitz desselben im Nervensystem lokalisiert.25 Wenn man jedoch die grundlegende Doppeldeutigkeit in der Auffassung der Tätigkeit der „Seele“, d. h. der Psyche berücksichtigt, zeigt sich ein anderer Sachverhalt. Einerseits wird in der Seele, die dem Körper Leben verleiht, tatsächlich das Fundament der Individualität des Menschen gesehen. Andererseits wird sie schlicht und einfach als unsterblich verstanden und damit als Grundlage der teleologischen Dynamik, die aus dem Bewußtsein des Menschen jenen Ort macht, wo sich Gott seinem Geschöpf offenbart.26
IV.
Der Traum und die Sprache der Seele: Schubert
Das Erkennen dieser Doppeldeutigkeit war der Ausgangspunkt für Gotthilf Heinrich Schubert, der dem „romantischen Physiker“ J. W. Ritter in jenen Jahren sehr nah stand, in denen Ritter den „tierischen Magnetismus“ (den „Siderismus“) und die Existenz des Galvanismus im Pflanzenreich erforschte.27 Laut Schubert kann die Seele, die unsterblich, nur eine und unteilbar ist, in ihrem ganzen Wesen nur erfaßt werden, wenn man ihre Geschichte untersucht, den Zyklus den sie durchläuft, indem sie dem lebenden Organismus Leben verleiht und seine Individualität gewährleistet. Die Seele gebärt das Bewußtsein und im Bewußtsein offenbart sich Gott seinem Geschöpf und begründet damit die ihm innewohnende teleologische Dynamik. Die Seele kann in ihrem unverfälschten Wesen und in ihrer wahren Reinheit jedoch nur dann erkannt werden, wenn sie allen Bindungen an die Körperlichkeit enthoben ist und die ihrem Wesen eigentlich entsprechende Dimension erreicht: die der Erinnerung, des Traums und der Symbole. „Im Traume, und schon in jenem Zustande des Deliriums, der meist dem Einschlafen vorhergeht, scheint“, so schreibt Schubert in der Symbolik des Traumes „die Seele eine ganz andere Sprache zu sprechen als gewöhnlich“. Im Traum ändern sich die Gesetze der Assoziationen von Vorstellungen und Ideen, an die wir gewöhnt sind. In der Dimension des Traums werden wir von nur wenigen aber dafür umso reicheren Bildern geleitet. Bilder, die nur selten aneinander anknüpfen, da diese Bilder außerhalb der räumlichen und zeitlichen Beschränkungen liegen. Es sind „Abbreviaturen“, „Hierogly-
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Schott 1988. Röttgers 1991; Hagner 1997. Schubert 1808, Schubert 1814. Zur Literatur: Merkel 1913; Schott 1981; Lersch 1923; Kohlenbach 1991.
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phen“, die es uns ermöglichen, „in wenigen Momenten mehr aus[zudrücken], als wir mit Worten in ganzen Stunden auseinander zu setzen vermöchten“.28 Das bedeutet nicht, „dem Traum vor dem Wachen, dem Närrischseyn vor der Besonnenheit einen Vorzug geben [zu] wollen“. Wir müssen uns jedoch fragen, ob der normale, bewußte Verlauf unserer Gedanken dem eigentlichen Wesen unserer Seele wirklich am nächsten ist. Viel geeigneter als „unsere gewöhnliche Wortsprache“, die aus Lauten geformt ist, in denen die Materie vertreten ist, scheint doch aus vielerlei Gründen tatsächlich eine aus „Abbreviaturen“ und „Hieroglyphen“ bestehende Sprache zu sein, um die Natur unseres Geistes auszudrücken, der sich von den Banden des Körpers, dem „Gefängnis“ der Seele befreien möchte. Die Sprache, die wir im Traum sprechen, ist viel ausdrucksreicher, sie „ist unendlich viel ausdrucksvoller, umfassender, der Ausgedehntheit in der Zeit viel minder unterworfen“. Sie ist unsere eigentliche Sprache, so wie unser eigentliches Wesen die unsterbliche Seele ist. Die Seele „versucht diese ihr eigenthümliche Sprache zu reden, sobald sie im Schlafe oder Delirio aus der gewöhnliche Verkettung etwas los und frey geworden“ ist. Doch auch die von der Seele im Traum gesprochene Sprache hat ihre Gesetze. Gesetze, auf denen der Ablauf der Ereignisse unseres Lebens basiert. Es sind die Gesetze eines „Schicksals“, das unserem unsterblichen Sein zugrunde liegt. Im Traum ist die Seele in der Lage, „Combinationen […] zu machen, auf die wir im Wachen freilich nicht kämen“. Im Traum kann die Seele „das Morgen mit dem Gestern“ verbinden und erkennen, was „das Schicksal ganzer künftiger Jahre an die Vergangenheit“ bindet.29 Das Bewußtsein im engeren Sinne scheint jedoch nur geringfügig in diese Tätigkeit der Seele involviert zu sein. Tatsächlich stellt das Bewußtsein ein „dunkle[s] Gebiet der menschlichen Natur“ dar, in dem der Mensch etwas mit „dem sinnlichen Gefühl des Wohlseyns oder des Uebelbefindens“ vergleichbares erfährt, das den körperlichen Zustand des Gesundseins oder des Krankseins begleitet. Es besteht die Gefahr, den Unterschied zwischen diesen beiden Zuständen der eigenen geistigen Natur nicht zu erkennen, denn die Menschen treten in dieses Leben nicht „als Gesunde, sondern als solche ein, welche hier genesen können und sollen“. Doch gerade dank des Bewußtseins kann der Mensch zu einer Genesung von seiner geistigen Krankheit gelangen, zu der er aufgrund seiner Geburt verurteilt ist, denn die Menschen bringen „die Rückerinnerung an einen ehehin gesunden Zustand ihrer geistigen Natur [...] mehr oder minder deutlich mit sich ins Leben“. Dem Bewußtsein gelingt es eine Sprache zu hören, die schon immer die „dem menschlichen Geiste durchaus eigenthümliche Sprache“ ist: die Sprache Gottes. Das Bewußtsein ist geradezu das „Organ“, mit dem die Sprache Gottes zum Menschen spricht. Im Bewußtsein kann „jener Funke des höheren Lebens, welcher den Menschen erst zum
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Schubert [1814] 1968, S. 1–2. Ebd., S. 2–3. Vgl.: Schott 1981.
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Ebenbild des Göttlichen machet, und seine Gemeinschaft mit diesem vermittelt“, erfaßt werden.30 Wenn die Seele erst „von jener ansteckenden Kraft der Wahrheit ergriffen“ wird, verfolgt das Bewußtsein auch Gedankenassoziationen, die mit den im Traum produzierten durchaus vergleichbar sind, ohne dabei auf „vernünftige Vorstellungen äußere Rücksichten, Bande der Gesellschaft und sinnliche Neigung“ Rücksicht zu nehmen. Genauso wie dem Traum ist es auch dem Bewußtsein gegeben, über die unmittelbare Realität unserer Wahrnehmungen hinauszugehen und Assoziationen zu produzieren, welche die zeitliche und räumliche Einbindung unseres Körpers überwinden. Doch deshalb ist es keineswegs eine Flucht oder ein Bekenntnis der Machtlosigkeit, so wie es geschieht, wenn der Mensch in einem Traum Zuflucht sucht, den er in seinem Innern hegt. Als Zeichen des Widerspruchs und „Mutter aller [...] Widersprüche unserer Natur“ ist das Bewußtsein hingegen das eigentliche und authentische Zutagetreten der Kraft der Innerlichkeit, „jener Stachel, welcher uns mitten in den Vergnügungen der Sinnenwelt kein Genüge, in allen Befriedigungen sinnlicher Neigungen keinen Frieden finden läßt“.31
V.
Das Gefängnis des Körpers und das Unbewußte: Schubert
Die von Schubert dargelegte Theorie des Bewußtseins erkennt somit in der unsterblichen Seele die Gewährleistung der naturgegebenen Individualität des Menschen. Schubert stellt jedoch nicht in Frage, daß dieser naturgegebenen Individualität auch ein Körper angehört, der auf das Leben des Bewußtseins einwirkt. Damit erkennt Schubert die große Bedeutung der Prozesse, die sich in der Tiefe des Seelenlebens abspielen, ohne in die Dimension bewußter Anschaulichkeit vorzudringen: hier zeichnet sich eine echte Theorie des Unbewußten ab. Schubert kennt die in der zeitgenössischen Neurologie gängigen Auffassungen vom Gehirn als „Seelenorgan“ und weiß um die Unterscheidung und den Widerspruch zwischen dem „Cerebralsystem“, das von dem als koordinierendes Organ aller Sinneswahrnehmungen fungierenden Gehirn gebildet wird, und dem „Gangliensystems“, das als Teil des Nervensystems die automatischen Funktionsmechanismen der inneren Organe kontrolliert. Die Seele, die den Menschen von allen anderen Lebewesen eindeutig unterscheidet, hat mit dem Gehirn ein echtes „Organ“, mit dem sie im Körper dem Leben des Geistes eine Stimme verleihen kann. Die Entwicklung und die vitale Erhaltung des Organismus werden hingegen von den Organen des „Gangliensystems“ bestimmt. Während der „Bildungstrieb“ den lebenden Körper formt und organisiert und sich über das „Gangliensystem“ überallhin verteilt, bleiben die Organe des
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Schubert [1814] 1968, S. 56–57. Ebd., S. 68–70.
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Cerebralsystems untätig, und „alle Thätigkeit der Seele ist erloschen in dem Geschäft der materiellen Bildung“. Auch das „Cerebralsystem“ hat jedoch seine Grenzen: im Tier sind diese von den „materiellen Bedürfnissen“ gesetzt, obwohl es über eine „unbefangene Empfänglichkeit“ verfügt. Im Menschen, „dessen Neigung ursprünglich höherer Natur ist“, erhebt sich diese Empfänglichkeit und wird „Empfänglichkeit für etwas höheres“, „ungesättigt durch alles bloß materielle Wirken und Geniessen“. Die nicht auf die Erfüllung eines materiellen Bedürfnisses ausgerichtete Empfänglichkeit, die im individuellen Organismus des einzelnen Menschen von seiner Seele ausgelöst wird, erhebt den Menschen: „das mitten in dem Meere materieller Genüsse frey gebliebene Geistige erhebt sich als Selbstbewußtsein über die Besonderheit“. Und auch die Vernunft benutzt aufgrund ihres direkten Ursprungs aus der Seele das Gehirn wie ein Werkzeug, wie ein „Organ“ und kann auf diese Weise „der Stimme einer höheren Ursache alles Seyns“ Gehör verleihen und die „zweite, von der Vernunft verschiedene Sprache in uns“ zum Schweigen bringen, obwohl sie auch jenen „zerstörend selbstsüchtigen Charakter“ aufweist, der häufig „der ungleich mächtigere Theil unserer Natur“ ist.32 Der Mensch befindet sich somit ständig in Lebensgefahr. Er kann jenen Widersprüchen zum Opfer fallen, die – wie schon „in den Geheimlehren und [im] Geheimgottesdienst des Alterthums“ angedeutet – den „Geist eines höheren, nüchternen Erkenntnisses und der innigeren Gemeinschaft mit dem Göttlichen“ mit dem „orgiastische[n] Greuel einer rasenden thierischen Wollust“ Hand in Hand gehen lassen. Der Mensch kann dieser Lebensgefahr nur entgehen, wenn er sich selbst und den ursprünglichen Gegenstand seiner Liebe, nämlich seinen Schöpfer, wiederfindet. Dies ist dem Menschen und nur ihm möglich, da er über eine individuelle Seele verfügt und damit an der Spitze der Schöpfung steht, ausgestattet mit einem Körper, an dessen Spitze ein Organ steht, nämlich das Gehirn, das ihm die Kenntnis seiner selbst und der Welt ermöglicht. Die Seele ist im Gehirn eingeschlossen, so wie eine schöpferische Kraft in eine von ihr gestaltete und angetriebene Form eingeschlossen ist. Schubert blieb jedoch immer der festen Überzeugung, daß der Körper de facto ein Gefängnis ist und die durch ihn bestehenden zeitlichen und räumlichen Beschränkungen der Freiheit der Seele oftmals verhängnisvoll sind.33 Im Wahnsinn werden die Ketten, mit denen die Seele an den Körper gebunden ist, unendlich schwer. Im Wahnsinn verliert der Mensch die Empfänglichkeit seines Geistes und wird auf eine rein materielle Empfänglichkeit zurückgeworfen. Im Wahnsinn befindet sich die Seele „in einem cataleptischen Stillstehen“, und der Mensch wird zunehmend von den animalischen Trieben und von echter Bestialität beherrscht. Und im Kontrast zum Wahnsinn wird der Reichtum der Seele und die ihr eigene Affinität mit den höchsten Sphären des Geistes wirklich deutlich erkennbar. Das moralische Gesetz nimmt seine ursprüngliche geistige Form erst wieder an, wenn die Seele sich von den mate-
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Ebd., S. 157, 203. Ebd., S. 73.
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riellen Banden befreit. Im Traum, in der Reinform des Seelenlebens sind diese Bande aufgehoben, dort ist die Seele nicht mehr dem Körper unterworfen und offenbart sich in ihrer ununterbrochenen, stetigen Tätigkeit im tiefen Innern, ihrem Denken und ihrem Schaffen. Gerade im „magischen Dunkel unserer Träume“ gelingt es uns, nicht die Orientierung zu verlieren und uns nicht blenden zu lassen. Es ist, als ob uns ein ganz neuartiger Blick geschenkt wurde, mit einer viel höheren Sehkapazität, die weit über die Grenzen unserer Natur hinausdringen kann. Bei den Bildern, die im „magische[n] Dunkel unserer Träume“ aufleuchten, handelt es sich um die Sprache, die die individuelle und unsterbliche Seele im tiefen Innern – dem Unbewußten – schafft. Es sind Bilder einer gehobeneren Sprache, die viel essentieller ist als jene, die den Dingen der „sichtbaren Natur“ ihren Namen gibt.34
VI.
Die Seele und das Nervensystem: Reil und Carus
Auch Reil erkennt die große Bedeutung des Unbewußten im Leben der Psyche. Er lokalisiert die Seele jedoch im Nervensystem und in seinen besonderen Funktionseigenschaften, wobei er selbst die Möglichkeit nicht ausschließt, die äußeren Merkmale tatsächlich auf der anatomischen Ebene anzusiedeln. Aus seiner Sicht können die Phänomene des Somnambulismus denn auch auf die Konzentration der Nervenkraft in den vom „Gangliensystem“ kontrollierten Bauchorganen zurückgeführt werden. Bei Schubert ist ein derartig physiologischer (d. h. anatomisch-funktionaler) Standpunkt nicht einmal in Betracht gezogen worden und erscheint in Anbetracht der Herrschaft der Seele über das gesamte Leben der Psyche völlig unerheblich. Das Unbewußte, oder besser gesagt das Bewußtsein als „Mutter aller [...] Widersprüche unserer Natur“, bestimmt als „Schicksal“ das gesamte menschliche Dasein in der Natur. Schuberts Standpunkt ist jedoch aus mehreren Gründen fast als „extrem“ zu bezeichnen. Auch jene, die Reils Materialismus (oder Reduktionismus) ablehnen und überzeugt davon sind, daß der göttliche Ursprung der Seele die wichtigste Gewährleistung der menschlichen Würde ist, halten eine systematische Auseinandersetzung mit den aus der Erforschung des Nervensystems hervorgehenden Daten für unumgänglich. In demselben Jahr (1814), in dem Schuberts Symbolik des Traumes erscheint, veröffentlicht Carl Gustav Carus, der in Leipzig von Burdach in die Erforschung der Neurologie eingeführt worden war, eine Abhandlung, die weitgehend auf den Vorstellungen seines Lehrers über die Struktur und die Funktionen des Gehirns aufbaut. In seinem Versuch einer Darstellung des Nerven-
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Ebd., S. 199–204, 99–104, 111–112.
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systems35 liefert Carus eine Beschreibung des Nervensystems, wobei er von den neuesten mikroskopischen Untersuchungen seiner Zeit (mit besonderer Berücksichtigung der Untersuchungen der Brüder Wenzel) ausgeht. Die „Nervenkraft“ scheint aus „materiellen Punkten“ zu bestehen. Der tierische Organismus entwickelt sich aus einer „Punktmasse“. Diese Masse weist im Nervensystem eine Struktur auf, die mit der eines Kristalls vergleichbar ist, in dem gegensätzliche Kräfte wirken. In dieser kristallartigen Substanz liegt der spezifische Unterschied der Nervensubstanz im Vergleich zur „urthierischen Masse“, der „Körpermasse der einfachsten tierischen Organismen“, die für Oken, der davon überzeugt war, daß sich die Organismen aus einem „Urschleim“ herausbilden – schon die Eigenschaften der Nervenmasse selbst aufwies. Carus konnte diese Ansicht nicht teilen, obwohl er in vielen Auffassungen Okens eine wahre „Genialität“ erkannte und von dieser stark beeinflußt war: die „Entwicklungsgeschichte jedes vollkommenen Thiers“ konfrontiert uns mit einer zunehmenden Differenzierung, die „einzig in einer immer gehenden Differenzirung einer solchen Indifferenz begründet“ ist.36 Carus spricht sich auch gegen jene These aus, die in räumlichen Bewegungen und Veränderungen materieller Natur die Grundlage der Seelentätigkeit erkennt. Zu den „crassesten Beyspiele[n] von Hypothesen, die von dieser Vorstellung ausgehen, zählt Carus nicht nur die Theorien von Priestley und Bonnet, sondern auch Hallers These über die „Cirkulation eines Nervensaftes in den Nervenkanälen“. Carus erscheinen auch jene neueren Ansichten nicht akzeptabel, welche die Ursache der „Sensibilität“ auf einen chemischen oder elektrischen Prozeß zurückführen. Die Sensibilität ist die spezifische Tätigkeit des Nervensystems, deshalb ist es müßig, von einem elektrischen oder sonstwie gearteten Prozeß auszugehen, der doch nicht in der Lage ist, den Wahrnehmungsprozeß zu erklären.37 Trotz der vorliegenden aufschlußgebenden Daten über das Verhältnis zwischen der Nerventätigkeit und elektrischen und magnetischen Phänomenen läßt Carus sich vom „mysteriösen Nymbus“ des „thierischen Magnetismus“ nicht beeindrucken. Sein Standpunkt ist umfassenderer Natur und vom Motiv der Beziehung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos beflügelt: „der ganze pflanzliche oder thierische Organismus [ist] seinem Wesen nach in einer Wiederholung des Makrokosmos begründet“. Die im Mittelpunkt des tierischen Organismus stehende Nerventätigkeit gewährleistet dessen Zusammenhalt auf genau die gleiche Art und Weise wie es die Sonne im Mittelpunkt des Sonnensystems macht. Wenn sich uns die „centrale Spannung“, welche die Anziehung der Planeten an die Sonne gewährleistet, als Licht zeigt, das sich in Wärme und Elektrizität verwandelt, warum soll man sich dann darüber wundern, daß auch
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Carus 1814. Zur Literatur: Carus [1865–1866] 1966; Bernoulli 1925; Kern 1926; Nadler 1938; Feremutsch 1951; Zaunick 1964; Jansen 1966; Kleine-Natrop 1970; Genschorek 1978; Procesi 1998; Michael 1997; Michael 1997a; Poggi 1997. Carus 1814, S. 54–55, 56, 70, 16. Carus [1822] 1949. Ebd., S. 42–43.
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die Nerventätigkeit beim Tier Wärme und Elektrizität freisetzt, auch wenn in der „höheren organischen Potenz der Sensation und Fasencontraction“? Genauso wie das Licht, daß nur in der zeitlichen Dimension wirksam wird und seine Existenz nur in den von ihm beleuchteten Dingen erkennen läßt, offenbart sich auch die Nerventätigkeit nur in den Ausdrucksformen der lebenden Körper. Der komplette Beleuchtungsprozeß weist zwei grundlegende Aspekte auf: den dynamischen Aspekt des Beleuchtens und den materiellen Aspekt der beleuchteten und somit leuchtenden Dinge. Genauso kann man im Nervenleben eine „formale“ oder „somatische“ vom Nervensystem vertretene Seite und eine „dynamische“ Seite unterscheiden, jene, in der sich im Laufe der Zeit die Nerventätigkeit entfaltet.38 Beeinflußt von Burdachs Lehren hält Carus entschlossen an einem anatomisch-morphologischen Standpunkt fest: das Nervensystem ist das „einzige räumliche Abbild der Seele, welches also ueberhaupt existirt“. Die Beziehung zwischen dem Nervensystem und der Seele gestaltet sich ähnlich „wie der Mathematiker Richtungen und Veränderungen der Kräfte auszudrücken pflegt durch Linien und Punkte“. Aber „diese Linien, diese räumlichen Bilder der an sich nicht im Raum erscheinenden Kräfte“ – ein Phänomen, das ja auch auf die sich vollkommen in der zeitlichen Dimension verdichtende Nerventätigkeit zutrifft – sind aus diesem Grunde nicht als „wirkliche Werkzeuge jener Kräfte“ anerkannt. Die physiologischen Kräfte werden nicht nur durch „räumliche Bewegung dieser Linien“ produziert und so sind auch die Nerven „nur gleichsam die todten Linien, welche die Richtung der Nerventätigkeit im Organismus bezeichnen“. Doch wenn der Physiologe die Form des Nervensystems untersucht und diese als eine Art „räumliches Schema“ der Seele versteht, muß er immer klar vor Augen haben, daß der „psychische Organismus“ nicht etwas „vom somatischen Organismus des Nervensystems wahrhaft getrenntes und verschiedenes, sondern eine in der Zeit tätige Seite des letzteren ist“. Behauptungen wie die folgende sind somit vollkommen falsch: „die Nerventätigkeit wirkt die Empfindung u. s. w., die Seele ist das Produkt der Gehirntätigkeit“. Die „Seele und das centrale Nervensystem sind eins und dasselbe“. Die Seele und das zentrale Nervensystem „beide zusammengenommen, geben erst den wahren Begriff des Nervenlebens, welches, wie ueberhaupt alles, unter der doppelten Form der räumlichen Existenz und Thätigkeit erscheint“. Diese beiden Erscheinungsformen verbinden sich „in der Idee der organischen Einheit“.39
VII. Das Innere und das Äußere: Carus und Oken Schon bei der allerersten Selbsterfahrung des Menschen als Objekt einer Neigung manifestiert sich eine „Urtätigkeit“. Oken hatte von der Existenz einer „urthierischen Masse“ gesprochen und Carus bestätigt, daß die Manifestation
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Ebd., S. 45, 13, 47, 43–44. Ebd., S. 40–41, 49–50.
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einer solchen „Urtätigkeit“ die Vorstellung einer vollkommen untätigen Materie widerlegt. Das Ich des Menschen stellt „die vollendetste Manifestation des individualisirenden Strebens in der Natur“ dar. Sobald wir uns als einen fühlenden und reagierenden Körper erfahren, bemerken wir auch eine Spaltung, einen Gegensatz, den „ersten aller uns wahrnehmbaren Gegensätze“: der Gegensatz zwischen unserem Ich und der Außenwelt. In der Spannung zwischen dem „Inneren“ und dem „Äußeren“ liegt das vorrangige und grundlegende Merkmal der Nerventätigkeit, die diese Spaltung zwischen „Innerem“ und „Äußerem“ jedoch gleichzeitig auch wieder auflöst. Die Nerventätigkeit macht sich vor allem als eine Art Lebenskraft bemerkbar. Sie erfüllt den ganzen Körper, gewährleistet die Spannung und somit auch die Reaktion. Die Nerventätigkeit ist der ursprüngliche Kern der gesamten Körpertätigkeit. Um seine Tätigkeit auszuüben, muß sich das Nervensystem der anderen Systeme des „thierischen Organismus“ bedienen, die somit eine unabdingbare Mittlerfunktion zwischen dem Nervensystem und allem in bezug auf das Nervensystem „Äußeren“ einnimmt. Das Nervensystem selbst weist in seinem Innern zwei grundlegende Wesensmerkmale auf: einerseits befindet es sich innerhalb des Organismus, andererseits ist es in seinem Innern selbst von der „Nervenkraft“ erfüllt und belebt, die in ihm wirksam wird. Alle anderen Systeme des „thierischen Organismus“ schränken die Freiheit der Nerventätigkeit ein, nur das Nervensystem ist in der Lage, eine wirkliche Einheit des Organismus herzustellen und aufrechtzuerhalten.40 Carus definiert des weiteren eine Reihe von Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Sektoren des Nervensystems, vor allem zwischen dem Zentralnervensystem und dem „acentrischen oder Gangliensystem“. Diese Differenzierung muß sowohl auf anatomischer als auch auf funktionaler Ebene vorgenommen werden: auf der einen Seite die „Seelentätigkeit“ und auf der anderen das sensorium commune. Die Verbindungen und die gleichzeitig bestehende relative Unabhängigkeit voneinander, die beide Systeme bei einer anatomischen Untersuchung aufweisen, sind genau so auch bei der Entfaltung der Tätigkeit des „psychischen Organismus“ anzutreffen. Die Gefühle, mit denen sich die Zustandsveränderungen im sensorium commune offenbaren, machen die Bedeutung „aller zu der Zeit, da das Gefühl aufgeregt wurde, in der Seele vorhandenen Vorstellungen“ deutlich: sie sind somit ein und dasselbe, „wie auf einem Bilde das Colorit zur Form“. Außerdem muß die nächste Unterscheidung zwischen dem Rückenmark und dem Gehirn vorgenommen werden. In Übereinstimmung mit der in der zeitgenössischen Neurologie vertretenden Ansicht teilt er dem Rückenmark die Kontrolle über die Körperbewegungen zu, während er einzig dem Gehirn die Fähigkeit zuerkennt, Wahrnehmungen zu haben und ein Empfindungsvermögen.41 Nach Carus ist es schwerlich möglich, für jede einzelne Funktion des Nervensystems einen genauen „Ort“ zu bestimmen. Diesbezüglich kann er sich auf
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Ebd., S. 9, 102. Ebd., S. 51–52.
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Reils Untersuchungsergebnisse berufen, der die Existenz einer spezifischen Beziehung zwischen den Hirnfunktionen und den „fixen Formen“ der „Gehirnmasse“ und d. h. bestimmten Bereichen im Gehirn ausschließt. Jeder Versuch, einen Sitz oder besser ein „Organ“ der Seele auszumachen, geht von falschen Voraussetzungen aus, eben weil Vorstellung, räumliches Schema der Seele und Nervensystem immer als ein Ganzes betrachtet werden müssen: das Nervensystem, und d. h. genauer gesagt das Rückenmark zusammen mit dem Gehirn, scheint ein mit eigenständigem Leben ausgestatteter Organismus zu sein, der in der Lage ist, alle Körperorgane miteinander zu vernetzen. Die Struktur und die Form des Nervensystems als schematische Vorstellung der Seelentätigkeit im Raum bestätigen dies. Das Nervensystem ist wie ein „Bündel von Strahlen“: jeder einzelne dieser „Strahlen“ strahlt einerseits nach außen und andererseits bewegt er sich nach innen, ins Innere des Organismus’. Diese „Strahlen“ kreuzen und verknüpfen sich entsprechend der Veränderungen in der äußeren Welt und der Reaktionen der inneren Welt: „Sensibilität“ sollte als ein optischer „Focus“ angesehen werden, ein „Focus“ nämlich der „Strahlen“, d. h. der Nervenfasern. Zwischen der „Centralmasse“ und den peripheren Endpunkten des Nervensystems, den verschiedenen „Ganglien“, die alle anderen Organe innervieren, besteht eine vollkommene gegenseitige Entsprechung, die aus dem ganzen Nervensystem ein „continuum“ macht. In der „Centralmasse“ kann man das „Abbild“, die „Wiederholung des ganzen eigentlich thierischen Organismus“ erkennen. Nicht der systematische Einsatz des Skalpells, sondern die vergleichende Anatomie ermöglicht es uns, das wahre „Konzept“ eines Organs zu erfassen, und zwar durch die Untersuchung der Veränderungen desselben im Laufe der Zeit.42 Die Erforschung des Nervensystems findet ihre Krönung in der Untersuchung seiner von den einfachen Lebensformen ausgehenden Entwicklung. Carus, der sich hier ausdrücklich auf Oken bezieht, betont, daß diese Entwicklung bei jenen Menschen zur Vollendung gelangt, denen sich in ihrem in der zeitlichen Dimension von der unsterblichen Seele aufrechterhaltenem „psychischen Organismus“ durch die ständige Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos die „Idee“ offenbart, die von der Natur unablässig bekundet wird. Andererseits ist es jedoch auch von grundlegender Bedeutung, die Veränderungen der „nervigen Centralmasse“ zu untersuchen, denn die Entwicklung des Zentralnervensystems vollzieht sich in der gesamten „Thierwelt“, „dem bleibenden stetigen Fötus der Menschheit“.43 Im Schlußteil von Carus’ Versuch zeichnet sich eine regelrechte Entwicklung des Zentralnervensystems ab. Unter wiederholter Bezugnahme auf Herders Ideen, aber mit Oken als grundlegendem Bezugspunkt,44 skizziert Carus die wesentlichen Linien einer regelrechten Entwicklungsgeschichte des Nervensystems und insbesondere des Gehirns, einer Entwicklungsgeschichte, die nur
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Ebd., S. 9, 102, 52, 56, 97, 308–309. Schott 1988. Ebd., S. 3, 13–15, 70, 102. Ebd., S. 301–302; Carus 1831, S. xi.
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unter Beachtung eines grundlegenden Merkmals erzählt werden kann: dem Merkmal der „Idee des Urtypus eines Centralorgans der Sensibilität“.45 Diese Geschichte muß jedoch mit einem ständigen Blick auf die Art und Weise, mit der die Natur stufenweise fortschreitet, erzählt werden. Carus übernimmt das von Meckel formulierte „Gesetz des Parallelismus“46 als selbstverständliche Voraussetzung. Die Erzählung dieser Geschichte muß sich somit an jenes wirkliche „Naturgesetz“ halten, wonach „jede höhere Bildung die tieferstehende in sich aufnimmt, in sich wiederholt“. Auf dieser Grundlage bilden auch „die edelsten Manifestationen der Seelenkraft“ das Ziel eines langen und komplexen Entwicklungsprozesses, der sich ausgehend von den einfachsten Ebenen des Tierreichs ohne Unterbrechung vollzieht. Nach Carus ist der Sinn die „Basis des höheren Seelenvermögens“, und in ihm ist ein ununterbrochenes „ideales Bestreben“ wirksam. Es ist jedoch wichtig auch zu erkennen, wieviel in diesem Sinn eine regelrechte „Wiederholung“ des ursprünglichen „Aneignungstriebes“ ist, der schon in den einfachen Lebensformen wirksam ist: der Gegensatz zwischen dem „äußeren Sinn“ (dem „Hautsinn“) und dem „inneren Sinn“ (dem „Eingeweidesinn“), bei dem es sich um einen polaren Gegensatz handelt, ist die erste entscheidende Manifestation der Spannung zwischen einem Außen und einem Innen, das wir am Grunde unseres psychischen Dasein ständig wahrnehmen.47
VIII. Das System der Sinnesorgane: Burdach, Carus Die Dimension des Unbewußten sollte in Carus einen aufmerksamen und scharfsinnigen Forscher finden. Dazu kommt es jedoch erst viele Jahre später, und zwar mit der Veröffentlichung der Psyche im Jahre 1846, als die Zeit der Befreiungskriege gegen die Armee Napoleons, zu denen ähnlich wie Fichte auch viele andere bedeutende Persönlichkeiten der romantischen Wissenschaft wie Reil, Oken und Steffens ihren Beitrag leisten wollten, nur noch eine blasse Erinnerung geworden war und es innerhalb der Wissenschaft zu tiefgreifenden Veränderungen gekommen war.48 Schon in seinem Versuch hatte Carus sich ja offen für die Notwendigkeit einer Erforschung des Seelenlebens gezeigt. Es steht jedoch außer Zweifel, daß er ganz anders als Schubert seine Vorstellung einer Entwicklungsgeschichte des Nervensystems und insbesondere des Gehirns auf ein grundlegendes Vertrauen in die wissenschaftliche Erforschung der Natur aufbaut.49
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Carus 1814, S. 3. Meckel 1821, S. 409, 413; Carus 1814, S. 262. Carus 1814, S. 74, 43, 13, 15–17, 299, 297, 108, 113–114. Carus [1846, 1860²] 1975, S. v ; Kleine-Natrop 1970, S. 226; Poggi 1994. Carus o. J., S. 23.
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Der Versuch einer Darstellung des Nervensystems ist jedoch trotzdem kein originelles Werk. Burdachs Ideen wird darin große Bedeutung eingeräumt und dies sowohl in bezug auf die Untersuchung der verschiedenen Aspekte der anatomischen Struktur des Nervensystems als auch in bezug auf die allgemeinere Auffassung der Beziehung zwischen dem Nervensystem und dem „psychischen Organismus“. Diese Ideen wurden ihm in den Jahren seines Universitätsstudiums von Burdach persönlich vermittelt. Der erste Band des umfangreichen Traktates Vom Baue und Leben des Gehirns,50 in dem Burdach die Anatomie und Funktion des Gehirns untersucht, erscheint denn auch im Jahre 1819, d. h. nur fünf Jahre nach dem Versuch von Carus aus dem Jahre 1814. Die zwei Folgebände erscheinen dann 1822 und 1827, und sind von der Debatte über die Bedeutung der Physiologie und ganz allgemein der Beobachtung von Naturprozessen für das Erkennen der vom „Seelenorgans“ initiierten Vorgänge beeinflußt.51 Einige der von Burdach im dritten Band ausgeführten Betrachtungen sind von besonderem Interesse. Burdach bestätigt die zentrale Bedeutung der Empfindung für das gesamte Leben des Organismus’. „Empfindung und Bewegung sind“, nach Burdach, „die äussersten Glieder der Seele, welche die Berührbarkeit mit der Aussenwelt geben und die direkte Einwürkung des Leiblichen auf die Seele, und des Psychischen auf den Leib darstellen“. Obwohl sich die Wahrnehmungs- und Bewegungsorgane an der Peripherie des Körpers befinden, sind sie ständig mit dem Gehirn und dem gesamten Zentralnervensystem verbunden, das seinerseits die Vernetzung der verschiedenen Organe gewährleistet, was wir auch schon in allen Manifestationen bemerken können, die auf ein sensorium commune zurückgeführt werden. In der Empfindung und in der Bewegung drückt sich die „Einheit des materiellen und psychischen Lebens“ aus. Die Empfindungs- und Bewegungsorgane „sind Gebilde, welche [sich] ihrem Wesen nach nicht auf Plasticität [...] beziehen, sondern nur im Dienste der Seele stehn“. Von einem allgemeineren Standpunkt aus betrachtet ist es sicherlich möglich, alle Sinnesorgane als „Zugänge der Natur zur Seele“ zu verstehen.52 Es stimmt jedoch auch, daß die Sinnesorgane bei der Gewährleistung des Kontaktes mit der Außenwelt de facto eine ähnliche Aufgabe übernehmen wie die in die Aufnahme und Aneignung der „äusseren Stoffe“ involvierten „plastischen Organe“. In ihrer Gesamtheit bilden die Sinnesorgane „eine fortlaufende Reihe“ von Formen, so wie die „fortschreitende Entwickelung und Umbildung einer und derselben Grundgestalt“. An den Anfang dieser Reihe stellt Burdach die vom Tastorgan eingenommene Form, dessen Primat in den weniger entwickelten Tieren weiterhin besteht, und zwar mit der Struktur, die bei letzteren das Auge und das Ohr aufweisen.53 Die Sinnenorgane und die „Aneignungs-
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Burdach 1819–1827. Zur Literatur: Feremutsch 1953; Kay 1970; Meyer 1970; Hagner 1997. Vgl. auch: Neuburger 1897: Soury 1899; Poggi 1994. Burdach 1819–1827, I, S. 32; Burdach 1819–1827, III, S. 271. Burdach 1819–1827, III, S. 211–213: „Zugänge der Natur zur Seele“. Burdach 1819–1827, III, S. 215–216.
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organe“, welche die Ernährung des Organismus sichern, werden nach dem gleichen „Konzept“54 definiert: Die Schnittpunkte der entsprechenden Entwicklungsprozesse liegen klar auf der Hand. In den weniger entwickelten Tieren ist „die gleichförmige Oberfläche der Haut“ ausreichend, um die Interaktion mit der Außenwelt zu gewährleisten. Mit dem Fortschreiten des Entwicklungsprozesses des Lebens kommt es zu einer Differenzierung dieser „gleichförmigen Oberfläche“: es bilden sich die „Organe der Verdauung und der Athmung“, die das Ergebnis des sich immer komplexer gestaltenden Prozesses einer primitiven Umwandlung von einer einfachen Aushöhlung in eine „Blase“55 sind. Ein ähnlicher Prozeß ist die von der Haut ausgehend konzipierte Entwicklung des Nervensystems – und auch diese Auffassung lehnte sich de facto an Okens Vorstellungen56 an. Alle Organe des menschlichen Körpers haben ihren gemeinsamen Ursprung in der Haut, die „das Begränzende der Individualität und doch das Angränzende an die Welt“ ist. Wie schon Meckels Studien zur Entwicklung der Embryonen57 deutlich gemacht hatten, existiert das Hautsystem schon im Embryonalstadium. In der Haut beginnt das sensorium commune – „Wurzel der Sinnesthätigkeit“ – den Charakter der „Selbsgefühls“ anzunehmen und die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß wir mit dem Tastsinn dank des Bewußtseins einer Grenze die erste Art der „Empfindung des Aeusseren“ erfahren.58 Diese Wahrnehmung ist – und das hatte schon Burdach 1819 im ersten Band seines Traktats59 deutlich gemacht – von einer ihr wesenseigenen Zweideutigkeit gekennzeichnet: als „Selbstgefühl“ befindet sie sich innen und als „Sinnesthätigkeit“ außen.
IX.
Sensorium commune und Seelenorgan: Burdach und Rudolphi
Allgemein betrachtet ist jede Sinnestätigkeit „die Beziehung eines bestimmten Punctes der Leibesoberfläche zu einem bestimmten Puncte des Gehirns, vermittelst deren eine besondere Richtung der allgemeinen Weltkraft mit einer besondern Richtung der Seelenthätigkeit in Verkehr tritt“. De facto ist es wie eine Übereinstimmung zwischen jedem Sinnesorgan und den Phänomenen der Aussenwelt, die es zwangsläufig wahrnehmen muß. Dies wird durch die „Substanz und Organisation“ eines jeden Sinnesorgans ermöglicht. „Das Auge ist“, wie Burdach mit Bezug auf den berühmten Ausspruch Goethes feststellt, „nicht bloss ein Spiegel, welcher die Lichtstrahlen aufnimmt und zu einem Bilde sammelt, sondern es leuchtet auch selbst, wenn es sich im Zustande erhöhter Erregung befindet“. Genauso wie im Auge spiegeln sich auch in den anderen
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Burdach 1819–1827, I, S. 9. Ebd., I, S. 9. Oken 1807, S. 1, 18. Meckel 1821, S. 397. Burdach 1819–1827, III, S. 215–216. Burdach 1819–1827, I, S. 42.
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Sinnesorganen mit der Zeit die verschiedenen „Weltkräfte“ und die „verschiedenen Formen des allgemeinen Daseyns“ wider. In ihrer Gesamtheit betrachtet sind die Sinnesorgane die Zusammenfassung aller Varianten mit denen unser Wissen mit der Realität der Außenwelt in Kontakt tritt und gezwungen ist, diese in Formen und in Schemata zu zerlegen, die entsprechend der zeitlichen und räumlichen Dimensionen strukturiert sind. Diese Rekonstruktion vollzieht sich de facto im Gehirn: anatomische Untersuchungen hatten schon mehrfach auf die Existenz von „Spuren von Uebereinstimmung der einzelnen Sinnesorgane mit den Hirntheilen, welche das Centralende ihrer Nerven enthalten“, hingewiesen, wie Burdach betont, und dies kann die These der Korrespondenz zwischen Sinnesorganen und Gehirn nur bestätigen. Doch nicht nur dies. Die Sinnesorgane können als regelrechte „Vermittler zwischen Seele und Welt“ verstanden werden, wenn man nur die Korrespondenz zwischen gewissen Sinnestätigkeiten und jene „Seelenthätigkeiten“ denkt, welche die Realität der Außenwelt mit Hilfe zeitlicher und räumlicher Schemata ordnen. Es ist somit selbstredend, daß nur die Koordinierung aller „Seelenthätigkeiten“ die Kenntnis der Natur ermöglicht. Wie schon Carus im Jahre 1814 so bestreitet auch Burdach noch 1827 die Möglichkeit einer eindeutigen Unterscheidung zwischen den untergeordneten Lebensfunktionen einerseits und den Funktionen des Nervensystems anderseits. Die Sinnesorgane sind „leibliche Reflexe der Seelenthätigkeiten“, während das Seelenleben seinen wahren und konkreten Ausdruck in der Tätigkeit des Gehirns findet. Die Tätigkeit des Nervensystems muß als die eigentliche Vollendung des idealen Seelenlebens betrachtet werden, da es im Gehirn mündet, von dem es koordiniert wird, und im Menschen zu immer differenzierteren und fortgeschritteneren Ebenen gelangt, wobei es eine derart komplexe Struktur erhält, die gerade deshalb die Grundlage der Individualität und der Persönlichkeit bildet.60 Von diesen Gedankengängen geleitet, äußert sich Burdach schließlich auch über die Möglichkeit, das Gehirn tatsächlich als das „Seelenorgan“ zu betrachten. Zwischen der als „Lebenserscheinung“ verstandenen Seele und dem Gehirn als einer anatomisch erforschbaren Struktur bestehe eine Beziehung, die in der Physiologie wie die Beziehung zwischen Funktion und Organ definiert wird. Burdach betont die Haltlosigkeit der Auffassung, nach der das Seelenorgan ein Teil des Gehirns sei. Man brauche nur zu bedenken, daß „jedes Organ […] in seiner ganzen Ausdehnung die Function [vollzieht], deren räumlicher Ausdruck es ist“, um eine derartige These zu widerlegen.61 Auch wenn man nun davon ausgeht, daß die Tätigkeit der Seele mit dem „Einklang der Würksamkeit der verschiedenen Hirntheile“ in Verbindung gebracht werden muß, scheint es jedoch trotzdem gerechtfertigt sich zu fragen, welchen Beitrag „zu diesem Totaleffecte jeder Punct des Gehirns“ liefert. Bei dem Ausmaß dieses Beitrags keinen Unterschied zu veranschlagen, erscheint Burdach der Ausdruck einer mit den anatomischen Studien nicht in Einklang zu bringenden mechanistischen Be-
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Burdach 1819–1827, I, S. 42; III, S. 213–214; 193–195. Burdach 1819–1827, III, S. 267.
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trachtungsweise. Das Gehirn scheint gerade deshalb das „Seelenorgan“ zu sein, weil es ein sehr „individualisirtes“ Organ ist und die Fähigkeit besitzt, in seiner extrem komplexen Struktur eine außerordentliche Vielfalt unterschiedlichster Formen aufzunehmen.62 Wie schon Rudolphi zu Beginn des Jahrhunderts betont hatte, müsse mit der Bezeichnung „Seelenorgan“ das Gehirn in seiner Gesamtheit gemeint sein und nicht etwa der eine oder andere Teilbereich desselben, denn es sei unmöglich einen Bereich des Gehirns zu bestimmen, der vorherrschend auf alle anderen Bereiche einwirkt, so daß seine Beschädigung eine allgemeine Schwächung aller Anlagen der Psyche verursachen würde.63 Burdach, der sich auch auf Herder und auf denselben Passus in dessen Ideen bezieht wie Carus, betont seine Kritik an einer ihm mechanistisch erscheinenden Auffassung der Beziehung zwischen Seele (Psyche) und Gehirn, wenn er mit Nachdruck auf die Notwendigkeit hinweist, die Auffassung jener abzulehnen, die in den verschiedenen „Seelenkräften“ „Substanzen“ mit einer ihnen eigenen Spezifik erkennen wollen. Es ist jedoch auch unbestreitbar, daß die „Seelenkräfte“, welche „die verschiednen Beziehungen und Richtungen derselben Kräfte“ sind, untereinander einen Unterschied aufweisen und miteinander sogar in Konflikt geraten können oder sich zumindest in divergierenden Richtungen ausdrücken können, indem sie unterschiedliche Aspekte der äußeren Welt auswählen, was zum Beispiel schon auf der sehr elementaren Ebene der räumlichen Wahrnehmung deutlich wird, die sich in den verschiedenen Sinnesorganen auf unterschiedliche Weise jedoch „unbeschadet der Einheit der Seele“ vollzieht. Burdach betont erneut, daß es im gesamten Nervensystem keine wirklichen Unterbrechungen gäbe und daß es sich nur um eine „Abstraction“ handle, wenn wir Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Tätigkeiten der Sinne vornehmen. Wie die ununterbrochene Tätigkeit des sensorium commune zeigt, das eine Art Koordinierungsorgan der verschiedenen Sinnestätigkeiten zu sein scheint, de facto jedoch von der Anatomie nicht ausfindig gemacht werden kann, so wird „jedes einzelne Organ [...] alle [Seelentätigkeiten] in sich begreifen, und nur das Uebergewicht einzelner in bestimmten Combinationen darstellen“.64 Burdach schließt nicht die Möglichkeit aus, daß – selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, daß man sich der Tatsache bewußt ist, zu Abstraktionen zu greifen, die allerdings Teil des eigentlichen Wesens der wissenschaftlichen Forschung sind – im Gehirn gewisse Organe festgestellt werden können, die mit der Ausübung bestimmter Funktionen betraut und mit bestimmten „Seelenkräften“ verbunden sind. Er geht jedoch davon aus, daß dies nur in bezug auf die elementaren „Seelenkräfte“ möglich ist, jene, die sich mit den Reaktionen auf die Umwelt manifestieren und in den Sinnesorganen zu verorten sind. Selbstverständlich müssen auch die „abgeleiteten Seelenthätigkeiten“ auf die „verschiedenen Combinationen“ zurückgeführt werden, die sich zwischen den Ergebnissen des Wirkens der „Elementarkräfte“ herstellen. Das was eintritt
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Ebd., III, S. 268. Rudolphi 1802, S. 187. Burdach 1819–1827, III, S. 269. Burdach 1819–1827, I, S. 45.
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ist jedoch eine regelrechte „Potenzirung“ (der Schellingsche Sprachgebrauch darf hier nicht verwundern, doch Burdach hatte schon 1819 das Nebulöse der Schellingschen Schule hinsichtlich des Begriffs der Empfindung kritisiert65) der „Elementarkräfte der Seele“. Die psychische Tätigkeit äußert sich so „in verschiedenen Sphären“, von denen die höchste diejenige ist, die „den Ideen und der Beziehung zum Ganzen“ zugewendet ist. So kommt es dazu, daß sich das Ganze im Einzelnen zeigt, ohne sich auf dies zu reduzieren, und „die Idee in der Gesammtheit der Erscheinungen, aber nicht selbst als besondere Erscheinung sich kund thut“.66 Die Frage nach der Existenz eines „Seelenorgans“ ist nach Burdach eine zumindest schlecht formulierte, wenn nicht sogar völlig sinnlose Frage, was ja auch Rudolphi schon zwanzig Jahre vorher deutlich gemacht hatte.67
X.
Embryologie und Neurologie: Burdach, von Baer
Die Auffassung von der Beziehung des Menschen mit dem Universum als Beziehung zwischen dem Mikrokosmos mit dem Makrokosmos, die Carus schon zehn Jahre zuvor (1814) mit großer Überzeugung vertreten hatte, wird auch von Burdach geteilt, doch verficht dieser schon 1819 nachdrücklich das Primat der Innerlichkeit. Von diesem Primat ist die ursprüngliche zentripetale Tendenz der Funktionen des Nervensystems eindeutig belegt: die „Leitungskraft“ der Tätigkeit der Sinne, die sich im Nervensystem entfaltet und die Kommunikation unter den verschiedenen Bereichen des gesamten Organismus ermöglicht, ist nichts anderes als „der Ausdruck der innerlichen Einheit des Ausgedehnten“. Auf der Ebene der Untersuchung der Lebensprozesse ist Burdach ein konsequenter Anhänger der morphologischen Methode.68 Die systematische Anwendung der morphologischen Methode ist deshalb die Grundlage für das Projekt einer großen mehrbändigen Veröffentlichung69, die Burdach einer systematischen Abhandlung über die Physiologie widmen möchte und die mit der Veröffentlichung des ersten Bandes im Jahre 1826 erste Formen annimmt, auch wenn das Projekt später nie zum Abschluß gebracht werden sollte.70 Burdach lädt zahlreiche jüngere Wissenschaftler zur Mitarbeit an diesem groß angelegten Projekt ein, unter denen sich auch Karl Ernst von Baer befindet, der später das Ei der Säugetiere entdecken sollte.71 Burdach veröffentlicht jedoch den von Baer gelieferten Beitrag nicht in der vorgelegten Form, einem regelrechten Traktat über die Entwicklung des Embryos, sondern
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Burdach 1819–1827, I, S. 29, 20–22. Burdach 1819–1827, III, S. 270. Rudolphi 1802, S. 189. Burdach 1819–1827, I, S. 35–36, 41–42. Burdach 1826–1840. Burdach 1826–1840, VI, S. 610–611. Raikov 1968, S. 124.
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er teilt den Text und verteilt die verschiedenen Kapitel im zweiten Band seines Werkes. Von Baer ist über diese Vorgehensweise zutiefst verärgert und sorgt dafür, daß der Text 1828 in seiner ursprünglichen Form veröffentlicht wird und so den größten Teil des ersten Bandes jenes Werkes ausmacht, das als Wiege der modernen Embryologie angesehen wird: Über die Entwicklungsgeschichte der Thiere.72 Von Baer folgt derselben Untersuchungsmethode wie Burdach. Nur wenige Jahre zuvor hatte er wiederholt betont, wie ergiebig der morphologische Ansatz bei der Untersuchung des Lebens sei. Wenn man jedoch den gesamten 1828 von Baer veröffentlichten und durch viele Betrachtungen grundsätzlicher und systematischer Art73 bereicherten Text betrachtet und vor allem die Art wie darin der Bericht über die durchgeführten Beobachtungen mit grundsätzlicheren Betrachtungen über die Gesamtheit der Funktionen des Lebens einhergeht, eröffnet dieer Perspektiven und suggeriert Schlußfolgerungen, die von Burdachs Thesen sehr abweichen, was vor allem in bezug auf den Entwicklungsprozeß des Embryos der Wirbeltiere deutlich wird. Von einem allgemeinen Standpunkt aus betrachtet, wird von Baer durch die Untersuchung des Entwicklungsprozesses der Organe bei den Wirbeltieren – eine Untersuchung, die vor allem durch die traditionelle Beobachtung der embryonalen Entwicklungsstadien beim Huhn durchgeführt wird – zur Erkenntnis eines ersten und grundlegenden, allen Wirbeltierembryonen gemeinsamen Merkmals geführt: der Embryo von Wirbeltieren scheint in seiner Anfangsphase aus zwei miteinander verbundenen „Hauptröhren“ zu bestehen. Diese „Hauptröhren“ sind in einem vorhergegangenen Prozeß entstanden, in dem sich ein „Blatt“ dessen, was Pander „Blastoderm“ genannt hatte74, in der Mitte geknickt und zusammengefaltet hatte. Dieses „Blatt“ ist jene primitive Haut, welche – wie Burdach in denselben Jahren geschrieben hatte, doch von Baer hatte auch Meckels diesbezügliche Betrachtungen75 vor Augen – die erste und grundlegende Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Organismus ist. Die „Rückenhälfte“ entwickelt sich aus der „oberen Röhre“ während sich aus der „unteren Röhre“ die „Bauchhälfte“ herausbildet. Die chorda dorsalis – die, wie von Baer betont, in ihrer knorpelartigen Herausbildung nicht mit einem ersten Entwicklungsstadium des Rückenmarks verwechselt werden darf,76 – ist die „gemeinschaftliche Axe“ der beiden „Hauptröhren“.77 Die entwickelteren und weniger entwickelten Wirbeltieren gemeinsame chorda dorsalis bildet in ihrer ganzen Länge den Kontaktpunkt zwischen den beiden „Röhren“ und wenn die beiden „Röhren“ sich dann nach und nach schließen und die Form zweier übereinander angeordneter mehr oder weniger runder Aushöhlungen annehmen,
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73 74 75 76 77
Baer 1828–1837. Raikov 1968, S. 93–100. Baer [1834–1861–1876] 1983. Vgl. Oppenheimer [1959] 1968; Gould 1977. Raikov 1968. Burdach 1826–1840, II, 1828, S. 222–235, 239–370. Pander 1817a. Vgl.: Raikov 1968. Burdach 1819–1827, III, S. 215–216. Meckel 1821, S. 397. Raikov 1968, S. 130–131. Baer 1828–1837, I, S. 15. Baer 1828–1837, I, S. 153, 169.
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kommt die chorda dorsalis entlang der beiden „Röhren“ gemeinsamen Mittelachse und entgegengesetzt der imaginären Nahtlinie der „Röhren“ zu liegen. „Wir können das Schema, welches die Wirbelthiere in ihrer Entwicklung verfolgen, seinem Querdurchschnitte nach mit einer ‚8‘ vergleichen, wenn wir uns denken, daß von der Mitte aus nach oben und unten die Gestalt dieser Ziffer vollendet wird“. Wenn man die beiden „Hauptröhren“ des Brustkorbs und des Unterleibs im senkrecht zu ihrer Achse durchgeführten Querschnitt betrachtet, dann bilden sie, dadurch daß sie sich die „gemeinschaftliche Achse“ der Wirbelsäule teilen eine Figur, die aussieht wie die Zahl ‚8‘. Dies wird mit zunehmender Größe immer deutlicher. Es bleibt jedoch eine Tatsache, daß sich die Position der chorda dorsalis gegenüber dem Brustkorb und dem Unterleib im Laufe der embryonalen Entwicklung verändert.78 Jede der beiden Hauptröhren durchläuft außerdem einen weiteren Teilungsprozeß, in dem sie sich in eine Reihe von „Blättern“ aufspalten, die sich wiederum zusammenfalten und dabei neue „Röhren“ bilden. Die „Röhren“, deren Schema übrigens von Burdach in seiner Abhandlung über das Gehirn angewandt wurde, müssen als regelrechte „Fundamentalorgane“ verstanden werden, d. h. jene „Fundamentalorgane“ aus denen sich dann die „speciellen Organe“ bilden. Einen besonderen Stellenwert haben unter diesen Organen jene des Nervensystems, die sich zum größten Teil in der sich später aus der chorda dorsalis entwickelnden Wirbelsäule befinden. Von Baer macht deutlich, daß sich der Herausbildungs- und Entwicklungsprozeß des Nervensystems im Innern einer dieser beiden „Röhren“ vollzieht, und zwar in jener des Rumpfes, in der dann auch die Herausbildung des zum Schutz des Rückenmarks notwendigen Skelettteils ihren Anfang nimmt. Gleichzeitig betont von Baer jedoch, daß zwischen dem Rückenmark und der „Haut“ des Embryos (eine Art „allgemeine äußere Röhre“, welche die zwei Hälften, in die sich der Embryo teilt, umschlingt und umhüllt, und deren Querschnitt wie gesagt die Form einer ‚8‘ aufweist) ein eindeutiger Verbindungspunkt besteht, der aus dem in den Embryonalstudien erhaltenen Befund hervorgeht, daß sowohl diese „Haut“ als auch die oben beschriebenen „Hauptröhren“ ihren Ursprung in der Teilung ein und desselben „Blattes“ des ersten Blastoderms haben.79 Eine klare Grenze zwischen der Epidermis und den so genannten „Nervenröhren“ könne nur gezogen werden, wenn man gleichzeitig die anatomischen und funktionalen Merkmale jener Organe berücksichtige, die daraus ihren Ursprung nehmen, Organe, in denen sich die Merkmale der „Fundamentalorgane“ aufteilen und differenzieren.80 Die Bedeutung der Zusammenhänge, die von Baer so herausgearbeitet und deutlich gemacht hat, ist offensichtlich. Von Baer knüpft damit denn auch an einen zu seiner Zeit schon verbreiteten Forschungsansatz an. Er trägt nicht nur dem Rechnung, was Oken über die Entwicklung der Wirbel in den das Rückenmark und das Gehirn schützenden Strukturen gesagt hat, auch wenn er dessen
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Ebd., S. 164. Ebd., S. 153–154. Vgl.: Russell [1916] 1982. Baer 1828–1837, I, S. 153.
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Thesen mit einem gewissen Vorbehalt gegenübersteht, sondern auch den von Cuvier vorgelegten Ergebnissen der vergleichenden Studien zum Nervensystem in den verschiedenen Kategorien der Tierwelt. Außerdem nutzt er jede Gelegenheit, um Versuche einer Wiederbelebung der Präformationstheorie, wie sie sich in Prévost und Dumas abzeichnen, zu widersprechen.81 Im Mittelpunkt der von Baer durchgeführten Untersuchungen steht jedoch die Feststellung dessen, was er als die „ursprüngliche Uebereinstimmung“ von Haut und Nervenfasern bezeichnet. In den Wirbeltieren zeigt sich diese „ursprüngliche Uebereinstimmung“ mit der Herausbildung des Knochenmarks, doch scheint diese „ursprüngliche Uebereinstimmung“ in Wirklichkeit ein Merkmal der Entwicklung aller Organismen zu sein. In Anbetracht dieser „ursprünglichen Uebereinstimmung“, nach der die Haut die „Peripherie“ und das Rückenmark das „Centrum des animalen Nervensystems“ bilden, kann man sehen, „wie durch die Entwicklung auf die einfachste Weise ein Theil des ursprünglich Gemeinschaftlichen nach innen gestellt wird, durch Bildung der Rückenröhre, während der andere Theil an der Peripherie bleibt. In dem eingeschloßenen, inneren Theile“, so von Baer, „entwickelt sich nun das thierische Leben zu seiner höchsten Blüthe, während der peripherische Theil auf niederer Stufe stehen bleibt“.82
XI.
Die Hirnanatomie und das Gehirn: Burdach, von Baer, Gall
In dieser Hinsicht scheinen Burdach und von Baer vollkommen übereinzustimmen. So wie von Baer gibt auch Burdach der epigenetischen Betrachtungsweise den Vorzug, und genauso wie Burdach ist von Baer ein entschiedener Gegner der Theorie der „Einschachtelung“83 und ein Kritiker der von Prévost und Dumas vorgenommenen Aktualisierung der Präformationstheorie.84 Außerdem unterstreicht von Baer einerseits sehr wohl das unbestreitbar evolutionäre Gepräge der Prozesse in der Natur, doch andererseits muß er auch einen großen an die Umweltbedingungen gekoppelten Variantenreichtum an Organisationsformen des Lebens feststellen. Dies führt bei ihm zu einer deutlicheren Akzentuierung der schon bei Burdach vorhandenen Zweifel85 über die Stichhaltigkeit des Parallelismusgesetzes, das als vermeintliches „Naturgesetz“ von vielen von der Embryologie gelieferten Gegenbeispielen in Frage gestellt wird.86 Doch vor allem wird eine der grundlegenden Thesen Burdachs, nach der „das allgemeine Gesetz der fortschreitenden Lebensentwickelung [...] Unterordnung der Plasticität unter die Sensibilität“ ist,87 von den embryologischen Beobachtungen von
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Raikov 1968, S. 94, 61. Baer 1828–1837, I, S. 166. Burdach 1826–1840, I, S. 565, 557–558, 554–555. Raikov 1968. Prévost/Dumas 1824; Baer 1828–1837, II, S. 5–6. Burdach 1817. Baer 1828–1837, I, S. 199–262. Burdach 1819–1827, III, S. 188.
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Baers immer wieder bestätigt und dies vor allem hinsichtlich der zentralen Bedeutung der „ursprünglichen Uebereinstimmung“ von Haut und Rückenmark. Gleichzeitig ist auch die Übereinstimmung mit Burdach hinsichtlich des grundlegenden Prinzips an dem von Baer sich in seinen embryologischen Untersuchungen orientiert deutlich zu erkennen: das Prinzip der „histologischen und morphologischen Sonderung“. Ein Prinzip, das dazu verpflichtet, zunächst einmal zwischen dem vom „thierischen Körper“ erreichten Entwicklungsstadium und dem „Typus der Organisation“, den die vitalen Funktionen dieses Körpers aufweisen, zu unterscheiden und dann die Beziehung zwischen diesem Entwicklungsstadium und der größeren oder geringeren „Heterogeneität der Elementartheile und der einzelnen Abschnitte eines zusammengesetzten Apparates“ festzustellen.88 Auf der Grundlage dieses Prinzips muß die morphologische Untersuchung die „Haupttypen“ der Organisation des tierischen Lebens definieren und unter diesen den eigentlich grundlegenden. Wenn der „Typus“ der Organisation danach definiert wird, wie sich die „organischen Elemente“ und die Organe verteilen und miteinander in Beziehung stellen, ist es nur logisch, daß gerade der große Unterschied zwischen den verschiedenen „Typen“ des Nervensystems letzteres zum grundlegenden „Typus“ der Organisation des Lebens macht. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Untersuchung des Nervensystems die besten Instrumente für die Analyse und die Klassifizierung der Strukturen und der Funktionen der Organismen liefert.89 Burdach ist jedoch auch von Betrachtungen spekulativer Natur nicht abgeneigt. In seiner großen Abhandlung über die Struktur und die Funktionsweise des Gehirns hat er, wie wir gesehen haben, bewiesen, daß er sich der Probleme einer „Hirnanatomie“ vollkommen bewußt ist, da es in dieser Wissenschaft aufgrund technischer Probleme und ideologischer Vorurteile von Hypothesen wimmelt und Fakten rar sind. Burdach wollte deshalb die Frage nach dem „Seelenorgan“ thematisieren und dieser nachgehen. Wenn er einerseits ohne Zögern die Thesen über die Eigenschaft des Gehirns als „Seelenorgan“ zurückgewiesen hatte, wollte er andererseits jedoch jegliches Problem bezüglich der grundlegenden anatomisch-funktionalen Einheit des gesamten Nervensystems und insbesondere des Zentralnervensystems aus dem Feld räumen, indem er sich auf die Einheit der Seele berief. In der Einleitung zu seiner großen Physiologie akzentuiert Burdach sogar noch sein Interesse an allgemeinen Betrachtungen, indem er eine Richtung einschlägt, in der als zentrales Problem das einer Anthropologie in den Vordergrund gerückt wird, da der Mensch das Lebewesen ist, das an der Spitze der „Skala der Natur“ steht. Burdach zeigt sich sogar überzeugt davon, daß „die Spekulation“ bei der Untersuchung des gesamten Gefüges der menschlichen Funktionen die Erfahrung ergänzt und befruchtet und sie zur Theorie erhebt, die „nichts anderes ist als eine Kontemplation von oben“, da das Einzelne nur kraft der Intuition des Ganzen zu verstehen ist.90
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Baer 1828–1837, I, S. 207. Ebd., S. 208–209. Burdach 1826–1840, I, S. 5.
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Von Baer hält sich hingegen systematisch an die aus seinen Untersuchungen hervorgehenden Daten. Sein Blick auf die langsame Herausbildung des Nervensystems, die vom elementaren Umstand der Reaktion auf die Umwelt ausgeht, welche schon in den einfachsten Lebensstadien des Embryos beobachtet werden kann, scheint von keinerlei hypothetischen Annahmen beeinflußt. Sein einziges Ziel ist es, das zu berichten, was das Auge des Wissenschaftlers einzig und allein mit Hilfe des Mikroskops erfassen kann. Die Untersuchung der Embryonen, mit der es möglich ist, die Entwicklung der natürlichen Prozesse in Reinform zu beobachten, wie in jenen Jahren auch der junge J. Müller unter Berufung auf die Lehren C. F. Wolffs (in dessen Untersuchungen von Baer übrigens Ungenauigkeiten und auch Widersprüche erkannt hatte91) feststellt, scheint auf jeden Fall eine größere Beweiskraft zu haben als die „Hirnanatomie“, die nicht umsonst so häufig auf philosophische Betrachtungen zurückgreift. Genauso wie Burdach ist auch von Baer von der Haltlosigkeit der These überzeugt, wonach das Gehirn als das spezifische „Seelenorgan“ betrachtet werden muß. Er ist jedoch auch davon überzeugt, daß es sinnlos und in seiner Ambivalenz geradezu gefährlich ist, von der Existenz einer unsterblichen Seele auszugehen und diese als Grundlage aller vom Nervensystem ausgehenden Vorgänge vorauszusetzen. Von Baer vermeidet es denn auch, sich ausdrücklich über diesen Punkt zu äußern. Er beschränkt sich darauf festzustellen, daß man, wenn wir mit dem Begriff Gehirn nicht ein bestimmtes Organ bezeichnen wollen, sondern das Zentrum des Nervensystems oder die große Anzahl von Nerven, die durch Sinneswahrnehmungen stimuliert werden, sicherlich auch den Insekten ein Gehirn zuschreiben kann.92 Dies wäre jedoch eine folgenschwere Behauptung, wenn sie im Kontext einer vorbildlichen embryologischen Untersuchung geäußert würde, die Daten liefert, aus denen deutlich hervorgeht, daß es möglich ist, die Entwicklung der verschiedenen „Typen“ des Nervensystems zu beobachten, und die zu einer vollständigen Relativierung des Zentralisierungsmodells führt, eine Relativierung, die nur mit dem die Entwicklung der Wirbeltiere bestimmenden Schema93 erreicht wird. Man könnte meinen, daß von Baer mit den Behauptungen übereinstimmt, die ein so umstrittener Wissenschaftler wie Franz Joseph Gall schon in den ersten Jahren des Jahrhunderts geäußert hatte. Obwohl Gall mit Burdach (und Carus) die Auffassung teilte, wonach eine ständige Verbindung zwischen den Ernährungsfunktionen und den Wahrnehmungsfunktionen besteht, die gemeinsam die Funktion der „Aneignung“ ausüben, hatte er gerade den Mangel an Beobachtungsmaterial zur Beweisführung jener These kritisiert, wonach das Gehirn das Zentrum des Nervensystems ist.94 Nach Gall waren die Voraussetzungen, auf denen eine solche These beruhte, nichts anderes als spekulativ (wenn nicht sogar spirituell), da diese These direkt von der
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Raikov 1968. Baer 1828–1837, I, S. 235–236. Ebd., S. 234. Gall-Spurzheim 1809, S. 16, 62, 405. Literatur: Temkin 1947; Oehler-Klein 1990.
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Schlichtheit und Unsterblichkeit der Seele ausging und gleichzeitig taub war gegenüber dem wenn auch noch ungenügenden von der Neuroanatomie bereitgestellten Beobachtungsmaterial.95 Es ist jedoch eine Tatsache, daß weder von Baers noch Galls Auffassungen die wissenschaftliche Psychologie aus der Wiege heben sollten, und auch in der Diskussion über die „Seelenkrankheiten“ keinerlei Resonanz haben sollten: die objektiven vor allem technischen Schwierigkeiten, die sich der Entwicklung einer auf soliden Grundlagen der experimentellen Beobachtung aufbauenden Neurologie entgegenstellen, verbinden sich mit der weiterhin starken und einflußreichen Überzeugung, daß die Seele und die Psyche eine einheitliche und substanzgetragene Natur aufweise. Im Herzen der romantischen Wissenschaft gärt es, und es zeichnen sich Perspektiven ab, die – auch wenn nicht immer direkt, deutlich erkenn- und nachweisbar – die Diskussion über die Untersuchung und die Vorstellung von der psychischen Dynamik in allen ihren Verästelungen im gesamten 19. Jahrhundert und auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts tief beeinflussen sollten.96
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(Übersetzung von Petra Brunnhuber und Andrea Geselle)
Gerhard R. Kaiser
Confiance / Vertrauen Louis-Sébastien Merciers Diagnose des ancien régime im „Tableau de Paris“ und die Intimisierung personaler Nähe in der deutschen Romantik
Wer nichts weiß, muß alles glauben (Marie von Ebner-Eschenbach) Ahnung nicht, nur Wissen (Nicolas Born)
Überall dort, wo Dichter und Denker Freundschaft und Liebe, Recht und Willkür, Macht und Gewalt darstellten und bedachten, haben sie – ausdrücklich oder unausdrücklich – auch Vertrauen und Mißtrauen thematisiert. Die Unvermeidlichkeit, Vertrauen zu schenken oder zu verweigern, ist dem Menschen wesentlich, da er in den seltensten Fällen alles für seine fortwährend notwendigen Einschätzungen und Entscheidungen Relevante sicher wissen bzw. anzweifeln kann. Vertrauen und Mißtrauen1 gehören zur anthropologischen Grundausstattung. Gleichwohl unterliegen ihre Praxis und ihre Konzeptionalisierung einem historischen Wandel. Sie fallen, wenn auch nicht ausschließlich, ins Gebiet der historischen Anthropologie, die in der Literatur eine ihrer wichtigsten Quellen hat. De la Confiance überschrieb La Rochefoucauld im 17. Jahrhundert eine seiner längeren Reflexionen.2 In der „sincérité“, so La Rochefoucauld, öffneten wir unser Herz und zeigten uns so wie wir seien – aus Liebe zur Wahrheit, aus Widerwillen uns zu verstellen, oder auch, weil wir unsere Fehler durch ein Geständnis vor uns selbst und vor anderen in besserem Licht erscheinen lassen wollten. Die Regeln, denen das Vertrauen unterliegt, seien enger. Im Vertrauen, das meistens der Eitelkeit entspringe, der Lust am Reden oder dem Wunsch, im Austausch fremdes Vertrauen zu gewinnen, gehe es nicht nur um uns, sondern auch um andere. Gegenüber solchen, die uns mit Grund vertrauten, ohne daß wir ihr Vertrauen erwiderten, sollten wir uns nur kleinere vertrauliche Mitteilungen gestatten. Denjenigen aber, die wir bewährt gefunden hätten und denen wir vertrauten, dürften wir uns „toujours vrais dans nos bonnes qualités et dans
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Wenn im Folgenden überwiegend nur von „Vertrauen“ die Rede ist, so ist häufig das Antonym „Mißtrauen“ mit gemeint. La Rochefoucauld: Réflexions ou Sentences et Maximes morales. Édition illustrée. Paris: Classiques Garnier 1961, S. 183–187.
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nos défauts même“ zeigen, „sans exagérer les unes et sans diminuer les autres“,3 wie wir unsererseits verpflichtet seien, über ein Geheimnis, das sie uns anvertraut hätten, unverbrüchlich Stillschweigen zu wahren. Halbe Vertraulichkeiten seien nicht statthaft, da sie nur die Neugierde weckten und zur Weitergabe einlüden. Und ebenso wenig dürfe man einem Vertrauten das Geheimnis eines Dritten mitteilen und sei es auch auf die Gefahr hin, seine Freundschaft zu verlieren. Diese Unterscheidungen und Ratschläge La Rochefoucaulds scheinen einer zeitlosen Lebensklugheit geschuldet zu sein und führen doch in der nicht weniger als dreimal berufenen „honnêteté“4 wie besonders auch in der dringlichen Empfehlung, unter keinen Umständen das Geheimnis eines Dritten zu verraten, ihren historischen Index mit sich: Es ist das Versailles Ludwigs XIV., das glatte Parkett eines intriganten Hofes, auf dem sich alle Arten von Eitelkeiten, Ehrgeiz und böser Lust tummelten, auf den sich De la Confiance unübersehbar bezieht. Annähernd zeitgleich mit La Rochefoucauld hat La Bruyère unter dem Titel De la Défiance im Anschluß an Theophrast eine historisch ältere – auf feste Charaktertypen abzielende – Konzeption des Mißtrauens und damit indirekt auch des Vertrauens zum Ausdruck gebracht;5 dabei verzichtete er zwar auf eine der „honnêteté“ La Rochefoucaulds vergleichbare historische Referenzialisierung, ohne deswegen eine kritisch aktualisierende Lesart ausschließen zu wollen. 150 Jahre später entwarf Achim von Arnim in Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe6 eine ganz andere Vorstellung von Vertrauen als die beiden französischen Moralisten. Schon der Titel spricht den Aspekt der institutionellen Macht an, und in der „Erzählung“ selbst ist immer wieder vom „Erzherzog“ Karl und der Konstellation die Rede, die ihm die Perspektive auf die spätere Regentschaft eröffnet. Und selbstverständlich handelt es sich in Karls Umgebung um Verhältnisse, für die im Prinzip jene Maßgaben gelten, die ein La Rochefoucauld oder auch ein Gracián7 einhundert Jahre nach dem histo-
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Ebd., S. 185. „Je ne prétends pas détruire […] la confiance si nécessaire entre les hommes […]. Je prétends seulement […] la rendre honnête et fidèle.“ (Ebd., S. 184) „Il est plus sûr et plus honnête de ne leur rien dire que de se taire quand on a commencé de parler.“ (Ebd., S. 185) „Ils [nos amis] peuvent savoir […] ce que nous sommes engagés de ne dire jamais à personne. […] Cet état est sans doute la plus rude épreuve de la fidélité mais il ne doit pas ébranler un honnête homme: c’est alors qu’il lui est permis de se préférer aux autres.“ (Ebd., S. 186) La Bruyère: Les Caractères de Théophraste. In: Œuvres complètes. Hrsg. von Julien Benda. Paris: Gallimard 1962, S. 44f. (Bibliothèque de la Pléiade 23); vgl. bei Theophrast „Der Mißtrauische“ (Charakterbilder. Deutsch von Horst Rüdiger. Bremen: Schünemann o. J., S. 44f. [Sammlung Dieterich 34]). Achim von Arnim: Sämtliche Werke und Erzählungen auf Grund der Erstdrucke herausgegeben von Walter Migge, Bd. 2, München: Hanser 1963, S. 452–556. Vgl. etwa die Ratschläge „Über sein Vorhaben in Ungewißheit lassen“, „Denken wie die Wenigsten und reden wie die Meisten“, „Nicht leicht glauben und nicht leicht lieben“, „Den vertrauten Fuß im Umgang ablehnen“, „Ohne zu lügen nicht alle Wahrheit sagen“ oder „Nie um die Geheimnisse der Höheren wissen“ (Baltasar Gracian: Handorakel und
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rischen Karl V. kodifiziert hatten. Doch die emphatische Perspektivierung des Vertrauens ist eine ganz andere. Sie kommt im Tonwechsel vom Hochkomischen zum nurmehr komisch abgetönten Ernst zum Ausdruck, wenn es nach einer grotesken Schilderung des Alrauns Cornelius Nepos, der sich „eine alte verrostete Brille“ aufsetzte, unvermittelt heißt, „das Vertrauteste am Menschen“ seien „die Augen“, und es sei „wohl zum Verzweifeln, wenn die Schwäche der Natur solchen harten fühllosen Glasglanz zwischen dem geliebten Menschen und uns notwendig macht“.8 Und sie wird voll entfaltet in der großen Szene, in der sich Isabella von Karl scheidet, der ihr liebendes Vertrauen in der von Begierde und Gier geprägten Begegnung mit dem doppelgängerischen Golem Bella verriet: sie liebte den Erzherzog, wie sie ihn jemals geliebt, aber sie fühlte, seit er eine andre wie sie geliebt, daß sie seine erste Liebe mit sich trüge in die Ferne, und erst jetzt gestand sie sich, daß diese scheinbare Vermählung [zur linken Hand], so wenig dabei die Reinheit ihrer Sitte leiden konnte, sie tief gekränkt habe, weil ihr Karls Gesinnung sich nicht heilig und ewiglich, wie ihr fürstlicher Sinn gemeint, mit ihr zu vermählen, deutlich daraus hervorgegangen sei. Was galt ihr seine Klugheit, wie er den Reichtum sich verbinden und benutzen wollte; sie kannte nur die Herrlichkeit der Armut, die alles besitzt, weil sie alles verschmähen kann: sie kannte nur ihr Volk, das jede Bezahlung von ihren Herrschern verschmähte und jede Tat für sie als schönsten Gewinn achtete.9
Arnim gestaltet das – enttäuschte – Vertrauen nicht nur auf einem Gebiet, das La Rochefoucauld in De la Confiance gar nicht interessiert hatte, der Liebe, sondern er nutzt die damit thematisch gegebene Intimisierung10 zu einer neuen – anachronistisch gesprochen: existentiellen – Konzeption des Vertrauens. Damit soll nicht gesagt sein, daß es in der frühen Neuzeit nicht auch andere Konzeptionalisierungen des Vertrauens als bei La Rochefoucauld oder La Bruyère gegeben habe, vor allem solche des gläubigen Vertrauens auf Gott; und ebenso wenig, daß die Moderne nicht gleichzeitig weniger emphatische Verständnisse von Vertrauen als das in Isabella von Ägypten in Szene gesetzte kenne. Wohl aber darf Arnims Erzählung als Beleg einer spezifisch modernen Intimisierung des personalen Vertrauens verstanden werden, in die vormals religiös gebundene Energien eingeflossen sind. Nicht zufällig läßt Arnim seinen Erzähler mit der schon zu seiner Zeit anachronistisch gefärbten Formel „heilig und ewiglich“ ebenso wie mit der Vorstellung einer Dialektik von materieller Armut und seelischem Reichtum spezifisch christliche Traditionselemente im Kontext einer intimen Paarbeziehung wieder aufnehmen.
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Kunst der Weltklugheit. Deutsch von Arthur Schopenhauer. Mit einer Einleitung von Karl Voßler. Stuttgart 1956, S. 1f., 19f., 69, 79–81, 106f. [Kröner Taschenausgabe 8]). Achim von Arnim: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 473. Ebd., S. 548. Vgl. Niklas Luhmanns schöne Definition: „Intimität ist der Begriff für die Verschmelzung des Glücks zweier Liebender, die darin besteht, daß das Glück für beide in genau den gleichen Handlungen liegt.“ (Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Vierte Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 176)
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Exemplarisch für den Wechsel von der mit La Rochefoucauld bezeichneten frühneuzeitlichen zu der von Arnim vertretenen modernen Vertrauenskonzeption ist Rousseaus Verteidigung von Molières Misanthrope gegen die auch dem Autor unterstellte Lesart, wonach im Titelhelden eine komische Figur verspottet werde. Rousseau wertet den mißtrauischen Alceste, der überall opportunistische Anpassung wittert, auf, weil er ihm jenes Verlangen nach vertrauender Transparenz der Seelen zuspricht, die ihm und seinen empfindsamen Nachfolgern als ein höchster Wert erschien: „Qu’est-ce donc le misanthrope de Molière? Un homme de bien qui déteste les mœurs de son siècle et la méchanceté de ses contemporains; qui, précisément parce qu’il aime ses semblables, hait en eux les maux qu’ils se font réciproquement et les vices dont ces maux sont l’ouvrage.“11 Eine eigene Position in der frühmodernen Konzeptionalisierung des Vertrauens nimmt der Rousseau-Schüler Louis-Sébastien Mercier ein, der in seinem Tableau de Paris wenige Jahre vor 1789 im Fokus der Metropole Paris ein facettenreiches diagnostisch-kritisches Bild des ancien régime entwarf. Die höfische Gesellschaft, auf die La Rochefoucauld seine Darlegungen unausgesprochen gerichtet hatte, wird nurmehr kritisch gestreift, wenn es unter dem Stichwort „Ton du grand Monde“ heißt: La confiance, l’amitié n’y regnent pas; les épanchemens du cœur y sont étrangers: mais au défaut du charme et de la cordialité, on y rencontre un certain échange d’idées & de petits services qui rapprochent la maniere de voir & de sentir, & qui mettent les hommes à l’unisson: avantage remarquable dans une société où les prétentions sont extrêmes & où l’orgueil est terrible, dès qu’il n’est plus voilé.12
Und unter dem Eintrag „Du persiflage“ distanziert Mercier sich sogar ausdrücklich von der älteren moralistischen Tradition, wenn er, gut rousseauistisch, das nach La Bruyère zur geselligen Erheiterung in Grenzen zulässige Spiel der Vertrauenstäuschung im Namen einer auch den Einfältigen nicht ausschließenden „plaisanterie lègere, fine, enjouée & raisonnable“ kritisiert.13 Dennoch, trotz seiner Wertschätzung der Freundschaft und bei aller Nähe zu Rousseau, ist Mercier noch weit von jener personalen Intimisierung des Vertrauens entfernt, das aus Arnims Isabella von Ägypten spricht. Dort, wo von vertraulicher persönlicher Nähe die Rede ist, etwa im Verhältnis einer nicht mehr jungen Dame zu ihrer Zofe, verleiht er der Darstellung eine mokant komische Note,14 und unter
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Jean-Jacques Rousseau: Lettre à M. d’Alembert. In: Du contrat social ou Principes de droit politique …, Paris 1962: Classiques Garnier, S. 123–234, hier S. 151. [Louis-Sébastien Mercier:] Tableau de Paris [= TdP]. Nouvelle Édition. Corrigée et augmentée, vol. 4, Amsterdam 1783, S. 105 (Kursivierung von ‚confiance‘, seines Antonyms und stammverwandter Wörter hier wie im Folgenden von G. R. K.; durchweg beibehalten wurden die Kursivierungen und die Orthographie des Originals). TdP, vol. 2, 1783, S. 170. Ebd.: „Ce n’est point là de la bonne plaisanterie. La Bruyère a dit: railler heureusement, c’est créer. Mais quel esprit y a-t-il à abuser de la simplicité et de la confiance d’un homme qui s’offre aux coups sans le savoir, & qui tombe d’autant plus profondément dans le piege, qu’il le soupçonne moins?“ „quand la fidélité [de la femme-de-chambre] est bien éprouvée, on la met dans la confidence du blanc & d’autres préparations mystérieuses; c’est là le nec plus ultrà de la
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dem Titel „Comment se fait un mariage“ nimmt der Text sogar Züge blasphemischer Frivolität an, wenn von dem adstringierenden Mittel eines Essighändlers die Rede ist, das es erlaubt, verlorene Virginität vorzutäuschen und so das eheliche Glück mit zu begründen: Elle [la fiancée] a entendu dire qu’il y avoit une résurrection. Il ne faut [...] que croire pour être heureux; un serment n’a pas un effet rétroactif; il s’agit de promettre pour l’avenir, & de tenir, si l’on peut. Les demoiselles honnêtes & timorées s’adressent au sieur Maille, lorsque le jour tombe. Il vend le vinaigre qui rend la confiance à l’épousée, la joie aux époux, qui établit la concorde & la paix des familles.15
Das eheliche Engagement – ein Komödiensujet. La Rochefoucauld hatte das Vertrauen als „lien de la société et de l’amitié“ bezeichnet,16 aber nur die honnêtes hommes, nicht die ganze Gesellschaft im Blick gehabt. Wenn Mercier hingegen von „confiance publique“ spricht,17 so zielt er auf das Vertrauen als notwendiges Band aller Klassen und Schichten. Schwerpunktmäßig sind es drei große Bereiche, in denen das Vertrauen seine produktiv bindenden, bzw. fehlendes oder enttäuschtes Vertrauen seine destruktiv lösenden Kräfte entfaltet: 1. die vielfältigsten individuellen Beziehungen, vorzugsweise in der Metropole Paris; 2. die Ökonomie und hier besonders der Bankrott und die Geldwirtschaft; 3. der Souverän, die Regierung und die staatlichen Institutionen. 1. Überall in der Gesellschaft sieht Mercier Vertrauen und Mißtrauen am Werk. Das reicht vom Schuhputzerlehrling, dem man sein Bein anvertraut, bei dem man aber Gefahr läuft, daß er die weißen seidenen Beinkleider mit schwarzer, klebriger Wichse beschmiert,18 bis zum Hundescherer, auf dessen Interpunktion und Orthographie zwar kein Verlaß ist, dem man aber unbedenklich sein Tier übergeben darf, weil er es sanft und einfühlsam behandeln wird;19 von den öffentlichen Schreibern, die stets, mehr als der Priester im Beichtstuhl, die Vertrauten der Dienstmädchen seien, die sie mit ihrer Korrespondenz beauf-
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confiance. Que de travaux clandestins pour blancher le teint & la peau, pour effacer les rides en dépit de la nature & de l’âge!“ (TdP, vol. 11, 1788, S. 218) Die zitierte Äußerung gehört zu einer ganzen Reihe kritischer Bemerkungen über die Frauen, besonders – bestärkt durch Rousseau – die Pariserinnen. Siehe etwa die Einträge „Jeunes Mariés“ (vol. 1, 1783, S. 80–82), „Des Femmes“ (vol. 3, 1783, S. 145–151), „Filles nubiles“ (vol. 4, S. 37–40) und „Mariage. Adultère“ (vol. 4, S. 69–75). TdP, vol. 10, 1788, S. 34f. („Journal des Modes“). La Rochefoucauld: Réflexions, S. 184. TdP, vol. 11, S. 204 („Faussaires“). TdP, vol. 6, 1783, S. 2 („Décrotteurs“). „le décroteur, sur le pont neuf, qui a écrit sur son enseigne: Thomas tond les chiens & sa femme; vat en ville […] est fort adroit, il s’entend bien à mettre une muselière; on peut lui confier un animal chéri, il ne le fera pas crier.“ (TdP, vol. 10, S. 278f.) („Tondeur de chien“)
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tragen,20 über den menschenfreundlichen Chirurgen, dessen rücksichtsvolle Worte die Liebe und das Vertrauen der ihm ausgelieferten Patienten wecken,21 bis zu den Werbern, die das Vertrauen der in Paris ein Auskommen suchenden naiven Dörfler ausnutzten und deren betrügerischen Machenschaften erst vor einigen Jahren Grenzen gesetzt worden seien.22 Zwar gelingt es nach Mercier selbst dem kleinsten Pariser Angestellten, in der Menge des Palais-Royal die unter dem Schein äußerer Ähnlichkeit verborgene soziale Identität der Promenierenden zu erkennen, und auch deren charakterliche Bestimmung bereitet dem Hauptstadtbewohner ihm zufolge keine grösseren Schwierigkeiten. Doch bedürfe es dazu einer besonderen Schulung, die ein Nicht-Pariser, und sei es auch Lavater, gar nicht besitzen könne. Damit ist eine Kunst hochentwickelter sozialer Mimikry angesprochen, die angesichts der Unergründlichkeit des menschlichen Herzens – im Anschluß an Augustin und Pascal ist vom „abyme des cœurs“ die Rede23 – bei allen Unkundigen, seien sie nun fremd, jung oder naiv, einen weiten Spielraum der Täuschung und des Vertrauensmißbrauchs eröffnet. Die auf ihren Grund hin durchschaute Wirklichkeit aber bietet Mercier zufolge einen solch abstoßenden Anblick, daß er, der Gesamttendenz des Tableau de Paris unausgesprochen widersprechend, in einem auch autopoetisch lesbaren Eintrag ausdrücklich davor warnt, hinter die Theaterkulissen zu schauen,24 ja selbst der illusorischen Heiligenverehrung eines schlichten Christengemüts bewundernde Anerkennung zollt: tel savetier meurt d’amour pour sainte Genevieve, la consulte dans ses chagrins, l’invoque dans ses peines, l’appelle dans ses afflictions, & ressent les transports de la passion la plus enthousiaste. Je voudrois jouir comme lui, en présence de la châsse, de ces voluptés extatiques. […] Je retournerai au pied de la châsse de sainte Genevieve; je me mettrai à genoux au milieu des dévots, & je respecterai la foi & leur confiance.25
Mercier sieht die Franzosen als die vielleicht einzige Nation, die man jederzeit schon mit den Worten „honneur“ und „confiance“ zu den wunderbarsten Taten bewegen könne,26 wobei „confiance“ hier Vertrauen in die eigene Kraft bzw. den Erfolg des eigenen Handelns, damit potentiell aber auch einen gefährlichen Leichtsinn bedeutet. Gerade dieses täuschungsanfälligen Selbstvertrauens wegen ist die anonyme und unübersichtliche, durch beschleunigte Rhythmen
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„Les chevaliers de l’écritoire sont toujours les confidens des servantes, qui sont plus véridiques dans la boutique de l’écrivain que dans le confessional.“ (TdP, vol. 9, 1788, S. 270f.) („Orthographe du beau monde“) „ils interrogeoient la sensibilité du malheureux; & la pitié sainte qui les dirigeoit, leur inspiroit ces paroles insinuantes, qui commandoient l’amour & la confiance.“ (TdP, vol. 5, 1783, S. 148f.) („Académie royale de Chirurgie“) „Le bon villageois regarde cette rencontre comme un coup de la Providence. Plein de confiance, il mange beaucoup, boit davantage, encouragé par des propos lestes et gaillards.“ (TdP, vol. 10, S. 273–276) („Anciens Raccoleurs“) TdP, vol. 2, S. 165 („Palais-Royal“). TdP, vol. 8, 1783, S. 287–290 („Coulisses“). TdP, vol. 2, S. 247 („L’Église de Sainte-Genevieve“). TdP, vol. 8, S. 187 („Du ton militaire“).
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geprägte und arbeitsteilig hochdifferenzierte Metropole Paris selbst für die gewitztesten und illusionsresistentesten ihrer Bewohner ein besonders gefährliches Terrain. So dürfe man den politischen Nachrichten der Presse nur zur Hälfte glauben („Les nouvellistes pressés & confians ont tous la tête dans un sac“27). Hinsichtlich der modischen Lehre des tierischen Magnetismus bestünden zwar keine grundsätzlichen Zweifel, doch statt sie „avec la marche la plus circonspecte & la défiance la plus salutaire“ zu entwickeln, sei sie in die Hände von „audace“, „témérité“ und „charlatanisme“ gefallen,28 weswegen selbstverständlich Vorsicht geboten sei. Und schon an Richelieu, der einem aus dem Ausland zurückgekehrten Betrüger aufsaß, der glauben machte, er könne Gold herstellen, sei zu sehen, wie heftiges Verlangen selbst die scharfsinnigsten Pariser bzw. Versailler Genies zu leichtfertigem Vertrauen verleite.29 Unter dem Titel „Escrocs polis, filous“ unterscheidet Mercier Verbrecher, die sich physischer Gewalt bedienen, und solche, die durch Täuschung das Vertrauen ihrer Opfer erschleichen. Bevorzugter Jagdgrund der zweiten Spezies sei die Metropole Paris: Les escrocs de toute espece, répandus dans les différentes provinces, se rendent une fois dans leur vie dans la capitale, comme sur le vaste & grand théatre où ils pourront déployer tout leur talent, frapper de plus grands coups & rencontrer un plus grand nombre de dupes. Comme ils ont fait une étude des moyens de tromper la crédulité, ils s’attachent aux jeunes gens qui, dans l’âge des passions & de la confiance, ouvrent une ame plus docile aux insinuations artificieuses. Ils savent qu’il faut que l’œil soit d’abord frappé des couleurs de l’opulence, & ils ne négligent pas ces dehors qui peuvent en imposer.30
In den nach Mercier auf Vertrauen angewiesenen Verhältnissen sind die unterschiedlichsten Berufe involviert: Schuhputzer und ihre Kunden, Dienstmädchen und öffentliche Schreiber, Werber und arbeitssuchende Bauern, Ärzte und ihre Patienten. Was im – gegebenenfalls enttäuschten oder getäuschten – Vertrauen auf dem Spiel steht, kann vergleichsweise geringfügig sein wie die beschmutzten Seidenstrümpfe, die einem den Auftritt in Gesellschaft verderben, und berührt nur gelegentlich öffentliche Belange, ist überwiegend aber von erheblichem, im Grenzfall sogar von höchstem persönlichem Gewicht: für das des Schreibens unkundige Dienstmädchen, das den Schreiber ein selbst vor dem Beichtvater geheim gehaltenes Liebesverhältnis wissen läßt, ebenso wie für den ahnungslosen Arbeitssuchenden aus der Provinz, der betrügerisch in die Armee gepreßt wird, und den Kranken, der sein Leben in die Hand des Chirurgen gibt. Mercier betont mit der Breite seiner Belege die Unverzichtbarkeit des Vertrauens für das Funktionieren und den Zusammenhalt der Gesellschaft, warnt gleichzeitig aber, gerade im Blick auf die Metropole und damit in tendenziell
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TdP, vol. 7, 1783, S. 17 („Nouvelles à la main“). TdP, vol. 12, 1788, S. 352 („Arcanes“). „Le grand besoin rend confians les génies les plus profonds: Le cardinal de Richelieu ne croyoit rien d’impossible, & ne soupçonnoit même pas qu’on pût tromper son regard.“ (TdP, vol. 9, S. 40–50) („Chercheurs de la Pierre philosophale“) TdP, vol. 1, S. 86.
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historischer Perspektive, vor den Gefahren betrügerischer Täuschung und empfiehlt wachsames Mißtrauen. Hinsichtlich der Überwachung von Presse, Druck und Briefverkehr stellt er im übrigen fest, der „point de vue réel des objets“ entgehe zwar dem wahren Philosophen nicht, doch teile dieser seine Wahrheiten nur „[à] l’oreille de la confiance & de l’amitié“ mit.31 Bezieht man diese Aussage auf das Tableau de Paris zurück, so ist damit der Leser als vertrauter Freund des Autors angesprochen, zugleich aber ein Hinweis darauf gegeben, daß der Autor sich nicht rückhaltlos offen geäußert haben könnte. Bekanntlich wurden die „vérités“ des Tableau de Paris zuerst in der Schweiz und den Niederlanden veröffentlicht, aber alsbald auch in Frankreich verbreitet. 2. Während die bislang angesprochenen Vertrauensverhältnisse im Grenzfall zwar dem Höchstrisiko des Lebensglücks, ja des Todes unterliegen, in der Regel aber nur den Einzelnen betreffen, stellt sich das Vertrauen im Bereich des ökonomischen Handelns, speziell des Geldwesens, als grundlegende Bedingung und fehlendes Vertrauen als gefährliche Beeinträchtigung, wo nicht gar Bedrohung des Gesamtsystems dar. Von den Möbelherstellern und -händlern könne man nichts anderes erwarten, als daß sie einem überteuerte, aus täuschendem, billigem Material hergestellte und wenig haltbare Ware lieferten – un vol rusé, fait à la bourse de l’acheteur confiant“.32 In den öffentlichen Versteigerungen habe sich die Praxis der „grafinade“ verbreitet, die es gebiete, stets mißtrauisch auf der Hut zu sein:33 „C’est une compagnie de marchands qui n’enchérissent point les uns sur les autres [...] parce que tous ceux qui sont présens à l’achat y ont part; mais quand ils voient un particulier qui a envie d’un objet, ils en haussent le prix, & supportent la perte qui, considérable pour une seule personne, devient légère dès qu’elle se répartit sur tous les membres de la ligue.“34 Ein Mißstand sei auch, daß jeder kleine Händler für seine Ware das Doppelte ihres Wertes verlange, was zu endlosem Feilschen führe und manches Geschäft unnötigerweise scheitern lasse; daher wäre es viel besser, wenn alle Anbieter sich verpflichteten, feste, nicht verhandelbare Preise anzusetzen: „Le tarif une fois arrêté, la confiance respective renaîtroit.“35 Und weiter: Die Kunst, Banknoten und andere Wertpapiere zu fälschen, sei so vervollkommnet worden, daß sie trotz der Fortschritte der Chemie, die ein sicheres Urteil über Echtheit oder Fälschung erlaubten, die Bankiers in einen permanenten Alarmzustand versetzt und das Vertrauen der Öffentlichkeit vergiftet hätte.36 Besonders beschädigt aber würde das für eine funktionierende, wachstumsorientierte Wirtschaft not-
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TdP, vol. 7, S. 259 („Postérité des vrais Philosophes“). TdP, vol. 9, S. 242 („Tapissiers“). „une confédération secrète dont on doit perpétuellement se méfier“ (TdP, vol. 7, S. 122). („Ventes par arrêts de la cour. Encan“) TdP. Vgl. S. 123: „tout se passe au nom de la loi, & ce n’est que derrière le rideau que cette bande, en partageant le bénéfice, se vantera d’avoir mis en défaut la défiance du public & la vigilance de la magistrature.“ TdP, vol. 5, S. 203 („Surfaire“). „Des faussaires ont adultéré des effets & répandu l’alarme chez tous les banquiers. L’art de perfectionner les criminelles imitations a empoisonné la confiance publique.“ (TdP, vol. 11, S. 204) („Faussaires“)
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wendige Vertrauen durch betrügerische Bankrotte, denen gleich zwei Einträge des Tableau de Paris gelten: „Ce délit contre la société s’accroît parce qu’il est impuni: en se multipliant, il a banni la confiance du commerce.“37 Und, rousseauistisch inspiriert, in geschichtlicher Perspektive: La cause de ce désordre vient de ce que les marchands ont perdu l’ancienne simplicité de leur état. Ils ont connu le luxe, le faste; ils ont pris un tout autre extérieur que leur profession leur imposoit. Le marchand est devenu frivole, vain, léger; il a voulu représenter, & la mauvaise foi n’a pas tarder à germer dans son cœur. […] Qu’arrive-t-il? La confiance, qui est l’ame du commerce, n’existe plus. Tous ces dérangemens réitérées ont mis chacun sur des gardes, & les difficultés se rencontrent où il n’y en avoit pas il y a cent ans.38
Doch nicht nur die betrügerischen Praktiken von Händlern, Bankrotteuren oder Fälschern, sondern auch historisch überholte konkretistische Vorstellungen von Geld als einem anschaubaren und anfaßbaren Schatz hätten zu einer „défiance presque universelle“ geführt, die verhindere, daß die „caisse d’escompte“ zu jenem „édifice de confiance“ wird, das durch erleichterte Geldzirkulation und Kreditvergabe die Steigerung des gesamtgesellschaftlicchen Reichtums ermöglichen könnte.39 Merciers Beobachtungen und Bemerkungen zum wirtschaftlichen Handeln setzen also ganz unterschiedliche Akzente. Einerseits werden einzelne betrügerische Praktiken entschieden moralisierend und damit auch personalisierend gewertet, andererseits fällt der Blick auf systemische Zusammenhänge, wenn es etwa heißt, durch feste Preise könne der Umsatz nur gewinnen, oder wenn davon die Rede ist, daß veraltete Vorstellungen von Wesen und Funktion des Geldes die dringend erwünschte erleichterte Kreditvergabe verhinderten. Auch in geschichtlicher Hinsicht tut sich eine doppelte Perspektive auf: Retrospektiv wird, rousseauistisch inspiriert, der Verlust der angeblichen früheren Biederkeit der Kaufleute beklagt, prospektiv aber, frühliberal, auf eine künftige Produktions- und Umsatzsteigerung gezielt. In all diesen – teilweise widersprüchlichen – Hinsichten ist von Vertrauen die Rede: Wer betrügt, verspielt Vertrauen; wo Vertrauen schwindet, ergeben sich negative, wo es gestärkt wird, positive Handlungs- und Entwicklungsperspektiven; ohne Vertrauen wird das System beschädigt, ja gefährdet. Da das Geldwesen immer abstrakter wird, ist die Wirtschaft nicht weniger als frühere – stärker durch personengebundene Interaktion geprägte – Verhältnisse auf Vertrauen angewiesen. Im Gegenteil: Wo vormals nur das Ende einer Geschäftsbeziehung drohte, droht nun der Kollaps des Systems, an die Stelle des Vertrauens zu einzelnen Personen ist mehr und mehr die
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TdP, vol. 7, S. 52 („Faillites“). Vgl. S. 57: „C’est une honte, c’est une tache nationale, que de voir la confiance particulière incessamment lésée; elle ne pourra renaître qu’après que le législateur aura sévi contre les manœuvres infâmes & journalières, qu’on ne prend pas même souvent la peine de couvrir d’un voile, & que les magistrats, enchaînés par le code, sont dans l’impuissance de punir.“ TdP, vol. 2, S. 71f. („Banqueroutes”). TdP, vol. 5, S. 253–255 („Saccoches“).
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Grundbedingung der „confiance publique“, des allgemeinen Vertrauens ins Gesamtsystem, getreten. 3. Alle vertrauensschaffenden oder -schwächenden ökonomischen Handlungen betreffen nicht nur die dabei jeweils Beteiligten, sondern die Wirtschaft und damit die Nation insgesamt. Und auch mit den Werbern, die vertrauensselige Dörfler unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Armee pressen, oder dem Regenten, der seinen Sohn einem unfähigen Lehrer anvertraut,40 sind mehr als nur individuell relevante Vertrauensverhältnisse angesprochen: Eine aus betrügerisch rekrutierten Soldaten bestehende Armee verdient ebenso wenig Vertrauen wie ein mit unnützem Wissen abgefüllter Thronprätendent. Immer wieder kommt Mercier auf die machtbewehrten staatlichen Institutionen zu sprechen, denen besondere Vertrauenspflichten oblägen. So heißt es über die „maréchaussée“, die frankreichweit für die Sicherheit der Straßen verantwortliche Polizei: Elle ne doit jamais mettre la main trop légèrement sur un particulier, ni passer les bornes de sa mission, sans quoi le cultivateur seroit vexé par ceux même à qui le souverain a confié la défense du foible. Le glaive deviendroit dangereux dans sa main, troubleroit le bon ordre, & des fonctions utiles deviendroient dangereuses. Le citoyen seroit soumis à des vexations; on ne verroit que désordres de toutes parts.41
Das vom Souverän gewährte Vertrauen muß von den Ordnungshütern verdient werden, indem sie selber Vertrauen erwecken; es ist ein Vorgriff auf eine noch zu erbringende Schuld. Angesichts des vielfältigen Mißbrauchs polizeilicher Gewalt, wie er nicht nur bei der „maréchaussée“, sondern auch bei der Geheimpolizei zu beobachten sei, deren Aufgabe die – prinzipiell bejahte – Überwachung verdächtiger Subjekte ist, fordert Mercier ein Kontrollgremium, das dazu beitragen würde, individuelles Fehlverhalten zu vermeiden: „Pourquoi confier la plus terrible des puissances à un seul homme, ordinairement absorbé dans une foule de fonctions dont les rapports sont étendus? La marche n’en seroit pas moins prompte, moins décisive; mais il y auroit des règles & des formes qui arrêteroient l’influence d’une foule de passion étrangères & subalternes.“42 Und was die polizeiliche Überwachung des Briefverkehrs betrifft, so sollte jeder wissen, daß sie stattfindet und sich nur entsprechend vorsichtig äußern, doch sei die unbedingt zu respektierende „confiance publique“43 so lange nicht in Gefahr, wie die Briefe nicht in die Hände jener zahlreichen Übelwollenden fielen, die stets „à l’affût des ridicules“ ihrer Mitmenschen seien, „contens d’avoir pu tromper ou votre confiance ou votre crédulité“.44
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Orang-Zeb, „empereur des Mogols“ zu seinem Lehrer Mullah-Sallé: „loin de te confier le moindre emploi de mon royaume, je te défends, sous peine de la vie, de vouloir enseigner quelque chose à l’enfant du dernier sujet de mon empire.“ (TdP, vol. 5, S. 156–160) („Instituteur“) TdP, vol. 9, S. 228 („Maréchaussées“). TdP, vol. 9, S. 340 („Signalement“). TdP, vol. 3, S. 328 („La petite Poste“). Ebd., S. 326.
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Die Regierung ist auf Vertrauen angewiesen, ja letztlich besteht ihre Stärke nicht in der polizeilichen und militärischen Macht, die sie besitzt, sondern in dem Vertrauen, das ihr entgegengebracht wird. Durch den Mund Fontenelles lobt Mercier den Marquis d’Argenson, der seit 1697 für Ordnung und Sicherheit in Paris verantwortlich war, nicht als Schöpfer der politischen Polizei, sondern weil er es verstand, wiederholt durch Integrität und persönlichen Mut gefährliche Situationen zu entschärfen, so während der Teuerung der Jahre 1709 und 1710, als Emotionen hochkochten, deren strenge Bestrafung weder klug noch menschlich gewesen wäre: Le magistrat [d’Argenson] les calma, & par la sage hardiesse qu’il eut de les braver, & par la confiance que la populace, quoique furieuse, avoit toujours en lui. Un jour, assiégé dans une maison où une troupe nombreuse vouloit mettre le feu, il en fit ouvrir la porte, se présenta, parla, & appaisa tout. Il savoit quel est le pouvoir d’un magistrat sans armes; mais on a beau le savoir, il faut un grand courage pour s’y fier. Cette action fut recompensée ou suivie de la dignité de conseiller d’État.45
Und im Abschnitt über den Staatsrat spricht Mercier zwar ausdrücklich nur von der „grande confiance“ des Monarchen gegenüber den von ihm ernannten Mitgliedern. Aber im Zusammenhang ist klar, daß das in sie gesetzte Vertrauen seinerseits nur durch höchste Anstrengung, strenge Diskretion und durch interesselosen, sachbezogenen Rat im Interesse der Nation zu rechtfertigen ist: „plus une affaire est débattue, plus il en naîtra un bon conseil.“46 Auch die Staatsspitze schließlich, der souverän entscheidende Monarch, ist der Regel unterworfen, die für Polizei und Staatsrat gilt. Zwar gewährt oder verweigert der König den Sicherheitskräften wie der Regierung Vertrauen, doch ist er seinerseits auf Vertrauen angewiesen und zwar, da er die höchste, absolute – und insofern tendenziell abstrakte –weltliche Macht darstellt, der niemand offen zu widersprechen wagt, nicht weniger, sondern mehr als die anderen staatlichen Instanzen. Mercier rät dem künftigen Regenten, zu Büchern zu greifen, deren Ratschläge er „avec plus d’attention & de confiance“ bedenken könnte.47 Wie das Vertrauen, das er gewährt, enttäuscht werden kann, so kann auch er das Vertrauen, auf das er selber angewiesen ist, enttäuschen: „Les Parisiens, après avoir commencé par donner leur argent avec pleine confiance, ont fini par examiner cette question: La dette contractée par le souverain est-elle ou n’estelle pas la dette de la nation?“48 Letztlich beruhe die Stärke des Souveräns auf dem Vertrauen der Bürger, daß er seine unbegrenzte Macht einsetzt, um die
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TdP, vol. 8, S. 149f. („D’Argenson”). TdP, vol. 9, S. 24 („Conseil d’État“). TdP, vol. 5, S. 170 („Naissance d’un Prince“). TdP, vol. 2, S. 76 („Petite Question“).
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Geschicke der Nation zum Guten zu wenden.49 Mit einem Wort: „La confiance le soutient, la défiance le priveroit de sa force réelle.“50 Mercier spricht häufig und vielbezüglich von Vertrauen. Was sein Verständnis von der charakterologischen Typisierung La Bruyères und den auf den absolutistischen Hof zielenden klugen Ratschlägen La Rochefoucaulds abhebt, ist die geschichtliche Dynamik, die er seinen Beobachtungen und Reflexionen einschreibt: – Indem er Vertrauen im Blick auf das unübersichtliche und anonyme, sich ständig verändernde und dicht vernetzte Paris thematisiert, bewegt er sich in Richtung der Einsicht, daß die in der Metropole vorweggenommene abstrakte Moderne auf größere bzw. häufigere Vertrauensvorschüsse angewiesen, damit aber höheren Risiken ausgesetzt ist, als dies im Rahmen traditioneller Gesellschaften der Fall war, in denen tendenziell jeder jeden kannte oder zumindest annähernd sicher einzuschätzen wußte. – Er erkennt, bei allen moralisierenden Akzenten, die er setzt, das Geld als den historisch neuen Motor seiner Gesellschaft.51 Indem er sich von der konkretistischen Vorstellung freimacht, wonach sein Wert materiell, in der Seltenheit von Gold oder Silber, begründet und es also durch entsprechende Maßnahmen zu schützen ist, dringt er zur modernen Konzeption von Geld als einem durch Konventionen, Verabredungen und Gesetze garantierten tendenziell unanschaulichen Zahlungsmittel vor. Auch hier kommt wieder das Vertrauen ins Spiel, besonders in Bezug auf die „caisse d’escompte“, die, brächte man ihr nur allgemein Vertrauen entgegen, durch beschleunigte Geldzirkulation und erleichterte Kreditvergabe den gesamtgesellschaftlichen Reichtum befördern würde. Und wiederum sind die notwendigen erhöhten Vertrauensleistungen mit größeren Risiken belastet: Wenn der Wert des Geldes nicht materiell, sondern in gesellschaftlicher Verabredung begründet ist, steigen mit den Gewinn- auch die Verlustchancen. Insbesondere die betrügerischen Bankrotte werden daher als ein
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„j’ose dire que le monarque n’est fort & puissant que par l’heureuse & précieuse facilité qu’il a de recomposer incessamment son propre ouvrage, parce que ce n’est qu’ainsi qu’il peut en voir les défauts, l’élaborer en grand & le perfectionner, pour l’intérêt d’une nation sensible, délicate & généreuse. La caractère des Français étant tout feu, toute impétuosité, toute franchise, le souverain suit merveilleusement le caractère national en diversifiant ses plans & ses projets. C’est ce qui a sauvé des désastres, c’est ce qui a entretenu la confiance, parce que le peuple espère toujours le remède qu’il sait prompt, facile, & sans cesse dans la main du roi.“ (TdP, vol. 10, S. 138f.) („Fontainebeau“) TdP, vol. 8, S. 219 („Gouvernement“). „Ces parvenus, qui n’ont eu d’autre science que d’arracher beaucuop d’argent, emploient le ciseau du statuaire & le pinceau du peintre à faire passer leurs traits à l’avenir; & l’art se prostitue. La dérision ne les touche plus: le moteur universel & puissant, l’or, les absout: cette estime fatale des richesss corrompt les idées les plus saines; & ne disent-ils pas d’après Boileau: J’ai cent mille vertus en louis bien comptés!“ (TdP, vol. 2, S. 75) („Oisifs“) Vgl. vol. 8, S. 120f.: „L’argent empoisonne tout; son besoin éternel dénature le sang, l’amitié, la justice, la reconnoissance.“ („Vénalité“)
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Verbrechen geächtet, das nicht nur das Vertrauen ins Wirtschaftssystem, sondern das in den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt untergräbt.52 – Er äußert sich, sei es aus Überzeugung, sei es aus taktischen Erwägungen, zugunsten der absolutistischen Monarchie, liefert zugleich aber Gründe für eine andere Staatsoption, und beides hat wieder mit Vertrauen zu tun. Der souverän entscheidende Monarch muß letztlich seinen administrativen Ratgebern und denen vertrauen, denen er die Machtmittel an die Hand gibt, seinen Entscheidungen Geltung zu verschaffen. Daß dieses Vertrauen enttäuscht werden kann, wird indirekt im Blick auf die Übergriffe der Polizei wie insbesondere auch in der Empfehlung ausgesprochen, der Prinz, womit an der herangezogenen Stelle der künftige Regent gemeint ist, solle im Zweifelsfall dem Rat der Bücher statt dem der Menschen folgen. Wenn es lapidar heißt, das Vertrauen der Öffentlichkeit halte den Monarchen, ihr Mißtrauen aber würde ihn seiner tatsächlichen Macht berauben, so wird damit auf höchst prekäre Verhältnisse in der staatlichen Ordnung gezielt. Zugespitzt wird deren Brisanz durch die fiktional eingekleidete Warnung davor, dem künftig absolut regierenden Monarchen eine schlechte Erziehung zuteil werden zu lassen. Umgekehrt legt die Aussage, die Wahrheit müsse jeweils in kontroverser Diskussion gefunden werden, nahe, letztinstanzlich gerade nicht einem absolut regierenden Einzelnen, und sei er noch so gut beraten, zu vertrauen, ohne daß damit die Gefahren, denen auch Republiken unterliegen, geleugnet würden.53 In Merciers geschichtlicher Perspektive ist Vertrauen zunehmend notwendig, zugleich aber, angesichts der spezifisch modernen Unübersichtlichkeit wie auch wegen des abstrakten Charakters des Geldes und der absolutistisch zentralisierten Macht des Monarchen, mit wachsenden Risiken verbunden. Welche potentiell revolutionären Gefahren als Folge von Vertrauensverlust Gesellschaft, Wirtschaft und Staat bedrohen, wird noch deutlicher, wenn man sich von den bislang herangezogenen Stellen löst, in denen ausdrücklich von Vertrauen die Rede war, und den Blick auf das Tableau de Paris insgesamt richtet. Vor allem zwei leitmotivisch variierte Aspekte machen die 1788 abgeschlossene, um ein Mehrfaches erweiterte zweite Auflage des Werkes zu einer denkwürdigen Diagnose und Mahnung im Vorfeld der Revolution von 1789. Zum einen der Hinweis auf die ungeheure Kluft zwischen Arm und Reich, die in den unver-
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„Plusieurs, après avoir fait une cession générale de leurs biens, sont montés le lendemain dans un carrosse, ont pris un hôtel somptueux à la ville & une maison délicieuse à la campagne. Un spectacle aussi révoltant s’offre tous les jours dans la capitale. Et quelle est la cause funeste de ce scandale public? Il n’y en a point d’autre que celle que nous avons dévoilée: l’extrême facilité de faire une banqueroute lucrative, en la combinant & en la faisant conduire par des hommes exercés à soutenir le débiteur infidelle.“ (TdP, vol. 7, S. 56) („Faillites“). Vgl. vol. 1, S. 88f. („Escrocs polis, Filous“). Vgl. den Abschnitt „Gouvernement“, in dem die Nachteile der absoluten Monarchie in Bezug auf Frankreich heruntergespielt werden und von der „liberté orageuse & inquiète des républiques“ die Rede ist (TdP, vol. 8, S. 219), sowie die schon zitierte Stelle, die zwar auf den Chef der Geheimpolizei zielt, aber auch auf den Monarchen bezogen werden kann: „Pourquoi confier la plus terrible des puissances à un seul homme [...]?“ (TdP, vol. 9, S. 340) („Signalement“)
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mittelten Kontrasten der Metropole mit besonderer Schärfe hervortritt54 und durch das häufig insolente Verhalten der Oberschichten, etwa im Straßenverkehr,55 aber auch in strukturellen Mißständen wie dem, daß die Wohlhabenden vergleichsweise günstiger als die weniger Bemittelten einkaufen,56 zusätzlich Brisanz gewinnt; zum anderen die unter dem Begriff „agiotage“ zusammengefaßten Finanzspekulationen, die nicht notwendigerweise, wie der betrügerische Bankrott, offene Gesetzesbrüche sein müssen, sondern sich vielfach lediglich Gesetzeslücken zunutze machen, in jedem Fall aber einer maßlos gesteigerten und insofern asozialen Bereicherungswut entspringen. „Agiotage“ definiert die sechste Auflage des Wörterbuchs der Académie française durchaus noch in Merciers pejorativ gemeintem Sinn als [t]rafic qu’on fait des effets publics, en les achetant ou les vendant suivant l’opinion qu’on a qu’ils baisseront ou hausseront de valeur. […] Il se dit également Des manœuvres clandestines employées soit pour faire hausser ou baisser les fonds publics, suivant qu’on joue à la hausse ou à la baisse, soit pour faire varier suivant son intérêt particulier et secret, le prix de telle denrée, de telle marchandise sur laquelle on spécule.57
Merciers kritische Beobachtungen und Einschätzungen im Tableau de Paris umkreisen den brisanten Zusammenhang zwischen Mißernten, Lebensmittelknappheit, Hungersnot, Spekulation und prekärer Finanzlage des Staates, die in den 1780er Jahren dem Ausbruch der Revolution vorausgingen. Vertrauen gilt ihm als das Bindemittel, das Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zusammenhält, Vertrauensmißbrauch, sofern er nicht aufs Private beschränkt bleibt, wo er im Grenzfall komödiantisch-komisch bearbeitet werden kann, als systemgefährdendes Grundübel. Merciers Überlegungen zum Vertrauen entspringen einer bestimmten historischen Situation und sind an die Leser einer Epoche gerichtet, die seit über 200 Jahren Geschichte ist. Dennoch entbehren sie weder einer konzeptionellen noch einer politischen Aktualität. Wenn Luhmann, streng analytisch auf Funktionen und Funktionsäquivalenzen orientiert, Vertrauen als unverzichtbaren „Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität“ faßt und auf den gesteigerten Vertrauensbedarf ausdifferenzierter moderner Gesellschaften hinweist,58 so berührt sich das vielfach mit Merciers noch stark moralisierend akzentuierter Einschätzung, daß weder Wirtschaft noch Staat des späten ancien régime ohne Vertrauensvorleistungen zusammengehalten werden könnten. Solche Vorleistungen muß jeder erbringen, der eine Dienstleistung in der modernen Metropole Paris beansprucht, ebenso wie derjenige, der als Kreditgeber oder -nehmer mit Geld
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Vgl. etwa „D’un Pauvre“ (TdP, vol. 3, S. 179–182), „Aux Riches“ (Ebd., S. 182–185) und „Agioteurs“ (vol. 11, S. 62–66). Vgl. „Aller à pied“ (TdP, vol. 8, S. 199–203). Vgl. „Les Halles“ (TdP, vol. 1, S. 205–208). Dictionnaire de l’Académie française. Sixième édition. Paris: Firmin Didot o. J. [1835], vol. 1, S. 40. Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 3., durchgesehene Aufl. Stuttgart: Ferdinand Enke 1989 (1968).
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produktiv umgeht, indem er von seinem Materialwert absieht, und jener, der die im absolut herrschenden Monarchen zentralisierte Macht des politischen Systems akzeptiert. Welch politisch aktuelle Bedeutung Merciers Thema hat, belegt die inflationär gestiegene Konjunktur der Vertrauenssemantik in der gegenwärtigen Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise, in der letztlich auch die Vertrauenswürdigkeit des politischen Systems auf dem Spiel steht. Wolfgang Schäuble beispielsweise spricht von einem „Vertrauensschaden“, der geheilt werden müsse, wenn nicht dauerhaft zwei „Grundprinzipien unserer freiheitlichen Ordnung“ Schaden nehmen sollten, „die allgemeine Verbindlichkeit und die allgemeine Akzeptanzfähigkeit der Regeln in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft“.59 – Auch bei den Romantikern und ihren Zeitgenossen blieb die Thematisierung des Vertrauens nicht auf das mit Arnims Isabella von Ägypten exemplarisch angesprochene Vertrauen von Freunden und Liebenden beschränkt,60 doch haben sie gerade diese Variante des personalen Vertrauens besonders eindrücklich gestaltet. Ein prominentes Beispiel ist Tieck, mit einzelnen Erzählungen und Dramen ebenso wie mit dem Rahmen seines Phantasus. Schon die erste Erzählung des Zyklus, Der blonde Eckbert, betont den prekären Charakter des Vertrauens. Eckbert und seine Frau Bertha leben auf einer Burg im Harz, „[n]ur selten [...] von Gästen besucht“, mit der Ausnahme Philipp Walthers, dem sich Eckbert in „innigere[r] Freundschaft“ anschließt.61 Am Ursprung der Schreckensvisionen und Verfolgungsängste, die Eckbert und Bertha packen und schließlich zugrunderichten, steht ein „neblichte[r] Abend“, an dem Eckbert seinem Freund vorschlägt, statt den „weiten Rückweg“ in „nasser Kälte“ anzutreten, „die halbe Nacht unter traulichen Gesprächen hinzubringen“. Walther nimmt das Anerbieten an, und das Gespräch der Freunde wird „heitrer und vertraulicher“. Bertha, der Eckbert gesagt hatte, „daß es unrecht sei“, dem Freund „etwas zu verhehlen“, erzählt Walther ihre „seltsam[e]“ Jugendgeschichte.62 Zur Katastrophe kommt es, als Walther sich, nachdem Bertha ihre Erzählung geendigt hat, mit einem Handkuß für die restliche Nacht verab-
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Wolfgang Schäuble: Ohne Maß ist die Freiheit Ruin. In : FAZ, 27. 8. 2009, S. 29, 31. Ein anderes Beispiel: Jürgen Mittelstraß, der im Blick auf „Vertrauensverlust“ und „Vertrauenskrise“ „eine Stärkung eigener Urteilskraft statt eines mehr oder weniger blinden Vertrauens auf die vermeintliche Weisheit von Ratingagenturen“ fordert (Wirtschaft und Ethos. In: FAZ, 9. 10. 2009, S. 12). Vgl. etwa Novalis’ Begriff des „Zutrauens“ in „Die Christenheit oder Europa“: „Kindliches Zutrauen knüpfte die Menschen an ihre [der „heilige[n] Menschen“] Verkündigungen.“ „So fielen Achtung und Zutrauen, die Stützen dieses und jedes Reichs, allmählig weg [...].“ „Wo ist jener alte, liebe, alleinseligmachende Glaube an die Regierung Gottes auf Erden, wo ist jenes himmlische Zutrauen der Menschen zu einander, jene süße Andacht bei den Ergießungen eines gottbegeisterten Gemüths, jener allesumarmende Geist der Christenheit?“ (Novalis: Schriften. Bd. 3: Das philosophische Werk II. Hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968, S. 507, 510f., 523) Ludwig Tieck: Phantasus. Hrsg. von Manfred Frank. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, S. 126 (Schriften 6). Ebd., S. 127.
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schiedet und dabei seinem Dank die Worte hinzufügt: „ich kann mir Euch recht vorstellen, mit dem seltsamen Vogel, und wie ihr den kleinen Strohmian füttert.“ Die Nennung des Hundenamens, der Bertha entfallen war, setzt in beiden Eheleuten heftige Reaktionen frei, weil er ihr einen Teil der eigenen Lebensgeschichte durch den Mund eines Freundes zurückgibt, der sie rätselhafterweise zu kennen scheint und sich gleichwohl erzählen läßt: „Ist der Mensch nicht ein Tor?“, fragt sich Eckbert, ich bin erst die Veranlassung, daß meine Frau ihre Geschichte erzählt, und jetzt gereut mich diese Vertraulichkeit! – Wird er sie nicht mißbrauchen? [...] Es fiel ihm ein, daß Walther nicht so herzlich von ihm Abschied genommen hatte, als es nach einer solchen Vertraulichkeit wohl natürlich gewesen wäre. Wenn die Seele erst einmal zum Argwohn gespannt ist, so trifft sie auch in allen Kleinigkeiten Bestätigungen an. Dann warf sich Eckbert wieder sein unedles Mißtrauen gegen seinen wackern Freund vor, und konnte doch nicht davon zurück kehren.63
Bertha erkrankt und entdeckt Eckbert die verstörende Wirkung, die von Walthers Nennung des Namens auf sie ausging: „Ein gewaltiges Entsetzen befiel mich, als mir ein fremder Mensch so zu meinen Erinnerungen verhalf.“64 Der thematische Schwerpunkt der Geschichte, die mit dem Tod aller Beteiligten endet, liegt auf den wachsenden Ängsten, die Bertha und Eckbert zuletzt Wahn und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden lassen und auch den Leser in einen Sog der Verunsicherung ziehen. Initialzündung dieser Verstörung aber und damit ein wichtiges Nebenthema ist der Umschlag von freundschaftlich-innigem Vertrauen in unheilbares Mißtrauen, das in Wahnsinn, Mord und Tod endet. Auch im Rahmen, der die einzelnen Erzählungen und Märchen zum Phantasus-Zyklus verbindet, wird das Vertrauen zugleich narrativ und diskursiv thematisiert, mit einem besonderen Akzent auf dem Respekt, den gerade vertraute Freunde angesichts eines Geheimnisses, das der andere hüten möchte, bewahren sollten.65 Vertrauen hat sich nicht zuletzt darin zu bewähren, daß man die nicht mit Mißtrauen gleichzusetzende Zurückhaltung eines Freundes respektiert. In einem von Hofmannsthal in sein Deutsches Lesebuch unter dem Titel Freundschaft aufgenommenen Gespräch dreier der im Phantasus-Rahmen versammelten Freunde66 spricht der eine davon, daß man, wenn man das Glück hat, mehrere Freunde zu besitzen, „mit jedem Freunde ein eignes, abgesondertes Leben“ lebe, worauf der zweite sich mit den Worten anschließt, ein Mensch, „der überhaupt das Leben und sich selbst versteht“, werde „mit jedem seiner
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Ebd., S. 140f. Ebd., S. 142. Näheres bei Gerhard R. Kaiser: Geheimnis und Geselligkeit in Tiecks „Phantasus“. In: Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Hrsg. von Marek J. Siemek. Amsterdam, Atlanta GA: Rodopi 1998, S. 199–219 (Fichte-StudienSupplementa 10). Deutsches Lesebuch. Hrsg. von Hugo von Hofmannsthal. Zweite vermehrte Aufl. München: Verlag der Bremer Presse 1926, Bd. 1, S. 284–287.
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Freunde ein eignes Vertrauen, eine andre Zärtlichkeit fühlen und üben wollen“, und schließlich auch der dritte seine Zustimmung äußert: Was du da berührst [...], berührt zugleich die Wahrheit, daß es nicht nur erlaubt, sondern fast notwendig sei, daß Freunde vor einander Geheimnisse haben, ja es erklärt gewissermaßen die seltsame Erscheinung, daß man dem einen Freunde wohl etwas anvertrauen mag, was man gern dem verschweigt, mit dem man vielleicht in noch vertrautern Verhältnissen lebt. Es ist eine Kunst in der Freundschaft wie in allen Dingen, und vielleicht daher, daß man sie nicht als Kunst erkennt und treibt, entspringt der Mangel an Freundschaft, über welchen alle Welt jetzt klagt.67
Der Dialog gibt keine konkrete Anleitung für das Verständnis von Der blonde Eckbert, in dem ja die Jugendgeschichte Berthas nicht von Walther erfragt, sondern ihm ungebeten mitgeteilt wird. Dennoch und trotz unterschiedlicher Gewichtung sind Rahmendialog und Binnenerzählung durch das Thema ‚Geheimnis zwischen Freunden‘ und damit die Dialektik Vertrauen / Mißtrauen miteinander verbunden. E. T. A. Hoffmanns Märchen, Erzählungen und Romane handeln ebenfalls wiederholt von Vertrauen. In einem weiteren Sinn gilt das für all die Werke, die das Motiv des Doppelgängers einsetzen, um schwerwiegende Wahrnehmungsirritationen vorzuführen, die im Grenzfall mit der Identität des anderen die des Ich zerstören – eine phantastisch vermittelte Vorwegnahme der wissenschaftlich belegbaren Einsicht in den Zusammenhang von Vertrauensbereitschaft und der im Selbstvertrauen zum Ausdruck kommenden Ichstärke.68 Spezifischer hat Hoffmann Vertrauen in einigen Erzählungen gestaltet, in deren Mittelpunkt das Verhältnis von Arzt und psychisch erkranktem Patienten steht. Im Magnetiseur etwa zeigt er eine von dämonischer Hybris bewegte Gestalt, die sich wissenschaftlicher Kenntnisse und Fähigkeiten zum Zweck eines ichsteigernden Machtrauschs bedient und eine ganze Familie vernichtet. Im Zusammenhang des Vertrauens zwischen Freunden und Liebenden kommt der Märchenerzählung Meister Floh besondere Bedeutung zu. Das illegitime Wissenwollen und andererseits, doch damit untrennbar verbunden, die Notwendigkeit des Vertrauens werden in einem satirischen und einem märchenhaften Handlungsstrang entfaltet, die sich wechselseitig beleuchten, auch wenn es um durchaus verschieden geartete Vertrauensverhältnisse geht. In der Knarrpanti-Episode nimmt Hoffmann in satirisch verfremdeter Form die Gesinnungsschnüffelei des Berliner Polizeidirektors Kamptz während der sogenannten Demagogenverfolgungen aufs Korn und zeigt, wie grenzenloses Mißtrauen die Vertrauensgrundlagen, auf denen der Staat ruht, untergraben muß. Diesem Mißtrauen, das zerstört, was es befördern will, und scheitern muß, weil es an die menschliche Freiheit rührt, steht ein freiwilliger Verzicht auf ein mögliches Wissen gegenüber, das, würde es denn erlangt – was als Möglichkeit nicht in
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Tieck: Phantasus, S. 25f. Vgl. Martin Schweer, Barbara Thies: Vertrauen – die unterschätzte Kraft. Zürich und Düsseldorf: Walter 1999, u. a. S. 47, 96.
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Zweifel steht –, das erhoffte Glück gerade unmöglich machen würde: Peregrinus Tyß, ein reicher elternloser Frankfurter, von kindlichem Gemüt und menschenscheu, wird seines Geldes wegen von den jungen Frankfurterinnen als Ehemann begehrt und mit entsprechenden Signalen umworben. Er ist wunderbarerweise im Besitz eines Gedankenmikroskops, das es ihm erlaubt, sekundenschnell auch ins Innere der heiratswilligen Damen zu schauen, die ihm schmeichelnde Freundlichkeiten sagen, tatsächlich aber auf sein Geld aus sind, über das sie, einmal verheiratet, verfügen würden. So flüstert ihm ein weitläufig verwandtes „sehr zierlich gekleidete[s] junge[s] Mädchen“ bei einem Spaziergang zu: ‚Besuchen Sie uns recht bald, lieber Vetter!‘ – Die Gedanken lauteten: Der Vetter ist ein recht hübscher Mensch, und ich begreife nicht, warum ihn die Mutter albern und abgeschmackt nennt und ihn nicht leiden mag. Wenn er in unser Haus kommt, verliebt er sich in mich, denn ich bin das schönste Mädchen in ganz Frankfurt. Ich nehme ihn, weil ich einen reichen Menschen heiraten will, damit ich bis eilf Uhr schlafen und teurere Shawls tragen darf als die Frau von Carsner.69
Peregrinus, der solch eigensüchtigen Narzißmus durchschaut und schroff abweisend reagiert, verliebt sich schließlich in Röschen Lämmerhirt, die Tochter eines armen Buchbinders, dem er gelegentlich Arbeit gibt, und glaubt sich seinerseits von ihr geliebt. Einen Augenblick erwägt er, auch ihr gegenüber von dem Gedankenmikroskop Gebrauch zu machen und die Echtheit ihrer Liebe zu prüfen, schreckt aber schnell zurück: Er blickte auf, und das reine Himmelsazur der schönsten Augen leuchtete in seine Seele hinein. Röschen, seine innere Bewegung wohl bemerkend, sah ihn ganz verwundert und beinahe beorglich an. Da war es ihm, als durchzuckte ihn ein jäher Blitz, und das vernichtende Gefühl der Verderbtheit seines Sinnes zermalmte sein ganzes Wesen. Wie? sprach er zu sich selbst, in das himmelreine Heiligtum dieses Engels willst du eindringen in sündhaftem Frevel? Gedanken willst du erspähen, die nichts gemein haben können mit dem verworfenen Treiben gemeiner, im Irdischen befangener Seelen? Verhöhnen willst du den Geist der Liebe selbst, ihn mit den verruchten Künsten bedrohlicher unheimlicher Mächte versuchend? Er hatte mit Hast das Schächtelchen in seine Tasche verborgen, es war ihm, als habe er eine Sünde begangen, die er nie, nie werde abbüßen können. Ganz aufgelöst in Wehmut und Schmerz, stürzte er dem erschrockenen Röschen zu Füßen, rief: er sei ein Frevler, ein sündiger Mensch, der der Liebe eines engelreinen Wesens wie Röschen nicht wert sei, badete sich in Tränen.70
Das Vertrauen, das er, auf Wissen verzichtend, schenkt, wird von Röschen mit emphatischer Innerlichkeit erwidert:
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E. T. A. Hoffmann: Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde. Hrsg. von Wulf Segebrecht. Stuttgart 1976, S. 90 (RUB 365). Ebd., S. 168f.
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Peregrinus! Mein holder, geliebter Peregrinus, sieh mir ins Auge, du wirst keine Spur des leisesten Argwohns finden, ich habe dein reines Gemüt erkannt, niemals hat dein Wort, dein Blick nur einen verfinsternden Hauch auf den hellen klaren Spiegel meiner Seele geworfen. Ich vertraue dir, ich vertraue dem Gedanken der Seligkeit, die über uns kommen wird, wann ein festes Band uns verknüpft, und die mir süße Träume voll Liebe und Sehnsucht verkündet! Peregrinus! mögen auch finstre Geister über dich beschlossen haben, was sie wollen, ihre Macht scheitert, gebrochen an deinem frommen Wesen, das fest und stark ist in Liebe und unwandelbarer Treue. Was soll, was kann eine Liebe verstören wie die unsrige; verbanne jeden Zweifel, unsre Liebe ist der Talisman, vor dem die nächtigen Gestalten fliehen.71
Wieder, wie in Arnims Isabella von Ägypten, wird die vertrauende Liebe in religiöser Sprache gefeiert, wenn auf dem Hintergrund von „Sünde“, „Frevel“ und des „verworfenen Treiben[s] gemeiner, im Irdischen befangener Seelen“ von „fromme[m] Wesen“, „Heiligtum“ und „Seligkeit“ die Rede ist. Unverkennbar trägt Peregrinus' plötzlicher Wandel, bis in die metaphorische Bildlichkeit hinein, Züge christlicher Bekehrungserlebnisse.72 Die Emphatisierung liebendvertrauender intimer Nähe, die durch den Namen Röschen Lämmerhirt nur leicht ironisch gebrochen wird, zehrt auch hier von der christlichen Tradition, die Hoffmann schon ferner als einem Novalis oder einem Arnim stand. Weiter als Tieck und Hoffmann geht Kleist auf Distanz zum frühromantischen Utopismus eines Novalis. Dies zeigt sich gerade in der Insistenz und der Radikalität, mit denen er in seinem dramatischen und erzählerischen Werk immer wieder auf das Thema Vertrauen / Mißtrauen zurückkommt. „Jeder vertraut jedem“, schreibt László F. Földényi über Kleists Figuren, „Ottokar Agnes, Alkmene Jupiter, Penthesilea Achilles, der Prinz von Homburg dem Kurfürsten, die Marquise von O... Graf..., Gustav Toni, Herr Friedrich Littegarde. Das Vertrauen ist bedingungslos. [...] Zerrinnt jedoch das Vertrauen, zerfällt alles. [...] So blind das anfängliche Vertrauen ist, so blind ist auch das spätere Mißtrauen.“73 An dieser Einschätzung ist zweierlei bemerkenswert: zum einen, daß Kleist vorzüglich blindes Vertrauen und blindes Mißtrauen, nicht Vertrauen und Mißtrauen schlechthin thematisiert; zum anderen – damit zusammenhängend –, daß die Welt, daß „alles“ zwar dem blind Vertrauenden oder blind Mißtrauenden, nicht aber dem Vertrauenden und dem Mißtrauischen überhaupt zerfällt – für letztere bricht sie nicht notwendig zusammen, für sie bleibt sie lediglich,
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Ebd., S. 170f. Vgl. etwa Apostelgeschichte 9, 3–4 und 9 über die Bekehrung des Paulus: „Und da er auf dem Wege war und nahe an Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich? [...] und er war drei Tage nicht sehend und aß nicht und trank nicht.“(Luthers Übersetzung) Vgl. auch die Belege zu ‚Blitz‘ / ‚blitzen‘ bei Angelus Silesius und im Pietismus: August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Zweite, ergänzte Aufl. Tübingen: Niemeyer 1968, S. 251, 405, 411. Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter. Aus dem Ungarischen übersetzt von Akos Doma. München: Matthes & Seitz 1999, S. 481.
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schlimm genug, nach einer berühmten Formulierung, „gebrechlich“. Kleist fragt nach Vertrauen und Mißtrauen im Horizont ihres – „blinden“ – Mißbrauchs. Schon die angeführten Beispiele belegen, wie sehr das Verhältnis zwischen Liebenden im Zentrum der Kleistschen Thematisierung von Vertrauen und Mißtrauen steht. An der Marquise von O..., der das Wort von der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“ entstammt,74 läßt sich zeigen, wie und wie sehr von ihm aus das Selbst- und Weltverhältnis problematisierend zur Sprache gebracht werden kann. Mit der unwissentlichen Empfängnis greift Kleist ein der Weltliteratur durchaus nicht unbekanntes Thema auf, das ihm wahrscheinlich in Montaignes De l’yvrognerie begegnet war, wo von einer ahnungslos schwanger Gewordenen die Rede ist, die von der Kanzel herab nach dem Vater des erwarteten Kindes suchen läßt.75 In dem knapp gehaltenen Abschnitt dieses Essays ist, abgesehen von den summarisch genannten Nachbarinnen und dem ebenfalls konturlos bleibenden Geistlichen, nur von der Dame selbst und dem Knecht die Rede, der sie, während sie schlief, betrunken vergewaltigt hatte. Weder im Verhalten der Schwangeren zu den Nachbarinnen, denen sie ihren Zustand offenbart, noch in dem zu dem Geistlichen, der ihrer Bitte um öffentliche Bekanntmachung entspricht, und nicht einmal in dem zu dem Vergewaltiger ist ausdrücklich von Vertrauen oder Mißtrauen die Rede. Wie die Nachbarinnen die unerhörte Nachricht aufnehmen, erfährt der Leser ebenso wenig wie die Gründe, die den Geistlichen bewegen, die Bitte um einen öffentlichen Aufruf nicht als schamlose Zumutung abzulehnen, und vollends bleibt ungesagt, ob und wie der tiefe Vertrauensmißbrauch, der hier am Ursprung der Ehe stand, in der Ehe geheilt werden konnte. „Ils vivent encore mariez ensemble“, heißt es lakonisch am Schluß der Geschichte, ganz so, als sei mit der (begrenzten) Behebung des sozialen auch der moralische Schaden geheilt. Die anekdotische Erzählung kreist um Vertrauen und Mißtrauen, streift beide aber ausdrücklich nur in den andeutenden Worten des Autors bzw. Erzählers, der versichert, daß er die Betrogene ehre und schätze. Im Zuge der novellistischen Entfaltung der Anekdote erweitert und konkretisiert Kleist das Personal und rückt dabei Vertrauen und Mißtrauen ins thematische Zentrum. „Wer konnte mir“, so die Marquise selbst, „unter so unerhörten Umständen Vertrauen schenken?“76 Arzt und Hebamme, die sie in ihr Vertrauen zieht, können ihr verständlicherweise nicht vertrauen. Vater, Mutter und Bruder entziehen ihr nach der unglaubwürdigen Mitteilung, sie sei unwissentlich schwanger, mit ihrem Vertrauen den Schutz der Familie. Graf F..., der Einzige, der sie für unschuldig hält, kommt gar nicht erst in die Lage, ihr zu vertrauen oder zu mißtrauen, da er um den Ursprung der Schwangerschaft weiß. Die Vertrauenskrise bleibt nicht auf das Verhältnis der Marquise zu ihrer Umwelt be-
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Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembdner. Sechste, ergänzte und revidierte Aufl. München: Hanser 1977, Bd. 2, S. 143. Nach Sembdner, ebd., S. 899f. (Montaigne: Œuvres complètes. Éd. Albert Thibaudet, Maurice Rat, Paris: Gallimard 1962, S. 323f. [Bibliothèque de la Pléiade 14]). Kleist: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 135f.
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schränkt. Ungeachtet der Überzeugung, nicht gefehlt zu haben, geht sie, „gegen sich selbst mißtrauisch, alle Momente des verflossenen Jahres“ durch „und hielt sich für verrückt, wenn sie an den letzten dachte“77 (der ihr so wenig wie die vorausgehenden Aufklärung zu geben vermochte). Das „eigne[], innerliche[], [...] nur allzuwohlbekannte[] Gefühl“, das sie aus ihren früheren Schwangerschaften kennt, wendet sich gegen die Überzeugung, an ihrem Zustand unschuldig zu sein. Mit dem Verlust der eigenen Lebensgeschichte ist ihre Identität bedroht. Kleist gibt der am Ende ironisch gebrochenen Geschichte bekanntlich nicht die schlimmstmögliche Wendung, wohl aber spitzt er sie thematisch radikal zu. Dies geschieht nicht bereits dadurch, daß er die Marquise in die Ehe mit dem Grafen einwilligen läßt, der sie aus den Fängen der Soldateska gerettet und anschließend selbst vergewaltigt hatte – damit bliebe er noch in den von Montaigne vorgezeichneten Bahnen. Die Zuspitzung erreicht er vielmehr dadurch, daß der Vergewaltiger „nach Verlauf eines Jahres ein zweites Jawort“ von ihr erhält,78 nachdem es ihm gelungen war, das zunächst blind zu Unrecht gewährte Vertrauen der Geschändeten schrittweise neu zu erwerben. Das blinde, anhimmelnde Vertrauen der Mißbrauchten führte ebenso in die Irre wie das blinde verdammende Mißtrauen der Familie. Das am Ende gewonnene Vertrauen ist kein wiedergewonnenes, sondern ein schwer errungenes sehendes – nicht sicher wissendes – Vertrauen, das die „Einsicht in die „gebrechliche[]“, keineswegs, wie es an einer früheren Stelle geheißen hatte, „große[], heilige[] und unerklärliche [] Einrichtung der Welt“79 zur Voraussetzung hat. Auch Kleists Erzähler bedient sich bei der Entfaltung des Themas Vertrauen einer Begriff- bzw. Bildlichkeit aus der christlichen Tradition: Graf F... „schien“ der Marquise zunächst „ein Engel des Himmels“ zu sein,80 später aber ein „Teufel“, dessen Wirkung sie – ungewollt komisch – mit Weihwasser zu bekämpfen sucht.81 Erst am glücklichen Ende der Geschichte überwindet sie solch verhimmelnd vertrauende oder verteufelnd mißtrauische Unbedigtheit, indem sie dem Grafen gesteht, „er würde ihr [...] nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre“.82 Von solch reifer Einsicht in die Unvermeidbarkeit des notwendigerweise – weil wesensgemäß – prekär bleibenden Vertrauens fällt ein letztes Mal kritisches Licht auf die elterliche Familie, die gegenüber der Marquise von blindem Vertrauen zu blindem Mißtrauen wechselt, um sich am Ende, unbelehrt, neuerlich blindem Vertrauen zu überlassen. –
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Ebd., S. 120f. Ebd., S. 143. Ebd., S. 126. Ebd., S. 105. Ebd., S. 141. Ebd., S. 143.
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Die deutsche Rezeption Merciers war während mehrerer Generationen breit und produktiv, von dem Stürmer und Dränger Wagner, der ihn übersetzte,83 bis zu Büchner, der aus ihm eine Dramenfigur schuf.84 Goethe und Schiller, Wieland und Herder haben ihn ebenso zur Kenntnis genommen wie Jean Paul und Klingemann, denen er mit den alsbald auch im Deutschen vorliegenden Songes et visions philosophiques von 1789 wichtige Anstöße gab.85 Auch Romantikern wie Wackenroder und A. W. Schlegel, Brentano und Arnim war er ein Begriff,86 und es konnte kaum anders sein angesichts der vorausgehenden deutschen Rezeption seines vielgestaltigen Werkes wie auch der Rolle, die Mercier, in den Revolutionswirren und als Freund unter anderem Condorcets, Brissots und Schlabrendorfs gespielt hatte.87 Dessen ungeachtet wäre es nicht sinnvoll, die Verbindung zwischen Merciers auf Gesellschaft, Wirtschaft und Staat fokussierten Beobachtungen bzw. Überlegungen zum Vertrauen und der Intimisierung des personalen Vertrauens bei den Romantikern in direkten Lektüre-
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Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen. Mit einem Anhang. Aus Goethes Brieftasche. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1776. Mit einem Nachwort von Peter Pfaff. Heidelberg: Lambert Schneider 1967. Zu Büchner und Mercier vgl.: Danton’s Tod. Marburger Ausgabe. Historische Quellen. Bearbeitet von Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer und Eva-Maria Vering. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 295–318 sowie: Erläuterungen. Bearbeitet von Burghard Dedner unter Mitarbeit von Eva-Maria Vering und Werner Weiland. Darmstadt 2000, S. 16 (Sämtliche Werke und Schriften. 3.3 und 3.4). S. besonders Anna Dorothea Streckeisen: Le romantisme allemand et Mercier. In: Hermann Hofer (éd.): Louis-Sébastien Mercier précurseur et sa fortune. Avec des documents inédits. Recueil d’études sur l’influence de Mercier. München: Fink 1977, S. 117–134 sowie Angelika Corbineau-Hoffmann: An den Grenzen der Sprache. Zur Wirkungsgeschichte von Merciers Tableau de Paris in Deutschland. In: arcadia 27 (1992), S. 141–161 und Andreas Pfersmann: Une „gloire tudesque“. In: Jean-Claude Bonnet (éd.): Louis-Sébastien Mercier (1740–1814). Un hérétique en littérature. Paris: Mercure de France 1995, S. 417–436. Wilhelm Heinrich Wackenroder: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 2: Briefwechsel, Reiseberichte, Philologische Arbeiten, Das Kloster Netley, Lebenszeugnisse. Hrsg. von Richard Littlejohns. Heidelberg: Winter, S. 120; August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Zweiter Teil. Stuttgart: Kohlhammer 1967, S. 102 (Kritische Schriften und Briefe. Hrsg. von Edgar Lohner 6); Achim von Arnim und Clemens Brentano: Freundschaftsbriefe II, 1807 bis 1829. Hrsg. von Hartwig Schultz, Frankfurt a. M.: Eichborn 1998, S. 598f.; Achim von Arnim: Schriften. Hrsg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack und Hermann F. Weiss. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, Bd. 6, S. 544f. Vgl. auch in Clemens Brentanos Frühlingskranz Bettinas Worte: „Jeden Nachmittag kommt der Herzog, der blinde Herzog von Aremberg, mit einem großen Pack Revolutionsblätter, Sieyès, Mercier, Pétion, noch andre, die mit großem Ernst am Weltgeschick weben. Das klingt ein in meine verneinende Seele gegen alles, was ich in der Welt gewahr werde, sie beweisen und heben den Schleier von aller Verkehrtheit.“ Dazu Clemens’ Äußerung im Antwortbrief (Bettina von Arnim: Werke und Briefe, Bd. 4. Hrsg. von Gustav Konrad. Frechen: Bartmann 1959, S. 23f.). (Freundliche Hinweise von Heinz Härtl.) Karl August Varnhagen von Ense: Biographien, Aufsätze, Skizzen, Fragmente. Hrsg. von Konrad Feilchenfeldt und Ursula Wiedemann. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 64f. (Werke 4).
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eindrücken suchen zu wollen, selbst wenn es gelänge, für jeden einzelnen Autor eine gründliche Bekanntschaft mit dem Tableau de Paris nachzuweisen. Weiter führt hier Luhmanns Begriff der funktionalen Äquivalenz. Arnim und Tieck, Hoffmann und Kleist greifen in den herangezogenen Werken zur Artikuation der emphatischen und doch skeptischen Aufwertung des personalen Vertrauens zwischen Freunden und Liebenden durchweg auf die christliche Tradition zurück. Ihre aus religiöser Tradition genährte Sprache hebt, ungeachtet der ironischen Distanzierungssignale, die personale Verbindung auf eine Höhe, die vormals Gott und Christus, Engeln und Satan, Himmel und Hölle vorbehalten war. Sie bezeugt damit eine funktionale Äquivalenz: Das Vertrauen des Christen in wie auch sein Zweifel an Gott sind nicht spurlos erodiert, sondern kehren im Bereich engster menschlicher Nähe, verwandelt wieder. Die Ensicht in die ungeheure Belastung, die diese dadurch erfährt, ist nicht erst der modernen Soziologie der Liebe zu danken.88 Funktionale Äquivalenz kann nicht nur vertikal, auf der Zeitachse, sondern auch horizontal, unter zeitgleich unterschiedlichen Bedingungen, gegeben sein. Zwar reagieren die deutschen Romantiker auf die Erschütterung der Französischen Revolution, deren terroristische Radikalisierung ihren Anfängen nur wenige Jahre vorausliegt, doch wäre es wenig sinnvoll, die Intimisierung personalen Vertrauens allein als Folge der politischen Ereignisse im Nachbarland verstehen zu wollen, deren krisenhafte Vorgeschichte Mercier aspektreich im Tableau de Paris vergegenwärtigt hatte. Die französische Literatur des 18. Jahrhunderts hatte sich, ungeachtet eines so bedeutenden Werkes wie Marivaux’ Les fausses confidences und gerade auch in der in vieler Hinsicht singulären Gestalt Rousseaus, in hohem Maße kritisch auf Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bezogen. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wurden natürlich auch in der deutschen zur Diskussion gestellt, doch führte hier die aus Mystik und Pietismus gespeiste starke Innerlichkeitstradition zu einem anders akzentuierenden thematischen Spektrum. Zu Merciers frivoler Rede von der durch vorgetäuschte Jungfräulichkeit erschlichenen Ehe mag es in der nachbarocken deutschen Literatur das eine oder andere Gegenstück geben, doch selbst wenn man ein solches fände, hätte es nicht die Symptomatik, die ihm im Tableau de Paris zukommt, dessen Autor sich für Vertrauen gerade nicht im Bereich von Liebe und Freundschaft, sondern in dem von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft interessiert. Die deutsche Innerlichkeitstradition erfuhr durch die Romantik in der geschichtlichen Stunde eine Zuspitzung, als die mit der Revolution verbundenen Hoffnungen zerstoben. In seltener Reinheit bezeugt dies Hölderlins Hyperion,
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S. Luhmann: Liebe als Passion sowie und Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt a. M. 1990 (suhrkamp taschenbuch 1725). Ulrich Beck: „Liebesehe als normalisierte Romantik soll nun nicht mehr nur materielle Sicherheit, Elternschaft usw., sondern wechselseitige Selbstfindung und -befreiung, das runde Viereck expressiver Dauerabenteuerlichkeit bei konstanter Vertrauenspartnerschaft ermöglichen.“ (S. 224) „Die Sehnsüchte nach Liebe im Sinne von Vertrauen und Heimat gedeihen im Milieu des Zweifels und der Fragwürdigkeit, das die Moderne erzeugt.“ (S. 231)
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der die Erfahrung der – historisch transponierten – terreur mit einer Verklärung engster liebender Verbundenheit zusammenführt. Vertrauen und Mißtrauen werden im Hyperion alternativ mit der Liebe und der Politik verbunden. Die Konstellation der beiden den Roman bestimmenden Themenkomplexe eines in Terror ausartenden Befreiungskampfes und einer emphatisch gesteigerten Liebe kann den Blick für die funktionalen Äquivalenzen öffnen, die nicht nur, eher vertikal, (schwindendes) Gottvertrauen und Liebesvertrauen, sondern auch, eher horizontal, Liebesvertrauen und und (erodierendes) Vertrauen in den letztlich positiven Gang der Geschichte verbinden.89 Wie im Hyperion, wenn auch weniger deutlich, werden auch in drei der oben herangezogenen Erzählungen die Themenkomplexe Liebe und politische Geschichte konstellativ verbunden: Es sind gerade die Zwänge des Staates, die Karl gar nicht erst den Gedanken fassen lassen, sich mit Isabella in vollgültiger Ehe zu verbinden; in der geheimpolizeilichen Schnüffelei steht der Liebe von Peregrinus und Röschen eine besonders degoutante Variante obrigkeitlichen Handelns gegenüber; und der Hintergrund, vor dem sich die Versöhnung der Marquise und des Grafen abspielt, ist der Krieg mit seinen physischen und psychischen Verwüstungen, die es erübrigen, mögliche kriegsrechtfertigende Gründe auch nur mit einem Wort zu bedenken zu geben. Allein Eckberts und Berthas intime Zweisamkeit entbehrt eines solchen ausformulierten Gegengewichts, doch spricht auch die stille Abgeschiedenheit, in der sie bis zur katastrophenauslösenden Nennung des Namens Strohmian leben, vom Druck jener Welt, deren Gegenwelt ihre Liebe ist. Die biedermeierliche Aufwertung familiärer Intimität und Brentanos oder Eichendorffs spätromantische Wiederanknüpfung an das historisch scheinbar schon ‚erledigte‘ christliche Gottvertrauen wären weitere Belege für einen Äquivalenzmechanismus, der in der anthropologisch gegebenen Angewiesenheit des Menschen auf vertrauende Orientierung begründet ist.
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Vgl. die tabellarische Übersicht „Vertrauens- und Risikoumwelten in vormodernen und modernen Kulturen“ bei Anthony Giddens. Konsequenzen der Moderne. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 1996, S. 128 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1295).
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Nachtgedanken Annäherungen an ein Meisterwerk von Caspar David Friedrich
Die beiden Hauptfiguren in Samuel Becketts Drama Warten auf Godot, die Landstreicher Estragon und Wladimir, verbringen ihre Zeit damit, an einem unbestimmten Ort auf eine unbekannte Person namens Godot zu warten, von der sie nicht einmal wissen, ob es diese Person überhaupt gibt. Warum können die Protagonisten die Stätte eines offensichtlich vergeblichen Wartens nicht verlassen? Warum scheinen sie wie gebannt zu sein an einen Ort, der nur das Scheitern ihrer Absichten bezeugt? Gegen Ende des ersten wie des zweiten Aktes setzt – plötzlich und unerwartet – die Nacht ein: Das Licht wird plötzlich schwächer. In ganz kurzer Zeit wird es Nacht. Der Mond geht im Hintergrund auf, steigt zum Himmel, bleibt stehen und strahlt ein silbriges Licht auf die Bühne. WLADIMIR: Endlich! Estragon steht auf und geht mit beiden Schuhen in den Händen auf Wladimir zu. Er stellt sie nahe an die Rampe hin, richtet sich auf und betrachtet den Mond. Was machst du? ESTRAGON: Dasselbe wie du, ich gucke in den Mond.1
Beckett läßt seine Figuren nicht nur in den Mond schauen. Als der Autor 1975 am Schiller-Theater in Berlin sein Drama inszeniert, besucht er die Neue Nationalgalerie. Der amerikanischen Theaterwissenschaftlerin Ruby Cohn erklärt er dort vor Caspar David Friedrichs Gemälde Mann und Frau den Mond betrachtend: „This was the source of ‚Waiting for Godot‘, you know“.2 Zur Komposition des 1819 entstandenen Gemäldes Zwei Männer in Betrachtung des Mondes, das Beckett auf seiner Deutschlandreise in der Alten Akademie in Dresden angeschaut hatte, notiert er am 14. Februar 1937 in seinem Tagebuch: „pleasant predilection for 2 tiny languid men in his landscapes, as in the little moon landscape, that is the only kind of romantic still tolerable, the bémolisé“.3
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Samuel Beckett: Warten auf Godot. En attendant Godot. Waiting for Godot. Deutsche Übertragung von Elmar Tophoven. Vorwort von Joachim Kaiser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 135; das Drama wird hier nach der deutschen Übersetzung zitiert. Die Seitenzahlen in Klammern verweisen auf das französische Original; vgl. S. 227 (226). Vgl. James Knowlson: Damned to Fame – The Life of Samuel Beckett. London: Bloomsbury 1996, S. 378, Fußnote 103; vgl. in der deutschen Übersetzung des Werkes: Samuel Beckett. Eine Biographie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 477. Beckett: German Diaries Vol. 5, 14/2/37, zitiert nach: Knowlson: Damned to Fame, S. 254, Fn. 148; vgl. Samuel Beckett, S. 327f.
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Warum bezieht sich ein Dramatiker in einem Stück, das die Zeitgenossen als Avantgarde-Theater wahrnahmen und das von Theodor W. Adorno als ein paradigmatisches Werk moderner Kunst verstanden wurde, auf ein „Identifikationsbild der deutschen Romantik“4 zurück? Welche Bedeutung hat diese Bezugnahme?5 Entspringt sie allein der kreativen Anwendung eines phänomenalen Bildgedächtnisses, aus dem Beckett auch schöpft, wenn er den Auftritten von Pozzo und Lucky Züge von Pieter Brueghels Blindensturz6 verleiht? Die folgenden Überlegungen fragen nach dem historischen wie nach dem systematischen Ort der beiden Kunstwerke. Sie wollen die konzeptuellen Spannungen zwischen den Werken umreißen. Die beiden Männer auf dem Gemälde von Friedrich sind spectatores caeli,7 sie sind Betrachter der himmlischen Erscheinungen in der Nacht. Wie bestehen sie vor dem Kosmos, den sie anschauen und kontemplieren? Was sind ihre Nachtgedanken? Sind die beiden Landstreicher in Warten auf Godot auch solche Betrachter des Himmels? In einem ersten Schritt soll im Sinne geistesgeschichtlicher Kontextualisierung des Friedrichschen Gemäldes auf die kosmologische Reflexion des Menschen in den Künsten im 18. Jahrhundert zurückgegangen werden (I.). In einem zweiten Schritt wird an die künstlerische Erschließung und Vertiefung des Erfahrungsraumes der Nacht um 1800 zu erinnern sein, die gerade in der romantischen Kunst zu bedeutenden Werken geführt hat. Die Aufmerksamkeit wird der Literarisierung der Gestirne gelten, und hier besonders der des Mondes und der des Abendsterns, die im Fokus von Friedrichs Gemälde stehen (II.). In einem dritten Schritt soll vor diesem Hintergrund die contemplatio caeli weiter erschlossen werden, die Friedrich ins Zentrum seines Bildes rückt (III.). In einem abschließenden vierten Schritt ist in systematischer Hinsicht die grundlegende Differenz zu markieren, die Becketts Werk von dem Friedrichs trennt (IV.).
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Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München: Beck 2003, S. 171; zum Verhältnis von Friedrich und Schleiermacher vgl. auch ders.: Protestantische Frömmigkeit und bildende Kunst. Schleiermacher im Gespräch mit Caspar David Friedrich. In: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006. Hrsg. von Andreas Arndt, Ulrich Barth, Wilhelm Gräb, Berlin, New York: de Gruyter 2008, S. 253–269. Vgl. auch Peter Brockmeier: Samuel Beckett. Stuttgart: Metzler 2001, S. 146; Hilmar Frank: Aussichten ins Unermeßliche. Perspektivität und Sinnoffenheit bei Caspar David Friedrich. Berlin: Akademie-Verlag 2004; Manfred Milz: Selbst-Reflexion entzweiter Doppelgänger. Ein Vergleich der Bühnenlandschaft in Samuel Becketts Drama Warten auf Godot mit der Ikonographie von Caspar David Friedrich. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 28 (2004), S. 367–393. Pieter Brueghel der Ältere: Blindensturz (1568). Öl auf Leinwand, 85 x 154 cm. Galleria Nazionale di Capodimonte, Neapel. Zum Menschen als „contemplator caeli“ vgl. Cicero: Tusculanae disputationes I, 28, 69: „Sunt enim […] homines quasi spectatores superarum rerum atque caelestium“; Jens Pfeiffer: Contemplatio Caeli. Untersuchungen zum Motiv der Himmelsbetrachtung in lateinischen Texten der Antike und des Mittelalters. Hildesheim: Weidmann 2001.
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I. Die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Weltall ist eine der wissenschaftlichen, philosophischen und künstlerischen Grundfragen der Epoche um 1800. Wie behauptet sich der Mensch angesichts des Weltalls? Was ist seine Stellung innerhalb des Kosmos? Was hat er diesem entgegenzusetzen?8 Diese Fragen gewinnen mit der kopernikanischen Wende wie mit der wissenschaftlichen Entdeckung der Unendlichkeit der Welt vielfache, nicht zuletzt existentielle Relevanz. Schon Blaise Pascal hatte den Schrecken vor den „espaces infinis“ zum Thema gemacht („Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie“)9 und die Haltlosigkeit des Menschen zwischen dem unendlich großen Kosmos und dem unendlich Kleinen einer grenzenlos teilbaren Materie gezeichnet. Immanuel Kant beschränkt die Unendlichkeit der Welt nicht mehr nur auf den Raum, sondern dehnt sie in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels auch auf die Zeit aus.10 Unendlichkeit! wer misset dich? Vor dir sind Welten Tag und Menschen Augenblicke; Vielleicht die tausendste der Sonnen wälzt jetzt sich, Und tausend bleiben noch zurücke. Wie eine Uhr, beseelt durch ein Gewicht, Eilt eine Sonn’, aus Gottes Kraft bewegt: Ihr Trieb läuft ab, und eine andre schlägt, Du aber bleibst und zählst sie nicht.
Diese Zeilen des Naturforschers und Dichters, der nach Kant „der erhabenste unter den deutschen Dichtern“ ist, werden in der vorkritischen Schrift von 1755 zitiert,11 in der noch physikotheologisch argumentiert wird. Sie stammen aus Albrecht von Hallers Unvollkommenem Gedicht über die Ewigkeit, das den Wert und die Unsterblichkeit des menschlichen Individuums angesichts der unendlichen kosmischen Räume und der unendlichen kosmischen Zeit nicht nur theologisch verfügen, sondern naturwissenschaftlich aufweisen wollte. Von Haller scheitert an dieser naturwissenschaftlichen Begründung. Er scheitert an
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Vgl. zu dieser epochalen „Grundoperation“ Peter von Matt: Glück als Ziel des Weltalls und der Literatur. In: Über das Glück. Ein Symposion. Hrsg. von Heinrich Meier. München, Zürich: Piper 2008, S. 149–194, bes. S. 149ff.; zum theologischen Hintergrund: Psalm 8, 4–5. Blaise Pascal: Pensées, Nr. 206. In: Œuvres Bd. 12. Hrsg. Léon Brunschvicg. Paris 1904. ND Vaduz: Kraus 1965, S. 127; vgl. Über die Religion und über einige andere Gegenstände. Übertragen und hrsg. von Ewald Wasmuth. Heidelberg: Schneider 1978, Fragment Nr. 206, S. 115. Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755). In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Reimer, ab Bd. 8: de Gruyter 1905ff. Bd. 1, S. 309ff. Ebd., S. 315; vgl. Albrecht von Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte. 11. vermehrte und verbesserte Aufl. Karlsruhe: Schmieder 1778, S. 208–210; vgl. auch den Titelkupfer des Werkes, der die kosmologische Reflexion veranschaulicht.
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der Zusammenführung von theologischer Orientierung und naturwissenschaftlich modellierter Argumentation. Das Gedicht bricht an dem Punkt ab, an dem der Prozeß der Menschwerdung vom „Kraut“ zum „Mann“ in der dichterischen Darstellung bereits vollendet ist. Die Beobachtung des genetischen biologischen Prozesses führt zu keiner transzendenten Bestimmung des Menschen. In der vierten Auflage von 1748 fügt Haller, drei Jahre später, die abschließenden resignierten Verse an: Itzt fühlet schon mein Leib die Näherung des Nichts! Des Lebens lange Last erdrückt die müden Glieder: Die Freude flieht vor mir, mit flatterndem Gefieder, Der Sorgen-freyen Jugend zu. Mein Eckel, der sich mehrt, verstellt den Reitz des Lichts, Und streuet auf die Welt den Hoffnungs-losen Schatten; Ich fühle meinen Geist in jeder Zeil ermatten, Und keinen Trieb, als nach der Ruh!12
Kant wird an seiner Lösung des von Haller aufgezeigten Problems über dreißig Jahre arbeiten. Der „Beschluß“ seiner Kritik der praktischen Vernunft entfaltet die Formel, die nicht nur in der Philosophie Epoche machen wird: Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.
Die Kantische Antwort auf das Scheitern des Hallerschen Unternehmens balanciert das Problem in neuer Weise aus. „Die wahre Unendlichkeit“ der „Persönlichkeit“ – im Besitz des moralischen Gesetzes – erhebt den Menschen über seine physische Vergänglichkeit. Es ist die Freiheit sich selbst bestimmender Vernunft, die ein „von der Thierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart“13 und ein Gleichgewicht von Mensch und Weltall herstellen kann. Damit versucht die philosophische Anthropologie in der kosmologischen Betrachtung sich der Kongruenz zwischen Mensch und Welt auf neue Weise zu versichern.
II. Der Erfahrungs- und Denkraum der Nacht14 hat nicht nur, aber in besonderer Weise auch die romantischen Künstler fasziniert.15 Die Gattung der Nacht-
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Haller: Versuch, S. 212f. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Beschluß (1788). Akademie-Ausgabe Bd. 5, S. 161f. Vgl. auch Walter Seitter: Geschichte der Nacht. Berlin: Philo 1999; Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München: Hanser 2008. Vgl. Brigitte Borchhardt-Birbaumer: Imago noctis. Die Nacht in der Kunst des Abendlandes. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2003; Die Nacht. Ausstellungskatalog München (Haus
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gesänge, Nachtstücke und Nachtbilder erfreut sich in den Künsten der europäischen Romantik großer Beliebtheit. Was macht die Nacht zu einem so grundlegenden Thema der künstlerischen Erkenntnisgewinnung? Michel Foucault hat die Transformation der epistemischen Ordnung am Ende des 18. Jahrhunderts auch so zu beschreiben versucht: „L’homme n’a pas pu se dessiner comme une configuration dans l’épistemè, sans que la pensée ne découvre en même temps, à la fois en soi et hors de soi, dans ses marges mais aussi bien entrecroisés avec sa propre trame, une part de nuit, une épaisseur apparemment inerte où elle est engagée, un impensé qu’elle contient de bout en bout, mais où aussi bien elle se trouve prise“.16 („Der Mensch kann sich selbst nicht als Gestalt im Feld des Wissens abbilden, ohne daß das Denken gleichzeitig, sowohl in sich als auch außerhalb seiner, an seinen Rändern, die aber ebenso mit seinem eigenen Raster verwoben sind, ein Stück Nacht, eine offensichtlich untätige Mächtigkeit, in die es verwickelt ist, ein Ungedachtes, das voll im Denken enthalten, in dem das Denken ebenso gefangen ist, entdeckt“). Mit der Faszination für die Nacht ist von Anfang an auch die für den Mond verbunden.17 In der deutschen Dichtung ist es der ‚Kopernikaner‘ Barthold Heinrich Brockes, der die Sensibilität für die Wirkungen des Mondlichtes in neue Worte faßt: Doch ohne Schertz. Durch ein so sanftes Licht Empfindet man, wie durchs Gesicht Ein reizendes Vergnügen dringet, Das fast ein’ überirdisch Lust Der dadurch ganz erfüllten Brust, In einer süssen Stille, bringet. Es fänget der angenehme Glanz Allmählich an, sich durch die Sehnen Im ganzen Cörper auszudehnen.18
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der Kunst, München, 1. November 1998 bis 7. Februar 1999) Bern: Benteli 1998; zum romantischen Nachtstück: Hannes Leopoldseder: Groteske Welt. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Nachtstücks in der Romantik. Bonn: Bouvier 1973. Michel Foucault: Les mots et les choses. Paris: Gallimard 1966, S. 335; vgl. Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 393; vgl. Das Denken des Außen. In: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a. M.: Hanser 1974, S. 54–82. Vgl. zur bildkünstlerischen Vergegenwärtigung des Mondes nach der Erfindung des Teleskops und Galileo Galileis Sternenbote: Der Mond. Hrsg. von Andreas Blühm. Ausstellungskatalog Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud. Köln: Hatje Cantz 2009; zur Literarisierung des Mondes: Dietrich Bode (Hrsg.): Siehst du den Mond? Gedichte aus der deutschen Literatur. Stuttgart: Reclam 2002. Barthold Heinrich Brockes: Der Mond. In: Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Zweyter Theil. Hamburg 1734, S. 157–162, hier S. 160; im theologischen Kontext der poetischen Figurationen von Brockes bleibt der Mond in seiner Bedeutung deutlich der Sonne untergeordnet, von der er sein Licht empfängt. Vgl. zum Kontext auch Peter-André Alt: Kopernikanische Lektionen. Zur Topik des Himmels in der Literatur der Aufklärung. In: Germanisch-romanische Monatsschrift N.F. 48 (1998), S. 141–164; Barbara Hunfeld: Der Blick ins All: Reflexionen des Kosmos der Zeichen bei Brockes, Jean Paul und Stifter. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 38ff.
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Die Mondlyrik nimmt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen überraschenden Aufschwung; der Mond tritt gleichsam die literarische Vorherrschaft unter den Gestirnen an. Angefochten werden kann diese Vormachtstellung vielleicht nur durch den Abendstern (auch ‚Hesperus‘ bzw. ‚Hesper‘ genannt), dessen Preis noch in Richard Wagners romantischer Oper Tannhäuser, wichtige Elemente der älteren und jüngeren Motivgeschichte versammelnd, so klingt: Da scheinest du, o lieblichster der Sterne, – dein sanftes Licht entsendest du der Ferne, die nächt’ge Dämmrung teilt dein lieber Strahl, und freundlich zeigst du den Weg aus dem Tal.19
Die Kritik an Nacht- und Mondschwärmerei, an den künstlerischen Formationen und Figurationen der ‚Lunatiker‘ formiert sich früh und antizyklisch: Auf die Mondverehrung der Empfindsamen reagiert Gottfried August Bürger mit einem Spottgedicht (Auch ein Lied an den lieben Mond), das den Erdtrabanten ironisch als „trauten Nachtkumpan“ anredet.20 Georg Christoph Lichtenberg polemisiert gegen den zeitgenössischen Mondkult der deutschen Poeten in seinem Gnädigste[n] Sendschreiben der Erde an den Mond von 1780. Die Erde fordert ihre Rechte ein und will den Mond in die Schranken weisen: Dahin rechnen Wir ein Mal, daß Ihr Euch mit unerhörter Verwegenheit, ja frevelhafter Frechheit habt beigeben lassen Euch in Unsere, und namentlich die deutsche Literatur zu mischen, und gleichsam als ein zweiter Phöbus, Dichter zu begeistern, Oden zu singen, Trauerspiele fertigen zu lassen, Romanen zu inspirieren, und damit der Sonne nicht wenige der edelsten Seelen abwendig zu machen.21
Gestaltbildend für die Entfaltung der deutschen Mondlyrik und deren hohen Kunstcharakter sind Klopstock und Goethe. In seiner elegischen Ode Die frühen Gräber wird der Mond, anknüpfend an die elegische Dichtung Thomas Grays22 wie an das europäische Lieblingsbuch The Complaint, or Night-Thoughts of Life, Death and Immortality von Edward Young (1742–1745), bei Klopstock zur Reflexionsinstanz des lyrischen Ichs. Der Mond wird zu dessen „Gedan-
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Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Große romantische Oper in drei Akten von Richard Wagner, dritter Akt, zweite Szene. Dresden 1845. Zitiert nach: Richard Wagner: Die Musikdramen. Hamburg: Hoffmann und Campe 1971, S. 246; vgl. auch Friedrich von Matthisson: An den Abendstern. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Christian Eger. Halle: Verlag Janos Stekovics 2002, bes. S. 69. Gottfried August Bürger: Auch ein Lied an den lieben Mond (1778). In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Günter und Hiltrud Häntzschel. München: Hanser 1987, S. 101–103, hier S. 102. Georg Christoph Lichtenberg: Gnädigstes Sendschreiben der Erde an den Mond (1780). In: Schriften und Briefe. Bd. 2. Hrsg. von Franz H. Mautner. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1983, S. 193–200, hier S. 196. Thomas Gray: An elegy wrote in a country church yard (1751). London: The Scolar Press 1971.
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kenfreund“.23 Mit Klopstock wird der Mond zu einem poetischen Gegenüber, zu einer zentralen Vermittlungsfigur, die es ermöglicht, bedrängende Fragen der Selbst- und Weltverständigung neu zu stellen. Psychoanalytisch formuliert, könnte man sagen: Mit den Mond-Figurationen bilden die Dichter gleichsam einen „triangulären Raum“,24 innerhalb dessen sowohl die Möglichkeit besteht, Teil einer Beziehung zu sein und dabei von einer dritten Person beobachtet zu werden, als auch die Möglichkeit, selbst eine Beziehung zwischen den beiden anderen Personen zu beobachten. Der Mond fungiert als jenes Dritte, das es erlaubt, auch schmerzliche Realitätserfahrungen zu gewahren und symbolisch zu verdeutlichen. Welchen Gedanken ist der Mond nun in Klopstocks Ode Freund? Der Blick des lyrischen Ich trifft die „frühen Gräber“, die Gräber der zu früh Gestorbenen. Das Gedicht gedenkt des unwiederbringlich Verlorenen, das in der Mondnacht wieder gegenwärtig wird. Der Naturhymnus Klopstocks ist „ein Grabgesang, der Preis des Daseins ein Preis der Dagewesenen, und ihnen gehört, was Mondlicht, Sommernacht und Frühlingslust erweckten“.25 Von Klopstock über Goethes lebenslange und vielgestaltige Beschäftigung mit dem Mond26 entwickelt sich die Mondlyrik27 bis hin zu Gedichten wie der Mondnacht Joseph von Eichendorffs, das als eins der berühmtesten und vollkommensten Gebilde der deutschen Romantik gilt und der romantischen Sehnsucht nach Heimat Ausdruck gibt. Es war, als hätt’ der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blüthen-Schimmer Von ihm nur träumen müßt’. Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis die Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.28
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Friedrich Gottlieb Klopstock: Die frühen Gräber (1764). In: Ausgewählte Werke. Bd. 1. Hrsg. von Karl August Schleiden. München: Hanser 1981, S. 108. Vgl. Ronald Britton: Subjectivity, Objectivity, and Triangular Space. In: Psycho-analytic Quaterly 73 (2004), S. 47–61. Vgl. Peter Wapnewski: Der Naturhymnus ein Grabgesang. In: Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Hrsg. und mit einem Vorwort von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt a. M.: Insel-Verlag 1976, S. 24–26, hier S. 26. Vgl. als erste Orientierung Jörn Görres: Goethes Mondgedichte. Bonn: Dümmler 1989. Vgl. Kaspar Heinrich Spinner: Der Mond in der deutschen Dichtung von der Aufklärung bis zur Spätromantik. Bonn: Bouvier 1969; Gerhard H. Lemke: Sonne, Mond und Sterne in der deutschen Literatur seit dem Mittelalter. Ein Bildkomplex im Spannungsfeld gesellschaftlichen Wandels. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas: Lang 1981. Vgl. Joseph von Eichendorff: Mondnacht (1837). In: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe Bd. 1. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1993, S. 327f.
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III. In Caspar David Friedrichs Gemälde wird keine mystische Hochzeit von Himmel und Erde spürbar und scheint kein Aufgehen des Subjekts im Ganzen der Natur denkbar. Aber das Licht des Himmels berührt auch hier die Erde. Zwei Männer stehen in meditativer Haltung vor der Natur, stehen ihr gegenüber, ohne daß diese Spannung des Gegenüberstehens aufgelöst werden könnte. Als Rückenfiguren leiten sie den Blick des Betrachters auf die Konstellation, die am Nachthimmel zu sehen ist: die zarte Sichel des gerade wieder zunehmenden Mondes nach Neumond in Verbindung mit dem Stern der Venus. Die Forschung hat dafür plädiert, daß es sich nur um den Abendstern handeln kann. Die Nacht hat demnach gerade begonnen. Das Mondlicht schafft im Unvertrauten der Natur (steiniger Weg mit Abgründen, verwitterter Fels, bemooste, halb entwurzelte Bäume mit kahlen Ästen) eine Atmosphäre von Vertrautheit, läßt aber zugleich „die Naturformen im Gegenlicht auch bizarr erscheinen“.29 Beredt ist vor dem Hintergrund der bilddominierenden, sich dem Abgrund zuneigenden Eiche die stille Zuwendung der beiden Männer zueinander in ihrer verweilenden Betrachtung. Die im Nachthimmel schwebende schmale Sichel des Mondes scheint ihr Licht der untergehenden Sonne zu verdanken. Wie könnte sie als solche das Dunkel erhellen? Die künstlerische Darstellung der Sichel des Mondes läßt die runde Kugel des Vollmondes erahnen, um die sich ein ausstrahlender Lichthof bildet. Aus der ungreifbaren Ferne und Tiefe des Universums leuchtet – als ob er Zuversicht in der augenblicklichen Gegenwart schenken könnte – der Abendstern mit seinem Lichthof. Man nennt diesen Stern schon in der antiken Überlieferung den ‚Lichtbringer‘ (phôsphoros bzw. lucifer). Daß das kosmische Leuchtlicht Raum und Zeit durchmißt, daß es die Dunkelheit überwindet und im Medium des Sehens den Menschen bewegt, darin liegt für Friedrich die Faszination des bestirnten Himmels, und nicht, wie für Kant, in dem geordneten Lauf der Gestirne, den Newton aufgedeckt hat. Friedrich verknüpft auch nicht, wie Kant, die „Persönlichkeit“ definitorisch mit der Unendlichkeit. Aber er schafft im verweilenden Kontemplieren ein Sinnbild für die dem Menschen mögliche Transzendenz von Zeit als einem Übersteigen des Hier und Jetzt. Verpflichtet sich Friedrichs Kunst tendenziell auf Naturtreue und demonstriert diese auch in allen verwendeten einzelnen Bildelementen, so trägt doch die Gesamtkomposition den Charakter einer ästhetischen Konstruktion30 wie einer ästhetischen Imagination. Auch durch die abstrakte Bildfigur des Ge-
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Busch: Friedrich, S. 172. Vgl. Reinhard Wegner: Der geteilte Blick: Empirisches und imaginäres Sehen bei Caspar David Friedrich und August Wilhelm Schlegel. In: Jenaer Universitätsreden Bd. 17: Philosophische Fakultät. Antrittsvorlesungen 8. Hrsg. von Klaus Manger. FriedrichSchiller-Universität Jena 2005, S. 21–43; Wegner stellt die Unvereinbarkeit von konkreter Bilddarstellung und Wirklichkeitswahrnehmung heraus, um die künstlerische Thematisierung des Sehens im Bild herauszuarbeiten; vgl. auch Dirk von Petersdorff: Realismus und Konstruktion. Zu den Bildlichkeitstypen in der Literatur und Malerei zwischen Novalis und Caspar David Friedrich. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2006, S. 185–208.
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mäldes wird die zentrale Stellung von Mond und Abendstern verdeutlicht: Die schwebende Sichel des Mondes findet ihren Ort im Schnittpunkt der Bilddiagonalen, der Leuchtpunkt des Abendsterns seinen Ort dort, wo sich die waagerechte Mittelachse des Bildes und die rechte Senkrechte des Goldenen Schnitts schneiden. „Er ist damit“, wie Werner Busch gezeigt hat, „das geheime ästhetische Zentrum des Bildes“.31 Dargestellt wird ein Augenblick der Kontemplation des Nachthimmels, der über sich hinausweist. Sichtbar gemacht wird im Bild, daß und wie und in welcher Situation kontempliert wird;32 unsichtbar bleibt, welche Gefühle und welche Nachtgedanken diese Kontemplation in den betrachtenden Subjekten auslöst. Diese Frage wird von dem Bild selbst evoziert, ohne doch von ihm beantwortet zu werden. Es ist in dieser Hinsicht ein offenes Kunstwerk, das in seinem Zentrum eine ästhetische Unbestimmtheit nicht nur zuläßt, sondern mit Blick auf die Rezeptionsprozesse der Betrachter bewußt erzeugt.33 Das, was in diesem Augenblick kontempliert wird, kann aber näher beschrieben werden: im Zugang auf die kontemplierten Objekte und deren künstlerische Darstellung wie im Zugang auf die kontemplierenden Subjekte. Die Konstellation von Mond und Abendstern markiert nicht nur die interne Bildzeit, die hereinbrechende Nacht. Sie weist selbst auch auf die Zeitlichkeit der Natur und damit auch auf die Zeitlichkeit des Menschen und auf die seiner Wirklichkeitswahrnehmungen hin. Der die Wandelbarkeit der Natur bezeugende Mond beginnt gerade eine neue Phase nach Neumond, die Mondsichel gewährt das ‚Neulicht‘. Der Mond wird also wieder neu sichtbar. Daß der Abendstern sich, vereinfacht gesagt, auch als der Morgenstern erweist – der erste Stern am Abend nach dem Untergang der Sonne ist derselbe wie der letzte Stern am Morgen vor dem Aufgang der Sonne –, hat die Künste um 1800 wiederholt an diesem Gestirn interessiert. Ein beliebtes Thema, das auch Philipp Otto Runge beschäftigt, ist die Entfaltung der Perspektiven, die die Abfolge seiner Erscheinungen gewahren läßt.34 Damit ist ein zweiter Komplex der Kontemplation wenigstens berührt, der mit dem der Zeitlichkeit eng zusammenhängt: der von Dunkelheit und Licht, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit und damit auch von Sehen und Nicht-Sehen.35 In Friedrichs Gemälde zeigt sich eine ästhetische Energie, die auf die Überwindung der Dunkelheit zielt (von aller Nacht-
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Vgl. Busch: Friedrich, S. 179. Vgl. ebd., S. 178. In der Tradition der Romantik entwickelt sich das moderne Konzept der Unabgeschlossenheit des Kunstwerks, vgl. hierzu Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Fünfte Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. Vgl. auch Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart: Metzler 2008, S. 2f.; zur theologischen Tradition Friedrich Ohly: Die Gestirne des Heils. In: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und Bedeutungsforschung. Hrsg. von Uwe Ruberg und Dietmar Peil. Stuttgart, Leipzig: Hirzel 1995, S. 679–712. Zum zeitgenössischen astronomischen Wissen, wann der Abendstern in welcher Weise am Himmel sichtbar ist, vgl. etwa Johann Elert Bode: Anleitung zur Kenntniss des gestirnten Himmels. Neunte sehr verbesserte Auflage Berlin, Stettin: Nicolaische Buchhandlung 1823, S. 400.
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schwärmerei ist Friedrichs Gemälde weit entfernt) und doch um das unüberwindbare Halbdunkel des menschlichen Weltverhältnisses und um die Horizontund Situationsgebundenheit des empirischen Sehens weiß. Daß unser räumlich wie zeitlich bestimmtes empirisches Sehen hinter dem zurückbleibt, was ist, hatte einer der wirkmächtigsten ‚Monddichter‘, Matthias Claudius, in die Verse gefaßt: Seht ihr den Mond dort stehen? – Er ist nur halb zu sehen, Und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, Die wir getrost belachen, Weil unsre Augen sie nicht sehn.36
In ihrem Verweilen geben die spectatores caeli dem, was sie sehen, und dem, was sie nicht sehen können, Resonanz. An einem Detail wird auch der historische Ort der Himmelsbetrachtung deutlich. Die beiden Betrachter tragen altdeutsche Tracht, die Gesinnungstracht der ‚Demagogen‘, die im Jahr der Entstehung des Gemäldes durch die Karlsbader Beschlüsse verboten wurde. Friedrich hat aus seinen politischen Überzeugungen und Gesinnungen in der Zeit der napoleonischen Okkupation und der Freiheitskriege bekanntlich keinen Hehl gemacht. Gegenüber Peter Cornelius und Karl Förster, die Friedrich am 9. April 1820 in seinem Atelier besuchten, soll der Maler sich auf die Rückenfiguren im Bild so bezogen haben: „‚Die machen demagogische Umtriebe‘, sagte Friedrich ironisch, wie zur Erklärung“.37 Nach Wilhelm Wegeners Überlieferung handelt es sich bei den Kontemplierenden zudem wohl um Friedrich selbst und seinen Schüler August Heinrich.38 Die historische Situierung wirft viele Fragen auf, die hier nicht verfolgt werden können: Inwiefern kann die meditierte Gestirnskontemplation auch auf die geschichtlichen Verhältnisse übertragen und auf sie angewendet werden? Friedrich versteht sich als ein Künstler, der die Fragen der Gegenwart bewußt stellen will. Inwiefern hat die Kontemplation von Mond und Abendstern darüber hinaus auch mit einer künstlerischen Selbstverständigung der beiden Maler zu tun? Es scheint jedenfalls deutlich, daß Friedrich mit rein ästhetischen Mitteln der Malerei eine zarte, aber elementare Form von Transzendenz erzeugt: ein Nachdenken, das die eigene Gegenwart mit Blick auf das von fernher leuchtende, sich in ihr manifestierende Licht der Natur übersteigt, eine stille, aber tröstliche Hoffnung auf die Wandelbarkeit der Verhältnisse.
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Matthias Claudius: Abendlied (1779). In: Werke. Bd. 1. Dresden: Oskar Günther Verlag 1938, S. 338. Karl Förster: Biographische und literarische Skizzen aus dem Leben und der Zeit Karl Förster’s. Dresden: Gottschalck 1846, S. 157. Wilhelm Wegener: Der Landschaftsmaler Friedrich. Eine biographische Skizze. In: Unterhaltungen am häuslichen Herd. N. F. 4 (1859), S. 71–77, hier S. 76.
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IV. Die Bühnenlandschaft in Warten auf Godot ist karg. Die Reduktion der Kunstmittel bestimmt auch die Ästhetik des Raumes. Nur ein einziger kahler Baum mit wenigen, bereits morschen Ästen steht auf der Bühne. Er erinnert, im Bühnenbild der Pariser Uraufführung, an Baumstudien Friedrichs, die dieser 1819 für sein Gemälde verwendet hat.39 Am Anfang des zweiten Aktes trägt der kahle Baum plötzlich „einige Blätter“.40 Aber die Spuren der Veränderung in der äußeren Natur korrespondieren nicht mit einer Veränderung im Inneren der Subjekte. Die Zeit ist wie arretiert: Sie kann von den Protagonisten nicht zu ihrer eigenen gemacht werden, sie kann nicht synthetisiert werden. Die Zeit wird erfahren als ein Widerfahrnis: Wenn die Nacht, für die Wartenden unversehens, einbricht und der Mond am Himmel aufsteigt, ist es definitiv: wieder ist ein Tag vergangen, wieder war das Warten vergeblich. Der Schein des Mondlichts am Ende der beiden Akte hat nichts Tröstliches. Bezeichnend ist, daß der Abendstern, das geheime Zentrum des Friedrichschen Gemäldes, fehlt – nicht nur im Bühnenbild. Das von Beckett dramaturgisch zu bedrängender Präsenz gebrachte Warten ist das Endprodukt einer ungeheuren Hoffnungsentleerung und Hoffnungsverkehrung: Aus der vergangenen Lebenshoffnung der Protagonisten ist, das zeigt die Abfolge der beiden Akte, durch viele Enttäuschungen hindurch eine Erwartung geworden. Die unerfüllt gebliebene Erwartung hat sich zur unbestimmten gewandelt. Und von solcher unbestimmten Erwartung ist am Ende nur noch das Warten selbst als ein Surrogat übrig geblieben. Dieser Form des Wartens ist nicht nur die Hoffnung, ihr ist auch die Erwartung abhanden gekommen. Mit einer beklemmenden Situationsdeutung, die zugleich die Lebensdeutung der Protagonisten ist und ihr Fühlen, ihr Denken und ihr Handeln in die Agonie des Wartens zwingt, hebt das Spiel an: „Rien à faire“. ESTRAGON gibt es wieder auf: Nichts zu machen. WLADIMIR nähert sich auf gespreizten Beinen, mit kurzen steifen Schritten: Ich glaub es bald auch. Er bleibt lange stehen. Ich habe mich lange gegen den Gedanken gewehrt. Ich sagte mir: Wladimir, sei vernünftig, du hast noch nicht alles versucht. Und ich nahm den Kampf wieder auf.41
Das Beckettsche Warten ist konzipiert als Ohnmacht: Nicht-denken- und Nichthandeln-Können. Es ist kein ‚Warten auf‘ mehr, es ist nicht mehr Ausgriff auf Zukunft.42 Im Drama sind vom Autor bewußt „Wartestellen“ eingelagert und durch die Regieanweisungen markiert worden, aus denen das Spiel anhebt und
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Vgl. Busch: Friedrich, S. 183. Beckett: Warten auf Godot, S. 143 (142). Ebd., S. 27 (26). Vgl. James L. Calderwood: Ways of waiting in Waiting for Godot. In: Steven Connor (ed.): Waiting for Godot and Endgame – Samuel Beckett. New York: Macmillan 1992, S. 29–43, hier S. 33.
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in die es zurücksinkt, „in denen alles ganz still steht. Das Schweigen droht da alles zu verschlingen. Dann geht das Spiel wieder los“.43 An diesen Stellen, die Beckett in seinen eigenen Inszenierungen herausgearbeitet hat,44 drängen sich emotionale Erfahrungen auf, die das Spiel auf der Bühne als solches abzudrängen sucht und die sein Ende bedeuten könnten: Langeweile, Düsternis, Trauer, Verdruß, ja Verzweiflung unterminieren das Spiel und drohen es zu beenden. Allein die Tatsache, daß Zerstreuung nötig ist, erzwingt, daß das Spiel weitergehen muß. Wie Friedrichs Gemälde bekundet auch Warten auf Godot seinen konkreten historischen Ort: In den Wartestellen manifestiert sich nicht nur das eigene Elend der Bühnenfiguren, sondern auch das geschichtlich akkumulierte Leiden: ESTRAGON Das beste wäre, mich einfach zu töten, wie den anderen. WLADIMIR Welchen anderen? Pause. Welchen anderen? ESTRAGON Wie Millionen andere. WLADIMIR betonend Jedem sein Kreuzchen. Er seufzt. Bis man begraben ist … Pause … und vergessen. ESTRAGON Einstweilen wollen wir uns ganz ruhig unterhalten, da wir doch nicht schweigen können. WLADIMIR Du hast recht. Wir sind unerschöpflich. ESTRAGON Um nicht denken zu müssen. WLADIMIR Wir haben Entschuldigungen dafür. ESTRAGON Um nicht hören zu müssen. WLADIMIR Wir haben unsere Gründe. ESTRAGON Alle die toten Stimmen. WLADIMIR Die rauschen wie Flügel. ESTRAGON Wie Blätter. WLADIMIR Wie Sand. ESTRAGON Wie Blätter. Schweigen. WLADIMIR Sie sprechen alle durcheinander. ESTRAGON Jede für sich. Schweigen. […] WLADIMIR beängstigt: Sag doch irgendwas. ESTRAGON Was sollen wir jetzt machen? WLADIMIR Wir warten auf Godot. ESTRAGON Ach ja. Schweigen.45
Vor dem Hintergrund solcher geschichtlicher Auseinandersetzungen wird deutlich, warum der systematische Ort der beiden Kunstwerke so unterschiedlich ist. Becketts Stück ist als radikale Kritik an der illusionären Hoffnung konzipiert,
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Walter D. Asmus: Im Theater-Alltag tut man sich schwerer. Beckett inszeniert Warten auf Godot. Aus dem Probentagebuch des Regieassistenten Walter D. Asmus. In: Materialien zu Samuel Beckett: Warten auf Godot. Zweiter Band. Hrsg. von Hartmut Engelhardt und Dieter Mettler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 312–324, hier S. 318. Vgl. Dougald MacMillan und James Knowlson (eds.): The Theatrical Notebooks of Samuel Beckett 1: Waiting for Godot. London: Faber and Faber 1993, S. 90f. Beckett: Warten auf Godot, S. 154ff. (153ff.).
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die die Subjekte an den Ort ihres Scheiterns bannt. Caspar David Friedrichs Gemälde erscheint Beckett als eine gerade noch erträgliche Form der Romantik, als eine mit dem Vorzeichen ‚Be‘ versehene Tonart der Romantik („the bémolisé“). Erträglich ist diese Form, weil keine theologische oder metaphysische Erfahrung, keine ‚höhere Realität’ angesichts des faktischen Leidens statuiert wird, sondern Transzendenz rein ästhetisch und zudem nur als „Kontemplationsangebot“46 erzeugt wird. Aber auch dies kann Beckett für sich nicht mehr in Anspruch nehmen: das künstlerische Eröffnen von Transzendenz als Erahnen von geschichtlicher Hoffnung. Eingedenk der Zivilisationsbrüche des Jahrhunderts provoziert Becketts Drama, indem es in der Abkehr von dem romantischem Versuch, das zu generieren, was jenseits des Horizontes ist, eine Akzeptanz gerade der Hoffnungslosigkeit fordert. Die Inkongruenz zwischen Mensch und Welt behält das letzte, das künstlerische Wort. Das Mißlingen aller Versuche, das unerträgliche Leiden zu fliehen, ihm zu entkommen, bestimmt den dramatischen Inhalt wie die dramatische Form des Stückes.47 „[S]uffering ... opens a window on the real and is the main condition of the artistic experience“, hat Beckett in seinem Proust-Essay unmißverständlich ausgesprochen.48 Dieser Einsicht ist er bis zum Ende seines künstlerischen Schaffens treu geblieben. In der Konfrontation mit dem sinnentleert Negativen wird der Mond zu einem künstlerischen Requisit aus vergangener Zeit, deren Melancholie noch vertraut ist. Von dem Requisit aber kann kein richtiger Gebrauch mehr gemacht werden. Wenn der Mond mit seinem fahlen Licht aufgeht, erstarrt jeder, ein Gegenbild des triangulären künstlerischen Raums, in seinem idios kosmos.
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Vgl. Werner Busch: Meisterwerk im Irrgarten der Deutungen. In: Art. Das Kunstmagazin 4 (1992) S. 44–48, hier S. 48. Vgl. Helmut Hühn: Das Unerträgliche und die Schmerzfluchten. Gedanken zu Samuel Becketts Warten auf Godot. In: Der Sinn der Zeit. Hrsg. von Emil Angehrn u. a. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, S. 346–362. Samuel Beckett: Proust. London: Calder 1965, S. 28.
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Abb. 1: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes, 1819. Öl auf Leinwand, 35 x 44 cm. Gemäldegalerie Neue Meister, Dresden.
Personenregister
Adelung, Johann Christoph 124, 272 Adorno, Theodor W. 352 Alberti, Dorothea Charlotte 250 Albin, Sebastien, s. Cornu, Hortense Albrecht, Johann Friedrich Ernst 87 Alexander I. 94 Alt, Peter-André 355 Amelung, Heinz 91 Andermatt, Michael 104 André, Johann 185, 201 André, Johann Anton 185, 196, 201 Andrian, Leopold von 105 Angehrn, Emil 363 Anger, Alfred 114 Anster, John Martin 59 Anstett, Jean-Jacques 3, 92 Arburg, Hans Georg von 84 Aremberg, s. Arenberg Arenberg, Ludwig Engelbert Herzog von 348 Argenson, Marc-René Marquis de 337 Arndt, Andreas 3, 352 Arndt, Ernst Moritz 274 Arnim, Armgart von 129, 166 Arnim, Bettina von 16, 23, 33–35, 48, 54, 63, 102, 113–129, 145–183, 210, 348 Arnim, Carl Otto von 61 Arnim, Freimund von 131, 188–189 Arnim, Friedmund von 189 Arnim, Gisela von 129, 166 Arnim, Ludwig Achim von 12, 16, 23– 35, 37–55, 57–66, 83–85, 90–94, 99– 129, 131–138, 147, 166–167, 169, 173, 176, 183, 187, 201, 207, 209, 244–246, 253, 271–274, 278, 328–331, 341, 345, 348–349
Arnim, Maximiliane von 166 Arnim, Siegmund von 168 Arnold, Carl Johann 166 Arnold, Friedrich 320 Arnold, Johann Georg Daniel 132–133 Asmus, Walter D. 362 Ast, Friedrich 9 Atterbohm, Per Daniel 19 Atwood, Margaret 129–130, 142–143 Augustin 331 Auhuber, Friedhelm 294, 322 Austin, Sarah 186–188 Babo, Joseph Mario 51 Bach, Thomas 83 Bächtold-Stäuble, Hanns 225 Bäumer, Konstanze 114, 187 Baer, Karl Ernst von 297, 313–319, 325 Bahr, Hermann 105 Balmes, Hans Jürgen 242 Balzac, Honoré de 42, 103 Bardua, Caroline 166 Bardua, Wilhelmine 166 Barth, Johannes 37–38, 47–48, 99–112, 122 Barth, Renate 175 Barth, Ulrich 352 Batt, Anton Georg 251 Baudelaire, Charles 89 Bauer, Bettina 186 Baumgart, Hildegard 23–36 Baumgartner, Hans Michael 279 Beck, Christian Daniel 84 Beck, Ulrich 349 Beck-Gernsheim, Elisabeth 349 Beckers, Hubert 86 Beckett, Samuel 89, 351–352, 361–363
366 Begemann, Christian 253, 259 Beethoven, Ludwig van 1 Behler, Ernst 3–4, 92, 241, 249 Behrens, Jürgen 192, 205, 242 Beißner, Friedrich 266 Beitzke, Heinrich 278 Belin, Jean F. A. 86 Bellmann, Werner 192 Benda, Julien 328 Benjamin, Walter 108 Bense, Max 89 Berend, Eduard 90 Berger, Michael 266 Bergerat 84 Bergius, Walter, s. Kanne, Johann August Bergman, Torbern 282 Bernhardi, Sophie 7 Bernoulli, Christoph 304, 323 Bertram, Johann Baptist 12, 14 Beschort, Friedrich Jonas 276 Besser, Johann Heinrich 213 Bethmann, Simon Moritz von 177 Betthausen, Peter 216 Betz, Otto 132 Bidermann, Jakob 107 Binder, Franz 65 Birgfeld, Johannes 51 Blechen, Carl 146 Blühm, Andreas 355 Bode, Dietrich 355 Bode, Johann Elert 359 Bode, Theodor Heinrich August 86 Bodenhausen, Eberhard von 111 Boegner, Karl 294, 319, 323 Böhme, Jakob 216–217 Böhmer, Auguste 2, 6, 8 Böhmer, Caroline, s. Schlegel, Caroline Böhmer, Johann Franz Wilhelm 2 Börne, Ludwig 19 Börsch-Supan, Helmut 147–148, 170, 175, 177, 179 Böttger, Fritz 184 Böttiger, Carl August 4, 21 Bohlen, Karoline Elisabeth Agnes Gräfin von 133
Personenregister Bohn, Friedrich 9 Bohnenkamp-Renken, Anne 37, 100 Boisserée, Melchior,12–14, 17 Boisserée, Sulpiz 12–14, 17, 148 Bonaventura, s. Klingemann, August Bonfatti, Emilio 325 Bonjour, Edgar 256 Bonnet, Charles 304 Bonnet, Jean-Claude 348 Borchhardt-Birbaumer, Brigitte 354 Bormann, Alexander von 48, 215 Born, Nicolas 327 Borovský, Karel Havlíþek 261–262 Bossi, Maurizio 325 Bottigheimer, Ruth 135, 141–142 Bourget, Paul 105–106, 108–109, 111–112 Breidbach, Olaf 83 Brentano, Antonia 184 Brentano, Bettina, s. Arnim, Bettina von Brentano, Christian 206–207, 210 Brentano, Clemens 9, 32, 39–40, 46, 61, 63, 88, 91–92, 107, 111, 114, 122, 129, 131, 133, 146–147, 168–172, 180, 184–186, 192, 205–210, 212, 242, 244– 246, 253, 348, 350 Brentano, Emilie 206 Brentano, Franz 184 Brentano, Kunigunde (Gunda), s. Savigny, Kunigunde von Brentano, Ludovica (Lulu) 184 Brentano, Meline, s. Guaita, Meline Brentano, Peter Anton 184 Brentano, Sophie 242 Brentano-Mereau, Sophie 8, 14, 87, 90–91 Brissot, Jacques Pierre 348 Britton, Ronald 357 Brockes, Barthold Heinrich 355 Brockhaus, Friedrich Arnold 251 Brockmeier, Peter 352 Bronfon, Elisabeth 354 Broumas, Olga 129 Bruchmann, Franz Seraph von 20 Brüggemann, Heinz 215 Brueghel, Pieter 352 Brukner, Fritz 266
367
Personenregister Brunnhuber, Petra 326 Brunschvicg, Léon 353 Bucholtz, Andreas Heinrich 18, 21 Büchmann, Georg 62 Büchner, Georg 89, 348 Bülow, Dietrich von 95 Bürger, Gottfried August 59, 356 Buffon, Georges–Louis Leclerc de 233, 281 Bunzel, Wolfgang 106, 114, 132, 148, 169, 171–172, 175, 178, 180, 189–190 Buol-Schauenstein, Johann Rudolf von 18 Buol-Schauenstein, Karl Ferdinand von 18 Burchard, K. H. 2 Burckhardt, Edward 278 Burdach, Karl Friedrich 297, 303, 305, 308–319, 323–325 Burwick, Roswitha 37, 41, 44, 57, 84, 99, 101, 129–143, 207, 348 Busch, Werner 352, 359, 363 Butt, Isaac 59 Butzer, Günter 359 Caesar, Carl Adolph 84 Calderón de la Barca, Pedro 109 Calderwood, James L. 361 Campe, Joachim Heinrich 254–255, 272 Canova, Antonio 167–168 Carlo 87 Carstens, Asmus Jakob 167, 171–172, 175 Carter, Angela 129–130, 142–143 Carus, Carl Gustav 253, 303–309, 311– 313, 318, 320, 323–326 Cassirer, Ernst 233 Chamisso, Adelbert von 221–240 Chézy, Antoine-Léonhard de 11 Chézy, Helmina von 12–13 Chigi, Agostino 25 Choiseul-Meuse, Jean-Baptiste-Armand de 185 Cicero 352 Clarke, Edwin 291, 323
Claudius, Christiane 245–246 Claudius, Georg Carl 242 Claudius, Matthias 241–260, 360 Cohn, Ruby 351 Collin, Matthäus von 20 Condorcet, Jean Antoine Nicolas de Caritat de 348 Connor, Steven 361 Conter, Claude D. 51 Corbineau-Hoffmann, Angelika 348 Cordan, Wolfgang 267 Cordula, s. Frank Cornelius, Peter 166, 360 Cornu, Hortense 187–193 Cotta, Johann Friedrich 19 Cox, Joseph M. 58 Crawford, Adair 282 Creuzer, Friedrich 275 Curwen, John Christian 58 Cuvier, Georges 316 Czech, Vinzenz 83 Dannecker, Johann Heinrich 167, 177 Debus, Friedhelm 241 Décultot, Elisabeth 218 Dedner, Burghard 348 Deluc, Jean André 281, 286 Derrida, Jacques 47 Descartes, Renè 282 Devrient, Eduard 190 Dickel, Hans 147 Dickson, Sheila 30, 38, 59, 61, 183–204 Dienemann, Amalie Caroline 83 Dienemann, Carl 83, 85 Dienemann, Caroline Elisabeth 96 Dienemann, Henrica Elisabeth 96 Dienemann, Johann Ferdinand 83–97 Dieterle, Bernard 130 Dietz, Hermann Josef 205 Dietzsch, Steffen 83–97 Diller, Michael 87 Dilling, Karl 84 Dingelstedt, Franz 89 Doehler 84 Döllinger, Ignaz 291, 320
368 Dörner, Klaus 58, 65 Doma, Akos 345 Donovan, Siobhán 247, 256 Dooren, Henrica Elisabeth van, s. Dienemann Drewitz, Ingeborg 122 Dubois-Crancé, Wilhelm Julius 2 Dumas, Jean André 316, 321 Dumont, Franz 291, 323–324 Durner, Manfred 279, 282 Ebner-Eschenbach, Marie von 327 Eco, Umberto 359 Eger, Christian 356 Eggers, Karl 23 Ehrenberg, Franz, s. Claudius, Georg Carl Ehrlich, Lothar 37–55, 61, 93, 101 Eicheldinger, Martina 243 Eichendorff, Joseph von 2, 16, 39, 46, 111, 117, 221, 243, 253–259, 350, 357 Eichendorff, Wilhelm von 253–254 Eichner, Hans 1–21, 92, 247, 249 Eichstädt, Heinrich Carl Abraham 91 Ellenberger, Henry Frédéric 292, 323 Emmerich, Gustav 87 Emmerick, Anna Katharina 32 Engel, Manfred 130 Engelhardt, Dietrich von 94 Engelhardt, Hartmut 362 Ennemoser, Joseph 294, 320, 323 Erler, Georg 84 Ernst August, König von Hannover 119 Ernst, Charlotte 3, 15, 20 Ernst, Ludwig Emmanuel, 3, 15, 20 Erpenbeck, John 298, 323 Erxleben, Johann Christian Polykarp 282–283 Eschenmayer, Carl August 296–299, 320, 323 Euler, Leonhard 283, 286 F. M. 87 Fähse, Gottfried 91 Fancelli, Maria 325
Personenregister Feilchenfeldt, Konrad 132, 207, 212, 253, 348 Fénelon, François de 248, 250 Ferber, Michael 129 Feremutsch, Kurt 304, 309, 323 Fernow, Carl Ludwig 60, 172 Feßler, Ignatius Aurelius 5, 89 Feudel, Werner 236 Fichte, Johann Gottlieb 1, 3–4, 6–7, 15, 308 Fife, Robert Herndon 242 Fleig, Horst 88 Flemming, Albert Graf von 166 Floeck, Oswald 249 Flourens, Jean Pierre 324 Flügel, Otto 321 Földényi, László F. 345 Förster, Karl 360 Forberg, Friedrich Karl 6 Forbes-Mosse, Irene 166 Forbes-Mosse, John 166 Foucault, Michel 233, 355 Fouqué, Friedrich de la Motte 21, 39, 59, 102 Fourcroy, Antoine François de 283 François, Etienne 270, 273 Frank, Cordula 184, 195 Frank, Hilmar 352 Frank, Manfred 89, 224. 341 Franke, Christa 212 Franklin, Benjamin 237 Franz II. 14 Freiligrath, Ferdinand 272 Freund, Winfried 222 Freyberg-Eisenberg, Maximilian Prokop von 21 Fricke, Gerhard 117 Friedrich, Caspar David 211, 351–352, 358–360, 362–364 Friedrich Wilhelm III. 95 Friedrich Wilhelm IV. 119–120, 166, 175 Frigo, Gian Franco 279–290 Frölich, Heinrich 6–7, 9 Frommann, Friedrich 8
Personenregister Frühwald, Wolfgang 57, 192, 217, 219, 254 Fuchs, Friedrich 184 Fulda, Daniel 94 Funke, Carl 146 Gachet, Louise de 185 Gajek, Bernhard 145, 172, 176, 178, 207 Gajek, Enid 145, 172, 176, 178 Galilei, Galileo 355 Gall, Franz Joseph 291, 316–320, 325– 326 Geerdts, Hans Jürgen 108 Gehler, Johann Samuel Traugott 280, 283, 286 Gelzer, Heinrich 256 Genschorek, Wolfgang 304, 323 Gentz, Friedrich 16, 17 Geselle, Andrea 326 Giddens, Anthony 350 Giesebrecht, Karl Heinrich Ludwig 90–91 Giesebrecht, Ludwig 91 Gillespie, Gerald 130 Gillispie, Charles Coulston 323 Girtanner, Christoph 280, 286 Gneisenau, August Neidhardt von 274 Gneisenau, Karoline von 274 Görisch, Reinhard 241–242, 245–246, 248, 258 Görres, Guido 206 Görres, Jörn 357 Görres, Johann Joseph 21, 65, 88, 206, 215, 219–220, 272 Goethe, Christiane 14 Goethe, Johann Wolfgang von 1, 3–6, 10–12, 14–16, 23, 34, 59, 62, 88, 90, 93, 104, 109, 116, 129, 146–149, 165, 167–169, 171–192, 213–215, 233–234, 245, 248, 310, 323–325, 348, 356–357 Goethe, Ottilie von 176 Gombert, Albert 269–270, 272–273 Gotha, s. Sachsen–Gotha–Altenburg Gotter, Pauline 17 Gottsched, Johann Christian 47 Gould, Stephen Jay 314, 323
369 Gozzi, Carlo 207 Gracián, Baltasar 328–329 Gräb, Wilhelm 352 Gray, Thomas 356 Greber, Erika 38 Greimas, Algirdas Julien 47 Gren, Friedrich Albert Carl 286 Gries, Johann Diederich 6 Grimm, Herman 24, 54, 92, 131, 166 Grimm, Jakob 24–25,33, 51, 99, 102, 113–114, 116, 118–121, 129, 131–132, 135–137, 189, 225, 272 Grimm, Ludwig Emil 26–27 Grimm, Wilhelm 24–25, 99, 113–114, 116–121, 129, 131–132, 135–137, 189, 225, 272 Grimme, Friedrich Wilhelm 272 Grimstad, Kari 1 Grisebach, Lucius 177 Großmann, Christian Gottlob Leberecht 277 Gruber, Carl Anton von 87, 90 Gruber, Sabine 207 Gründler, Hana 25 Grützmacher, Curt 147 Gryphius, Andreas 46, 92 Guaita, Meline von 148, 184 Gubitz, Friedrich Wilhelm 60 Günderrode, Caroline von 185 Günzel, Klaus 250 Gutjahr, Karl Theodor 84 Gutzkow, Karl 63 Haag, Ruth 88 Häntzschel, Günter 356 Häntzschel, Hiltrud 356 Härtl, Heinz 1, 37, 44, 61, 63, 65, 84, 87, 99, 101, 103, 111, 116, 118, 120, 145– 148, 207, 261, 267, 272, 348 Hagner, Michael 291, 294, 299, 309, 323 Hallaran, Laurence Hynes 65 Haller, Albrecht von 233, 304, 353–354 Hammer-Purgstall, Joseph von 103 Hanack, Friedrich 90 Hardenberg, Friedrich von, s. Novalis
370 Hardenberg, Karl von 14 Hardenberg, Karl August von 65 Harles, Johann Christian Friedrich 66 Hartmann von Aue 109 Hartmann, Ferdinand 181 Hastfer, Helmina von, s. Chézy, Helmina von Haubold, Christian Gottlieb 84 Haupt, Gunther 62 Haüy, René Just 239 Hay, Louis 121 Haydn, Joseph 219 Hebbel, Friedrich 117 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1, 10, 27, 324 Heine, Heinrich 129 Heinrich, August 360 Heinroth, Johann Christian August 292, 294–297, 320, 325 Heinsius, Theodor 273 Henkel, Arthur 251 Hennings, Justus Christian 91 Henry, Gabriel 91 Henschel, Wilhelm 208 Herbart, Johann Friedrich 297, 321, 323 Herder, Johann Gottfried 244–245, 255, 307, 312, 348 Herschel, William 284, 287 Herz, Henriette 5 Hessen-Kassel, Friedrich II. Landgraf von 262 Heumann, Konrad 186 Heyking, Elisabeth von 166 Heyse, Johann Christian August 273 Hillach, Ansgar 256 Hinderer, Walter 48 Hirsch, Rudolf 100 Hirt, Aloys 167, 171 Hitzig, Eduard Julius 15 Hölderlin, Friedrich 1, 266, 349–350 Hössli, Philipp 181 Hofe, Gerhard vom 251 Hofer, Hermann 348 Hoffbauer, Johann Christoph 292, 321
Personenregister Hoffmann, E. T. A. 42, 59–60, 129, 137, 188, 322, 324, 343–345, 349 Hoffmann, Stefan-Ludwig 273 Hofmann, Werner 213 Hofmann, Winfried 62 Hofmannsthal, Hugo von 99–112, 342– 343 Hohenlinden, Heinrich von, s. Oelsnitz, Eduard von der Holberg, Ludvig 205, 207–208, 210 Holm, Christiane 148 Holtei, Carl von 252 Hoock-Demarle, Marie-Claire 118 Horaz 261 Hormayr, Joseph Freiherr von 21 Horn, Ernst 65–66 Horn, Ernst Wilhelm 296 Horn, Franz 87 Horsey, Samuel 282 Howard, Mary 60 Huber, Ludwig Ferdinand 7 Hühn, Helmut 351–364 Hüttel, Nomen Nescio von 95 Hufeland, Christoph Wilhelm 66 Humboldt, Alexander von 233, 324 Humboldt, Wilhelm von 7 Hunfeld, Barbara 355 Hussel, Ludwig 275–276 Iffland, August Wilhelm 10, 51–52, 208 Jacob, Joachim 359 Jacobi, Friedrich Heinrich 4, 247–248, 255–256 Jacobs, Wilhelm G. 279 Jacyna, Leon S. 291, 323 Jäger, Lorenz 108 Jähns, Max 277 Jaeschke, Walter 247, 323 Jansen, Elmar 304, 323 Jantzen, Jörg 282, 297, 323 Janz, Marlies 107 Japp, Uwe 30, 38–44, 48, 52, 54, 113 Jean Paul 6, 20, 87–90, 188, 348, 355 Jenisch, Daniel 7
Personenregister Jessen, Hans 247 Joachim, Joseph 166 Jordanes 273 Jünger, Ernst 236 Julius II. 31 Julius, Nikolaus Heinrich 188 Juvenal 261 Käferstein, Christian August 85 Kästner, Ingrid 94 Kafka, Franz 89 Kaiser, Gerhard R. 327–350 Kaiser, Joachim 351 Kaluga, Katja 100 Kamptz, Karl von 343 Kanne, Johann August 87, 90, 95 Kant, Immanuel 89, 284, 297, 353–354, 358 Kanzog, Klaus 124 Karl V. 329 Karl, Erzherzog von Österreich 16 Kaufmann, Christoph 252 Kay, Alan S. 309, 323 Kehrbach, Karl 321 Keller, Werner 117 Kern, Hans 304, 323 Kerner, Justinus 59 Keuten, Alla 95 Kieser, Dietrich Georg 298, 321 Kinskofer, Lieselotte 207, 242 Kippenberg, Anton 110–111 Kleine-Natrop, Heinz-Egon 304, 308, 324 Kleist, Heinrich von 41, 47, 60, 103, 345– 347, 349 Klingemann, August 83, 87–90, 93, 95, 348 Klinger, Friedrich Maximilian 108, 251– 252 Klöden, Karl Friedrich von 277 Klopstock, Friedrich Gottlieb 86, 249, 256, 356–357 Kluckhohn, Paul 242 Knaack, Jürgen 23, 41, 57, 99, 269–278, 348 Kneschke, Emil 84
371 Knorre, Heinrich von 325 Knowlson, James 351, 362 Körner, Christian Gottfried 2–3, 5 Körner, Josef 243, 247 Körner, Theodor 17 Koetschau, Karl 277 Kohlenbach, Margarete 298–299, 324 Kohlschmidt, Werner 88 Konrad, Gustav 129, 132, 348 Koselleck, Reinhart 232 Kotzebue, August von 7, 18, 51–52, 205, 207–210, 242, 276 Krabiel, Klaus-Dieter 256 Kraus, Karl 261, 266–267 Kremer, Detlef 41, 44–45 Krings, Hermann 279 Krolop, Kurt 261–267 Krumme, Peter 320 Kubin, Alfred 89 Küchelbecker, Friedrich 87 Kummer, Paul Gotthelf, 207–208 Kunisch, Hermann 256 La Bruyère, Jean de 328–330, 338 Ladendorf, Otto 269–270, 272 Laetus, Junius, s. Lindau, Wilhelm Adolf Laforgue, Jules 89 Landfester, Ulrike 115–116, 118, 120, 122, 127, 147, 171, 189–190, 242 Langen, August 345 Langner, Jan Josef 261–262, 266–267 La Nourais, M. de 188 Lantová, Ludmila 266 La Roche, Georg Michael von 184 La Roche, Sophie von 183–185, 195, 201 La Rochefoucauld, François de 327–331, 338 Lasaulx, Ernst von 88 Lauder, George V. 325 Lavater, Johann Caspar 291, 332 LeGuin, Ursula 129 Lehnhard, Frau 132, 134 Leibbrandt, Werner 292, 324 Leich, Johann Friedrich 91 Leitner, Ingrid 190, 192
372 Lemke, Gerhard H. 357 Lemm, Uwe 169 Lenz, Jakob Michael Reinhold 251–252 Leonhardi, Johann Gottfried 282 Leopoldseder, Hannes 355 Lepinies, Wolf 233, 235–136 Le Pique, Johann Philipp 251 Lersch, Philipp 299, 324 LeĞniowska, Franziska von 18,19 Lessing, Gotthold Ephraim 47, 141, 168, 251, 256 L’Estocq, Anton Wilhelm von 274 Levin, Rahel 5–6 Lichtenberg, Georg Christoph 233, 282– 283, 356 Liedke, Herbert R. 114 Limburger, Laura 2 Lindau, Wilhelm Adolf 87 Linné, Carl 140–141, 233, 235–236 Lindtner, Fr. L. 21 Lippold, Gustav 83 Liszt, Franz 166 Littlejohns, Richard 251, 348 Locke, John 38, 49 Lohner, Helmuth 348 Lokke, Kari 129–130 Lorenz, Christian Heinrich 84 Lorini, Victoria 25 Lotman, Juri Michailowitsch 47 Ludwig I. 147–148, 176 Ludwig XIV. 328 Ludwig XVI. 61–62, 67, 82 Lüdeke, Roger 38 Lüdeke von Möllendorff, Heinrich 251 Lüders, Detlev 192, 208 Lützeler, Paul Michael 23, 41, 57, 99, 102 Luhmann, Niklas 329, 340, 349 Luther, Martin 32, 54, 256, 258 Luti, Margherita 29 Maassen, Carl Georg von 88 MacMillan, Dougald 362 Macquer, Pierre Joseph 282 Mädel, Johannes 85
Personenregister Mähl, Hans-Joachim 217, 242–244, 341 Mahlmann, August 89 Maisak, Petra 145–182 Mallon, Otto 100, 188 Mangan, James Clarence 59 Manger, Klaus 358 Mann, Friedrich Theodor 86–87 Mann, Gunter 291, 324 Mann, Heinrich 105 Mann, Thomas 105–106 Manso, Johann Caspar Friedrich 277 Maria Pawlowna, Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach 91 Marie Louise, Erzherzogin von Österreich 16 Marivaux, Pierre Carlet de 349 Marlowe, Christopher 44 Martens, Wilhelm 273 Marx, Otto 292, 324 Matenko, Percy 242 Matt, Peter von 353 Matthison, Friedrich von 7, 356 Matussek, Peter 233 Maurer, Friedrich 273–274 Mautner, Franz. H. 356 Mayer, Thomas Michael 358 Meckel, Johann Friedrich 291, 297, 308, 310, 314, 321 Meier, Heinrich 353 Meiners, Christoph 95 Mel’nikova, Svetlana I. 95 Mendelssohn, Benjamin 253 Mendelssohn, Brendel, s. Schlegel, Dorothea Mendelssohn, Fromet 1 Mendelssohn, Moses 1 Menzel, Adolph 166 Mercier, Louis-Sébastien 327, 330–341, 348–349 Mereau, Sophie, s. Brentano-Mereau, Sophie Merian, Matthäus 50 Merkel, Franz Rudolf 297, 299, 324 Mesmer, Franz Anton 325 Metternich, Clemens Wenzel Lothar
373
Personenregister Graf von 16–19 Mettler, Dieter 362 Meyen, Eduard 120–121 Meyer, Alfred 309, 324 Meyer, Jakob 20 Meyer-Abich, Adolf 320, 324 Michael, Erika 304, 324 Michaelis, Caroline, s. Schlegel, Caroline Michaelis, Salomo Heinrich Karl August 4 Michel, Christoph 245 Michelangelo 176 Migge, Walther 57, 328 Milz, Manfred 352 Mirabeau, Honoré-Gabriel Riquetti de 185 Mittelstraß, Jürgen 341 Mix, Morton E. 59–60 Moþek, Reinhard 291, 324 Mocná, Dagmar 261 Möhn, Luise von 184, 195 Mönnich, Wilhelm Bernhard 21 Moering, Renate 23, 35, 37, 41, 57, 61, 99, 101, 132, 186, 205–210 Mohr & Zimmer 92 Moiso, Francesco 282 Molière, John Baptiste 330 Montaigne, Michel de 346–347 Moritz, Karl Philipp 146–147, 167–168, 171–172, 176 Moser, Berthy 166 Mrozek, Stanislaw 89 Müffling, Karl von 269–274 Mühsam, Erich 272 Müller, Adam 17, 46 Müller, Friedrich (Maler Müller) 251– 252 Müller, Heinrich August 89 Müller, Johannes 297, 318 Müller, Johannes von 134 Münster, Ernst Friedrich Herbert Graf zu 274 Muilman, Henry 2 Murav’ev, Michail N. 94 Murhard, Friedrich 86, 95
Nadler, Käte 304, 324 Nagl, Manfred 228 Napoleon I. 7, 13, 16–17, 25, 62, 237, 270–271, 273, 277, 308 Nasse, Friedrich 294, 321 Nathusius, Philipp 189 Nestroy, Johann 266 Neuburger 291, 294, 309, 324–325 Newton, Isaac 282, 286, 358 Nickl, Therese 111 Nicolai, Friedrich 6–7 Nicolai, Martha 59–60 Niekerk, Carl 233 Nienhaus, Stefan 211–220 Niethammer, Friedrich Immanuel 5 Nietzsche, Friedrich 89, 105 Nikolai, Karl 87 Nipperdey, Thomas 119 Nitschke, Claudia 38, 51–52, 221–240 Nostitz, Helene von 110 Nostitz, Oswald von 110 Novalis 1–2, 4–6, 9, 11, 91, 129, 137, 217, 241–244, 259, 263, 341, 345, 358 Obser, Karl 179 Oehler-Klein, Sigrid 291, 318, 325 Oehring, Sabine 210 Oelsnitz, Eduard von der 89 Ohly, Friedrich 359 Oken, Lorenz 297, 304–308, 310, 315– 316, 321, 324 Oppel, Horst 59 Oppel, Margarete 175 Oppenheimer, Carl 314 Oriola, Roderich Graf von 166 Oswald, Johann Friedrich 275 Overbeck, Christian Adolf 254 Pander, Christian Ivanoviþ 314, 321 Pannwitz, Rudolf 111 Pape, Walter 30, 37–38, 61, 94, 115 Papsonová, Mária 266 Paracelsus 298, 322 Pascal, Blaise 331, 353
374 Patsch, Hermann 241–260 Paulin, Roger 92, 211–212, 217 Paulus, Rolf 252 Paulus, Sophie 18 Pausanias 171 Peil, Dietmar 359 Pelikánová, Jitka 261 Perels, Christoph 147 Perfahl, Jost 241 Perthes, Friedrich 242–243, 247 Pertz, Georg Heinrich 273 Peter von Hameln 140–141 Peter, Klaus 88 Peters, C. 277 Peters, Ursula 172 Petersdorff, Dirk von 358 Pétion de Villeneuve, Jérôme 348 Pfaff, Peter 348 Pfeiffer, Jens 352 Pfersmann, Andreas 348 Pichler, Caroline 20 Pictet, Marc-Auguste 281 Pietsch, Yvonne 37–38, 49–52, 54, 113– 128 Pilat, Alois von 17,18,21 Pindar 91 Pissin, Raimund 27 Pitollet, Camille 188 Platner, Ernst 84, 89 Platon 7–8 Platschek, Hansjörg 241 Pörnbacher, Karl 117 Poggi, Stefano 291–326 Poinsinet de Sivry, Louis 89 Polheim, Karl Konrad 57 Prévost, Jean Louis 188, 316, 321 Priestley, Joseph 304 Probst, Peter 294, 325 Procesi, Lidia 304, 325 Prochaska, Georgii 291, 321 Pross, Caroline 40, 46–47 Proust, Marcel 363 Pückler-Muskau, Hermann Fürst von 145, 172, 174, 177–178 Püschel, Ursula 118, 184
Personenregister Räß, Andreas 205–206 Raffael 24–32, 167, 195, 212 Raikov, Boris E. 313–314, 316, 318, 325 Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von 7 Ramler, Karl Wilhelm 168 Ranke, Kurt 228 Raphael, s. Raffael Rassmann, Friedrich 88 Rat, Maurice 346 Rauch, Christian Daniel 23, 167 Raumer, Friedrich von 85 Raumer, Stephanie von 168 Redlich, Carl 245 Reich-Ranicki, Marcel 357 Reichardt, Johann Friedrich 4–5, 86, 93, 248, 254 Reichenbach, Erwin 324 Reil, Johann Christian 291–294, 296, 299, 303–304, 307–308, 322, 324–326 Reimer, Georg Andreas 114, 122, 131, 242, 250–251 Reimers, Hans Christian von 95 Renner, Rolf-Günter 230 Rhode, Johann Gottlieb 19 Richelieu, Armand-Jean du Plessis duc de 333 Ricklefs, Ulfert 23, 37–38, 41–42, 45–46, 48, 51–54, 57, 61, 92, 99, 101–102, 106, 108, 114–115, 122, 127 Riemeck, Renate 320 Rieser, Ferdinand 246 Ringseis, Johann Nepomuk von 20 Ritter, Ellen 107 Ritter, Johann Wilhelm 4, 16, 87, 299 Ritter, Carl 23 Robert-Tornow, Walter 62 Rode, Bernhard 168 Rölleke, Heinz 37, 100, 107, 114, 130– 131 Röttgers, Kurt 296, 299, 325 Roloff, Hans–Gert 226 Roloff, Walter 59–60 Rommel, Otto 266 Rostorf, s. Hardenberg, Karl
Personenregister Rothe, Gabriel Christian 208 Rousseau, Jean-Jacques 330, 349 Rowland, Herbert 254, 257 Ruberg, Uwe 359 Rudolphi, Karl Asmund 291, 297, 310– 313, 322 Rückert, Friedrich 33 Rüdiger, Horst 328 Rühl, Johann Christian 91 Runge, Daniel 211–213, 215, 218–219– 220 Runge, Philipp Otto 146, 169, 172, 180, 211–220, 359 Ruoesch, Johann Baptist von 252 Rupp, Heinz 273–274 Russell, Edward S. 315, 325 Sachsen-Gotha-Altenburg, August Emil Leopold von 90 Saint-Martin, Louis-Claude 247–248, 250 Salmen, Walter 248 Samuel, Richard 91, 217, 242, 244, 341 Sand, Karl Ludwig 18 Sauder, Gerhard 62, 252, 322 Saul, Nicolas 294, 325 Saussure, Horace Bénédict de 281 Savigny, Friedrich Carl von 103, 132, 166, 272, 275 Savigny, Kunigunde (Gunda) von, 166 Schadow, Johann Gottfried 168 Schäfer, Kirsten Anne 270 Schäuble, Wolfgang 341 Schaible, Friederike 38, 49 Scheele, Carl Wilhelm 282 Schellberg, Wilhelm 184 Schelling, Caroline, s. Schlegel, Caroline Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 6–8, 10, 12, 17, 19–20, 83, 86, 247, 279– 290, 297, 313, 323 Schelling, Karl Friedrich August 279 Scherer, Stefan 38–39, 45–46, 53–54, 113 Scherr, Johannes 100, 103–104, 107, 110 Schieche, Walter 279 Schier, Alfred 92–93, 122 Schillbach, Brigitte 254
375 Schillemeit, Jost 88 Schiller, Friedrich 1–5, 11, 13, 59, 129, 135, 248, 255, 263, 296, 348 Schinkel, Karl Friedrich 146–148, 169– 177 Schinkel, Susanne 169 Schlabrendorf, Gustav von 348 Schlegel, August Wilhelm 1–21, 147, 217, 242, 348, 358 Schlegel, Caroline 1–2, 4, 6–9, 12, 16 Schlegel, Dorothea 1–2, 5–13, 15–20, 241, 243, 253 Schlegel, Friedrich 1–21, 46, 90, 92, 145– 146, 208, 217, 241–243, 247–250, 253, 259, 296, 298 Schlegel, Johann Adolph 1–2 Schlegel, Johanna Christiane Erdmuthe 1, 16 Schlegel, Moritz 20 Schleiden, Karl August 357 Schleiermacher, Friedrich 1, 5–8, 10–12, 17, 352 Schlemm 2 Schmid, Martin E. 111 Schmidl, Michael 20 Schmidt, Burckhard 85 Schmidt, Heinrich 276 Schmitt, Carl 47 Schmitz, Rainer 242 Schmitz, Walter 114, 132, 147, 171, 183– 184, 189–190, 242 Schneider, Wilhelm 86 Schnitzler, Arthur 111 Schnitzler, Heinrich 111 Schoeller, Bernd 100 Schönburg, Reichsgraf von 83 Schopenhauer, Arthur 329 Schott, Heinz 291–292, 299–300, 307, 325 Schreiber, Alois Wilhelm 89 Schröder, Friedrich Ludwig 51 Schröder, Rudolf Alexander 33 Schubart, Christian 252 Schubert, Gotthilf Heinrich 83– 84, 87, 299–303, 308, 322, 324–325
376 Schuh, Willi 111 Schulte, Joachim 350 Schultheiss, Hans 106 Schultz, Carl Heinrich 298, 322 Schultz, Hartwig 113, 118, 120–123, 169, 171, 177, 187, 208, 243, 253, 256, 348 Schulz, Gerhard 40–41, 44, 113, 242, 244, 341 Schulz, Johann Abraham Peter 245 Schulze, Hagen 270 Schumann, Detlev W. 253 Schumann, Robert 33 Schuster, Gerhard 110 Schwan, Christian Friedrich 251 Schwann, Jürgen 235 Schweer, Martin 343 Seckendorff, Adolf von 276 Segebrecht, Wulf 344 Seitter, Walter 354 Sembdner, Helmut 346 Seume, Johann Gottfried 261–267 Sexton, Anne 129–130 Shakespeare, William 44 Siebke, Rolf 241 Siegrist, Hannes 273 Siemek, Marek J. 342 Sieyès, Emmanuel Joseph 348 Silesius, Angelus 345 Sixtus II. 31 Sixtus IV. 31–32 Sömmerring, Samuel Thomas von 291, 323–324 Solden, Franz 87 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 19 Sophie, Großherzogin von SachsenWeimar-Eisenach 248 Soury, Jules 291, 309, 326 Spinner, Kaspar Heinrich 357 Spinoza, Baruch (Benedict) de 289 Spoglianti, Edi 44 Spontini, Gaspare 276 Spurzheim, Johann Kaspar 318, 320 Staël-Holstein, Albert de 15 Staël-Holstein, Anne Louise Germaine de 13–18
Personenregister Stammler, Wolfgang 252 Steffens, Henrik 269–271, 273, 297, 308, 321–322 Steig, Reinhold 24, 54, 92, 99–100, 102, 104, 110–111, 131–132, 136 Steigerwald, Jörg 130 Stein, Charlotte von 116 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum 276–277 Steinhäuser, Pauline 179 Steinhaeusser, Gertraud 254 Steinsdorff, Sibylle von 114, 116, 132, 147, 171, 183, 189–190, 192 Stieda, Wilhelm 94–95 Stifter, Adalbert 355 Stockinger, Claudia 38–39, 44–45, 113 Stölzle, Remigius 88 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 8,15, 249 Stoll, Adolf 275 Storm, Theodor 222 Storost, Joachim 183 Stoupy, Joëlle 105–106 Stranski, Christine 20 Straub, Veronika 132 Strauss, Alice 111 Strauss, Franz 111 Strauss, Richard 111 Streckeisen, Anna Dorothea 348 Suphan, Bernhard 245 Tatar, Maria 294, 326 Temkin, Owsei 318, 326 Theophrast 328 Therese, Königin von Bayern 148 Thibaudet, Albert 346 Thies, Barbara 343 Thorvaldsen, Bertel 166–168, 172–173 Tieck, Amalie 250 Tieck, Dorothea Sophia 250, 253 Tieck, Friedrich 1 Tieck, Ludwig 1, 6–8, 10, 13, 19, 21, 39, 43, 45–47, 59, 88, 129, 137, 207, 211–220, 222, 242, 250–253, 259, 341–345, 349
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Personenregister Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 213, 218–219 Tophoven, Elmar 351 Touchy, Ferdinand Christian 86 Treviranus, Gottfried Reinhold 297 Troxler, Ignaz Paul Vitalis 296 Trübner, Karl 273 Uhland, Ludwig 59 Unger, Heiner 85 Unger, Johann Friedrich Gottlob 13 Uschmann, Georg 324 Varnhagen von Ense, Karl August von 86, 175, 348 Vasari, Giorgio 25, 27, 29 Veit, Dorothea, s. Schlegel, Dorothea Veit, Jonas 16, 18 Veit, Philipp 14, 16–18, 253 Veit, Simon 1, 6, 14, 19 Veneroni, Giovanni 93 Vering, Eva-Maria 348 Vermehren, Johann Bernhard 9–11 Verwey, Gerlof 292, 294, 326 Verwiebe, Birgit 171 Vietta, Silvio 217 Vogel, Jakob 273 Vogtherr, Christoph Martin 147 Vordtriede, Werner 33, 99, 111–112, 117, 187 Voß, Johann Heinrich 48 Voßler, Karl 329 Vulpius, Christian August 90 Vulpius, Christiane, s. Goethe, Christiane Wach, Karl Wilhelm 147 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 1, 6, 212, 348 Wagenknecht, Christian 266 Wagner, Heinrich Leopold 348 Wagner, Johann Ernst 89 Wagner, J. J. 276 Wagner, Richard 356 Walach, Dagmar 221, 228–229, 232 Wallenborn, Markus, 116
Waller, John Francis 59 Wallraf, Ferdinand Franz 14 Wambach, Annemarie 226 Wapnewski, Peter 357 Washington, George 237 Wasmuth, Ewald 353 Wegener, Wilhelm 360 Wegner, Reinhard 358 Weiland, Werner 348 Weiss, Hermann F. 23, 30, 41, 57, 99, 348 Weißenthurn, Johanna von 51 Weitz, Hans-J. 148 Wendt, August Amadeus 24, 30 Wenzel, Joseph 291, 304, 322 Wenzel, Karl 291, 304, 322 Werden, Adolph, s. Mann, Friedrich Th. Werden, Franz von 87 Werden, Julius, s. Winzer, Johann G. Werner, Zacharias 243, 249–250, 260 Wichmann, Carl Friedrich 23 Wiedemann, Luise 8 Wiedemann, Ursula 348 Wieland, Christoph Martin 4, 348 Wilhelm I. 102 Willemer, Marianne von 116 Wilmans, Gerhard Friedrich 11,12 Wilpert, Gero von 238 Winckelmann, Johann Joachim 168 Wingertszahn, Christof 37, 57–82, 101, 104, 183 Winzer, Johann Gottlieb 86 Woesler, Winfried 121 Wohl, Jeanette 19 Wolf, Christa 118 Wolff, Albert 179–180 Wolff, Caspar Friedrich 318 Wollstonecraft, Mary 142 Wordsworth, William 1 Young, Edward 356–357 Zaunick, Rudolf 291, 326 Zeller, Regine 189–190 Zeydel, Edwin H. 242
378 Zimmer, Johann Georg 15 Zipes, Jack 129 Zöbeley, Hans Rudolf 254
Personenregister Zöllner, Amalie Caroline, s. Dienemann Zurbonsen, Friedrich 272
Die Autoren und Herausgeber
Johannes Barth Promotion 1993, Habilitation 2003 mit der 2006 im Rahmen der Weimarer Arnim-Ausgabe erschienenen historisch-kritischen Edition von Achim von Arnims Die Päpstin Johanna. Privatdozent an der Bergischen Universität Wuppertal. Veröffentlichungen zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hildegard Baumgart Romanistin. Übersetzungen aus dem Spanischen (Jorge Guillèn), 1972 Briefe aus einem anderen Land – Briefe aus der DDR (Hrsg.), 20 Jahre Paar- und Familienberaterin. 1983 Eifersucht. Erfahrungen und Lösungsversuche im Beziehungsdreieck. 1999 Bettine Brentano und Achim von Arnim. Lehrjahre einer Liebe. Seitdem Arbeit an der Ehegeschichte der Arnims. Roswitha Burwick Geb. 1944 in Würzburg. Studium in Würzburg. Seit 1971 Deutschprofessorin am Scripps College, Claremont, Kalifornien. Seit 1998 Distinguished Chair of Modern Languages. Forschungs- und Lehrgebiet: German Studies, Romantik; Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts; Wissenschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Mitherausgeberin der Weimarer Arnim-Ausgabe (Bd. 2 und 3). VizePräsidentin der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Sheila Dickson Senior Lecturer in German an der Universität Glasgow in Schottland. Herausgeberin von Band 1 der Weimarer Arnim Ausgabe, Schriften der Schüler- und Studentenzeit (2004), Publikation von Aufsätzen über Achim von Arnim und E.T.A. Hoffmann, Übersetzung einer Erzählung Arnims ins Englische, Die Ehenschmiede (The Marriage Blacksmith, 2007). Ediert zurzeit eine digitale Ausgabe des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde mit Christof Wingertszahn und Stefan Goldmann (http://telota.bbaw.de/mze/).
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Die Autoren und Herausgeber
Steffen Dietzsch Prof. für Philosophie an der Humboldt Universität Berlin, lehrt auch am Institut für Philosophie der Leipziger Universität. Seit 2006 geschäftsführender Direktor des „Kondylisinstituts für Kulturanalyse und Alterationsforschung“ in Hagen. Arbeitsgebiete sind u. a. Kant und der Deutsche Idealismus, sowie die Frühromantik. Neuere Publikationen: Immanuel Kant (2003/04), Vernunft und Glauben (2006), Paul Mersmann. Diffusion der Moderne (2008). Lothar Ehrlich Geb. 1943 in Halle (Saale). Studium der Germanistik und Geschichte in Halle. 1970 Dissertation über Ludwig Achim von Arnim als Dramatiker, 1980 Habilitation, von 1986 bis 2008 in den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar/Klassik Stiftung Weimar. Zahlreiche Publikationen vor allem zur klassischen, romantischen und vormärzlichen deutschen Literatur und ihrer Rezeption. Mitherausgeber der WAA. Hans Eichner Geb. 30. Oktober 1921 in Wien, gest. 8. April 2009 in Guelph (Ontario, Canada). Eichner floh mit 17 Jahren aus Wien und studierte ab 1943 in London Germanistik. Promotion 1949: Thomas Mann and Goethe. Seit 1950 Professor an der Queen’s University in Kingston, dann an der University of Toronto, 1988 emeritiert. Mitbegründer der Kritischen Friedrich Schlegel-Ausgabe, der er sechs Bände beisteuerte. Festschrift Echoes and Influences of German Romanticism (1987), Gesammelte Aufsätze Against the Grain / Gegen den Strich (2003), autobiographischer Familienroman Kahn & Engelmann 2000 (engl. Übersetzung 2009). Gian Franco Frigo Prof. für Geschichte der Philosophie am Dipartimento di Filosofia der Universität Padua. Seine Arbeitsgebiete sind die Philosophie des Deutschen Idealismus, namentlich die Naturphilosophie der Goethezeit, und moderne Kulturphilosophie. Jüngere Publikationen: Vernunft und Glauben. Ein philosophischer Dialog der Moderne mit dem Christentum (2006), Bios e Anthropos. Filosofia, Biologia e Anthropologia (2007), Denken und Vorstellen in Schellings positiver Philosophie. In: Das Daedalus-Prinzip (2009). Helmut Hühn Geb. 1961 in Bad Hersfeld. Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Marburg und an der Freien Universität Berlin. Promotion mit der Arbeit Mnemosyne. Studien zu Hölderlins Denken. Mitherausgeber des Histo-
Die Autoren und Herausgeber
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rischen Wörterbuchs der Philosophie. Lehrbeauftragter für Philosophie an der Freien Universität Berlin und der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“. Jüngste Buchpublikation: „Die Wahlverwandtschaften“. Werk und Forschung (Hrsg.; 2010). Gerhard R. Kaiser Geb. 1943. Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Mainz und Tübingen. Nach Tätigkeiten an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und der Justus-Liebig-Universität Gießen von 1993 bis 2008 Ordinarius an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft). Jürgen Knaack Geb. 1946. Dissertation Achim von Arnim-Nicht nur Poet, 1976 veröffentlicht. Von 1973 bis 2003 Dokumentar und Redakteur im Hamburger Verlagshaus Gruner+Jahr. In seiner Freizeit forschte er über Arnim, hat 1992 den Band 6 Schriften der Arnim-Ausgabe im DKV mit herausgegeben. Mitbegründer der Internationalen Arnim-Gesellschaft und Mitarbeiter der Weimarer ArnimAusgabe. Kurt Krolop
Geb. 1930 in Graber (Kravare, Nordböhmen). Studium der Germanistik und Anglistik in Halle. 1957–1962 Lektor für deutsche Sprache und Literatur in Prag, danach in Halle, 1967–1969 Leiter der Forschungsstelle für Prager deutsche Literatur an der Akademie der Wissenschaften in Prag, danach in Berlin und Weimar, seit 1984 am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, seit 1990 Professor des Germanistischen Instituts der Karlsuniversität Prag; zahlreiche Veröffentlichungen zur Prager deutschen Literatur und zu Karl Kraus. Ariane Ludwig Studium der Komparatistik und der Lateinischen Philologie in Mainz. Mitarbeiterin an der Edition von Goethes Tagebüchern und am Register zur Münchner Goethe-Ausgabe. Zur Zeit Arbeit an einer Dissertation über Opernbesuche in der Literatur.
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Die Autoren und Herausgeber
Petra Maisak Geb. 1950, studierte in Heidelberg und Köln Kunstgeschichte und Germanistik. Sie leitet seit 1981 die Kunstsammlungen und das Museum am Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Haus und legte zahlreiche Publikationen zu Kunst und Literatur der Klassik und Romantik vor, u. a. zu den Zeichnungen Goethes und Bettina von Arnims. Renate Moering Geb. 1943 in Jena. Studium der Germanistik und Romanistik in Frankfurt a. M. und Salzburg. Promotion 1976 in Frankfurt a. M. über Achim von Arnim. Von 1976 bis 2008 im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum als Redakteurin der Frankfurter Brentano-Ausgabe, Verantwortliche für das Hofmannsthal-Archiv und seit 1997 Leiterin der Handschriften-Abteilung. Mitherausgeberin der WAA. Stefen Nienhaus Studium in Münster, Habilitation an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena mit einer Arbeit über die Texte der deutschen Tischgesellschaft. Lebt in Neapel und lehrt Deutsche Literatur an der Universität Foggia (Apulien). Wichtigste Veröffentlichungen der letzten Jahre: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft (2003); Theodor Däubler, Krit. Ausg. Bd. 6: Das Nordlicht (Hrsg. zs. mit D. Werner; 2004); Bd. 11 der WAA: Texte der deutschen Tischgesellschaft (2008); L'attualità della retorica (Hrsg.; 2008). Claudia Nitschke Lecturer am Lincoln College /University of Oxford. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Romantik, Literarische Konzeptionen von Familie. Buchpublikationen: Utopie und Krieg bei Ludwig Achim von Arnim (2004); Hrsg. (zusammen mit Thomas Martinec): Familie und Identität in der deutschen Literatur. Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft (2009). Hermann Patsch Geb. 1938. Dr. theol. Studium der Germanistik, Ev. Theologie und Philosophie, Gymnasiallehrer a. D. in München. Publizierte Monographien und Aufsätze zum Neuen Testament und zu Matthias Claudius, Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher sowie Editionen zu diesen Autoren. Herausgeber von Bd. XXV der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe (2009).
Die Autoren und Herausgeber
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Yvonne Pietsch Absolventin des Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft an der LudwigMaximilians-Universität München, anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-Forschergruppe „Anfänge (in) der Moderne“. Seit 2006 bei der Klassik Stiftung Weimar, Abteilung Edition, historisch-kritische Ausgabe der Goethe-Briefe. Bearbeiterin der WAA-Bände 7 und 13. Stefano Poggi Geb. 1947, lehrt Geschichte der Philosophie an der Universität Florenz. Unter seinen Publikationen: I sistemi dell’esperienza. Logica, psicologia e teoria della scienza da Kant a Wundt (1977), Il genio e l’unità della natura. La scienza della Germania romantica 1780–1840 (2000), La logica, la mistica, il nulla. Una interpretazione del giovane Heidegger (2006).
Christof Wingertszahn Privatdozent, 1993–1995 Mitarbeiter in der Arnim-Arbeitsstelle der Stiftung Weimarer Klassik, Mitherausgeber der Weimarer Arnim-Ausgabe und der Kritischen Karl-Philipp-Moritz-Ausgabe, Leiter der Moritz-Arbeitsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Berlin).