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German Pages 548 Year 2014
Werner Binder Abu Ghraib und die Folgen
Kultur und soziale Praxis
Werner Binder forscht und lehrt an der Masaryk-Universität zu Brünn (Brno). Seine Forschungsschwerpunkte sind soziologische Theorie, Kultursoziologie, interpretative Methoden und öffentliche Diskurse.
Werner Binder
Abu Ghraib und die Folgen Ein Skandal als ikonische Wende im Krieg gegen den Terror
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 9
I. E INLEITUNG | 11 II. THEORETISCH -BEGRIFFLICHER TEIL |
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1. Kulturelle Grundlagen des Handelns und Erlebens | 27
1.1 Intentionalität und Handlung | 28 1.1.1 Kognitive und affektive Modi der Intentionalität | 29 1.1.2 Individuelle und kollektive Modi der Intentionalität | 33 1.1.3 Ziele erreichen ‒ Teleologische Handlungsintentionalität | 36 1.1.4 Regeln befolgen ‒ Deontologische Handlungsintentionalität | 38 1.1.5 Einverständnis erzielen ‒ Kommunikative Intentionalität | 41
1.2 Die kulturellen Hintergründe des Handelns | 43 1.2.1 Kognitive, emotionale und evaluative Hintergründe | 46 1.2.2 Zur Kritik des handlungstheoretischen Monismus | 50 1.2.3 Mechanismische Erklärungen und kulturelle Mechanismen | 54 1.3 Kultur als symbolische Ordnung und soziales Imaginäres | 58 1.3.1 Der kulturelle Hintergrund der Sprache | 58 1.3.2 Kultur als symbolische Ordnung – Diskurse, Codes, Programme | 61 1.3.3 Kultur als soziales Imaginäres – Imagination und Phantasma | 65 1.3.4 Kultur und das Reale – Anlehnung, Ereignis, Spur | 68 1.3.5 Kulturelle Traumata und symbolische Diskurse | 71
2. Elementare Formen der kulturellen Repräsentation | 73
2.1 Bild und Ikone | 76 2.1.1 Bild und Text – Vom iconic turn zur Bildhermeneutik | 78 2.1.2 Bild und Körper – Repräsentation und Verkörperung | 81 2.1.3 Fotografie als Bildmedium und säkulare Ikone | 85
2.2 Erzählung und Mythos | 90 2.2.1 Fiktionale Modi und narrative Gattungen | 92 2.2.2 Handeln und Geschichte als Erzählung – Metasociology | 96 2.2.3 Mythos, Identität, Gesellschaft | 100
2.3 Performanz und Ritual | 103 2.3.1 Rituelle Performanz – Konformität und Transformation | 106 2.3.2 Theatralische Performanz – Fiktionalität und Reflexion | 109 2.3.3 Soziale Performanz – Authentizität und Resonanz | 112
3. Phänomene der Macht, Anerkennung und Unterwerfung | 115
3.1 Macht und Gewalt | 116 3.1.1 Gesichter der Macht | 116 3.1.2 Gewalt als Aktionsmacht und souveräne Überschreitung | 124
3.2 Würde und Entwürdigung | 133 3.2.1 Würde als Ausdruck, Performanz und Repräsentation | 135 3.2.2 Würde, Demütigung und Entwürdigung | 139
3.3 Erniedrigung und Folter | 144 3.3.1 Formen ritueller Erniedrigung – Demut, Initiation, Demütigung | 145 3.3.2 Folter als Verhörtechnik und rituelle Demütigung | 151
4. Moral und Öffentlichkeit | 157
4.1 Moral | 159 4.1.1. Moralische Tatbestände ‒ Soziologie als Moralwissenschaft | 160 4.1.2. Die moralische Ordnung liberaler Gesellschaften | 165
4.2 Öffentlichkeit | 171 4.2.1 Agora – Öffentlichkeit als topischer und metatopischer Raum | 171 4.2.2 Res publica – Staat und politische Öffentlichkeit | 175 4.2.3 Öffentlichkeit als kollektive Vorstellung | 178
4.3 Öffentliche Moral ‒ Zur Theorie zivilgesellschaftlicher Diskurse | 181 4.3.1 Die Struktur zivilgesellschaftlicher Diskurse | 183 4.3.2 Öffentliche Meinung ‒ Diskursive Hegemonie und Polarisierung | 189 5. Grundzüge einer kultursoziologischen Skandaltheorie | 195
5.1 Skandalkritik und Skandaltheorie | 199 5.1.1 Drei Formen der Skandalkritik | 200 5.1.2 Die funktionale Theorie des Skandals und ihre Kritiker | 205
5.2 Der Skandal als Ereignis, Ritual und Drama | 212 5.2.1 Der Skandal als Medienereignis | 215 5.2.2 Der Skandal als öffentliches Ritual | 217 5.2.3 Der Skandal als soziales Drama | 221 5.3 Der Skandal als Prozess – Ein Verlaufsschema | 225 5.3.1 Die moralische Verfehlung als abweichendes Verhalten | 226 5.3.2 Die Enthüllung als Selektion der Massenmedien | 228 5.3.3 Die Empörung als Aufstand der Anständigen | 230 5.3.4 Die Krise als gesellschaftlicher Konflikt | 232 5.3.5 Die Bewältigung des Skandals und sein Nachspiel | 234
III. HISTORISCH -EMPIRISCHER TEIL | 237 6. Exposition – Amerika auf dem Weg nach Abu Ghraib | 239
6.1 Der Zweite Weltkrieg – Trauma und Triumph | 242 6.1.1 „Pearl Harbor“ und „Hiroshima“ als kollektive Symbole | 243 6.1.2 „Holocaust“ – Zur Universalisierung eines moralischen Codes | 247
6.2 Der Vietnamkrieg als amerikanisches Trauma | 251 6.2.1 Der Vietnamkrieg im amerikanischen Gedächtnis | 252 6.2.2 Das liberale Tätertrauma – My Lai | 257 6.3 Abu Ghraib und der Golfkrieg von 1991 | 263 6.3.1 Zur Sakralsoziologie des Raumes – Das Gefängnis | 263 6.3.2 Das Abu-Ghraib-Gefängnis und der Golfkrieg | 266 6.4 „9/11“ und der Krieg gegen den Terror | 270 6.4.1 Amerikanische Sicherheitspolitik nach dem 11. September 2001 | 274 6.4.2 Folter im öffentlichen Diskurs und in der populären Imagination | 277
6.5 Der Irakkrieg von 2003 und die Transformation von Abu Ghraib | 281 7. Die Skandalfotografien – Eine Interpretation | 291
7.1 Interpretation I – Die Ikone des Skandals | 295 7.1.1 Vorikonographische Beschreibung und ikonische Interpretation | 297 7.1.2 Der Fotograf und die Ikonographie der Inszenierung | 299 7.1.3 Ikonographische und ikonologische Analyse kultureller Muster | 301
7.2 Interpretation II – Die menschliche Pyramide | 307 7.2.1 Die Pos(s)e – Touristen und Großwildjäger | 308 7.2.2 Purifizierendes Ritual und triumphale Geste | 312 7.2.3 Das scheinbare und das unscheinbare Heldentum | 316 7.3 Interpretation III – Sexualität und Demütigung | 320 7.3.1 Erzwungene Masturbation und symbolische Kastrationsdrohung | 322 7.3.2 Die Inszenierung von Homosexualität | 324 7.3.3 Die Soldatin als Domina – Entmannung und Entmenschlichung | 328
7.4 Rekonstruktion: Rituale der Demütigung | 330 7.5 Rezeption: Das Reale und die Imagination der Folter | 341 8. Diskursanalyse I – Der Skandal als soziales Drama | 347
8.1 Bildbruch – Enthüllung und Rahmung der Normverstöße | 352 8.1.1 Von der Armee in die Medien – Darby, der „whistle-blower“ | 352 8.1.2 Schock und Abscheu – Der Bildbruch der Abu-Ghraib-Fotos | 357 8.2 Identitätskrise – Abu Ghraib als Imageproblem | 361 8.2.1 Abu Ghraib zwischen PR-Desaster und Identitätskrise | 362 8.2.2 Entschuldigungen als Techniken der nationalen Imagepflege | 366 8.2.3 Rücktrittforderungen an Rumsfeld – „Watergate“ und „Vietnam“ | 373
8.3 Soziale Spaltung? – Diskurshegemonie und Gegendiskurse | 377 8.3.1 Konservativ-hegemonialer Diskurs – Das „bad-apple“-Narrativ | 378 8.3.2 Links-liberaler Gegendiskurs – Hersh, Zimbardo und Sontag | 381 8.3.3 Rechts-konservativer Gegendiskurs – Inhofe und Limbaugh | 384 8.4 Ausweitung der Krise und retardierende Momente | 386 8.4.1 Ausweitung der Krise | 387 8.4.2 Retardierende Momente – „Daily Mirror“ und „Nick Berg“ | 390 8.5 Rechtliche Bewältigung und politische Reintegration | 393 8.5.1 Die Strafprozesse gegen die Täter | 394 8.5.2 Die offiziellen Untersuchungsberichte zu Abu Ghraib | 396 8.5.3 Abu Ghraib im Wahlkampf 2004 und die Wiederwahl von Bush | 399 9. Diskursanalyse II – Politik, Recht und Kunst | 405
9.1 Memoranda, Geheimgefängnisse, Folter | 406 9.2 Ein neuer Konsens – Das McCain-Amendment | 412 9.3 Die Supreme-Court-Urteile zu Guantanamo Bay | 418 9.3.1 Rasul v. Bush – Die rechtliche Einhegung von Guantanamo | 420 9.3.2 Hamdan v. Rumsfeld – Das „Kriegsverbrechertribunal“ | 422 9.3.3 Boumediene v. Bush – Die Restauration des habeas corpus | 425
9.4 Politischer Aktivismus und politische Kunst | 428 9.5 Internationales Recht und nationale Politik | 441 10. Diskursanalyse III – Spätfolgen des Skandals | 445
10.1 Abu Ghraib und der Wahlkampf 2008 | 446 10.2 Bildkritik und narrative Rekonstruktion – Die Dokumentationen | 457 10.3 Abu Ghraib in der Populärkultur | 464 10.3.1 Fiktive Folter in der Kritik – Die öffentliche Debatte zu 24 | 468 10.3.2 Folter und Abu Ghraib – Unthinkable und Tal der Wölfe | 474 10.4 Abu Ghraib und die Folterdebatte | 478 10.4.1 Der Diskurs zum Waterboarding – Verhörtechnik oder Folter? | 484 10.4.2 Die Unabweisbarkeit der Folterfrage | 487 10.5 Die Obama-Präsidentschaft – Bewältigung oder Verdrängung? | 490
IV. S CHLUSSBETRACHTUNG | 497 Literatur | 509
Vorwort
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine stark gekürzte und vollständig überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die am 18. April 2012 an der Universität Konstanz eingereicht und am 30. Oktober desselben Jahres erfolgreich verteidigt wurde. Ich danke den beiden mündlichen Prüfern, Prof. Dr. Bernhard Giesen und Prof. Dr. Thomas Weitin, sowie dem Prüfungsvorsitzenden, Prof. Dr. Thomas Hinz, für die fordernde und kurzweilige Disputation, mit der diese Arbeit einen würdigen Abschluss fand. Die Geschichte dieser Studie als ein heroisches Ein-Mann-Unternehmen zu erzählen verstieße nicht nur gegen die wissenschaftlichen Gepflogenheiten, sondern entspräche auch nicht der Wahrheit. Von den Vielen, die ‒ direkt oder indirekt ‒ zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben, kann ich im Folgenden leider nur einigen wenigen meinen Dank aussprechen. Ihren Anfang nahm diese Arbeit in Berlin, im Spätherbst 2006, obgleich sie entscheidende Impulse meiner USA-Reise im Frühjahr 2005 und einem Kolloquium mit Charles Taylor an der Humboldt-Universität verdankte. Heike Kanter danke ich für unsere Berliner Spaziergänge – und dafür, dass sie die Anfänge dieser Arbeit entscheidend geprägt und sie bis zu ihrem Abschluss kritisch begleitet hat. Auch den beiden anderen Mitgliedern des „soziologischen Quartetts“, David Pachali und Susanne Friedel, ist für die inspirierenden Diskussionen und ihren Beitrag zur ersten Interpretation der Skandalbilder zu danken. Ralf Stoecker und den Teilnehmer seines Potsdamer Kolloquiums danke ich für die Gelegenheit, erstmals Überlegungen zur Würde als Repräsentation vorstellen und diskutieren zu dürfen. Prof. Dr. Martin Leiner hat mich schließlich in einer kritischen Phase des Projektes mit seinem selbstlosen Einsatz unterstützt, wofür ich tief in seiner Schuld stehe. Bernhard Giesen bin ich zu allergrößtem Dank verpflichtet – nicht nur weil er die Betreuung dieser Arbeit bereitwillig annahm, sondern auch weil er mir an seinem Lehrstuhl in Konstanz eine intellektuelle Heimat bot. Von seiner Lektüre des Manuskripts, seiner Kritik und seiner Ermutigung hat diese Arbeit ungemein profitiert. Ich danke ebenfalls Thomas Weitin, der sich nicht nur für das Thema meines Dissertationsvorhabens begeistern ließ, sondern mir auch entscheidende Anregun-
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gen und wichtige Hinweise mit auf den Weg gegeben hat. Vor Marco Gerster und Kim-Claude Meyer verneige ich mich in tiefster Dankbarkeit, da beide weite Teile der vorliegenden Arbeit in unterschiedlichen Arbeitsphasen kritisch gegengelesen und niemals mit hilfreichen Vorschlägen gespart haben. Dank gebührt auch Nils Meise, Francis Le Maître, Thorn-Rennig Kray und Christian Hillmann, die einzelne Kapitel dieser Arbeit kommentiert haben, sowie den anderen Teilnehmern des Konstanzer kultursoziologischen Kolloquiums. Gerd Blum danke ich für die Diskussionen in Konstanz und seine hilfreiche Lektüre des Kunstkapitels. Schließlich möchte ich auch noch den ehemaligen Fellows und Meistern der Konstanzer Meisterklasse meinen Dank aussprechen. Vor allem die Auseinandersetzung mit einem überaus streitbaren John Searle hat diese Arbeit nachhaltig geprägt. Zu danken ist weiterhin dem Netzwerk Transatlantische Kooperation an der Universität Konstanz, das zwei Forschungsaufenthalte in New Haven förderte, sowie dem Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration, das nicht nur diese beiden Institutionen finanziert, sondern auch in weiten Teilen für das inspirierende Umfeld in Konstanz verantwortlich war. Dem Center for Cultural Sociology an der Yale University danke ich für die akademische Gastfreundschaft und die Gelegenheit, erste Ergebnisse meiner Diskursanalyse im dortigen Workshop vorstellen zu dürfen. Das kritische Feedback hatte unter anderem zur Folge, dass in der Endfassung dieser Arbeit auch Fernsehtranskripte berücksichtigt wurden. Jeffrey C. Alexander möchte ich für seinen Zuspruch und seine Ermutigung, den bereits eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen, danken, Ron Eyerman hingegen für seine Aufforderung, das Verhältnis zwischen kollektiver Identität und sozialer Krise noch einmal neu zu überdenken. Von Philip Smith habe ich ebenfalls viel gelernt – und nicht nur Skifahren. Bedanken möchte ich mich außerdem bei Dominik Bartmanski – für seine Freundschaft, fesselnde Gespräche und die gemeinsamen Reisen. Hendrik Stary hat die Endfassung der Dissertationsschrift mit viel Sorgfalt und Aufwand redigiert, während Jörg Weiß noch einmal das Buchmanuskript vor der Publikation durchgesehen und dabei noch viele Fehler gefunden, aber auch Kürzungen und stilistische Verbesserungen vorgeschlagen hat. Beiden bin ich zu großem Dank verpflichtet. Die verbliebenen Mängel und inhaltlichen Unklarheiten gehen natürlich auf mein Konto. Matt Mahurin, schließlich, ist dafür zu danken, dass er mir für ein symbolisches Entgelt die Verwendung eines seiner Bilder für das Cover dieses Buches gestattet hat. Dank gebührt auch meiner Familie, die mich immer auf jede erdenkliche Art und Weise unterstützt hat. Zu guter letzt möchte ich noch Sophie Schinko, die mich über mehrere Jahre begleitet hat und mich in dieser Zeit mit dieser Arbeit teilen musste, von ganzem Herzen danken.
Werner Binder, Brno, September 2013
I. Einleitung
Und Charles Graner, Hauptverbrecher im Foltergefängnis von Abu Ghuraib, dokumentierte die Gewaltexzesse seiner Gruppe gleich mit der eigenen Kamera und gab die CDs mit den Fotos aus einer Laune heraus dem Sergeant Darby, der ihn eigentlich nach anderen Bildern gefragt hatte. Darby fertigte eine Kopie an, zeigt sie anderen ‒ und löste einen Weltskandal aus, der selbst den amerikanischen Präsidenten zu so etwas wie einer Entschuldigung nötigte. BERNHARD PÖRKSEN UND HANNE DETEL, MEDIENWISSEN1
SCHAFTLER, DER SPIEGEL, 2. APRIL 2012, S.141
Am 28. April 2004 gelangten Fotografien amerikanischer Soldaten an die Öffentlichkeit, die die Welt schockierten.2 Auf den Bildern war zu sehen, wie irakische Gefangene gedemütigt und zu sexuellen Handlungen gezwungen wurden. Viele der Bilder zeigten die amerikanischen Täter, die sich grinsend und in selbstgefälliger Pose neben den erniedrigten Gefangenen ablichten ließen. Zu allem Überfluss fanden diese Missbrauchsfälle in dem berüchtigten Gefängnis von Abu Ghraib, einem Vorort von Bagdad, statt, in dem schon Saddam Hussein seine politischen Feinde zu foltern pflegte.3 Der Aufschrei in den amerikanischen Medien war entsprechend groß. Journalisten und Kommentatoren beschäftigten sich ausführlich mit den Vor-
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„Kollaps der Kontexte. In der Digital-Ära wird der Kontrollverlust zur Alltagserfahrung –
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Es waren auch weibliche Soldaten an der Entstehung dieser Fotografien beteiligt. In der
und der Skandal allgegenwärtig“, Der Spiegel (14, 2012), S. 140-141. vorliegenden Arbeit wird jedoch – aus Rücksichtnahme auf die Verständlichkeit und den Sprachfluss des Textes – durchgehend die männliche Form verwendet. Es versteht sich von selbst, dass dadurch nicht die zentrale Rolle von Frauen als Tätern, Journalistinnen, Intellektuellen oder Politikerinnen im Abu-Ghraib-Diskurs in Abrede gestellt wird. 3
Im Folgenden wird ‒ abweichend vom einleitenden Zitat ‒ die amerikanische Schreibweise „Abu Ghraib“ verwendet, die sich im Zuge des Skandals weltweit durchgesetzt hat.
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würfen gegen die Soldaten und auch mit den Bildern selbst. Intellektuelle und Wissenschaftler schalteten sich in die Debatte ein. Empörte Bürger wandten sich in Leserbriefen an die Öffentlichkeit und verliehen so ihrer Beschämung über die Taten „ihrer“ Soldaten einen Ausdruck. Sie entschuldigten sich im Namen der Nation und forderten „ihre“ Politiker auf, sich ebenfalls zu entschuldigen. Schnell gaben Militärführung und Regierung der Vereinigten Staaten dem öffentlichen Druck nach, verurteilten die Vorfälle aufs Schärfste und richteten öffentliche Entschuldigungen an die Opfer und das irakische Volk. Es wurden Sondersitzungen des Verteidigungsausschusses des Senates einberufen, in denen die Vorfälle einmütig verurteilt, Vorgesetzte befragt und Verantwortliche zum Handeln aufgerufen wurden. Kurzum: Die Veröffentlichung der Fotografien löste einen Skandal aus, der Mitte Mai 2004 seinen Höhepunkt erreichte, bevor die öffentliche Empörung wieder verebbte. Der Skandal erhitzte die Gemüter und dominierte über Wochen die Medienlandschaft in den Vereinigten Staaten. Abu Ghraib spielte nicht nur in amerikanischen (oder irakischen) Diskursen eine wichtige Rolle, es war ein globales Medienereignis, das in Europa, in den arabischen Ländern und im Rest der Welt mit großem Interesse verfolgt wurde. Zu Recht wurden in dem eingangs zitierten Artikel die Enthüllungen von Abu Ghraib als „Weltskandal“ bezeichnet – und noch einmal jenes Foto gezeigt, das zur „Ikone des Skandals“ wurde. Heute ist der öffentliche Zorn verflogen – auch wenn die Fotografien von Abu Ghraib noch nicht ganz aus dem Bildgedächtnis der Weltgesellschaft verschwunden sind. Die Bush-Administration, in deren Amtszeit die Missbrauchsfälle geschahen und öffentlich wurden, hat ihren Platz schon lange geräumt. Charles Graner, der als letzter Täter von Abu Ghraib im Gefängnis seine Haftstrafe absaß, wurde im August 2011 auf Bewährung entlassen. „Abu Ghraib“ war ohne Zweifel eines der bedeutendsten Ereignisse einer historischen Epoche, ein Symbol des sogenannten „Krieges gegen den Terror“,4 der nach dem 11. September 2001 mit viel Emphase ausgerufen worden war, aber zwischenzeitlich an Bedeutung verloren hat. Die Finanzkrise und ihre Ausläufer, aber auch die Revolutionen in mehreren arabischen Ländern, der sogenannte „Arabische Frühling“, haben den islamistischen Terror in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund gedrängt. Die Amerikaner haben ihre Truppen mittlerweile aus dem Irak abgezogen, ein vorgezogener Abzug aus Afghanistan ist ebenfalls angekündigt. So bedeutsam die Missbrauchsfälle und der anschließende Skandal für Opfer und Täter, für Iraker wie Amerikaner, auch gewesen sein mochten, warum sollte sich ein Soziologe – zumal ein deutscher Soziologe – Jahre später noch mit diesem Ereignis auseinandersetzen? 4
Die offizielle Bezeichnung ‒ unter der Bush-Regierung eingeführt und zu Beginn der Obama-Präsidentschaft wieder abgeschafft ‒ lautet „Global War on Terrorism“. In dieser Arbeit wird die populäre Kurzform „War on Terror“ bzw. deren deutsche Übersetzung zur Kennzeichnung einer historischen Epoche sowie einer politischen Kultur verwendet.
E INLEITUNG
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Es lässt sich schwerlich behaupten, dass „Abu Ghraib“ von wissenschaftlicher Seite zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Insbesondere in den ersten Jahren nach dem Skandal erfreute sich das Thema großer wissenschaftlicher Popularität: Vor allem Aufsätze, aber auch einige Monographien nahmen sich des Themas dankbar an. Bei der Durchsicht der einschlägigen Literatur fällt allerdings auf, dass sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit „Abu Ghraib“ auf die Missbrauchsfälle und die Fotografien konzentriert. Zur Rolle von „Abu Ghraib“ im öffentlichen Diskurs der Vereinigten Staaten, dem Medienskandal, liegen bisher kaum Arbeiten vor – und auch diese beschäftigen sich nur mit den ersten Wochen, was gewisse Einseitigkeiten in der Einschätzung des Skandals und seiner Folgen begünstigt. Für die vorliegende Studie wurden amerikanische Tageszeitungen und Fernsehsendungen aus einem sechsjährigen Zeitraum einer systematischen Analyse unterzogen. Zwar dauerte die „heiße Phase“ des Skandals nur vier Wochen, doch aus dem untersuchten Material wird ersichtlich, dass „Abu Ghraib“ auch in den darauffolgenden Monaten und Jahren immer wieder in unterschiedlichen Kontexten eine Rolle spielte. Die zeitliche Distanz erlaubt es, den Skandal als relativ abgeschlossene Einheit zu untersuchen und seine Langzeitfolgen in den Blick zu bekommen. Außerdem konnte die zwischenzeitlich erschienene Literatur berücksichtigt werden ‒ nicht nur als Forschungsliteratur, sondern auch als Teil des Forschungsgegenstandes. Ohne die Skandalisierung der Missbrauchsfälle lässt sich die Konjunktur des Themas in den Sozial- und Kulturwissenschaften nicht verstehen. Die vorliegende Studie kann somit für sich in Anspruch nehmen, eine wichtige Lücke in der bisherigen Forschung zu „Abu Ghraib“ zu schließen. Für die Literatur zu „Abu Ghraib“ – und das betrifft Arbeiten von Amerikanern und Nichtamerikanern gleichermaßen – ist eine mehr oder weniger starke normative bzw. politische Schlagseite charakteristisch. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn nicht die analytische Schärfe vieler Untersuchungen unter dem moralisierenden Blick auf die Missbrauchsfälle und Skandalbilder zu leiden hätte. Die Funktion moralisierender bzw. politisierender Argumentation in wissenschaftlichen Diskursen liegt auf der Hand: Sie sichert die Zustimmung der Leser und Zuhörer unabhängig vom wissenschaftlichen Ertrag. Eine public sociology, die zu gesellschaftlichen Fragen öffentlich Stellung bezieht, ist durchaus wünschenswert und im gesellschaftlichen Interesse. Nur sollten Sozial- und Kulturwissenschaftler darüber nicht vergessen, dass ihre primäre Aufgabe nicht darin besteht, als öffentlicher Sinnstifter oder politische Kritiker aufzutreten, sondern „wahres“ Wissen zu produzieren. Hierfür ist eine distanzierte Haltung zum Gegenstand nur von Vorteil. Die vorliegende Arbeit bekennt sich zum Prinzip der Werturteilsfreiheit im Sinne Max Webers. Sie versucht, wertende Stellungnahmen zu vermeiden, oder sie zumindest als solche auszuflaggen. Man kann schnell Übereinstimmung darüber erzielen, dass der Missbrauch von Gefangenen oder der Einsatz von Folter „unmoralisch“ oder „illegitim“ sei. Nur ist dies – soziologisch gesehen – nicht besonders
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aufregend. Soziologisch interessant ist hingegen die Frage, wie es unter den Mitgliedern einer Gesellschaft zu einer Übereinstimmung in diesen Fragen kommt – und unter welchen sozialen Bedingungen sich dies ändert. 5 Darüber hinaus gereicht es dieser Studie vermutlich eher zum Vorteil, dass sie nicht von einem Amerikaner durchgeführt wurde. Die kulturelle Distanz zum amerikanischen Diskurs erleichtert die Identifizierung hegemonialer Muster und blinder Flecken einerseits und die Suspendierung moralischer und politischer Fragen andererseits. 6 Diese Distanz bedarf zugleich einer kulturellen Vertrautheit, um Missverständnissen vorzubeugen. Ein gewisses Verständnis der amerikanischen Populär- und Alltagskultur erwies sich daher als unentbehrlich. Mehrere Forschungsaufenthalte in den Vereinigten Staaten machten es möglich, diese Vertrautheit zu vertiefen, und boten darüber hinaus Gelegenheit, die Ergebnisse dieser Studie mit akademischem Publikum, aber auch mit „normalen“ Bürgern, zu diskutieren.7 1. „Abu Ghraib“ als soziales Phänomen – Mikro und Makro Eine soziologische Untersuchung des Abu-Ghraib-Skandals lässt sich alleine schon damit rechtfertigen, dass Skandale als soziale Phänomene in den Gegenstandsbereich der Disziplin fallen. Darüber hinaus lassen sich auch inhaltliche Gründe anführen, die eine soziologische Untersuchung des Abu-Ghraib-Skandals besonders lohnend erscheinen lassen. Genau genommen verbirgt sich hinter dem Kürzel „Abu Ghraib“ ein Komplex unterschiedlicher soziale Phänomene. Grundlegend kann man zwischen den Missbrauchsfällen im irakischen Gefängnis einerseits und dem Skandal im amerikanischen Diskurs andererseits unterscheiden. Bei den Missbrauchsfällen handelt es sich um Mikrophänomene der Gewalt und Erniedrigung, während der Skandal ein Makrophänomen par excellence darstellt.8 Der Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt zwar auf dem öffentlichen Diskurs, dem Abu-Ghraib-Skandal als Makrophänomen, allerdings sollte die Mikroebene des Handelns darüber nicht ver5
Die persönliche Meinung eines einzelnen Soziologen, gesamtgesellschaftlich ohnehin eher irrelevant, ist in einer Analyse öffentlicher Diskurse, wenn schon nicht fehl am Platz, so doch entbehrlich. Gesellschaftlich zählt alleine die öffentliche Meinung, die materiellen und symbolischen Strukturen, die ihr zu Grunde liegen, die sozialen Prozesse, die sie konstituieren, und die kontingenten Ereignisse, die sie beeinflussen.
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So begünstigte das liberale Klima an amerikanischen Universitäten eine kritische Haltung gegenüber der damaligen Bush-Regierung, die sich unter anderem darin äußerte, dass die längerfristigen Konsequenzen des Skandals systematisch unterschätzt wurden.
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Diese Aufenthalte wurden dankenswerterweise von der Yale University und dem Netzwerk für transatlantische Kooperation an der Universität Konstanz gefördert.
8
Zur Mikro-Makro-Unterscheidung vgl. die Ausführungen von James Coleman (1995: 129) und den von Jeffrey C. Alexander, Bernhard Giesen, Neil Smelser und Richard Münch herausgegebenen Sammelband The Micro-Macro Link (1987).
E INLEITUNG
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nachlässigt werden. Diese Mehrebenstruktur des Phänomens deutet auf eine Verschränkung der Mikroebene des Handelns mit der Makroebene öffentlicher Diskurse hin. Wie ist aber dieses Verhältnis zu konzeptualisieren? Es liegt auf der Hand, dass im Fall von Abu Ghraib die Skandalfotografien als Scharnierstelle zwischen den Missbrauchsfällen im irakischen Gefängnis und dem zivilgesellschaftlichen Diskurs der Vereinigten Staaten fungierten. Die vorliegende Untersuchung geht auf Distanz zu radikal-konstruktivistischen Ansätzen, für die allein die makrosoziologische Ebene des Diskurses auschlaggebend ist. Stattdessen interessiert sie sich für die „Übersetzung“ von Phänomenen von der Mikroebene auf die Makroebene – und vice versa. Gerade der Abu-GhraibSkandal zeigt, dass das Handeln von Individuen globale Auswirkungen haben kann – was nicht nur auf die Täter von Abu Ghraib zutrifft, sondern auch auf die anderen Protagonisten des Skandals. Wer die Entstehung des Skandals erforschen will, muss auch die Ursachen der Missbrauchsfälle berücksichtigen. Das Gleiche gilt für die Fotografien aus dem Gefängnis: Diese Studie zeigt, dass es ohne Bilder zu keinem Skandal gekommen wäre. Insofern hat es uns zu interessieren, warum die Täter ihre Missetaten mit ihren Digitalkameras dokumentierten (7.4) und wie diese Bilder schließlich in die Öffentlichkeit gelangten (8.1). Wir gehen aber noch einen Schritt weiter: Nicht die bloße Tatsache, dass Bilder gegeben hat, war für den Verlauf des Skandals entscheidend, sondern ihr spezifischer ikonischer Gehalt. Die Fotografien von Abu Ghraib nehmen hier eine Schlüsselstellung ein, da sie einerseits ein Produkt der Missbrauchsfälle sind, andererseits aber auch für die Rezeption des Skandals maßgeblich waren. Anhand einer Interpretation der Bilder soll eine Rekonstruktion der Missbrauchsfälle erfolgen, die nicht zuletzt Rückschlüsse über den kulturellen Hintergrund und die soziale Funktion der Missbrauchsfälle zulässt. Warum nahmen die Missbrauchsfälle gerade jene Formen an, die auf den Fotos zu sehen sind? Nur wer die Rolle der Kultur im sozialen Leben ernst nimmt und sich nicht von vornherein auf „rationale“ Handlungsmotive festlegt, kann auch scheinbar „sinnlose“ Akte der Demütigung wie die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib verständlich machen und ursächlich erklären. Erst eine kultursoziologische Perspektive kann jene Bedeutungen in den Blick bekommen, die sich in den Erniedrigungsritualen der Soldaten und ihren Bildern manifestierten – und letztendlich den Ausschlag für die öffentliche Empörung gaben. Der Schwerpunkt der vorliegenden Studie liegt nichtsdestotrotz auf der Rezeption der Missbrauchsfälle in der amerikanischen Öffentlichkeit. Es geht in erster Linie darum, die Entstehung des Skandals zu erklären, seinen Ablauf nachzuzeichnen und sein kurz- und längerfristigen Folgen nachzuspüren. Der Brückenschlag zwischen der Mikroebene des Handelns und der Makroebene öffentlicher Diskurse ist eine wichtige Aufgabe der Soziologie. Bei der Transformation von Mikrophänomenen in Makrophänomene handelt es sich nicht um eine simple Aggregation individueller Handlungen, sondern immer auch um eine Selektion vor dem Hintergrund
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überindividueller Strukturen – auch wenn diese erst im Handeln der Akteure ihre Wirksamkeit erlangen. Dies wird unter anderem in der Metapher der „Übersetzung“ von Mikrophänomenen in Makrophänomene deutlich. Das Resultat einer Übersetzung hängt nicht nur von der ursprünglichen Aussage ab, sondern auch von der Logik der Sprache, in die die Aussage übersetzt wird. Die objektive Gestalt der Missbrauchsfälle und Fotografien von Abu Ghraib legten nicht deren Deutung fest ‒ was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass im amerikanischen Diskurs unterschiedliche Deutungen miteinander konkurrierten (8.3) und sich die hegemoniale Deutung der Vorfälle im Verlauf des Skandals veränderte (9.2; 10.1). 2. „Abu Ghraib“ als außerordentlichen Ereignis – Krise und Zäsur Im Folgenden wird die These vertreten, dass der Abu-Ghraib-Skandal nicht nur ein soziales Phänomen neben anderen darstellt, sondern dass es sich um ein „außerordentliches“ Ereignis handelt, das einen privilegierten Zugang zur sozialen Ordnung und zum kulturellen Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft bietet. Für die Soziologie sind außerordentliche Ereignisse von unschätzbarem Wert, weil sie als Indikatoren einer gesellschaftlichen Tiefenstruktur gedeutet werden können. In besonderem Maße trifft dies auf „Krisen“ zu, die als Ereignisse aus dem alltäglichen Rahmen fallen und die geltende Ordnung in Frage stellen. Krisen bieten einen einzigartigen Zugang zur normativen und kulturellen Tiefenstruktur von Gesellschaften. So wird der kulturelle Hintergrund des Handelns und Erlebens in Handlungskrisen sicht- und beobachtbar, wie nicht zuletzt Garfinkels berühmte „Krisenexperimente“ gezeigt haben (1.2.1). Diese Einsicht lässt sich von der Mikrosoziologie auf die Makrosoziologie übertragen. Ein (ernstzunehmender) Skandal ist zugleich eine soziale Krise, die aus der Übertretung einer moralischen Norm resultiert. Skandale machen als „makrosoziale Krisenexperimente“ die moralische Ordnung einer Gesellschaft einer Beobachtung zugänglich – wobei es sich natürlich nicht um Experimente im engeren Sinne handelt, da sie Skandale in aller Regel nicht aus einem soziologischen Erkenntnisinteresse heraus lanciert werden. Skandale erfüllen eine wichtige Funktion für den moralischen Haushalt einer Gesellschaft. Die Übertretung von Normen ist für die Reproduktion einer normativen Ordnung konstitutiv, da eine Norm, die niemals übertreten würde, bald nicht mehr von einer bloßen Gewohnheit zu unterscheiden wäre. So machte erst der Skandal um die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib (wieder einmal) unmissverständlich klar, dass die sexuelle Demütigung von Gefangenen als verwerflich anzusehen ist – selbst wenn den Gefangenen ansonsten kein Haar gekrümmt worden wäre. 9 9
In diesem Sinne stellt das Außerordentliche nicht nur das Gegenteil der sozialen Ordnung dar, sondern kann zu Recht als „Grund der sozialen Wirklichkeit“ (Giesen 2010) bezeichnet werden. Genau genommen handelt es sich um zwei Seiten derselben Medaille: Wie jede soziale Ordnung auf dem Außerordentlichen beruht, so kann auch ein außeror-
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Der Abu-Ghraib-Skandal als soziale Krise wirft darüber hinaus die Frage auf, was die kollektive Empörung angesichts der publik gewordenen Missbrauchsfälle über den kulturellen Hintergrund und die nationale Identität der Amerikaner aussagt. So hatte der Abu-Ghraib-Skandal eine Krise, wenn auch keine Revision, des positiven amerikanischen Selbstbildes zur Folge (8.2). Außerordentliche Ereignisse tragen nicht immer zu einer Reproduktion der sozialen Ordnung bei, sondern können auch die Tiefenstruktur einer Gesellschaft nachhaltig verändern. Ein Ereignis, das sich durch besondere Wirkmächtigkeit auszeichnet und einen historischen Einschnitt markiert, kann als „Zäsur“ bezeichnet werden. Zäsuren markieren Übergänge zwischen kulturellen Formationen. Inwieweit lässt sich der Abu-Ghraib-Skandal als Zäsur verstehen? Von einer Zäsur könnte man dann sprechen, wenn der Skandal – über einzelne institutionelle Veränderungen hinaus – zu einem tiefgreifenden und nachhaltigen Wandel der amerikanischen Gesellschaft geführt hat. Um dieser Frage nachgehen zu können, soll zunächst einmal der Versuch unternommen werden, die Ereignishaftigkeit und Wirkmächtigkeit von Ereignissen zu operationalisieren. In einigen Bereichen der Sozialwissenschaft haben sich Verfahren durchgesetzt, die die Produktion wissenschaftlicher Wahrheit an die Prüfung von Hypothesen knüpfen. In einer historisch verfahrende Soziologie, der es nicht in erster Linie um die Bestätigung oder Widerlegung von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhängen, als vielmehr um die Erklärung von historischen Phänomenen geht, lässt sich ein solches Verfahren nur bedingt anwenden. Trotzdem lässt sich eine zentrale Fragestellung dieser Untersuchung mithilfe zweier entgegengesetzter Hypothesen schärfer formulieren. Die Minimalhypothese lautet: Der Abu-GhraibSkandal hat zu keinen nennenswerten Veränderungen geführt. Die komplementäre Maximalhypothese lautet: Der Abu-Ghraib-Skandal war ein außerordentliches Ereignis, nach dem nichts mehr so war wie zuvor. Es versteht sich von selbst, dass beide Hypothesen für sich genommen unrealistisch sind. Die Minimalhypothese wäre ein Nichtereignis, während der Maximalhypothese ein absolutes, unüberbietbares Ereignis entspräche. Das soziologische Narrativ, das im Folgenden entfaltet wird, bewegt sich zwischen diesen beiden Polen und wird die Wirkmächtigkeit des Skandals in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht spezifizieren müssen. Während das „absolute“ Ereignis den Dreh- und Angelpunkt der Geschichte darstellt, handelt es sich bei „gewöhnlichen“ Zäsuren um Übergange und Wendepunkte historischer Epochen. Als empirische Näherungsgröße für die Maximalhypothese bietet sich der 11. September 2001 an. Ohne Zweifel markierte der Anschlag auf das World Trade Center in New York eine Zäsur, die vielerorts als Me-
dentliches Ereignis nur vor dem Hintergrund einer fraglos unterstellten Ordnung in Erscheinung treten. Sozialen Ordnung und Außerordentliches sind komplementär.
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netekel für das 21. Jahrhundert gedeutet wurde. 10 Gleichwohl muss im Rückblick konstatiert werden, dass die Bedeutung von „9/11“ überschätzt wurde. Ob sich ein Ereignis als Zäsur beschreiben lässt, hängt zum einen von den antizipierten und zum anderen von den tatsächlichen Folgen dieses Ereignisses ab. Die Anschläge vom 11. September 2001 hatten gravierende institutionelle und kulturelle Veränderungen zur Folge: die Enttabuisierung von Folter, die Durchführung und Legitimierung von „Angriffskriegen“, die Errichtung des exterritorialen Gefangenenlagers in Guantanamo Bay, Kuba, um nur einige von ihnen zu nennen (6.4-5). Dieser Untersuchung liegt die Annahme zu Grunde, dass der Abu-GhraibSkandal als ein gegenläufiges Ereignis zum 11. September 2001 betrachtet werden kann: Die Geschehnisse in Abu Ghraib stellten Lehren in Frage, die aus 9/11 gezogen wurden. Gesetzt den Fall, dass beide Ereignisse gegenläufig aufeinander bezogen sind, bietet sich der 11. September 2001 als ein Vergleichsmaßstab an, um die Ereignishaftigkeit und Wirksamkeit des Abu-Ghraib-Skandals zu bestimmen. Die Maximalhypothese träfe zu, wenn der Skandal die Wirkungen von 9/11 zunichtegemacht oder gar übertroffen hat. Hatte der Abu-Ghraib-Skandal keinerlei Einfluss auf den „Krieg gegen den Terror“, so wäre die Minimalhypothese bestätigt.11 Neben der schieren Wirkmächtigkeit von Ereignissen ist auch die Reichweite ihrer Wirkungen von Interesse. Ein Ereignis geschieht meist in einem bestimmten Bereich der Gesellschaft, kann aber von dort aus gegebenenfalls auf andere gesellschaftliche Bereiche übergreifen. War die Wirkung des Abu-Ghraib-Skandals auf wenige Bereiche der Gesellschaft beschränkt oder entfaltete sich seine Wirksamkeit grenzüberschreitend? In anderen Worten: Handelt es sich bei Abu Ghraib um ein „totales soziales Phänomen“?12 Ein „totales soziales Phänomen“ in dem hier ver10 Dem Thema „9/11 als Zäsur“ wurden in den letzten Jahren mehrere kulturwissenschaftlich ausgerichtete Sammelbände gewidmet (Poppe et al. 2009; Schüller & Seiler 2010). 11 Wie eine mögliche Korrektivfunktion des Skandals aussehen könnte, lässt sich am Beispiel der Folterdebatte illustrieren. Im Zuge des Krieges gegen den Terror wurde nicht nur das moderne Tabu der Folter öffentlich in Frage gestellt, sondern auch die Zulässigkeit von Verhörtechniken enorm ausgeweitet (6.4). Diese Konsequenzen von 9/11 lassen sich als tiefgreifender Wandel der moralischen Ordnung und des kulturellen Hintergrundes beschreiben, der durch ein außerordentliches Ereignis bzw. die Rahmung von 9/11 als einem außerordentlichen Ereignis herbeigeführt wurde. Diese Studie wird der Frage nachgehen, inwieweit der Abu-Ghraib-Skandal zu einer Restauration der moralischen Ordnung geführt hat. Auch wenn die Vorfälle von Abu Ghraib nicht als „Folter“, sondern „nur“ als „Missbrauch“ gerahmt wurden, könnte der Abu-Ghraib-Skandal zu einer Veränderung der kulturellen Tiefenstruktur der amerikanischen Gesellschaft geführt haben, die wiederum einen indirekten Einfluss auf die Folterdebatte gehabt haben könnte (10.4). 12 Der Begriff stammt aus Marcel Mauss’ Essay über die „Gabe“ (1990), die von ihm als „totales soziales Phänomen“ charakterisiert wird.
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wendeten Sinne bleibt nicht auf einen gesellschaftlichen Teilbereich – wie die Politik oder die Wissenschaft – beschränkt, sondern überschreitet gesellschaftliche Systemgrenzen. Gerade öffentliche Diskurse scheinen besonders prädestiniert dafür zu sein, als Mittler zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen und Diskursen zu fungieren. Daraus ergeben sich folgende Forschungsfragen: In welchen Diskursen wird Abu Ghraib zum Thema gemacht, in welchen Zusammenhängen werden die Bilder zitiert oder die Missbrauchsfälle als Metapher verwendet? Dies macht eine Auseinandersetzung mit politischen und rechtlichen Entscheidungen notwendig, die scheinbar nichts mit den Missbrauchsfällen zu tun haben, aber dennoch im Diskurs zu Abu Ghraib auftauchen. Andere gesellschaftliche Teilbereiche, in denen ein Einfluss von Abu Ghraib vermutet werden darf, sind Kunst (9.4) und Populärkultur (10.3), aber auch die akademische Folterdebatte (10.4). Sollte sich Abu Ghraib als „totales soziales Phänomen“ erweisen, müssten bestimmte Theorien der funktionalen Differenzierung (z.B. Luhmanns Systemtheorie) überdacht und gegebenenfalls erweitert werden. Der kultursoziologische Ansatz dieser dieser Studie legt die Existenz eines gesellschaftlich geteilten kulturellen Hintergrundes nahe, der seine Wirkung auch über Systemgrenzen hinweg entfaltet. Ziel der Untersuchung ist die Erklärung des Abu-Ghraib-Skandals in seinem „geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordensein“ (Weber). Nicht nur die Auswahl des empirischen Materials, sondern auch die theoretischen Ausführungen wurden – obwohl sie für sich eine gewisse Eigenständigkeit beanspruchen – diesem Zweck untergeordnet. Sie gliedert sich in einen theoretisch-begrifflichen Teil und einen historisch-empirischen Teil, die beide jeweils fünf Kapitel umfassen. Theorie und Empirie sind wechselseitig aufeinander bezogen: Die theoretischen Konzepte wurden mit Blick auf das empirische Datenmaterial entworfen und diesem sukzessive angepasst; das empirische Material war mit theoretischen Begrifflichkeiten zu durchdringen und die theoretischen Begriffe empirisch zu sättigen. 3. Theoretisch-begrifflicher Teil – Handlung, Kultur und Öffentlichkeit Der Theorieteil führt in die begrifflichen Grundlagen der empirischen Studie ein, aber ist zugleich als ein eigenständiger Beitrag zur soziologischen Theoriebildung zu verstehen. Dieser Untersuchung liegt die Annahme zu Grunde, dass menschliches Wahrnehmen, Denken und Handeln in einen Horizont von Sinn und Bedeutung eingebettet ist, der sich dem Bewusstsein der beteiligten Akteure entzieht. Dieser „Hintergrund“ des Handelns und Erlebens – und dies macht ihn für Soziologen interessant – variiert mit der Gruppenzugehörigkeit der Akteure, aber auch von Gesellschaft zu Gesellschaft. Der sozial geteilte Sinnhorizont einer Gruppe ist ihre „Kultur“. Im Gegensatz zu konkurrierenden Ansätzen in der Soziologie, die individuelles Handeln durch subjektiven Sinn (z.B. Interessen) oder durch objektive Strukturen (z.B. Klassenlage) erklären wollen, lässt sich diese Studie einem kultursoziologischen Unternehmen zuordnen, das Sinn und Kultur als irreduzible Phäno-
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mene und autonome Faktoren berücksichtigt.13 Der kulturelle Hintergrund von sozialen Gruppen oder ganzen Gesellschaften ist dabei durch und durch historisch. Kultur fungiert als ein „historisches Apriori“ (Foucault), das dem Handeln der Akteure wie auch den gesellschaftlichen Diskursen zu Grunde liegt. In den letzten Jahren erfreut sich der Begriff der „Kultur“ einer steigenden Beliebtheit, wovon nicht zuletzt die Konjunktur der cultural studies zeugt. Kultur ist allerdings viel zu wichtig, um sie den cultural studies überlassen ‒ zumal die Soziologie auf eine lange kultursoziologische Theorietradition zurückblicken kann. Heute ist eine Soziologie, die sich in systematischer Weise mit den kulturellen Grundlagen des Sozialen beschäftigt, nötiger den je. Ein Mangel der gegenwärtigen Kultursoziologie liegt unter anderem darin, dass es ihr bisher nicht gelungen ist, an die Debatten zur soziologischen Handlungstheorie anzuknüpfen. Auch wenn nahezu alle Kultursoziologen davon ausgehen, dass „Kultur“ einen Einfluss auf menschliches Handeln besitzt, erfolgt doch selten eine Spezifizierung der Wirksamkeit der Kultur im Handeln.14 Auch wenn sich der empirische Teil überwiegend auf der Makroebene des öffentlichen Diskurses bewegt, darf nicht unterschlagen werden, dass sich Diskurse aus Aussagen zusammensetzen, die von Akteuren artikuliert werden. Die Konzeption des „kulturellen Hintergrundes“, die zu Beginn entworfen wird, macht nicht nur die „kulturelle Verfassung des Handelns“ (Giesen) verständlich, sondern stellt auch eine Erklärung in Aussicht, wie kulturelle Prinzipien in öffentlichen Diskursen wirksam werden können. Im ersten Kapitel werden zunächst bewusstseinstheoretische Grundlagen des Handelns diskutiert und drei Modelle von Handlungsintentionalität vorgestellt, die sich jedoch alle als unzureichend erweisen (1.1). Im Rückgriff auf neuere philosophische Debatten wird dann eine Unterscheidung zwischen der „Intentionalität“ des Bewusstseins und dem „vorintentionalen“ Hintergrund des Handelns eingeführt. Der „kulturellen Hintergrund“ des Handelns und Erlebens (1.2) bezeichnet jenen Teil des vorintentionalen Hintergrundes, der mit der jeweiligen sozialen Zugehörigkeit variiert. Die Tatsache, dass intentionales Handeln immer in einen vorintentionalen bzw. kulturellen Hintergrund eingebettet ist, erlaubt es uns, zu verstehen, wie 13 Der hier vertretene Ansatz folgt in weiten Teilen dem „strong program in cultural sociology“, das von Jeffrey C. Alexander und Philip Smith in einer programmatischen Streitschrift eingefordert wurde (2003). 14 Die wenigen kultursoziologischen Ansätze, die eine Brücke zwischen „Handeln“ und „Kultur“ zu schlagen versuchen, weisen teils erhebliche Mängel auf: Oft gehen sie von einem instrumentellem Verhältnis zwischen Handlung und Kultur aus (Swidler 1986), oder sie verabschieden den Handlungsbegriff zu Gunsten einer „oberflächlichen“ Praxistheorie (Reckwitz 2006/2000). Selbst bei dem derzeit attraktivsten Theorieangebot, Bourdieus „Habitus“ (1982, 1999), handelt es sich letztlich um eine Blackbox, die – will man zu einem angemessenen Handlungsverständnis gelangen – geöffnet werden muss.
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Kultur immer schon im Handeln wirksam ist. Darüber hinaus wird vorgeschlagen, den kulturellen Hintergrund als komplementäres Verhältnis einer symbolischen Ordnung, die auf binären Codes und Programmen basiert, und eines sozialen Imaginären, das eine diffuse, aber unhintergehbare Voraussetzung einer Zuweisung von Codewerten darstellt, zu begreifen (1.3). Das zweite Kapitel ist den elementaren Formen kultureller Repräsentation, dem Bild (2.1), der Erzählung (2.2) und der Performanz (2.3), gewidmet. In zweifacher Hinsicht sind diese kulturelle Formen von Bedeutung: Einerseits handelt es sich bei ihnen um Handlungen bzw. um Produkte von Handlungen; andererseits stehen sie auch für kulturelle Hintergrundmuster, die dem Erleben und Handeln von Akteuren zu Grunde liegen. Ikonische, narrative und performative Muster sind Bestandteile eines sozialen Imaginären, das als kultureller Hintergrund das Handeln von Akteuren präfiguriert und öffentliche Diskurse strukturiert. Der Fall Abu Ghraib ist vorzüglich geeignet, um den Gebrauch dieser kulturellen Formen näher zu untersuchen: Die ikonischen Sinngehalte der Fotografien spielten bei der Rezeption der Missbrauchsfälle eine wichtige Rolle (7.5; 8.1.2); die kulturelle Rahmung der Missbrauchsfälle erfolgte anhand von narrativen Strukturen (8.3); schließlich muss auch den Performanzen der Täter von Abu Ghraib (7.4) und der Diskursteilnehmer (z.B. 8.2) eine eigenständige Wirksamkeit zugesprochen werden. Die übrigen theoretischen Kapitel behandeln unterschiedliche soziale Phänomene, die im empirischen Teil eine wichtige Rolle spielen. So werden im dritten Kapitel die Begriffe „Macht“ und „Gewalt“ (3.1), „Ehre“ und „Würde“ (3.2), „Erniedrigung“ und „Folter“ (3.3) diskutiert, um ein Licht auf die performative Dimension von Macht, auf die transgressive Eigenlogik der Gewalt sowie auf Missbrauch und Folter als Formen der Entwürdigung zu werfen. Im vierten Kapitel folgt eine soziologische Betrachtung der Phänomene „Moral“ (4.1) und „Öffentlichkeit“ (4.2), die in der „öffentlichen Moral“ als einem Produkt zivilgesellschaftlicher Diskurse (4.3) kulminiert. Das daran anknüpfende fünfte Kapitel skizziert eine kultursoziologische Skandaltheorie, die einerseits gesellschaftlichen Funktionen und Folgen von Skandalen herausarbeitet (5.1-2), andererseits ein allgemeines Verlaufsschema entwickelt, das Einsatzpunkte für das Handeln einzelner Akteure markiert, aber zugleich der Offenheit des Skandals als einem sozialen Prozess mit ungewissem Ausgang Rechnung trägt (5.3). Dieses Verlaufsschema dient dann im empirischen Teil als interpretative Folie für die Analyse des Abu-Ghraib-Skandals. 4. Historisch-empirischer Teil – Analyse des Abu-Ghraib-Skandals Der empirische Teil gliedert sich in eine Darstellung der Vorgeschichte von Abu Ghraib, in eine Interpretation der einschlägigen Skandalbilder und eine Analyse des Skandals als öffentlichem Diskurs. Während sich das siebte Kapitel der Interpretation von einschlägigen Fotografien aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis widmet, fußen die letzten drei Kapitel auf einer Analyse der amerikanischen Medienlandschaft.
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Das jeweilige Datenmaterial – Bilder auf der einen und Texte auf der anderen Seite – macht unterschiedliche Herangehensweisen erforderlich, über die an Ort und Stelle Rechenschaft abzulegen ist. Allgemein lässt sich das methodische Vorgehen als „dichte Beschreibung“ (Geertz) und „narrative Rekonstruktion“ (Alexander) charakterisieren. Eine dichte Beschreibung versucht die Bedeutung einer Situation für die beteiligten Akteure zu erfassen und stellt immer eine Interpretation dar. Im Kontext des hier aufgespannten kultursoziologischen Rahmens darf sie sich allerdings nicht damit begnügen, die intentionalen Sinnzuschreibungen der Akteure sichtbar zu machen, sondern hat auch jene vorintentionalen Sinnhorizonte freizulegen, die für die Akteure unzugänglich sind. Die Anwendung dieser Methode stellt insofern ein Wagnis dar, als sich kulturelle Hintergründe weder „objektiv“ messen noch „persönlich“ abfragen lassen; vielmehr müssen sie indirekt ‒ und das heißt: interpretativ ‒ erschlossen werden. Die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen interpretativen Methoden hängt von dem zu untersuchenden Gegenstand ab. Auch wenn Bilder, Texte und Handlungen unterschiedliche Interpretationstechniken erfordern, dienen sie ein- und demselben Erkenntnisinteresse: Immer geht es um die Rekonstruktion der Bedeutung, die sich in einem sozialen Akt oder einem kulturellen Artefakt manifestiert. Während sich die Bildanalyse im siebten Kapitel an kunstgeschichtlichen Vorbildern orientiert, versteht sich die Diskursanalyse, die in den letzten drei Kapitel zum Einsatz kommt, als eine narrative Rekonstruktion des AbuGhraib-Skandals – eine soziologisch informierte Erzählung, die den Verlauf des Skandals und seiner Ausläufer darstellen und theoretisch durchdringen will. Das sechste Kapitel, die historische Exposition, stellt den Auftakt zur eigentlichen Analyse des Skandals dar. Der Abu-Ghraib-Skandal lässt sich nur in seinem historischen Kontext, das heißt vor dem Hintergrund des „Krieges gegen den Terror“, verstehen, der als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 erfolgte. Die Geschichte dieses „Krieges“ und des Abu-Ghraib-Skandals lässt sich bis zum Zweiten Weltkrieg zurückverfolgen (6.1), der im nationalen Gedächtnis als „good war“ verankert ist und die Kriegsnarrative in den Vereinigten Staaten bis heute prägt. Demgegenüber bildet die nationale Tragödie des Vietnamkrieges den ambivalenten und „unreinen“ Gegenpol (6.2). Die öffentlich umstrittene Deutung des Vietnamkrieges spaltete den amerikanischen Diskurs in zwei Lager, was sich auch in der Rezeption des Abu-Ghraib-Skandals bemerkbar machte (vgl. 8.3; 8.5.3). Darüber hinaus weist Vietnam mit seinen fotografischen Ikonen und dem My-Lai-Massaker erstaunliche Parallelen zu Abu Ghraib auf. Schließlich sind auch die Vorgeschichte des Abu-Ghraib-Gefängnisses unter Saddam Hussein und der Golfkrieg von 1991 von entscheidender Bedeutung (6.3). Wie bereits erwähnt, stellt der Krieg gegen den Terror eine historische Epoche dar, die mit dem 11. September 2001 einsetzte und zu institutionellen und kulturellen Veränderungen führte (6.4). Der kulturelle Wandel im Zuge von 9/11 war für die narrative Rahmung des späteren Irakkrieges, in dessen Zuge es zu den Missbrauchsfällen kam, von großer Be-
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deutung (6.5). Erst die bröckelnde Legitimation des Krieges, die ambivalenten Bemühungen, mit dem Erbe von Saddam Hussein aufzuräumen, sowie die ausbleibende Befriedung des Iraks schufen die Bedingungen für die Entstehung der Missbrauchsfälle und den kulturellen Resonanzboden für die Wirkung des Skandals. Das siebte Kapitel widmet sich der Interpretation und Diskussion der einschlägigen Fotografien aus Abu Ghraib. Entscheidend ist, dass sich in den Bildern Sinngehalte objektiviert haben, die einerseits eine Rekonstruktion der Vorfälle ermöglichen, andererseits aber auch Ansatzpunkte für eine Erklärung der öffentlichen Wirkung dieser Bilder bieten. Die hier angewandte kultursoziologische Methode der Bildinterpretation orientiert sich im Wesentlichen an der Ikonologie von Erwin Panofsky. Die Interpretation der Skandalbilder (7.1-3) ist unabdingbar für die Rekonstruktion der Missbrauchsfälle (7.4), die auch offiziellen Armeeberichte und andere Quellen heranzieht, und die Freilegung von Rezeptionsmustern (7.5), die im öffentlichen Diskurs eine Rolle spielten. Die Analyse des amerikanischen Diskurses zu Abu Ghraib erfolgte anhand von Artikeln der New York Times, der Washington Post, der USA Today und des Wall Street Journal sowie Transskripten der amerikanischen Sender CNN, MSNBC, Fox News und CBS. Über einen Zeitraum von sechs Jahren, von Anfang 2004 bis Ende 2009, wurden alle Artikel und Transkripte berücksichtigt, die als Treffer bei LexisNexis mit dem Suchbegriff „Abu Ghraib“ angezeigt wurden. Ergänzend wurde auch auf Magazine wie den New Yorker sowie auf Bücher, Filme und Dokumentationen zurückgegriffen, die im Material in Zusammenhang mit Abu Ghraib genannt wurden. Die durchgeführte Diskurs- und Medienanalyse knüpft an die theoretischen Überlegungen zu symbolischen Ordnungen, dem sozialen Imaginären und zivilgesellschaftlichen Diskursen an. So wurde der Diskurs vor allem im Hinblick auf seine binäre Struktur, Schlüsselmetaphern und implizite Narrative untersucht. Die Frage nach den Wirkungen des Abu-Ghraib-Skandals stellt sich in doppelter Weise: Einerseits kann nach den unmittelbaren Wirkungen des Skandals gefragt werden, andererseits kann man auch versuchen, die längerfristigen Auswirkungen des Abu-Ghraib-Skandals in den Blick zu bekommen. In der frühen Phase des Skandals (bis Ende 2004) kann die ‒ bei amerikanischen Liberalen bis heute verbreitete ‒ Vorstellung, dass der Abu-Ghraib-Skandal in weiten Teilen folgenlos geblieben war, 15 zunächst einige Plausibilität für sich in Anspruch nehmen. Im achten Kapitel soll auf Basis des empirischen Materials der Frage nachgegangen werden, welche Mechanismen bei der Bewältigung des Skandals zum Greifen kamen (8.2), welche Ereignisse ein Abflauen des Skandals begünstigten (8.4.2-3), und warum es den Demokraten im Wahlkampf nicht möglich war, den Skandal zu ihren Gunsten zu nutzen (8.5.3). Bei der vorläufigen Bewältigung des Skandals spielten Bilder 15 So z.B. Mark Danner: „Frozen Scandal“, New York Review of Books 55 (19), 4. Dezember 2008, S. 26-28.
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(8.4), Narrative (8.3.1) und Performanzen (8.2.2) eine entscheidende Rolle. Die längerfristigen Folgen des Skandals, die mittlere und späte Phase, werden dann im neunten und zehnten Kapitel genauer betrachtet. In der zweiten Amtszeit der BushAdministration kam es zu einem Wechsel im politischen Klima, der – so die These – als eine Spätfolge des Abu-Ghraib-Skandals aufgefasst werden muss. Im Datenmaterial finden sich Hinweise auf politische und rechtliche Folgen des Abu-GhraibSkandals, seine Rezeption in der Kunst (9.4), aber auch seine Wirkung auf die Populärkultur (10.3) und die Folterdebatte (10.4). Abschließend ist dann noch einmal auf die Politik der Obama-Administration einzugehen und zu diskutieren, inwieweit sie eine Kehrtwende zur Vorgängerregierung darstellt (10.5).
II. Theoretisch-begrifflicher Teil
1. Kulturelle Grundlagen des Handelns und Erlebens
Dieses einleitende Kapitel verfolgt das Ziel, die Analyse des Abu-Ghraib-Skandals in einen handlungstheoretischen und kultursoziologischen Rahmen einzubetten. Trotz einiger wegweisender Arbeiten ist immer noch unklar, wie sich kulturtheoretische Erklärungen in den Diskussionszusammenhang der soziologischen Handlungstheorie einfügen lassen.1 Zur Klärung dieses Verhältnisses ist zunächst die Relevanz von intentionalen Bewusstseinsmodellen aufzuzeigen und eine Typologie von Bewusstseinszuständen zu entwickeln (1.1.1-2). Im Anschluss daran werden drei verbreitete Modelle von Handlungsintentionalität diskutiert und deren Grenzen ausgelotet (1.1.3-5). Im nächsten Schritt wird gezeigt, dass die Einbettung von intentionalen Zuständen in einen vorintentionalen Hintergrund nicht nur notwendig, sondern auch handlungstheoretisch relevant ist (1.2.1). Es folgt eine kurze Auseinandersetzung mit ausgewählten Alternativen zu dem hier vorgeschlagenen Dualismus von intentionalem Akt und vorintentionalem Hintergrund (1.2.2) sowie einige Überlegungen zu kausalen Erklärungen und sozialen Mechanismen in der Kultursoziologie (1.2.3). Abschließend folgt eine Konzeption des kulturellen Hinter1
So wies Jeffrey C. Alexander schon früh darauf hin, dass Kultur als interne Umwelt des Handelns zu berücksichtigen sei (1988). Auch in dem mit Philip Smith verfassten Plädoyer für eine „starke“ Kultursoziologie wird dieser Anspruch erneuert (2003), obgleich in den empirischen Arbeiten der beiden Autoren nicht wirklich eingelöst. Ann Swidlers Modell von Kultur als Repertoire oder „toolkit“ lässt ebenfalls viele Fragen offen (1986), wie die Autorin in der theoretischen Rekapitulation ihres jüngsten Buches freimütig gesteht (2005: 181-213). In der neueren deutschen Soziologie hat Andreas Reckwitz einen bedeutenden Beitrag zur kulturtheoretischen Handlungserklärung geleistet (2003, 2006/2000), der allerdings den von ihm erhobenen Erklärungsansprüchen schwerlich gerecht wird (vgl. 1.2.2). Eine kritische Auseinandersetzung mit Clemens Kroneberg (2011), der sich aus einer Rational-Choice-Perspektive an einer Synthese von Kultur und Handeln versucht, kann in dieser Arbeit leider nicht stattfinden – soll aber nachfolgen.
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grundes als komplementärem Verhältnis von symbolischer Ordnung (1.3.1-2) und sozialem Imaginären (1.3.3). Abschließend soll die begriffliche Trias von „Symbolischem“ und „Imaginärem“ durch das „Reale“ vervollständigt (1.3.4) und am Phänomen des kulturellen Traumas verdeutlicht werden (1.3.5). Die folgenden Überlegungen zielen lediglich auf eine Verortung kultursoziologischer Erklärungen in aktuellen philosophischen und soziologischen Diskursen ab. Eine handlungstheoretische Begründung der Kultursoziologie würde den Rahmen dieser Studie sprengen.
1.1 I NTENTIONALITÄT
UND
H ANDLUNG
Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich verstehen will. MAX WEBER, SOZIOLOGISCHE GRUNDBEGRIFFE (1988/1921: 542; 2002/1921-22: 1)
Max Webers klassische Definition der Soziologie ist auch noch heute ein Dreh- und Angelpunkt für das Selbstverständnis der Disziplin. Ihr zufolge unterscheidet sich das Handeln eines Akteurs vom bloßen körperlichen Verhalten durch den subjektiv gemeinten Sinn, den der Handelnde mit seiner Handlung verbindet. Handeln lässt sich, so Weber, nur im Rekurs auf Bewusstsein und Bedeutung verstehen, was ihn gerade für kultursoziologische Ansätze interessant macht. Dennoch gehen die folgenden Überlegungen davon aus, dass diese vielzitierte Definition nicht als das letzte Wort in Sachen soziologischer Handlungstheorie gelten kann. So ist Webers Eingrenzung des Gegenstandsbereichs der Soziologie auf „soziales Handeln“, das sich am Verhalten anderer Akteure orientiert (2002/1921-22: 1, 11f.), bestenfalls missverständlich. Schließlich geht es den meisten Soziologen um die soziale Bedingtund Verfasstheit jedweden Handelns, beispielsweise durch Sozialisation und Kultur. Es gibt kein Handeln, das in diesem Sinne nicht schon durch und durch „sozial“ wäre. Bei näherer Betrachtung erweist sich auch der Begriff des subjektiv gemeinten Sinns als fragwürdig (im besten Sinne des Wortes). Weber hält, trotz der von ihm selbst gesehenen Schwierigkeiten, an einem subjektbezogenen Sinnbegriff fest – auch wenn der tatsächliche Sinn der Akteure der Psychologie und der Geschichte vorbehalten bleiben soll. Soziologen werden hingegen angehalten, sich auf den typischen Sinn des Handelns zu beschränken, der letztendlich auf Zuschreibung beruht. Webers verstehende Soziologie changiert zwischen einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, der es um einfühlendes Erleben in das Bewusstsein der Anderen geht (vgl. Dilthey 1981), und einem neukan-
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tianisch inspirierten Konstruktivismus, der Verstehens nur als Zuschreibung eines Beobachters begreifen kann.2 Die bei Weber angedeutete Zwischenlage der Soziologie, zwischen Hermeneutik und Konstruktivismus, scheint fruchtbarer als die jeweilige reine Lehre zu sein. Es spricht grundsätzlich nichts dagegen, den subjektiven Sinn einer Handlung oder auch mentale Dispositionen für eine soziologische Handlungserklärung heranzuziehen. Die Soziologie darf das menschliche Bewusstsein nicht den Philosophen und Kognitionswissenschaftlern überlassen, sondern sollte deren Erkenntnisse für die eigene Theoriebildung nutzen. Im Rahmen der hier vorgeschlagenen kultursoziologischen Handlungstheorie, die bei den vorintentionalen Strukturen des Bewusstseins ansetzt, erweist sich der subjektive Sinnbegriff von Weber als unzureichend. So findet sich in seinen Schriften kein ausgearbeiteter Begriff eines objektiven bzw. objektivierten Sinns, der sozusagen „hinter dem Rücken“ des individuellen Bewusstseins seine Wirkung entfaltet. 3 In der klassischen wie auch in der neueren Soziologie gibt es alternative Sinnbegriffe, die auch diese Sinndimension erfassen, so der „dokumentarische Sinn“ in Mannheims Wissenssoziologie (2009: 40-60), der „latente Sinn“ in der objektiven Hermeneutik (Oevermann 1986) und natürlich der „soziale Sinn“ des Habitus (Bourdieu 1999). Eine hermeneutisch verfahrende Sozialwissenschaft bleibt auf die Rekonstruktion des subjektiven wie auch des objektiven Sinns angewiesen. Eine solche Rekonstruktion von Sinn stellt immer eine wissenschaftliche Konstruktion und damit eine Sinnzuschreibung des jeweiligen Beobachters dar. Trotzdem bleibt eine Auseinandersetzung mit den bewusstseinstheoretischen Grundlagen des Erlebens und Handelns unabdingbar. 1.1.1 Kognitive und affektive Modi der Intentionalität Im Folgenden sollen philosophische Einsichten in die Struktur des menschlichen Bewusstseins für die soziologische Handlungstheorie fruchtbar gemacht werden. In der Philosophie herrscht mittlerweile ein breiter Konsens darüber, dass „Intentionalität“ als zentrales Merkmal des Bewusstseins anzusehen ist. Seit den grundlegenden Arbeiten von Brentano und Husserl, steht der Begriff der „Intentionalität“ in der Philosophie des Geistes für die Bezogenheit von Bewusstseinsakten (noesis) auf 2
Dass hier der Neukantianer überwiegt (so auch Schluchter 2006: 197-233) zeigen nicht
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In diesem Zusammenhang ist die Debatte über „Transintentionalität“ interessant, wo
zuletzt Webers methodischen Überlegungen zum Idealtypus (1988/1904: 161-214). nichtintendierte Folgen absichtsvollen Handelns und vergleichbare soziale Prozesse, die ebenfalls „hinter dem Rücken“ der Akteure ablaufen, in theorievergleichender Absicht diskutiert werden (Greshoff et al. 2003). Die Eigenmächtigkeit des Sozialen zeigt sich aber schon im Vorfeld des Intentionalen, wie in einem Beitrag von Wolfgang Ludwig Schneider deutlich wird (2003: 466-468). Ein Theorievergleich zur „Subintentionalität“ steht noch aus, wenngleich diese Arbeit dazu erste Anstöße geben will (1.2-3).
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Bewusstseinsinhalte (noema). Dieser philosophische Begriff der Intentionalität schließt zwar unser alltägliches Verständnis von Absichten bzw. Intentionen ein, geht aber nicht vollständig darin auf. In der philosophischen Terminologie zeichnen sich auch die Bewusstseinszustände des Fühlens und Vorstellens durch Intentionalität aus. Man kann nicht ein Gefühl haben, ohne etwas zu fühlen, ebenso wenig eine Vorstellung haben, die nicht Vorstellung von etwas wäre. Intentionalität lässt sich durch einige wenige Unterscheidungen in eine Vielfalt von Bewusstseinsakten auffächern und systematisieren. So können wir Handlungsintentionalität beispielsweise von der Intentionalität anderer Bewusstseinszustände unterscheiden; die Intentionalität des Bewusstseins lässt sich in kognitive und affektive Zustände unterteilen; zudem kann es intentionale Bewusstseinszustände und Handlungsintentionen sowohl in einem individuellen als auch in einem kollektiven Modus geben (1.1.2). Intentionalität des Bewusstseins bedeutet zunächst nichts anderes als seine Bezogenheit auf Bewusstseinsinhalte bzw. intentionale Gehalte. Kognitive Bewusstseinszustände beziehen sich auf eine als objektiv wahrgenommene Außenwelt, affektive Bewusstseinszustände stehen in Bezug zu einer subjektiv empfundenen Innenwelt, der inneren Umwelt des Handelns.4 Beispiele für kognitive Bewusstseinszustände sind Wahrnehmungen, Überzeugungen und Erwartungen, während es sich bei Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen um affektive Bewusstseinszustände handelt. Der Philosoph John Searle hat in seinen Schriften darauf aufmerksam gemacht (grundlegend 1987), dass sich Bewusstseinszustände nach ihren Erfüllungsbedingungen klassifizieren lassen. Bei intentionalen Zuständen mit deutlich erkennbaren Erfüllungsbedingungen kann man sinnvoll von einem Erfolg oder Misserfolg sprechen. So können sich Überzeugungen als falsch erweisen und Wünsche unerfüllt bleiben. Daneben gibt es aber auch kognitive und affektive Bewusstseinszustände, die keine klare Erfüllungsbedingung besitzen. So kann die reine Wahrnehmung nichtwahr oder falsch sein,5 sondern nur die aufgrund von Wahrnehmungen gebildeten Überzeugungen. Gefühle können ebenfalls nicht in einem herkömmlichen Sinne fehlgehen oder sich als „unwahr“ entpuppen: Wer hasst, empfindet Hass, wer Liebe spürt, der liebt. Hingegen kann ein Bedürfnis nach Zuneigung unbefriedigt und der Wunsch, geliebt zu werden, unerfüllt bleiben. In seinem jüngsten Buch geht Searle davon aus, dass sich Bewusstseinszustände ohne Erfüllungsbedingungen durch ein so genanntes „Presup-Fit“ (2010: 29), d.h. durch eine angenommene Korrespondenz zwischen Bewusstsein und Welt, aus4
Alternativ könnte man auch die parsonianische Triade von Kognition, Kathexis und Evaluation verwenden (Parsons & Shils 1962/1951). Searle unterscheidet zwischen kognitiven und volitiven Bewusstseinszuständen (2010: 38; vgl. auch 1987), wobei letztere im Folgenden zu den affektiven Bewusstseinszuständen gezählt werden.
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Searle (1987) verwendet einen gehaltvolleren Wahrnehmungsbegriff, demzufolge der Akt der Wahrnehmung scheitert, wenn er die Welt nicht angemessen repräsentiert.
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zeichnen. Die Bewusstseinszustände, die Erfüllungsbedingungen besitzen, lassen sich dahingehend unterscheiden, auf welche Weise eine Übereinstimmung mit der Welt erzielt wird. Überzeugungen und Erwartungen, die sich als falsch herausstellen, werden der Welt angepasst („mind-to-world fit“). Bei Bedürfnissen und Wünschen, die eine Diskrepanz von Bewusstsein und Welt bezeugen, muss die Welt in Übereinstimmung mit dem Bewusstsein gebracht werden („world-to-mind fit“). Diese Unterscheidung korrespondiert mit der Differenz zwischen kognitiven und affektiven Zuständen, die sich wie folgt in einer Tabelle festhalten lassen: Tabelle 1: Eine Typologie intentionaler Zustände Bewusstseinszustand
Kognitiv
Affektiv
ohne Erfüllungsbedingung
Wahrnehmung
Gefühle
mit Erfüllungsbedingung
Überzeugungen und Erwartungen
Bedürfnisse und Wünsche
Kognitive als auch affektive Bewusstseinszustände tragen zur Definition und Bewertung von Situationen bei und stellen Gründe und Motive zum Handeln bereit. Es gibt aber auch Bewusstseinszustände, die sich in dieser Kreuztabelle nicht abbilden lassen, da sie nicht so recht zu der hier vorgeschlagenen kognitiv/affektivUnterscheidung passen und scheinbar keine wie auch immer geartete Passung zur Welt aufweisen. Die Rede ist einerseits von basalen körperliche Empfindungen wie Schmerz und Lust, denen einige Autoren von vornherein jegliche Form von Intentionalität absprechen (z.B. McGinn 1982, vgl. 1.3.4), andererseits vom intentionalen Akt der Imagination, der sich nicht auf Gegenstände dieser Welt beziehen muss. Bloße Vorstellungen sind zunächst nicht handlungsrelevant, es sei denn sie sind in der Lage, handlungsrelevante Überzeugungen oder Erwartungen, Gefühle oder Wünsche zu wecken. So kann die bloße Vorstellung eines Terroraktes einen davon überzeugen, dass ein solcher faktisch möglich und daher zu erwarten ist, was wiederum den Wunsch hervorrufen kann, denselben zu verhindern. 6 Auch die Vermeidung von Schmerz wird erst dann zu einer möglichen Antriebsfeder des Handelns, wenn Schmerz als affektiv besetztes Leiden wahrgenommen wird. 6
Die Macht der Imagination lässt sich am Ticking-Bomb-Szenario aufzeigen (6.4), wie es von Luhmann lange vor dem 11. September 2001 diskutiert wurde (2008/1993). Vgl. auch Searle, der ein Paper über den Krieg gegen den Terror mit der Imagination eines nuklearen Anschlags beginnt: http://socrates.berkeley.edu/~jsearle/pdf/terrorism.pdf; letzter Zugriff am 30. April 2013. Diese Gedankenexperimente setzen Imagination ein, um Erwartungen zu erzeugen, die dann als Ausgangsbasis für die Argumentation fungieren.
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Galtung (1959) und Luhmann (2008/1972: 40-53) folgend kann man kognitive von normativen Erwartungen unterscheiden. Kognitive Erwartungen können sich – wie andere Überzeugungen – als wahr oder falsch erweisen. Sie werden deshalb im Falle der Enttäuschung einfach den neuen Realitäten angepasst. So kann beispielsweise die Enthüllung, dass amerikanische Geheimdienste mutmaßliche Terroristen zur Folter in andere Länder überstellen, zunächst als reine Information zur Kenntnis genommen werden. Im Gegensatz dazu werden normative Erwartungen auch im Enttäuschungsfall beibehalten. An die Stelle der Differenz von wahr/falsch tritt dann die Unterscheidung richtig/falsch. So kamen viele amerikanische Bürger zu dem Schluss, dass eine solche Umgehung des Folterverbots nicht richtig sein könne. Im Anschluss an Luhmann lassen sich Normen als „kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen“ definieren (2008/1972: 43). Sie können auch in Regelwerken institutionalisiert werden, wie beispielsweise in der UN-Folterkonvention, die explizit eine Überstellung von Menschen in Länder, in denen ihnen Folter droht, verbietet. Offen bleibt bei Luhmann allerdings, wie die „Lernunwilligkeit“ der Akteure in Bezug auf Normen erklärt werden kann. Eine Erklärung findet sich bei Émile Durkheim, der in seiner Analyse moralischer Normen vom „Gefühl der Obligation“ spricht (1996: 124-129). Es deutet vieles darauf hin, dass emotionale Blockaden für diese „Lernunwilligkeit“ verantwortlich sind. Die Verletzung von Normen wird in den seltensten Fällen schulterzuckend hingenommen, sondern hat in der Regel innere Gefühlswallungen oder gar offene Empörung zur Folge. Ohne diese emotionale Reaktion auf die Normverletzung bleibt die kontrafaktische Stabilisierung der enttäuschten Erwartungen aus und die übertretene Norm wird auf Dauer verschwinden. Weiterhin kann dem Empörten ein Bedürfnis oder gar ein Wunsch nach normativer Stabilität unterstellt werden. Beim genaueren Hinsehen erweist sich damit die Geltung von Normen als ein komplexes Zusammenspiel von kognitiven, emotionalen und motivationalen Komponenten. Im Anschluss an Martha Nussbaum lässt sich Affekten eine evaluative Funktion zuschreiben (2001: 19-88). Dies bedeutet, dass Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche bei der Bewertung von Handlungsfolgen dienlich sind. Nun liegt aber, so Harry Frankfurt (1971), das Wesen der menschlichen Freiheit darin, reflexiv zu seinen Wünschen und Bedürfnissen Stellung beziehen zu können. Um dieser Besonderheit menschlicher Akteure Rechnung zu tragen, führt Frankfurt die Unterscheidung zwischen „Wünschen erster Ordnung“ und „Wünschen zweiter Ordnung“ ein. Erst die Distanzierung gegenüber unmittelbaren Bedürfnissen und Wünschen erlaubt es Rauchern mit dem Rauchen aufzuhören, Pädophilen sich in eine Therapie zu begeben und politischen Häftlingen in einen Hungerstreik zu treten. Der Sozialphilosoph Charles Taylor führte die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Wertungen in die sozialwissenschaftliche Debatte ein (1975), wo sie von Hans Joas zur näheren Bestimmung des Wertbegriffs verwendet wurde (1997). Die Berufung auf Werte dient unter anderem dazu, das eigene Handeln unter Berufung auf überper-
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sönliche Prinzipien, die als solche der Kritik entzogen sind, zu legitimieren. Dem „heldenhaften Folterer“ – eine popkulturelle Figur, die sich nach dem 11. September 2001 größter Beliebtheit erfreute (6.4.2) – ist Gewalt eigentlich zuwider, aber er muss foltern, weil ihm die Pflicht gegenüber seinem Land zu einem Wunsch zweiter Ordnung geworden ist. Wir sehen, dass sich die soziologischen Begriffe „Norm“ und „Wert“ im Rekurs auf intentionale Bewusstseinszustände verständlich machen lassen.7 Die Ergebnisse lassen sich wie folgt in einer Kreuztabelle wiedergeben: Tabelle 2: Komplexe intentionale Zustände Komplexe Zustände
Erwartungen
Bewertungen
Leitunterscheidung
Kognitiv/Normativ
Affektiv/Evaluativ
Soziales Korrelat
Normen (obligatorisch)
Werte (motivational)
In diesem Abschnitt haben wir mit einfachen Unterscheidungen die Grundlage für eine relativ komplexe soziologische Handlungstheorie gelegt. Normen und Werte sind die sozialen Korrelate, die normativen Erwartungen und Wünschen zweiter Ordnung auf der Ebene des intentionalen Bewusstseins entsprechen. 1.1.2 Individuelle und kollektive Modi der Intentionalität Kognitive und affektive Bewusstseinszustände können sowohl individueller als auch kollektiver Natur sein. Individuelle Intentionalität scheint weitestgehend unproblematisch zu sein, wohingegen zunächst unklar bleibt, was denn genau unter „kollektiv geteilten Bewusstseinszuständen“ zu verstehen ist. Haben in diesem Fall die Mitglieder eines Kollektivs nur ähnliche Gefühle gegenüber einem Objekt, oder können sie gar ein und dasselbe Gefühl teilen? Die Relevanz von kollektiven Bewusstseinszuständen für die Soziologie steht außer Frage und ist auch hier von grundlegender Bedeutung, weswegen hier der Versuch einer Klärung der Begrifflichkeiten unternommen werden soll. Ausgangspunkt ist die Definition des „Kollektivbewusstseins“ in Durkheims Arbeitsteilung: „Die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft bildet ein umgrenztes System, das sein eigenes Leben hat; man könnte sie das gemeinsame oder Kollektivbewusstsein nennen“ (2004/1893: 128). Hier ist noch unklar, ob Durkheim das massenhafte Vorhandensein ähnlicher Bewusstseinszustände im Auge hat oder gemeinsame Gefühle und Überzeugungen
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Ähnliche Überlegungen finden sich bereits bei Durkheim, der zwischen einem „obligatorischen“ und einem „motivationalen“ Aspekt der Moral unterscheidet (1996: 85f.).
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als eigenständige Kategorie verstanden wissen will. Den „sozialen Charakter“ von Gefühlen diskutiert Durkheim am Beispiel des „Moralskandals“: „Man bleibt auf der Straße stehen, man besucht sich, man trifft sich an bestimmten Orten um gemeinsam über das Ereignis zu reden, und man empört sich gemeinsam. Aus all diesen einander ähnlichen Zornesausbrüchen entsteht ein je nach Fall mehr oder weniger bestimmter einheitlicher Zorn, der der Zorn eines jeden ist, ohne deshalb ein persönlicher zu sein; der öffentliche Zorn.“ (2004/1893: 153)
Die Formulierung, dass kollektive Gefühle zwar Bewusstseinszustände von Individuen sind, ohne aber deswegen persönliche Gefühle zu sein, macht deutlich, dass Durkheim an einer starken Lesart der Kollektivität von Bewusstseinszuständen gelegen ist. Die emotionale Reaktion auf den Normverstoß ist eben „nicht nur allgemein“, so wie das Aufspannen von Regenschirmen eine allgemein verbreitete Reaktion auf den einsetzenden Regen darstellt, sondern zugleich „auch kollektiv“ (2004/1893: 152). Durkheims Einsicht lässt sich nicht nur auf die ganze Bandbreite kollektiver Bewusstseinszustände übertragen, sondern auch in einen Bezug zur neueren Debatte um „kollektive Intentionalität“ setzen – ein Begriff, der es erlaubt, auf den nebulösen Begriff des „Kollektivbewusstseins“ zu verzichten, ohne dabei jedoch seinen theoretischen Gewinn preiszugeben.8 Im gegenwärtigen philosophischen Diskurs ist der Status von kollektiver Intentionalität ein vieldiskutiertes Thema.9 Der Vorstellung, dass sich kollektive Intentionalität auf individuelle Intentionalität und ein Wissen über die Intentionalität anderer Personen reduzieren lasse, steht die Behauptung einer bewusstseinsexternen, kollektiven Intentionalität gegenüber. Die beiden Extrempositionen sind nicht nur theoretisch unzureichend (vgl. Searle 2009: 103-109), sondern tun sich auch mit der Integration solcher Handlungen schwer, deren Motivation auf List oder Sabotage beruht. Wenn sich, um ein Beispiel zu geben, ein Agent der Regierung mit einem mutmaßlichen Terroristen unter dem Vorwand trifft, gemeinsam Anschläge durchzuführen, handelt es sich dann bei der Planung der Anschläge um einen Fall von kollektiver Intentionalität? Oder unterliegt der Terrorist nicht vielmehr einer Täu8
Auch Durkheim distanzierte sich später von diesem Begriff. In den Formen des religiösen Lebens entwirft er ein Menschen- und Gesellschaftsbild (2005/1912), das eine soziologische Übersetzung des metaphysischen Dualismus im abendländischen Rationalismus, insbesondere aber der Philosophie Kants, darstellt (vgl. Schluchter 2006: 190). In der menschlichen Brust schlummerten zwei Seelen – die persönliche Seele und die Seele des Kollektivs: „In dem Maß, in dem das Individuum an der Gesellschaft teilnimmt, im Denken wie im Handeln, transzendiert es sich selbst.“ (Durkheim 2005/1912: 37)
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Eine Sammlung zentraler Beiträge, die einen vorzüglichen Einstieg in die Debatte bieten, findet man in dem Band von Hans Bernhard Schmid und David P. Schweikard (2009).
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schung, die nicht nur die Motive seines Mitstreiters, sondern auch das Verständnis seiner eigenen Intentionalität betrifft? Searles eigene Beiträge zur Intentionalitätsdebatte schlagen einen Mittelweg ein (z.B. 1995: 23-26; 2009), der mit Durkheims Ausführungen auf einer Linie liegt. Ihm zufolge muss kollektive Intentionalität als ein Modus des individuellen Bewusstseins verstanden werden, der keinen eigenen intentionalen Gehalt besitzt. So sei es schlechthin unmöglich, dass man sich hinsichtlich der Kollektivität seiner Überzeugungen oder Gefühle irren könne. Searle kommt schließlich zu dem paradox anmutenden Schluss, dass kollektive Überzeugungen oder Gefühle auch unabhängig von anderen Bewusstseinen existieren. Diese scheinbare Paradoxie lässt sich auf empirisch fruchtbare Weise entfalten, wenn man sich im Anschluss an Margaret Gilbert (2009) die normativen Implikationen kollektiven Denkens, Fühlens und Handelns vergegenwärtigt. So lassen sich kollektive Akte keineswegs auf ein aufeinander abgestimmtes Handeln und ein wechselseitiges Wissen umeinander reduzieren; vielmehr beinhalten sie immer auch normative Erwartungen gegenüber etwaigen Mitstreitern. Gemeinsam spazieren gehen – um das Beispiel Gilberts aufzugreifen – bedeutet auch, dass man auf seinen Partner Rücksicht nimmt und eventuell sein Schritttempo anpasst. Nicht nur gemeinsame Handlungen beinhalten eine normative Komponente, sondern auch kollektive Überzeugungen und Gefühle. So verpflichten sich Kreationisten wie auch Anhänger der Evolutionstheorie auf ihre jeweiligen gemeinsamen Überzeugungen, wobei ein individuelles Abweichen hier schnell als normative Verfehlung gebrandmarkt und mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft sanktioniert wird. In vergleichbarer Weise können von Angehörigen eines Kollektivs bestimmte Gefühle als verpflichtend empfunden werden. Auch ein Mangel an Entrüstung angesichts offensichtlicher Normverletzungen kann wiederum zu Wellen der Empörung führen, wie nicht zuletzt der Abu-Ghraib-Skandal gezeigt hat (8.3.3). Halten wir fest: Zugehörigkeit zu einer Gruppe verpflichtet im Handeln, Denken und Fühlen. Die internalistische Position in der Intentionalitätsdebatte umschifft nicht nur die theoretischen Untiefen der Extrempositionen, sondern lässt sich auch empirisch fruchtbar machen. Zu unserer vorläufigen Charakterisierung von sozialen Normen müssen wir aber noch ein Element hinzufügen: Normen bedürfen der kollektiven Anerkennung, um sich als kontrafaktische Erwartungshaltungen stabilisieren zu können. Kollektive Intentionalität lässt sich deswegen nicht auf ein individuelles Wissen um die Intentionen der Anderen und die Kenntnis der daraus resultierenden Normen reduzieren, da schon der Begriff der sozialen Norm eine kollektive Intentionalität im Sinne einer kollektiven Anerkennung voraussetzt. Nach Einführung der grundlegenden Unterscheidung zwischen kognitiven und affektiven, normativen und evaluativen, individuellen und kollektiven Bewusstseinszuständen, ist nun auf Handlungsintentionalität im engeren Sinne einzugehen. Das soeben erarbeitete begriffliche Instrumentarium lässt sich auch auf die Intentionalität von Handlungen anwenden. Handlungsintentionalität kann individuell oder
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kollektiv sein, sie orientiert sich an kognitiven wie an normativen Erwartungen und wird sowohl durch Bedürfnisse als auch durch Wünsche motiviert. Im Folgenden soll auf drei grundlegende Modelle der Handlungsintentionalität eingegangen werden, die für die soziologische Handlungstheorie besonders folgenreich waren. 1.1.3 Ziele erreichen – Teleologische Handlungsintentionalität Das Modell der teleologischen Handlungsintentionalität trägt der Tatsache Rechnung, dass Menschen durch ihr Handeln Ziele erreichen wollen. Die wohl bislang am besten ausgearbeitete phänomenologische Beschreibung teleologischen Handelns geht auf Alfred Schütz zurück (vgl. Schütz & Luckmann 1979). Interessanterweise wird hier der Imagination des Akteurs eine zentrale Bedeutung beigemessen. Am Anfang des Handels steht nämlich der „Entwurf“. So stellt sich der Handelnde, nachdem er seine Umwelt kognitiv erfasst und affektiv bewertet hat, das Ziel des zu erreichenden Zustand als verwirklichte Zukunft vor (1979: 27-33). Darüber hinaus unterscheidet Schütz zwischen sogenannten „Um-zu-Motiven“ und „Weil-Motiven“ (1979: 33-36). Um-zu-Motive motivieren das Handeln und seine einzelnen Handlungsschritte vom anvisierten Ziel her, während weil-Motive die Handlung im Rekurs auf bereits bestehende Einstellungen motivieren. Unter „Einstellungen“ versteht Schütz in erster Linie intentionale Bewusstseinszustände wie beispielsweise die Furcht vor Schlangen oder auch Terroristen, die Akteure zu bestimmten Handlungen veranlassen können. So führten die Anschläge vom 11. September 2001 etwa dazu, dass viele Amerikaner vom Flugzeug auf das Auto umstiegen, was einen Zuwachs an Verkehrstoten zur Folge hatte, der die Anzahl der Opfer in den Todesflügen von 9/11 übertraf (Gigerenzer 2004). Nach Schütz lassen sich für jede Handlung sowohl Um-zu-Motive als auch Weil-Motive angeben.10 Zu einer Handlungstheorie wird das teleologische Handlungsmodell erst dann, wenn man die wirksamen kausalen Faktoren spezifiziert, was über eine rein phänomenologische Beschreibung hinausgeht. Das teleologische Modell spielt insbesondere in utilitaristischen oder nutzenorientierten Handlungserklärungen eine zentrale Rolle. Die utilitaristische Erklärung basiert auf einem Modell der Wirtschaftswissenschaften, dem sogenannten homo oeconomicus.11 Dieser besitzt zum einen 10 Damit unterläuft Schütz auch Webers Handlungstypologie, insbesondere die Unterscheidung zwischen affektivem und zweckrationalem Handeln (1988/1921: 565 - 567; 2002/1921-22: 12f.). Ein Gewaltakt kann durch ein Gefühl des Zorns motiviert sein, aber zugleich auch ein Ziel anvisieren, dass es mit Hilfe geeigneter Kampfmittel zu erreichen gilt. Leidenschaft und Kalkül schließen sich nicht aus, sondern gehen oft Hand in Hand. 11 Für eine vergleichende Diskussion dieses Modells siehe Harmut Esser (1999/1993: 231250). Dessen Versuch einer umfassenden Handlungstheorie stellt allenfalls eine Modifikation und Immunisierung einer nutzentheoretischen Handlungserklärung dar. Gleiches gilt für die Kulturalisierung des homo oeconomicus bei Clemens Kroneberg (2011).
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stabile Bedürfnisse und Wünsche, die sogenannten „Präferenzen“, deren Befriedigung ihm einen Nutzen verschafft. Zum anderen hegt ein Akteur auch Erwartungen und Überzeugungen bezüglich seiner Umwelt und den Folgen seines Handelns. Nach diesem Modell vollzieht sich das Handeln als eine Nutzenmaximierung auf Basis von individuellen Präferenzen und Erwartungen. Ungeachtet der Tatsache, dass sich die klassische Soziologie gerade in Abgrenzung zu den Wirtschaftswissenschaften etablierte, erfreuten sich utilitaristische Handlungstheorien lange Zeit auch in der Soziologie einer großen Beliebtheit. Am konsequentesten wird das utilitaristische Paradigma von den sogenannten „Rational-Choice-Theorien“ vertreten, die in den letzten Jahren aufgrund ihrer überzogenen Rationalitätsannahmen und einer Tendenz zum Instrumentalismus selbst bei früheren Sympathisanten in die Kritik geraten sind (Green & Shapiro 1999; Elster 2000; Hedström 2008: 91-98). John Elster (2007) und Peter Hedström (2008: 60-67) vertreten eine moderate und vereinfachte Theorie nutzenorientierten Handelns, die sogenannte „DBO-Theorie“. Bei Hedström stellen die mentalen Zustände der handelnden Akteure und deren materielle Opportunitäten die kausalen Faktoren des Handelns dar: „Bedürfnisse im Sinne affektiver Prozesse (Desires), Überzeugungen im Sinne kognitiver Vorgänge (Beliefs) und Opportunitäten (Opportunities) sind die primären theoretischen Begriffe auf denen die Handlungs- und Interaktionsanalyse basiert. […] Die Ursache einer Handlung ist eine Konstellation von Bedürfnissen, Überzeugungen und Opportunitäten, angesichts derer die Handlung begründet erscheint.“ (2008: 61f.; Hervorhebung im Original)
Diese Theorie arbeitet mit der Unterscheidung zwischen kognitiven und affektiven Bewusstseinszuständen, wie wir sie oben eingeführt haben (1.1.1), und den Opportunitäten, die von den Bedürfnissen und Überzeugungen der Akteure unabhängig sind. Die Annahme der Nutzenmaximierung wird von Hedström zu Gunsten der weniger technischen Vorstellung einer plausiblen Konstellation von Bedürfnissen, Überzeugungen und Opportunitäten aufgegeben. Hedström geht mit dem Philosophen Donald Davidson (1985) davon aus, dass Bedürfnisse und Überzeugungen nicht nur Gründe für das Handeln bereitstellen, sondern diese zugleich auch als Ursachen einer Handlung betrachtet werden dürfen.12 Dem Urteil von Hedström und Davidson soll sich hier angeschlossen werden (vgl. auch Reed 2012: 37-39), jedoch nur mit der Einschränkung, dass – so die im Folgenden vertretene These – die kulturellen Hintergründe des Handelns seiner rationalen Begründung logisch und empirisch vorausgehen (1.2.1). Allerdings ist zu beachten, dass intentionale Kausalität und physikalische Kausalität strikt voneinander zu trennen sind, auch wenn sie möglicherweise in Erklärungen eine vergleichbare Funktion erfüllen. Der intentio12 Diese Annahme ist in der philosophischen Debatte um teleologische Handlungserklärungen nicht unumstritten (vgl. den Sammelband von Horn & Löhrer 2010).
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nalen Kausalität affektiver und kognitiver Prozesse steht die Realität der Opportunitäten entgegen, welche allerdings nur über ihre mentale Vermittlung auf den eigentlichen Handlungsimpuls wirken. Sie stellen aber insoweit einen eigenständigen kausalen Faktor dar, als sie über das Scheitern oder Gelingen einer Handlung entscheiden – so wie der Versuch zu Fliegen an der Schwerkraft scheitern kann. 1.1.4 Regeln befolgen – Deontologische Handlungsintentionalität Die Geburt der modernen Soziologie bei Weber und Durkheim verdankt sich der bewussten Abgrenzung gegenüber den nutzenorientierten Handlungstheorien. So stellt für Weber das zweckrationale Handeln nur ein künstlich gebildeter Idealtypus neben anderen Handlungstypen dar. Weit davon entfernt, Rationalität zum allgemeinen und ahistorischen Prinzip zu erheben, versuchte Weber in seiner Religionssoziologie, den okzidentalen Rationalismus als eine spezifische historische Formation auszuweisen (vgl. Schluchter 1979). Durkheim hat schon früh auf die normative Fundierung nutzenorientierten Handels hingewiesen. So basiert jeder Vertrag, und dies betrifft auch den Gesellschaftsvertrag bei Hobbes, auf den „nichtkontraktuellen Grundlagen der Vertragsform“ (Durkheim 2004/1893: 34). Die elaborierteste Kritik am utilitaristischen Handlungsmodell entstammt allerdings Parsons Frühwerk The Structure of Social Action (1968/1937: 51-60). Dort vertritt er die These, dass alle utilitaristischen Erklärungsversuche menschlichen Handelns letztendlich am „utilitarian dilemma“ scheitern. Entweder sind Mittel und Zwecke einer Handlung vom Handelnden willkürlich wählbar und damit empirisch zufällig, was es der Theorie letztlich unmöglich macht, die faktische Existenz einer sozialen Ordnung zu begründen; oder aber die Mittel und Zwecke sind dem Handelnden durch die Situation vorgegeben, was in einen sozialwissenschaftlichen Positivismus mündet, der dem voluntaristischen Charakter des menschlichen Handelns nicht Rechnung zu tragen vermag. Parsons Lösung des Dilemmas besteht darin, das teleologische Handeln in einen normativen Rahmen einzubetten, der sowohl die legitimen Mittel als auch die angestrebten Handlungsziele definiert (1968/1937: 4351). Sozial geteilte Normen regeln den Gebrauch der Mittel, während gesellschaftlich vermittelte Werte zur Zielorientierung der Handlung beitragen. Normen und Werte werden nicht den externen Handlungsbedingungen zugerechnet, sondern stellen eine innere Umwelt des Handelns dar. Durch diesen theoretischen Kunstgriff entzieht sich Parsons dem Vorwurf des Positivismus und glaubt auch weiterhin an einer voluntaristischen Konzeption des Handelns festzuhalten zu können. Parsons ergänzte das teleologische Ausgangsmodell durch ein deontologisches Handlungsverständnis, das die Legitimität von Mitteln und Handlungszielen in den Vordergrund rückt. Die raffinierteren utilitaristischen Theorien haben auf diese Kritik reagiert und versuchen, die deontologische Dimension des Sozialen, die schon bei Durkheim und Weber eine entscheidende Rolle gespielt hat, in ihr Modell ein-
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zubauen. So werden soziale Normen über die Konstruktion interner Sanktionen in das Nutzenkalkül von Rational-Choice-Theorien eingespeist, während gesellschaftlich vermittelte Werte als Präferenzen internalisiert werden. Allerdings geht durch diese Reformulierung gerade das deontologische Moment verloren, dem wir durch die Unterscheidung von kognitiven und normativen Erwartungen und Wünschen erster und zweiter Ordnung Rechnung getragen haben (1.1.1).13 In der philosophischen Handlungstheorie herrscht hingegen weithin Konsens darüber, dass es Gründe gibt, die jenseits der primären motivationalen Ebene der Bedürfnisse liegen. Searle spricht in diesem Zusammenhang von „desire-independent reasons for action“ (2001). Während das teleologische Handeln in erster Linie von der individuellen Intentionalität der Akteure aus gedacht wird, stellt die kollektive Geltung von Normen oder Gründen für das deontologische Handlungsmodell eine unhintergehbare Voraussetzung dar. Hierdurch lassen sich normativistische Handlungserklärungen klar von utilitaristischen Erklärungen abgrenzen. Soziale Normen und kulturelle Werte beanspruchen im normativistischen Modell eine bedürfnisunabhängige Geltung und motivieren nicht erst über die Erwartung von Sanktionen. Aber auch gegenüber normativistischen Handlungserklärungen wurden bedeutende Einwände geltend gemacht. Zum einen wird das normativistische Handlungsverständnis nur schwerlich der Interpretationsbedürftigkeit von sozialen Normen und Werten gerecht, zum anderen entzieht sich die Dialektik von Regel und Ausnahme dem normativistischen Handlungsverständnis. Der erste Einwand wurde von Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen formuliert, wo er sich mit der Frage auseinandersetzt, was es denn heißt, einer Regel zu folgen (1984/1953). Auch wenn sich seine Untersuchung in erster Linie den Regeln der Sprache widmet, hat sie doch weitreichende Konsequenzen für ein angemessenes Verständnis von Normativität. Dies ist von eminenter Bedeutung für die Soziologie, da gesellschaftliches Zusammenleben in hohem Maße von sozialen Normen und ihren Interpretationen geprägt ist. Wittgenstein zeigt an einer Reihe von Beispielen, dass die Bedeutung einer Regel nicht unabhängig von ihrer Anwendung verstanden werden kann. Die Annahme, dass die Anwendung einer Regel wiederum von einer Regel geregelt wird, mündet in einem infiniten Regress. Wittgensteins schlägt stattdessen vor, die Sprache als ein „Sprachspiel“ zu begreifen, das „nicht überall von Regeln begrenzt“ ist (1984/1953: 287). Sprache ist über ihre Regelhaftigkeit hinaus auch „Lebensform“ und soziale Praxis. Diese Erkenntnis lässt sich für die Erklärung des Handelns fruchtbar machen: Handeln ist regelgeleitet, ohne vollständig durch Regeln determiniert zu sein. Die Anwendung einer Regel bleibt auf einen vorintentionalen Hintergrund angewiesen, der den handelnden Akteuren nicht bewusst ist (1.2). Eine ähnliche Denkfigur fin13 Die utilitaristische Verkürzung der Geltung von Normen auf die Vermeidung negativ bewerteter Sanktionen kritisierte bereits Durkheim (1996: 59) an Herbert Spencers Ethik.
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det sich auch beim späten Parsons (1966), der die soziale Ordnung auf der Latenz kultureller Muster gründet. Die Latenz sozialer Deutungsmuster verhindert einen Absturz in den Regress und ermöglicht so eine „angemessene“ Interpretation bzw. eine „richtige“ Anwendung von Regeln. Für die Kultursoziologie besteht der Vorzug der parsonianischen Lösung darin, dass die Kluft zwischen Regel und Interpretation bestehen bleibt (vgl. Ortmann 2003) , die zur Erklärung einer Handlung als Anwendung einer Regel im Rückgriff auf kulturelle Muster genutzt werden kann. Einige an Wittgenstein anknüpfende Praxistheorien lassen eine Kluft zwischen der Regel und ihrer Anwendung erst gar nicht aufkommen – jedoch um den Preis, dass sie auf eine kausale Handlungserklärung zu Gunsten einer bloßen Beschreibung verzichten müssen (so z.B. Schatzki 1996, vgl. auch 1.2.2). Die tautologische Feststellung, dass die Kluft zwischen Regel und Anwendung ein praktisches Problem darstelle, das nur in der Praxis gelöst werden könne, muss in einer Kultursoziologie mit Erklärungsanspruch enttautologisiert und in eine empirische Fragestellung transformiert werden: Welche kulturellen Muster liegen einer Praxis zu Grunde und erlauben es den jeweiligen Akteuren, die Kluft zwischen einer Regel und ihrer Anwendung auf eine spezifische Art und Weise zu überbrücken? Ein ähnliches Problem tut sich auf, wenn unterschiedliche Regeln miteinander kollidieren oder aber Ausnahmen von den Handelnden für sich in Anspruch genommen werden. Dies ist in der zeitgenössischen Folterdebatte der Fall, wenn die Menschenwürde eines Terroristen mit der Menschenwürde seiner (möglichen) Opfer in Konflikt gerät (4.1.5). Normativistisch argumentierende Autoren versuchen, den Regelkonflikt und die Zulässigkeit von Ausnahmen durch „Metaregeln“ einzuhegen (z.B. Edgerton 1985). Theorietechnisch ist dies sicherlich keine elegante Lösung, da auch dieser Ansatz in einen infiniten Regress führt. Weitaus wichtiger aber sind die empirischen Defizite einer solchen Herangehensweise, welche der konstitutiven Bedeutung der Ausnahme für das Soziale nicht gerecht zu werden vermag (vgl. Giesen 2010: 9-66). Regel und Ausnahme sind Wechselbegriffe, die zueinander im Verhältnis von Figur und Hintergrund stehen. Sie sind asymmetrisch, aber dennoch gleichwertig. Regeln bestimmen den Alltag und bilden so den Hintergrund, vor dem die außeralltägliche Ausnahme in Erscheinung treten kann. Die Ausnahme ist aber zugleich auch regelbegründend und gesellschaftskonstituierend, weswegen sie oft mit dem „Heiligen“ oder der Figur des „Helden“ in Verbindung gebracht wird (vgl. Giesen 2004c: 15-22; 2010: 76-80). Ausnahmen von der Regel lassen sich nur im Rückgriff auf latente Deutungsmuster erklären. Ob die Überschreitung einer Norm als fruchtbare Innovation oder furchtbares Vergehen, als heroische Trangressivität oder als verbrecherische Handlung wahrgenommen wird, ist eine Frage der kulturellen Rahmung (und der sozialen Performanz, vgl. 2.3.3).
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1.1.5 Einverständnis erzielen – Kommunikative Intentionalität Bevor zur Kultur als einem vorintentionalen Hintergrund des intentionalen Handelns übergegangen wird, soll noch auf einen dritten Typus von Handlungsintentionalität eingegangen werden, der vor allem auf Arbeiten von Mead und Simmel zurückgeht. Beide Autoren haben gemein, dass sie der Intersubjektivität des Handelns besondere Aufmerksamkeit schenken und eine „Verflüssigung“ des Sozialen anstreben. Georg Simmel (1992/1908) hat die von Kant entlehnte Kategorie der „Wechselwirkung“ zum Prinzip des Sozialen erhoben: Es lässt sich nicht einfach auf einzelne Handlungen reduzieren, sondern muss als Emergenz sozialer Formen begriffen werden. Aufgrund dieses intersubjektivistischen Verständnisses des Sozialen zieht es Simmel vor, vom Prozess der „Vergesellschaftung“ zu sprechen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch George Herbert Mead (1970), der das Soziale als einen symbolisch vermittelten Austausch von Gesten begreift, der nicht nur die Interaktionen der Akteure strukturiert, sondern auch deren Identität bestimmt. Im Rückgriff auf Meads Sozialpsychologie und Simmels Begriff der „Wechselwirkung“, der in der englischen Übersetzung zu „interaction“ verwässert wurde, begründete Herber Blumer (1969) das Forschungsprogramm des symbolische Interaktionismus, der sich auf die Fahnen schrieb, soziale Ordnung als Produkt von Interaktionen zu begreifen. Die Geltung sozialer Normen und die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke stellen für symbolische Interaktionisten keine unverrückbaren sozialen Tatsachen dar, sondern sind Verhandlungsgegenstand der Akteure. Der symbolische Interaktionismus begreift soziale Ordnung als „negotiated order“. Der israelische Soziologe Shmuel Eisenstadt hat die Unzulänglichkeit dieser Vorstellung einmal besonders prägnant auf den Punkt gebracht: „Thus on the whole (with the exception of some ethnomethodologists), approaches that stressed negotiation in the construction of social interaction neglected to inquire into the rules governing such negotiations or into the processes that establish such rules“ (1990: 250). Dem Prozess der Aushandlung liegt eine verborgene Ordnung zu Grunde, so wie die Bedeutung von Wörtern nur mit Hilfe einer immer schon vorausgesetzten Sprache geklärt werden kann. In Anlehnung an Durkheim können wir auch von den nichtverhandelbaren Grundlagen sozialer Aushandlungsprozesse sprechen. Die Ethnomethodologie versuchte diese verborgene Ordnung in ihren Krisenexperimenten sichtbar zu machen (Garfinkel 1967, vgl. 1.2.1). Dabei stellte sich heraus, dass selbst die alltäglichsten Interaktionen extrem störanfällig sind. Schon durch ein buchstäbliches Missverstehen einer Begrüßung („How are you?“) lässt sich ein emotionaler Ausbruch und Abbruch der Interaktion provozieren (1967: 44). Während es den symbolischen Interaktionisten um die strategische Aushandlung der sozialen Ordnung ging, versuchte man in Deutschland diese Ordnung auf die Geltung universeller – und damit nicht verhandelbarer – Kommunikationsnormen zu gründen. Für einen derartigen Versuch, der kommunikativen Handlungsin-
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tentionalität eine deontologische Unterfütterung zu geben, steht insbesondere die Diskursethik des Philosophen Karl-Otto Apel (1976). Seine „transzendentalpragmatische Letztbegründung“ der Diskursethik war im philosophischen Diskurs allerdings nicht konsensfähig. Selbst Jürgen Habermas, der mit der Diskursethik offen sympathisierte, kritisierte die Idee einer Letztbegründung.14 Die Pointe seiner eigenen Theorie des kommunikativen Handelns (1995) liegt darin, dass kognitive Tatsachen, normative Regeln und rationale Argumente in Diskursen diskutiert und hinterfragt werden können. Beim teleologischen Handeln steht die Wahl der Ziele, Mittel und Strategien zur Disposition, während beim sogenannten „normregulierten Handeln“ (dem unser deontologisches Handlungsmodell entspricht), die Geltung von Normen und Werten kritisiert werden kann. Im Diskurs kann so ein Einverständnis zwischen den Handelnden erzielt werden, das einen Beitrag zur sozialen Ordnung leistet. Allerdings vollzieht sich dieser Diskurs immer auf dem unhinterfragbaren Boden der Lebenswelt, der von Habermas selbst nicht untersucht wird. Der zwanglose Zwang des besseren Arguments, so ließe sich gegen Habermas einwenden, liegt nicht in einer universalen Vernunft, sondern in kulturellen Mustern, deren Verbreitung nicht einfach vorausgesetzt werden darf. Die Aufgabe einer kultursoziologischen Handlungstheorie ist es, einen Weg zur Konzeptualisierung dieser partikulären Muster zu finden, die jenseits von kritisierbaren Geltungsansprüchen und Argumenten die kulturellen Voraussetzungen jeglicher Kritik darstellen.15 In dieser Hinsicht erweist sich auch die mit der Theorie des kommunikativen Handelns unmittelbar konkurrierende Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann (2006/1984) als unzureichend. Auch wenn Luhmann auf den klassischen Begriff der Handlung zu Gunsten der kommunikativen Zuschreibung von Handlungen verzichtet, wird die Selektionsleistung des jeweiligen Bewusstseins und der sozialen Systeme nach dem Modell von Intentionalität gedacht (2006/1984: 92-147). Allerdings versäumt er, der Strukturiertheit von Selektionen Rechnung zu tragen. Die Kontingenz der Selektion, die nicht mit Beliebigkeit gleichgesetzt werden darf, verdeckt die Erklärungsbedürftigkeit von stabilen Mustern der Selektion. Stattdessen wird der Verzicht auf Kausalerklärungen zu einer wissenschaftlichen Tugend verklärt. Diesen Mangel könnte man im Rückgriff auf das Konzept der Organisationskultur, wie es Luhmann in seinem posthum erschienenen Buch Organisation und Entscheidung entwirft (2000), zu beheben versuchen. Dort wird Kultur nicht, wie 14 Habermas wirft der Diskursethik einen Rückfall in die Bewusstseinsphilosophie vor, da sie letztendlich auf einer „Identifikation von Aussagenwahrheit und Gewissheitserlebnis“ beruhe (1983: 106). Hingegen seien die Regeln des Diskurses von vorneherein in der alltäglichen Sprachpraxis der Lebenswelt angelegt: „Die moralischen Alltagsintuitionen bedürfen der Aufklärung der Philosophen nicht“ (1983: 108; Hervorhebung im Original). 15 Vgl. hierzu Durkheims Ausführungen über „das Prinzip der freien Kritik“ in modernen Gesellschaften, das selbst nicht mehr kritisiert werden darf (2005/1912: 294).
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noch in den sozialen Systemen (2006/1984: 224), als Themenvorrat, sondern nunmehr als Summe der „unentscheidbaren Entscheidungsprämissen“ im Hintergrund von Entscheidungen begriffen (2000: 239-248). Dem entspricht Bourdieus Bestimmung des Habitus als „nicht ausgewählter Grundlage aller ‚Auswahlentscheidungen‘“ (1999: 114). In derselben Weise ließe sich nun nach den Prämissen jeglicher Selektion in Systemen fragen oder – bewusstseins- bzw. handlungstheoretisch formuliert – nach den vorintentionalen Bedingungen der Intentionalität. Die hier vorgestellten intentionalen Handlungsmodelle haben gemeinsam, dass sie ein Verstehen und ein Erklären von Handlungen durch Gründe ermöglichen. Es wurde gezeigt, dass jedes dieser Handlungsmodelle für sich genommen unzureichend ist, da seine Erklärungskraft an fest umrissene Grenzen stößt – sei es nun die „randomness of ends“ des teleologischen Handlungsmodells (1.1.3) oder aber der infinite Regress des normativistischen Regelverständnisses (1.1.4). Die kommunikative Handlungsintentionalität kann ebenso wenig zufriedenstellen, da auch soziale Interaktionen nicht ohne den Verweis auf strategisches Handeln oder Normen der Interaktion auskommen. Aber auch eine Synthese aller drei Modelle ergäbe immer noch kein Ganzes. Im Folgenden soll die These erhärtet werden, dass intentionale Bewusstseinsakte und absichtsvolles Handeln immer in einen vorintentionalen Hintergrund eingebettet sind. Unter den Philosophen hat sich vor allem Searle für die Unabdingbarkeit eines Erlebens- und Handlungshintergrundes stark gemacht (1987: 180-202; 1995: 127-147). Unter den Soziologen war es in erster Linie Pierre Bourdieu, der mit dem Begriff des „Habitus“ das Augenmerk auf die unbewussten und regelhaften Mechanismen gelenkt hat, welche unter anderem die Schichtung einer Gesellschaft hinter dem Rücken ihrer Mitglieder reproduzieren (1982).
1.2 D IE KULTURELLEN H INTERGRÜNDE DES H ANDELNS What kind of expectancies make up a „seen but unnoticed“ background of common understandings, and how are they related to person’s recognition of stable courses of interpersonal transactions? HAROLD GARFINKEL, ETHNOMETHODOLOGY (1967: 44)
Eine bewusstseinstheoretisch ansetzende Handlungstheorie kann menschliches Handeln verstehend erklären, indem sie die Gründe einer Handlung als deren Ursachen behandelt. Eine kultursoziologische Handlungstheorie darf aber nicht bei der Intentionalität des Handelns stehenbleiben, sondern muss dessen kulturelle Hintergründe freilegen. Mag auch das jeweilige Handeln seine eigenen Motive haben – Sinn machen diese nur vor einem sozial geteilten Hintergrund, welcher den han-
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delnden Akteuren in aller Regel verborgen bleibt. Innerhalb dieses kulturellen Horizonts gewinnt intentionales Handeln und Erleben erst seine eigentümliche Gestalt und Tönung. Im Folgenden sollen die Grundzüge einer kultursoziologischen Handlungs- und Kulturtheorie in Auseinandersetzung mit den soziologischen und philosophischen Debatten der letzten Jahre skizziert werden.16 Es sind verschiedene Begriffe in Umlauf, die – trotz unterschiedlicher Aktzentsetzungen – eine theoriearchitektonisch vergleichbare Position besetzen. Neben dem hier bevorzugten Begriff des „Hintergrundes“ (bzw. „Background“) sind dies vor allem die phänomenologische „Lebenswelt“, Wittgensteins „Lebensform“ und Bourdieus „Habitus“, aber auch der strukturalistische „Code“-Begriff und die – in den letzten Jahren stark in Mode gekommene – kulturwissenschaftliche Rede vom „Imaginären“. Der Begriff des Hintergrundes hat ihnen gegenüber den Vorteil, dass er in seiner Funktionsweise, insbesondere aber in seiner Beziehung zur Intentionalität des Handelns und Erlebens, von Searle in bisher unübertroffener Weise herausgearbeitet wurde (1987: 180-202; 1995: 127-147).17 Darüber hinaus ist der Ausdruck „kultureller Hintergrund“ allgemeinverständlich, ohne deswegen missverständlich zu sein. Der Begriff des vorintentionalen bzw. kulturellen Hintergrundes befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum ethnomethodologischen Verständnis der Alltagswelt als dem „‚seen but unnoticed‘ background of common understandings“ (Garfinkel 1967: 44). Bereits erwähnt wurde, dass Eisenstadt die Vertreter der Ethnomethodologie von seiner Kritik am symbolischen Interaktionismus ausdrücklich ausnahm (1990: 250, vgl. 1.1.5). Bernhard Giesen spricht gar von der „ethnomodologischen Revolution“ der siebziger Jahre (1991b: 136-139), die erstmals die vorintentionalen und unbewussten Vorrausetzungen des Handelns explizit gemacht habe: „Der Prozess, der intentionales Handeln erst ermöglicht, ist damit auf eine Ebene verwiesen, die selbst nicht allein auf Intentionalität und Bewusstsein beruht“ (1991b: 137). Diese überindividuellen Prinzipien – bei Giesen heißen sie „symbolische Codes“ – stellen „die Tiefenstruktur der mikrosozialen Wirklichkeitsebene“ dar, die mit der Rolle der Grammatik für eine Sprache vergleichbar sei (1991b: 138). In Auseinandersetzung mit den Aporien intentionaler und intersubjektivistisch ansetzender Sozialtheorien vollzog Giesen eine Wende zur Kultursoziologie. Die Affinität von Ethnomethodologie und Kultursoziologie zeigt sich unter anderem 16 Husserl – und im Anschluss daran Luhmann (1997: 147f.) – beschreiben den Hintergrund der Intentionalität als einen Horizont der Welt, der vollständig unbestimmt bleibt. Das hier vorgeschlagene Modell des vorintentionalen Hintergrundes schlägt einen Mittelweg ein, da er weder weder restlos bestimmt noch gänzlich unbestimmt ist. 17 Auf den pragmatistischen Entwurf einer Theorie des Hintergrundes im Anschluss an Heideggers Sein und Zeit von Hubert L. Dreyfus kann hier nicht ausführlich eingegangen werden (1991). Von der Lebendigkeit der philosophische Debatte zum „Background“ zeugen auch neuere Sammelbände (u.a. Radman 2012; Schmitz et al. 2013).
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auch in dem Wechselspiel von Routine und Krise, das in den ethnomethodologischen Alltagsexperimenten deutlich zu Tage getreten ist (1.2.1). Gerade weil der kulturelle Hintergrund des Handelns die alltägliche Ordnung stiftet, die nur durch außerordentliche Ereignisse sichtbar gemacht werden kann, stellt eine empirische verfahrende Kultursoziologie immer auch eine „Soziologie des Außerordentlichen“ dar (vgl. Giesen 2010). Erst die Überschreitung oder Einklammerung der geltenden sozialen Ordnung, sei es durch Krisenexperimente à la Garfinkel, durch eine „methodische Fremdheitshaltung“ (Bohnsack & Nohl 2002) oder aber durch historische Vergleiche, macht die Kontingenz kultureller Ordnungsprinzipien beobachtbar. Neben der Ethnomethodologie und neueren Ansätzen in der Kultursoziologie setzt sich auch die sogenannte „kognitive Soziologie“ mit den sozial geteilten Hintergründen des Handelns und Erlebens auseinander. Eviatar Zerubavel (1993, 1999), ein Pionier auf diesem Feld, setzt sich in seinen einführenden Werken mit den kognitiven Schemata des Wahrnehmens, des Erinnerns und der Klassifikation auseinander. Zunehmend wird die „cognitive sociology“ auch für kultursoziologische Erklärungen herangezogen. So zeigte Stephen Vaisey in einer Studie (2009), dass kognitive und evaluative Schemata, die von den Befragten zum Zeitpunkt der Befragung nicht artikuliert werden konnten, deren späteres Handeln besser erklären konnten als ihre diskursive Äußerungen. Er wendet die Ergebnisse seiner Studie gegen Ann Swidlers verkürztes Modell von Kultur als „toolkit“ (1986), an dessen Stelle er die Metapher des „rider on the back of an elephant“ (2009: 1686f.) setzt, wobei der Reiter das intentionale Bewusstsein darstellt, das dem überdimensionierten Reittier – dem kulturellen Hintergrund – weitestgehend ausgeliefert ist. Der vorintentionale Hintergrund lässt sich hinsichtlich seiner sozialen Ausbreitung, qualitativen Unterschiedlichkeit und Beziehung zu den unterschiedlichen Gattungen kultureller Repräsentation spezifizieren. Der sozial geteilte Hintergrund, der alleine als kultureller Hintergrund des Handelns und Erlebens in Frage kommt, muss von dem rein-individuellen und dem universell-menschlichen Hintergrund unterschieden werden.18 Zerubavel spricht von „social mindscapes“, die zwischen der Individualität des Erlebens und der biologischen Ausstattung des Menschen liegen. Quer zur Ausbreitung des Hintergrundes kann zwischen kognitiven, emotionalen und evaluativen Hintergründen unterschieden werden (1.2.1), die nicht mit den korrespondierenden intentionalen Akten verwechselt werden dürfen. Nicht zuletzt Searle hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es unangemessen ist, eingefleischten Überzeugungen, Erwartungshaltungen und Wertbindungen als intentionale Akte aufzufassen. Am Beispiel von kognitiven Erwartungshaltungen lässt sich dieser Unterschied zwischen intentionalen Akten und Hintergrundannahmen besonders gut 18 Auch in Searles Ausführungen zum Hintergrund findet man die Unterscheidung zwischen einem tiefen Hintergrund, den alle Menschen miteinander teilen, und flacheren Regionen, die kulturell oder individuell variieren können (2001: 58).
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verdeutlichen. Das Unerwartete gewinnt nur vor einem Horizont des Erwartbaren seine spezifische Gestalt. Außerordentliche Ereignisse wie der 11. September 2001 können Gesellschaften in einen Schockzustand versetzen (6.4). Hier kann eine einfache kognitive Anpassung an die veränderte Situation, die Luhmann als „Lernen“ bezeichnet, nicht so ohne weiteres stattfinden. Der kulturell geformte Hintergrund des Erwartbaren besitzt keinen dem Bewusstsein zugänglichen intentionalen Gehalt, sondern stellt eine vorbewusste Grundlage für intentionale Erwartungen und „worst case“-Szenarien dar. Das Gleiche gilt auch für latente Normen und Werte, die selbst nicht zum Gegenstand von Normrevisionen und Wertediskussionen werden können, ohne ihrerseits wieder latente Muster vorauszusetzen. Schließlich lassen sich auch noch ikonische, narrative und dramatische Strukturen des Hintergrundes identifizieren. Die kulturelle Rahmung des Erlebens durch ikonische oder narrative Muster vereinigt disparate Elemente und Ereignisse aus dem Erlebnisstrom zu eine bedeutungsvollen Ganzen. Kulturell tradierte, visuelle Schemata beeinflussen nicht nur die Produktion und Rezeption von Bildern, sondern auch die alltägliche Wahrnehmung (2.1). Die Bildlichkeit des Hintergrundes greift aber auch in den Bereich des Sprachlichen über. So findet in den letzten Jahren die Metapher als einer „Substruktur des Denkens“ (Blumenberg 1998: 13) wieder verstärkt Beachtung.19 Narrative und dramatische Grundstrukturen liegen in vergleichbarer Weise der Wahrnehmung von Handlungsabläufen, der Präsentation des Selbst und der Konstruktion von Identität zu Grunde (vgl. 2.2-3). 1.2.1 Kognitive, emotionale und evaluative Hintergründe Einen lohnenden Gegenstand der kultursoziologischen Analyse stellt der Begriff „analytische Soziologie“ dar. Er bedient sich einer semantischen Opposition, die in der Gegenwartsphilosophie gebräuchlich ist, nämlich jener zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie.20 Obwohl diese Unterscheidung in der akademischen Philosophie zunehmend an Bedeutung verliert, gibt es in der Soziologie neuerdings Versuche, sich diese anzueignen. Peter Hedströms analytische Soziologie setzt auf Präzision und Klarheit, wodurch sie sich von konkurrierenden Ansätzen abzugrenzen versucht (2008). Sein Paradebeispiel für theoretische Unklarheit ist Bourdieus Definition des Habitus. Bei den sogenannten „Habitusformen“ handelt es sich, laut Bourdieu, um „Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen“, die 19 Z.B. in der neueren philosophischen Hermeneutik (Fellmann 1991: 135-141), den Kognitionswissenschaften (Lakoff & Johnson 2003) und der Interdiskursanalyse von Jürgen Link (1982), aber auch in den Studien von Susanne Lüdemann (2004). 20 Die analytische Philosophie hat sich ein Diktum des jungen Wittgensteins zu eigen gemacht: „Alles was gedacht werden kann, kann klar gedacht werden“ (1984/1921: 33). Sie dominierte lange Zeit im angelsächsischen Raum, während es im Nachkriegsdeutschland zu einer Koexistenz von analytischer und kontinentaler Philosophie kam.
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„[…] als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsvorlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepasst sein können, ohne jedoch bewusstes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv „geregelt“ und „regelmäßig“ sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein.“ (Bourdieu 1999: 98; bei Hedström 2008: 15)
Hedström zufolge gleichen derartige Definitionen „mentale[n] Wolken, die eher verschleiern als erklären“ – nicht zuletzt, weil in Bourdieus Ausführungen unklar bleibe, wie genau denn dieser Habitus nun funktioniere. Demgegenüber lässt sich einwenden, dass die Probleme des Habitusbegriffs nicht nur dem idiosynkratrischen Denk- und Schreibstil des französischen Soziologen geschuldet sind, sondern auch auf eine generelle Problematik kultursoziologischer Handlungserklärungen aufmerksam machen. Die begrifflichen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Hintergrund des Handelns resultieren zu einem großen Teil aus einer bewussten Distanz von kultursoziologischen Erklärungsansätzen gegenüber „alltagspsychologischen“ Modellen oder dem „Common Sense“, der bei vielen intentionalen Handlungstheorien Pate steht. So konstatiert der analytische Philosoph John Searle, der sich seit Jahrzehnten um eine begriffliche Klärung des „Background“ bemüht, dass „wir kein natürliches Vokabular zur Erörterung der fraglichen Phänomene haben“ und daher „leicht in ein intentionalistisches Vokabular verfallen“ können (1987: 198). Gerade weil sich das Bewusstsein durch Intentionalität auszeichnet und wir es gewohnt sind, mit intentionalen Begriffen zu operieren, fällt es uns sehr viel schwerer, den vorintentionalen Hintergrund des Bewusstseins begrifflich zu fassen. Die von Hedström monierte Unklarheit liegt demzufolge nicht (nur) am vermeintlichen Unvermögen des Autors Bourdieu, sondern auch am Gegenstand selbst. Der Handlungshintergrund ist theoretisch schwer in den Griff zu bekommen und auch empirisch nur auf Umwegen zu untersuchen. Searle schlägt deswegen vor, den Hintergrund durch Krisenexperimente beobachtbar zu machen: „Meines Erachtens erforschen wir den Hintergrund am besten anhand von Fällen, in denen etwas schiefgeht; das heißt, in denen intentionale Zustände ihre Erfüllung wegen eines Fehlschlags auf Seiten der vorintentionalen Hintergrundbedingungen für Intentionalität nicht erreichen“ (1987: 196). Diese Einsicht ist für Soziologen wenig überraschend. Dies ist vor allem Harold Garfinkel, dem Begründer der Ethnomethodologie zu verdanken, der durch Krisenexperimente den immer schon vorausgesetzten Hintergrund des Handelns sichtbar zu machen versuchte. Ein Beispiel für ein solches Krisenexperiment, bei dem ein Experimentator bewusst gegen die alltägliche Erwartungshaltung verstößt, ist folgendes Begrüßungsszenario: „The victim waved his hand cheerily. (S) How are you?
48 | A BU G HRAIB UND DIE FOLGEN (E) How am I in regard to what? My health, my finances, my school work, my peace of mind, my…? (S) (Red in the face and suddenly out of control.) Look! I was just trying to be polite. Frankly, I don’t give a damn how you are.“ (Garfinkel 1967: 44)
Der Experimentator nimmt die Begrüßungsformel hier wortwörtlich, so als ob sich das Opfer wirklich nach seinem Befinden erkundigt hätte. Aber damit nicht genug: Der Experimentator verstößt zudem noch gegen das „principle of charity“ (Quine 1969: 58-60), indem er auf die Ambiguität und Unbestimmtheit seiner Frage aufmerksam macht. Das Opfer quittiert diese Überkorrektheit und Verletzung seiner Hintergrundannahmen mit einem emotionalen Ausbruch. Inwieweit handelt es sich bei der Erwartung des Opfers, dass seine Begrüßung auch als solche verstanden wird, um einen intentionalen Akt? Searle argumentiert in seinen Schriften zum Hintergrund, dass wir einen Fehler machen, wenn wir diese impliziten Erwartungen als unbewusste intentionale Zustände deuten (1987: 181-184). Genau so wenig erwarten wir (auch nicht unbewusst), dass der Boden nicht unter unseren Füßen hinweg bricht oder aber der Himmel uns nicht auf den Kopf fällt. Kognitive Überzeugungen und Erwartungen, die derart tief verankert sind, müssen dem vorintentionalen Hintergrund, nicht dem intentionalen Bewusstsein zugeschlagen werden. Kognitive Hintergrundannahmen und Schemata liegen jedem Akt visueller Wahrnehmung zu Grunde (Zerubavel 1999: 23-34). Als kulturelle Muster prägen auch Rahmen und Skripte unser Alltagshandeln, ohne dass diese bewusst aktiviert werden müssten (vgl. Goffman 1977). Bei Skripten handelt es sich um kognitive Modelle des Handelns, die durch die typisierte Rahmung einer Situation aktiviert werden. Skripte regulieren die eigenen Handlungen und stellen einen Erwartungshorizont für Interaktionen bereit. Wer gegen ein sozial verbreitetes Skript verstößt, riskiert, auf Unverständnis oder gar Empörung zustoßen. Als mentale Repräsentation von Handlungsketten besitzen Skripte eine narrative Struktur und beruhen damit auf narrativen Grundmustern, die ebenfalls zum Hintergrund des Handelns und Erlebens gezählt werden müssen (Searle 1995: 134f., vgl. 2.2). Allerdings sind Skripte und Erzählungen immer auch emotional und evaluativ eingefärbt, sodass sie nicht alleine dem kognitiven Hintergrund zugeschlagen werden dürfen. Nicht nur kognitive Schemata liegen dem Erleben und Handeln von Akteuren zu Grunde, sondern auch emotionale und evaluative Muster. Der emotionale Hintergrund individueller Akteure ist in der Soziologie weitgehend unbeachtet geblieben; leider gilt dies auch für den emotionalen Hintergrund kollektiver Akteure. Dies ist umso bemerkenswerter, als kollektive Stimmungen wie Wirtschafts- und Konsumklima von Meinungsforschungsinstituten erhoben und nationale Depressionen und Euphorien anlässlich von wichtigen Sportereignissen in der Presse in aller Selbstverständlichkeit diskutiert werden. In der Philosophie wurde die Bedeutung des emotionalen Hintergrundes vor allem in Heideggers Daseinsanalyse herausge-
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arbeitet.21 Heidegger spricht von der „Stimmung“, die dem menschlichen Dasein erst die Welt erschließt und es in seinem Sosein bestimmt und durchstimmt (1986/1927: § 29, 134-140). „Stimmung“ kann aber auch auf soziale Gruppen bezogen werden: „Die Öffentlichkeit als die Seinsart des Man (vgl. § 27) hat nicht nur überhaupt ihre Gestimmtheit, sie braucht Stimmung und ‚macht‘ sie für sich. In sie hinein und aus ihr heraus spricht der Redner. Es bedarf des Verständnisses der Möglichkeiten der Stimmung, um sie in der rechten Weise zu wecken und zu lenken.“ (1986/1927: 138 f.)
Ein solches Verständnis kollektiver Stimmungen gereicht nicht nur dem Redner zu Vorteil, sondern auch einer Soziologie, die den Erfolg populistischer Stimmungsmache, die Emotionalität revolutionärer Situationen oder aber den Verlauf von Skandalen erklären will. Der Einfluss individueller und kollektiver Stimmungen auf das Erleben und Handeln lässt sich schwerlich bestreiten. Insbesondere Risikoabschätzungen sind in hohem Grade von den emotionalen Dispositionen der Akteure abhängig, wie nicht zuletzt die Phänomene der „moral panic“ (Cohen 1982) und „science scare“ (Smith 2012) zeigen. Die wohl systematischste Auseinandersetzung mit kollektiven Stimmungen findet man immer noch in der Theorie kollektiven Verhaltens des amerikanischen Soziologen Neil Smelser (1972/1962), wenngleich es auch neuere Überlegungen zu „emotionalen Klimata“ gibt (Vester 1991, 2006). Neben kognitiven Erwartungshaltungen und emotionalen Dispositionen können auch evaluative Muster, tief verankerte Normen und Werte, zum kulturellen Hintergrund einer Gesellschaft gezählt werden. Der Sozialphilosoph Charles Taylor, auf dessen Konzeption des Imaginären wir später noch eingehen werden (1.3.3), setzt sich in seinen Quellen des Selbst mit den „Hintergrundsprachen“ und dem „Hintergrundbild“ der Moral auseinander (1994). Ausgehend von der bereits erwähnten Unterscheidung von schwachen und starken Wertungen (1.1.1) zeichnet Taylor das Bild eines Selbst in einem moralischen Raum, der eine Hierarchie der Werte veranschaulichen soll. Er spricht von „moralischen Landkarten“ oder „Topographien“, die Orientierung bei Urteilen bieten. Taylors moralische Landkarten dürfen keineswegs als rein individuell missverstanden werden, da sie sich bei Mitgliedern einer Gesellschaft in weiten Teilen überlappen (2009: 275-295, vgl. 4.1).22 21 Die Philosophin Martha Nussbaum spricht ebenfalls von „background emotions“ (2001: 69-75), deren Bedeutung allerdings zwischen vorintentionalen affektiven Stimmungen und dauerhaften, meist unbewussten intentionalen Gefühlen changiert. 22 Der exzessive Gebrauch räumlicher Metaphern bei Taylor ist symptomatisch für die Schwierigkeiten einer Versprachlichung des Vorintentionalen. Im vorliegenden Fall ist die Raummetaphorik besonders fruchtbar, weil sie den ordnungsstiftenden, aber nichtbegrifflichen Charakter moralischer Hintergründe anschaulich macht. Thorn Kray (2010)
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Diese Vorstellung eines Selbst im moralischen Raum ist bei Taylor mit dem Begriff der „Identität“ verknüpft, der ebenfalls die Merkmale eines vorintentionalen Hintergrundes besitzt. Für Taylor fallen die starken Wertungen, die ein Akteur vollzieht, und dessen Identität als Selbstbild zusammen. In diesem Sinne ist Identität dem evaluativen Hintergrund und nicht etwa dem kognitiven oder emotionalen Hintergrund zuzurechnen (wobei sie natürlich mit dem Selbstgefühl verknüpft ist). In seinem Standardwerk zur „kollektiven Identität“ hat Giesen den Identitätsbegriff gegenüber utilitaristischen Ansätzen der Handlungserklärung folgendermaßen in Anschlag gebracht: „Identität ist selbst ranghöchstes und nicht weiter relativierbares Ziel, sie wird bei strategischen Erwägungen immer schon vorausgesetzt, sie dient nicht Interessen, sondern definiert Interessen“ (1999: 13). Die Konstruktion von kollektiver Identität geht gerade nicht auf bewusste Planung und Intentionalität zurück, sondern ist dem kulturellen Hintergrund einer Gesellschaft geschuldet: „Selbstbilder und ihr Gegenstück, die Bilder des Fremden, gewinnen ihre Überzeugungskraft nicht aus der Nützlichkeit für bestimmte Interessen der Mitglieder, sondern aus der Einbettung in allgemeine Weltbilder“ (1999: 17). Darüber hinaus spielen bei der Konstruktion von Identität auch Bilder, Erzählungen und Performanzen eine große Rolle. Im Falle kollektiver Identität sind dies vor allem Symbole, Gründungsmythen und Rituale (Giesen 1999). Als individueller und kollektiver Hintergrund des Handelns muss Identität jedoch immer vorausgesetzt werden, da sie weder durch bewusste Reflexion erreichbar ist noch diskursiv begründet werden kann. Wir haben gesehen, dass es unterschiedliche Formen des Handlungshintergrundes gibt, die die Realisierung unterschiedlicher Bewusstseinszustände prädisponieren. Es lassen sich zwei weitere Momente des kulturellen Hintergrundes unterscheiden. Einerseits können wir den Handlungshintergrund als eine symbolische Ordnung von Differenzen und Äquivalenzen begreifen (1.3.2); andererseits lässt er sich als soziales Imaginäres, das nach einer narrativ-bildliche Logik verfährt, charakterisieren (1.3.3). Bevor auf diese komplementären Aspekte von Kultur eingegangen wird, sollen in den folgenden Abschnitten noch mögliche Alternativen zu der hier vorgeschlagen Theorie diskutiert und der Frage nach der Kausalität in Handlungserklärungen durch kulturelle Dispositionen nachgegangen werden. 1.2.2 Zur Kritik des handlungstheoretischen Monismus Die hier verhandelten Ansätze haben eines gemeinsam: Sie setzen auf eine dualistische Konzeption von Habitus und Praxis (Bourdieu 1982, 1998), vorintentionalem Hintergrund und intentionalem Handeln (Searle 1987, 1995), Code und Prozess hat in einer jüngeren Arbeit die Bedeutung von Metaphern für die soziologische Theoriebildung an der räumlichen Metaphorik der Akteur-Netzwerk-Theorie aufgezeigt. Die räumliche Metaphorik bei Latour (2007) besitzt eine vergleichbare Funktion, nämlich Unschärfe durch Anschaulichkeit zu kompensieren (vgl. Kray 2010: 135).
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(Giesen 1991a, 1991b). Dieser Dualismus von inkorporierter Struktur und sozialem Prozess ist allerdings nicht alternativlos. Einige Autoren weisen diesen Dualismus (als cartesianisch) von sich und ziehen sich stattdessen auf eine monistische Theorie des Handelns zurück. Die beiden prominentesten Ansätze sind wohl der soziologische Pragmatismus und die kultursoziologische Praxistheorie. Der soziologische Pragmatismus wird in Deutschland vor allem durch Hans Joas vertreten.23 Dieser vertritt die These, dass der philosophische Pragmatismus „vor allem eine Reflexion auf die vor aller bewussten Intentionalität des Handelns liegende Einbettung des Subjekts in Praxis und Sozialität darstellt“ und „damit die Konzeption des nutzenkalkulierenden Individuums auf handlungstheoretischer Ebene unterläuft“ (1987: 264). Auch der Pragmatismus kritisiert das intentionale Handlungsverständnis, allerdings weisen seine Vertreter einen cartesianischen Dualismus zwischen Körper und Geist bzw. Handeln und Bewusstsein strikt zurück. Durkheim, der in seinen Vorlesungen zum Pragmatismus diesen als handlungstheoretischen Monismus kritisiert hatte (1987), wird von Joas vorgeworfen, von einer „Handlungsunabhängigkeit des Bewusstseins“ auszugehen (1987: 264). Joas selbst setzt auf ein reflexives Verständnis von Intentionalität (1992: 218-244), das allerdings nicht an den vorreflexiven und vorintentionalen Hintergrund des Handelns und Erlebens heranreicht. Auch wenn sich menschliches Handeln immer an konkreten Handlungsproblemen orientiert, ist an der Einsicht festzuhalten, dass diese Probleme nur vor einem Handlungshintergrund sichtbar und wirksam werden können. Gegen Joas‘ Fundamentalkritik des Dualismus ließe sich einwenden, dass der Status des menschlichen Geistes in der Philosophie wie auch in den Neurowissenschaften nach wie vor umstritten ist.24 Die Frage, inwieweit mentale Phänomene gegenüber dem Handeln eine Eigenständigkeit besitzen, droht zu einer scholastischen Frage zu verkommen, solange wir keine hinreichenden empirischen Indizien besitzen. In Anbetracht dieser Lage scheint es sinnvoll zu sein, ihre vorläufige Beantwortung an forschungspraktische Kriterien zu knüpfen. Dies soll kurz an einem neueren Ansatz aus dem Feld der Praxistheorien problematisiert werden, der eine dem Pragmatismus vergleichbare Position vertritt, sich aber stärker mit dem Problem einer kulturtheoretischen Handlungserklärung befasst.
23 Der soziologische Pragmatismus knüpft an die philosophische Tradition des amerikanischen Pragmatismus an, der sich mit handlungstheoretischen Fragen beschäftigte. 24 So warnt der Philosoph McGinn eindringlich vor überzogenen Absetzbewegungen gegenüber den „supposed excesses of Cartesian dualism“ (2004: 2). Auch die Einfachheit von Modellen dürfe nicht als unangefochtenes und letztlich ausschlaggebendes Kriterium gelten: „Occam’s razor quickly turns into Procrustes’ bed. Modesty becomes a retreat from ambition. […] What we must do is face the mental facts and develop adequate descriptive and explanatory theories ‒ or admit we can’t.“ (2004: 3)
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Andreas Reckwitz versucht in seiner Transformation der Kulturtheorien in einer Auseinandersetzung mit strukturalistischen und phänomenologischen Kulturtheorien zu zeigen, dass neuere Entwicklungen in einer Theorie sozialer Praktiken kulminieren (2006/2000). Seine Darstellung einer Theorie sozialer Praktiken orientiert sich stark an den Überlegungen des Sozialphilosophen Theodore R. Schatzki (1996, 1997). Zwischen beiden Autoren herrscht Einigkeit über die Ablehnung des Dualismus von Handlungspraxis und mentalem Handlungshintergrund, allerdings ziehen sie daraus unterschiedliche Schlüsse. Während Schatzki die kausale Erklärung sozialer Praktiken aus logischen Gründen, die im handlungstheoretischen Monismus der Praxistheorie begründet liegen, für unmöglich hält, bleibt bei Reckwitz die Möglichkeit einer kausalen Handlungserklärung zunächst offen. Bevor auf das Problem der Kausalerklärung bei Reckwitz eingegangen wird, empfiehlt sich ein Blick auf seine Kritik an dualistischen bzw. mentalistischen Handlungskonzeptionen. Diese Kritik wird in seiner (inhaltlich korrekten) Darstellung von Bourdieus Habitusbegriff besonders deutlich. Der Habitus ist demnach „im Akteur mental verankert und gleichzeitig eine kollektive, dem einzelnen Subjekt präexistente Wissensstruktur“, wobei Reckwitz an dieser Konzeption bemängelt, dass die kollektiven Muster „nicht außerhalb des Mentalen“ situiert sind, „sondern in den nichtbewussten Strukturen des Mentalen selbst“ verortet werden (2006/2000: 324). Reckwitz versucht zwar zur Ehrenrettung von Bourdieu diesem eine antimentalistische Stoßrichtung nachzuweisen, die in der Inkorporierung des Habitus zu Tage trete, doch bleibt ihm der Habitusbegriff, der in Bourdieus Werk die Hauptlast der kausalen Handlungserklärung trägt, ein Dorn im Auge. Konsequenterweise wird dieser Begriff in seiner eigenen Theorie denn auch ersatzlos gestrichen. 25 Diese Begriffsentscheidung bleibt in theoretischer Hinsicht nicht folgenlos: Dies hat zur Konsequenz, dass aus Sicht der Praxistheorie und im Gegensatz zum Mentalismus Wissen und seine Formen nicht ‚praxisenthoben‘ als Bestandteil und Eigenschaften von Personen, sondern immer nur in Zuordnung zu einer Praktik zu verstehen und zu rekonstruieren ist: Statt zu Fragen, welches Wissen eine Gruppe von Personen, d.h. eine Addition von Individuen, ‚besitzt‘, lautet die Frage, welches Wissen in einer bestimmen sozialen Praktik zum Einsatz kommt (und erst darauf aufbauend kann man auf die Personen als Träger der Praktiken rückschließen). (Reckwitz 2003: 292; Hervorhebung im Original) 25 Geht man der Frage nach, welche Argumente bei Reckwitz gegen den handlungstheoretischen Dualismus sprechen, so wird schnell klar, dass dieser selbst das Problem ist. So wie sich die „analytische Soziologie“ im wissenschaftlichen Diskurs als ein positiv besetztes Symbol und bzw. als eine vertrauenswürdige Marke zu etablieren versucht, dient der „cartesianische Dualismus“ den monistischen Handlungstheorien als negatives Symbol und konstitutives Außen (1.3.2), das zu allem Überfluss noch mit Horrorvorstellungen aus dem sozialen Imaginären (wie dem „Geist in der Maschine“) aufgeladen ist (1.3.3).
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An diesem Zitat lassen sich zwei zentrale Merkmale der Praxistheorie erkennen: Da wäre zum einen der handlungstheoretische Monismus bzw. Aktivismus, der sich in der Kritik mentalistischer Zuschreibungen äußert, zum anderen aber die Forderung nach einer radikalen Entkopplung von kulturellen Mustern und sozialen Gruppen, die bei genauerer Betrachtung eine Konsequenz der Verabschiedung des Mentalen darstellt. Der Aktivismus der Praxistheorie – von Reckwitz als Praxisnähe gefeiert – führt in letzter Konsequenz zu einem Verzicht auf eine kausale Handlungserklärung. Deren Möglichkeit würde nach Schatzki voraussetzen, dass Zustände isoliert werden können, die nicht schon logisch-begrifflich in der jeweiligen Praxis enthalten sind. Der von Reckwitz zu Anfang des Buches erhobene kausale Erklärungsanspruch wird zwar gegen Ende noch einmal verteidigt (2006/2000: 593-599), doch zeigen nicht zuletzt seine empirischen Arbeiten, dass sich die Anwendung seiner Theorie weitestgehend in einer terminologischen Neubeschreibung sozialer Phänomene erschöpft (2006). Im Gegensatz dazu geht diese Untersuchung von einer relativen Autonomie von kulturellen Mustern gegenüber der Handlungspraxis aus, was eine gehaltvolle Handlungserklärung zuallererst ermöglicht.26 Auch die – bei Reckwitz fast apriorisch anmutende – theoretische Entkopplung von Kultur und Gruppe muss in Zweifel gezogen werden. Die Verbreitung kultureller Muster entlang sozialer Grenzen stellt eine empirische Frage dar, die nicht einer theoretischen Vorentscheidung zum Opfer fallen darf. Diese Forderung wird zwar auch von Reckwitz erhoben, doch beraubt er sich zugleich des theoretischen Instrumentariums, das es ihm erlauben würde, die Korrelation von sozialen Grenzen und kulturellen Mustern durch einen geteilten kulturellen Hintergrund zu erklären. Für neuere Theorien des Geistes, die von einer vorintentionalen Fundierung des Intentionalen in einer mental verankerten und leiblich inkorporierten Kultur ausgehen, stellt eine dualistische Handlungskonzeption kein grundsätzliches Problem mehr dar. Die praxeologische Analyse des Handelns bei Reckwitz fokussiert zu einseitig auf den Prozess des Handelns, während dessen Vorstrukturierung sowie dessen Ereignischarakter ausgeblendet werden. Das Ereignis einer Handlung kultursoziologisch zu erklären bedeutet, sein Eintreten vor einem Hintergrund sozial erworbener, mentaler Dispositionen verständlich zu machen. Mentalistische Theorien der Kultur setzen allerdings eine relative Autonomie des menschlichen Geistes gegenüber sozialen Praktiken und öffentlichen Bedeutungen voraus. Ein Indiz, das für diese Autonomie spricht, ist die strukturierende Wirkung des Habitus, die sich auch über die Grenzen von Praxisfeldern hinaus entfaltet. Die statistische Übereinstimmung zwischen Kinderstube und Kunstgenuss, zwischen kulinarischen Vorlieben 26 Auch der von Reckwitz (2006/2000: 478-522) als Gewährsmann seiner Theorie sozialer Praktiken vereinnahmte Charles Taylor geht von der relativen Unabhängigkeit eines sozialen Imaginären gegenüber der Handlungspraxis aus, wobei er sich explizit auf philosophische Theorien des Hintergrundes bezieht (2002: 107; 2007: 172f.; vgl. 1.3.3).
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und politischen Wahlentscheidung sind alles andere als zufällig (Bourdieu 1982). Zwar erweist sich die genaue Bestimmung des kausalen Einflusses von Kultur als schwierig, doch lassen sich mit Hilfe von Brückenhypothesen und sozialen Mechanismen, die auf ein nicht-intentionalistisches und nicht-physikalistisches Vokabular zurückgreifen, auch in den Kulturwissenschaften kausale Aussagen treffen. 1.2.3 Mechanismische Erklärungen und kulturelle Mechanismen Die Möglichkeit oder Nützlichkeit von Kausalerklärungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften ist ein vieldiskutiertes Thema. Die Praktikabilität des deduktivnomologischen Erklärungsmodell, dem zufolge sich das zu Erklärende aus einem allgemeinen Gesetz und seinen Randbedingungen herleiten lassen muss, wird unter anderem von den zeitgenössischen Verfechtern „mechanismischer Erklärungen“ angezweifelt (Hedström 1998; Gorski 2004; Edling & Hedström 2005; Gross 2009). Schon in Webers Wissenschaftslehre heißt es: „je ‚allgemeiner‘, d. h. abstrakter, die Gesetze [sind], desto weniger leisten sie für die Bedürfnisse der kausalen Zurechnung individueller Erscheinungen und damit indirekt für das Verständnis der Bedeutung der Kulturvorgänge“ (1988/1904: 178). Für Weber sind nomologische Gesetzmäßigkeiten nur Mittel zum Zweck. Sie müssen als spezifische kausale Mechanismen formuliert werden, da „die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltleersten, regemäßig auch die wertlosesten“ sind (1988/1904: 179f.). Die Verwendung geeigneter sozialer Mechanismen ist eine mögliche Form kultursoziologischer Erklärungen, auf die es sich etwas genauer einzugehen lohnt. Allerdings hat die aktuelle Debatte über mechanismische Erklärungen zu keiner allgemein akzeptierten Begriffsfassung geführt.27 Die Versuche von Jon Elster (1998b, 2007), den Begriff des „sozialen Mechanismus“ zu definieren, sind den alternativen Ansätzen vorzuziehen, da er die Abkehr vom nomologischen Gesetzesbegriff am konsequentesten vollzogen hat. Elster zufolge handelt es sich bei sozialen Mechanismen um „frequently occurring and easily recognizable patterns that are triggered under generally unknown conditions or with indeterminate consequences“ (2007: 36), also um leicht erkennbare und häufig auftretende kausale Zusammenhänge, die unter unbekannten Bedingungen mit unvorhersehbaren Folgen ausgelöst werden. 27 Ein Überblick findet man in dem Sammelband von Peter Hedström (1998) und in seiner Monographie Anatomie des Sozialen (2008: 42-43), aber auch in einem neueren Artikel von Lutz Bornmann (2010: 30). Die von Michael Schmid (2006) verheißene Überwindung der multiparadigmatischen Soziologie durch mechanismische Erklärungen ist wohl selber einem psychologischen Mechanismus geschuldet: dem Wunschdenken. Nimmt seine Verfechter genauer unter die Lupe, stellt man fest, dass einige von ihnen das deduktiv-nomologische Modell kategorisch ablehnen, während andere gerne seinen nomologischen Kern retten würden. Mario Bunge (2010) vertritt gar einen „Systemismus“, der dem methodologischen Individualismus der meisten Mitstreiter zuwiderlaufen dürfte.
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Eine mechanismische Erklärung stellt eine vergleichsweise anspruchslose Form der kausalen Erklärung dar. Sie erlaubt zwar keine genauen Vorhersagen, ermöglicht aber zumindest plausible kausale Rekonstruktionen. Diese Abkehr vom deduktivnomologischen Erklärungsmodell und der zurückgeschraubte Erklärungsanspruch von mechanismischen Erklärungen weist Ähnlichkeiten zu narrativen Ansätzen der historischen Erklärung auf (hierzu Ricoeur 2007: 154-166; vgl. auch 2.2.2). In dem Maße, wie sich ein historisches Ereignis nicht mehr aus allgemeinen Gesetzen und Randbedingungen deduzieren lässt, gewinnen sprachliche Argumentation und Narration an Bedeutung. Im Anschluss an den sprachanalytischen Geschichtsphilosophen Arthur C. Danto (1985) lässt sich eine Erzählung als „Form der Erklärung kontingenter Ereignisse“ begreifen (so Fellmann 1991: 163).28 In diesem Sinne ist auch der hier unternommene Versuch einer Erklärung des Abu-Ghraib-Skandals eine Erzählung, die mithilfe von sozialen Mechanismen eine wissenschaftliche Plausibilität vor dem Hintergrund des bisherigen Forschungstandes zu erzielen versucht. Die intentionalistische Kausalität von Gründen darf nicht mit der deterministischen Kausalität von Billardkugeln gleichgesetzt werden, auch wenn beide Formen in Handlungserklärungen eine Rolle spielen können. Neben der Erklärung durch Gründe und Ursachen lässt sich eine dritte Form kausaler Erklärung identifizieren, die für eine an vorintentionalen Strukturen ansetzende Kultursoziologie von großer Bedeutung ist. Eine Handlungserklärung durch Dispositionen beruht auf der Vorstellung einer „Background causation“, wie sie von Searle in seinen Studien zum „Hintergrund“ eingeführt wurde (1995: 137-147). Der vorintentionale Hintergrund bestimmt intentionale Akte auf eine Weise, die nicht physikalistisch oder intentional verstanden werden darf. Über das Konzept der Hintergrundverursachung lassen sich kulturelle Dispositionen als eigenständig wirksame kausale Faktoren – neben intentionalen Zuständen und physikalischen Prozessen – konzeptualisieren. Soziale Mechanismen stellen kausale Beziehungen zwischen einzelnen Elementen der Handlungserklärung her, ohne dass dabei auf allgemeine Gesetze zurückgegriffen werden muss. Elster bemerkte, dass soziale Mechanismen häufig in Gegensatzpaaren auftreten, die beide für sich Plausibilität beanspruchen können und alleine schon deswegen aus dem deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell herausfallen. Oft lassen sich für diese Gegensatzpaare Sprichwörter finden, wie beispielsweise „gleich und gleich gesellt sich gern“ oder „Gegensätze ziehen sich an“ (vgl. Elster 2007: 38). Fallen beispielsweise Bedürfnisse und deren Erfüllbarkeit bei einem 28 Margaret Sommers und Gloria Gibson haben den Ausschluss von Narrationen als dem „epistemological other“ wissenschaftlicher Erklärungen einer Kritik unterzogen (1994). Derartige Feindbilder sind nach wie vor beliebt, besonders bei jenen, die eine „harte“ Identität der Sozialwissenschaften jenseits der Geisteswissenschaften favorisieren. Den beiden Autorinnen ist beizupflichten, das dieses epistemologische „othering“ nicht nur unnötig, sondern dem Erkenntnisinteresse der Soziologie ganz und gar abträglich ist.
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Handelnden auseinander – ein klassischer Fall „kognitiver Dissonanz“ (Festinger 1968) – so ist nicht ohne weiteres klar, welche Folgen dies haben wird. Der Handelnde kann sich über die Erfüllbarkeit seines Begehrens täuschen („wishful thinking“), seine Bedürfnisstruktur kann sich den Gegebenheiten anpassen („sour grapes“), oder aber sein Begehren kann durch dessen Unerfüllbarkeit noch weiter anwachsen (Elster 2007: 39). Dies gilt auch für kollektive Bedürfnisse, wie sich am Krieg gegen den Terror aufzeigen lässt. Das gesteigerte Bedürfnis nach Sicherheit entfachte nicht nur einen neuen Folterdiskurs, sondern führte auch zu politischen Maßnahmen und populären Imaginationen, die sich als „magical thinking“ oder „wish fulfillment“ deuten lassen (vgl. Holmes 2006; 6.4; 10.3-4). So waren die Folgen des Schocks und die Mechanismen der Bewältigung von 9/11 zwar vorhersehbar und nachvollziehbar, aber nicht vorhersagbar und alternativlos. Diese Komplementarität sozialer Mechanismen trifft auch auf den Mechanismus der Nachahmung oder mimesis zu, dem bei der Entstehung und Verbreitung von kulturellen Mustern eine entscheidende Bedeutung zukommt. „Die Nachahmungsgabe des Menschen ist allgemein“, heißt es schon bei Johann Wolfgang von Goethe, „er will nachmachen, nachbilden, was er sieht“ (1989: 541). Die empirische Frage, was zum Gegenstand der Nachahmung wird, bleibt mit dieser Feststellung allerdings offen. So findet sich in Gabriel Tardes Gesetzen der Nachahmung auch der Begriff der „Gegen-Nachahmung“ (2003/1895: 13-15), der eine negative Form der Nachahmung bezeichnet. Somit stellt selbst das pubertäre Aufbegehren von Jugendlichen, die bloß nicht so sein wollen wie ihre Eltern, eine Form von Nachahmung dar. Bei den sogenannten „Gesetzen“ der Nachahmung handelt es sich nicht um allgemeine Gesetze, sondern um soziale Mechanismen, die unter unbekannten Bedingungen ausgelöst werden. Tarde versucht zwar die Randbedingungen der Nachahmung zu spezifizieren, indem er beispielsweise feststellt, dass die niederen Klassen vorzugsweise die höheren Klassen nachahmen (2003/1895: 238268), gelangt aber dadurch nicht zu Gesetzen, die ausnahmslos gelten. Nicht nur Handlungen können nachgeahmt werden, sondern auch Überzeugungen, Gefühle und Wünsche. So hat René Girard darauf hingewiesen, dass nicht nur das Verhalten, sondern auch das Begehren anderer Akteure imitiert werden kann (2006: 214-219). Der Mechanismus der Nachahmung kann sowohl das Phänomen der emotionalen Ansteckung als auch die Verbreitung von Moden erklären. Aber damit hört die Macht der Nachahmung nicht auf, denn diese erstreckt sich bis in den Hintergrund sensomotorischer Bewegungsabläufe, emotionaler Stimmungen und kultureller Muster. Tarde (2003/1895) spricht von einer „mimetischen Ansteckung“ und von „Nachahmungsstrahlen“, die sich in einer Gesellschaft ausbreiten. Die Annahme einer Verbreitung und Stabilisierung von kulturellen Mustern durch Nachahmung muss keineswegs in eine statische Konzeption von sozialer Ordnung münden. Die schiere Unmöglichkeit einer Wiederholung im strikten Sinne hat zur Folge, dass sich immer wieder Differenzen einschleichen, die dann ihrerseits wieder
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‒ wenn sie erfolgreich sind ‒ zum Gegenstand der Nachahmung werden können. Kulturelle Muster stehen also in einem evolutionären Zusammenhang von Variation, Selektion und erneuter Stabilisierung. Darüber hinaus verdankt sich kulturelle Differenzierung nicht alleine diesem evolutionären Prozess, sondern auch mehr oder weniger intentionalen Akten der Gegen-Nachahmung, der Distinktion und Innovation. Die Dialektik von Nachahmung und Distinktion stellt uns vor die Frage, wann ein kulturelles Muster nachgeahmt wird – und wann nicht. Der soziale Mechanismus der Nachahmung gibt uns also keine Antwort darauf, welche kulturellen Muster oder Handlungen nachgeahmt werden, wann der komplementäre Mechanismus der Distinktion zum Zuge kommt, welche Abweichungen von der Norm wieder in der Versenkung verschwinden und welche zur Mode werden. Eine Antwort auf dieses Problem verspricht der Begriff der kulturellen „Resonanz“. Giesen bestimmt Resonanz als ein „Verhältnis zwischen der Produktion und Rezeption von Codierungen“ (1999: 187), sprich: kulturellen Mustern. Studien in der kognitiven Psychologie legen nahe, dass kulturelle Muster immer weniger auf direkter Erfahrung beruhen, sondern in hohem Grade von medial vermittelten Bildern und Narrativen abhängen (vgl. DiMaggio 1997: 268). Für den Effekt einer Performanz, eines Bildes oder einer Erzählung ist die Resonanz im kulturellen Hintergrund des Rezipienten von entscheidender Bedeutung. Der metaphorische Gebrauch des physikalischen Konzepts der Resonanz soll deutlich machen, dass wir es im Bereich von Kommunikation und Kultur nicht mit einer einfachen Durchgriffskausalität zu tun haben. Empfangene Signale und wahrgenommene Bedeutungen machen ihren Einfluss dadurch geltend, dass sie ihre Rezipienten gemäß der Beschaffenheit des jeweiligen kulturellen Resonanzbodens in eine Eigenschwingung versetzen, die wiederum Affekte und Bedeutungen generiert.29 Kulturelle Muster können sich, wie auch Emotionen, unter geeigneten Bedingungen geradezu epidemisch ausbreiten, indem sich die Resonanzen einer öffentlich vollzogenen Handlung durch mimetische Ansteckung wechselseitig verstärken. Darüber hinaus kann es auch zu dem Phänomen der symbolischen Ansteckung kommen: Die aufgerufenen kulturellen Muster überlagern sich und werden miteinander verknüpft. Dies gilt nicht nur im Guten, sondern auch im Schlechten: So wurde die Reputation des amerikanischen Militärs und der Militärbasis in Guantanamo Bay von dem Abu-Ghraib-Skandal in Mitleidenschaft gezogen (z.B. 10.4). 29 Es lassen sich zwei Modi von Resonanz unterscheiden. Im Falle der „Konsonanz“ fügt sich das empfangene Signal in den kulturellen Resonanzboden ein – es schwingt sozusagen im harmonischen Gleichklang mit. Bei der „Dissonanz“ wird das empfangene Signal als Störung einer Ordnung wahrgenommen – was zu einer dauerhaften Veränderung des Resonanzbodens führen kann. Konsonanz und Dissonanz können durchaus zusammengehen, wie nicht zuletzt die Abu-Ghraib-Bilder zeigen, die sich zum Selbstbild der Amerikaner dissonant verhielten, aber auch bekannte Motive wachriefen (7.5).
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1.3 K ULTUR
ALS SYMBOLISCHE UND SOZIALES I MAGINÄRES
O RDNUNG
Alles, was auf diese oder jene Weise von der Gesellschaft aufgenommen oder wahrgenommen wird, muss etwas bedeuten, muss mit einer Bedeutung beladen sein. CORNELIUS CASTORIADIS, GESELLSCHAFT ALS IMAGINÄRE INSTITUTION (1987: 394; HERVORHEBUNG IM ORIGINAL)
Die Kultursoziologie interessiert sich vornehmlich für die Rolle von Bedeutungen und Sinnzuschreibungen im sozialen Verkehr und gesellschaftlichen Leben (vgl. Alexander 2003a), insbesondere aber für den vorintentionalen und sozial geteilten Hintergrund, der Bedeutung und Sinn zuallererst konstituiert. Schon den klassischen Strukturalisten ging es darum, „basic regularities that govern the production of meanings in social life“ (Laclau 2007: 21) zu finden. Letztendlich geht es also nicht um den „subjektiv gemeinten Sinn“ einer Handlung, sondern um dessen kulturelle Bedingungen, die selbst unseren innigsten Überzeugungen und Gefühlen zu Grunde liegen. In diesem Abschnitt wird noch einmal näher auf den kollektiven Hintergrund eingegangen, der den einzelnen intentionalen Zuständen erst ihre Bedeutsamkeit verleiht. Dabei soll ein doppelter Kulturbegriff umrissen werden, welcher strukturalistische Ansätze, die Kultur als symbolische Ordnung auffassen, mit anti- und poststrukturalistischen Ansätzen kombiniert, die Kultur als soziales Imaginäres verstehen. Indem diese Untersuchung die symbolische Ordnung und das soziale Imaginäre als komplementäre Pole der Kultur bestimmt, greift sie auf die bekannte Begriffstrias von Symbolischem, Imaginärem und Realem zurück. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht die Theorie des gesellschaftlichen Imaginären von Cornelius Castoriadis (1987). Auch wenn sich der Sozialphilosoph in erster Linie mit dem Begriff der Gesellschaft als imaginärer Institution beschäftigt, geht auch er davon aus, dass sich das Imaginäre nur in seiner Beziehung zum Symbolischen und Realen verstehen lässt. Andere, soziologisch weniger einschlägige Fassungen der Triade, können im Folgenden leider nicht berücksichtigt werden.30 1.3.1 Der kulturelle Hintergrund der Sprache Gerade weil die Begriffe „Bedeutung“ und „Sinn“ zum Kerngeschäft der Kultursoziologie gehören, führt, will man zu einem gehaltvollen und praktikablen Kulturbe-
30 Diese Triade wird auch in der Psychoanalyse von Jaques Lacan verwendet (1980/1964). Obgleich sich Lacans Terminologie in den letzten Jahren ‒ dank ihrer Popularisierung durch die Schriften des Kulturtheoretikers Slavoj Žižek (2001, 2008) ‒ einiger Beliebtheit erfreut, soll von der Exegese dieses „dunklen“ Autors abgesehen werden.
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griff gelangen, kein Weg an einer Auseinandersetzung mit Bedeutungs- und Zeichentheorien vorbei. Für die Entwicklung der zeitgenössischen Kulturtheorien waren die Überlegungen von Ferdinand de Saussure, der durch seinen cours de linguistique générale zum Ahnvater des Strukturalismus wurde (1967/1916), wohl am einflussreichsten. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Sprache (langue) als ein Hintergrund des Sprechens (parole) fungiert. Zugleich soll in der Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Sprachtheorie die Komplementarität von symbolischer Ordnung und sozialem Imaginären begründet werden. In seinen Vorlesungen vertrat Saussure die These, dass das sprachliche Zeichen und seine Bestandteile im Wesentlichen psychischer oder mentaler Natur sind: „Das sprachliche Zeichen vereinigt nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild“ (1967/1916: 77). Bei einem Zeichen handelt es sich also zunächst um ein Bewusstseinsphänomen, das aus einer Vorstellung mit intentionalem Gehalt (dem Bezeichnetem bzw. Signifikat) und einer Wahrnehmung mit intentionalem Gehalt (dem Bezeichnendem bzw. Signifikant) zusammengesetzt ist. Die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant ist, so lautet der erste Grundsatz von Saussure, beliebig bzw. arbiträr.31 Diese Rede von Beliebigkeit und Arbitrarität bedeutet gerade nicht, dass „die Bezeichnung von der freien Wahl der sprechenden Person abhinge“, sondern besagt nur, dass ein sprachliches Zeichen grundsätzlich „unmotiviert ist, d.h. beliebig im Verhältnis zum Bezeichneten“ (1967/1916: 80). Anders gesagt: Es besteht kein natürlicher Zusammenhang zwischen Signifikat und Signifikant. Die Arbitrarität des Zeichens ist zugleich Bedingung der Möglichkeit der Veränderbarkeit von Zeichen und damit auch der Historizität von Sprache. Daraus folgt, dass die Bedeutung eines Zeichens nicht aus sich selbst heraus verstanden werden kann, sondern sich seiner Stellung innerhalb eines Systems verdankt. Zeichen sind „nicht positiv durch ihren Inhalt, sondern negativ durch ihre Beziehungen zu den anderen Gliedern des Systems definiert“ (1967/1916: 139). So wie sich ideelle Vorstellungen voneinander unterscheiden, tun dies auch materielle Lautbilder. Erst ihre jeweilige Stellung in einem „System stellt die im Innern jedes Zeichens zwischen lautlichen und psychischen Elementen bestehende Verbindung her“ (1967/1916: 144). Damit ist die Bedeutung eines Zeichens ein Produkt seiner Differenz zu anderen Zeichen desselben Zeichensystems. Was „gut“ heißt, verstehen wir nur vor dem Hintergrund dessen, was wir „böse“ oder „schlecht“ nennen würden. Gerade auch moralisch und politisch besetze Begriffe wie „Folter“ bzw. „torture“ haben keine natürliche und unveränderliche Bedeutung, sondern erhalten diese durch Abgrenzung zu anderen Begriffen wie beispielsweise „harsh interrogation technique“ (6.4.1), „abuse“ (8.1) oder „waterboarding“ (10.4.1). Aus der Tat31 Die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens findet sich bereits in der Zeichentheorie von Peirce (1998/1894), dessen semiotische Trias von Symbol, Ikone und Index der Unterscheidung zwischen Symbolischem, Imaginärem und Realem ähnelt (1.3.2-5).
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sache, dass sich die Bedeutung des einzelnen Wortes aus seinen Relationen ergibt, folgert Saussure: „die Sprache ist eine Form und nicht Substanz“ (1967/1916: 146, vgl. auch 134). Der intentionale Gebrauch von sprachlichen Zeichen (parole) ist somit nur vor dem vorintentionalen und überindividuellen Hintergrund eines immer schon vorausgesetzten Zeichensystems (langue) verständlich. Die Sprachtheorie von Saussure wurde zum Vorbild der strukturalistischen Bewegung, später auch zum Gegenstand anti- und poststrukturalistischer Kritik. Dem Kulturtheoretiker und politischen Philosoph Ernesto Laclau zufolge führt dieses formal-strukturalistische Modell des Zeichens in ein theoretisches Dilemma (2007: 432). Die eindeutige Koppelung von einem Signifikat mit genau einem Signifikanten, die sogenannte „Isomorphie des Zeichens“, macht – gegen die ausdrückliche Absicht von Saussure – die Einführung einer substanziellen Bedeutung erforderlich. Will man auf die Annahme einer substanziellen Bedeutung verzichten, so muss man die Isomorphie des Zeichens aufgeben. Letzteres geschieht in der glossematischen Schule der Linguistik, welche die semantischen und lautlichen Bestandteile des Zeichens weiter dekomponiert, sodass die Entsprechung von Vorstellungsbild und Lautbild vollständig verabschiedet werden muss (Laclau 2007: 432f.). Grundsätzlich lässt sich auch ein alternativer Weg zur Lösung des Dilemmas beschreiten, den Cornelius Castoriadis in seiner Kritik der strukturalistischen Sprachtheorie vorgezeichnet hat. Auch er knüpft an die Zeichentheorie von Saussure, vertritt aber zugleich die These, dass die Bedeutung eines Zeichens nicht alleine aus seiner Differenz zu anderen Zeichen verstanden werden kann. Sinn bedarf zwar immer einer symbolischen Artikulation, aber er ist „an keine besondere Signifikantenstruktur gebunden“ (1987: 237, Hervorhebung im Original). Sinn weist einen Bedeutungsüberschuss auf, der über das einzelne Zeichen hinausgeht. So verweisen Zeichen immer auch auf nichtsymbolische Sachverhalte, seien sie nun wahrgenommen, gedacht oder aber vorgestellt (1987: 241). Castoriadis möchte an der Einsicht des Strukturalismus festhalten, dass es ohne Symbolisierung keine Bedeutung gäbe, stellt jedoch dessen Schlussfolgerung, dass sich Bedeutung in der Symbolisierung erschöpfe, in Frage. Für ihn ist Bedeutung nicht nur eine Relation innerhalb von Zeichen oder zwischen Zeichen, sondern gehören zu einer amorphen Bedeutungssubstanz, dem sogenannten „Magma“ des sozialen Imaginären, das sich der differenziellen Identitäts- und Mengenlogik des Symbolischen widersetzt.32 32 Wie schon der vorintentionale Hintergrund (1.2.1), so lässt sich – Castoriadis zufolge – auch der Begriff des „Magmas“ weder „in der Umgangssprache“ noch in „irgendeiner anderen Sprache angemessen“ definieren, wenngleich er sich zu folgendem Versuch hinreißen lässt: „Ein Magma ist etwas, dem sich mengenlogische Organisationen unbegrenzt entnehmen lassen (oder: worin sich solche Organisation unbegrenzt konstruieren lassen), das sich aber niemals durch eine endliche oder unendliche Folge von mengentheoretischer Zusammenfassungen zurückgewinnen lässt.“ (1987: 564)
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Die beiden Auswege aus dem Dilemma schließen sich nicht aus, sondern stellen zwei komplementäre Seiten der Kultur dar, wie dies auch schon Castoriadis Unterscheidung zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären nahegelegt hat. Kultur kann zum einen als differenzielle symbolische Ordnung aufgefasst werden, die als vorintentionaler Hintergrund nicht nur dem Sprechen, sondern auch allen übrigen intentionalen Akte zu Grunde liegt. Zum anderen muss aber auch die unaufhebbare Ambiguität und Ambivalenz von Bedeutungen angemessen berücksichtigt werden (vgl. Giesen 2010: 17-37), weswegen Kultur immer auch als substanzielles „Magma“ gesellschaftlicher Bedeutungen zu verstehen ist, das als soziales Imaginäres ebenfalls einen vorintentionalen Hintergrund des Handelns und Erlebens darstellt. 1.3.2 Kultur als symbolische Ordnung – Diskurse, Codes, Programme Wenn im Folgenden von Kultur als symbolischen Ordnung die Rede ist, so ist damit ein System organisierter Differenzen gemeint, das als strukturierende Struktur sozialen Prozessen zu Grunde liegt und sich als strukturierte Struktur beständig reproduziert. Die symbolische Ordnung stellt ein historisch-gesellschaftliches Apriori dar, das einem kulturellem Wandel unterworfen ist. Ein derartiger Kulturbegriff geht auf die strukturalistische Tradition zurück, die von Saussure begründet (1967/1916), aber von Claude Levi-Strauss (1967) und Roland Barthes (1985b, 2005, 2007) auf nichtsprachliche Bereiche ausgeweitet wurde. Die differenzielle Ordnung von Zeichensystem stellt demzufolge nicht nur einen kulturellen Hintergrund des Sprechens, sondern aller Formen von Intentionalität und Kommunikation dar. Im Folgenden soll das Konzept der symbolische Ordnung im Anschluss an die Diskurstheorien von Laclau und Mouffe (2000) sowie der Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie von Luhmann (1991, 1997) entlang der Begriffe „Diskurs“, „Code“ und „Programm“ näher bestimmt und verdeutlicht werden. Während die „Sprache“ bei Saussure ein relativ geschlossenes, aus einzelnen Zeichen bestehendes System darstellt, handelt es sich bei einem „Diskurs“ um eine offene Totalität von Aussagen. Damit wird auch das Sprechen selbst, das bei Saussure alleine der Willkür des Sprechers unterliegt, einem historisch-gesellschaftlichen Apriori unterworfen. Das Wörterbuch der Sprache und die Regeln der Grammatik ermöglichen die Artikulation einer Vielzahl von Aussagen. Der Begriff des Diskurses trägt der Tatsache Rechnung, dass nur ein Bruchteil dieser Aussagen in konkreten historischen Diskursen realisiert wird: Nicht alles, was gesagt werden könnte, wird auch gesagt. So entstand nach dem 11. September 2001 ein Folterdiskurs, in dem andere Aussagen zur Folter möglich wurden, als in den Jahren zuvor (6.4). Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2000) haben ihre Theorie des politischen Diskurses im Rückgriff auf Foucaults Diskursanalyse und Gramscis Hegemoniebegriff entwickelt. Den grundlegenden Akt der Hervorbringung von Diskursen nennen die beiden Autoren „Artikulation“. Der Akt der Artikulation bringt eine Menge he-
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terogener symbolischer Elemente in eine Beziehung zueinander und stellt dadurch die künstliche Homogenität des Diskurses her. Laclau zufolge besitzt das Diskursive einen quasi-transzendentalen Status: „The basic hypothesis of a discursive approach is that the very possibility of perception, thought and action depends on the structuration of a certain meaningful field which pre-exists any factual immediacy“ (2007: 431).33 Als gesellschaftliche Bedingung der Möglichkeit von intentionalen Akten des Wahrnehmens, Denkens und Handelns entspricht der Diskursbegriff damit dem „Habitus“ von Bourdieu und dem „Background“ aus Searles Sozialontologie. Laclau und Mouffe weiten die strukturalistisch-diskursanalytische Methode auf nichtsprachliches Handeln und Erleben aus, was die bis dato gängige Unterscheidung zwischen diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken unterläuft (2000; Laclau 2007: 433). Auch die „nichtdiskursive“ Praktiken werden durch Diskurse formiert und informiert, was kein Primat des Sprachlichen bedeutet. Vielmehr sind „nichtdiskursive“ Praktiken selbst Bestandteile des Diskurses.34 Als ein offenes System von Differenzen ist die Einheit des Diskurses – anders als bei der relativ abgeschlossenen Totalität einer Sprache – nicht von vornherein gesichert. Die Einheit des Diskurses stellt nicht nur ein praktisches, sondern auch ein theoretisches Problem dar, für das es unterschiedliche Lösungsansätze gibt. Während der frühe Foucault noch von der episteme als dem generativen und einheitsstiftenden Prinzip des Diskurses spricht (2008), gibt er dieses Konzept später zu Gunsten einer vergleichsweise flachen Konzeption des Diskurses auf, welche die Einheit des Diskurses nur noch auf der Ebene der Aussagen, das heißt im Spiel ihrer Differenzen, verortet. Bei Luhmann wird die Einheit eines Diskurses – zumindest in den Funktionssystemen der modernen Gesellschaft – über einen binären Code als einer Leitdifferenz hergestellt (z.B. Recht/Unrecht im Rechtssystem). Die Anwendung des binären Codes schließt das System nach außen hin operativ ab. Diese Codes sind allerdings inhaltlich unbestimmt, weswegen sie einer Festlegung auf der Programmebene bedürfen. Laclau und Mouffe verwenden einen ähnliches 33 Im Gegensatz zum Apriori der Transzendentalphilosophie, das eine zeitlose Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis darstellt, unterliegen Diskurse und kulturelle Hintergründe einem gesellschaftlichen Wandel. Es handelt sich bei ihnen um historische Aprioris, die die gesellschaftlichen Grenzen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns bestimmen. Das Konzept des gesellschaftlichen Aprioris kann sich auf die Kantkritik von Durkheim berufen, der die apriorischen Verstandeskategorien (2005/1912: 27-42) und den kategorischen Imperativ (1996: 84-117) historisierte und soziogenetisch zu erklären versuchte. 34 Diskurse über rituelle Reinheit erschöpfen sich nicht in den kodifizierten Reinheitsgeboten und diesbezüglichen Kommentaren, sondern beinhalten auch die rituellen Praxis, die nach den gleichen symbolischen Differenzen operiert. Auch eine rituelle Abweichung stellt eine Aussage innerhalb des Reinigungsdiskurses dar, auf die weitere Aussagen, seien es Kommentare oder eine veränderte Ritualpraxis, folgen können.
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Konzept, den sogenannten „leeren Signifikanten“, um den sich die Differenzen des Diskurses als äquivalent gruppieren und in Opposition zu einem konstitutiven Außen die Einheit des Systems herstellen (Laclau & Mouffe 2000; Laclau 2002: 6578). Die jeweilige und zeitweilige Besetzung des leeren Signifikanten, die dem Diskurs seine Einheit verleiht, heißt bei den beiden Autoren „Hegemonie“. Im Folgenden soll uns zunächst das Begriffspaar „leerer Signifikant“ und „Hegemonie“, dann aber auch Luhmanns Differenz von „Code“ und „Programm“ beschäftigen. Die folgenden Überlegungen sind nicht nur für ein tiefergehendes Verständnis der Funktionsweise von symbolischen Ordnungen wichtig, sondern überschreiten zugleich die Grenzen des Symbolischen auf das soziale Imaginäre hin. 35 Ein leerer Signifikant ist ein Signifikant ohne ein Signifikat. Die Vorstellung eines leeren Signifikanten wäre für Saussure aufgrund der von ihm vertretenen Isomorphie des Zeichens ein Ding der Unmöglichkeit, da jedem Lautbild genau eine Vorstellung zugeordnet werden muss (1.3.1). Laclau und Mouffe, die aus theoretischen Gründen die Isomorphie des Zeichens ablehnen, erblicken in der Existenz von leeren Signifikanten die Voraussetzung für politische und öffentliche Diskurse. Gerade weil leere Signifikanten keine feste Bedeutung besitzen, können sie das System, ja das Kollektiv selbst repräsentieren (vgl. Giesen 2004c: 77-80). Die partikularen Differenzen des Diskurses werden um den leeren Signifikanten zu Äquivalenzketten aneinandergereiht, wobei der leere Signifikant vorübergehend mit einem partikularen Gegensatz besetzt und dadurch gefüllt werden kann. Die Äquivalenz der Differenzen und die Besetzung des leeren Signifikats schafft eine Superdifferenz zwischen dem Diskurs und seinem konstitutiven Außen. Ein Beispiel für die zeitweilige Besetzung des leeren Signifikanten ist der sogenannte „Krieg gegen den Terror“ – ein globaler Diskurs, der eine Kollektivität konstituierte, indem er eine spezifische Differenz zwischen der freien Welt und ihrer Bedrohung durch Terroristen und Schurkenstaaten zog (6.4). Im Zuge des Krieges gegen den Terror kam es zur „Entleerung“ weiterer Signifikanten, z.B. „torture“ bzw. „Folter“, um deren Besetzung ein Deutungskampf entbrannte (10.4). Die Einsichten von Laclau und Mouffe müssen keineswegs auf politische Diskurse beschränkt, sondern können auch auf andere gesellschaftliche Bereiche ausgeweitet werden. So kann Wissenschaft als ein Diskurs verstanden werden, der sich um den (an sich) leeren Signifikanten der wissenschaftlichen Wahrheit dreht. Die Frage, welche Füllung dieser Signifikant erhält, kann nicht aus dem „Wesen“ der Wissenschaft beantwortet werden. Jede Füllung des (an sich) leeren Signifikanten „wissenschaftliche Wahrheit“ stellt ein spezifisches historisches Produkt dar, das 35 Robert Seyfert (2011) zeigt am Beispiel von Laclau und Mouffe die Unzulänglichkeit einer nur auf Differenzen beruhenden Theorie der Institutionalisierung auf. Diese erweitert er im Rückgriff auf die Arbeiten von Bergson und Castoriadis um eine positive Dimension, die sich teils mit dem hier entwickelten Begriff des Imaginären deckt (vgl. 1.3.3).
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jedoch für universell und zeitlos ausgegeben wird. Bei genauerer Betrachtung fällt die Übereinstimmung zwischen dem Begriff des leeren Signifikanten und Luhmanns binären Codes ins Auge. Der binäre Code eines Funktionssystems erfüllt dieselbe Funktion wie ein leerer Signifikant, indem er das System gegen sein konstitutives Außen, seine Umwelt, abschließt. Der leere Signifikant und das konstitutive Außen des Diskurses können als Form des binären Codes betrachtet werden, mit dem das System operiert. Die grundlegende soziale Differenz zwischen Innen und Außen wird durch den symbolischen Code des Diskurses erzeugt und repräsentiert.36 Dieses Verständnis von Diskursen als binär codierten Systemen findet sich nicht nur bei Luhmann, sondern auch in der neueren amerikanischen Kultursoziologie, die sich der Analyse zivilgesellschaftlicher Diskurse widmet (Smith 1991; Alexander 1993; Alexander & Smith 1994; 4.3.1). Mit der Arbitrarität des binären Codes stellt sich nun allerdings das Problem einer Zuordnung von Codewerten zu einzelnen Aussagen und Handlungen. Wann ist eine Handlung als moralisch verwerflich oder eine Aussage als wissenschaftlich gesichert anzusehen? Es würde keinen Diskurs der Moral geben, wenn alle Handlungen moralisch wären, keinen wissenschaftlichen Diskurs, wenn alle Aussagen wahr sein könnten (Luhmann spricht vom Erfordernis der Limitationalität, 1991). Ohne konstitutives Außen bräche das System in sich zusammen. Laclau und Mouffe lösen dieses Problem mit ihrem Begriff der „Hegemonie“, der zeitweiligen Besetzung des leeren Signifikanten, während in Luhmanns Systemtheorie die Zuweisung von Codewerten von „Programmen“ übernommen wird. Die Programme der Wissenschaft sind beispielsweise Theorien und Methoden (1991: 401-432). Die Programmebene ist unabhängig von der Ebene des binären Codes. Dies ermöglicht nicht nur die Existenz unterschiedlichster wissenschaftlicher Paradigmen, Rechtsordnungen und Religionen, sondern auch interne Konkurrenz zwischen wissenschaftlichen Theorien, Rechtsauslegungen und religiösen Schulen. Diese Konzeption berührt Fragen, die wir schon in dem einführenden Abschnitt zur Handlungsintentionalität behandelt haben (1.1). Regeln, Mittel und Ziele müssen zuallererst interpretiert und das kommunikative Einverständnis muss immer vor einem gemeinsamen kulturellen Hintergrund erzielt werden. Hier geht die Kultur als symbolische Ordnung in das soziale Imaginäre über, das Interpretationsfolien für die Zuweisung von Codewerten bereitstellt. Rechtsprechung ist nicht nur einem kodifi36 Die ursprüngliche Form des symbolischen Codes ist Durkheims Unterscheidung zwischen „Heiligen“ und „Profanem“ (2005/1912: 61-68), die einen „Mutterkuchen“ der symbolischen Differenzierung darstellt. Daran schließt sich eine weitere Unterscheidung an, nämlich jene zwischen dem „reinen“ und dem „unreinen Heiligen“ (2005/1912: 548555). Diese Polarität des Religiösen wurde von dessen Schüler Robert Hertz ausgearbeitet (2007), weswegen beide zu den Gründervätern des sozialwissenschaftlichen Strukturalismus und Poststrukturalismus gezählt werden können (so Moebius & Papilloud 2007).
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zierten Regelkanon, sondern auch dem sich wandelnden Rechtsverständnis unterworfen. Investmententscheidungen sind nicht nur von objektiven Kennzahlen, sondern auch von betriebswirtschaftlichen Trends abhängig. Angesicht der inhärenten Instabilität und Unbestimmtheit des Symbolischen, für die der Begriff des leeren Signifikanten steht, muss die Einheit des Diskurses imaginiert werden. Das „strong program“ von Jeffrey C. Alexander und Philip Smith (2003), das sich einem struktural-hermeneutischen Ansatz verschrieben hat, setzt auf eine kulturalistische Lösung des Problems der Zuweisung von Codewerten. 37 Hier sind es vor allem Narrative und Performanzen (2.2-3), die die Zuordnung eines bestimmten Codewertes nahe legen (Smith 2005; Alexander 2006b). Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008 versuchte sich beispielsweise John McCain als „maverick“ zu inszenieren, weil er so Wähler für sich zu gewinnen glaubte (Alexander 2010: 107f.). Die vorliegende Untersuchung nimmt dieses Modell auf und erweitert es in einer entscheidenden Hinsicht: Die Zuordnung von Codewerten durch Performanzen, Narrative und Bilder, wie die aus Abu Ghraib, gewinnt erst vor dem Hintergrund eines sozialen Imaginären an Plausibilität. 1.3.3 Kultur als soziales Imaginäres – Imagination und Phantasma Schon die übersubjektive Struktur von Zeichensystemen fungiert, wie wir gesehen haben, als ein Hintergrund intentionalen Handelns und Erlebens. Allerdings zeigte die Diskussion der strukturalistischen Sprachtheorie und der poststrukturalistischen Diskurstheorie, dass sich Bedeutung nicht alleine auf Zeichensysteme reduzieren lässt. Dem soll das Konzept des sozialen Imaginären – als einem Pendant der symbolischen Ordnung – Abhilfe leisten. In den letzten Jahren wurde der Begriff des sozialen Imaginären, der im Wesentlichen auf Castoriadis zurückgeht (1987), von dem Sozialphilosophen Charles Taylor popularisiert (2002, 2005; C. Taylor 2007). Dieser führt das soziale Imaginäre zunächst als Gegenbegriff zu „Theorie“ ein: „I speak of ‚imaginary‘ (i) because I’m talking about the way ordinary people ‚imagine‘ their social surroundings, and this is often not expressed in theoretical terms, it is carried in images, stories, legends, etc. But it is also the case (ii) theory is often a possession of a small minority, whereas what is interesting in the social imaginary is that it is shared by large groups of people, if not the whole society. Which leads to a third difference: (iii) the social imaginary is that common understanding which makes possible common practices, and a widely shared sense of legitimacy.“ (C. Taylor 2007: 171f.) 37 Vgl. hierzu die kritische Besprechung des „strong program“ bei Andreas Pettenkofer (2002), der zu Recht auf die „Unterbestimmtheit“ und „Unentscheidbarkeit“ symbolischer Ordnungen verweist, wenn er auch keine Hinweise gibt, wie denn damit theoretisch umzugehen sei. Die kultursoziologischen Arbeiten von Alexander und Smith stellen nichtsdestotrotz einen Fortschritt gegenüber den bisherigen Ansätzen dar.
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Hier ist zunächst einmal hervorzuheben, dass das soziale Imaginäre nicht nur in seiner unbestimmtesten Form als rohes Bedeutungsmagma existiert, sondern sich auch in kulturellen Mustern und Gattungen manifestiert, die unter anderem in Bilder und Erzählungen zu Tage treten (2.1-2). Des Weiteren gilt, dass die Kollektivität des sozialen Imaginären der Regelmäßigkeit von sozialen Praxen vorgeordnet ist. Mit seiner Konzeption des sozialen Imaginären geht Taylor damit über jene zeitgenössischen Praxistheorien hinaus, die Kultur unmittelbar an die Praxis zu koppeln versuchen (vgl. 1.2.2).38 Stattdessen stellt er seinen Begriff des Imaginären in einen Bezug zur aktuellen philosophischen Debatte über den Hintergrund: „What I’m calling the social imaginary extends beyond the immediate background understanding which makes sense of our particular practices. […] This wider grasp has no clear limits. That’s the very nature of what contemporary philosophers have described as ‚background‘. It is in fact that largely unstructured and inarticulate understanding of our whole situation, within which particular features of our world show up for us in the sense they have. It can never be adequately expressed in the form of explicit doctrines, because of its very unlimited and indefinite nature. That is another reason for speaking here of an ‚imaginary‘, and not a theory.“ (C. Taylor 2007: 172 f.)
Die unbegrenzte und unerschöpfliche Natur des Imaginären erinnert an die Metapher des Magmas bei Castoriadis, der von Taylor im Übrigen nicht erwähnt wird. Das opus magnum von Castoriadis (1987) bleibt trotz ihrer Schwächen die bis dato ambitionierteste Auseinandersetzung mit dem sozialen Imaginären. Seine recht abstrakten und nicht immer klaren Gedankengänge sind soziologisch höchst interessant und fruchtbar, wenn auch im Folgenden eine gewisse Reduktion von Komplexität geleistet werden muss, um seine Anschlussfähigkeit für die empirische Sozial- und Diskursforschung zu sichern. Ausgangspunkt von Castoriadis ist eine Kritik des zeitgenössischen Marxismus, dem er vorwirft, die menschlichen Bedürfnisse zu natürlichen Grundbedürfnissen zu hypostasieren. Im Gegenzug macht er die Künstlichkeit und Kontingenz von Bedürfnissen geltend, was selbst auf scheinbar basale Bedürfnisse zutrifft. So kann sich der Mensch von seinem Selbsterhaltungstrieb distanzieren, indem er sich in den Dienst einer (imaginären) Sache stellt: er kann aus politischen Gründen in den Hungerstreik treten, sich in Vorbereitung auf ein wichtiges Fußballspiel in sexueller Enthaltsamkeit üben oder gar aus einer religiösen Heilserwartung heraus einen Selbstmordanschlag verüben. Kurzum: Das System der Bedürfnisse muss als ein Produkt des gesellschaftlichen Imaginären verstanden werden. Castoriadis geißelt den „szientifischen Positivismus“ und „ökonomischen Determinismus“ des Vulgärmarxismus und setzt an dessen Stelle eine Theorie der 38 Umso seltsamer, dass gerade Charles Taylor bei Andres Reckwitz (2006/2000: 478-522) als Gewährsmann einer solchen Theorie sozialer Praktiken in Anspruch genommen wird.
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Praxis, die den subjektiven, aber dennoch sozialen Moment des praktischen Entwurfs hervorhebt. Der Entwurf ist als praktische Vorstellung auf die Einbildungskraft angewiesen, die allerdings gesellschaftlichen Beschränkungen unterliegt. Bei Castoriadis legt das gesellschaftliche Imaginäre fest, „[…] unter welchen Bedingungen und in welchem Rahmen etwas zum Gegenstand möglichen Handelns und Vorstellens werden kann, und gewährleistet damit von vornherein – konstruktionsgemäß, wenn man so sagen kann – den Zusammenhalt jener undefinierten und wesentlich offenen Menge von Individuen, Handlungen, Gegenständen, Funktionen und Institutionen im abgeleiteten und üblichen Sinne, kurz: den Zusammenhang dessen, was jedesmal konkret eine Gesellschaft ist.“ (1987: 602)
Castoriadis zufolge lässt sich Geschichte nicht ohne ein produktives oder schöpferisches Prinzip denken, das er „radikales Imaginäres“ nennt. Während das radikale Imaginäre für die Kreativität des Handelns und die Offenheit des Geschichte steht, ist „das aktuelle Imaginäre“ für die soziologische Analyse von Institutionen und Gesellschaften von weitaus größerer Bedeutung. Im menschlichen Handeln verfestigen sich Vorstellungen und Bedeutungen zu einem relativ stabilen System: „Ein solches System von Bedeutungen legt jeweils Aufbau und Gliederung der gesellschaftlichen Welt fest. Sind diese Bedeutungen erst einmal konstituiert, existieren sie in einer Weise, die wir als aktuelles Imaginäres (oder Imaginiertes) bezeichnet haben“ (Castoriadis 1987: 251). In seiner Verschränkung mit dem Realen schlägt sich das Imaginäre in gesellschaftlichen Institutionen nieder: „Die Institution ist ein symbolisches, gesellschaftlich sanktioniertes Netz, in dem sich ein funktionaler und ein imaginärer Anteil in wechselnden Proportionen miteinander verbinden“ (1987: 226). Die symbolische und institutionelle Ordnung bewahrt gegenüber dem Imaginären eine gewisse Eigenständigkeit, da sie zugleich vom Realen abhängt. Selbst wissenschaftliche Forschung ist nicht vor empirischen Überraschungen oder Anomalien gefeit, die im herrschenden Paradigma nicht vorgesehen waren. Castoriadis geht davon aus, dass Institutionen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang bestimmte Funktionen erfüllen können. Allerdings ist er der Überzeugung, dass diese Funktionen nicht die Entstehung und den Bestand einer Institution erklären. Auch Luhmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass funktionale Äquivalente zu einer gegebenen Institution immer denkbar sind. Wie eine mathematische Funktion mehrere Lösungen besitzen kann, gibt es auch für gesellschaftliche Anpassungsprobleme verschiedene Lösungen. Die symbolische Superstruktur wird durch die materielle Infrastruktur nicht vollständig determiniert. Dies bedeutet, dass sich gesellschaftliche Institutionen ‒ aufgrund ihrer Einbettung in ein soziales Imaginäres ‒ nicht durch funktionale Erfordernisse erklären lassen. Das Imaginäre kann auch Institutionen stützen, die ihre „Funktion“ schon lange verloren haben.
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Dem sozialen Imaginären kommt eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Konstitution kollektiver Akteure zu, insbesondere wenn der Kreis unmittelbarer Interaktion verlassen wird. Auch Nationen müssen als imaginierte Gemeinschaften verstanden werden; so jedenfalls die These von Benedict Andersons bahnbrechender Studie über den modernen Nationalismus (1996). Anderson hat zudem auf die Bedeutung von kulturellen Formen wie dem Roman hingewiesen, ohne welche die Imagination der Nation seines Erachtens kaum möglich gewesen wäre. Giesen (1999) hat im Anschluss an Anderson hervorgehoben, dass auch nationale Gemeinschaften auf traditionelle Symbole und Rituale angewiesen bleiben. An die Stelle des Totems tritt die Nationalfahne, die Versammlung des Stammes wird durch den Urnengang der Wähler abgelöst. Taylor misst dem gemeinschaftsstiftenden Charakter des sozialen Imaginären ebenfalls eine große Bedeutung bei: So lassen sich Kollektivsingulare wie „Volk“ und „Öffentlichkeit“ nur über kollektiv geteilte Vorstellungschemata erklären (vgl. 2007: 185-207; 4.2.3). Erst mit Hilfe der individuellen Vorstellungskraft und des sozialen Imaginären lässt sich kollektive Intentionalität auf größere soziale Einheiten beziehen. Ohne imaginierte Gemeinschaften käme kein Soldat auf die Idee, für „sein Vaterland“ sterben zu wollen. Das soziale Imaginäre tritt an die Stelle des überkommenen Begriffs der „Ideologie“, der einen Zugang zur unverstellten Wirklichkeit voraussetzt. Wir gehen mit Castoriadis davon aus, dass unser Zugang zur Wirklichkeit immer durch imaginäre Bedeutungen und Bilder vermittelt wird. Dennoch gibt es einen mit der Ideologie verwandten Begriff, der für die vorliegende Untersuchung fruchtbar gemacht werden kann. Der auf Freud zurückgehende Begriff des „Phantasmas“ kann als eine pathologische Form des Imaginären verstanden werden, die – durch Bedürfnisse und Emotionen motiviert – von den Zumutungen des Realen weitestgehend abgeschirmt wird (vgl. Sarasin 2004). Die Untersuchung wird zeigen, dass sich das sogenannte „Ticking-Bomb-Szenario“, das in Fernsehserien wie 24 und in Folterdiskursen eine zentrale Rolle spielte, als Phantasma deuten lässt (6.4.2; 10.3.1; 10.4.2). 1.3.4 Kultur und das Reale – Anlehnung, Ereignis, Spur In den letzten Jahren erfreut sich das „Reale“ einer wachsenden Beliebtheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unmittelbarkeit versuchen Autoren wie Gumbrecht Konzepte wie „Präsenz“ gegen allseitige Repräsentation und ausufernde Interpretation stark zu machen (2004). Aber auch sein überaus enthusiastisch begonnenes Unterfangen endet mit der resignativen Feststellung: „In unserer Kultur kommen Präsenzphänomene stets als ‚Präsenzeffekte‘ daher, denn sie werden notwendig von Wolken und Sinn umgeben, umfangen und vermittelt“ (2004: 127). Aus kultursoziologischer Perspektive wird man noch einen Schritt weiter gehen müssen: Präsenz ist ein Effekt, der ohne eine symbolische Vermittlung gar nicht erst zu Stande kommt. Hier kommt die Hegelsche Einsicht zu tragen, wonach Unmittelbarkeit
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notwendig vermittelt ist. In diesem Sinne soll auch das „Reale“ in dieser Studie verstanden werden: Präsenz und Authentizität sind als Effekte erfolgreicher sozialer Performanzen zu begreifen (2.2.3), der Realismus von Fotografien ist einem medialen Effekt geschuldet (2.1.3) und auch die Vorfälle von Abu Ghraib werden erst über ihre symbolisch vermittelten Effekte gesellschaftlich relevant (7.5). Dennoch stellt das reale Ereignis („wie es wirklich war“) als unerreichbares Faszinosum eine treibende Kraft im Diskurs dar. Es lassen sich drei Aspekte des Realen unterscheiden, die hier „Anlehnung“, „Ereignis“ und „Spur“ genannt werden sollen. Mit dem Begriff der „Anlehnung“ versucht Castoriadis dem schwer bestreitbaren Sachverhalt Rechnung zu tragen, dass symbolische Unterschiede und gesellschaftliche Bedeutungen zum Teil auf natürlichen Differenzen beruhen, ohne dass auf Letztere unmittelbar zugegriffen werden kann (1987: 385-398). So geht Castoriadis von der Existenz zweier Geschlechter als einer universellen Naturtatsache aus, die allerdings mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedeutungen versehen werden kann. Das Geschlecht sei sowohl ein biologisches Merkmal (Sex) als auch ein kulturelles Muster (Gender). Durch diese symbolische und imaginäre Anlehnung schreibe sich die Gesellschaft jedoch in die natürliche Welt ein und verändere sie nach dem Bilde, das sie sich von ihr macht. 39 Die Anlehnung der Gesellschaft an die Natur ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass natürliche Unterschiede nur über die symbolische Ordnung und das soziale Imaginäre für die Mitglieder einer Gesellschaft eine Bedeutung gewinnen könnten: „Alles, was auf diese oder jene Weise von der Gesellschaft aufgenommen oder wahrgenommen wird, muss etwas bedeuten, muss mit einer Bedeutung beladen sein. Mehr noch, es wird stets im Vorgriff auf eine mögliche Bedeutung aufgenommen; nur dank dieser Möglichkeit kann schließlich auch etwas als sinnlos, insignifikant oder absurd betrachtet werden. Es liegt auf der Hand, dass das Absurde – auch und gerade dann, wenn es nicht auflösbar ist – nur vor dem Hintergrund eines bedingungslosen Anspruchs auf Bedeutung erscheinen kann.“ (Castoriadis 1987: 394).
Der Abgrund des Absurden und Sinnlosen tut sich stets vor dem Hintergrund des Bedeutsamen und Sinnhaften auf. Hier rühren wir an die zweite Bedeutung des Realen als einem Ereignis, das in ähnlicher Weise wie die Krise auf einer Verletzung von Hintergrundannahmen beruht (vgl. 1.2.1). Im Ereignis zeigt sich das Reale als ein Riss im symbolischen und imaginären Bedeutungsgewebe einer Gesellschaft. Das unvermittelte Hereinbrechen des Realen als außerordentliches (oft auch: trau39 So werden Hermaphroditen in einigen Gesellschaften umgebracht oder verehrt, in anderen durch chirurgische Eingriffe auf ein „natürliches“ Geschlecht reduziert. Der gesellschaftliche Umgang mit solchen „Monstern“, die aus dem Klassifikationssystem herausfallen, stellt eine Herausforderung für Gesellschaften dar (Giesen 2010: 143-162).
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matisches) Erlebnis ist nicht kommunizierbar. Sowohl die Anlehnung als auch das Ereignis hinterlassen ihre Spuren. In der Spur ist nicht das Reale selbst, wohl aber seine Abwesenheit erfahrbar (Krämer 2007: 14f.). Das Reale zeigt sich in dem Schock, der mit einer hereinbrechenden Krise einhergeht, aber auch in der materiellen Spur der Fotografie, welche die Existenz des Abwesenden beglaubigt (2.1.3). Selbst die digitale Fotografie scheint sich noch diesen Gestus bewahrt zu haben, wie der Umgang mit den Fotografien von Abu Ghraib zeigt (7.5). Neben dem Symbolischen und dem Imaginären lässt sich auch das Reale als ein Hintergrund des intentionalen Handelns verstehen, was kurz am Beispiel des Schmerzes erläutert werden soll. Die Unaussprechlichkeit des Schmerzes ist in der Literatur ein weitverbreiteter Topos (hierzu Lethen 2006), und auch Folteropfer erzählen, dass sich die Erfahrung von extremen Schmerzen einer Versprachlichung widersetze (Améry 2002: 73f.; Scarry 1992). Dennoch gibt es so etwas wie die Aufarbeitung einer schmerzlichen Erfahrung, eine Versprachlichung des Unaussprechlichen. Die Tatsache, dass sich die Schmerzempfindung in besonderer Weise der symbolischen Repräsentation sperrt, liegt möglicherweise in ihrer mangelnden Intentionalität begründet.40 Bei Schmerzen scheint es sich weniger um einen intentionalen Zustand als vielmehr um eine Störung im Hintergrund des Bewusstseins zu handeln, die intentionale Bewusstseinsinhalte zu verdrängen droht. Das Reale des Schmerzes birgt nicht etwa einen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit, sondern führt in seiner äußersten Steigerung zu einem „Weltverlust“ (Scarry 1992), der die symbolische Ordnung zerbrechen und den Quell des Imaginären versiegen lässt. Als außerordentliches Ereignis können Schmerzen auch bleibende Spuren hinterlassen, ganz wie die äußere Gewalteinwirkung am Körper zu Wunden und Narben führt. Jean Améry, der als Widerstandskämpfer von den Nazis gefoltert wurde, spricht von einem Verlust an „Weltvertrauen“ (2002: 62) durch das Erleiden von Gewalt: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt“ (2002: 85). Für die psychischen Folgeschäden einer extremen Schmerzerfahrung oder eines vergleichbaren Schocks hat sich das griechische Wort für Wunde, „Trauma“, eingebürgert. Das Trauma von Gefolterten ist weniger der direkten Schmerzerfahrung geschuldet als dem Zusammenbruch von Selbst und Welt, der mit der Folter einhergeht (vgl. Scarry 1992). Die personale Identität kann durch die Erfahrung von Schmerz und Erniedrigung irreparabel beschädigt werden.
40 So argumentiert Colin McGinn, dass nicht sinnvoll zwischen einer Schmerzempfindung und ihrem Schmerzobjekt unterschieden werden könne (1982: 1-16). Tim Crane hält dem entgegen, dass dies wohl möglich sei (2007: 26-34), wobei er dabei allerdings Gefahr läuft, den Intentionalitätsbegriff zu überdehnen. Alain Scarry (1992) argumentiert, dass der Schmerz der einzige psycho-somatische Zustand sei, der sich nicht auf ein externes Objekt beziehe und daher auch keinen intentionalen Gehalt besitze.
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1.3.5 Kulturelle Traumata und symbolische Diskurse Damit intentionales Handeln möglich ist, muss der vorintentionale Hintergrund des Handelns und Erlebens dem Handelnden verborgen bleiben. Soziale Ordnung ist nur möglich, wenn sowohl die Innenwelt als auch die Außenwelt latent gehalten werden (Giesen 2004b). Die Existenz der unerreichbaren Außenwelt wird durch indexikalische Gesten angedeutet, während der Gebrauch von Symbolen auf eine heilige Welt des Inneren verweist, die in ihrer Bedeutung niemals auszuloten ist. Das Reale wie das Imaginäre treten als unbestimmter Rest in Erscheinung, der durch symbolische Operationen zwar handhabbar, jedoch nie zum Verschwinden gebracht werden kann. Das Reale muss latent gehalten werden, weil es unaussprechlich und unerreichbar ist, das Imaginäre, weil es unerschöpflich und unhintergehbar ist. Das Verhältnis von symbolischer Ordnung und außerordentlichem Einbruch lässt sich mit dem Phänomen des Traumas verdeutlichen, dass in den letzten Jahren zunehmend in den Blickpunkt der kultursoziologischen Forschung gerückt ist (unter anderem Caruth 1996; Giesen 2004c; Giesen & Schneider 2004; Alexander et al. 2004; 2011). Hier ist es zunächst hilfreich, einen „psychologischen“ Traumabegriff von dem Begriff des „kulturellen Traumas“ zu unterscheiden. Das psychologische Trauma stellt eine pathologische Störung des Verhaltens und Bewusstseins dar, die sowohl individuell als auch kollektiv auftreten kann, während das kulturelle Trauma auf der Ebene des Diskurses und des sozialen Imaginären zu verorten ist. Der Begriff des Traumas und die Begriffstrias des Imaginären, Symbolischen und Realen erhellen sich wechselseitig. So verdeutlicht Castoriadis den Unterschied zwischen dem Realen und dem Imaginären am Beispiel des Traumas: „Das traumatische Ereignis ist real als Ereignis und imaginär als Trauma“ (1987: 231, Fn.35). Ein Ereignis ist jedoch niemals an sich traumatisch, sondern kann nur vor dem Hintergrund einer symbolischen Ordnung, „weil das Individuum ihm eine Bedeutung verliehen hat, die nicht die ‚kanonische‘ Bedeutung dieses Ereignisses ist“ (Castoriadis 1987: 231). Das traumatische Ereignis sprengt die Ordnung des Symbolischen, den Kanon, und nistet sich dadurch im Imaginären ein. Es verdammt zur Sprachlosigkeit, weil die überlieferte Sprache über keine adäquaten Kategorien der Sinnstiftung mehr verfügt. Solange das Trauma im Imaginären verbleibt, ist es latent. Erst mit dem Versuch seiner symbolischen Artikulation kann es sich manifestieren und beobachtbar werden. Dieses Modell gilt nicht nur für das psychologische Trauma, sondern lässt sich auch auf den kulturellen Traumabegriff übertragen. Kulturelle Traumata treten in öffentlichen Diskursen zu Tage. Sie gehen in der Regel auf kollektiv erlebte Ereignisse zurück, wenn auch die Tatsache des Traumas nur begrenzt Rückschlüsse auf die Realität des Ereignisses zulässt. Nach dem traumatischen Ereignis treten kulturelle Traumata oft in eine Latenzphase (vgl. Giesen 2004a: 30-37), in der sie nicht offen im Diskurs artikuliert werden können. Allerdings hinterlässt das traumatische Ereignis auch in diesen Fällen beobachtbare Spu-
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ren, die auf ein kulturelles Trauma schließen lassen, wie z.B. Auslassungen, Fehlleistungen, diskursive Tabus oder kompensatorische Diskurse. Es ist keinesfalls erforderlich, dass alle Mitglieder der Gruppe, die unter einem kulturellen Trauma leidet, die traumatische Erfahrung des Ereignisses auch selbst durchgemacht haben. Durch Erzählungen, aber gerade auch durch Unausgesprochenes, kann ein solches Trauma von Generation zu Generation weitergegeben werden, wie beispielsweise das Trauma der Sklaverei bei den Afroamerikanern (Eyerman 2004). Manifest wird das Trauma aber erst durch seine symbolische Artikulation und öffentliche Aufarbeitung. Dennoch gilt, dass sich das reale Grauen nur als Spur in den Diskurs und die symbolische Ordnung einschreiben kann. Das erlebte Grauen ist nicht darstellbar. Der Topos der Undarstellbarkeit wird im Trauma-Diskurs gerne bedient (so beim Holocaust, 6.1.2), aber zugleich versucht man auch immer wieder, das Trauma und das traumatisches Ereignis zur Darstellung zu bringen. In der aktuellen Forschung zum kulturellem Trauma lassen sich zwei Typen des Traumas unterscheiden: Das „Opfertrauma“ und das „Tätertrauma“. Der paradigmatische Fall eines kulturellen Opfertraumas ist das globale Gedenken an den Holocaust (Alexander 2003b), während für das komplementäre Tätertrauma der öffentliche Diskurs im Nachkriegsdeutschland Pate steht (Giesen & Schneider 2004). Der Opferstatus zeichnet sich durch einen Verlust an persönlicher Autonomie und körperlicher Integrität aus, was die Identität des Opfers bedroht, während im Tätertrauma die moralische Integrität und damit das Selbstbild der Täters in Frage steht (Giesen 2004c). Dem lässt sich noch ein dritter Typus, das „Trauma des Scheiterns“, zur Seite stellen, bei dem die moralische Integrität des Traumatisierten intakt bleibt, dieser aber an seiner Wirkmächtigkeit zweifelt.41 Ein Paradebeispiel für ein kulturelles Trauma des Scheiterns ist das amerikanische Vietnamtrauma, das im Folgenden noch einmal diskutiert werden wird (6.2.1). Die Vorfälle von Abu Ghraib und die Folgen ihrer Skandalisierung wurden von den involvierten Häftlingen und einigen Tätern ohne Zweifel als traumatisierend wahrgenommen. Dennoch würde man weit über das Ziel hinausschießen, wenn man Abu Ghraib als kulturelles Trauma bezeichnen würde (10.5). Die Enthüllungen von Abu Ghraib haben allerdings zu einen ernsthaften Krise des amerikanischen Selbstbildes geführt (8.2). Trotzdem bleibt der Traumabegriff für den Fortgang dieser Studie von Bedeutung, da die Reminiszenzen an die Traumata von Vietnam die Wahrnehmung des AbuGhraib-Skandals und dem Irakkrieg maßgeblich beeinflusst haben.
41 Dieser dritte Traumatypus entspricht in weiten Teilen Giesens Konzeption des „tragischen Helden“ (vgl. 2004c), jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass der tragische Held in seiner psychischen Integrität unversehrt bleibt, während das Trauma des Scheiterns eine Störung der inneren Beziehung zur Welt zur Folge hat.
2. Elementare Formen der kulturellen Repräsentation
Menschen leben in Bildern und Erzählungen, die sie in ihrem Handeln performativ zur Darstellung bringen. Damit sind die drei kulturellen Formen benannt, um die es im Folgenden gehen soll: Bildern (2.1), Erzählungen (2.2) und Performanzen (2.3) wurde in der klassischen Handlungstheorie, aber auch in neueren Handlungserklärungen, die auf einen vorintentionalen Handlungshintergrund setzen (z.B. Bourdieu 1999), nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zuteil. Wenn überhaupt, wurden sie in der Soziologie als kulturelle Artefakte thematisiert und darüber ihre Bedeutung für den kulturellen Hintergrund des Erlebens und Handelns vernachlässigt. Ikonische, narrative und performative Muster liegen dem menschlichen Selbst- und Weltverständnis zu Grunde, weswegen ihnen auch bei der Erklärung des Handelns eine ursächliche Rolle zugestanden werden sollte. Die hier vorgeschlagene Triade erhebt einen Anspruch auf Vollständigkeit, wenngleich auch andere Unterscheidungen möglich gewesen wären.. Im Gegensatz zu den symbolischen Formen von Ernst Cassirer, die sich überwiegend verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen zuordnen lassen, sind Bilder, Erzählungen und Performanzen an kein bestimmtes soziales System gebunden, sondern entfalten ihre gesellschaftliche Wirkung grenzüberschreitend.1 Auch die Soziologie macht sich Bilder von der Gesellschaft und bedient sich narrativer Muster, um soziale Prozesse und gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären ‒ und sie ist auf gelungene Performanzen angewiesen, um öffentlich wirksam zu werden.
1
Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke, von dem mittlerweile eine gesellschaftstheoretisch informierte und höchst relevante Monographie zur Erzähltheorie vorliegt (2012), hat in einer Kritik von Luhmanns Systemtheorie auf die konstitutive und transgressive Rolle von Narrationen hingewiesen (2004). Seine Schlussfolgerungen lassen sich auf Bilder und Performanzen übertragen, die ebenfalls Paradoxien sozialer Systeme verdecken bzw. produktiv entfalten und so zur Systembildung beitragen.
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Die elementaren Formen kultureller Repräsentation besitzen in den folgenden Überlegungen eine doppelte, wenn nicht sogar dreifache Relevanz: Sie beziehen sich zum einen auf ikonische, narrative und performative Muster, die im kulturellen Hintergrund einer Gesellschaft verankert sind (1.2-3), zum anderen auf symbolische Akte und kulturelle Objekte. Die Begriffe „Bild“, „Erzählung“ und „Performanz“ sind allgemeiner und alltäglicher Natur, während „Ikonen“, „Mythen“ und „Rituale“ in einer Beziehung zum „Außerordentlichen“ und „Außeralltäglichen“ stehen (Giesen 2010: 56-66) ‒ und damit auch zur kollektiven Identität einer Gruppe.2 Der exzeptionelle Status von Ikonen, Mythen und Ritualen äußert sich in einer polaren Struktur: Außerordentliche Bilder, Erzählungen und Performanzen prägen den kulturellen Hintergrund, der wiederum der sozialen Ordnung zu Grunde liegt und ihre potenzielle Zerbrechlichkeit latent hält (Giesen 2004b). Einerseits werden Ikonen, Mythen und Rituale als außerordentliche Manifestationen geteilter Emotionen und kollektiver Identität zu außeralltäglichen Anlässen mobilisiert, andererseits sind „Kultbilder“, „große Erzählungen“ oder „Zeremonien“ wesentliche Bestandteile des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft. Ikonen stellen nicht nur herausragende Bilder dar, sondern wirken als Teil des kulturellen Hintergrundes und kollektiven Bildgedächtnisses auf die Produktion und Rezeption von Bildern. In ähnlicher Weise werden neue Zeremonien altbekannten Ritualen nachempfunden oder rituelle Versatzstücke in sozialen Performanzen verwendet. Auch große Erzählungen und Mythen zeichnen die Struktur von alltäglichen Erzählungen und den so genannten „Mythen des Alltags“ (Barthes 2010) vor. Von dem außerordentlichen Hintergrund der sozialen Wirklichkeit über den „profanen“ Gebrauch der Gattungen bis zu ihrer „heiligen“ Verwendung fortschreitend, lassen sich die bisher getroffenen Unterscheidungen im folgenden Schaubild festhalten: Tabelle 3: Kultureller Hintergrund und kulturelle Repräsentation Kultureller Hintergrund
Gewöhnliche Gattung Außerordentliche Verwendung
Ikonische Muster
Bilder
Ikonen (als Kultbilder)
Narrative Muster
Erzählungen
Mythen (als große Erzählungen)
Performative Muster
Performanzen
Rituale (als Zeremonien)
2
So zum Beispiel der „politische Mythos“ von Cassirer (1955), aber auch die kulturellen Formen des Heiligen, „Totem“, „Mythos“ und „Ritual“, bei Durkheim (2005/1912).
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Für die Verbreitung von kulturellen Mustern sind die Mechanismen der „Nachahmung“ und „Resonanz“ von großer Bedeutung (1.2.3). Bilder, aber auch Erzählungen und Performanzen, können sich mimetisch auf Gegenstände beziehen und ihrerseits wieder nachgeahmt werden. Variationen, die sich im Prozess der Nachahmung unbemerkt einschleichen oder bewusst hervorgebracht werden können, führen zur kulturellen Diversifizierung. Für den Erfolg einer Performanz, eines Bildes oder einer Erzählung ist schließlich ihre Resonanz im kulturellen Hintergrund des Rezipienten von entscheidender Bedeutung. Nicht zuletzt aufgrund ihres mimetischen, auf Ähnlichkeit beruhenden Charakters, kommt Erzählungen und Performanzen eine gewisse „Bildlichkeit“ zu, weswegen sie dem sozialen Imaginären zugerechnet werden müssen (1.3.2). Aber auch darüber hinaus sind Bilder, Erzählungen und Performanzen vielfältig miteinander verwoben: Bilder können Geschichten erzählen und Performanzen einfangen; Erzählen ist eine Performanz, die auf bildliche Vorstellungen (z.B. Heldenfiguren) zurückgreifen muss, wobei sich der Erzählfluss szenisch und dramatisch verdichten lässt (hierzu Koschorke 2012: 71-74); Performanzen besitzen immer auch bildliche und narrative Aspekte und orientieren sich oft an ikonischen und mythischen Vorbildern. In den Tiefen des Imaginären verschwimmen die Grenzen zwischen den einzelnen Formen zu einem „Magma“ der Bedeutung (Castoriadis 1987; 1.3.3) – dem „Stoff“, aus dem Kultur ist. Erst die unscharfe Logik von Bildern, Erzählungen und Performanzen ermöglicht die Zuweisung von Codewerten innerhalb symbolischer Ordnungen (1.3.1). Am Ende sind es nicht formale Regeln, die wahre von falschen Aussagen und moralische von unmoralischen Handlungen unterscheiden, sondern die Evidenz der Bilder, die Plausibilität von Erzählungen und die Authentizität von Performanzen. So konnten beispielsweise die Bilder von Abu Ghraib als fotografischer Beweis der Missbrauchsfälle dienen und zugleich die moralische Verurteilung der Täter nahelegen (7.5). Die elementaren Formen kultureller Repräsentation ‒ ikonisch, narrativ, performativ ‒ gehören in den Werkzeugkasten eines jeden Kultursoziologen. Angesichts der Vielfalt der hier diskutierten Phänomene und der Unermesslichkeit der wissenschaftlichen Literatur über sie können die folgenden Ausführungen auf den ersten Blick lückenhaft und willkürlich erscheinen. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass diese Selektivität nicht nur unvermeidlich, sondern auch der Problemstellung dieser Studie geschuldet ist. Es bleibt festzuhalten, dass die Soziologie im Allgemeinen und die Kultursoziologie im Besonderen von einer Auseinandersetzung mit ihren geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen, der Kunstgeschichte und den Bildwissenschaften, der Narratologie und den Literaturwissenschaften, der Anthropologie und den Theaterwissenschaften, enorm profitieren kann.
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2.1 B ILD
UND I KONE We shall assume that what each man does is based not on a direct and certain knowledge, but on pictures made by himself or given to him. WALTER LIPPMANN, PUBLIC OPINION (1965: 17)
In den letzten zwanzig Jahren rückte das Phänomen des Bildes zunehmend in das Zentrum sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschungen. Der damit einhergehende Perspektivwechsel lässt die Rede von einem „iconic turn“ (Boehm 1994a; Maar & Burda 2004), einem „pictorial turn“ (Mitchell 2008) oder einem „imagic turn“ (Fellmann 1995, 1991) gerechtfertigt erscheinen. Die neueren wissenschaftlichen Arbeiten werden einerseits von dem Bewusstsein getragen, dass Bilder die Menschheit seit ihren Anfängen begleitet haben, andererseits reagieren sie aber auch auf eine Zeitdiagnose, die oft – ein wenig alarmistisch und apokalyptisch – als „Bilderflut“ bezeichnet wird. Sie setzt mit der Erfindung und Popularisierung der Fotografie im 19. Jahrhundert ein und erfährt durch das Aufkommen neuer visueller Medien im 20. Jahrhundert, vor allem Film und Fernsehen, einen erneuten Schub. Mit der digitalen Revolution und dem Siegeszug des Internets ist die gesellschaftliche Produktion und Rezeption von Bildern noch einmal sprunghaft angestiegen und besitzt heute eine nie da gewesene Virulenz. Die „Bilderflut“ ist dabei keineswegs auf die populäre Alltagskultur beschränkt, sondern zeigt sich auch in der Praxis der Naturwissenschaften und der Medizin (vgl. Burri 2008b). Um dieser wachsenden Bedeutung von Bildlichkeit in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen gerecht zu werden, musste das Bild erst aus seiner traditionellen Domäne gelöst und in den Fokus unterschiedlicher kultur- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen gerückt werden. Im Anschluss an die Pionierarbeiten von Aby Warburg (2000) zeichnet sich in den letzten Jahren die zunehmende Institutionalisierung einer interdisziplinär verfahrenden Bildwissenschaft ab (vgl. Sachs-Hombach 2005; Belting 2007). Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Bild steht vor dem Dilemma, sich entweder auf ein wucherndes Bedeutungsfeld einzulassen, oder aber den Phänomenbereich der Bilder durch mehr oder minder willkürliche Definitionen einzuengen. Zwischen den Elementen des Bedeutungsfeldes „Bild“ besteht – frei nach Wittgenstein (1984/1953) – nur eine „Familienähnlichkeit“. Sowohl eine visuell erfahrbare Darstellung samt ihrem materiellen Träger (picture), beispielsweise ein Gemälde oder eine Fotografie, als auch die bildliche Darstellung selbst (image), also das, was auf einem Gemälde oder einem Foto zu sehen ist, kann im Deutschen „Bild“ genannt werden. Wir können darüber hinaus von den mentalen Bildern der Vorstellung und Erinnerung oder gar von der „Bildhaftigkeit der Dinge“ (Waldenfels 1994) sprechen. Traditionell lässt sich der Bildbegriff – wie etwa in
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der Definition des ikonischen Zeichens bei Charles S. Peirce (1998/1894) – über eine Ähnlichkeitsbeziehung bestimmen. Dagegen spricht allerdings, dass Ähnlichkeit kein Alleinstellungsmerkmal von Bildern ist, sondern in allen Formen des Vergleichs zu finden ist. Alle Ähnlichkeitsbeziehungen unter den Bildbegriff zu stellen, würde diesen hoffnungslos überdehnen und dem Phänomen des Bildes nicht gerecht werden. Sehr viel grundsätzlicher setzt hingegen die neuere Bildwissenschaft an, die den auf Ähnlichkeiten beruhenden semiotischen Bildbegriff und die sogenannte „Abbildtheorie“ des Bildes mit Konzepten wie „ikonischen Differenz“ (Boehm 1994a) und „Bildakt“ (Bredekamp 2010) zu überwinden versucht. Trotz dieser Probleme scheint der Bildbegriff für ein Verständnis unserer Gegenwartsgesellschaft unentbehrlich zu sein. Für eine kultursoziologische Handlungstheorie ist er von besonderem Interesse, da der kulturelle Hintergrund des Handelns und Erlebens bildhafte Züge aufweist. Nicht nur das soziale Imaginäre, das sich durch diffuse Ähnlichkeitsbeziehungen auszeichnet, sondern auch das symbolische System der Sprache bleibt auf Laut- und Vorstellungsbilder angewiesen. In der Wiederholbarkeit von Worten liegt ihre Bildhaftigkeit und damit auch ihre soziale Wirksamkeit beschlossen. Es deutet vieles darauf hin, dass eine Theorie des Bildes nicht ohne Relevanz für die soziologische Theoriebildung sein dürfte. 3 Die Tatsache, dass der Bildbegriff in einer Arbeit über Abu Ghraib als einer ikonischen Wendung im „Krieg gegen den Terror“ eine zentrale Rolle spielt, bedarf keiner langen Rechtfertigung. Mentale Bilder, öffentlichen Bilder und kollektive Selbstbilder spielen bei der Analyse des Abu-Ghraib-Skandals eine entscheidende Rolle. Die Bilder aus Abu Ghraib sind das Resultat von performativen Gewaltritualen und Bildpraktiken, denen ihrerseits Vorbilder zu Grunde lagen. Die Fotografien rückten im Zuge ihrer Veröffentlichung in das Zentrum eines Medienrituals und wurden in unterschiedlichen sozialen Kontexten verschiedenen Bildpraktiken unterworfen. So wurden sie als Beweismittel vor Gericht verwendet (8.5.1), in Museen ausgestellt und dienten als Vorbilder für politisch motivierte Graffitis, Poster und Kunstwerke (9.4). Bei dem wichtigsten Dokumentarfilm zum Skandal, Standard Operating Procedure, standen die Bilder schließlich Pate für das Nachstellen von Schlüsselszenen (10.2). Einige der Bilder von Abu Ghraib sind als säkulare Ikonen in das kollektive Bildgedächtnis der Weltgesellschaft eingegangen, dass nicht nur in digitalen Archiven, sondern auch in menschlichen Köpfen existiert. Im Folgenden soll das „Bild“ zunächst in seinem Verhältnis zu Texten (2.1.1) und Körpern (2.1.2) bestimmt werden, bevor dann auf die Rolle von Bildern im Erleben und Handeln 3
Ansätze zu einer soziologischen Bildtheorie finden sich bei Roswitha Breckner (2010), deren Schwerpunkt auf der Interpretation von Fotografien liegt, und Jürgen Raabs (2008), der sich in seinen materialen Analysen vor allem mit Heimvideos beschäftigt, und in den Arbeiten von Regula Valera Burri, die einen praxistheoretischen Ansatz vertritt, der an medizinischen Bildpraktiken exemplifiziert wird (2008b, 2008a).
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eingegangen wird. Die Eigentümlichkeiten der Abu-Ghraib-Bilder machen darüber hinaus eine nähere Beschäftigung mit dem fotografischen Bildmedium und dem Konzept der säkularen Ikone erforderlich (2.1.3). 2.1.1
Bild und Text – Vom iconic turn zur Bildhermeneutik
Die Philosophie des 20. Jahrhunderts zeichnete sich durch eine von Wittgenstein und Heidegger ausgehende Hinwendung zum Phänomen der Sprache aus. Sprache wurde zeitweilig nicht mehr als ein Gegenstand unter anderen gesehen, sondern trat an die Stelle des Bewusstseins als Fundamentalbegriff, wofür der Philosoph Richard Rorty den programmatischen Begriff des linguistic turn prägte (1967). Dieser rief bald Kritiker auf den Plan, nun ihrerseits turns auszurufen, um der Einseitigkeit der sprachphilosophischen Wende Abhilfe zu schaffen. Es folgte ein cultural turn, der die Fixierung auf die gesprochene Sprache zu Gunsten eines erweiterten Textbegriffes aufgab (vor allem Derrida 2003), der performative turn, dem es um die performative Herstellung von Wirklichkeit ging (vgl. 2.3), und schließlich der iconic turn, der in seinen unterschiedlichen Spielarten das Phänomen des Bildes ins Zentrum der Überlegungen stellte. Der iconic turn geht davon aus, dass sich Bilder einer sprachlichen Logik entziehen und – da sie durch nichts anderes verstanden werden können – aus sich selbst verstanden werden müssen. Der Begriff des iconic turn wurde von dem Kunsthistoriker Gottfried Boehm in einem von ihm herausgegebenen Sammelband mit klassischen und neueren Texten zum Bildbegriff geprägt (1994b). Der Band widmet sich der, wie wir gesehen haben, tückischen Frage: „Was ist ein Bild?“. Boehm zufolge zeichnet sich das Bild gegenüber Sprache und Text durch eine „Logik des Zeigens“ aus (1994a, 2007). Das Bild „zeigt“ sich selbst, aber zugleich zeigt ein Bild auch etwas anderes, nämlich den Bildinhalt. Es ist sowohl ein präsentierendes wie auch ein deiktisches Zeigen. Die Fähigkeit des Bildes zu repräsentieren gründet damit in der SelbstPräsentation des Bildes. Boehms Begriff der „ikonischen Differenz“ verweist dabei auf den inneren Abstand zwischen Form und Inhalt, der für das Bild als solches konstitutiv ist, und „markiert „eine zugleich visuelle und logische Mächtigkeit, welche die Eigenart des Bildes kennzeichnet, das der materiellen Kultur unaufhebbar zugehört, auf völlig unverzichtbare Weise in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen lässt, der zugleich alles Faktische überbietet.“ (1994a: 30) Mit dieser Bestimmung knüpft Boehm an Gadamers Überlegungen zur „Seinsvalenz des Bildes“ an (2010/1960: 139-149), denen zufolge das Bild durch einen „Zuwachs an Sein“ gekennzeichnet ist (2010/1960: 145). Dem Bild kommt dadurch eine eigene Wirklichkeit zu, die nicht in einem einfachen, auf Ähnlichkeit beruhenden Abbildverhältnis aufgeht. Bei Böhm besitzt der Begriff der ikonischen Differenz mehrere Bedeutungsebenen, die hier nur kurz angerissen werden können. Als visueller und logischer Grundkontrast bezeichnet die ikonische Differenz zunächst
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die interne Unterscheidung zwischen Bild und Bildinhalt, die es zuallererst ermöglicht, dass auf einer zweidimensionalen Leinwand räumliche Tiefe dargestellt werden kann. Die Unterscheidung von „Bild“ und „Bildinhalt“ konstituiert die Einheit und Eigenheit des Bildes, die es von seinem visuellen Hintergrund abhebt. In einer ähnlichen Weise spricht Jean-Luc Nancy vom „Distinkten“ als dem Grund der Bilder (2006). So wie das Heilige als begrenzter Bereich (templum) vom Profanen ausgenommen ist, ist das Bild „von einem Grund abgehoben und aus seinem Grund herausgeschnitten“ (2006: 18). Die „ikonische Differenz“ oder das „Distinkte“ des Bildes wird durch den Rahmen eines Gemäldes versinnbildlicht, welcher das Bild zugleich eingrenzt und von seinem Hintergrund abhebt. Nach Boehm lässt sich die Bedeutung der ikonischen Differenz am besten an der inneren Widersprüchlichkeit des Illusionismus aufzeigen (1994a: 34f.) Die legendären Trauben des Zeuxis sollen der Legende nach derart realistisch gemalt worden sein, dass die Tauben über sie herfielen. Damit aber hört das Bild auf, ein Bild zu sein. Die Vollendung der illusionistischen Malerei, das Höchstmaß an Ähnlichkeit zum Vorbild, geht mit einer Aufhebung der ikonischen Differenz einher: „Der Maler ist idealiter ein Ikonoklast“ (Boehm 1994a: 35). Aber mit dem Verschwinden der internen Differenz von Bild und Inhalt bzw. Repräsentation und Repräsentiertem kollabiert auch die externe Differenz zur Umgebung des Bildes. Das vollendete Bild wird zu einer identischen Kopie, zu einem Klon des abgebildeten Gegenstands, der von diesem ununterscheidbar ist (vgl. auch Jonas 1961). 4 Das Konzept der ikonischen Differenz geht damit über das semiotische Konzept des Bildes als einem auf Ähnlichkeit beruhenden ikonischen Zeichen hinaus. Es macht darauf aufmerksam, dass die bildliche Distinktheit und körperliche Präsenz des Bildes grundlegende Voraussetzungen jeder nachahmenden Darstellung sind. Auch wenn sich gerade an der abstrakten Kunst der Moderne zeigen lässt, dass Bilder nicht auf eine Ähnlichkeitsbeziehung angewiesen sind, bleibt für die im Folgenden zu diskutierenden Fotografien und Bilder die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Abbild und Vorbild von eminenter Wichtigkeit. Neben der „Ikonik“ als Kunstlehre des „sehenden Sehens“ (Imdahl 2006) wird auch weiterhin die Ikonographie, die dem „wiedererkennenden Sehen“ auf Basis von Ähnlichkeiten verpflichtet ist, als Methode des Bild- und Motivvergleichs benötigt. Die ikonische Differenz ist darüber hinaus auch als eine Chiffre für die Unübersetzbarkeit von Bildern in Sprache und Text zu verstehen. Das Bild zeigt und enthüllt etwas. Doch das, was sich zeigt, ist, so Wittgenstein (1984/1921: 85), „unaussprechlich“. Dennoch bringt uns die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Unaussprechlichen nur weiter, wenn wir darüber sprechen und schreiben können. In 4
Mitchell geht der Beziehung zwischen „Bild“ und „Klon“, insbesondere aber zwischen „Ikonophobie“ und „Klonphobie“ in einem seiner neueren Bücher nach (2011). Im Unterschied zu ihm geht Boehm davon aus, dass ein Klon gerade kein Bild mehr ist.
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dem Moment, wo wir auf das Ausdruckmittel der Sprache verzichten, hören wir auf, Wissenschaftler zu sein und werden, um mit Wittgenstein zu sprechen, zu „Mystikern“. Über das absolut Unaussprechliche lässt sich nur noch schweigen. Entgegen der Absetzbewegung des iconic turns gegenüber Sprache und Text ist daran festzuhalten, dass sich Bilder einer sprachlichen Beschreibung und Auslegung nicht grundsätzlich entziehen – ohne dass sie freilich im strengen Sinne bruchlos „übersetzbar“ wären.5 Nicht nur Kunsthistoriker, sondern auch die Vertreter des iconic turn produzieren Texte über Bilder. Sie praktizieren damit immer schon eine Ikonologie – eine Rede vom Bild im wörtlichen Sinne.6 Die vorliegende Studie ist einem hermeneutischen Ansatz verpflichtet, der von der ikonischen Differenz ausgeht, sich aber dennoch der sprachlichen Arbeit am Bild nicht verweigert. Die Interpretation von Bildern kann diese nicht durch sprachlichen Text ersetzen. Sie bedarf der Rückbindung an das Bild, da ihre Gültigkeit immer am Bild gezeigt werden muss. In der Analyse der Abu-Ghraib-Bilder wird Erwin Panofskys Ikonologie zur Anwendung kommen (1955, 1964). Dabei handelt es sich um ein dreistufiges Verfahren, dass sich in den sozialwissenschaftlichen Bildinterpretationen der letzten Jahre ausgesprochener Beliebtheit erfreut (MüllerDohm 1997; Müller 2003; Bohnsack 2009). Auf der ersten Stufe geht es um eine vorikonografische Beschreibung der gegenständlichen Darstellung auf dem Bild. Wie Panofsky demonstriert hat, handelt es sich schon hierbei um eine Interpretation, die ein Vorwissen um Techniken und Stile voraussetzt. Die zweite Stufe stellt eine ikonographische Analyse dar, die zum klassischen Instrumentarium der Kunstgeschichte gehört. Hier geht es darum, bild- und epochenübergreifende Motive zu identifizieren, wofür Kenntnisse in der Motivgeschichte erforderlich sind. Die dritte Stufe, die ikonologische Interpretation, ist die eigentliche Neuerung Panofskys und für eine kultursoziologisch verfahrende Bildhermeneutik überaus interessant. Die ikonologische Interpretation bedient sich einer synthetischen Intuition (1955: 38), um Bilder als Manifestationen der ihnen zu Grunde liegenden kulturellen Prinzipien zu deuten (1955: 31). Als Korrektiv der ikonologischen Interpretation bestimmt Panofsky die Kultur- und Geistesgeschichte (1964: 95f.), was beim Interpreten umfassende kulturgeschichtliche Kenntnisse voraussetzt. Die Ikonologie behandelt Bilder als kulturelle Symptome (1955: 38f.), die auf einen kulturellen Hintergrund verwei5
Ricœur argumentiert im Rekurs auf Freuds Traumdeutung, dass nicht nur Sprache als ein Text gelesen werden kann, sondern auch Handlungen, Träume und kulturelle Produkte aller Art (1973, 1974). Dieser Ansatz von „Kultur als Text“ liegt auch Geertzs interpretativer Anthropology zu Grunde und Oevrmanns objektiver Hermeneutik zu Grunde.
6
Während Boehm in seinen Arbeiten die grundsätzliche Verschiedenheit von Bildern und Texten betonen, geht Mitchell in seiner Iconology (1987) und in seiner Bildtheorie (2008) von den vielfältigen Verflechtungen und Interdependenzen zwischen Bildern und Texten aus – wobei seine Überlegungen weniger grundsätzlich als die von Boehm sind.
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sen, der vor aller Intentionalität des jeweiligen Bild- und Kunstschaffenden liegt. Wir können auch von einem „Stil“ (Fellmann 1991: 175-203), einer „Weltanschauung“ (Dilthey 1981) oder gar einem „Weltbild“ sprechen.7 Panofsky (1989) verwendete in einer späteren Arbeit den Begriff des „Habitus“, der dann von Bourdieu in seine Soziologie der Praxis übernommen wurde. 8 So wie der Handlungspraxis kulturelle Prinzipien zu Grunde liegen, reichen auch Bilder und Diskurse, trotz der prinzipiellen Differenz zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren, an einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund heran. Dies wird insbesondere in Foucaults Interpretation von Las Meninas deutlich (2008): Am Gemälde von Velázquez lässt sich das klassische Konzept der Repräsentation aufzeigen, welches als kulturelles Prinzip oder episteme auch den zeitgenössischen Diskursen zu Grunde liegt. Der Begriff des kulturellen Hintergrundes kann diese Homologie erklären, ohne die Distinktheit der Gattungen aufzuheben. Der Bereich des Sagbaren und der Bereich des Sichtbaren sind beide durch den kulturellen Hintergrund einer Gemeinschaft oder Epoche von innen begrenzt und miteinander verschränkt. 2.1.2 Bild und Körper – Repräsentation und Verkörperung Das Verhältnis zwischen Bild und Körper ist außerordentlich vielschichtig. Bilder können nicht nur menschliche und nichtmenschliche Körper abbilden, sondern verdanken ihre räumliche Ausdehnung und zeitliche Dauerhaftigkeit einem Bildkörper. Darüber hinaus ist der menschliche Körper ein Träger von „inneren“ oder „mentalen Bildern“. Das Verhältnis von Bild und Körper in all seinen Facetten ist der Gegenstand der von Hans Belting (2006) begründeten Bild-Anthropologie.9 Im Folgenden soll zunächst der Bildkörper diskutiert werden, bevor auf das Verhältnis des Bildes zum menschlichen Körper eingegangen wird. Bilder im engeren Sinne lassen sich als materielle Repräsentationen von räumlicher Ausdehnung und zeitlicher Dauerhaftigkeit bestimmen, die den visuellen Sinn ansprechen. Gegenüber den anderen kulturellen Formen zeichnen sich Bilder durch eine Simultanität ihrer Ele7
Wittgenstein verwendet den Begriff des „Weltbildes“ (neben „Sprachspiel“) für den vorintentionalen Hintergrund des Handelns und Erlebens: „Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“ (Wittgenstein 1984/1953: 139; § 194)
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Pierre Bourdieu hat für die französische Übersetzung dieses Buches ein Nachwort verfasst, in dem er den Habitusbegriff erstmals verwendet (vgl. Panofsky 1967).
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Dem Verhältnis von „Bild“ und „Körper“ aus einer soziologischen Perspektive widmen sich in verschiedener Weise auch Roswitha Breckner und Jürgen Raab. Während Breckner (2010: 145-177) von Goffmans Rahmentheorie ausgehend zu Beltings Bildanthropologie übergeht, versucht Raab (2008: 111-133) dem Körperbezug von Bildern im Rückgriff auf Phänomenologie und philosophische Anthropologie Rechnung zu tragen.
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mente aus (Giesen 2010: 63). Der Rahmen des Bildes integriert die einzelnen Bildelemente in eine simultan erfassbare und sinnlich erfahrbare Totalität. Als künstliches Artefakt oder Gebilde ist jedes Bild zugleich ein gesellschaftliches Produkt. Somit spielen kulturelle Muster nicht nur bei der Rezeption, sondern auch schon bei der Produktion von Bildern eine entscheidende Rolle. Als geprägte und beharrliche Form, die sich vor dem Hintergrund wandelnder und wechselnder Kontexte behauptet, steht das Bild nicht nur in einem Verhältnis zu anderen Körpern, sondern besitzt selbst einen Körper. Das Phänomen des Bildkörpers wirft ein wenig Licht auf die englische Unterscheidung zwischen picture und image, die im deutschen Bildbegriff verloren geht. Picture bezeichnet ein Bild samt seinem materiellen Bildkörper, während image das ideelle Bild bezeichnet, das auf dem materiellen Träger abgebildet ist oder eine rein mentale bzw. digitale Existenz besitzt. So heißen denn auch die Fotografien aus Abu Ghraib im Amerikanischen images. Die Gemälde aus der Abu-Ghraib-Reihe des Malers Fernando Botero (9.4) müssen hingegen pictures genannt werden. Insbesondere die Digitalfotografie hat zu einer Flut von images geführt, die auf elektronischen Speichermedien ein nahezu körperloses Dasein führen. Zwar ist das image nicht an einen bestimmten Körper gebunden, aber es braucht dennoch einen Körper, sei es ein Bildschirm oder ein menschlicher Kopf, um in Erscheinung zu treten (vgl. Belting 2006). Die Rede von einem „Bildkörper“ ist eine metaphorische Übertragung des menschlichen Körpers auf das Bild. Dieses Verhältnis lässt sich allerdings auch umkehren. Der menschliche Körper fungiert nicht nur selbst als Bildträger, wie die kulturelle Praxis der Tätowierung zeigt, sondern stellt selbst schon ein Bild dar: „Der Mensch ist so, wie er im Körper erscheint. Der Körper ist selbst ein Bild, noch bevor er in Bildern nachgebildet wird. Die Abbildung ist nicht das, was sie zu sein behauptet, nämlich Reproduktion des Körpers. Sie ist in Wahrheit Produktion eines Körperbilds, das schon in der Selbstdarstellung des Körpers vorgegeben ist.“ (Belting 2006: 89)
Dieser Aspekt wird auch von Boehm aufgegriffen, der – in Analogie zur ikonischen Differenz – eine „somatische Differenz“ postuliert, die den Körper als Bildmedium konstituiert (2010: 33). Die „somatische Artikulation“ zeigt sich in der Körperhaltung, aber auch der Gestik, der Boehm eine Verwandtschaft mit dem Zeigen der Bilder attestiert, und nicht zuletzt in der Mimik, die für den Ausdruck von Emotionen wesentlich ist. Die Bildhaftigkeit des menschlichen Körpers wird, im Falle der Maske, als „Bild am Körper“ überdeutlich (Belting 2006: 34-38), da die Maske die natürliche Ausdrucksfähigkeit des menschlichen Gesichtes imitiert: „Das menschliche Gesicht gilt geradezu als Nukleus einer komplexen Form von Repräsentation: Es repräsentiert etwas, die menschliche Individualität, was es andererseits selbst (auch) ist. Dem Gesicht haftet ein Maskencharakter an, und doch ist es zugleich Urbild der in einem
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weiteren Repräsentationsschritt das Gesicht repräsentierenden Maske. Es enthält die Potentialität des Sich- Darstellens und des Sich-Verstellens und ist doch immer zugleich der repräsentierte Gegenstand selbst.“ (Seelmann 2004: 154f.)
Die Verwandtschaft von Gesicht und Maske zeigt, dass der menschliche Körper selbst schon ein Bild ist, bevor er sich durch Masken, Statuen oder Portraits in ein Bild verwandelt. Das Gesicht bietet sich in besonderer Weise für eine solche Nachahmung an, da es in unvergleichlicher Weise die Personalität eines Menschen verkörpert.10 Aus diesem Grund verliert man auch sprichwörtlich „sein Gesicht“, wenn man seine Ehre verliert oder seiner Würde beraubt wird (3.2). Dies ist von besonderer Bedeutung für die Entwürdigungen in Abu Ghraib, da die Gefangenen auf den Bildern durch die Verhüllung der Köpfe nicht nur ihrer Sicht, sondern auch ihres Gesichts – sprich: ihrer Humanität und Individualität – beraubt wurden (7.1-3). Aber auch der Körper in seiner Gesamtheit kann als bildlicher Ausdruck der Person angesehen werden.11 Die Anfertigung von Bildern des menschlichen Körpers, insbesondere aber von toten Körpern, stand vermutlich am Anfang der bildschaffenden Tätigkeit des Menschen (Belting 2006: 143-188). Da der Körper selbst schon als Bild begriffen werden muss, liegt den Körperbildern einen doppeltes Abbildungsverhältnis zu Grunde: „Wo immer Menschen im Bilde erscheinen, werden Körper dargestellt. Also haben auch Bilder dieser Art einen metaphorischen Sinn: sie zeigen Körper, aber sie bedeuten Menschen.“ (Belting 2006: 87; Hervorhebung im Original). Dies hat unter anderem zur Folge, dass die Bilder von Abu Ghraib aus einer medienethischen Perspektive problematisch sind, da die Fotografien die Entwürdigung der Opfer festhalten und damit in gewisser Weise wiederholen (3.2.2). „Natürlich ist der Mensch der Ort der Bilder“ heißt es bei Belting lapidar (2006: 57; Hervorhebung im Original). Damit sind in erster Linie die inneren Bilder der Vorstellung, der Erinnerung und des Traumes gemeint, die sich der menschlichen Einbildungskraft verdanken. Während eine Vorstellung etwas Abwesendes vergegenwärtigt, stellt die Erinnerung eine spezifische Form der Vorstellung dar, nämlich eine Vergegenwärtigung von etwas Vergangenem. Obwohl das Gedächtnis eine Leistung der Einbildungskraft ist, dürfen Erinnerungen – so ungenau oder falsch sie auch sein mögen – keineswegs als Fiktionen oder gar Halluzinationen aufgefasst 10 Es ist kein Zufall, dass sich das deutsche Wort „Person“ von dem lateinischen Ausdruck „Persona“ herleiten lässt, der eine antike Theatermaske bezeichnet, was wiederum auf ein griechisches Wort für Gesicht zurückgeht (vgl. Hobbes 1999/1651: 123f.). 11 In der Phänomenologie spricht man von der Bewusstseinsleistung der „Appräsentation“, die etwas Abwesendes, wie die Rückseite eines Gegenstandes, für das wahrnehmende Bewusstsein vergegenwärtigt. In der Sozialphänomenologie beschreibt der Begriff auch den Prozess, durch den der menschliche Körper im Alltag als indexikalisches Anzeichen für ein psychischen Innenleben gedeutet wird (Schütz & Luckmann 1984: 178-184).
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werden, da sie sich intern durch einen Bezug auf das Reale ausweisen (vgl. Ricoeur 2004: 23-94). Selbst die klarsten Vorstellungsbilder zeichnen sich durch eine Opazität und Unschärfe aus, wie sie für äußere Bilder ungewöhnlich ist. Über die intentionalen Akte des Vorstellens und Erinnerns hinausgehend zeigt der Philosoph Ferdinand Fellmann, dass den basalen Prozessen des Bewusstseins, der Wahrnehmung und des Verhaltens mentale Bilder zu Grunde liegen (1991), die in der hier verwendeten Terminologie dem vorintentionalen Hintergrund zugerechnet werden müssen. Für Fellmann stellen Sinneseindrücke mentale Bilder dar, die „interne Relationssysteme“ bilden, „an denen Intentionalität ansetzen kann“ (1991: 134). In diesem Sinne können innere Bilder keinen intentionalen Gehalt repräsentieren, sondern verkörpern ihn in einer nichtintentionalen Weise (1995: 34-38). Wir haben gesehen, dass der Körper ein dreifaches Bildmedium darstellt. Erstens handelt es sich bei Bildkörpern um materielle Träger von immateriellen Bildern. Auch der menschliche Körper, oder besser: die menschliche Haut, kann in dieser Weise als materieller Bildträger fungieren (z.B. für Tatoos). Zweitens ist der menschliche Körper das Bildmedium mimischer und gestischer Artikulation, ein leiblicher Ausdruck einer immateriellen Person. Dies trifft auch auf Abbildungen menschlicher Körper zu, die zwar Körper darstellen, aber Menschen bedeuten. Drittens ist der menschliche Körper materieller Träger von mentalen Bildern – unter anderem des gesellschaftlichen Imaginären (1.3.3), das sich in Institutionen und Artefakten objektiviert. Regula Valérie Burri macht deutlich, dass die mentalen Bilder nicht nur einen integralen Bestandteil des Habitus darstellen, sondern auch für die Produktion und Rezeption äußerer Bilder von großer Bedeutung sind: „Die visuellen Kategorien sind als ästhetische Schemata in den Akteuren inkorporiert; sie stellen gewissermaßen einen visuellen Habitus dar. Dieser visuelle Habitus, von dem die ‚inneren Bilder‘ ein Bestandteil sind, wirkt in der Bildproduktion und Bildinterpretation strukturierend.“ (2008a: 355) Der menschliche Körper kann nur aufgrund seiner Einbildungskraft, seines Erinnerungsvermögens und seines inneren Bildvorrats als Bildproduzent und Bildrezipient fungieren. Es gibt keinen intentionalen Akt der Wahrnehmung, der nicht schon in einen vorintentionalen Hintergrund eingebettet wäre. Nicht erst im symbolischen Ausdruck, sondern schon im sinnlichen Eindruck tritt uns eine geformte Einheit entgegen. Unsere Wahrnehmung besitzt eine gestaltende, eine bildende Kraft, die auf ikonische Muster zurückgreift. Die neuere Kognitionssoziologie hat darauf hingewiesen, dass unsere Wahrnehmung von inneren Bilder durchsetzt ist (Zerubavel 1993, 1999: 23-34), und der Phänomenologe Fellmann konstatiert, dass „Bilder die fundamentale Schicht der Kognition ausmachen“ (1995: 22). Innere und äußere Bilder sind miteinander verschränkt und stellen Momente im mimetischen Kreislauf der Bilder dar. Nicht zuletzt aufgrund der Verschränkung von inneren und äußeren Bildern lässt sich diese handlungsleitende Macht auch auf images und pictures im engeren Sinne übertragen. So haben Christoph Wulf und Jörg Zirfas darauf
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hingewiesen, dass Bilder eine mimetische Kraft zukommt, die den Betrachter zur Nachahmung auffordert: „Bilder haben Wirkungen auf das Handeln und Verhalten von Menschen und wirken normierend auf die Gestaltung der sozialen und kulturellen Praktiken“ (2005: 21). Bilder dienen als Vorbilder für das eigene Handeln. 2.1.3 Fotografie als Bildmedium und säkulare Ikone Mit der Erfindung der Daguerreotypie erfolgte der unaufhaltsame Aufstieg des Bildmediums der Fotografie. Die Fotografie und der daraus hervorgegangene Film dominieren bis heute die öffentliche Bilderlandschaft – und das nicht ohne Grund. Bei der Fotografie handelt es sich um ein ganz besonderes Bildmedium, da sie – im Sinne von Peirce – sowohl als ikonisches Zeichen, das sich durch seine Ähnlichkeit zum Referenten auszeichnet, als auch als indexikalisches Zeichen, das auf eine kausale Beziehung zwischen Bild und Referenten hindeutet, verstanden werden muss: „Photographs, especially instantaneous photographs, are very instructive, because we know that they are in certain respects exactly like the objects they represent. But this resemblance is due to the photographs having been produced under such circumstances that they were physically forced to correspond point by point to nature.“ (Peirce 1998/1894: 5f.).
Im Falle der Fotografie scheint ein technischer Mechanismus die Übereinstimmung des Bildes mit einer bildexternen Wirklichkeit zu garantieren. Die Fotografie verweist auf eine „reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war“ (Barthes 1985a: 86), sie ist die bleibende Spur eines real Dagewesenen (1.3.4). Fotografien sind ikonisch und indexikalisch, mimetisch und mechanisch zugleich. Der Realismus des fotografischen Bildes wird durch die technische Indienstnahme von Naturgesetzen verbürgt. Damit soll nicht einem naiven Fotorealismus das Wort geredet werden. Einerseits sind Fotografien immer perspektivisch, andererseits ist die Kunst der Fotomontage fast so alt ist wie die Fotografie selbst. Die Unterstellung von Indexikalität ist vielmehr der Rhetorik des fotografischen Bildes geschuldet (Boltanski 1983). Der mediale Realismus von Fotografien macht die intentionale Täuschung von Betrachtern durch Fotomontagen erst möglich. Die Fotografie überzeugt, so Roland Barthes, „nicht durch historische Belege, sondern durch eine neue Art von Beweisen, die – obgleich es sich um die Vergangenheit handelt – im gewissen Sinn experimentelle und nicht mehr nur logisch erbrachte sind: Beweis im Sinne des heiligen Thomas, der den auferstandenen Christus berühren wollte“ (1985a: 90). Barthes hat die Beziehung des fotografischen Bildmediums als eine Verlängerung der Geste des Zeigens gedeutet: „das da, genau das, dieses eine ist’ s“ (1985a: 12, Hervorhebung im Original). Der Referent einer Fotografie lässt sich nicht mehr von seiner fotografischen Darstellung unterscheiden (Barthes 1985a: 13). Man kann hier auch von einer „Transparenz“ des fotografischen Bildmediums sprechen
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(Sontag 1978). Leicht drängt sich der Eindruck auf, die Fotografie sei eine „Botschaft ohne Code“ (Barthes 2005: 12-16). Richtig ist aber vielmehr, dass der Code der Fotografie in einer perfiden Weise operiert, die ihre Botschaft naturalisiert: „Photographs work by twinning denotative and connotative forces, by which the ability to depict the world as ‚it is‘ is matched with the capacity to couch what is being depicted in a symbolic frame that helps us recognize the image as consonant with broader understandings of the world“ (Zelizer 2005: 31). Fotografien bilden die Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern rahmen sie in einer Weise, dass sich die fotografierte Wirklichkeit in einen bestehenden kulturellen Hintergrund einfügt – wobei Fotografien natürlich nicht die Fähigkeit einbüßen, uns zu schockieren, wenn sie bestimmten Hintergrundannahmen zuwiderlaufen. Die Fotografien entstammen selbst einem kulturellen Hintergrund, da sie sich aus einem inneren Bildvorrat speisen: „Es sind die symbolischen Bilder der Imagination, die von weither gekommen sind, wenn sie in dieses technische Medium einwandern“ (Belting 2006: 214). Es versteht sich von selbst, dass diese Imagination in der Regel sozialer Natur ist. So bemerkte schon Pierre Bourdieu, dass Fotografieren in hohem Maße sozial geprägt ist, ja, als Ausdruck eines kollektiven Habitus verstanden werden muss: „Durch die Vermittlung des Ethos, die Verinnerlichung objektiver und allgemeiner Regelmäßigkeiten, unterwirft die Gruppe diese Praxis der kollektiven Regel, so dass noch die unbedeutendste Fotografie neben den expliziten Intentionen ihres Produzenten das System der Schemata des Denkens, der Wahrnehmung und der Vorlieben zum Ausdruck bringt, die einer Gruppe gemeinsam sind.“ (Bourdieu 1983b: 17)
Fotografien dokumentieren nicht nur die Intentionalität ihres Produzenten, sondern auch dessen vorintentionalen Hintergrund. Fotografien lassen sich wie Gemälde (2.1.1) einer ikonologischen Analyse unterziehen, die den kulturellen Hintergrund des Fotografen freilegt. Weil es sich bei jeder Fotografie nicht nur um eine Abbildung der Wirklichkeit, sondern immer auch um den Ausdruck einer Weltanschauung handelt, ist eine ausführliche Interpretation der Fotografien von Abu Ghraib für eine kultursoziologische Erklärung der Missbrauchsfälle notwendig (7.1-4). Allerdings ist für die soziale Bedeutung eines Bildes nicht allein der Fotograf als abbildender Bildproduzent ausschlaggebend, denn auch das Bildsujet und der Bildrezipient müssen als autonome Faktoren im Produktions- und Rezeptionsprozess berücksichtigt werden. Sowohl die Produktion (Bohnsack 2009) wie auch die Rezeption von Fotografien (Michel 2006) sind damit von kulturellen Mustern abhängig. Es lohnt sich, auf den fotografierten Körper als „abgebildeten Bildproduzenten“ (Bohnsack 2009) etwas näher einzugehen. Eine Person, die weiß, dass sie fotografiert werden soll, beteiligt sich aktiv an der Bildproduktion. So bekennt Barthes: „Sobald ich nun das Objektiv auf mich gerichtet fühle, ist alles anders: ich nehme eine ‚posierende‘ Haltung ein, schaffe mir auf der Stelle einen anderen Körper,
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verwandle mich im Voraus zum Bild“ (1985a: 18f.). Nicht erst die Fotografie verwandelt den Körper in ein Bild; vielmehr ist es der Körper selbst, der sich im Posieren für die Kamera zum Bild macht. Der Pose als bewusster Selbstdarstellung entspricht der intendierte Ausdrucksstil von Bohnsack (2009). Daneben gibt es allerdings auch noch einen unintendierten Ausdruckstil oder Habitus, welcher die Bemühungen des intendierten Stiles konterkarieren und zunichte machen kann. Neben den abbildenden und den abgebildeten Bildproduzenten sind natürlich auch die Rezipienten – als antizipiertes Publikum und unabhängige Deutungsinstanz – zu berücksichtigen. Die Täter von Abu Ghraib fertigten die Fotografien zunächst einmal für den Gebrauch in der eigenen Gruppe an: Sie waren zugleich Produzenten und Rezipienten der Bilder. Allerdings weitete sich der Kreis der Rezipienten immer weiter aus: Die Bilder zirkulierten erst unter den Soldaten und gelangten schließlich über Militär und Medien in die Weltöffentlichkeit (8.1). Es versteht sich von selbst, dass die Bilder von jedem Publikum anders interpretiert wurden. Patrick Maynard (1983) hat in einem Dialog über die Fotografie den Begriff der „säkularen Ikone“ eingeführt. Ihm zufolge teilen Fotografien wesentliche Charakteristika mit religiösen Ikonen. Die folgenden Überlegungen greifen diese Rede vom „secular icon“ auf, versuchen dem Begriff aber eine spezifischere Fassung zu geben (vgl. auch Binder 2012). In der englischen Sprache steht das Wort „iconic“ nicht nur für die Visualität materieller Objekte oder für die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem (Peirce 1998/1894), sondern auch für die Eigenschaft ein Kultobjekt zu sein (auch im Deutschen sprechen wir von „Pop-Ikonen“). Während in der englischen Debatte der Gebrauch des Wortes eher schillernd ist, wird im deutschsprachigen bildwissenschaftlichen Diskurs der Begriff „ikonisch“ in erster Linie dazu verwendet, um Visualität und Bildhaftigkeit gegenüber Sprache abzugrenzen (2.1.1). Unter religiösen und säkularen Ikonen sollen im Folgenden ausschließlich jene Bilder verstanden werden, die zugleich Kultgegenstände sind. Es geht also um die Schnittmenge zwischen einem auratischen und einem visuellen Begriff von Ikonizität. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, über welche Qualitäten ein Bild verfügen muss, um zu einer Ikone werden zu können. Ausgangspunkt ist hierbei die – kultursoziologisch triviale – Feststellung, dass der soziale Gebrauch eines Bildes für seinen Status als Ikone entscheidend ist. Der sogenannte „Kultwert“ des Bildes im Gegensatz zu seinem „Ausstellungswert“ (vgl. Benjamin 2006: 360f.), zeichnet Ikonen vor anderen Bildern aus. Der kultische Gebrauch eines Bildes verleiht diesem seine „Aura“. Entgegen der Entzauberungsthese von Walter Benjamin (2006), die besagt, dass die mechanische Reproduktion von Kultgegenständen diese ihrer Aura beraube, wird hier die These vertreten, dass es keinen inhärenten Widerspruch zwischen der Fotografie als einem beliebig reproduzierbaren Bild und ihrem möglichen kultischen Gebrauch gibt. Eine Ikone kann – gemäß der Ritualkonzeption des späten Durkheim (2005/1912) – als ein bildliches Symbol verstanden werden, welches die Kultgemeinschaft repräsen-
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tiert und kollektive Gefühle speichert. Über den kollektiven Kult grenzt sich nach Durkheim das öffentliche und heilige Leben der Gesellschaft vom privaten und profanen Leben ihrer einzelnen Mitglieder ab. Hans Belting (2004) hat in einer materialreichen Studie die These von Benjamin untermauert, dass Bilder vor dem Zeitalter der Kunst überwiegend in kultischem Gebrauch waren. Allerdings gibt es auch säkulare Kulte, wie beispielsweise Durkheims „Kult des Individuums“ (1986/1898) oder bestimmte Formen des Patriotismus, in denen die Funktion religiöser Bilder von säkularen Ikonen übernommen wird. Vor allem ikonische Fotografien spielen im kulturellen Gedächtnis moderner Gesellschaften eine bedeutende Rolle. Benjamin (2006) vertrat in seinem Kunstwerkaufsatz die These, dass sich die mechanische Reproduzierbarkeit von Objekten zu Lasten ihres Kultwertes auswirken würde. Dies trifft aber nur begrenzt auf Kunstwerke und erst recht nicht auf andere soziale Artefakte zu. Die fotomechanische Vervielfältigung von Gemälden trug vielmehr dazu bei, dass bestimmte Gemälde zu Ikonen der Kunstgeschichte wurden. Auch die industrielle Massenfertigung von Nationalflaggen oder FanShirts tat deren Kultstatus keinen Abbruch. Ja, gerade auch Fotografien, die beliebig vervielfältigt werden können, sogar Digitalfotografien, bei denen es kein Original im strengen Sinne mehr gibt, können – wie nicht nur der Abu-Ghraib-Skandal zeigt – zu säkularen Ikonen werden. Die Fotografien aus Abu Ghraib wurden zu Kultobjekten eines Medienrituals. Sie wurden in den Massenmedien gezeigt, besprochen und in Erinnerung gerufen. Darüber hinaus wurden sie in Museen ausgestellt und dienten als Vorbilder für politische Kunst (9.4). Der Historiker Gerhardt Paul, der sich seit längerem mit ikonischen Fotografien beschäftigt, führt in seinem Aufsatz über die „mushroom cloud“ mehrere Kriterien für Ikonizität an: „Nur solche Bilder ragen als Medienikonen aus der alltäglichen Bilderflut heraus, die zusätzlich zu ihrer inhaltlichen Bedeutung einige bildimmanente ikonische Qualitäten besitzen: eine prägnante optische Qualität und Klischeehaftigkeit, die ein schnelles Wiedererkennen ermöglicht; eine affektive Qualität und Offenheit, durch die sich ein Bild als Projektionsfläche kollektiver Identifikationen, Hoffnungen, Ängste und Deutungen eignet, sowie eine herausragende ikonographische Qualität, die dem Bild durch seine kompositionelle Struktur, durch einen Archetypus oder ein religiöses Klischee eine besondere Aura verleiht und auf im Gedächtnis abgespeicherte Vor- und Urbilder verweist.“ (Paul 2006: 342f.)
Entscheidend für die Ikonisierung eines Bildes ist sowohl die kognitive Wiedererkennbarkeit von Motiven und Vorbildern als auch seine affektive Besetzung. Eine Medienikone changiert zwischen Prägnanz und Offenheit, muss aber in ihrer Bedeutung dennoch generalisierbar bleiben. Am Ende der Inthronisierung einer Ikone steht ihre Kanonisierung, durch die sie zu einem Teil des gesellschaftlichen Bildvorrates wird. Paul (2006) unterscheidet zwischen vier Formen der Kanonisierung: der „medialen Kanonisierung“, die sich durch ihre kontinuierliche Re-Inszenierung
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in medialen Teilkulturen vollzieht, der „kulturellen Kanonisierung“ in Kunst und Kultur, der „ökonomische Kanonisierung“ im Bereich der Alltagskultur sowie der „politischen Kanonisierung“ innerhalb bestimmter Kampagnen. Alle vier Formen der Kanonisierung finden sich auch bei den Abu-Ghraib-Bildern. Säkulare Ikonen verkörpern das Heilige einer Gesellschaft, ohne deswegen religiös zu sein. Die Heiligkeit religiöser Ikonen basiert in der Regel auf ihrer Ähnlichkeit zu Vorbildern, die ihre Heiligkeit durch Wunder unter Beweis gestellt haben. In der Indexikalität eines Bildes kann das Heilige auch als materielle Spur anwesend sein. Paradigmatisch ist hier das sogenannte „Schweißtuch der Veronika“, das den Abdruck des Gesichtes von Christus tragen soll. Die Ähnlichkeit des Abdrucks zum Original wird hier nicht durch den von Gott inspirierten Künstler verbürgt, sondern durch das Naturgesetz der Kausalität – wie bei der Fotografie. Und damit kommen wir zum ersten Kriterium von säkularen Ikonen, ihrer Indexikalität. Die Tatsache, dass die Rhetorik des fotografischen Bildes der Indexikalität säkularer Ikonen zugutekommt, ist für die Ikonisierung von Fotografien zentral. Das zweite Kriterium säkularer Ikonen, Transzendenz, zielt auf ihre Generalisierbarkeit und kollektive Bedeutung ab. Säkulare Ikonen verweisen nicht nur auf das Reale, sondern auch auf die soziale Gruppe als Kultgemeinschaft. Für den ikonischen Status des Schweißtuches der Veronika war entscheidend, dass es nicht nur die Spur eines x-beliebigen Toten trug, sondern die von Christus, einer positiven Verkörperung des Heiligen, der das Christentum als imaginierte Gemeinschaft repräsentiert. Gemeinschaften können aber nicht nur durch positive Symbole repräsentiert werden, es gibt auch die Möglichkeit einer impliziten Repräsentation durch Negativsymbole. Bernhard Giesen (2005) zufolge kommt es in der säkularisierte Moderne nicht zu einem umfassenden Transzendenzverlust, sondern zu einer Umstellung von positiven auf negative Transzendenzen. Darstellungen von Menschenrechtsverletzungen und das sinnlose Leiden der Opfer treten damit an die Stelle des Göttlichen. In diesem Sinne beschreibt Susan Sontag ihren ersten Kontakt mit Bildern aus den Konzentrationslagern als „negative Epiphanie“ und „moderne Offenbarung“ (1978). Über ihren Bezug auf das Heilige erhalten säkulare Ikonen eine normative Dimension. Sie stellen nicht nur etwas dar, sondern an den Betrachter ergeht zugleich eine Handlungsaufforderung – beispielsweise unschuldiges Leiden in Zukunft zu verhindern. Dennoch wird nicht jede Darstellung menschlichen Leids und unmenschlicher Erniedrigung zu einer säkularen Ikone. Es gibt weitere Merkmale, die den kultischen Gebrauch eines Bildes als säkulare Ikone nahelegen. Die weiteren Kriterien tragen der Offenheit und Mehrdeutigkeit von Bildern und säkularen Ikonen Rechnung. So unterscheidet Burkard Michel (2006: 76-85) zwischen der „fundamentalen Offenheit“, die allen Bildern zu eigen ist, und einer „spezifischen Offenheit“, die erst durch Leerstellen im Bild geschaffen wird. Darüber hinaus kann zwischen einer „syntagmatischen Offenheit“, dem Spannungsverhältnis zwischen einzelnen Bildelementen, und der „paradigmatischen Offenheit“,
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die auf der Mehrdeutigkeit von Bildelementen beruht, unterschieden werden (2006: 85-92). Das dritte Kriterium der Ikonizität, Ambiguität, entspricht der syntagmatischen Offenheit, die durch Leerstellen erzeugt wird. Die Leerstelle im Bild fungiert als „ambigues Objekt“ im Sinne des russischen Formalisten Shklovsky (1990/ 1925). Das ambigue Objekt stellt den Betrachter vor ein Rätsel; oft fordert es ihn dazu auf, eine Geschichte zu erzählen. Jede Interpretation muss als Versuch angesehen werden, diese syntagmatische Offenheit zu schließen. Säkulare Ikonen verschließen sich allerdings einer totalisierenden Interpretation. Für sie gilt: „Gute Bilder sind Rätsel, die nicht gelöst werden können“ (Giesen 2010: 63). Das vierte und letzte Kriterium von Ikonizität ist die symbolische Überdeterminiertheit des Bildes, die sich als paradigmatische Offenheit verstehen lässt. Bildliche Elemente können mehrere Konnotationen haben und beim Betrachter unterschiedliche Assoziationen hervorrufen; Bildmotive können auf andere Bilder verweisen und dadurch das gesamte Bild mit neuer Bedeutung aufladen. Bilder sind auf einen kulturellen Text angewiesen, aus dem sie zitieren, und in einen kulturellen Hintergrund eingebettet, vor dem sie sich abheben. Den Status einer Ikone verdankt sich häufig dem Verweis auf andere Bilder, die selbst einen ikonischen Status besitzen. Für moderne Ikonen ist entscheidend, dass sie sich einer interpretativen Schließung – sei es in syntagmatischer oder paradigmatischer Hinsicht – widersetzen. Das Bild entzieht sich der Festlegung durch seinen Betrachter und befeuert damit das Spiel der Einbildungskraft. Populäre Erzählungen und wissenschaftliche Erklärungen können immer nur zu einer partiellen Schließung des Bedeutungsspielraumes führen, was der Aura einer wahren Ikone keinen Abbruch tut. Säkulare Ikonen sind geteilte Referenzpunkte in öffentlichen Diskursen, die Spielräume für die soziale Imagination eröffnen und für diskursiven Konfliktstoff sorgen.
2.2 E RZÄHLUNG
UND
M YTHOS
Gerade seine fehlende Realitätsbindung lässt das Erzählen zu einer Matrix der schöpferischen Gestaltung von Wirklichkeit werden, die sich dann, zum Guten oder zum Schlechten, in der sozialen Empirie niederschlägt. ALBRECHT KOSCHORKE, WIR ODER SIE12
Erzählungen und narrative Muster durchziehen die menschliche Existenz und Kultur. Nicht nur angesichts der großen Daseinsfragen – woher wir kommen, wohin wir gehen und wer wir eigentlich sind – muss auf Erzählungen zurückgegriffen 12 „Wie Erzählungen Gruppenzugehörigkeit modellieren“, erschienen 2011 im Magazin des Exzellenzclusters Kulturelle Grundlagen der Integration in Konstanz (S. 9-11, hier S.9).
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werden. Schon die bloße Verknüpfung einzelner Ereignisse zu einem Erlebensoder Handlungszusammenhang bleibt auf narrative Hintergrundstrukturen angewiesen. Laut Searle ist es eine zentrale Aufgabe des Hintergrundes, der temporalen Abfolge von Ereignissen eine narrative oder dramatische Gestalt zu geben (1995: 134f.). Daneben gibt es aber auch außeralltägliche Erzählungen, die wir im Folgenden „Mythos“ nennen wollen. Mythen sind die Meistererzählungen einer Kultur, die in außerordentlichen Zeiten, beispielsweise während eines Wahlkampfs oder angesichts einer Krise, beschworen werden. Darüber hinaus erstreckt sich der Einflussbereich von Mythen in die Tiefen des kulturellen Hintergrundes, der auch alltägliche Erzählungen und Praktiken präfiguriert. So gibt es zwar verschiedene Skripte für Liebesbeziehungen, aber auch die moderne Liebe ruht auf einem mythischen Fundament, wie es unwahrscheinlicher nicht sein könnte: Dass zwei Menschen füreinander bestimmt sind.13 Zwar gibt es auch ein pragmatischeres Liebesverständnis wie z.B. die Konzeption einer „Partnerschaft“ oder eines „Lebensabschnittsgefährten“, aber die Dominanz der romantischen Liebe in der Populärkultur zeugt immer wieder von der Übermacht des Mythos „wahre Liebe“. Die Konkretheit und Anschaulichkeit von Erzählungen, ihre wahrnehmungssteuernde und handlungsleitende Kraft, aber auch Abstraktheit und Allgemeinheit narrativer Muster sind gute Gründe, „Narration“ nicht einem unspezifischen Textbegriff zuzuschlagen, sondern ihr eine theoretische Eigenständigkeit einzuräumen. Neben Bildern sind es bei Charles Taylor vor allem „Geschichten“ und „Legenden“ (2009: 296), die als Beispiele für das soziale Imaginäre dienen (1.3.2). Eine konkrete Erzählung bietet ein Grundgerüst, das von ihrem Rezipienten gefüllt werden muss: Kognitive Abschätzung der Plausibilität der Handlungsstruktur, emotionale Einfühlung in die handelnden Figuren und nicht zuletzt die evaluative Bewertung der Handlungen der Figuren. Diese mentalen Akte verweisen auf einen Hintergrund von kulturellen Mustern, der von narrativen Strukturen durchzogen ist. Die Produktion wie auch die Rezeption einer Erzählung findet vor einem kulturellen Hintergrund statt. Das Erzählen selbst lässt sich darüber hinaus auch als der Vollzug einer performativen Handlung analysieren (2.3), die nicht auf direkte Veränderung der physikalischen Umwelt, sondern auf Resonanz bei Publikum abzielt. Im Anschluss an Aristoteles’ Poetik lassen sich Erzählungen durch mimesis bzw. Nachahmung und Sequenzialität charakterisieren: „Wir haben festgestellt, dass die Tragödie die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung ist, die eine bestimmte Größe hat […]. Ein Ganzes ist was Anfang, Mitte und Ende hat“ (2010: 25). Die „Handlung“ bei Aristoteles ist nichts anderes als der narrative Kern des Dramas. Viele seiner Beobachtungen treffen nicht nur auf dramatische Inszenierungen, sondern auf alle Arten von Erzählungen zu. Wie bei her13 Eine seiner anschaulichsten Formen gewinnt dieses kulturelle Muster in dem Kugelmenschen-Mythos des Komödiendichters Aristophanes in Platons Symposion (189c-193e).
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kömmlichen Bildern handelt es sich auch bei Erzählungen um Nachahmungen, oder genauer: um Nachahmungen von Handlungen und Personen. Aber im Gegensatz zu Bildern, die sich durch Simultanität auszeichnen, besitzen Erzählungen einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, das heißt sie weisen eine sequenzielle Ordnung auf (vgl. Giesen 2010: 62f.). An die Arbeiten von Northrop Frye anknüpfend sollen nun narrative Strukturen entlang dieser beiden Achsen klassifiziert werden (2.2.1). Zum einen lassen sich Narrative dahingehend unterscheiden, ob sie eine verzerrte oder idealisierte Nachahmung der Wirklichkeit darstellen. Zum anderen lassen sich Narrative auch – je nachdem, ob sie eine aufsteigende oder fallende Erzählstruktur besitzen – über ihre jeweilige sequenzielle Struktur voneinander abgrenzen. 2.2.1 Fiktionale Modi und narrative Gattungen Wir haben gesehen, dass sich Erzählungen als mimesis, als Nachahmung von Handlungen und Personen verstehen lassen (vgl. auch Auerbach 1946; Ricoeur 2007: 87135). In seiner Theory of Fictional Modes knüpft der Literaturwissenschaftler Frye (2006: 31-63) an eine bis dato vernachlässigte Beobachtung von Aristoteles an: Während es in der Komödie vornehmlich um die „Nachahmung von schlechteren Menschen“ geht, widmet sich das Epos und die Tragödie vorwiegend der „Nachahmung guter Menschen“ (2010: 17). Eine Nachahmung muss nicht unbedingt „realistisch“ sein, da sie die dargestellten Handlungen oder Personen auch auf- oder abwerten kann. Der fiktionale Modus des high mimesis zeichnet sich Frye zufolge durch überlebensgroße Figuren und gewaltige Taten aus. Es handelt sich immer noch um eine Nachahmung von Realem, allerdings in einer idealisierten Form. Als Protagonisten treten in diesen Erzählungen vorzugsweise übermenschliche Helden, Halbgötter oder gar Götter auf. Als Beispiele können viele Hollywood-Actionfilme oder mythische Heldenerzählungen dienen. Aber nicht nur die Helden sind überlebensgroß gezeichnet, sondern auch ihre Gegenspieler besitzen übermenschliche Kräfte. Der fiktionale Modus des low mimesis, den Frye mit einer realistischen Nachahmung der Wirklichkeit gleichsetzt, hat es mit Protagonisten und Antagonisten zu tun, die – eben wie normale Menschen – auch ihre Schwächen und Mängel besitzen. Insbesondere in den Motiven der Akteure wird der Modus der Darstellung offenbar. Während in den „low-mimesis“-Erzählungen die Charaktere von niederen Motiven und Begierden, sogenannten „Wünschen erster Ordnung“, getrieben werden, spielen in den „high-mimesis“-Genres moralische Überzeugungen und Werte als „Wünsche zweiter Ordnung“ eine große Rolle (1.1.1). Die dämonischen Antagonisten der high mimesis sind ebenfalls nicht aufgrund eines banalen Interessenkonflikts die Gegenspieler des Helden, sondern weil sie das radikale Böse verkörpern, das heißt das Böse um seiner selbst willen verfolgen. Bei low und high mimesis handelt es sich um zwei Richtungen oder Pole auf ein und demselben Kontinuum künstlerischer Darstellungsmöglichkeiten. Im Gegen-
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satz zu Frye (2006: 31-63), der die low mimesis (zynischerweise) mit der realistischen Darstellung identifiziert, soll in den folgenden Überlegungen die realistische Darstellung zwischen den beiden Extremen, der low mimesis und der high mimesis, platziert werden. Dieses Kontinuum an Darstellungsmöglichkeiten korreliert mit der Intensität und Kollektivität von Emotionen, die an die Erzählung geknüpft werden. Die Protagonisten in „high mimesis“-Narrativen, in Tragödien und Romanzen, erfreuen sich reger Anteilnahme und großer Bewunderung, die nicht selten kollektiv verbindliche Züge annimmt. Demgegenüber bleibt das Lachen über eine Komödie, einem typischen „low mimesis“-Genre, relativ unverbindlich. Wie Bilder können Erzählungen und Erzählformen als kulturelle Träger von Emotionen fungieren. Fryes Theorie fiktionaler Modi wurde von Phillip Smith (2005) für die Analyse öffentlicher Diskurse fruchtbar gemacht und zu einer kultursoziologischen Theorie der Rahmung von Ereignissen ausgearbeitet. Er ergänzt den literaturwissenschaftlichen Ansatz von Frye durch dynamische Aspekte, mit dem sich Veränderungen im Erzählmodus beschreiben lassen ‒ wie sie für öffentliche Diskurse typisch sind. Smith nennt die Verschiebung einer Erzählung auf der Achse der mimetischen Darstellung hin zu einer aufwertenden Darstellung eine „Inflationierung des Genres“ (genre inflation), während er im umgekehrten Fall von einer „Deflationierung“ (genre deflation) spricht. Darüber hinaus führt Smith eine zusätzliche Gattung ein, die das äußerste Maß an Inflationierung bezeichnet: die „Apokalypse“. Das apokalyptische Genre zeichnet sich durch ein globales Bedrohungsszenario und ein Höchstmaß an moralischer Polarisierung zwischen den Protagonisten und den Antagonisten aus (Smith 2005: 24-27). Mit der Gefahr wächst auch die Macht des rettenden Helden. Prinzipiell lässt sich die Unterscheidung in fiktionale Modi auch auf ikonische (und performative) Formate anwenden, da mimetische und fiktionale Aspekte in allen Formen der kulturellen Repräsentation eine wichtige Rolle spielen. Die narrative Logik zeichnet sich durch eine Sequenzialität aus, das sich schwerlich in die Simultanität unbewegter Bilder überführen lässt. In seiner Theory of Myths unterscheidet Frye zwischen vier narrativen Grundmustern, die jeweils eine andere sequenzielle Struktur und emotionale Färbung besitzen (2006: 121-223). Frye ordnet diese vier Grundmuster in einem Kreis, sodass die jeweils benachbarten Paare bestimmte narrative Elemente miteinander teilen. Während sich Komödie und Satire durch den fiktionalen Modus der „low mimesis“ auszeichnen, handelt es sich bei der Tragödie und der Romanze um Erzählungen im Modus der „high mimesis“. Komödien und Romanzen sind Erzählungen, die sich durch eine Klimax mit glücklichem Ausgang auszeichnen, während Satiren und Tragödien eine absteigende Erzählstruktur besitzen und ihre Helden bzw. Antihelden scheitern lassen. Am Anfang der Komödie stehen in der Regel keine besonders noblen Motive: „What normally happens is that a young man wants a young woman, that his desire is resisted by some opposition, usually paternal, and at the end of the play some twist in the plot enables the hero to have his will“ (Frye 2006: 151). In der Komödie
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geht es also um unmittelbare körperliche Begierden, um profane Wünsche erster Ordnung, und nicht um ideelle Werte bzw. Wünsche zweiter Ordnung (vgl. 1.1.1). Entscheidend für den Verlauf einer Komödie ist weiterhin, dass der sogenannte „Held“ nicht in der Lage ist, die Erfüllungsbedingungen seiner Wünsche durch sein eigenes Handeln intentional hervorzubringen. Das „happy end“ ergibt sich stattdessen aus mehr oder minder undurchsichtigen Verwicklungen und Zufällen. Die Komödie ist, so Frye, keine akteurszentrierte Gattung, sondern eignet sich besser für die Darstellung gesellschaftlicher Zusammenhänge. In der Darstellung von Abu Ghraib wurde die Form der Komödie nur selten bemüht – zu ernst war die Situation und zu gravierend die internationalen Auswirkungen der Krise. 14 Die Romanze ist wohl die beliebteste narrative Erzählform in der Populärkultur. Dies dürfte vor allem an ihrer engen Beziehung zur vorintentionalen Affektstruktur und zum sozialen Imaginären liegen: „The romance is nearest of all literary forms to the wish-fulfillment dream“ (Frye 2006: 173). Diese imaginäre Wunscherfüllung ist nicht nur das Geheimnis unzähliger Groschen- und Jugendromane, auch Hollywood hat seinen Ruf als Traumfabrik überwiegend der Produktion von Romanzen zu verdanken. Auch die Serie 24 (2001-2010), die im Fortgang dieser Studie als Symptom des kulturellen Wandels nach dem 11. September 2001 gedeutet werden wird (6.4.2), fällt in das romantische Schema und lässt sich entsprechend als 9/11spezifisches „wish-fulfillment“ begreifen (10.3.2). Wie jede Erzählung besitzt auch die Romanze eine dreifache Struktur, die mit dem Aufbruch und der Reise des Helden beginnt, in einem Kampf auf Leben und Tod mit den Mächten des Bösen gipfelt und in aller Regel mit dem Triumph, der Heimkehr und der gesellschaftlichen Anerkennung des Helden endet. 15 Allerdings schließt Frye nicht aus, dass der Held in einer romantischen Erzählung zu Tode kommen kann (2006: 174). Das romantische Genre ist von zentraler Bedeutung für das soziale Imaginäre, insbesondere für die Stiftung positiver Identitäten. In den Vereinigten Staaten finden sich romantische Erzählmuster im American Dream des wirtschaftlichen Erfolgs, des sprichwörtlichen Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär bzw. „from rags to riches“ (vgl. Merton 1995b: 131-135; siehe auch 2.2.3), aber auch in den Erzählungen über den zweiten Weltkrieg als „The Good War“ (siehe Terkel 1984, vgl. auch 6.1). Gerade das letzte Beispiel zeigt, dass hier auch kollektive Akteure als Protagonisten fungieren können. Die „großen Erzählungen“ (Lyotard) von der Aufklärung der Menschheit, der Modernisierung der Gesellschaft oder des Kampfes der Arbeiterklasse besitzen eine romantische Struktur und ein Kollektiv als Protagonis14 Nur auf der äußersten Rechten wagt man es, die Missbrauchsfälle als Komödie zu erzählen: Die Soldaten in Abu Ghraib hätten einen anstrengenden Job gehabt, sie wollten nur ein wenig Spaß haben und haben einfach mal Dampf ablassen müssen (8.3.3). 15 Vgl. hierzu auch die Theorie des Helden von Joseph Campbell (1999/1949), der die Reise des Helden noch in weitere Abschnitte untergliedert.
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ten. Aufgrund ihrer Wichtigkeit für Fragen personaler und kollektiver Identität spielen Romanzen in der medialen Berichterstattung und im öffentlichen Diskurs eine große Rolle – insbesondere bei der Legitimation von Revolutionen und Kriegen, die in liberalen Demokratien immer schwerer fällt. Demokratien sind im Kriegsfall, wie Smith (2005) gezeigt hat, auf eine dramatische Zuspitzung durch apokalyptische Narrative angewiesen, da sie mögliche Verluste öffentlich rechtfertigen müssen. Auch die Tragödie erfreut sich als Erzählform in gesellschaftlichen Diskursen einer großen Beliebtheit. Im Gegensatz zur Romanze besitzt die tragische Erzählung eine fallende Grundstruktur. Allerdings, und hier müssen wir über Frye und Smith hinausgehen, muss zwischen der schuldlosen Verstrickung in der klassischen Tragödie und dem tragischen Fall einer Verfehlung, dem Modell des Sündenfalls, unterschieden werden. Der Handlungsverlauf einer Tragödie lässt sich folgendermaßen darstellen: Am Anfang wird der Protagonist als Held aufgebaut, allerdings macht er sich – wissentlich oder unwissentlich – einer Übertretung schuldig oder scheitert – selbst- oder auch fremdverschuldet – im entscheidenden Konflikt. Am Ende der Tragödie steht die Katastrophe, die Wende ins Unglück. Bei einigen Formen der Tragödie fällt dieser Umschlag bzw. die Peripetie als Höhepunkt der Handlung mit einem Moment des Wiedererkennens zusammen (Aristoteles 2010: 35f.). Ein klassisches Beispiel hierfür ist Sophokles König Ödipus, aber auch ein Narrativ des Abu-Ghraib-Skandals im links-liberalen Diskurs der Vereinigten Staaten folgte diesem Muster, da einige Journalisten und Intellektuelle in den Bildern ein (gleichwohl verzerrtes) Spiegelbild der Vereinigten Staaten zu erkennen glaubten (8.2.1, 8.3.2). Im amerikanischen Mainstream und im konservativen Diskurs dominierte nach dem Skandal ein anderes tragisches Narrativ: Das schuldlose Amerika sei durch die Missetaten einiger Weniger in ungerechtfertigter Weise in Mitleidenschaft gezogen worden (8.3.1). Während die tragischen Erzählungen der Konservativen noch in der Nähe der Romanze angesiedelt sind, da hier die Nation die Gestalt eines „tragisch gescheiterten Helden“ (Giesen 2004c) annimmt, steht bei den Liberalen das Unvermögen des kollektiven Akteurs im Zentrum der Erzählung, die den anfänglichen Helden zu einem Täter oder zu einem Untätigen werden lässt. Diese Variante der Tragödie liegt in der Nähe zur Gattung der Satire. Die Satire wird von Frye als die realistischste Gattung bezeichnet, da nur sie den Ambiguitäten und Komplexitäten der menschlichen Existenz gerecht werde (2006: 208). Sie tritt oft als eine Parodie anderer literarischer Gattungen auf. Die satirische Erzählung nimmt ihren Anfang mit desillusionierenden Protagonisten und einer Welt im desolaten Zustand der „low norm“ (Frye 2006: 211). Die Protagonisten scheitern in dieser unvollkommenen Welt, allerdings verliert dieses Scheitern seinen tragischen Bezug zum Handeln der Akteure. In dem Diskurs zu Abu Ghraib schlägt sich die Satire unter anderem in der Rahmung der Missbrauchsfälle als „animal house“ nieder (8.4.3). Die grotesken Bilder von Abu Ghraib wirkten auf die Betrachter darüber hinaus wie eine unfreiwillige Parodie auf das romantische Nar-
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rativ des „law-defying heroes“ und des „ticking-bomb torturers“ (7.2.3), was für den Einfluss dieser Bilder auf die Folterdebatte von entscheidender Bedeutung war (7.5; 10.4). Ähnlich wie in der Komödie spielen auch in der Satire die handelnden Personen eine nur unwesentliche Rolle. Eine diesem Genre entsprechende wissenschaftliche Erklärung der Abu-Ghraib-Vorfälle wurde von dem Sozialpsychologen Philip Zimbardo vertreten, der auf die situativen Faktoren in dem grotesken und desolaten Gefängnis hingewiesen hat (7.4; 8.3.2). Allerdings stieß diese Erklärung in der Öffentlichkeit auf wenig Resonanz, da man an einer individuellen Zurechnung der Schuld festhalten wollte. Stattdessen rekurrierte man wiederholt auf die niederen Motive der Täter oder deren Sadismus als Ursache der Missbrauchsfälle. Die vier von Frye eingeführten literarischen Gattungen, das dürfte ersichtlich geworden sein, sind idealtypische Unterscheidungen und werden in im Folgenden auch als solche verwendet. In konkreten Erzählungen existieren sie nur selten in Reinform. Ferner lassen sich diese vier Grundformen, wie von Smith (2005: 26f.) vorgeschlagen, noch um das apokalyptische Genre erweitern, auch wenn die Apokalypse streng genommen keine eigenständige Gattung, sondern eine Radikalisierung der Romanze oder Tragödie darstellt. 2.2.2 Handeln und Geschichte als Erzählung – Metasociology Es wurde bereits darauf hingewiesen (1.2.3), dass auch historische Erklärungen in den Sozialwissenschaften auf Erzählungen und Erzählmuster zurückgreifen müssen. Bei akteurszentrierten Handlungserklärungen, wo es darauf ankommt, eine plausible Konstellation von Akteuren, Motiven und Mechanismen zu formulieren, ist dies am offensichtlichsten. An ihnen kann man aufzeigen, dass sich die Kategorien von Frye auch auf soziologische Erzählungen anwenden lassen. So können materialistische bzw. utilitaristische Handlungstheorien (1.1.3), die ausschließlich auf niedere Motive rekurrieren (Wünsche erster Ordnung), von idealistischen bzw. normativistischen Handlungstheorien (1.1.4), die sich auf den obligatorischen Gehalt von Normen und den motivierenden Charakter von Werten berufen (Wünsche zweiter Ordnung), den jeweiligen fiktionalen Handlungsmodi zugeordnet werden. Materialistische und utilitaristische Handlungserklärungen operieren in einem „low mimesis“-Modus, den die Vertreter dieser Theorien (zynischerweise?) für realistisch halten, während idealistische und normativistische Handlungstheorien auf der Realität des „high-mimesis“-Modus beharren. Utilitaristische Theorien, die – wie Mandevilles Bienenfabel – öffentliche Vorteile durch private Laster in Aussicht stellen, entsprechen der literarischen Gattung der Komödie, während Theorien, die vor allem auf die negativen Folgen abstellen, in die Nähe der Satire rücken. Ähnliches gilt für idealistische Handlungserklärungen: Aufgrund des Zwangscharakters von Normen besteht eine Affinität zwischen tragischen Erzählungen und normativistischen Erklärungen, während die Erklärung des Handelns durch Werte stärker auf romanti-
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sche Narrative zurückgreift (es sei denn, es kommt zu einem tragischen Wertekonflikt). Dieser Untersuchung liegt die Überzeugung zu Grunde, dass nur eine integrative Handlungstheorie, die sich das gesamte Repertoire von Motiven und Narrativen – unter besonderer Berücksichtigung des kulturellen Hintergrundes – offen hält, eine angemessene Handlungserklärung zu geben vermag. Nicht nur Handlungserklärungen, sondern auch die großen Erzählungen der Gesellschaftstheorie lassen sich als Narrative begreifen, denen die narrative Logik literarischer Gattungen zu Grunde liegt. Die klassischen Theorien der Modernisierung und Individualisierung folgen einem romantischen Fortschrittsdenken, das allerdings mittlerweile – zumindest in seinen ungebrochenen Versionen – an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Daneben gab es natürlich auch schon immer tragische Erzählungen, die einen unvermeidbaren gesellschaftlichen Wandel konstatieren und dann auch kritisieren – gerne auch mit kulturpessimistischem oder apokalyptischem Gestus. Man denke nur an die Verfallsgeschichte der bürgerlichen Öffentlichkeit des jungen Habermas (1990), die an seine positive Schilderung ihrer hoffnungsvollen Anfänge anschließt, oder aber an Webers unentrinnbares „Gehäuse der Hörigkeit“ oder die von ihm konstatierte „Entzauberung der Welt“ (1988). In den Gesellschaftstheorien der Gegenwart dominieren ausgewogenere, teils gebrochene Modernitätsnarrativen (Stichwort: reflexive Modernisierung), die den unantizipierten Nebenfolgen des Fortschritts Rechnung tragen – ohne dabei einem soziologischen Fatalismus anheimzufallen. Eine soziologische Reflexion auf die Erzählformen in der Soziologie im Sinne der hier angerissenen metasociology hat bisher noch nicht stattgefunden. Hier ist die Geschichtswissenschaft, für die der Zwang zur Narration im besonderen Maß gilt, der Soziologie weit voraus. Historisches Wissen und narrative Form sind unauflöslich miteinander verbunden. Der Begriff der Geschichte umfasst, so Hegel, „das Geschehene nicht minder wie die Geschichtserzählung“ (1999: 65). Dieser alten Einsicht folgend lassen sich natürlich auch die Erzählungen der Geschichtswissenschaft einer narrativen Analyse unterziehen. Genau dies versuchte der amerikanische Historiker Hayden White, der das literaturwissenschaftliche Instrumentarium von Frye auf die Geschichte der Geschichtswissenschaften anzuwenden versuchte. White (1973) hat mit seinem opus magnum Metahistory eine Analyse der „historischen Imagination“ im 19. Jahrhundert vorgelegt, an die sich mit dem später noch einzuführenden Begriff des „sozialen Imaginären“ anschließen lässt (1.3.3). Der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, so die These von White, liegen bestimmte Narrative zu Grunde: bei Jules Michelet dominiere die romantische Geschichtserzählung, Leopold von Ranke sehe Geschichte als Komödie, Alexis de Tocqueville als Tragödie und Jacob Burkhardt als Satire. Seine detaillierten Ausführungen zu den einzelnen Autoren brauchen uns hier nicht weiter zu interessieren. In unserem Zusammenhang sind vor allem Whites abschließende Bemerkungen über den kollektiv geteilten Hintergrund der Geschichtsschreibung von großem Interesse:
98 | A BU G HRAIB UND DIE FOLGEN „I maintain that the link between a given historian and his potential public is forged on the pretheoretical, and specifically, linguistic level of consciousness. And this suggests that the prestige enjoyed by a given historian or philosopher of history within a specific public is referable to the precritically provided linguistic ground on which the prefiguration of the historical field is carried out.“ (White 1973: 429)
White operiert hier mit der Annahme eines vortheoretischen und vorintentionalen Hintergrundes (1.2-3), den er – ein wenig unglücklich – als „linguistisch“ bezeichnet. Ihm geht es allerdings weniger um eine biologische verankerte Universalgrammatik, sondern vielmehr um die narrativen Hintergrundmuster, die ein Geschichtsschreiber mit seinem Publikum teilt. Den Erfolg eines Historikers kann man im Anschluss an White dadurch erklären, dass seine wissenschaftliche Erzählung als Performanz auf eine Resonanz im kulturellen Hintergrund des Publikums stößt (1.2.3; 2.3.3). Nicht Fakten sind für den Erfolg einer Geschichtserzählung entscheidend, sondern der narrative Stil des Historikers, der den Nerv der Zeit treffen muss. Alle historischen Erklärungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften besitzen eine narrative Struktur. 16 Das zu Erklärende (Explanandum) lässt sich als das Ende einer Geschichte begreifen, die es wissenschaftlich zu rekonstruieren gilt. Die Erklärung (Explanans) geht von historischen Randbedingungen aus, die selbst nicht mehr erklärt werden und am Anfang vorausgesetzt werden müssen. Anfang und Ende der wissenschaftlichen Erzählung lassen sich dann durch kausale Mechanismen verknüpfen (1.2.3), die das zu erklärende Phänomen als (mehr oder minder) notwendiges Resultat einer kontingenten Ausgangsituation nachvollziehbar machen. Der Anfang einer historischen Erklärung ist willkürlich und daher besonders begründungspflichtig, da prinzipiell immer weiter zurückgegangen werden könnte. Auch die hier vorgenommene soziologische Erzählung der Geschichte des AbuGhraib-Skandals unterliegt diesen narrativen Zwängen. 17 16 Zu den Pionieren einer narrativen Erklärung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften gehören Alfred R. Louch (1966), Walter B. Gallie (1968) und Arthur C. Danto (1985). 17 So hätte man den Skandal mit der Enthüllung am 28. April 2004 beginnen (8.1) und der Wiederwahl von George W. Bush aufhören lassen können (8.5). Allerdings wäre dabei eine wichtige Ursache des Skandals, nämlich die auf den Fotos dokumentierten Missbrauchsfälle (7.1-4), aber auch seine längerfristigen Folgen unberücksichtigt geblieben (9.1-5; 10.2-4). Bei näherer Betrachtung erwies es sich als sinnvoll, den 11. September 2001 und den Krieg gegen den Terror (6.4), dessen Ende die Wiederwahl von Obama markierte (10.1), als Ausgangspunkt dieser Untersuchung zu nehmen, da der Krieg gegen den Terror nicht nur den Kontext der Missbrauchsfälle darstellt, sondern auch eine ursächliche Bedeutung für die Vorfälle besitzt. Darüber hinaus musste sowohl die Vorgeschichte des Gefängnisses als auch der Golfkrieg von 1991 thematisiert werden (6.3). Letzten Endes wurden auch noch der Zweite Weltkrieg (6.1) und der Vietnamkrieg (6.2)
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Grundsätzlich sollten wissenschaftliche Erzählungen versuchen, ein möglichst realistisches Bild von der geschichtlichen Wirklichkeit zu zeichnen. Wie wir bereits gesehen haben, bevorzugen materialistische Erklärungen „low-mimesis“-Modelle des Handelns, während idealistische Erklärungen einer „high-mimesis“-Darstellung von großen Individuen und Ideen einen Vorzug einräumen. Eine kultursoziologische Handlungserklärung sollte nicht nur beide Perspektiven integrieren, sondern darüber hinaus die kulturellen Hintergründe des Handelns identifizieren und sie für eine Handlungserklärung nutzbar machen. Ein Teil des vorintentionalen Hintergrundes kann als Repertoire von narrativen Mustern beschrieben werden. Eine kultursoziologische Handlungserklärung zeichnet sich dadurch aus, dass sie narrative Muster schon auf Seiten der Akteure verortet. In Anlehnung an Giddens’ Konzept der „doppelten Hermeneutik“ (1984) können wir von einer doppelten Narratologie der Kultursoziologie sprechen. Eine kultursoziologische Erklärung gleicht der Geschichte von Scheherazade, eine Erzählung, die selbst wieder Erzählungen enthält. Jede Soziologie, die einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, und darauf hat Luhmann wiederholt hingewiesen (z.B. 1997: 16), muss selbst wieder in ihrem Gegenstand auftauchen. Dies gilt auch für die Kultursoziologie, die soziologische Narrative zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machen kann ‒ und damit einen Beitrag zur Selbstreflexivität des Faches leistet. Wenden wir unser Augenmerk wieder dem narrativen Handlungshintergrund gesellschaftlicher und geschichtlicher Akteure zu, so ist zunächst einmal festzuhalten, dass vor allem die erinnerte und erzählte Geschichte, das sogenannte „kollektive“ oder „historische Gedächtnis“ (Halbwachs 1991; Giesen & Junge 2003), auf gegenwärtiges Handeln und zeitgenössische Diskurse einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausübt. Dass aktuelles Tagesgeschehen vor einem Hintergrund der kollektiven Erinnerung und narrativer Muster rezipiert wird, wusste schon Karl Marx: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.“ (Marx 1972/1852: 115)
Bemerkenswerterweise verweist Marx nicht auf die materiellen Gegebenheiten einer historischen Situation, sondern auf ideelle Faktoren, die den Gang der Gemiteinbezogen, da sie immer noch von entscheidender Bedeutung für die zivilgesellschaftlichen Diskurse und das soziale Imaginäre der Vereinigten Staaten sind.
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schichte beeinflussen. Es ist nicht alleine die Intentionalität geschichtlicher Akteure, sondern ihr kollektives Gedächtnis, das am Prozess des Geschichtemachens beteiligt ist. Die performative Aneignung der Vergangenheit durch die handelnden Akteure kommt hier treffend zum Ausdruck (vgl. 2.3.3). Erfolgt dieser Griff in die geschichtliche Mottenkiste nun bewusst oder unbewusst? Für Marx gilt offensichtlich beides: Die Metapher des „Alps“ und die Rede vom „Gehirn“ legen einen unbewussten Einfluss nahe, während die „Beschwörungen“ und „Maskierungen“ der Akteure auf bewusste Rückgriffe hindeuten. Allerdings setzt auch eine intentionale Instrumentalisierung der Geschichte vorintentionale Vertrautheit voraus. Die geschichtlichen Akteure greifen auf überlieferte und latente Muster zurück, die sie ihrerseits wieder bei ihrem Publikum vorrausetzen müssen. Während Marx aus seinem revolutionären Gestus heraus dazu aufruft, sich von den Gespenstern der Vergangenheit frei zu machen, geht die vorliegende Studie davon aus, dass dies nicht ohne weiteres möglich ist. Das soziale Imaginäre wird seine historischen Fesseln nie vollends abstreifen können (1.3.3). Allerdings ist die Beobachtung von Marx bis heute gültig: Historische Anleihen sind in modernen Öffentlichkeiten ubiquitär.18 2.2.3 Mythos, Identität, Gesellschaft Es gibt mehrere Verwendungsweisen des Wortes „Mythos“, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll. Das griechische Wort mythos bedeutet zunächst einmal „Erzählung“. Aristoteles (2010: 21f.) verwendet den Begriff des mythos, um damit den Plot eines Dramas bzw. dessen narrativen Kern zu bezeichnen. Auch Northrop Frye legt diesen Begriff des mythos als einem Plot seiner Theorie literarischer Gattungen zu Grunde (weswegen er auch von mythoi im Plural spricht). Zweitens wird in der griechischen Philosophie der mythos als eine überlieferte Erzählung vom logos abgegrenzt, der für den vernünftigen Gebrauch der Sprache in der Rede und Argumentation steht. Auf Basis dieser Begriffsfassung konnte sich die Mythenkritik etablieren, die den Mythos als ungesichertes Wissen entlarvte. Diese Mythenkritik schwingt auch noch in der heutigen Verwendung des Wortes mit. Eine Erzählung wird gerne als „bloßer Mythos“ abgetan, wenn an ihrer Wahrheit gezweifelt wird.19 Drittens wird der Begriff des „Mythos“ – darin der „Ikone“ 18 So wurde der 11. September vor dem Hintergrund von Pearl Harbor wahrgenommen (6.4); beide Irakkriege wurden im symbolischen Rückgriff auf den amerikanischen Triumph im Zweiten Weltkriegs begonnen (6.1); der Irakkrieg von 2003 entpuppte sich allerdings schon bald als ein „zweites Vietnam“ (6.2) – inklusive des Abu-Ghraib-Skandals als unheimlichen Wiedergänger des My-Lai-Massakers (6.2.2). 19 Diese Verwendung des Mythenbegriffs findet sich nicht nur in der Umgangssprache, sondern – ähnlich dem Begriff des symbolischen Handelns (z.B. bei Edelman 2005) – auch in der Wissenschaft, beispielsweise im Neoinstitutionalismus, der formale Strukturen von Organisationen als „myth and ceremony“ entlarvt (Meyer & Rowan 1977).
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ähnlich (2.1.3) – zur Kennzeichnung eines auratischen Gegenstands bzw. einer auratischen Erzählung angewendet. Ein Mythos ist demzufolge eine Verkörperung des „Außerordentlichen“ (Giesen 2010: 61f.), eine kollektive Repräsentation im durkheimianischen Sinne. Als gesellschaftliche Meistererzählung und kollektive Repräsentation kann der Mythos als Grundlage einer sozialen Ordnung und als Vorbild für das Handeln der Mitglieder einer Gesellschaft fungieren. Eine vierte Begriffsfassung, die von besonderem Interesse für die Kultursoziologie ist, zielt auf die Narrativität des vorintentionalen Hintergrunds ab. Narrative Muster sind als mythische Strukturen in den kulturellen Hintergrund des Erlebens und Handelns eingelassen. So gesehen können Mythen nicht in einem herkömmlichen Sinne „wahr“ oder „falsch“ sein, sondern bilden vielmehr einen Hintergrund, vor dem erst die Unterscheidung zwischen „Wahrheit“ und „Falschheit“ möglich ist (vgl. Wittgenstein 1984/1953: 139; § 194). Auf diese „Unhintergehbarkeit“ und „Unvordenklichkeit“ des Mythos hat insbesondere Bernhard Giesen hingewiesen: „Was der Mythos erzählt unterliegt noch nicht der Unterscheidung von Wahrheit und Täuschung. Er ist selbst noch nicht Gegenstand von Wahrheitsfragen, sondern er legt erst den Rahmen fest, in dem Wahrheitsfragen erst gestellt werden können. Der Mythos selbst ist kognitiv unüberwindlich. Romantische oder apokalyptische Mythen zum Beispiel lassen sich nicht einfach mit dem Hinweis auf Tatsachen in Frage stellen – sie präfigurieren die mögliche Erzählung dieser Tatsachen und diejenigen, die dieser Erzählung keinen Glauben schenken können, gehören einfach nicht der entsprechenden Mythengemeinschaft an.“ (2010: 62)
Diese einer Kultur zu Grunde liegenden narrativen Strukturen lassen sich oft auf gesellschaftliche Meistererzählungen zurückführen. Auch lässt sich den überlieferten Mythen ein großer Einfluss auf das soziale Leben zuschreiben, da sie im kulturellen Hintergrund einer Gesellschaft wirksam bleiben. Jan Assmann spricht von der „selbstbildformenden und handlungsleitenden Bedeutung“ des Mythos als einer „Mythomotorik“ (2007: 281), womit auch zugleich angezeigt wird, dass Mythen ihren Einfluss auf einer vorintentionalen Ebene entfalten. Mit dem Wechsel vom Mythos als Großerzählung zum Mythos als narrativem Grundmuster vollziehen wir einen Wechsel, den Margaret Sommers als einen Wechsel von „representational to ontological narrativity“ charakterisiert (1994: 613f.). „Ontologische Narrativität“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Akteure in ihrem Erleben und Handeln immer schon in narrative Muster und eine vorgängige Identität eingebettet sind. Narrative Muster und biographische Erzählungen spielen bei der Konstitution und Konstruktion von Identität eine entscheidende Rolle. Narrative Muster formen individuelle und kollektive Selbstbilder (sowie korrespondierenden Weltbilder), sie strukturieren die kollektive Identität, die den Gründungsmythen oder historischen Erzählungen von Gesellschaften zu Grunde liegt. Jede literarische Gattung im Sinne Fryes zeichnet sich durch spezifische Typen von Protagonisten aus (2.2.2), die wie-
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derum über unterschiedliche Identitätskonstruktionen verfügen. In ähnlicher Weise unterscheidet Giesen zwischen „Helden“, „Tätern“ und „Opfern“ als Archetypen individueller und kollektiver Identität (2004c; 2010: 67-87). Heldenerzählungen sind für die Konstruktion von Identität besonders beliebt, da sie ein positives Selbstbild vermitteln ‒ was selbst auf die Figur des tragisch gescheiterten Helden zutrifft. Heldenerzählungen müssen den „high-mimesis“Gattungen der Romanze und der Tragödie zugeordnet werden. Auch Täter und Opfer sind für diese Gattung typisch, wobei der Täter als Antagonist des Helden auftritt. In den traditionellen Heldenerzählungen sind die Opfer eher Nebenfiguren, die der Held zu retten hat. In den klassischen Sagen ist dies oft eine Jungfrau in Bedrängnis, in der Fernsehserie 24 sind es entführte Familienangehörige oder die Bevölkerung von Los Angelos, die es vor der terroristischen Bedrohung zu schützen gilt (2001-2010; 6.4.2; 10.3.1). Allerdings können auch Täter und Opfer in die Rolle des Protagonisten schlüpfen und damit ein eigenes literarisches Genre begründen. Eine Tätererzählung kann die Form einer schuldhaften Tragödie annehmen, während eine Opfererzählung eine unschuldige Verwicklung in tragische Umstände impliziert. Die „low-mimesis“-Gattungen – Satire und Komödie – eignen sich weniger zur Identitätsstiftung, da sie nur schwache Identitätsangebote zur Verfügung stellen. Die Figur des tragisch gescheiterten Held – eine beliebte Identitätskonstruktion in Biographien, die einen Niedergang zeichnen –, ja selbst negative Selbstbilder wie Täter und Opfer werden diesen in aller Regel vorgezogen. Dies hat wohl damit zu tun, dass der Fokus von Komödien und Satiren weniger auf den handelnden Akteuren, als auf den gesellschaftlichen Zusammenhängen liegt (2.2.2). Nationale Identitäten werden maßgeblich durch gesellschaftliche Meistererzählungen konstruiert. Von großer Bedeutung sind vor allem die Erzählungen der offiziellen Geschichtsschreibung, aber auch die Narrative, die in der Öffentlichkeit verhandelt werden. Dies soll im Folgenden kurz am Beispiel der kollektiven Identität der Vereinigten Staaten illustriert werden, die natürlich auch für den öffentlichen Diskurs über Abu Ghraib wichtig ist. Die überwältigende Mehrheit der amerikanischen Gesellschaft pflegt ein besonders progressives und positives Selbstbild. Ein mythischer Kern dieses Selbstverständnisse liegt in dem christlichen Imaginären, das die Vereinigten Staaten seit der Landung der Mayflower begleitete, die natürlich selbst schon ein Teil des Mythos „christliches Amerika“ ist. Die Frage, ob die Gründerväter der Vereinigten Staaten nun Aufklärer, Deisten und Bewunderer der römischen Republik waren oder aber in erster Linie gottesfürchtige Christen, spaltet bis heute den öffentlichen Diskurs in Amerika. Allerdings lässt sich kaum bestreiten, dass in der amerikanischen Zivilreligion in hohem Maße auf biblische Narrative zurückgegriffen wird: Die Amerikaner als auserwähltes Volk, die neue Welt als gelobtes Land und die Vereinigten Staaten als neues Jerusalem sind nur einige Motive, die Bellah in seinen Studien über die amerikanische Zivilreligion herausgearbeitet hat (1991, 1992). Da verwundert es kaum, dass amerikanische Politiker wie
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Ronald Reagan von den Vereinigten Staaten als einer „shining city upon a hill“ sprechen, eine Anspielung auf eine Passage in der biblischen Apokalypse. Dieses positive Selbstbild der Vereinigten Staaten sowie das daraus resultierende Sendungsbewusstsein sind nicht nur wesentliche Voraussetzungen für die neueren amerikanischen Kriegseinsätze, sondern zugleich der Hintergrund, vor dem die Bilder von Abu Ghraib als schockierend wahrgenommen wurden und ihre Wirkung entfalten konnten (8.1-2). Das relativ entspannte Verhältnis der Amerikaner zur Gewalt lässt sich auf einen weiteren Mythos zurückführen, der das soziale Imaginäre der Vereinigten Staaten bis heute prägt: der „frontier myth“ einer nationalen Erneuerung durch Gewalt (Slotkin 1973). Der nachhaltige Einfluss dieses Mythos lässt sich nicht zuletzt in der Rahmung des 11. Septembers 2001 und der anschließenden Fortsetzung der Erzählung im Krieg gegen den Terror nachweisen (Faludi 2007).
2.3 P ERFORMANZ
UND
R ITUAL All the world’s a stage, And all the men and women merely players: They have their exits and their entrance. JAQUES DE BOIS20
In der soziologischen Terminologie hat das Vokabular des Theaters seine Spuren hinterlassen. So hat sich der Ausdruck „Akteur“ für Handelnde eingebürgert, während bestimmte Erwartungen, die an Personen aufgrund ihrer sozialen Position geknüpft werden, als „Rollen“ bezeichnet werden. In den letzten Jahren erfreut sich der Begriff der „Performativität“, der zum einen auf Linguisten und Sprachphilosophen, zum anderen aber auf die wissenschaftliche Aneignung der Welt des Theaters zurückgeht, einer wachsenden Beliebtheit. Dennoch werden in vielen zeitgenössischen Handlungstheorien rituelle oder theatralische Darbietungen als „uneigentliche“ Formen des Handelns abgewertet und eher stiefmütterlich behandelt.21 Im Fol-
20 Eine Figur aus William Shakespeares As You Like It (2. Akt, 7. Szene). 21 So bemüht sich Jürgen Habermas um eine Versprachlichung von Durkheims Ritualbegriff, indem er die „bannende Kraft des Heiligen“ mit aufklärerischem Gestus in die bindende „Kraft von kritisierbaren Geltungsansprüchen“ überführt (1997: 119). Ritual weicht dem „verständigungsorientierten Handeln“, dem das „strategische Handeln“ aus Nutzenkalkülen gegenübergestellt wird. Zwar führt Habermas noch das „dramaturgische Handeln“ als dritten Handlungstypus ein, trivialisiert aber zugleich dessen Bedeutung, indem er seine ästhetisch-expressive Funktion lediglich dem künstlerischen Bereich zuweist (1995: 135-141). Angesichts der Übermacht des strategischen und kommunikativen
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genden wird die These vertreten, dass dramaturgisches bzw. performatives Handeln für ein Verständnis moderner Gesellschaften und liberaler Öffentlichkeiten unabdingbar ist. „Performativität“ ist kein überflüssiges Ornament des Handelns, sondern von existenzieller Bedeutung in Fragen von Wahrheit und Unwahrheit, Krieg und Frieden, Leben und Tod. Den „uneigentlichen“ Handlungsformen kommt eine gesellschaftliche Wirkmacht zu, die nicht unterschätzt werden darf. Der Begriff der „Performativität“ muss zunächst einmal spezifiziert und dadurch von anderen Handlungsformen und Handlungsaspekten abgegrenzt werden. Mit guten Argumenten ließe sich nämlich auch die Position vertreten, dass alles Handeln als Vollzug einer Handlung immer schon „performativ“ sei. Für eine solche Begriffsfassung könnte die Verwendung von Performanz bei Noam Chomsky Pate stehen (1972).22 Performanz bezeichnet in diesem Fall die Selektion oder Aktualisierung einer Sprechhandlung vor einem Horizont von Möglichkeiten, der durch die Kompetenz des Sprechers gegeben ist. Ein solcher Ansatz lässt sich durchaus auf eine allgemeine Handlungstheorie übertragen und auch kultursoziologisch fruchtbar machen, beispielsweise im Sinne eines „culture as toolkit“ (Swidler 1986). In ähnlicher Weise verwendet Ferdinand de Saussure (1967/1916) die Unterscheidung von „parole“ und „langue“, wobei langue nicht auf die Kompetenz eines individuellen Sprechers verweist, sondern den kulturellen Hintergrund einer Sprache absteckt. Eine Verwendung des Begriffes „Performanz“, die nur auf die Selektion oder Aktualisierung einer Handlung aus einem Möglichkeitshorizont abzielt, ist jedoch nicht nur die allgemeinste, sondern auch die leerste Begriffsfassung. Eine spezifischere Verwendung des Begriffs hatte John Austin im Sinn, als er sich in seiner wegweisenden Studie mit sogenannten „performatives“ beschäftigte (1992). Über das triviale Faktum hinausgehend, dass alles Sprechen auch Handeln sei, reserviert er die Bezeichnung „performativ“ für die Auszeichnung von Sprechakten, die durch ihre bloße Äußerung soziale Tatsachen und Verpflichtungen schaffen (z.B. Versprechen und Entschuldigungen). Zur Klärung dieses Phänomens unterscheidet Austin wischen verschiedenen Aspekten des Sprachhandelns. Der „lokutionäre Akt“ bezeichnet den sachlichen Gehalt einer Aussage, während der „perlokutionäre Akt“ für die die Sprecherabsicht (im Sinne des intendierten Effekts auf die Zuhörer) steht. Die so genannten „performatives“ zeichnen sich durch die Dominanz eines dritten Aktes aus: Der „illokutionäre“ Akt bindet den Sprecher an eine durch den Sprechakt eingegangene Verpflichtung. Jaques Derrida hat in seiner Kritik von Austin darauf hingewiesen (1999: 340-347; hierzu ausführlicher Binder Handelns, deren Dualität für Habermas die gesellschaftliche Totalität von System und Lebenswelt konstituiert, bleibt das dramaturgische Handeln vergleichsweise folgenlos. 22 Ein andere, aber auch recht allgemeine Verwendung des Begriffes findet sich bei Parsons und Shils, welche die Zuschreibung von Eigenschaften aufgrund einer „performance“ von der Zuschreibung inhärenter Eigenschaften unterscheiden (1962/1951: 65).
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2011: 78-80), dass Sprechakte ihre illokutionäre Kraft nie als singuläre Ereignisse, sondern nur als Wiederholungen und Zitate vor dem Hintergrund eines gesellschaftlich geteilten Wissens entfalten. Derrida macht es Austin darüber hinaus zum Vorwurf, dass er „uneigentliche“ Sprechakte ohne illokutionären Gehalt (z.B. im Theater), aber auch die kontingente Möglichkeit des Scheiterns von Sprechakten (unabhängig von ihrer formalen Beschaffenheit) nicht angemessen berücksichtigt. Die Vielfalt performativer Aspekte lässt eine Differenzierung des Begriffs sinnvoll erscheinen. So soll im Folgenden zwischen „rituellen“, „theatralischen“ und „sozialen Performanzen“ unterschieden werden.23 „Rituelle Performanzen“ basieren auf formelhafter Wiederholung und stellen – wie performative Sprechakte – soziale Wirklichkeit her (Giesen 2006b: 340f.). Bei einer „theatralischen Performanz“ handelt es sich hingegen um die Aufführung oder Rezitation eines Textes, wobei die Inszenierung unter dem Vorbehalt des „als ob“ (Vaihinger 1927) steht. „Soziale Performanzen“ unterhalten ein eigentümliches Verhältnis zu rituellen und theatralischen Aufführungen. Eine gescheiterte soziale Performanz nimmt oft den künstlichen Charakter einer durchschaubaren Inszenierung an, während eine geglückte soziale Performanz dem Ritual ähnliche Wirkungen zeitigt (Alexander 2006b: 54f.). Dem kulturellen Mechanismus der „Nachahmung“ kommt bei der Entstehung und Verbreitung von Mustern des performativen Handelns eine bedeutende Aufgabe zu (Gebauer & Wulf 1998; Wulf 2005: 11-83; 1.2.3). Dies bedeutet nicht, dass performative Muster unverändert reproduziert werden, da sich Unterschiede zu den vorangegangenen Performanzen unbemerkt einschleichen oder von Akteuren intentional hervorgebracht werden können. Abweichungen von überkommenen performativen Mustern können sanktioniert oder aber selbst wieder zum Gegenstand von Akten der Nachahmung werden und sich zu kulturellen Mustern verfestigen. In bestimmten Handlungskontexten wird die Abweichung sogar zur sozialen Norm erhoben. So hängt der Erfolg sozialer Performanzen oft von der Individualität und Authentizität der Aufführung ab. Am kanonisierten Ritual der Eheschließung stört sich niemand, aber Liebeserklärung und Heiratsantrag sollen originell und ehrlich sein, wie auch die Hochzeit im Großen und Ganzen einzigartig und unvergesslich werden muss. Zudem hängt der Erfolg einer Performanz von ihrer „Resonanz“ beim Publikum und damit von der Beschaffenheit ihres jeweiligen kulturellen Resonanzbodens ab. Die vorgeschlagene Typologie performativen Handels erhebt einen Anspruch auf sachliche Angemessenheit und empirische Anwendbarkeit. Allerdings handelt es sich um idealtypische Unterscheidungen, da die empirischen Übergänge fließend sind: Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die wichtigsten Charakteristika, bevor auf die einzelnen Formen performativen Handelns eingegangen wird:
23 Vgl. auch die Unterscheidung zwischen „constitutive rituals“, „theatre“ und „moral drama“ bei Bernhard Giesen (2006b: 338-357), dem diese Überlegungen viel verdanken.
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Tabelle 4: Formen performativen Handelns Performatives Handeln
Rituelle Performanz
Theatralische Performanz
Soziale Performanz
Gelingensbedingung Konformität
Fiktionalität
Authentizität
Soziale Effekte
Solidarität und Transformation
Unterhaltung und Reflexion
Resonanz und Verschmelzung
Soziale (Nicht-) Differenzierung
Gemeinschaft Partizipierender
Schauspieler / Publikum
Performer / Öffentlichkeit
Mit fortschreitender Ausdifferenzierung der Gesellschaft kommt es zu einer Diversifizierung performativer Akte, die unterschiedliche Funktionen im sozialen Leben wahrnehmen. Theater und soziale Performanz lösen das Ritual nicht ab, sondern ergänzen es. Rituell erzeugte Verbindlichkeiten bleiben zentral für die Koordination sozialer Interaktionen, die Gründung von Institutionen und die Beilegung gesellschaftlicher Konflikte. Theatralische Performanzen schaffen eine fiktive Gegenwelt, die sowohl der Unterhaltung als auch der Reflexion, vor allem aber der Nachahmung dient. Im sozialen Leben zeigt die von einem Akteur zur Schau gestellte Theatralität an, dass man nicht in seiner sozialen Rolle aufgeht, und vermag so einen Beitrag zum Schutz der Persönlichkeit zu leisten. Soziale Performanzen erweisen sich in dem Maße als unverzichtbar, wie sich Individualisierung und Authentizität als gesellschaftliche Werte durchsetzen, traditionelle Verbindlichkeiten und die kulturelle Homogenität einer Gesellschaft verschwinden und die Öffentlichkeit zur zentralen Vermittlungsinstanz des gesellschaftlichen Lebens wird. 2.3.1 Rituelle Performanz – Konformität und Transformation Entwicklungsgeschichtlich stellt wohl das „Ritual“ die Keimzelle aller Performanzen dar – so wie Durkheim in der Religion den Ursprung moderner Gesellschaftsordnungen gesehen hat (2005/1912). Die Ritualisierung von Verhaltensweisen findet sich schon im Tierreich; Rituale im eigentlichen Wortsinn gibt es aber erst in menschlichen Gesellschaften. Nicht nur das okzidentale Drama geht auf Rituale des dionysischen Kultus zurück, sondern auch agonale Wettbewerbe wie die olympischen Spiele dienten zunächst rituellen Zwecken. Ausgehend vom Ritual haben sich sowohl das Theater als auch der Sport in unterschiedliche Richtungen entwickelt, die ihre begriffliche Abgrenzung vom Ritual erforderlich machen. Während es sich bei theatralischen Aufführungen um fiktionale Inszenierungen handelt, die eine Grenze zwischen Publikum und Bühne ziehen, stellt das Ritual Solidarität zwischen
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den Partizipanten her. In ähnlicher Weise lassen sich agonale Spiele von Ritualen unterscheiden, da sportliche Wettkämpfe, ausgehend von gemeinsamen Startbedingungen und Chancengleichheit, Differenzen zwischen den Parteien erzeugen, während bei gelungenen Ritualen die sozialen Unterschiede zwischen den Teilnehmern in den Hintergrund treten (so Lévi-Strauss 1977: 47). Aufgrund ihres Beitrags zur Herstellung von Solidarität haben Rituale auch in der soziologischen Tradition ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erfahren. Nach Durkheim ist die Religion bzw. das kollektive Bewusstsein einer Gesellschaft „ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken“ (2005/1912: 75, Hervorhebung im Original), das sich an der Unterscheidung von „heilig“ und „profan“ orientiert. Rituale sind gemeinschaftliche Praktiken, welche den Unterschied zwischen heilig und profan markieren, wobei das „Heilige“ bei Durkheim letztendlich nur als ein Platzhalter, als ein leerer Signifikant für die Transzendenz der Gesellschaft fungiert (2005/1912: 285-295). Es gibt zahlreiche Versuche, das Ritual nach formalen Kriterien zu definieren. Als Ausgangspunkt für unsere Überlegungen eignet sich Roy A. Rappaports Definition des Rituals als einer „performance of more or less invariant sequences of formal acts and utterances not entirely encoded by the performers“ (1999: 25). Diese Definition rückt die für rituelle Praktiken charakteristische Wiederholung und die Kanonisierung rituellen Wissens in den Vordergrund (so auch Tambiah 1985: 128, 131-137). Ablauf und Bedeutung eines Rituals sind von vornherein festgelegt und der individuellen Deutung der Partizipanten weitestgehend entzogen. Im rituellen Handlungsmodus wird zudem von der individuellen Intentionalität der einzelnen Akteure abstrahiert (Humphrey & Laidlaw 2004). Alleine die Konformität der Partizipanten mit den für das Ritual erforderlichen Regeln ist für das Gelingen einer rituellen Performanz entscheidend. Da diese Konformität wiederum auf der Zuschreibung von Beobachtern beruht, kann der mutmaßliche Erfolg eines Rituals auch noch nachträglich zum Gegenstand einer Debatte werden. Der Anthropologe Stanley J. Tambiah versuchte darüber hinaus, das Konzept der Performativität für die Analyse von Ritualen fruchtbar zu machen: „Ritual action in its constitutive features is performative in these three senses: in the Austinian sense of performative, wherein saying something is also doing something as a conventional act; in the quite different sense of a staged performance that uses multiple media by which the participants experience the event intensively; and in the sense of indexical values ‒ I derive this concept from Peirce ‒ being attached to and inferred by actors during the performance.“ (1985: 128)
Erst die Berücksichtigung der Performativität eines Rituals wirft ein Licht auf seine sozialen Effekte, seine sinnliche Erfahrbarkeit als szenische Aufführung und seine objektive Bedeutung als kulturelles Symptom. Das Ritual hat – wie schon die alltäglichen Akte des Versprechens und des Entschuldigens – einen illokutionären
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Gehalt, der es vom Theater unterscheidet (Tambiah 1985: 134f.). Mit einem erfolgreich durchgeführten Ritual geht eine Veränderung der sozialen Welt und oft auch eine persönliche Transformation der Partizipierenden einher (vgl. Turner 2005). Ein Ritual erzielt diesen Realitätseffekt nicht durch eine direkte physikalische Einflussnahme auf die Umwelt, sondern aufgrund von formalen Eigenschaften und sozialen Konventionen (siehe auch Rappaport 1999: 46-50). Als „staged performance“ oder szenische Aufführung ähnelt das Ritual wiederum dem Theater (vgl. 1999: 37-46). Eine rituelle Performanz wird körperlich und sinnlich erlebt, was für ihre Bedeutung und Wirkung keineswegs unwesentlich ist (Giesen 2006b: 342f.; vgl. Sullivan 1986). Zu guter Letzt kann ein Ritual indexikalisch, das heißt als kulturelles Symptom gedeutet werden, das auf gesellschaftlich geteilte Vorstellungen verweist. Im Ritual und seiner Beziehung zum Heiligen spiegelt sich das soziale Imaginäre der Kultgemeinschaft wieder. Kollektive Vorstellungen von „Reinheit“ und „Unreinheit“, „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ usw. finden in Ritualen einen körperlichen Ausdruck und werden habituell verfestigt. Schon das einfache Interaktionsritual des Hutziehens besitzt einen solchen, über seinen sozialen Sinn als Begrüßung hinausgehenden, dokumentarischen Sinn (Panofsky 1964: 93). Anhand der transformativen Kraft ritueller Performanzen lässt sich zeigen, wie die performativen Qualitäten eines Rituals an seine formalen Eigenschaften geknüpft sind. Der Ausführung eines Rituals liegt eine besondere Form der Regel zu Grunde: Während es sich bei sozialen Normen in erster Linie um regulative Regeln handelt, die in Form geteilter Verhaltenserwartungen ein bereits existierendes Verhalten regeln, legen die konstitutiven Regeln eines Rituals fest, was überhaupt als Ritual zu gelten hat (vgl. Rawls 1955; Searle 1995: 43-51). Die Vorschriften zur Durchführung eines Rituals konstituieren dieses, so wie Spielregeln ein Spiel konstituieren. Rituale gleichen dadurch in ihrer Struktur einem performativen Sprechakt, der qua Sprache soziale Wirklichkeit hervorbringt (Giesen 2006b: 340f.). Weil Rituale auf konstitutiven Regeln basieren, weisen sie ein Charakteristikum auf, das man mit Turner (2005) und van Gennep (1999) als „Liminalität“ bezeichnen kann. Durch konstitutive Regeln wird eine radikale Transformation von Personen und Situationen möglich. In der liminalen Phase des Rituals wird die Geltung alltäglicher Normen außer Kraft gesetzt – ein Merkmal, das Turner als „Antistruktur“ bezeichnet. Der antistrukturelle Kern eines Rituals zeigt sich unter anderem darin, dass für die Dauer des Rituals soziale Differenzen zwischen den Partizipanten, z.B. Kasten- oder Standesunterschiede, in den Hintergrund treten. Dadurch bewirken Rituale ein außerordentliches Gefühl von Gemeinschaftlichkeit, communitas, das dem alltäglichen Rollenspiel fremd ist (Turner 2005: 96f., 123-127). Gerade weil Rituale die Sozialstruktur zeitweise außer Kraft setzen, können sie einen Beitrag zur Stabilisierung sozialer Ordnung leisten – wenn es ihnen gelingt, die kurzlebige communitas in gesellschaftliche Solidarität zu transformieren. Rituale kommen als soziale Mechanismen der Krisenbewältigung zur Anwendung, wie
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nicht nur der Regentanz der Hopi-Indianer (Merton 1995a: 62f.), sondern auch die kollektive Trauerarbeit nach dem 11. Septembers 2001 zeigen (Tiryakian 2005). Mit dem Austritt aus der Schwellenphase und der Wiedereingliederung in die Gesellschaft kann es zu dauerhaften Veränderungen im sozialen Status kommen, beispielsweise bei Initiationen und Amtseinführungen (vgl. 3.3.1). Selbst in modernen Gesellschaften wird bei einem wichtigen Statuswechsel auf rituelle Formen zurückgegriffen. Sowohl die überpersönliche Geltung der Regeln als auch das seine Ausführung begleitende Gemeinschaftsgefühl machen das Ritual zu einer genuin kollektiven Angelegenheit – auch da, wo es scheinbar individuell ausgeführt wird (z.B. beim einsamen Tischgebet). Was Rituale von individuellen Gewohnheiten und idiosynkratrischen Neurosen unterscheidet, ist ihr expliziter oder impliziter Bezug auf eine Kultgemeinschaft, die ihnen zu Grunde liegende kollektive Intentionalität. Für die soziologische Debatte war vor allem die Rezeption des Ritualbegriffs in Durkheims religionssoziologischem Spätwerk ausschlaggebend (2005/1912). In der Mikrosoziologie wurden darüber hinaus auch seine früheren Überlegungen zum Kult des Individuums einflussreich (1986/1898). Erving Goffman zufolge äußert sich die Heiligkeit der Person in der modernen Gesellschaft in Techniken der Imagepflege und Ritualen der Ehrerbietung (1991). Randall Collins (2004) hat im Anschluss an Goffman das Interaktionsritual zum Grundbegriff einer Mikrosoziologie gemacht, in deren Rahmen sich nicht nur Menschen und Gesellschaften, sondern auch scheinbar private Akte wie das Denken als „Interaktionsritualketten“ beschreiben lassen. In der Makrosoziologie kam Durkheims Ritualbegriff vorwiegend in Arbeiten über die Massenmedien und Öffentlichkeit zur Anwendung (einen Überblick findet sich bei Cottle 2006). Edward Shils Aufsätze über das „heilige Zentrum“ moderner Gesellschaften und insbesondere seine zusammen mit Michael Young durchgeführte Studie zur Krönung der englischen Queen waren hier wegweisend (1975). Diese Beschäftigung mit makrosoziologischen Ritualen als integrativen Mechanismen moderner Gesellschaften fand in den Studien über Medienereignisse von Daniel Dayan und Elihu Katz (1988, 1996) sowie in Jeffrey C. Alexanders Analysen des Watergate-Skandals (1993, 2003c) eine Fortsetzung. 2.3.2 Theatralische Performanz – Fiktionalität und Reflexion Nach heutigem Wissensstand ist das uns vertraute okzidentale Theater aus den Ritualen des griechischen Dionysoskultes hervorgegangen (vgl. Barthes 2005: 69f.; Alexander 2006b: 47-49). Im Gegensatz zum rituellen Handeln, das als performativer Akt soziale Wirklichkeit hervorbringt und reproduziert, zeichnen sich theatralische Performanzen durch den Vorbehalt des „als ob“ (Vaihinger 1927) aus. In dem eine Handlung als theatralische Performanz gerahmt wird, wird die Handlung nicht mehr der Person des Darstellers, sondern der dargestellten Figur zugerechnet. Die dargestellte Handlung ist fiktional, in demselben Sinne wie eine erfundene Erzäh-
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lung fiktional ist. Des Weiteren impliziert die theatralische Performanz eine Unterscheidung zwischen den Aufführenden und dem Publikum. Im antiken Theater war diese Grenze noch durchlässiger als im späteren bürgerlichen Theater. Transformation ist keine notwendige Folge theatralischer Performanzen. Theater muss nicht belehren, sondern kann auch einfach nur unterhalten. Und wenn denn eine Transformation stattfinden soll, dann auf Seiten des Publikums und nicht bei den Schauspielern. Die antike Dramentheorie des Aristoteles weist noch eine starke Nähe zum Ritual auf, was sich unter anderem darin zeigt, dass die Tragödie den Zuschauer durch Mitleiden von seinen eigenen Affekten reinigen soll (katharsis). Eine moralische Besserung des Zuschauers hatte auch noch Friedrich Schiller im Sinn, als er „die Schaubühne als moralische Anstalt“ in den aufklärerischen Dienst einer ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts stellte. Die moderne Kunst, sich ihrer Autonomie bewusst werdend, hat diese rituellen und pädagogischen Aufgaben von sich gewiesen und neigt dazu, den transformativen Effekt dem Publikum anheim zustellen. Wenn denn die moderne Kunst noch einen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck hat, dann vermutlich als Projektionsfläche und Reflexionsgegenstand. Dadurch, dass theatralische Performanzen eine fiktionale Darstellung auf die Bühne bringen, ermöglichen sie dem Publikum eine Reflexion über sich selbst. Seit Artaud (Artaud 1981) gab es jedoch immer wieder avantgardistische Bestrebungen, das Theater dem Ritual anzunähern und die Zuschauer stärker mit einzubinden. 24 Wolfgang Iser hat darauf hingewiesen, dass „Fiktionalität“ als vermittelndes Prinzip zwischen dem Realen und dem Imaginären begriffen werden muss (1991). Iser unterscheidet zudem drei Aspekte der Fiktionalität, die er „Selektion“, „Kombination“ und „Selbstanzeige“ nennt. Dabei entspricht die Selektion der Nachahmung von bestimmten Handlungsmustern, die außerhalb eines Textes (oder einer Aufführung) liegen, die Kombination der Relationierung von Elementen innerhalb des Textes, während die Selbstanzeige dazu dient, den Text als fiktional auszuweisen. Dass sich uneigentliche performative Akte nicht über den Kontext identifizieren lassen, hat bereits Derrida gegenüber Austin moniert; und so stellt auch Iser fest, dass sich die Fiktionalität eines Textes (oder einer Aufführung) niemals alleine vom Kontext her erschließen lässt, sondern durch „Selbstanzeige“ ausgeflaggt werden muss. Fiktionale Akte oder Texte geben „sich durch ein Signalrepertoire als fiktional zu verstehen“ (1991: 35). Ungeachtet dieser „Einklammerung der Seinsgeltung“ des Textes bzw. der Performanz: Im Akt des Fingierens gewinnt das soziale Imaginäre durch Selektion und Kombination eine eigene Realität. Wie jede Form der Performanz setzt auch das Theater auf Körperlichkeit und Präsenz, greift aber zugleich auf gesellschaftlich verbreitete Erzählmuster und Ar24 Die zeitgenössische performance art stellt ein Grenzfall der theatralischen Performanz dar. Hier geht es in der Regel nicht mehr um die Aufführung eines Textes, sondern um die Herstellung von Körperlichkeit und Ereignishaftigkeit (vgl. Giesen 2006a).
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chetypen zurück. Fiktionale Filme und Fernsehserien können ebenfalls als Formen theatralischer Performanz verstanden werden, selbst wenn an die Stelle des unmittelbaren Erlebens der Aufführung die technisch-mediale Vermittlung tritt. Fiktionale Performanzen und Texte konstatieren weder Fakten, noch wird die Geltung etwaiger Normen behauptet. Dennoch stellen fiktionale Gattungen auch immer eine Nachahmung von Realem dar. Auch wenn die Figuren erfunden sind, können andere Elemente der Darstellung durchaus realistisch sein (10.3). Angesicht einer fiktiven Folterszene können wir uns beispielsweise fragen, ob Folter wirklich so funktioniert oder ob die Schreie des Gefolterten auch realistisch genug waren. Selbst ein phantastisches Genre wie der Science Fiction kommt nicht ohne vertraute Elemente aus. Obwohl die kognitive Wahrheit und normative Richtigkeit des Dargestellten bei theatralischen Performanzen in der Regel eingeklammert werden, geben sich gerade fiktive Darstellungen in Film und Fernsehen gerne realitätsnah und werden auch nicht selten als ein mehr oder minder akkurates Abbild der Wirklichkeit wahrgenommen. Deswegen können theatralische Darbietungen leicht zum Gegenstand der Nachahmung, aber auch der Medienkritik werden (10.3.1). Die alte Vorstellung von der Welt als einer Bühne (theatrum mundi) übt auch noch auf die Soziologie eine nachhaltige Faszination aus, was nicht zuletzt die Karriere des soziologischen Rollenbegriffs zeigt. Für Mead (1970) bleibt das „taking the role of each other“ keine bloße Metapher, sondern wird zum grundlegenden Prinzip des Sozialen, das schon durch die kindliche Praxis des Rollenspiels („play“) eingeübt wird. Auch Goffman (2006) versuchte schon früh, sich mit Hilfe von theatralischen Kategorien wie „Bühne“, „Rolle“, „Skript“ und „Ensemble“ das weite Feld sozialer Interaktionen zu erschließen. Die Fruchtbarkeit dieser Ansätze legt es nahe, dem Theater nicht bloß einen metaphorischen und heuristischen Wert für die Soziologie zuzusprechen, sondern deutet darauf hin, dass die menschliche Kultur selbst dramatologisch verfasst ist (so Lipp 1984). Goffman hat darüber hinaus gezeigt, dass auch das eigene Selbst als theatralische Leistung begriffen werden kann: „Eine richtig inszenierte und gespielte Szene veranlasst das Publikum, der dargestellten Rolle ein Selbst zuzuschreiben, aber dieses zugeschriebene Selbst ist ein Produkt einer erfolgreichen Szene, und nicht ihre Ursache“ (2006: 231). Die individuelle „Person“ wird damit, etymologisch korrekt, selbst zur theatralischen Maske. Es gibt auch kein Publikum mehr, das nicht selbst wieder auf einer Bühne stehen würden. Dies wird insbesondere am Konzept der „Hinterbühne“ („backstage“) deutlich, auf der eben auch ein – gleichwohl anderes – Stück aufgeführt wird. In den meisten Zusammenhängen ist die Frage nach der Wahrhaftigkeit einer Performanz, vor allem dort, wo es um rollenkonformes Verhalten geht, schlichtweg unbedeutend. Hauptsache, es wird den Erwartungen gemäß gehandelt. Allerdings gibt es auch Performanzen, die danach trachten, ihre Künstlichkeit zu verbergen – manchmal auch vor dem Darsteller selbst (2.3.3). Eine Ausnahme hiervon ist die theatrali-
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sche Qualität, die im Phänomen der Rollendistanz zu Tage tritt. Hier wird die eigene Inszenierung als solche ausdrücklich kenntlich gemacht und ironisiert. Während rituelle Performanzen communitas bzw. Gemeinschaft erzeugen, schaffen theatralische Performanzen durch ihre Trennung von Darstellern und Publikum einen öffentlichen Raum (4.2). Dem Handlungstypus der theatralischen Performanz entspricht ein Modell höfischer oder repräsentativer Öffentlichkeit, wie es von Habermas diskutiert wird (1990). Mit der bürgerlichen Öffentlichkeit tritt eine künstliche Natürlichkeit, die den Handlungstypus der sozialen Performanz favorisiert, an die Stelle der kultivierten Künstlichkeit des Hofes, wie sie Geertz am Beispiel des balinesischen Theaterstaates schildert (1980; vgl. auch Giesen 2011). Bei Habermas kippt die heroische Erzählung von den hoffnungsvollen Anfängen der bürgerlichen Öffentlichkeit schließlich unter dem Eindruck einer verzerrenden Kulturindustrie und massenmedial hergestellten Öffentlichkeit in eine Verfallsgeschichte um. In der vorliegenden Arbeit wird die Vorstellung einer naturwüchsigen bürgerlichen Öffentlichkeit allerdings vehement zurückgewiesen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Natürlichkeit und Konsens immer künstlich – und das heißt performativ – hergestellt werden müssen. 2.3.3 Soziale Performanz – Authentizität und Resonanz Unsere zeitgenössischen Gesellschaften zeichnen sich durch eine Vervielfältigung kultureller Hintergründe und einen Zwang zur Individualisierung aus. Es entstehen Handlungsspielräume, die nicht (nur) mit standardisierten Ritualen gefüllt werden dürfen. Der Prozess der Vergesellschaftung und Ausdifferenzierung von Rollen führt außerdem zu einem gesteigerten Bedürfnis nach Gemeinschaft und „Authentizität“. Gerade in der politischen Öffentlichkeit, z.B. in der Reaktion auf Katastrophen und Krisen, darf nicht der Eindruck erweckt werden, dass hier ein Ritual des Bedauerns bloß formelhaft wiederholt oder gar eine Rolle gespielt würde (Giesen 2006b: 354-357). Moderne Rollenstruktur und postmodernes Rollenspiel führen gleichermaßen zu einem Unbehagen an der Moderne, das sich in der Suche nach Authentizität niederschlägt (Berger 1970: 473-504; Plessner 2002; C. Taylor 2007). Dies zeigen nicht nur die vielfältigen Szenen und Subkulturen, sondern auch das Phänomen des religiösen Fundamentalismus. Die postmoderne Beliebigkeit befeuert diese Sehnsucht nach Authentizität, deren zeitweilige Erfüllung ein dritter Typus der Performanz, die „soziale Performanz“, verspricht. Der Übergang vom Ritual zum Theater vollzog sich in der griechischen Antike nicht ohne einen aufschlussreichen performativen Zwischenschritt. Der Dithyrambus ist eine individuelle Improvisation, die als Teil des klassischen Dionysoskultes im Wechsel mit der Kultgemeinschaft als Chor aufgeführt wurde. Ihm lässt sich ein Strukturmodell von sozialer Performanz und Öffentlichkeit entnehmen. Zum einen konnte die lyrische Performanz mehr oder weniger gut gelingen, zum anderen ging
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hier der dramatischen Spaltung von Darsteller und Publikum das Wechselspiel von Performer und partizipierendem Publikum voraus. In der politischen Öffentlichkeit ersetzen die Massenmedien und der Journalismus den Chor, indem sie einen Dialog zwischen Performern und Publikum durch geeignete Genres und Techniken inszenieren (z.B. durch Kommentare, Leserbriefe und Interviews). An die Stelle des theatralischen Publikums tritt ein mehr oder weniger partizipierendes Publikum, dessen Mitglieder – im Prinzip – jederzeit auch selbst als Performer auftreten können. Auch politische Akteure, insbesondere in den Vereinigten Staaten, bedienen sich ähnlicher Techniken, indem sie sich im Bürgergespräch auf der Straße inszenieren oder sich bei Auftritten mit einer repräsentativen Auswahl der Wählerschaft umgeben. Angesichts der medialen Revolution in der Öffentlichkeit, ist davon auszugehen, dass die Bedeutung von sozialen Performanzen weiter steigen wird. Das hier verwendete Konzept der „social performance“ entstammt der kulturellen Pragmatik von Jeffrey C. Alexander (2006b).25 Während sich die linguistische Pragmatik mit den Wirkungen von Sprechakten auf Hörer beschäftigt, geht es Alexander um den Erfolg sozialer Performanzen. Alexander entwickelt sein Konzept in Anlehnung an und in Abgrenzung zu Durkheims Ritualbegriff. Während in einfachen Gesellschaften ein geteiltes kanonisches Wissen und ein einheitlicher kultureller Hintergrund vorausgesetzt werden darf, wird diese Annahme bei modernen Gesellschaften fragwürdig. Eine soziale Performanz muss mit dem kulturellen Horizont des Publikums verschmelzen, wenn sie gelingen und damit die Funktion eines Rituals erfüllen will. Dies ist nur möglich, wenn die individuelle Performanz auf einen geeigneten kulturellen Resonanzboden von „background representations“ fällt. So kann der Erfolg öffentlicher Kommunikation als ein Ergebnis kontingenter Performanzen verstanden werden. Während Konformität die Vorrausetzung eines gelungenen Rituals darstellt, geht es bei sozialen Performanzen in erster Linie um „Authentizität“ (vgl. Giesen 2006b: 350-357). Aber nicht nur der Anspruch auf Wahrhaftigkeit muss performativ zur Geltung gebracht werden, sondern auch kognitive und normative Geltungsansprüche. Soziale Performanzen zitieren, gerade auch in der Welt der Politik, aus dem Kanon kultureller und popkultureller Diskurse, um ihr Publikum für sich einzunehmen. So zitierte Charles de Gaulle bei seinem Besuch von Quebec im Jahr 1967 – an Bord eines Schiffes den St. Lorenzstrom aufwärts – den französischen Entdecker Jaques Cartier. George W. Bush hingegen übernahm am 1. Mai 2003 anlässlich einer Rede zur offiziellen Beendigung des Kampfeinsatzes im Irak eine Rolle von Tom Cruise und setzte sich mit seinem „Top Gun“-Auftritt auf dem Flugzeug25 In Ermanglung einer besseren Alternative wird hier der Begriff der „sozialen Performanz“ übernommen, was aber nicht bedeutet, dass die anderen Typen performativen Handelns nicht sozial wären. Sozialen Performanzen beschränken sich zudem nicht auf das Politische, sondern sind in allen Bereichen des sozialen Lebens zu finden.
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träger Abraham Lincoln als erster Krieger des Staates in Szene (6.5). Und auch Willy Brandts Kniefall im Warschauer Ghetto konnte seine Wirkung nur als imitatio christi entfalten (vgl. Rauer 2006: 276; Schneider 2006). In der einschlägigen Literatur wird das Konzept der Performanz auch zur Beschreibung terroristischer Anschläge verwendet, da sie für ein Publikum inszeniert werden (Giesen 2010: 212) und auf eine Schockwirkung abzielen (Alexander 2004). Ironischerweise wurden für den Terroranschlag auf das World Trade Center nicht nur Requisiten der westlichen Zivilisation (z.B. Flugzeuge einheimischer Airlines) verwendet; vielmehr fanden auch die Terrorakte ihre Vorbilder in der westlichen Populärkultur, nämlich in den Zerstörungsphantasien von Fight Club bis Independence Day (6.4). Geoffrey Hartman eröffnet noch einen weiteren Zugang zu den performativen Qualitäten des Terrorismus, wenn er den modernen Fundamentalismus als „quest for authenticity“ bezeichnet (2002: 233). So besehen richtet sich die Botschaft des Terroraktes nicht nur an das Publikum, sondern auch an den Performer selbst, der sich mit dem Opfer des eigenen Lebens der Authentizität seines Glaubens performativ versichert. Gewalt als Überschreitung scheint sich in besonderer Weise für die performative Herstellung von Authentizität zu eignen (3.1.2). Dank der modernen Massenmedien kann performatives Handeln einzelner Menschen gesellschaftsweite Auswirkungen haben – wie nicht zuletzt das Phänomen des Terrorismus zeigt. Soziale Performanzen, deren Botschaften über die Kanäle der Massenmedien Verbreitung findet, fungieren als Mikro-Makro-Links (vgl. Alexander et al. 1987), welche zwischen der Handlungsebene und gesellschaftlichen Strukturen vermitteln. So versuchen Politiker durch authentische Performanzen jenes Charisma zu erzeugen, das – jenseits von Traditionalismus und Rationalität – die Wahlentscheidung bei dem stetig wachsenden Anteil von Wechselwählern mit beeinflusst. Einzelne performative Akte können somit zum Auslöser gesellschaftlicher Entwicklungen werden – wenn sie auf Resonanz in der Gesellschaft stoßen. Richard Schechner hat darauf hingewiesen, dass theatralische Performanzen bzw. „Bühnendramen“ Anleihen bei sozialen Performanzen bzw. „sozialen Dramen“ machen (vgl. Turner 2009: 116f.; 5.2.3), die wiederum auf Skripte und Hintergrundrepräsentationen von fiktionalen Texten und Aufführungen zurückgreifen. Soziale und theatralische Performanzen sind also durch Akte der produktiven Nachahmung (mimesis) aufeinander bezogen. Eine Bestätigung dieser These sieht Turner in einem sozialen Drama seiner Zeit: der Watergate-Affäre. Der Skandal um Präsident Nixon, dessen Ablauf von Turner als „bühnenreif“ bezeichnet wird, „folgte implizit einem Drehbuch, das sich an theatralischen und fiktionalen Modellen orientierte“ (2009: 117; vgl. auch 5.2.3). Nach Abschluss des sozialen Dramas wurde Watergate selbst zu einem Gegenstand der Nachahmung für theatralische Performanzen auf der Bühne und im Fernsehen. Damit schließt sich der mimetische Kreislauf der Kultur, der nicht etwa in eine statische Konzeption von Gesellschaft mündet, sondern sozialen Wandel vorantreibt.
3. Phänomene der Macht, Anerkennung und Unterwerfung
Die hier diskutierten Begriffe der „Macht“ und „Gewalt“ (3.1), „Würde“ und „Entwürdigung“ (3.2) sowie „Erniedrigung“ und „Folter“ (3.3) sind nicht nur wissenschaftliche Konzepte, die der Bestimmung von sozialen Phänomenen dienen, sondern auch gesellschaftlich umkämpfte Begriffe, wertende Kategorien, mit denen gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden. Was als Gewalt gilt und was nicht, ist nicht nur umstritten, sondern auch gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen (man denke nur an körperliche Züchtigung bzw. Kindesmisshandlung). Dies gilt auch für Konzepte wie Ehre, Würde oder Folter: So versuchten Anzeigenkampagnen der Bundesregierung die sogenannten „Ehrenmorde“ als unehrenhaft (und nicht nur als unmoralisch und ungesetzlich) darzustellen; in Folterdiskursen wird verhandelt, ob Terroristen bzw. Entführer in Ausnahmefällen gefoltert werden dürfen oder welche Verhörtechniken überhaupt als Folter zu gelten haben (6.4; 10.4). Eine konstruktivistische Analyse, die der diskursiven Konstruktion dieser Begriffe nachgeht, ist für die Soziologie zweifelsohne von großem Nutzen. Sie kann am empirischen Material aufzeigen, wie diese Begriffe in unterschiedlichen sozialen Kontexten verwendet werden und welchem historischen Bedeutungswandel sie unterliegen. Diese konstruktivistische Perspektive sollte allerdings nicht an die Stelle einer Auseinandersetzung mit den Phänomenen selbst treten, sondern diese ergänzen. Im Folgenden soll es daher in erster Linie um die Phänomene der Macht, der Anerkennung und der Unterwerfung gehen, weniger um die diskursive Besetzung dieser Begriffe. Macht und Gewalt, Würde und Entwürdigung, Erniedrigung und Folter sind, so die hier vertretene These, mehr als nur „leere Signifikanten“ in öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen; sie fungieren zugleich als soziale Mechanismen, die in Gesellschaften bestimmte Funktionen erfüllen können.
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3.1 M ACHT
UND
G EWALT Man muss aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben […]. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. MICHEL FOUCAULT, ÜBERWACHEN UND STRAFEN (2003: 250)
Macht und Gewalt gelten zu Recht als zentrale Mechanismen des Sozialen. Während die ubiquitären Phänomene der Macht bis in den letzten Winkel der Gesellschaft zu dringen scheinen, handelt es sich bei Gewalt um ein „außerordentliches Phänomen“ (Giesen 2010: 126-142), das als Möglichkeit jedoch immer präsent ist und deswegen im Alltag latent gehalten werden muss (Popitz 2004: 50). Im Folgenden sollen Macht und Gewalt als Phänomene verstanden werden, die letztendlich auf der Intentionalität eines Akteurs (oder ihrer Zuschreibung) beruhen. Gewalt zeichnet sich neben „Intentionalität“ auch durch „Körperlichkeit“ und „Außerordentlichkeit“ aus (3.1.2). Die besonderen Qualitäten der Gewalterfahrung sind für ein Verständnis der Gewaltrituale von Abu Ghraib von großer Bedeutung. Weiterhin lassen sich technische, rituelle und performative Aspekte des Gewalthandelns unterscheiden, die für ein angemessenes Verständnis von Folter hilfreich sind. Sowohl die unintendierte Einflussnahme als auch der intentionale Einsatz von Machtmitteln impliziert eine Kausalität oder Wirkmächtigkeit, die allerdings nicht nach einem physikalistischen Modell der Verursachung gedacht werden darf. Eine Ausnahme bildet hier das Phänomen der Gewalt, deren unmittelbare Wirkung sich physikalisch und körperlich manifestiert. Allerdings bleibt auch die soziale Wirksamkeit von Gewalt auf ihre kommunikativen und kulturellen Effekte angewiesen. 3.1.1 Gesichter der Macht Der Begriff der „Macht“ wird in kultur- und sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen sehr unterschiedlich verwendet. In dieser Untersuchung wird ein akteurszentrierter Machtbegriff in Anschlag gebracht, der an die eingangs skizierten Überlegungen zur Intentionalität und zum kulturellen Hintergrund des Handelns anknüpft (1.1-2). Zunächst einmal muss zwischen der Macht als einem Vermögen von Akteuren und ihrer konkreten Ausübung als einem intentionalen Akt unterschieden werden. Macht kann als ein Vermögen (potentia) begriffen werden, mit Hilfe des eigenen Handelns absichtlich bestimmte Veränderungen in der Welt herbeiführen zu können (ganz im Sinne von Searles „mind-to-world fit“, vgl. 1.1.1). Ein Vermögen kann wiederum als eine Hintergrundfähigkeit eines Akteurs verstanden werden, die eine vorintentionale Voraussetzung des intentionalen Aktes der Machtausübung darstellt. Die konkrete Ausübung von Macht (actualitas) ist hingegen eine Hand-
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lung, die eine Veränderung in der Welt intentional herbeiführen oder verhindern möchte. Während ein Vermögen einen Horizont von Handlungsmöglichkeiten festlegt, stellt die Ausübung von Macht die Selektion und erfolgreiche Durchführung einer Handlungsoption dar. Macht als Vermögen kann sowohl individuellen als auch kollektiven Akteuren zugeschrieben werden, wie auch die konkrete Ausübung von Macht individuell oder kollektiv ausgeübt werden kann. Aus der Außenperspektive lässt sich Macht natürlich auch Akteuren zuschreiben, die keine entsprechende Disposition besitzen. Akteure können sich dies zu Nutze machen, indem sie ihr Gegenüber über die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel täuschen. Macht als individuelles oder kollektives Handlungsvermögen kann weiterhin von Formen der Macht unterschieden werden, die nur in einer sozialen Beziehung zum Tragen kommen: Macht im Sinne eines „Macht über jemanden haben“. Eine Besonderheit von sozialen Machtbeziehungen, auf die noch später in der Diskussion der instrumentellen Macht bei Popitz einzugehen ist, besteht darin, dass diese nie vollständig einseitig sein können. Die Ausübung von Macht über andere impliziert auch immer eine Gegenmacht des Anderen, der sich der Einflussnahme wiedersetzen kann. Gerade weil Macht nicht auf kommunikativem Konsens oder Interessengleichheiten beruht, bietet sie reichlich Stoff für Konflikte. In Konflikten verschieben und stabilisieren sich Machtverhältnisse. Gewalt vernichtet hingegen die Komplexität von Machtbeziehungen und negiert andere Möglichkeiten der Konfliktlösung. Gewalt kann in ihrer Eindeutigkeit als Antithese zu einem sozialen Konflikt und damit auch zur Macht verstanden werden (vgl. Wieviorka 2006). Bemerkenswert ist, dass es der faktischen Ausübung von Macht selten bedarf, um einen Einfluss auf das Handeln anderer Menschen auszuüben. Allein schon die Tatsache, dass Akteure einem anderen Akteur eine bestimmte Handlungsmacht zuschreiben, beeinflusst deren Verhalten. Drohmacht, unter anderem die Androhung von Gewalt, wirkt zunächst unabhängig von der intentionalen Einlösung dieser Drohung. Muss sie erst wahrgemacht werden, bedeutet dies, dass der Einsatz von Drohmacht fehlgeschlagen ist. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass der Performativität für die effektive Ausübung von Macht eine große Bedeutung zukommt. Man kann versuchen, seine Macht sichtbar werden zu lassen, ohne zu konkreten Machtaktionen zu greifen. Truppenaufmärsche inszenieren in theatralischer Weise eine militärische Macht, die in Friedenszeiten selten zum Einsatz kommt. Atomwaffentests auf entlegenen Atollen dienen nicht in erster Linie Testzwecken, sondern sollen das eigene Vermögen der totalen Vernichtung potenzieller Feinde demonstrieren. Zwischen der Macht als einem Vermögen und dem intentionalen Akt der Machtausübung liegt ein Kontinuum, das von der bloßen Zuschreibung von Macht über ihre performative Inszenierung bis hin zur Fakten schaffenden Aktionsmacht reicht. Der amerikanische Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki lässt sich einerseits als Gewaltakt verstehen, der die Zerstörung zweier japanischer Städte und den Verlust unzähliger Menschenleben zur Folge hatte, andererseits lässt sich dieser
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Akt auch als die Demonstration einer militärischen Kapazität auffassen, die sich an das japanische Volk, aber auch an Dritte wendete (6.1.1). Phänomene der Macht changieren zwischen der Potenzialität möglicher Handlungen und den faktisch ausgeführten Handlungen samt ihren Konsequenzen. Wir können zwischen versteckten, sichtbaren und performativ zur Schau gestellten (oder verheimlichten) Handlungskapazitäten sowie der konkreten Machtausübung unterscheiden: 1 Tabelle 5: Phänomene der Macht Versteckte Macht
Sichtbare Macht
Performanz von Macht
Vermögen
Machtausübung
Handlung
Handlungsreserve für Ego
Zuschreibung durch Alter
Instrumentelle Macht, Datensetzende Macht, Autorität (Popitz) Aktionsmacht (Popitz)
Verborgene Potenzialität
Offene Potenzialität
Überschuss an Potenzialität
Aktualisierung von Potenzialität
Eine weitere Differenzierung des Machtbegriff soll im Rückgriff auf die einschlägigen Arbeiten von Heinrich Popitz (2004) erfolgen, der vier Formen der Macht unterscheidet: „Aktionsmacht“, „instrumentelle Macht“, „autoritative Macht“ sowie die „Macht des Datensetzens“, des technischen Handelns. Alle diese Formen von Macht sind auf Akteure zurechenbar. Aktionsmacht wie auch die Macht des „Datensetzens“ zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Vermögen eines Akteurs (und dessen Realisierung) bezeichnen, mit seinem Handeln Effekte in der Außenwelt hervorzurufen. Sie unterscheiden sich dadurch voneinander, dass die sogenannte
1
Diese unterschiedlichen Formen der Macht lassen sich am Gebrauch einer Schusswaffe verdeutlichen. Eine im Verborgenen getragene Waffe erlaubt es dem Träger, von ihr Gebrauch machen zu können (gesetzt den Fall, er kann damit umgehen). Dieses Vermögen wird allerdings nicht sozial wirksam, solange die Waffe für andere Akteure nicht sichtbar ist. Erst wenn eine verborgene Waffe, beispielsweise durch Ausbuchtungen in der Kleidung, für Außenstehende erkennbar wird, wird das bis dato verborgene Machtpotenzial nach außen hin sichtbar. Falls eine Waffe offen getragen wird, gewinnt die Zurschaustellung von Macht eine performative Qualität. Davon zu unterscheiden ist der tatsächliche Gebrauch der Schusswaffe, die Aktualisierung einer Macht, die etwaige Potenzialitäten zum Verstummen bringt. Natürlich kann auch hier dem Gewaltakt wieder eine vorranging performative Funktion zukommen, die auf noch nicht realisierte Handlungsmöglichkeiten verweist (z.B. Erschießung einer Geisel, um Entschlossenheit zu demonstrieren).
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datensetzende Macht sich gegenüber unbelebten Körper behauptet, während die Aktionsmacht auf lebende Körper und Akteure wirkt. Die wohl wichtigste Form der Aktionsmacht ist Gewalt, welche sich die Verletzbarkeit von lebenden Körpern zu Nutze macht. Andere Formen der Aktionsmacht sind für Popitz das Verhängen von Sanktionen und das Verteilen von Belohnungen jedweder Art dar. 2 Was diese einseitigen Formen des Machtgebrauchs auszeichnet, ist die Tatsache, dass es zwischen der potenziellen und der aktualisierten Handlungsmacht keine Spielräume gibt, die sozial wirksam werden können. Entweder man wendet Gewalt an oder unterlässt dies – tertium non datur. Im Gegensatz hierzu sind instrumentelle macht und Autorität immer in soziale Beziehungen eingebettet. Für sie gilt der relationale Machtbegriff von Max Weber: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (2002/1921-22: 28). An diese Überlegungen knüpft Popitz mit seinen Konzepten der instrumentellen und der autoritativen Macht an. Instrumentelle Macht bedient sich äußerer Sanktionen und Belohnungen (Popitz spricht von „Drohungen“ und „Versprechungen“), um die Handlungen anderer Akteure zu beeinflussen, während sich autoritative Macht die innere Motivation von Akteuren, das Bedürfnis nach Anerkennung und das „Gefühl der Obligation“ (vgl. Durkheim 1996: 124-129), zu Nutze macht. Popitz (2004: 79-103) zufolge ist instrumentelle Macht durch eine „doppelte Unsicherheit“ gekennzeichnet: Einerseits bleibt es unsicher, ob der machtausübende Akteur seine Drohung überhaupt wahr macht oder sein Versprechen einzulösen gedenkt, andererseits ist es ungewiss, ob sich das Ziel der Beeinflussung von seinen Drohungen abschrecken oder durch seine Versprechungen ködern lässt. Während es sich bei dem Verhängen von Sanktionen und dem Erfüllen von Versprechen selbst um Manifestationen der Aktionsmacht handelt, derer sich der Betroffene nicht erwehren kann, schafft instrumentelle Macht eine Situation der doppelten Kontingenz, die beiden Akteuren verschiedene Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Dies hat den paradoxen Effekt, dass jede Ausübung instrumenteller Macht seinem Gegenüber eine Gegenmacht einräumt. Für die instrumentelle Macht gilt: keine Macht für niemand. Es besteht immer die Möglichkeit, sich dem Willen von Ego nicht zu beugen, seine Drohungen zu ignorieren und seine Versprechungen auszuschlagen. 3 Auf eine solche Weigerung von Seiten Alters kann Ego seinerseits nun mit Sanktionen reagieren. Auf beiden Seiten gibt es darüber hinaus die Möglichkeit der Täu2
Beispielsweise können monetäre Zahlungen eingestellt oder veranlasst, aber auch moralische Achtung zuerkannt oder entzogen werden. Die „Macht der Moral“ bzw. „Öffentlichkeit“ beruht im Wesentlichen auf der Zuteilung von moralischer Achtung (4.1.1).
3
So kann sich das Folteropfer zwar nicht der Folter erwehren, aber es ist nicht dazu gezwungen, Informationen preiszugeben. Die Figur des Märtyrers führt uns, so Popitz, die „Unvollkommenheit aller Macht“ vor Augen (2004: 58-60; vgl. hierzu 10.3.2).
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schung und des Verrats: Ego kann mit Sanktionen drohen oder Belohnungen locken, die außerhalb seiner Aktionsmacht liegen oder auf deren Einlösung er aus anderen Gründen verzichten will; ebenso kann Alter seine Kooperation auch nur vortäuschen.4 Entsprechend wichtig ist die Glaubwürdigkeit einer Drohung bzw. eines Versprechens, die nur performativ kommuniziert werden kann (2.3.3).5 Nicht in allen Fällen muss eine Drohung auch explizit ausgesprochen werden, um wirksam zu sein. So spricht beispielsweise John Searle (2010: 155-160) von einer „Background power“, die Akteure zur Befolgung sogenannter „Background norms“ anhält, die zu ihrem normativen Handlungshintergrund gehören. Ein gutes Beispiel einer solchen anonymisierten Drohmacht ist die sogenannte „Isolationsdrohung“, mit der die öffentliche Meinung abweichende Privatmeinungen sanktioniert und dadurch soziale Kontrolle ausübt (4.3.2). Hier stößt ein intentionaler Begriff der Macht an gewisse Grenzen, weil die anonymisierte Drohmacht zwar zur Verwirklichung ihrer Drohungen auf individuelle Akteure angewiesen ist, aber im Prinzip jedermann die entsprechenden Sanktionen verhängen kann. Die anonymisierte Drohmacht ist nicht an die individuelle Intentionalität einzelner Akteure gebunden, sondern bezieht sich auf die kollektive Intentionalität einer Gruppe. Die entsprechenden Sanktionen werden im Namen aller Gruppenmitglieder verhängt. Besonders raffiniert ist die Macht der Autorität, die nicht auf Sanktionen und Belohnungen, sondern auf Identifikation und dem Wunsch nach Anerkennung basiert (vgl. Popitz 2004: 104-159). Diese Form der Macht ist auf einer vorintentionalen Ebene wirksam, da sie an das Selbstbild und die Identität des Akteurs appelliert. Im Gegensatz zur instrumentellen Macht, welche die Präferenzen des Gegenübers als feste Variablen behandelt, äußert sich die Ausübung von autoritativer Macht darin, dass sich Akteure in ihren Einstellungen und Werten an dem Machthaber orientieren. Autoritative Macht unterläuft die Willensbarriere des Anderen von Innen. Eine ähnliche Unterscheidung findet sich auch in der Machttheorie von Steven Lukes (2005). Dieser unterscheidet zwischen drei Dimensionen, nämlich der Macht, eine Entscheidung treffen zu können (1), der Macht, den Spielraum von Entscheidungen festlegen zu können (2), und der Macht, die Präferenzen des Entscheidenden formen zu können (3). Wie die autoritative Macht bei Popitz, so zielt auch die dritte Dimension der Macht auf eine Veränderung des evaluativen Handlungshintergrundes, der Präferenzen, der Werte und der Identität der Akteure, ab. Der kulturelle Hintergrund ist ein Medium der Macht, weil die Dispositionen des Wahrnehmens und Handelns verändert werden können. Als Beispiel hierfür kann der Ge4
Das Folteropfer kann dem Folterknecht falsche Informationen geben – entweder, um ihn zu täuschen, oder auch nur, um die Folter zu beenden ‒ insbesondere wenn das Opfer die gesuchte Information gar nicht besitzt und der Folterer es ihm nicht glaubt.
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Im Fall Daschner reichte schon die glaubwürdige Androhung von Folter, um Magnus Gaefgen, den Entführer von Jakob von Metzler, zu einem Geständnis zu bewegen.
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brauch des Ticking-Bomb-Szenarios nach dem 11. September 2001 dienen (6.4.2). Das Ticking-Bomb-Narrativ führte dazu, dass die Folter eines Terroristen nicht nur auf einmal als mögliche Handlungsoption unter anderen wahrgenommen wurde, sondern zugleich auch als die moralisch gebotene Handlungsoption erschien. Robert S. Nye hat für den Bereich der internationalen Beziehungen eine Unterscheidung zwischen „military power“, „economic power“ und „soft power“ vorgeschlagen (2011). Militärische Macht setzt auf organisierte Gewalt, die sowohl unmittelbar als Aktionsmacht wie auch als instrumentelle Drohmacht verwendet werden kann. Hingegen bezeichnet ökonomische Macht das Vermögen, wirtschaftliche Sanktionen und Belohnungen verhängen bzw. verteilen zu können. „Soft power“ bezieht sich schließlich auf „weiche“ Faktoren wie moralische Ächtung und kulturellen Einfluss.6 Diese drei Formen von Macht schließen sich nicht etwa aus, sondern verstärken sich oft wechselseitig. Dass ökonomische Macht der militärischen Schlagkraft zuträglich ist und militärische Macht dafür genutzt werden kann, die eigene Wirtschaft (z.B. die Versorgung mit Rohstoffen) zu verbessern, leuchtet unmittelbar ein. Sowohl militärische Macht als auch ökonomischer Erfolg können darüber hinaus zu Bewunderung und damit zur Stärkung der „soft power“ führen. Dies gelingt allerdings nicht immer, wie nicht zuletzt der Irakkrieg von 2003 gezeigt hat: „The efficiency of the initial American military invasion of Iraq in 2003 may have created admiration in the eyes of some Iraqis and others, but that soft power was undercut by the subsequent inefficiency of the occupation and the scenes of mistreatment of prisoners“ (Nye 2011: 86). Weder der Afghanistankrieg noch der Irakkrieg ließen sich rein mit militärischen und ökonomischen Mitteln gewinnen. In diesem Zusammenhang verweist Nye immer wieder auf den Abu-Ghraib-Skandal (vor allem 2011: 106), der zu einem Verlust an „soft power“ geführt habe. Ob militärische und ökonomische Macht der „soft power“ zuträglich sind, hängt von ihrer jeweiligen kulturellen Rahmung. Ohne ein „gutes Image“ wirkt militärische Macht tyrannisch und ökonomische Macht ausbeuterisch. Das Konzept der „soft power“ ist unabdingbar, um die öffentliche Macht der Moral in den Blick zu bekommen. 7 Die sogenannten „asymmetrischen Konflikte“ oder „neuen Kriege“ (Münkler 2002), wie beispielsweise in Vietnam (6.2), in Afghanistan und im Irak (6.5), werden nicht durch militärische Überlegenheit gewonnen: Selbstmordattenta6
Das Konzept der „soft power“ wendet sich gegen die sogenannte „Realistische Schule“ der internationalen Beziehungen, die die ersten beiden Formen der Macht verabsolutiert. Den Anhängern dieser Schule wirft Nye vor, unrealistisch zu sein, weil sie die Bedeutung der „soft power“ auf dem internationalen Parkett vernachlässige.
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So haben Thomas Risse und sein Forscherteam gezeigt, dass bei der Implementierung von Menschenrechten nicht nur harte Faktoren (z.B. die Verhängung von wirtschaftlichen Sanktionen), sondern auch weiche Faktoren, wie etwa die moralische Ächtung von Menschenrechtsverletzungen, eine zentrale Rolle spielen (1999; Risse et al. 2002).
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te können gewaltige Schäden anrichten, sind aber kaum zu verhindern, während Aufständische mit herkömmlichen Mitteln der Kriegsführung nur schwer unter Kontrolle zu bringen sind. Damit wird „soft power“ zu einer kriegsentscheidenden Machtressource, da nur sie den „war over hearts and minds“ zu gewinnen vermag. Bisher wurde ein akteurszentrierter und relationaler Zugang zum Phänomen der Macht diskutiert. Es gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten, eine solche Perspektive erweitern. Bei der ersten Option geht es darum, die Akteurszentriertheit des Ansatzes aufzugeben und ihre Relationalität zu radikalisieren. Unter diesen Prämissen wird Macht zu einer dezentralen Kraft, die nicht mehr einzelnen Akteuren zurechenbar ist. So geht Foucault in seinen frühen Schriften (2008) von der vorintentionalen und dezentralisierten Macht gesellschaftlicher Diskursen aus. Die zweite Möglichkeit besteht darin, den Begriff des Akteurs, gemäß einem erweiterten Symmetrieprinzip (Latour 1995), auf Entitäten auszuweiten, die nicht zu einem intentionalen Handeln in dem hier verwendeten Sinne fähig sind (1.1). Damit bliebe der Machtbegriff nicht mehr nur auf menschlichen Akteuren beschränkt, sondern ließe sich auch auf sogenannte „Aktanten“ – dies können natürliche Objekte, aber auch technische und kulturelle Artefakte sein – übertragen. Folgt man diesem Ansatz, so muss beispielsweise auch der Waffe in der Hand einer Person eine eigenständige Wirkmacht im Handlungsvollzug zugeschrieben werden. Im poststrukturalistischen Diskurs gehen beide Begriffserweiterungen oft Hand in Hand. Eine Dezentrierung von Macht samt einer stärkeren Berücksichtigung von Artefakten als Trägern von Macht findet sich beispielsweise in den Überlegungen des späten Foucault zur Disziplinarmacht und zum Panoptismus (2003). Die moderne Disziplinarmacht wird hier nicht nur als ein Geflecht von Diskursen konzeptualisiert, sondern äußert sich darüber hinaus im räumlichen Arrangement von Körpern, Artefakten und Gebäuden sowie in einer zeitlichen Reglementierung von Bewegungs- und Tagesabläufen. Eine Machtkonzeption, die unbelebten Artefakten eine eigenständige Handlungsmacht zuschreibt, mag auf den ersten Blick abwegig und als theoretische Spielerei erscheinen. Dennoch erfreut sie sich in zeitgenössischen bildwissenschaftlichen Diskursen einer erstaunlichen Beliebtheit, unter anderem wenn von der „Macht der Bilder“ die Rede ist (Maar & Burda 2004; Boehm & Balke 2008). Dahinter verbirgt sich oft nur die Annahme, dass Bilder auf Akteure wirken – was immer dies im Einzelfall heißen mag.8 Der 11. September 2001 hat uns diese „Macht“ der Bilder eindrücklich vor Augen geführt – auch wenn hier eine intentionale Bildproduktion durch die Terroristen vorlag (6.4). Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass eine radikale Dezentrierung und Symmetrisierung des Machtbegriffs zwar nicht jeglicher theoretischer Plausibilität entbehrt, aber für eine Erklärung empirischer Phänomene letztlich ungeeignet 8
Allerdings gibt es auch Theoretiker wie Mitchell (2008: 347-411) und Bredekamp (2010), die Bildern ein eigenes Leben, ja eine Eigenaktivität als Akteure unterstellen.
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ist. Sie läuft nämlich Gefahr, die Komplexität sozialer Phänomene zu verwischen, statt sie auf Akteure, kausale Mechanismen und kulturelle Muster herunterzubrechen. Eine Überdehnung des Begriffs lässt die Macht von handelnden Akteuren aus dem Blickfeld geraten. Allerdings muss dem Faktum Rechnung getragen werden, dass sich die „Macht“ der Bilder gegenüber den Absichten ihrer Produzenten verselbstständigt. Am besten illustrieren dies wohl die Fotografien von Abu Ghraib, die eine Dynamik entfesselten, die so von ihren Urhebern nicht vorausgesehen und sicherlich auch nicht gewünscht worden war. Allerdings können Akteure diese „Eigenmacht“ der Bilder zu antizipieren. So entschied sich Präsident Obama gegen die Veröffentlichung weiterer Abu-Ghraib-Bilder – aus Furcht vor den möglichen Folgen (10.5). Ein weiteres Beispiel ist die „Macht“, die Picassos Guernica im Vorfeld von Colin Powells Rede vor dem UN-Sicherheitsrat von der amerikanischen Regierung zugesprochen wurde (6.5). Man fürchtete sich davor, dass die Antikriegsikone die Rede des amerikanischen Staatssekretärs, der um eine Resolution für einen Krieg gegen den Irak warb, in ein schlechtes Licht rücken könnte. Das bedeutet aber nicht, dass dem Bild selbst eine Handlungsmacht zugeschrieben werden müsste. Die Rede von der „Macht der Bilder“ ist vielmehr so zu verstehen, dass Bilder einen Einfluss auf das Handeln und Erleben von Menschen haben können. Akteuren, die die Macht der Bilder zu nutzen verstehen, verleiht dies natürlich Macht über das Handeln anderer Menschen. In derselben Weise ist die Tötungsmacht einer Waffe dieser nicht inhärent, sondern liegt in ihrem Gebrauch durch einen Akteur.9 Die „Macht der Bilder“ muss als eine metaphorische Redeweise verstanden werden, die eine wichtige Einsicht zum Ausdruck bringt: Bilder beeinflussen das Handeln von Menschen, wenn sie auf Resonanz im kulturellen Hintergrund stoßen. Es ist allerdings sinnvoll, zwischen einem akteurszentrierten Begriff von Macht und akteursunabhängigen Konzepten wie „Effekt“ oder „Einfluss“ zu unterscheiden. Die Kategorie des Einflusses kommt ohne Intentionalität aus. Damit wird natürlich nicht ausgeschlossen, dass Bildern oder anderen Artefakten aus der Perspektive von Akteuren eine eigenständige Handlungsmächtigkeit zugeschrieben wird, wie dies beispielsweise bei religiösen Ikonen der Fall ist, die durch Wundheilungen von sich reden machen. Die Soziologie sollte jedoch diese beiden Beschreibungsebenen auseinanderhalten und sich nicht an einer Mystifizierung von Artefakten beteiligen. Dafür sind die theoretischen und empirischen Gewinne einer solchen Dezentrierung menschlicher Akteure, beispielsweise in der Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007), zu dürftig geblieben. Eine solche begriffliche Konkretisierung empfiehlt sich 9
Akteure können auf die Wirkung von Bildern spekulieren, was sie zu einem probaten Mittel für Machtkämpfe werden lässt. Wie Waffen oder andere Werkzeuge können sie von Akteuren eingesetzt werden, um bestimmte Effekte zu erzielen. So setzen beispielsweise NGOs Fotografien ein, um Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und die Durchsetzung von Menschenrechten zu erzwingen (McLagan 2006; Gregory 2006).
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auch für den Gewaltbegriff, da die Rede von „struktureller Gewalt“ (Galtung 1975), „symbolischer Gewalt“ (Bourdieu 2005) oder „systemischer Gewalt“ (Han 2011) das Kernphänomen aus dem Blick zu verlieren droht. 3.1.2 Gewalt als Aktionsmacht und souveräne Überschreitung Gewalt stellt ein Grenzfall des Sozialen dar. Sie kommt zwar zwischen Menschen zur Anwendung, abstrahiert aber zugleich von deren Personalität. Wer zur Gewalt greift, schert sich nicht um die Subjektivität seiner Gegner und Opfer, sondern reduziert sie im Gewaltakt auf die bloße Dinglichkeit ihres Körpers. Nur elaborierte, oft auch grausame Formen von Gewalt, wie etwa die Folter (3.3.2), zielen auch auf die Subjektivität ihrer Opfer. Gewalt bewegt sich in einem Zwischenbereich von Körperlichkeit und Kommunikation, Naturzustand und sozialer Ordnung (Giesen 2010: 126-142). Geht man von Webers relationalen Machtbegriff aus, stellt Gewalt allenfalls ein Grenzfall von Macht dar. Als eine Form des physischen Zwangs dokumentiert der Griff zur Gewalt die Ohnmacht des Gewalttäters. Dies trifft, um auf eine Typologie von Reemtsma (2008: 108-116) zurückzugreifen, in erster Linie auf die „lozierende Gewalt“, die einen Körper fortschaffen oder festhalten will, und auf die „raptive Gewalt“, die sich eines Körpers (meist zu sexuellen Zwecken) bemächtigen will, zu. Laut Reemtsma besitzen sowohl die lozierende als auch die raptive Gewalt soziale Komplemente, die auf einem zwangslosen Konsens beruhen (2008: 137-140). Bei Reemtsma gibt es noch einen dritten Typus, die „autotelische Gewalt“ (2008: 116-124), die kein anderes Ziel verfolgt, als den Körper des Anderen zu verletzen oder gar zu zerstören – Gewalt als Selbstzweck.10 Folglich besitzt sie keine sozialen Komplemente. Ein autotelisches Moment, das sich verselbstständigen und überhandnehmen kann, wohnt aber jedem Gewaltakt inne. Popitz spricht in von einer „Entgrenzung des menschlichen Gewaltverhältnisses“ (2004: 48; Hervorhebung im Original), die erst die anthropologischen Konstitution des Menschen, seine Instinktentbundenheit und ausufernden Imagination, ermögliche. Legt man den Machtbegriff von Popitz zu Grunde, lässt sich Gewalt als „schiere Aktionsmacht“, jemandem „etwas anzutun“, bestimmen (2004: 43). Der Gewalttäter ist darauf aus, anderen Akteuren einen körperlichen Schaden zuzufügen oder über deren Körper nach Belieben zu verfügen. Als Aktionsmacht ist Gewalt zunächst die Verwirklichung einer Handlungsmöglichkeit neben anderen Handlungsoptionen. Der Griff zur Gewalt ist als Möglichkeit immer präsent, auch wenn diese Möglichkeit im Alltag latent gehalten werden muss. Aktionsmacht im Allgemeinen und Gewalt im Besonderen interessiert sich nicht für das Handeln anderer Akteure (Popitz 2004: 47). Gewalt erlaubt es, sich vom Handeln anderer, nicht zu10 Die „Sinnlosigkeit“ der Gewalt bei Amokläufen oder die scheinbar wahllosen Schlägereien zwischen Hooligans, aber letztlich auch die gewaltsamen Erniedrigungen in Abu Ghraib sind hierfür treffende Beispiele (vgl. Giesen et al. 2012).
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letzt mithilfe technischer Hilfsmittel, unabhängig zu machen. Natürlich kann die Androhung von Gewalt auch als instrumentelle Macht verwendet werden (3.1.2). Folter als Verhörtechnik droht beispielsweise mit der Fortsetzung und Intensivierung von Gewalt, um den Gefolterten zu Aussagen zu zwingen (3.3.2). Gewalt zielt auf den Körper des Anderen, um dessen körperliche und psychische Integrität zu verletzen. Während sich die „datensetzende“ Macht bei Popitz über die Widerständigkeit der Welt hinwegsetzt, findet die Gewalt im Widerstreben des Anderen ihren Gegenhalt. Hier tritt ihr ambivalenter Charakter deutlich zu Tage: Gewalt kann es nur gegenüber Akteuren geben, zu denen auch eine soziale Beziehung möglich wäre, stellt aber selbst keine soziale Beziehung dar.11 Gewalt stellt ein außerordentliches Phänomen dar – auch als Erlebnis und Ereignis. Es ist kein Zufall, dass Bernhard Giesen in einem Text über die performative Herstellung von Ereignishaftigkeit auf das Beispiel der Gewalt zurückgreift: „In many religious narratives the extraordinariness of the epiphanic moment is marked by violence – God asks Abraham to sacrifice Isaac, Christ is tortured and crucified to redeem his people, Saint Paul is hit by a divine stroke, etc. The importance of violence for a moment of epiphany results not only from its unexpectedness in ordinary life, but also from its location in the boundary zone between common social life and the outlands – it represents the ultimate exception from rules of everyday life, it is the event as such. The exceptional nature of violence conveys a sense of utmost veracity and authenticity, it is grounded in a realm beyond volatile communication, fragile conventions, and faked pretensions: it has an absolute presence.“ (Giesen 2006b: 336f.)
Die von Giesen konstatierte Ereignishaftigkeit der Gewalt findet sich auch in den Arbeiten von Wolfgang Sofsky: „Sie [die Gewalt, W.B.] komprimiert die Zeit zur Jetztzeit ohne Horizont, zum Augenblick außerhalb der Zeit“ (1997: 120). Als Ereignis ist Gewalt eine Unterbrechung und Verzerrung im alltäglichen Fluss der Zeit, was für die Außerordentlichkeit des Gewalterlebens konstitutiv ist.12 Giesen geht al11 Ferner kann sie sowohl in der symmetrischen Konstellation eines Kampfes, als auch in asymmetrischen Konstellationen, die nur Täter und Opfer kennen, auftreten. Selbst bei anfänglich symmetrischen Gewaltkonstellationen ist eine fortschreitende Asymmetrisierung im Gewaltverhältnis selbst angelegt. Es geht darum, den Gegner kampfunfähig zu machen und so eine Asymmetrie von Täter und Opfer herzustellen. 12 Die Eigenzeitlichkeit der Gewalt äußert sich für Sofsky in der Spontanität des Gewaltausbruchs, „die Plötzlichkeit, der Augenblick, der die Kontinuität der Zeitlinie durchbricht“ (1997: 120), der in dem abrupten Ende der Gewalt seine Entsprechung findet, aber auch in der „Eigenzeit“ spezifischer Gewaltformen: Während sich Kampf und Jagd durch eine Beschleunigung des Gewalterlebens auszeichnen, kommt es bei Marter und Folter zu einer quälenden Verlangsamung des Erlebens (1997: 113).
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lerdings über den von Sofsky konstatierten Ereignischarakter von Gewalt hinaus, indem er auf die räumliche Randlage von Gewaltakten, ihren körperlichen Bezug und ihren sozialen Ausnahmecharakter hinweist. Das Phänomen der Gewalt weist eine verblüffende Ähnlichkeit zu den liminalen Phänomenen auf, die Victor Turner in seinen Untersuchungen zum Ritual entdeckt hat (2.3.1). Im Folgenden soll daher Turners Begriff der „Liminalität“ auf das Feld der Gewaltphänomene ausgeweitet und seine Konsequenzen für das Gewalterleben aufgezeigt werden. Für liminale Phänomene ist einerseits die Außerordentlichkeit vor dem Hintergrund einer alltäglichen sozialen Ordnung, ihre „Antistruktur“, andererseits aber die emotionale Stiftung von Gemeinschaftlichkeit, „Communitas“, kennzeichnend. Das antistrukturelle Moment wird als sakral erfahren, da es sich von der profanen Alltagsrealität der Akteure unterscheidet. Wie das Sakrale, so kann auch die Gewalt als heilig oder dämonisch, als abstoßendes „Tremendum“ oder anziehendes „Faszinosum“ erlebt werden.13 Obgleich sich Turner vorwiegend mit den positiven Seiten der Liminalität beschäftigt hat, bleibt ihre „dunkle Seite“ nicht unerwähnt. 14 So komme Liminalität nicht nur in der kollektiven Ekstase, sondern auch in „Anomie, Entfremdung, Angst“ und „in den von existentialistischen Schriftstellern bevorzugten ‚Extremsituationen‘ wie Folter, Mord, Krieg, Selbstmord, Krankenhaustragödien, Hinrichtungen usw. zum Ausdruck“ (2009: 72f.). Dieser anomische Aspekt von Liminalität, die Kehrseite der positiven Außerordentlichkeit, tritt auch in den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib zu Tage (7.4). Wie die Antistruktur im Allgemeinen, so muss auch Gewalt in Gesellschaften strukturell eingehegt und institutionalisiert werden – und sei es, indem sie an die Peripherie der Gesellschaft verbannt wird. Der gewalttätige Ausnahmezustand lässt sich genauso wenig auf Dauer stellen, wie sich der Anblick des Göttlichen dauerhaft ertragen lässt. Als antistrukturelles Phänomen kann Gewalt – wie das Ritual bei Turner (2005) – sowohl ordnungsauflösend als auch ordnungssetzend sein. Sie kann der Aufrechterhaltung der alltäglichen Ordnung dienen, aber diese auch radikal in Frage stellen. Einerseits schafft sie Tatsachen, wo vorher keine waren: Gewalt vollzieht eine Trennung zwischen Freunden und Feinden, Tätern und Opfern, Lebenden und Toten. Zugleich ist sie „entsetzlich“, weil in ihr die Kontingenz der gesetzten Ordnung hervorbricht. Gewaltsame Ereignisse können aber auch Funken der Kreativität erzeugen, die zu institutionellen Umwälzungen oder Revolutionen führen. 15 Die Anti13 Zum Heiligen als Doppelgestalt von „mysterium tremendum“ und „faszinans“ vgl. Rudolf Otto (1987/1917), die im Übrigen der von Durkheim beobachteten Ambivalenz des Heiligen entspricht (1996: 85f.); zur „Gewalt als Faszinosum“ vgl. Soeffner (2004). 14 Zum Begriff der „negativen Liminalität“ vgl. die Arbeit von Andreas Kraft (2006). 15 Man denke an die Selbstverbrennung des Tunesiers Mohamed Bouazizi, die ‒ aufgrund ihrer medialen Verstärkung durch soziale Netzwerke im Internet ‒ als gewalttätige Initialzündung für den sogenannten „Arabischen Frühling“ fungierte. Auch die Gewaltrituale
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struktur der Gewalt entbehrt nicht jeglicher Ordnung, sondern unterliegt ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Gewalt neigt zur Verselbstständigung, sie entwickelt eine eigentümliche Dynamik, die sich der intentionalen Kontrolle der Akteure entzieht. Dieser antistrukturelle Kern erweist sich dann als psychologisches und organisatorisches Problem, wenn Gewalt für bestimmte Ziele und Zwecke eingesetzt werden soll – wie beispielsweise im Krieg. Die Disziplinierung derjenigen, die kollektive Gewalt ausüben, war immer schon ein wichtiges Anliegen, da die Auflösung der Ordnung im Gewaltexzess auch die Effektivität des Einsatzes von Gewalt mindert. Außerdem kann enthemmte und entsetzliche Gewalt als Verstoß gegen eine moralische Ordnung wahrgenommen werden – ganz gleich, ob es sich dabei um den Ehrenkodex unter Kriegern und Hooligans oder aber um die universellen Prinzipien der Menschenwürde handelt. Mit der Dauerbeobachtung durch die Weltöffentlichkeit nehmen die unerwünschten Folgen von Gewaltexzessen zu, wie nicht zuletzt der Abu-Ghraib-Skandal demonstriert. Entgrenzte Gewalt ist entsetzlich, weil sie unser moralisches Hintergrundverständnis angreift. In der sozialen Ordnung des Alltags hat Gewaltfreiheit den Rang einer moralischen Norm (4.1.1). Während die Vertreter einer „schwarzen Anthropologie“ das Gewaltverbot für eine unwahrscheinliche und zerbrechliche zivilisatorische Errungenschaft halten (Sofsky 1996; Hobbes 1999/1651), argumentieren Vertreter einer „weißen Anthropologie“ gerade umgekehrt: Gewalt sei unwahrscheinlich, weil sie dem biologisch verankerten Bedürfnis von Menschen nach Interaktion und Reziprozität widerstrebe (Collins 2008). In einem wesentlichen Punkt, auf den es hier ankommt, stimmen beide Strömungen jedoch überein: Gewalt ist ein außerordentliches Ereignis und eine Überschreitung der sozialen Ordnung. Da Gewalt weithin als Überschreitung einer Norm angesehen wird, hat sich die legitime Anwendung von Gewalt als Ausnahme dieser allgemeinen Regel zu rechtfertigen. Der Körper der Anderen – zumindest unter sozial Gleichgestellten – gilt als Tabu. Während in manchen Gesellschaften körperliche Übergriffe von Männern gegenüber Frauen, Erwachsenen gegenüber Kindern, Adligen gegenüber Leibeigenen als legitim erachtet werden, zeichnet sich die moralische Ordnung der liberaler Gesellschaften durch eine Universalisierung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit aus (4.1.2). Im Gegensatz zur bloßen Übertretung einer Norm, die auch unabsichtlich erfolgen kann, muss eine Überschreitung im Bewusstsein der Grenze erfolgen. Sie ist eine intentionale Regelverletzung, die einen Präzedenzfall schafft, ohne die Regel außer Kraft zu setzen – eine Ausnahme, die noch nicht institutionalisiert und eingehegt ist. Gerade aus der Normverletzung zieht die Überschreitung ihre symbolische Energie. Wie der Souverän und das Politische bei Carl Schmitt (1996, 2002), so steht auch die Gewalt außerhalb der sozialen Ordnung. Es ist wohl kein Zufall, dass von Abu Ghraib, so die These dieser Arbeit, haben durch die Massenmedien und die Öffentlichkeit zu institutionellen und kulturellen Veränderungen geführt (Kapitel 9 und 10).
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Bataille (1978, 1986) das Erleben von Gewalt aus einer Täterperspektive mit dem Begriff der „Souveränität“ charakterisiert hat (vgl. Giesen et al. 2012: 75-81). Im Gewaltakt erfährt sich der Täter als außerhalb der Ordnung stehendes und, da über Tod und Leben entscheidendes, souveränes Subjekt. Bei Bataille ist Souveränität nicht nur auf das unmittelbare Erleben des Täters bezogen, sondern drückt auch sein „Streben nach Rang“ (Bataille 1978: 48), nach sozialem Status und Ehre aus. Gewalt stellt dabei nicht nur eine Überschreitung alltäglicher Normen, sondern auch eine Transgression körperlichen Grenzen dar, die Diskontinuität der Existenz zeitweilig aufhebt (Bataille 1986). Dieser Erfahrung der Kontinuität oder auch Heterogenität, von der Bataille in Bezug auf Sexualität und Gewalt spricht, weist eine starke Ähnlichkeit zum Begriff der Communitas von Turner auf, ist jedoch nicht von vornherein auf ein kollektives Erleben ausgelegt. In der aktiven Gewaltausübung wird der eigene Körper und dessen Wirkmächtigkeit erfahren; im Schmerz und der Ohnmacht des Erleidens von Gewalt hingegen die Passivität des Gefangenseins im eigenen Körper und die Auflösung der Welt. Sowohl das Erleiden als auch die Ausübung von Gewalt sind zutiefst emotionale Erfahrungen (Giesen 2010: 126-142). Die Täter erleben Gewalt oft als eine Steigerung ihrer Subjektivität im souveränen Akt der Überschreitung körperlicher und sozialer Grenzen, wofür es gerade in der Forschung zu jugendlichen Gewalttätern zahlreiche Belege gibt (vgl. Sutterlüty 2002: 41-101). Der „Selbstdivinisierung“ (Giesen 2010: 132f.) des Täters entspricht das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ 16 auf Seiten des Opfers. Gerade der Erfahrung von Schmerz wird gerne eine besondere Realität und Authentizität zugesprochen (1.3.4). Wie die Liminalität des Rituals (2.3.1), so suspendiert auch die gemeinschaftlich begangene Gewalttat alle sozialen Unterschiede, die für das alltägliche Leben kennzeichnend sind. Gemeinschaftliche Gewalt kann so zu einer kollektiven Efferveszenz oder Communitas führen, die Solidarität zwischen den Tätern stiftet (Giesen 2010: 134-136; vgl. auch Zdun & Strasser 2009). Wer Gewalt ausübt oder als Opfer erfährt, findet sich leicht in ihre Logik verstrickt. Die Unmittelbarkeit und Körperlichkeit der Gewalterfahrung und die aus ihr resultierenden Handlungszwänge lassen keine distanzierte Selbstbeziehung zu. Dies gilt auch für das rauschhafte Gewalterleben von Tätern, das sich als „flow-Erlebnis“ (Csikszentmihalyi 1985) charakterisieren lässt. Turner zufolge zeichnet sich das Flow-Erlebnis durch die Verschmelzung von Bewusstsein und Handeln, die Bündelung der Aufmerksamkeit sowie durch einen Ichverlust aus (2009: 89f.). Hinzu kommt, dass der Handelnde die volle Kontrolle über seine Handlungen und Umwelt besitzt, seine Handlung eine klare Rückmeldung aus der Umwelt erhält und keine äußeren Ziele oder Belohnungen benötigt (2009: 91f.). Dies charakterisiert auch den rauschhaften Vollzug von Gewalt, in dem der Täter seine eigene Wirkmächtig16 Das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ ist für Friedrich Schleiermacher (1984: 3-6) das religiöse Gefühl schlechthin.
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keit erfährt. Diese eigentümliche Dynamik des Gewaltvollzugs führt dazu, dass Gewaltakte „allererst die Motive erzeugen, die sie tragen und begleiten“ (Sofsky 2002: 24), allerdings engt sie auch den Handlungsspielraum des Gewalttäters ein. In den bisherigen Überlegungen wurde von der „Ursachenforschung“ zur Gewalt bewusst Abstand genommen, da sie leicht den Blick auf die Sache selbst verstellen kann. Dies heißt nicht, dass individuellen Motiven (z.B. starke Emotionen), situativen Faktoren (z.B. Anomie) oder strukturellen Variablen (z.B. junge Männer) keine Bedeutung bei der Erklärung von Gewaltakten zukäme. Im Rahmen des hier verfolgten kultursoziologischen Ansatzes soll nun allerdings die Bedeutung des emotionalen Hintergrundes und des sozialen Imaginären für die Erfahrung, Anwendung und Legitimierung von Gewalt in den Vordergrund gerückt werden. So hat Michel Wieviorka auf die Bedeutung des emotionalen Klimas und des kulturellen Hintergrundes für die Erklärung von Gewaltakten hingewiesen: „Man kann die Register der Angst und das der Kultur insofern zusammenbringen, als in bestimmten Fällen die Mobilisierung der Akteure zu Formen extremer Gewalt sich auf die Aktivierung historischer Ängste stützt, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind und zu einem integralen Bestandteil des nationalen Imaginären geworden sind.“ (2006: 171)
Genozide und Gräueltaten im Krieg können oft darauf zurückgeführt werden, dass die Opfer als bedrohliche Parasiten oder als „Untermenschen“ gesehen und auch dementsprechend behandelt wurden.17 Die kollektive Erinnerung an Gewaltakte und Gräueltaten kann im Gegenzug auch wieder zum Bestandteil eines sozialen Imaginären werden (6.1-2) – was sowohl bellizistisch als auch pazifistisch instrumentalisiert werden kann. Auch im Falle der Gewalt gehen symbolische Klassifikationssysteme und soziale Imaginationen dem intentionalen Handeln der Akteure voraus. Gewalt ist aufgrund ihres transgressiven und entgrenzenden Charakters schwer zu kontrollieren. Ihre Einhegung in sozialen Kontexten sowie ihre gesellschaftliche Kontrolle und Organisation sind daher unabdingbar. Es geht nicht alleine darum, das Übergreifen von Gewalt in den Alltag zu verhindern, sondern auch um die Wiederholbarkeit von Gewalt und die Steigerung ihrer Effektivität. Liminale Gewalt wird in Gesellschaften einer technischen Standardisierung und rituellen Einbettung unterworfen. Techniken und Rituale sind stabile Handlungsmuster, sogenannte „Ereignisse zweiter Ordnung“, die auf der Wiederholbarkeit eines ursprünglichen Ereignisses – hier dem Ereignis der „nackten“ Gewalt – basieren (vgl. Giesen 2006b: 338f.; Binder 2010b: 77-83). Während sich Techniken an dem Modell der teleologischen Handlungsintentionalität orientieren (1.1.3), entzieht sich die Durchführung von Ritualen einem individualistischen und intentionalistischen 17 Im Dritten Reich wurden Juden und Zigeuner als „Schädlinge“ des „Volkskörpers“ angesehen, radikale Hutus bezeichneten in Ruanda Tutsis als „Inyenzi“, d.h. Heuschrecken.
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Handlungsverständnis (2.3.1). Techniken steigern die Effektivität des Einsatzes von Gewalt, während sich Rituale die Liminalität von Gewalt zu Nutze machen, um die soziale Identität von Individuen zu transformieren und gemeinschaftliche Solidarität zu stiften. Eine strikte Trennung von Technik und Ritual ist natürlich nicht möglich. Trotzdem macht es Sinn, im Anschluss an Edmund R. Leach zwischen technischen und rituellen Aspekten einer Handlung zu unterscheiden: „From this point of view technique and ritual, profane and sacred, do not denote types of action but aspects of almost any kind of action. Technique has economic material consequences which are measurable and predictable; ritual on the other hand is a symbolic statement, which ‚says‘ something about the individuals involved in the action.“ (Leach 1970: 13)
Übertragen auf das Phänomen der Gewalt bedeutet dies, dass zwischen den intendierten, materiellen Effekten eines Gewaltaktes und seiner symbolischen Funktion eine analytische Unterscheidung getroffen werden kann, ohne dass eine eindeutige Zuordnung möglich wäre.18 Technisches bzw. instrumentelles Gewalthandeln bedeutet, dass Gewalt als probates Mittel für einen „höheren“ Zweck eingesetzt wird – und sich darüber legitimiert. Die technischen Aspekte der Gewalt treten in Kampfsportarten und bei kriegerischen Auseinandersetzungen deutlich zu Tage. Ein anderes Beispiel ist der Einsatz von Folter als Verhörtechnik (3.3.2). Bei Ritualen tritt an die Stelle von Mittel und Zweck die Unterscheidung zwischen dem „Profanen“ und dem „Heiligen“ (2.3.1). Rituelle Gewalt knüpft an die binären Codes der symbolischen Ordnung an, die ihren Ursprung in der religiösen Leitunterscheidung besitzen (1.3.2). Im Ritual entfaltet Gewalt eine transformative Kraft, die den profanen Leib des Opfertieres in eine heilige Gabe verwandelt oder den geschlagenen Initianden zu einem Mann werden lässt. Aber auch jenseits von Ritualen im engeren Sinne gibt’s es ritualistische Gewaltaspekte. Aufgrund ihrer ordnungsstiftenden und strukturierenden Funktion kann Gewalt in unübersichtlichen Situationen als sozialer Klassifikationsmechanismus dienen. Wer Opfer von Gewalt wird, kann in den Augen von Gewalttätern automatisch zum Feind werden, wie unter anderem Harald Welzer in seinen historischen Studien über Täterschaft gezeigt hat (2005; vgl. 6.2.2). Zusätzlich zu dem materiellen Effekt, der darin besteht, dass jeder Getötete nun einmal ein Toter ist, kann durch den Akt des Tötens eine symbolische Transformation der Getöteten in Feinde stattfinden. „Töten als Definition“ ist für Welzer nur eine Seite der ordnungsstiftenden Gewalt, die andere Seite besteht in der „Erzeugung von Kohärenz, von innerer Zusammengehörigkeit auf Seiten der Täter, die sich in der Tötungsarbeit als Wir-Gruppe definieren“ (2005: 265). Für eine Gruppe von Tätern – wie in Abu Ghraib – kann die kollektive Ausübung von Gewalt „vergemeinschaftend“ wirken (Giesen 2010: 134-136). Die 18 Reemtsma spricht hier von „instrumenteller“ und „existentieller Gewalt“ (2008: 106).
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außerordentliche Communitas der Gewalterfahrung stiftet ein Band zwischen den Tätern, das die sozialen Unterschiede zwischen ihnen – auf Kosten der Opfer – in den Hintergrund treten lässt. Gerade bei kollektiver Gewalt treten die rituellen und kommunikativen Aspekte des Phänomens überdeutlich zu Tage (so auch Collins 1974: 240f.). Die Anwendung von Gewalt zeitigt immer auch symbolische und soziale Effekte, die ein verkürztes, instrumentelles Gewaltverständnis übersteigen. Neben den rituellen Aspekten gibt es auch noch andere performative Merkmale der Gewalt. So ist körperliche Gewalt im Gegensatz zu den undurchsichtigen und oft auch unsichtbaren Phänomenen der Macht sichtbar und hinterlässt ihre Spuren. „Personale Gewalt zeigt sich“, wie Galtung einmal bemerkte (1975: 16). Die Sichtbarkeit von körperlicher Gewalt ermöglicht nicht nur die Dokumentation von Gewaltakten, sondern lädt auch zur Theatralisierung und Dramatisierung ein. Zeitgenössische Autoren wie Sofsky (1996), Reemtsma (2008) und Giesen (2010: 126142) haben darauf hingewiesen, dass in der soziologischen Gewaltanalyse neben der Rolle des Täters und des Opfers auch das „Publikum“, das mit Gewalt konfrontiert wird, zu berücksichtigen ist. Das Spektakel der Gewalt befriedigt als Faszinosum, eine ambivalente Schaulust des Publikums. Allerdings lassen sich unterschiedliche Situationen und Konfigurationen zwischen der Gewalttat und dem Publikum unterscheiden. So differenziert Sofsky zwischen der Situation in einer Arena, wo der Einzelne mit der erregten Menge verschmilzt und von kollektiven Emotionen ergriffen wird, und der Position des unbeteiligten und distanzierten Perspektive des Zuschauers in den Massenmedien. Der unüberbrückbare Abgrund zwischen der Gewalttat und dem heimischen Zuschauer am Fernseher entlastet letzteren von der Pflicht, eingreifen zu müssen – so jedenfalls die These von Sofsky (1996: 108). Diese Aussage muss allerdings relativiert werden, da gerade Fernseh- oder Presseberichte über Gräueltaten einen Umschwung in der öffentlichen Meinung herbeiführen und sogar eine militärische Interventionen legitimieren können (6.3.2). Gerade die Distanz zum Geschehen kann eine moralische Klarheit schaffen, die sich wiederum in eine eindeutige Handlungsanweisung ummünzen lässt. Auch die öffentliche Reaktion auf die Fotografien aus Abu Ghraib spricht gegen eine solche „Desensibilisierungsthese“ (8.2). In diesem Fall empörten sich gerade jene, die nicht zu den unmittelbaren Zeugen der Missbrauchsfälle gehörten. Dies trifft nicht nur auf die amerikanische Öffentlichkeit, sondern auch auf den „whistle-blower“ von Abu Ghraib zu, der ebenfalls nur die Fotos der Missbrauchsfälle kannte (8.1.1). Während in Gewaltritualen der liminale Kern von Gewalt zu Tage tritt, lenkt die Performanz von Gewalt den Blick auf ihre liminoiden Aspekte. Der Begriff des „Liminoiden“ (hierzu Turner 2009) kann im Kontext von Gewalt in dreifacher Weise verwendet werden: Erstens für die Darstellung von Gewalt in den sogenannten „Mußegattungen einer Gesellschaft“, zweitens für die spielerische Inszenierung von Gewalt, drittens aber für die „verspielte Grausamkeit“, wie sie für asymmetrische
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Konstellationen von Gewalt charakteristisch ist. Liminoide Gewalt im erstgenannten Sinne wird gerne als dramaturgisches Mittel verwendet, um den Konflikt zwischen Protagonisten und Antagonisten in einem Kampf – oft auf Leben und Tod – gipfeln zu lassen. Fiktionale Formate können hinsichtlich ihrer Gewaltdarstellung mehr oder weniger „realistisch“ sein, wobei der Realismus einer Darstellung von medialen Effekten und ihrer Konsonanz mit vorhandenen Hintergrundmustern abhängt.19 Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt aus. Einerseits wird sie moralisch geächtet und in bestimmte Arenen verbannt, andererseits ist ihre liminoide Darstellung in der Populärkultur omnipräsent und unterhaltsam. Aufgrund dieser Ambivalenz ist und bleibt Gewalt ein „Faszinosum“ (Soeffner 2004). Wett- und Schaukämpfe lassen sich ebenfalls als liminoide Spielformen der Gewalt beschreiben. Wettkämpfe sind agonaler Natur, während bei Schaukämpfen der ludische und theatralische Aspekt dominiert. In Wettkämpfen treten zwei gleiche Kontrahenten in einem Kampf um Sieg oder Niederlage an, der strengen Regeln unterliegt. Bei Schaukämpfen handelt es sich um theatralische Performanzen (2.3.2), die oft auch artistischer Natur sind, obgleich in bestimmten Formen des Schaukampfes, wie in dem von Roland Barthes beschriebenen (französischen) Wrestling (2010: 15-28), die Akteure durch eine authentische Performanz die Künstlichkeit ihrer Gewaltinszenierung zu verbergen suchen. Bei Wettkämpfen und Schaukämpfen handelt es sich allerdings um Grenzfälle von Gewalt, da die Verletzung des Anderen nicht mehr als solche intendiert, sondern nur in Kauf genommen oder gar vorgetäuscht wird. Der Begriff der „Liminoidität“ lässt sich nicht nur auf die fiktionale Darstellung oder theatralische Inszenierung von Gewalt anwenden, sondern kann auch zur Charakterisierung von Grausamkeit verwendet werden. Im Kampf von Mann gegen Mann nimmt die Gewalt ihren Anfang in einer symmetrischen Ausgangslage. Gewalt kann jedoch über das Verhältnis von Überlegenem und Unterlegenem in eine radikale Asymmetrie von Täter und Opfer kippen. Ist diese radikale Asymmetrie erst einmal hergestellt, können an die Stelle der „nackten“ oder „instrumentellen“ Gewalt auch elaboriertere Codes der Grausamkeit treten. Hier spielt der Gewalttäter mit dem Opfer wie eine Katze mit einer gefangenen Maus (vgl. Canetti 2006: 333f.). Der Täter hat freie Hand und kann über den Körper des Opfers nach Belieben verfügen. Allerdings lässt sich die schiere Grausamkeit spielerischer Gewalt nicht mehr moralisch rechtfertigen (vgl. Binder 2009: 198-207). In der modernen moralischen Ordnung, zumindest unter Liberalen, ist „Grausamkeit“ ein Negativbegriff par excellence. Gewalt lässt sich legitimieren, Grausamkeit niemals (4.1.2). 19 Eine „realistische“ Darstellung von Gewalt kann zur Verfestigung von bestimmten Gewaltbildern und -narrativen beitragen. So führte die Serie 24 (2001-2010) mit ihren Folterszenen zu einer Popularisierung des Ticking-Bomb-Szenarios, das eine Rechtfertigung für Folter in Extremsituationen lieferte (6.4.2; 10.3).
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3.2 W ÜRDE UND E NTWÜRDIGUNG Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. IMMANUEL KANT, GRUNDLEGUNG ZU EINER METAPHYSIK DER SITTEN (2010: 72)
Was über allen Preis erhaben und ohne Äquivalent ist, das kann im Anschluss an die Religionssoziologie von Durkheim (2005/1912) als „heilig“ bezeichnet werden. Was einen Preis hat, tauschbar und somit auch ersetzbar ist, kann getrost dem Bereich des „Profanen“ zugeschlagen werden. Die Soziologie hat schon früh erkannt, dass dem Individuum in der moralischen Ordnung der modernen Gesellschaft eine Sonderstellung gebührt, ja, dass der Einzelne als sakrales Objekt eines gesellschaftlichen Kultes verstanden werden kann (Durkheim 1986/1898; vgl. auch Joas 2011; 4.1.2). Allerdings tat sich die Soziologie, vom frühen Luhmann (1986/1965: 53-83) einmal abgesehen, mit dem Begriff der „Würde“ bisher schwer. Die Rede von der „Würde des Menschen“ genießt jedoch gegenüber abstrakteren Konzepten wie der „Sakralität der Person“ (Joas 2011) den Vorzug, dass sie eine leibliche, expressive und performative Dimension besitzt. Im Folgenden wird versucht, sich dem Begriff der Würde aus einer soziologischen Perspektive zu nähern. Dabei ist der moderne Begriff der Würde zunächst von dem vormodernen Konzept der „Ehre“ abzugrenzen, bevor im Anschluss an Arbeiten von Friedrich Schiller und Niklas Luhmann der Grundstein für ein expressives und performatives Verständnis von Würde gelegt werden soll. Sodann sollen einige Position aus dem zeitgenössischen philosophischen Diskurs zur Würde diskutiert und auf ihren soziologischen Gehalt abgeklopft werden. Gesucht wird ein Begriff von Würde, der sowohl der expressiven Dimension als auch der askriptiven Qualität der Menschenwürde Rechnung trägt. Nur ein solcher wird der Symbolik von entwürdigenden Gesten gerecht und kann darüber hinaus auch verständlich machen, wie die performativen Akte von Abu Ghraib die Würde ihrer Opfer verletzten konnten. Bevor wir uns mit dem Würdebegriff eingehender beschäftigen, ist dieser vom Begriff der „Ehre“, der ebenfalls in der Rezeption der Abu-Ghraib-Bilder eine Rolle spielte, abzugrenzen. Ehre und Würde sind Formen sozialer Wertschätzung und gesellschaftlicher Anerkennung, die auf das Fremd- und Selbstbild eines Menschen bezogen sind (2.1.2). Während der altehrwürdige Begriff der Ehre noch an bestimmte soziale Rollen gebunden ist, stellt die neuere Semantik der Würde eine Universalisierung und Individualisierung der Anerkennung dar. Zur Ehre gehört ein Image, das ein Akteur in Ausübung einer bestimmten Rolle (z.B. Ehemann) oder als Angehöriger
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eines bestimmten Standes (z.B. Soldat), zugeschrieben bekommt. 20 Ehre bezieht sich auf den sozialen Status, den eine Person innehat. Die Zuweisung von Ehre ist an einen Komplex von normativen Regeln, an einen „Ehrenkodex“, geknüpft, bei deren Nichtbeachtung der Verlust des Images und damit auch der Ehre droht. Allerdings können auch Handlungen von anderen Akteuren dazu führen, dass eine Person ihre Ehre verliert. Man kann sich selbst unehrenhaft verhalten, aber auch durch andere entehrt werden. Auf den ersten Blick scheint für die Würde das Gleiche zu gelten: Man kann sich würdelos betragen, aber auch von anderen entwürdigt werden. Sowohl Ehre als auch Würde unterhalten enge Beziehung zur Scham. Wer seiner Ehre oder seiner Würde verlustig geht, verliert sein Gesicht. Die übliche emotionale Reaktion auf einen solchen Gesichtsverlust ist das Gefühl der Scham. Mag sich der Entehrte schämen oder nicht, in den Augen der Gemeinschaft hat er Schande auf sich geladen. In traditionalen Gesellschaften stehen ihm unterschiedliche soziale Mechanismen zur Rückgewinnung seiner Ehre zur Verfügung. So konnte etwa der betrogene Ehemann den Liebhaber seiner Frau zu einem Duell herausfordern; die verlorene Ehre einer jungen Frau, die „vorzeitig“ ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, ließ sich durch Heirat wiederherstellen.21 In früheren Gesellschaften war Ehre ein kostbares Gut, das auch durch das Recht geschützt wurde, während heutzutage die Würde und die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen eine weitaus wichtigere Stellung einnehmen (Berger 1970; Kalupner 2006; vgl. 4.1.2). Während sich Vorstellungen von Ehre langsam aus dem vorherrschenden Imaginären zurückziehen, floriert die Rede von der Würde des Einzelnen, insbesondere aber von der Menschenwürde. Eine besondere Rolle spielt das Konzept der Ehre aber auch heute noch in militärischen Kreisen. Albrecht Koschorke zufolge stiftet Ehre eine Verbindung „zwischen militärischer Gewaltanwendung und zivilem Gewaltverbot“ (2007: 181). Die Ehre des Kriegers stellt somit einen sozialen Mechanismus dar, welcher der drohenden Eskalation von Gewalt (3.1.2) Einhalt gebieten soll. Die soldatische Ehre gebietet den Schutz von Zivilisten und Wehrlosen, während sie selbst mit der Ehre des Feindes wächst (Braudy 2003: 53f.). Insofern ist es auch verständlich, dass die Demütigung der Gefangenen von Abu Ghraib im amerikanischen Diskurs als Entehrung der Soldaten und als eine Gefährdung der Ehre der Armee angesehen wurde. Ein weiterer Bereich, in dem Konzepte der Ehre („respect“) nach wie vor florieren, sind Subkulturen, beispielsweise amerikanische Ghettos mit ihrem Code of the Street (Anderson 2000). 20 Die Tatsache, dass sich Ehre nicht auf die Person als Ganzes, sondern nur auf bestimmte soziale Aspekte bezieht, bedeutet nicht, dass sie nicht auch totalisierende Wirkungen zeitigen kann. So gehört unter anderem der (fakultativ altruistische) Selbstmord zu den klassischen Bewältigungsstrategien des Ehrverlustes (vgl. Durkheim 2006: 247-250). 21 Oft fungieren Gewalt und Mord als Mechanismen der Wiederherstellung von Ehre; man denke nur an „Ehrenmorde“ und „Blutfehden“.
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3.2.1 Würde als Ausdruck, Performanz und Repräsentation Während sich die Ehre auf den sozialen Status eines Akteurs bezieht, der meist durch konventionelle Zeichen symbolisiert wird, steht der Begriff der Würde in einem engen Zusammenhang mit dem Körper als einem Bild- und Ausdrucksmedium (2.1.2). In seiner Schrift über Anmut und Würde versucht Friedrich Schiller (1962) den kantianischen Dualismus von „Neigung“ und „Pflicht“ bzw. „Sinnlichkeit“ und „Geistigkeit“ zu überwinden, indem er aufzeigt, wie das Geistige im Sinnlichen erfahrbar werden kann. Dabei fungiert der menschliche Körper als ein Bildmedium, das etwas zeigt, das ansonsten keiner Darstellung fähig wäre: die menschliche Person. Während die Anmut als ein Ausdruck der Harmonie von Sinnlichem und Geistigem bestimmt wird, die in der anmutigen Bewegung die moralische Gesinnung im Einklang mit den Trieben zum Ausdruck bringt, steht der Begriff der Würde für die sichtbare Herrschaft des Geistigen über das Sinnliche. Schiller definiert Würde als Ausdruck einer moralischen Kraft: „Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde ist ihr Ausdruck in der Erscheinung“ (1962: 475). Damit verfehlen Schillers Überlegungen zur Würde, so interessant sie auch sein mögen, notwendig das was wir heute als „Menschwürde“ bezeichnen würden. Die Rede von der Würde des Menschen bedeutet, dass jeder Mensch eine Würde besitzt und deswegen ein Anrecht auf ein gewisses Maß an Achtung besitzt – unabhängig von seiner inneren moralischen Kraft und ihrem Ausdruck im Handeln. Niklas Luhmann hat in einer Frühschrift über Grundrechte als Institution (1986/1965) das deutsche Grundgesetz einer soziologischen Analyse unterzogen – mit dem Ansinnen, den verfassungsrechtlichen Dogmatismus um ein Verständnis der gesellschaftlichen Funktionen von Grundrechten zu erweitern. Im Zentrum seiner Überlegungen zu den Grundrechten der Würde (§ 1) und der Freiheit (§ 2), die stark von Goffman (2006) geprägt sind, steht das Problem der „Selbstdarstellung“ (Luhmann 1986/1965: 53-83). Luhmann zufolge kommt es in der modernen Gesellschaft zu einer Individualisierung der Selbstdarstellung und somit zur Herausbildung von individuellen Persönlichkeiten, die für sich Würde und Freiheit in Anspruch nehmen und auch zum Ausdruck bringen müssen. Diese Selbstdarstellung ist keine zeitweilige Übernahme einer sozialen Rolle, sondern die interaktive Herstellung eines personalen Selbst. 22 Würde und Freiheit bezeichnen in diesem Zusammenhang die „Grundbedingungen des Gelingens der Selbstdarstellung eines
22 „Der Mensch wird die Persönlichkeit als welche er sich darstellt“ und „gewinnt seine Individualität als Persönlichkeit nur im sozialen Verkehr“ (Luhmann 1986/1965: 60, 61f.). Ähnlich bereits bei Goffman: „Eine richtig inszenierte und gespielte Szene veranlasst das Publikum, der dargestellten Rolle ein Selbst zuzuschreiben, aber dieses zugeschriebene Selbst ist ein Produkt einer erfolgreichen Szene, und nicht ihre Ursache“ (2006: 231).
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Menschen als individuelle Persönlichkeit“ (1986/1965: 61). Während es sich bei Würde um die innere Bedingung des Gelingens der Selbstdarstellung handelt, stellt Freiheit deren äußere Bedingung dar. Luhmann zufolge bedeutet das Freiheitsrecht des Grundgesetzes die „Freiheit von sozial manifesten Außenursachen“, welche „die persönliche Zurechnung des Handelns einschränken und damit die Selbstdarstellung der Person, die soziale Konstitution einer individuellen Persönlichkeit behindern“ (1986/1965: 66). Das individuelle Freiheitsrecht beinhaltet die „Freiheit von offensichtlichem Zwang“, worunter auch Gewalt zu zählen ist, aber auch die „Freiheit von genau durchgezeichneten sozialen Erwartungen“ (1986/1965: 66), da routinemäßiges und normgemäßes Handeln nicht dem Handelnden, sondern der Situation zugerechnet wird und somit keinen Raum für Selbstdarstellung lässt. Als innere Bedingung des Gelingens von Selbstdarstellungen muss auch die Würde des Einzelnen unter den Schutz des Grundgesetzes gestellt werden: Würde muss konstituiert werden. Sie ist das Ergebnis schwieriger, auf generelle Systeminteressen der Persönlichkeit bezogener, teils bewusster, teils unbewusster Darstellungsleistungen und in gleichem Maße Ergebnis ständiger sozialer Kooperation, die ebenfalls bewusst oder unbewusst, latent oder durchschauend – niemals aber in Form offener Kommunikation, weil das ein Darstellungsfehler wäre – praktiziert werden kann. Sie ist eines der empfindlichsten Güter, weil sie so stark generalisiert ist, dass alle Einzelheiten den ganzen Menschen betreffen. Eine einzige Entgleisung, eine einzige Indiskretion kann sie radikal zerstören. Sie ist also alles andere als „unantastbar“. Gerade wegen ihrer Exponiertheit ist sie einer der wichtigsten Schutzgegenstände unserer Verfassung. (Luhmann 1986/1965: 68f.)
Luhmann begreift Würde als Ergebnis von Darstellungsleistungen, als Effekt von habitualisierten Akten und sozialen Performanzen. Es kommt zu einer Begriffsverschiebung von der Würde des Menschen als der Bedingung einer gelungenen Selbstdarstellung hin zur Würde als dem Produkt einer gelungenen Selbstdarstellung: „Ohne Erfolg in der Selbstdarstellung, ohne Würde, kann er seine Persönlichkeit nicht benutzen“ (1986/1965: 69). Damit verfehlt Luhmann – ähnlich wie Schiller – die Universalität der Menschenwürde. Diese muss allen Menschen gleichermaßen zugeschrieben werden – unabhängig von der jeweiligen performativen Leistung. Man muss nicht unbedingt eine essentialistische Konzeption von Menschenwürde vertreten, wenn man an der Würde des Menschen als einer notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingung für erfolgreiche Selbstdarstellungen festhalten möchte. Im Anschluss an Luhmann könnte es sich als sinnvoll erweisen, zwischen der notwendigen Würde des Menschen als Bedingung einer erfolgreichen Selbstdarstellung und der kontingenten Würde als ihrem Ergebnis zu unterscheiden. In einem Teil der neueren philosophischen Debatte zur Menschenwürde wird Würde – wie schon bei Schiller – immer noch als Ausdrucksphänomen aufgefasst. Allerdings gehen die Meinungen darüber auseinander, ob Menschenwürde im An-
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schluss als kontingente Darstellungsleistung begriffen werden kann, oder ob an einem Konzept der Menschenwürde festgehalten werden sollte, das Würde als ein dem Individuum inhärentes Phänomen versteht. Luhmann hat zu Recht auf den Zusammenhang zwischen Würde als einer Darstellungsleistung und der Menschenwürde als einem Grundrecht hingewiesen, wobei seine eigene Lösung, Würde als kontingente Darstellungsleistung zu begreifen, mit der Dogmatik des Grundgesetzes und unseren moralischen Intuitionen schwer zu vereinbaren ist. Der Philosoph Anton Leist, der die Argumentation von Luhmann aufgreift und radikalisiert, lehnt die Unterscheidung zwischen kontingenter Würde und inhärenter Menschenwürde ab, da sie auf metaphysischen Prämissen beruhe. Stattdessen schlägt er im Rückgriff auf Heidegger (1986/1927) vor, Menschenwürde als „Bewusstsein des eigenen Lebens angesichts von existentialen Notwendigkeiten“ (Leist 2005: 606; Hervorhebung im Original) zu begreifen. Auch bei Leist bedarf die Menschenwürde eines symbolischen Ausdrucks: Würde wird so zum Gegenstand von Ritualen und Bestandteil einer öffentlichen Praxis.23 Mit Blick auf die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib konstatiert Leist, dass die Praxis der Folter nur dann eine Verletzung der Menschenwürde darstellt, „wenn die Folter ein Verächtlichmachen der Gefolterten einbezieht, indem sie gezwungen werden, ihrer eigenen Ausdruckssymbolik untreu zu werden“ (2005: 608). Trotz der interessanten soziologischen Implikationen dieses Ansatzes lässt sich die Verengung des Würdebegriffs auf die Ausdruckssymbolik von Menschen mit existenziellem Bewusstsein nur schwer mit der moralischen Ordnung moderner Gesellschaften vereinbaren, in deren Schlüsseldokumenten von einer angeborenen und unverlierbaren Würde des Menschen die Rede ist. Letztendlich bleibt also auch Leist einer unzureichenden Theorie der Menschenwürde als Darstellungsleistung verhaftet. Kurt Seelmann (2004) hat die Konzeption der Menschenwürde als Darstellungsleistung als widersinnig kritisiert, da sie mit unserem überlieferten Begriff der Menschenwürde unvereinbar sei. Stattdessen schlägt er vor, Menschenwürde als spezifische Repräsentationsform zu begreifen. Er unterscheidet drei Aspekte, an denen sich die Bedeutung von Repräsentation für die Menschenwürde aufzeigen lässt. Erstens kann Menschenwürde als notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung einer Übereinstimmung von innerem Selbstbild und äußerer Selbstdarstellung definiert werden. Wie auch der Begriff der Freiheit impliziert der Begriff der Menschenwürde Schutz vor äußeren Zwängen, die dem Einzelnen keine andere Wahl ließen, als seinem Selbstbild zuwiderzuhandeln. Zweitens unterliegt aber auch die Privatheit des Einzelnen dem Schutz der Menschenwürde. Damit ist gemeint, dass der Einzelne nicht vor einem Publikum in einer Weise bloßgestellt werden darf, die 23 Eine Konsequenz dieser Argumentation – die von Leist durchaus beabsichtigt ist – ergibt sich für die Bioethik-Debatte: Leist spricht allen Entitäten, die sich nicht an Symbolisierungspraxen beteiligen können (z.B. Embryonen), jegliche Würde ab (2005: 609).
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sein Selbstbild in Frage stellt.24 Der dritte von Seelmann behandelte Aspekt bezieht sich auf die unwillkürliche Repräsentation der Würde des Menschen durch den Körper des Einzelnen. Er argumentiert, dass der menschliche Körper vor jeder intentionalen Selbstdarstellung eines Akteurs immer schon eine Repräsentation seiner Menschlichkeit und Individualität sei. In der Tat: Wie kein anderer Teil des Körpers repräsentiert das Gesicht, das menschliche Antlitz, das Individuum (vgl. Seelmann 2004: 154f.), weswegen es auch kaum verwundert, dass der Begriff der „Person“ von dem griechischen Ausdruck für „Gesicht“ stammt (vgl. 2.1.2). Es ist kein Zufall, dass auf den meisten Bildern von Abu Ghraib die Köpfe der Opfer verhüllt waren (7.1-3). Die Verhüllung des Gesichtes erleichtert die spätere Entwürdigung des Feindes, da sie ihn seines menschlichen Antlitzes beraubt, aber sie kann auch schon für sich genommen eine Entwürdigung darstellen. Allerdings kann die Unkenntlichmachung eines Gesichtes in den Medien, gerade weil sie die Individualität der betreffenden Person auslöschen, auch dem Schutz der Privatsphäre dienen. 25 Seelmann (2004) definiert die Menschenwürde als Repräsentation eines Selbstbildes – als Selbstdarstellung und Körperbild. Wird die Menschenwürde verletzt, so ist es dem Opfer nicht mehr möglich, die Übereinstimmung mit seinem Selbstbild zu wahren. Allerdings geht er nicht der Frage nach, welchen Status dieses Selbstbild besitzt. Prinzipiell stehen einem zwei Wege offen: Entweder man macht die Verletzung der Menschenwürde von dem subjektiven Empfinden und dem idiosynkratrischen Selbstbild des Opfers abhängig, oder man sucht nach „objektiven“ Kriterien der Entwürdigung. Eine Auseinandersetzung mit diesem Problem findet sich in einem Beitrag von Peter Schaber (2004), der für die erste Option plädiert. Im Weiteren soll jedoch die These vertreten werden, dass nur der zweite Weg gangbar ist: „Objektive Kriterien“, bei denen es sich – soziologisch gesprochen – natürlich immer um gesellschaftliche Konventionen handelt, sind unverzichtbar, will man die Würde des Menschen in der modernen Gesellschaft verstehen. Schaber zufolge geht mit der Idee der Menschenwürde ein moralischer Anspruch einher, der „verletzt wird, wenn eine Person erniedrigt wird“ (2004: 124). Eine Erniedrigung liege genau dann vor, „wenn eine Person in einer Weise behandelt wird, die es ihr nicht länger erlaubt sich selbst zu achten“ (2004: 125). Die fehlende Selbstachtung entspricht der Verletzung des eigenen Selbstbildes. Diese unmittelbar einleuchtende Definition erweist sich bei näherem Hinsehen als tückisch. 24 So stand die Nacktheit der Gefangenen von Abu Ghraib nicht notwendig in einem Widerspruch zu ihrem eigenen Selbstbild. Sie wurde erst durch das anwesende Publikum, zu dem auch weibliche Soldaten gehörten, zu einer Würdeverletzung. 25 Ironischerweise war die Unkenntlichkeit der Gesichter der Opfer für die Enthüllung des Skandals und die Rezeption der Bilder von Vorteil: Die Anonymität der einzelnen Opfer legte nicht nur eine symbolische Generalisierung des Opferstatus nahe, sondern schützte auch die Persönlichkeitsrechte der Opfer bei der weltweiten Dissemination der Bilder.
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Schaber wirft in diesem Zusammenhang zwei wichtigen Fragen auf: Gibt „es einen objektiven Maßstab für Selbstachtung“ oder kann man Selbstachtung „einfach als einen subjektiven psychischen Zustand auffassen“ (2004: 124)? Und: Liegt auch dann eine Erniedrigung vor, wenn sich das Opfer seine „Selbstachtung bewahrt“ (2004: 126)? Schaber enthält sich bei der ersten und verneint die zweite Frage – beides vermag nicht zu überzeugen. Schabers subjektive Lösung für das Paradox der Erniedrigung führt zu dem fragwürdigen Ergebnis, dass ein Folterer sich nicht der Verletzung der Menschenwürde schuldig macht, wenn sein Opfer standhaft bleibt und seine Selbstachtung bewahren kann. Noch problematischer ist dies, wenn wir uns die Erniedrigung von Menschen vor Augen führen, die an einer psychischen Erkrankung wie Demenz leiden, und vielleicht nicht die objektive Situation der Erniedrigung als solche erkennen können. Von diesen Unzulänglichkeiten einmal abgesehen, muss ein Zusammenhang man zwischen beiden Fragen konstatiert werden. Wer die subjektive Achtung des Einzelnen zum Maßstab von Menschenwürdeverletzungen erhebt, kann auf objektive Kriterien verzichten. Wer an der Notwendigkeit von objektiven Bedingungen von Erniedrigung festhält, kann den Problemen einer subjektiven Antwort auf die zweite Frage aus dem Weg gehen. Aus einer philosophischen Perspektive hat der Verweis auf die subjektive Selbstachtung den Vorteil der bewusstseinstheoretischen Unhintergehbarkeit, während ein Katalog objektiver Kriterien nach weiteren Begründungen verlangt. Die Soziologie, die nicht denselben Begründungszwängen unterliegt, hat hier mehr Möglichkeiten. Soziologen können beobachten, wie die Zuschreibung von Menschenwürde und die Anerkennung ihrer Verletzung in Gesellschaften erfolgt. Man braucht nicht erst empirische Untersuchungen anzustrengen, um zu sehen, dass es gesellschaftlich keinen Sinn macht, den Begriff der Menschenwürde an subjektive Empfindlichkeiten oder idiosynkratische Selbstbilder zu knüpfen. Würdeverletzungen müssen sozial konditioniert und limitiert werden, da sich ansonsten jeder darauf berufen könnte. Dafür benötigt man „objektiven Kriterien“ bzw. sozialen Normen, die festlegen, wann ein Akt als Verletzung der Menschenwürde gilt, ohne dass diese restlos bestimmt oder vollständig aufgelistet werden könnten (4.1.2). Nur vor dem Hintergrund eines sozialen Imaginären (1.3.3) – in diesem Fall ein allgemeines Menschenbildes, das historischen Veränderungen unterworfen ist – lässt sich entscheiden, ob auch wirklich eine Verletzung der Menschenwürde vorliegt. Nicht jedes Selbstbild ist schützenswert und ein Mangel an Selbstachtung kann auch pathologische Ursachen haben. Dies hat vor allem Avishai Margalit (1997) deutlich gemacht, dessen Würdekonzeption uns noch im Folgenden beschäftigen wird. 3.2.2 Würde, Demütigung und Entwürdigung Die Würde des Menschen ist ein integraler Bestandteil der moralischen Ordnung und des sozialen Imaginären liberaler Gesellschaften (4.1.2). Die Würde des Ein-
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zelnen, wie wir sie heute verstehen, kann als historisches Produkt eines „Kampfes um Anerkennung“ (Honneth 1992) begriffen werden, in dem versucht wird, ein Mindestmaß an sozialer Wertschätzung auf alle Mitglieder der Gesellschaft auszuweiten und beständig zu steigern. Diese Kämpfe entzünden sich meist an konkreten Erfahrungen der Entwürdigung. So wie die soziale Ordnung einer Gesellschaft nur in Krisenzeiten sichtbar wird, zeigt sich auch die Menschenwürde erst dann, wenn sie mit Füßen getreten wird, eben in Situationen der Entwürdigung. Das gleiche scheint auch für die philosophischen Diskurse zur Menschenwürde zu gelten, deren Teilnehmer es sichtlich schwerfällt, das Phänomen der Menschenwürde einer positiven Bestimmung zu unterziehen. Nahezu alle Autoren versuchen, den „leeren Signifikanten“ der Menschenwürde im Rückgriff auf mögliche oder faktische Situationen der Entwürdigung und Erniedrigung zu bestimmen. Im Diskurs der Menschenwürde fungieren diese Situationen als konstitutives Außen, das konkret und vielgestaltig ist, während der leere Signifikant der Menschenwürde die Einheit des Diskurses stiftet (1.3.2). Diese Position, in der man davon ausgeht, dass die Menschenwürde nur über ihre Verletzung bestimmt werden kann, wird wohl am entschiedensten von Avishai Margalit (1997) in seiner Politik der Würde vertreten: Unter Demütigung verstehen wir alle Verhaltensformen und Verhältnisse, die einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen. So verstanden, stellt Demütigung weniger eine psychologische als vielmehr eine normative Kategorie dar. Einerseits impliziert der normative Bedeutungsgehalt von Demütigungen nicht, dass jede Person, die einen berechtigten Grund hat, sich gedemütigt zu fühlen, sich auch tatsächlich gedemütigt fühlt. Andererseits folgt aus dem psychologischen Sinn des Begriffs, dass jede Person, die sich gedemütigt fühlt, auch tatsächlich einen berechtigten Grund für dieses Gefühl hätte. (Margalit 1997: 23)
Wie Peter Schaber (2004), so greift auch Margalit auf die Selbstachtung des Einzelnen als einem Maßstab für Verletzungen der Menschenwürde zurück. Im Gegensatz zu Schaber distanziert er sich allerdings entschieden von einer subjektiven Lesart, wie wir sie im vorangegangenen Abschnitt kennengelernt haben. Die Klausel vom „rationalen Grund“ erlaubt es Margalit, Demütigung als ein objektivnormatives Phänomen zu begreifen, das sich nicht auf die subjektiv-mentale Zustände des Gedemütigten reduzieren lässt. Wer unter einem Verlust an Selbstachtung leidet, ohne dass ihm das Handeln seiner Mitmenschen dafür einen allgemein anerkannten Grund gegeben hat, behält seine Menschenwürde. Wer sich hingegen seine Selbstachtung in einer Situation bewahrt, in der er allen Grund hätte, seine Selbstachtung zu verlieren, dessen Menschenwürde wird mit Füßen getreten. Man muss es Margalit hoch anrechnen, dass er auf die irreduzible normative Komponente im Begriff der Würde aufmerksam gemacht hat. Allerdings muss aus einer soziologischen Perspektive geltend gemacht werden, dass die „Rationalität“ des Grundes
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und die „Normativität“ der Würdeverletzung wiederum auf den kulturellen Hintergrund und die moralische Ordnung einer Gesellschaft verweisen. Margalit zufolge kann es Demütigung nur innerhalb einer sozialen Beziehung geben. Die Tatsache der Demütigung ist dabei nicht nur unabhängig von dem Gefühl des Opfers, sondern auch von der Absicht des Täters: „Nur Menschen können demütigen, auch wenn die zugefügte Demütigung nicht unbedingt in ihrer Absicht liegen muss“ (1997: 24). Akte der Demütigung müssen nicht immer intentional erfolgen, sondern können, so Margalit, ebenso aus gesellschaftlichen Verhältnissen resultieren, die Menschen in eine demütigende Lage bringen – wie beispielsweise die von Marx bedauerte Entmenschlichung des Proletariats durch den Kapitalismus. Auch wenn eine Entkoppelung der „objektiven“ Demütigung von den mentalen Zuständen der involvierten Personen folgerichtig und plausibel ist, droht hier die von ihm zu Recht konstatierte Tatsache, dass Demütigung eine soziale Beziehung voraussetze, in Vergessenheit zu geraten. Nicht gesellschaftliche Verhältnisse, sondern nur die Menschen selbst können einander demütigen. Dies wird unter anderem daran deutlich, dass Würde von Margalit ebenfalls als Ausdrucksphänomen, „als Verkörperung oder Abbild der Selbstachtung“ begriffen wird (1997: 73). Gerade wegen ihrer Äußerlichkeit kommt der Würde eine Objektivität zu, die einer rein innerlichen Selbstachtung fehlt. So wird in unserem Grundgesetz die Würde des Menschen geschützt, aber gerade nicht dessen Selbstachtung, die psychischen Schwankungen und persönlichen Idiosynkrasien unterliegt. Auch wenn das Selbstbild und die Selbstachtung des Einzelnen seiner Würde vorauszugehen scheinen, kehrt sich dieser Vorrang im Sozialen um. Bei demütigenden Gesten handelt es sich um expressive und performative Akte, deren Urheber nur eine Person sein kann. Margalit unterscheidet drei Möglichkeiten, die Würde des Menschen zu begründen: Die positive Begründung, welche nach objektiven Eigenschaften sucht, die die Würde des Menschen rechtfertigen sollen; die skeptische Variante, die Begründungen für unmöglich hält und auf die konkrete Würdigungspraxis verweist; schließlich die negative Begründung, die alleine zu rechtfertigen versucht, warum man Menschen nicht demütigen darf. Gemäß dem allgemeinen Trend in modernen Gesellschaften, positive durch negative Transzendenzen zu ersetzen (Giesen 2005), favorisiert er eine negative Begründung der Menschenwürde. Ihm zufolge sind Demütigungen moralisch unvertretbar, weil sie grausam sind. Grausamkeit ist bei Margalit ein nicht weiter begründbarer Letztbegriff, da „Grausamkeit vermeidendes Verhalten moralisches Verhalten schlechthin“ sei (1997: 113). Dem Begriff der Menschenwürde liegt ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis zwischen den einzelnen Individuen zu Grunde. Margalit zufolge muss auch die Demütigung als ein widersprüchliches und parasitäres Anerkennungsverhältnis beschrieben werden, da jede „Demütigung die Menschlichkeit des Gedemütigten erfordert“ (1997: 137). Damit wohnt der Praxis der Demütigung eine Instabilität und Ambivalenz inne, die von unbeteiligten Beobachtern gegen die Demütigenden
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gewendet werden kann. Gerade die Ikone des Abu-Ghraib-Skandals zeigt, dass in der Erniedrigung des Einzelnen seine Würde als Mensch sichtbar werden kann (7.1.3). Der Schutz der Würde des Menschen ist von äußerster Wichtigkeit, weil der Einzelne in seinem Selbstbild – und dies wussten schon Hegel, Cooley und Mead – immer auf die Anerkennung durch Andere angewiesen bleibt: „Das aber bedeutet, dass sich selbst eine Person mit Selbstachtung von der Meinung anderer nicht frei machen kann“ (Margalit 1997: 154). Damit hört auch die Demütigung durch einen anderen Menschen auf, etwas bloß Äußerliches zu sein, sondern wird zu etwas, das unser Selbstbild im Innersten berühren und verletzten kann. Eine einmal erlittene Demütigung kann die eigene Identität und das Vertrauen zu anderen Menschen beschädigen und zu einem psychischen Trauma führen. Margalit verwendet den Begriff der Demütigung nur in Zusammenhang mit der Verletzung der Würde des Menschen. Im Folgenden soll der Begriff der „Demütigung“ allerdings inhaltlich weiter gefasst werden (3.3.1), während der Begriff der „Entwürdigung“ für Verletzungen der Menschenwürde im engeren Sinne verwendet werden wird. Das subjektive Gefühl der Missachtung ist weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für das Vorliegen einer Verletzung der Menschenwürde. Ob eine Entwürdigung vorliegt, kann nur im Verweis auf die objektiven Bedingungen der sozialen Situation, innerhalb welcher ein Akt der Missachtung stattgefunden hat, entschieden werden. Dies hat zur Folge, dass die Entscheidung, ob eine Entwürdigung vorliegt, weder beim Entwürdigenden noch beim Entwürdigten, sondern beim Publikum liegt. Da „Würde“ ein Ausdrucksphänomen ist, sind auch entwürdigende Gesten für Außenstehende sichtbar und verständlich. Dies macht es erst möglich, dass über entwürdigende Situationen vor dem Hintergrund des jeweils herrschenden Moralverständnisses geurteilt werden kann. Diese Sichtbarkeit der Entwürdigung hat zur Folge, dass sich derartige Akte auf Bildern dokumentieren lassen – oder aber mit Hilfe von Bildern vollzogen werden können. Ein gutes Beispiel hierfür gibt Ralf Stoecker (2003) in einem Artikel, der sich die Überlegungen von Margalit zu eigen macht und eine Fotografie analysiert, die die Erniedrigung von Juden während des Dritten Reiches zeigt. Man sieht auf dem Foto, wie ältere jüdische Bürger auf dem Fußweg knien, um mit Zahnbürsten den Boden zu schrubben, während sich ihre nichtjüdischen Mitbürger über sie lustig machen. Die Entwürdigung, die durch das Anfertigen eines Bildes festgehalten, ja vielleicht sogar potenziert wurde, ist für den heutigen Betrachter auf den ersten Blick zu erkennen – ohne dass wir die Täter und Opfer von damals befragen müssten. Das gleiche gilt auch für die Fotografien aus Abu Ghraib (7.1-3), die unmittelbar als Entwürdigungen zu erkennen sind. Angesichts dieser Bedeutung der Sichtbarkeit von Entwürdigungen erscheint es lohnend, noch einmal kurz auf die bildanthropologischen Implikationen der Menschenwürde einzugehen. Margalit definiert Würde als „Ausdruck der Achtung, die Menschen aufgrund ihres Menschseins sich selbst entgegen bringen“ (1997: 72). Die moralische Forde-
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rung, die mit der Würde des Menschen einhergeht, lässt sich auf die tautologisch anmutende Formel bringen, dass man „Menschen als Menschen behandeln“ solle. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine Tautologie im logischen Sinne, da es sehr wohl auch möglich ist, einen Menschen unmenschlich zu behandeln. Margalit hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese moralische Forderung voraussetzt, in einem menschlichen Körper eine menschliche Person erkennen zu können: „Ein menschliches Wesen als Menschen wahrzunehmen bedeutet, so heißt es bei Wittgenstein, den Körper als Bild der menschlichen Seele zu betrachten. [...] Wir sehen Menschen als Menschen, wenn wir ihre Mimik und Gestik interpretieren“ (Margalit 1997: 119f.). Entscheidend für die Wahrnehmung eines Menschen als Menschen ist die „somatische Differenz“ (Boehm 2010: 33), die den menschlichen Körper als ein Bildmedium und als Ausdruck eines autonomen Selbsts konstituiert (vgl. 2.1.2). Blind gegenüber Menschen ist dann derjenige, der Menschen „ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer körperlichen, nicht ihrer psychischen Erscheinung“ (Margalit 1997: 121) betrachtet. Von diesen Überlegungen ausgehend fragt Margalit, ob es grundlegend anders sei, „ein Bild oder einen menschlichen Körper unter dem Aspekt der Menschlichkeit“ zu betrachten (1997: 123): „Was für einen Sinn hat es überhaupt, das Menschliche zu sehen, wenn diese Wahrnehmungsweise beispielsweise auch auf leblose Leinwände und nicht ausschließlich auf Menschen angewandt werden kann? [...] Es ist etwas völlig anderes, das Menschliche einer dargestellten Figur zu sehen, die auf eine Person außerhalb des Bildes verweist, als das Menschliche einer internen Figur des Bildes wahrzunehmen. Nimmt das Bild auf eine externe Person Bezug, kann es als Ausdruck der Seele und gleichzeitig als Fortsetzung der Körpersprache der betreffenden Person betrachtet werden.“ (Margalit 1997: 123)
Margalit unterscheidet zwischen „interner Darstellung“ und „externer Referenz“ – was auch für die Fiktionalität von Narrativen und Performanzen von Bedeutung ist. Eine Figur kann innerhalb eines Bildes, einer Erzählung oder eines Theaterstückes eine Rolle spielen, aber sie kann zugleich auch eine reale Person (oder auch eine Gruppe von Personen) vertreten. Entscheidend für die Abbildung von Entwürdigungen ist der Verweis des abgebildeten Körpers auf die Körper existierender Personen – ganz im Sinne der Referenz, wie sie am Beispiel der säkularen Ikonen herausgearbeitet wurde (2.1.3). Fotografische Darstellungen sind hervorragend dafür geeignet, um Entwürdigungen zu dokumentieren oder zu beglaubigen, da die Indexikalität des fotographischen Mediums eine externe Referenz zu verbürgen scheint. Allerdings kann schon die ikonische Referenz in Zeichnungen oder Gemälden ausreichen, um einen Bezug zu einer realen Person herzustellen, wie nicht zuletzt die Wandgemälde und Kunstwerke zu Abu Ghraib zeigen (9.4). Die bildliche Darstellung entwürdigender Szenen ist allerdings nicht auf die Abbildung realer Entwürdigungen beschränkt, denn auch der Bildakt selbst kann
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für sich genommen schon ein Akt der Entwürdigung sein (vgl. Bredekamp 2010: 197-230). Die Grenzen zwischen fiktiver Darstellung und realistischer Abbildung können allerdings auch verschwimmen, was an den Dokumentationen zu Abu Ghraib ersichtlich wird (10.2). So wurden zwar viele Szenen mit Schauspielern nachgestellt, verweisen aber nichtsdestotrotz auf reale Geschehnisse. Die Fotografien von Abu Ghraib sind in dieser Hinsicht eindeutiger, da die auf ihnen abgebildeten Körper unmittelbar als fotografische Fortsetzungen der realen Körper der Gefangenen und Soldaten gedeutet werden müssen. Ein interessanter, etwas anders gelagerter Fall sind wiederum die englischen Skandalbilder, bei denen es sich, da hier die externe Referenz nach ihrer Entlarvung als Fälschungen kollabierte (8.4.2), nicht um Dokumentationen entwürdigender Situationen handelt. Die Entwürdigung auf diesen Bildern wurde zu einer theatralischen Performanz von Schauspielern degradiert, die, da sie nur noch eine bildinterne Bedeutung besaß, keine realen Personen mehr in ihrer Würde verletzen konnte. Die bildliche Darstellung von Entwürdigungen gewinnt ihre Bedeutung in sozialen Kontexten bzw. dem kulturellen Hintergrund des Beobachters. Die Sichtbarkeit von Verletzungen der Menschenwürde beruht damit auf Voraussetzungen, die selbst unsichtbar sind.
3.3 E RNIEDRIGUNG UND F OLTER Die Wächter trieben ihren Spott mit Jesus. Sie schlugen ihn, verhüllten ihm das Gesicht und fragten ihn: Du bist doch ein Prophet! Sag uns: Wer hat dich geschlagen? Und noch mit vielen anderen Lästerungen verhöhnten sie ihn. LUKAS 22, 63-65
Im Folgenden soll es einerseits um das allgemeine Phänomen der „rituellen Erniedrigung“ gehen, das unter anderem Akte der Entwürdigung umfasst, andererseits aber um das besondere Gewaltphänomen der „Folter“, das ebenfalls eine Form der Erniedrigung darstellt. Es soll die These vertreten werden, dass es genau drei Typen ritueller Erniedrigung gibt, die sich jeweils durch eine spezifische Konfiguration von Individuum und Gruppe auszeichnen (3.3.1). Der erste Typus ist die Erniedrigung aus Demut: Das demütige Individuum unterwirft sich seiner Gruppe aus freien Stücken und darf im Gegenzug mit einer Statuserhöhung rechnen. Der zweite Typus, Erniedrigung in der Initiation, markiert den mehr oder minder freiwilligen Übertritt eines Außenstehenden in eine Gruppe. Wer sich hier erniedrigt und dadurch die Autorität der Gruppe bezeugt, wird in die Gruppe aufgenommen und erfährt hierdurch ebenfalls eine Statuserhöhung. Der dritte und letzte Typus, die rituelle Demütigung, der in den seltensten Fällen freiwillig auf sich genommen wird,
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richtet sich vornehmlich gegen Außenseiter, deren symbolischer Ausschluss den inneren Zusammenhalt der Gruppe stärken soll. Danach soll die These erhärtet werden, dass es sich bei Folter niemals nur um einen rein physischen oder instrumentellen Gewaltakt handelt, sondern immer auch um einen symbolischen Akt der Demütigung (3.3.2). Es ist unter anderem dieser demütigende Aspekt der Folter, der zu ihrer Ächtung im Zuge der Aufklärung geführt hat. Alle diese Formen der Erniedrigung spielen im empirischen Teil dieser Untersuchung eine wichtige Rolle. 3.3.1 Formen ritueller Erniedrigung – Demut, Initiation, Demütigung Möchte man die soziale Funktion von rituellen Formen der Erniedrigung verstehen, empfiehlt sich eine Auseinandersetzung mit Victor Turners Arbeiten zum Ritual (2005). Turners Begriff der „Liminalität“ steht bekanntlich für einen „antistrukturellen“ Übergang zwischen gesellschaftlichen Strukturen (2.3.1; 3.1.2). Die liminale Phase eines Rituals hebt die sozialen Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer Gruppe auf, was sich in einem Gefühl von Gemeinschaftlichkeit oder Communitas äußert. Symptomatisch sind hierfür die Feste einer Gesellschaft, aber wir können auch negative Ereignisse wie die gemeinschaftliche Trauer angesichts einer Katastrophe oder die kollektive Empörung in einem Skandal (5.3.3) dazu zählen. In allen diesen Fällen verliert das rein individuelle Erleben gegenüber dem gemeinschaftlichen bzw. kollektiven Erleben für die Dauer der liminalen Phase an Bedeutung. Allerdings fügen sich bei Weitem nicht alle Beispiele von Turner in dieses Schema: In den Amtseinsetzungsriten der Ndembu (2005: 97-101) oder in den achsenzeitlichen Religionen (2005: 185-189), aber auch in den klassischen Übergangsriten (Gennep 1999) steht nicht die Gruppe als undifferenzierte Einheit im Vordergrund, sondern ihr Verhältnis zu einzelnen Individuen. Dort finden wir „Rituale der Statusumkehrung“ (Turner 2005: 159-193), die nicht alleine das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe stärken, sondern auch den sozialen Status einzelner Individuen verändern. Dabei handelt es sich in aller Regel um temporäre Erniedrigungen, die eine dauerhafte Statuserhöhung des Erniedrigten zur Folge haben. Rituale der Erniedrigung markieren einerseits den Statuswechsel von Individuen, andererseits stellen sie soziale Mechanismen dar, durch welche sich Gruppen gegenüber Einzelnen behaupten. Hinter allen Ritualen der Erniedrigung steht, so die These, letztendlich die Autorität der sozialen Gruppe, die von Dieter Claessens treffend als „kleiner Leviathan“ (1993: 88) bezeichnet wurde, und damit die schiere Tötbarkeit des Einzelnen durch die Gruppe, die Möglichkeit äußerster Gewalt.26 In Ritualen der Erniedrigung verbleibt der „Tod“ des Individuums allerdings im Bereich des Symbolischen, was seine „Auferstehung“ als Repräsentant oder Mitglied
26 Man denke an die Feststellung von Hobbes (1999/1651: 94), dass die vereinte Macht der Schwachen selbst für den Stärksten eine Bedrohung darstellt.
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der Gruppe erst ermöglicht. In den Phänomenen der rituellen Erniedrigung tritt die von Durkheim (2005/1912) konstatierte „Transzendenz“ der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen deutlich zu Tage. Die hier vorgeschlagene Typologie ritueller Formen der Erniedrigung erhebt einen Anspruch auf Vollständigkeit, weil sie alle möglichen Beziehungen zwischen Individuum und Gruppe ausschöpft. Erstens geht es um das Verhältnis des Gruppenmitglieds zur Gruppe („Demut“), zweitens um den Außenstehenden, der in die Gruppe aufgenommen wird („Initiation“), und drittens um den Außenseiter, der aus der Gruppe ausgeschlossen wird („Demütigung“). Allen Formen der rituellen Erniedrigung wird in liberalen Gesellschaften mit zunehmender Skepsis begegnet. Dies liegt in ihrer spezifischen moralischen Ordnung begründet, die den Individuen eine immer größere Bedeutung beimisst (4.1.2). Die „Sakralisierung des Individuums“ (Durkheim 1986/1898; vgl. auch Joas 2011) und der Verlust einer allgemein-verbindlichen „positiven Transzendenz“ (Giesen 2005) haben zur Folge, dass extreme Formen der Erniedrigung nicht mehr gerechtfertigt werden können. Im Krieg darf der Gegner getötet, aber keiner entwürdigenden Behandlung unterzogen werden. Initiationsrituale, in denen sich Initianten freiwillig erniedrigen, wirken in der heutigen Öffentlichkeit barbarisch und müssen deshalb im Geheimen gepflegt werden. Nicht nur gegenüber erniedrigenden Initiationen oder dem demütigenden Ausschluss werden heutzutage Vorbehalte laut. Zunehmend steht auch die demütigende Aufopferung für unpersönliche Ziele unter Ideologieverdacht. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass subtilere Formen der rituellen Erniedrigung auch heute noch den Statuswechsel von Personen begleiten und in unserem Alltag allgegenwärtig sind. Wenn sich Mitglieder oder Repräsentanten einer Gruppe erniedrigen, indem sie sich der Autorität der Gruppe unterordnen, so zeigen sie Demut. Es ist sinnvoll, zwischen rituellen und sozialen Performanzen von Demut zu unterscheiden, wobei auch hier die Übergänge fließend sind. Rituale der Demut verlangen nichts weiter als Konformität mit einem Handlungsskript (2.3.1); eine soziale Performanz von Demut (2.3.3) muss hingegen zumindest den Anschein eines freiwillig vollzogenen Aktes erwecken, um auf Erfolg hoffen zu können. Entsteht der Eindruck, dass ein Politiker zum Rücktritt gezwungen wurde, kann er dies nur noch schwerlich als einen Akt der Demut verkaufen. Ist die Performanz von Demut erfolgreich, so wird dies dem Demütigen von Seiten der Gruppe als eine Aufopferung seiner Individualität und Person hoch angerechnet. Im Gegensatz zu den alltäglichen Ritualen der Ehrerbietung (Goffman 1991: 54-105), welche die soziale Ordnung affirmieren, handelt es sich bei Demutsbezeugungen um außeralltägliche Performanzen, die die soziale Ordnung zeitweise außer Kraft setzen. Sie zeichnen sich durch jenen antistrukturellen Kern aus, den Turner als „Statusumkehrung“ beschreibt (2005: 159193). Wer sich öffentlich erniedrigt, der stellt seine Person hinter den Interessen der Gruppe zurück und kann sich so als Repräsentant des Kollektivs inszenieren.
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Performative Akte der Demut schöpfen aus dem sozialen Imaginären einer Gesellschaft. In christlich geprägten Gesellschaften gilt Jesus als paradigmatisches und unübersteigbares Selbstopfer, das allerdings in Sokrates einen heidnischen Vorläufer hat (Därmann 2011: 39-45). Die Selbsterniedrigung des christlichen Gottes, der in menschlicher Gestalt auf die Welt kam, um sich für die Menschheit zu opfern, ist ein starkes Symbol, an dem sich viele christliche Märtyrer und Ordensgründer orientieren.27 Der Opfertod Jesu zeugt darüber hinaus von der engen Beziehung zwischen Erniedrigung und Gewalt. Den Tod freiwillig auf sich zu nehmen, ist der äußerste Akt der Demut. Der Tod darf allerdings nicht individuell-egoistisch motiviert sein, sondern muss im Dienst kollektiv anerkannter Ziele und Normen stehen. Auch wenn Demut im Christentum ohne Zweifel einen besonderen Stellenwert besitzt, finden sich vergleichbare Mythen und Praktiken auch in anderen Kulturen. Eine weniger gewalttätige Form der Demütigung sind die von Turner beschriebenen afrikanischen Amtseinführungsrituale (2005: 97-101, 162-164), die mit rituellen Beschimpfungen des künftigen Königs einhergehen. Ähnliche Muster – wenngleich in abgeschwächter Form – finden sich auch in westlichen Gesellschaften. So musste sich Queen Elizabeth bei ihrer Krönung mit einem Amtseid dem transzendenten Gesetz der Gruppe unterwerfen (Shils & Young 1975: 140-142).28 In der politischen Öffentlichkeit spielen Demutsbezeugungen auch heute noch eine große Rolle. Wird in einem Skandal die Verfehlung einer hochgestellten Persönlichkeit aufgedeckt, kann diese in einem Akt der Demut von ihren Funktionen zurücktreten und die ganze Schuld auf sich nehmen Im äußersten Fall bedeutet dies, dass der schuldlose Repräsentant die Verfehlungen der Gruppe auf sich nimmt. In westlichen Gesellschaften nehmen derartige Akte der Demut oft christomimetische Züge an. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist der Kniefall von Willy Brandt, dessen performative Qualität und nachträgliche Narrativierung von Christoph Schneider (2006) detailliert herausgearbeitet wurde. Indem sich der ehemalige Exilant und deutsche Bundeskanzler Brandt während seines Besuchs im Warschauer Ghetto gegenüber den Opfern der deutschen Gewaltherrschaft performativ erniedrigte und so die kollektive Schuld der Deutschen anerkannte, läutete er eine neue Phase in der Aufarbeitung des Holocausts ein. 29 Von dem Erfolg von 27 Auch das selbstauferlegte Martyrium von politisch oder religiös motivierten Terroristen greift auf die Rhetorik der Demut und Selbstaufopferung zurück (vgl. Deupmann 2010). 28 Der Amtseid lässt sich möglicherweise als eine Versprachlichung der Gruppengewalt gegenüber dem Individuum begreifen; in ähnlicher Weise trat der Eid vor Gericht als eine „tortura spiritualis“ an die Stelle der Folter (Weitin 2008: 9f.). 29 Brandts Kniefall erzielte seine Wirksamkeit vor einem christlichen Hintergrundverständnis: „Der Größte von euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber erniedrigt wird erhöht werden“ (Lukas 18, 14; zitiert nach Schneider 2006: 207; Hervorhebung von demselben). In der Performanz von Demut liegt aller-
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Demutsbezeugungen hängt nicht nur die Karriere von Politikern, sondern auch das Image ganzer Nationen ab. In der politischen Öffentlichkeit spielt die performative Inszenierung von Demut – wenn man einmal von der ritualisierten Erniedrigung anlässlich von Amtseinsetzungen absieht – vor allem in zwei Formen eine wichtige Rolle: Einer zunehmenden Beliebtheit erfreuen sich öffentliche Entschuldigungen (Cunningham 1999; Gibney et al. 2008), die sowohl persönlich als auch im Namen des Kollektivs erfolgen können. Diese Beliebtheit ist möglicherweise der relativen Unverbindlichkeit solcher Akte geschuldet.30 Demgegenüber ist ein Rücktritt – zumindest für den Amtsinhaber – mit gravierenden Konsequenzen verbunden. Aber gerade weil die persönlichen Kosten eines Rücktritts immens sein können, eignet er sich hervorragend, um Demut gegenüber dem Kollektiv zu zeigen. Auch im AbuGhraib-Skandal wurden Politiker zur Demut, zu öffentlichen Entschuldigungen und zum Rücktritt aufgefordert (8.2.2-3). Der Fall Abu Ghraib zeigt aber auch, dass eine rituelle Erniedrigung den Beteiligten oft schwer fällt. Gerade deswegen können Rituale und Performanzen der Demut – richtig eingesetzt – einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung sozialer Krisen und kultureller Traumata leisten. Aber auch bei biographischen Statuswechseln und der Aufnahme in eine Gruppe, die in der Regel zusammen fallen, spielen rituelle Erniedrigungen eine große Rolle. Initiationen sind rituelle Performanzen, die den Übertritt und die Aufnahme eines Individuums in eine Gruppe begleiten. Ferner handelt es sich dabei um klassische Übergangriten, die sich in drei Phasen unterteilen lassen (vgl. Gennep 1999): In der „Trennungsphase“ wird aus dem Außenstehenden ein Anwärter für die Gruppenmitgliedschaft; in der „Schwellenphase“ wird der Initiant seiner alten Identität beraubt; in der „Wiedereingliederungsphase“ wird dem Individuum als einem Mitglied der Gruppe schließlich eine neue soziale Identität zugewiesen. Am Beispiel von Initiationsritualen wird die transformative Kraft, die allen Ritualen zu eigen ist (2.3.1), besonders deutlich: Der Initiant erleidet einen symbolischen Tod, dem eine Wiederauferstehung als Gruppenmitglied folgt. Die liminale Phase eines Initiationsrituals zeichnet sich durch eine vorübergehende Statusminderung aus, die als rituelle Erniedrigung beschrieben werden kann. Dass die Initiation eines Mitglieds in vielen Fällen mit seiner rituellen Erniedrigung einhergeht, sollte nicht dings eine Gefahr, auf die schon Nietzsche aufmerksam machte: „Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden“ (zitiert nach Schneider 2006: 207; Hervorhebung von demselben). Der Erfolg einer sozialen Performanz hängt von ihrer Authentizität ab (2.3.3), was in diesem Fall bedeutet, dass nicht der Eindruck entstehen darf, dass der Demütige eigentlich erhöht werden will. Viele deutsche Zeitgenossen haben den Kniefall Brandts als Anmaßung empfunden, während er im Ausland durchweg positiv aufgenommen wurde. 30 Die anfängliche Zurückhaltung des amerikanischen Präsidenten Bush und seines Verteidigungsministers Rumsfeld im Fall Abu Ghraib, legt jedoch nahe, dass öffentliche Entschuldigungen mit „Kosten“ verbunden sind, die politische Akteure oft scheuen (8.2.2).
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überraschen: Voraussetzung der Mitgliedschaft in einer Gruppe ist, dass sich das neue Mitglied den Regeln der Gruppe unterwirft. Diese Unterwerfung unter die Autorität der Gruppe wird durch die rituelle Erniedrigung symbolisiert. Initiationsrituale ermöglichen eine scharfe Unterscheidung zwischen Mitgliedern und den Nichtmitgliedern einer Gruppe; zugleich sichern sie der Gruppe eine Exklusivität, da die negative Schwelle der Erniedrigung, die der Initiant übertreten muss, ein symbolisches Opfer darstellt. Die Initiation, der sich jedes Mitglied der Gruppe einmal unterwerfen musste, ist geradezu prädestiniert dazu, als ein Emblem der Gruppenmitgliedschaft zu fungieren. Initiationsrituale und Rituale der Demut machen sich beide den Mechanismus der Erniedrigung zu Nutze, um die Unterordnung des Individuums unter die Gemeinschaft zu symbolisieren. Auch in Initiationsritualen tritt der enge Zusammenhang von ritueller Erniedrigung und Gewalt deutlich zu Tage. So kommt in vielen Initiationsritualen dem Schmerz eine liminale und transformative Bedeutung zu (Morinis 1985). Hinter der Erniedrigung und den Schmerzen des Initiationsrituals verbirgt sich letztlich die symbolische Tötung des Einzelnen durch die Gruppe. Das durch Erniedrigung und Schmerz geläuterte Individuum wird anschließend als Mitglied der Gruppe wiedergeboren. Die rituelle Erniedrigung ist in Gruppen und Institutionen, die einen totalisierenden Anspruch auf ihre Mitglieder erheben, z.B. in Burschenschaften und Geheimgesellschaften, aber auch in der Armee, besonders stark ausgeprägt. Erniedrigende Initiationsrituale sind heute unter Verdacht, die Würde des Einzelnen zu verletzen, weswegen sie meist im Verborgenen praktiziert werden. Geraten sie an das Licht der Öffentlichkeit, können sie als moralische Verfehlungen skandalisiert werden – selbst wenn die Initiation auf Freiwilligkeit beruhte.31 In der szenischen Choreographie lassen sich solche Initiationsrituale oft nicht von intentionalen Demütigungen unterscheiden. In der Literatur zu Abu Ghraib findet sich daher immer wieder die irreführende These, dass es sich bei den Missbrauchsfällen um eine Initiation der Gefangenen in die amerikanische Kultur gehandelt habe (7.4). Übersehen 31 Im Jahr 2007 erregte in Deutschland ein Skandal um die Erstlingshundeführertaufen an der Polizeischule Herzogau die Gemüter. Die angehenden Hundeführer wurden einem erniedrigenden Initiationsritual unterzogen, das in der deutschen Presse mit den Bildern aus Abu Ghraib verglichen wurde (vgl. 7.3.3): Die Initianten wurden wie Hunde an der Leine geführt, mussten Trockenfutter essen und eine gelbe Flüssigkeit aus einem Hundenapf trinken, von der in einem anonymen Schreiben behauptet wurde, dass es sich dabei um Urin gehandelt habe; weibliche Hundeführer mussten sich darüber hinaus einem Striptease unterziehen und sollen auch sexuell gedemütigt worden sein; bei alledem wurden die Initianten fotografiert. Aber es geht auch anders herum: So verglich Rush Limbaugh die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib mit den Erniedrigungsritualen der Geheimgesellschaft Skull and Bones an der Yale University, zu deren Mitgliedern sowohl der damalige Präsident Bush als auch sein Herausforderer Kerry gehörten (8.3.3).
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wird dabei allerdings, dass der Mechanismus der Erniedrigung in Initiationen und Demütigungen eine grundverschiedene Funktion erfüllt. Die vorübergehende Statusminderung während der Initiation stellt eine liminale Gleichheit zwischen den Partizipanten her, da sich alle Mitglieder der Gruppe diesem Ritual einmal unterwerfen mussten. Demütigungen basieren hingegen auf dem Ausschluss von Außenseitern, denen die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe verwehrt wird. Im Gegensatz zu Performanzen der Demut und zu Initiationsritualen richten sich rituelle Demütigungen vor allem gegen Außenseiter oder Angehörige einer Fremdgruppe. Kommen sie einmal gegenüber Gruppenmitgliedern zur Anwendung, können sie eine permanente Statusminderung oder gar den Gruppenausschluss zur Folge haben. Die Logik der Demütigung hat Harold Garfinkel (1956) in einem kleinen Aufsatz über „degradation ceremonies“ beschrieben. So muss eine öffentliche Degradierung in den Augen der Gruppe als legitim erscheinen, ansonsten ist die Performanz zum Scheitern verurteilt. Garfinkel betont die Außerordentlichkeit und Liminalität eines Degradierungszeremoniells: „Both event and perpetrator must be removed from the realm of their everyday character and be made to stand as ‚out of the ordinary‘“ (1956: 422). Das Opfer einer Degradierungszeremonie, von Garfinkel „perpetrator“ genannt, wird aus der Gruppe herausgelöst und mit der negativen Seite des moralischen Codes assoziiert. Ist die Performanz erfolgreich, folgt eine totale Zerstörung und Transformation der sozialen Identität des Degradierten, die sich auch rückwirkend zeigen kann: „What he is now is what, ‚after all,‘ he was all along“ (1956: 422). Degradierungszeremonien unterscheiden sich von alltäglicheren Formen der Bestrafung, da sie nicht in erster Linie der Sanktionierung von Handlungen, sondern dem symbolischen Ausschluss einer ganzen Person dienen. Von einer Entwürdigung kann man dann sprechen, wenn die Demütigung so weit geht, dass sie die Würde der betreffenden Person verletzt (3.2.2). Eine Demütigung kann aber auch die Ehre einer Person angreifen (3.2). In der Antike demütigte man den besiegten Feind, indem man ihn unter ein Joch zwang, was einerseits seine Unterwerfung unter die siegreiche Gruppe symbolisierte, andererseits aber auch seine Ehre als Krieger in Frage stellte. Ein anderes Beispiel für einen demütigenden Ritus ist die öffentliche Degradierung von Alfred Dreyfus (vgl. Begley 2009: 30f.), der nach seiner (ungerechten) Verurteilung unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde. Auch in heutigen Armeen werden Soldaten, wenn sie sich schwerer Vergehen schuldig machen, unehrenhaft entlassen oder aber degradiert – wie beispielsweise die Täter von Abu Ghraib (8.5.1). Unehrenhafte Entlassungen stellen als spezifische Form der Demütigung eine außerordentliche Form der Bestrafung dar, die sich nicht alleine auf die ökonomische Versorgung der Betroffenen, sondern auch auf ihre soziale Ehre auswirkt. Im Gegensatz zu Initiationsritualen, die auf der Autorität der Gruppe basieren und von den Initianten freiwillig auf sich genommen werden, sind rituelle Demütigungen auf sozialen Zwang und letzten Endes auf die Androhung physischer Gewalt angewiesen. Der kollektiven Demüti-
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gung folgt keine Aufnahme des Gedemütigten in die Gruppe, sondern dessen radikale Ausschließung. Die Gruppe der Demütigenden wertet sich auf seine Kosten auf und sichert sich durch den symbolischen Ausschluss ihren Zusammenhalt. Demütigungen können Angehörigen von Fremdgruppen und Außenseitern sogar den Status des Menschseins absprechen, was eine Entwürdigung der Opfer bedeutet. Hier ist die Gruppe alles, ihre Opfer nichts. In letzter Konsequenz führt diese Entmenschlichung zur Figur des „homo sacer“ (Agamben 2007/1995), der sich durch schiere Tötbarkeit auszeichnet und der Gewalt der Gruppe unterworfen ist. Ein Beispiel für Demütigungen sind die Performanzen von Abu Ghraib, wo auf Gefangenen wie auf Tieren geritten wurde oder diese an einer Hundeleine gehalten wurden (vgl. Boogs 2008; siehe auch 7.3.3). Die Entmenschlichung des Feindes im Krieg ist keine Seltenheit und geht oft mit seiner verbalen Erniedrigung einher: Im Vietnamkrieg gaben die Amerikaner ihren Feinden den abfälligen Namen „gooks“, in Afghanistan und im Irak nannten sie sie „hajis“ – wobei zwischen dem „eigentlichen“ Feind und der zivilen Bevölkerung selten unterschieden wurde. 32 Die soziale Imagination des Anderen ist nicht alleine für Gewaltakte von Bedeutung (3.1.2), sondern auch für die symbolische „Gewalt“ ritueller Demütigungen. 3.3.2 Folter als Verhörtechnik und rituelle Demütigung Der Begriff der „Folter“ ist alles andere als unumstritten, wie nicht zuletzt die jüngere Folterdebatte und der Diskurs zu Abu Ghraib gezeigt hat. In der Regel wird dem politischen Gegner vorgeworfen, sich der Folter als eines unzulässigen Mittels zu bedienen, während man die eigene Verhörtechnik lieber als „harsh“ bzw. „enhanced interrogation“ bezeichnet (6.4.1). Einen ersten Ansatz zur Bestimmung des Phänomens bietet die UN-Folterkonvention, die Folter einerseits über die Intensität des Gewaltaktes, andererseits über seine kollektive Intentionalität definiert: Folter sei eine Handlung, „die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen“ zufügt, die aber zugleich „von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person“ verursacht bzw. veranlasst wurde oder mit dessen „ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis“ geschah (UN 2004/1984: 123; Hervorhebung W.B.). Zunächst einmal ist festzuhalten, dass selbst diese allgemein anerkannte Definition von Folter unscharf ist: Wann werden körperliche und seelische Schmerzen so groß, dass sie die Rede von Folter rechtfertigen? Diese Unschärfe ist nicht unbedingt ein Mangel der vorliegenden Definition. Soziale Normen sind immer unterbestimmt, interpretationsbedürftig und daher auf die Einbettung in einen kulturellen Hintergrund angewiesen (1.1.4; 1.2). Bemerkenswert ist weiterhin, dass die jeweilige Motivation des Gewaltaktes, also ob Folter nun zur „Strafe“, zum Erzwingen ei32 Bob Herbert legte in einem Artikel nahe, dass diese verbale Erniedrigung den Missbrauch in Abu Ghraib erleichterte, vgl. „‚Gooks‘ to ‚Hajis‘“, The New York Times, 21. Mai 2004.
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nes Geständnisses bzw. einer Aussage oder aber aufgrund „irgendeiner Art von Diskriminierung“ eingesetzt wird (UN 2004/1984: 123), in der vorliegenden Definition keine Rolle spielt. Die in dem Dokument aufgelisteten Motive dienen lediglich der Illustration des Phänomens. Schließlich wird der Begriff der Folter aber auf Gewaltakte eingeengt, die im öffentlichen bzw. staatlichen Auftrag oder aber mit staatlicher Duldung geschehen. Entscheidend ist somit nicht der intentionale Gehalt der Folter, beispielsweise ein bestimmtes Motiv, sondern der kollektive Modus der Intentionalität (1.1.2), der die Praxis der Folter an den Staat zurückbindet (4.2.2). Folter ist – zumindest nach dieser Definition − immer schon staatliche Folter. In der Geschichte der Menschheit wurde schon immer gefoltert – wenngleich individuelle Motive, soziale Imaginationen und gesellschaftliche Funktionen der Folter einem historischen Wandel unterliegen (vgl. Peters 1991; Binder 2010c). Betrachtet man Folter als instrumentellen Gewaltakt, so wird deutlich, dass sie als Mittel für eine Vielzahl von Zwecken eingesetzt wurde. Die sogenannte „Marter“ war eine elaborierte Straftechnik, die dem Delinquenten das ihm gebührende Quantum Schmerz zufügte. Daneben diente Folter auch als Verhörtechnik, beispielsweise als ein Mittel der Produktion von Wahrheit in juristischen Prozessen: So wurden beispielsweise im antiken Griechenland im Zuge gerichtlicher Verfahren an der Tat nicht beteiligte Sklaven gefoltert, um ihren Zeugenaussagen die Gültigkeit eines Beweises zu verleihen (DuBois 1991: 65f.); im europäischen Mittelalter war es hingegen rechtsgültig, dem Beschuldigten mit Hilfe von Folter ein Geständnis abzupressen, aufgrund dessen er dann verurteilt werden konnte (vgl. Langbein 2006). Wenn heute in liberalen Demokratien über die Zulässigkeit von Folter diskutiert wird, so ist damit weder die Folter als Körperstrafe gemeint, welche gegen das liberale Recht auf körperliche Unversehrtheit verstößt (4.1.2), noch die Anwendung von Folter in rechtlichen Verfahren, die sich nicht mit dem modernen Rechtverständnis vereinbaren lässt. Moderne Folter ist kein Mittel der Rechtsvollstreckung und Rechtsfindung, sondern in erster Linie eine Verhörtechnik, die der zeitnahen Beschaffung (kriegs-)wichtiger Informationen dienen soll (vgl. Rejali 2007). Dem Phänomen der Folter wird man nicht gerecht, wenn man es auf seine instrumentelle Dimension reduziert. Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass es sich bei Folter nicht primär um eine Verhörtechnik, sondern um eine rituelle Demütigung und Entwürdigung handelt. Gegen die Vorstellung von Folter als einer Verhörtechnik lässt sich anführen, dass die Rede von einer „Technik“ eine Beherrschbarkeit impliziert, die in der Anwendung von Folter so nicht gegeben ist. Vor allem zwei Probleme drängen sich bei der Betrachtung von Folter als Verhörtechnik auf: Einerseits nutzt sich das Drohmittel der Gewalt, das in Verhören zum Einsatz kommt, durch seinen Gebrauch ab, andererseits lassen sich keine „internen“ Kriterien für den Erfolg oder Misserfolg eines Verhörs angeben. Zunächst zu dem ersten Problem: Das Repertoire der Gewalt, mit dem der Verhörte zum Reden gebracht werden soll, ist begrenzt. Ist das Opfer nicht geständig,
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lässt sich die Folter nur noch wiederholen und intensivieren. Allerdings stumpft die Schmerzempfindung immer weiter ab. Hierauf kann der Folterer seinerseits mit einer weiteren Intensivierung des Schmerzes antworten, die allerdings das Problem nur verschärft. Während technische Probleme in der Regel durch Aufspüren der Ursachen und Verfeinerung der Instrumente gelöst werden, trifft dies auf die Folter nur begrenzt zu. Trotz einer zunehmenden Verwissenschaftlichung der Folterpraxis im 20. Jahrhundert gibt es einen allgemeinen Konsens unter Wissenschaftlern, dass die Aussagekraft unter Folter gewonnener Informationen in hohem Grade zweifelhaft ist. Damit wären wir beim zweiten Problem angelangt: Selbst wenn der Gefolterte gesprächig ist, lässt sich der Wahrheitsgehalt seiner Aussage schwerlich nachprüfen – Wahrheitsserum und Lügendetektor blieben Illusionen. Weil es – abgesehen von der „Intuition“ des Folterers – keine Kriterien des Erfolgs oder Misserfolgs gibt, muss jede unter Zwang abgepresste Information noch einmal extern überprüft werden. Dies ist allerdings schon lange bekannt: Bereits in der Rhetorik von Aristoteles ist zu lesen (1. Buch, XV), dass Menschen unter Folter alles Mögliche sagen. Angesichts der Mängel, die eine Konzeption von Folter als Verhörtechnik aufweist, erscheint eine Betrachtung der Folter unter rituellen und performativen Aspekten lohnend. Elaine Scarry (1992) zufolge ist die Gewinnung von Informationen nur ein vorgeschobenes Motiv, das der Rechtfertigung der Folter dient, nicht aber ihr „tatsächliches“.33 Aus einer soziologischen Perspektive bietet es sich an, zwischen der vorgeschobenen, „manifesten Funktion“ der Folter und ihren „latenten Funktionen“ zu unterscheiden (vgl. Merton 1995a). Randall Collins argumentiert, dass es sich bei Folter primär um ein Ritual der Unterwerfung und einen Mechanismus der sozialen Stratifizierung handele (1974: 422). Ein Blick in die Geschichte gibt ihm Recht: Folter kam fast ausschließlich gegenüber den statusniedrigen Mitgliedern einer Gesellschaft oder gegenüber Fremden zum Einsatz (vgl. Peters 1991: 33-107). Im antiken Griechenland war Folter den Sklaven vorbehalten, heute sind es vor allem Ausländer und nicht die eigenen Bürger, die der Folter unterworfen werden (Einolf 2007). Die rituelle Demütigung der Folter zieht soziale Grenzen und reproduziert die jeweilige gesellschaftliche Ordnung; sie schafft ein konstitutives Außen, das die symbolische Ordnung einer Gesellschaft stabilisiert. Neben dieser rituellen Funktion lässt sich der Folter aber auch eine theatralische Dimension zuschreiben. So heißt es bei Sofsky: „Der Folterkeller ist kein Ort der Vernehmung und Ermittlung, er ist ein Schauplatz absoluter Gewalt“ (1996: 88). Scarry zufolge ist die Rede vom „Schauplatz“ symptomatisch für die Struktur der Folter: „Es ist kein Zufall, wenn der Raum, in dem die Brutalitäten stattfinden, von den Folterern auf den Philippinen „das Atelier“, in Südvietnam „das Kino“ und in Chile „die blaue Bühne“ ge33 Vgl. Wolfgang Sofsky: „Die Tortur ist kein Werkzeug des Verhörs. Wer sie mit instrumenteller Gewalt gleichsetzt, wiederholt nur die Rechtfertigung der Täter“ (1996: 88).
154 | A BU G HRAIB UND DIE FOLGEN nannt wurde. Die Folter, die auf solchen wiederholten Akten der Schaustellung aufbaut, deren einziger Zweck es ist, eine phantastische Illusion von Macht herzustellen, ist ein groteskes Kompensationstheater.“ (Scarry 1992: 44)
Im Folterkeller manifestiert sich die absolute Gewalt des Folterers – und damit der totale Machtanspruch des Staates, in dessen Auftrag der Folterer handelt. Zugleich dokumentiert sich in der Folter aber auch die Ohnmacht des Staates – denn Gewalt fängt da an, wo Macht aufhört (3.1). In der Folter wird, so Scarry (1992), eine „fiktive“ Macht des Staates in Szene gesetzt, indem sie den Schmerz des Gefolterten objektiviert und in „Insignien der Macht“ transformiert. Die Agenten des Staates, die Folterknechte, müssen ihr Metier im Geheimen ausüben und pflegen dabei nicht selten ein Elitenbewusstsein (vgl. Huggins et al. 2002), das gewisse Parallelen zum „folternden Helden“ in der amerikanische Populärkultur nach 9/11 aufweist (6.4.2). Obwohl Folter in der modernen Gesellschaft im Geheimen stattfinden muss, ist ihre Existenz in der Regel ein offenes Geheimnis, was unter anderem die Bekanntheit des Gefangenenlagers in Guantanamo Bay zeigt (vgl. Binder et al. 2011: 239-245). Staatliche Folter besitzt trotz ihrer Geheimhaltung auch eine kommunikative Funktion: Sie kann gegenüber einem Publikum politische Entschlossenheit signalisieren, aber sie kann auch Furcht und Schrecken verbreiten. Folter ist immer in ein soziales Imaginäres eingebettet, das dieser Praxis ihren spezifischen Sinn verleiht (hierzu Binder 2010c). So hat Page Du Bois (1991) gezeigt, dass die antike Folterpraxis in Griechenland nur im Kontext der griechischen Konzeption der Wahrheit verständlich ist; ein vergleichbarer Zusammenhang lässt sich auch für die katholische Beichte und die mittelalterliche Folter konstatieren (Binder 2010c: 221). Dieser Einbettung in ein geteiltes Imaginäres ist auch der Tatsache geschuldet, dass sich die rituelle Demütigung der Folter auch in anderen Formen der Erniedrigung widerspiegelt. So hat Lisa Silverman (2001: 111-130) gezeigt, dass während der Blütezeit der Folter in Toulouse (1600-1788) religiöse Selbstgeißelungen sehr verbreitet waren. Diese Praktiken wurden als Akte religiöser Demut interpretiert, mit dem sich der Mensch in seiner Nichtigkeit dem Willen Gottes – dem durkheimianischen Platzhalter des Kollektivs – unterwarf. In dem Maße, wie allerdings die Würde des Menschen in das moderne Imaginäre Einzug hielt, begann auch die Legitimität der Folter zu bröckeln. Die Praxis der Folter – darüber besteht heute weitestgehend Konsens – lässt sich nur schwer mit der Würde des Menschen in Einklang bringen. Die Anwendung von Folter zerstört die Selbstachtung der gefolterten Individuen, die vor Schmerzen brüllen und sich einkoten, die dazu gezwungen werden, ihr Innerstes preiszugeben oder geliebte Personen zu verraten, und deren Selbst in der Folter letztlich aufs Spiel gesetzt wird. Diesem erniedrigenden Charakter der Folter war man sich auch schon in der Antike und im Mittelalter bewusst, wo freie Bürger bzw. Adelige von der Folter ausgenommen waren. Die durch die Folter erlittene Demütigung war mit
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der Ehre der höheren Stände schlichtweg unvereinbar. Erst im Zuge der Umstellung der gesellschaftlichen Semantik von Ehre auf Würde (3.2) kam es zu einer Universalisierung des Folterverbotes, zur Tabuisierung der Folter in der modernen Gesellschaft. Aber lässt sich die Abschaffung der Folter wirklich auf den Siegeszug der Idee der Menschenwürde zurückführen, oder gab es dafür auch andere Gründe? Zunächst ist zu konstatieren, dass der umfassenden Ächtung der Folter eine Ausweitung der Folterpraxis vorrausging. Dafür war in Europa vor allem ein christliches Imaginäres verantwortlich, das im Zuge des 12. Jahrhundert dem Schmerz eine spirituelle und reinigende Bedeutung verlieh. Dieser kulturelle Wandel äußerte sich unter anderem in der „Geburt des Fegefeuers“ (Le Goff 1984) und in der steigenden Beliebtheit von Heiligen- und Märtyrerlegenden (Binder 2010c: 220f.). Lisa Silverman konnte für das frühneuzeitliche Frankreich zeigen, dass die Verbreitung und Akzeptanz der Folter ebenfalls mit einer „valorization of pain“ (2001: 111130), einer Wertschätzung bzw. Adelung des Schmerzes, einherging. Diese speiste sich aus einer egalitaristischen, schmerzbetonten Imagination des Christentums, das sich unter anderem auch in der religiösen Praxis der Selbstgeißelung niederschlug. Nicht nur dem Schmerz der freiwilligen Selbstgeißelung wurde eine spirituelle, reinigende Funktion zuschrieben, sondern auch der Praxis der Folter. Die Zerstörung des Selbst hatte hier als eine Initiation in das Reich Gottes eine positive Bedeutung. Erst die Umwertung des Schmerzes im medizinischen Diskurs, so Silverman (2001: 133-152), führte dazu, dass die Folter ihre spirituelle Funktion verlor. Andere Erklärungen verweisen auf institutionelle Veränderungen, wobei auch diese letztlich auf einen Wandel des kulturellen Hintergrundes verweisen. John Langbein (2006) hat darauf hingewiesen, dass erst die Einführung der freien Beweisführung und des indirekten Beweises den rechtlichen Boden für eine Abschaffung der Folter bereitet habe, da die Rechtsprechung bis dato in vielen Fällen auf ein Geständnis des Beschuldigten angewiesen gewesen war. So überzeugend diese Erklärung auch sein mag, sie bleibt dennoch unvollständig. Einerseits bleibt erklärungsbedürftig, warum es zu einem Wandel des Rechtsverständnisses kam, andererseits erklärt die Tatsache, dass fortan funktionale Äquivalente zur Folter zur Verfügung standen, noch lange nicht deren Verschwinden. Michel Foucault argumentiert in Überwachen und Strafen (2003), dass an die Stelle der Ausübung von herrschaftlicher Souveränität, die sich auch in Praktiken der Marter und Folter manifestierte, eine Disziplinarmacht getreten sei, die in den pädagogischen Diskursen der Aufklärung ihren Anfang genommen habe. Hans Joas (2008) hat darauf hingewiesen, dass Foucaults These den Wertewandel vernachlässigt, der mit der Aufklärung einsetzte. Die Abschaffung der Folter verdankte sich damit auch der Entstehung einer modernen moralischen Ordnung, die der körperlichen Unversehrtheit und der Würde des Menschen einen höheren Stellenwert einräumte (4.1.2). In Deutschland vollzog sich die Abschaffung der Folter während der Amtszeit von Friedrich II. (Schmoeckel 2000; Weitin 2007). Mathias Schmoeckel zufolge
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wurde das preußische Folterverbot „zum Ausdruck einer Rechtauffassung mehrerer Jahrhunderte“ und „zum Symbol der Grundlagen einer politischen Ordnung“ (2000: 585). Allerdings wurde die Abschaffung der Folter zunächst geheim gehalten (Weitin 2007: 280f.). So konnte Folter noch als Drohmacht genutzt werden, auch wenn die Drohung nicht mehr durch eine entsprechende Aktionsmacht gedeckt war. Erst als es öffentlich gemacht wurde, konnte das Folterverbot seinen Symbolwert erlangen. In ähnlicher Weise muss auch der semi-öffentlichen Aufweichung des Folterverbotes im Krieg gegen den Terror eine symbolische Funktion zugesprochen werden (vgl. Binder 2013a). Die Abschaffung der Folter – wie auch ihre zeitweilige Rehabilitierung – stellte nicht das Ergebnis eines rationalen Diskurses dar, sondern verdankt sich einem Wandel des sozialen Imaginären: „Der Kampf gegen die Folter war ein großer historischer Kampf gegenläufiger Imaginationen. Es waren keine rationalen Argumente, die zur Abschaffung der Folter im europäischen Strafprozess führten, wenn man unter „rationalen Argumenten“ solche versteht, die vor allem das Zweifelhafte, mangelnd Sachdienliche erforderter Geständnisse betonten, und sich gegen irgendwelche Borniertheiten durchgesetzt hätten, die an deren Verlässlichkeit geglaubt hätten. [...] Betrachtet man die Geschichte der Folter und ihrer Abschaffung, ist nicht jene, sondern diese die Ausnahme und das Explanandum.“ (Reemtsma 2005: 80f.)
Nicht die Untauglichkeit der Folter als Verhörmethode war Reemtsma zufolge für deren Abschaffung ausschlaggebend, sondern die Ausweitung von Bürgerrechten auf alle Individuen – die Idee der Menschenrechte. Es war eine Veränderung im sozialen Imaginären, eine Sakralisierung des Individuums, das vor dem Staat geschützt werden musste (4.1.2), die zur Abschaffung der Folter führte (2005: 87). Diente die Erklärung der Menschenrechte im Zuge der französischen Revolution noch in erster Linie der Selbstkonstitution des französischen Volkes als einem politischen Demos (vgl. Gauchet 1991), wandelte sich die Deutung der Menschenrechte in den folgenden 150 Jahren – hin zu einem stärkeren Schutz der Individuen vor der Übermacht des Staates (4.1.2). So wurde in Frankreich im Zuge der Dreyfus-Affäre die Liga der Menschenrechte gegründet, zu deren Gründungsmitgliedern auch Émile Durkheim zählt. Die Idee einer unveräußerlichen Würde des Menschen und die Ächtung von Grausamkeit (3.2) führten dazu, dass Folter zunehmend als Entwürdigung und Entweihung des innersten Heiligtums eines Menschen wahrgenommen wurde. Wie Reemtsma in seiner Geschichtsdeutung betont, handele es sich bei der Abschaffung der Folter um einen historischen Prozess, der prinzipiell umkehrbar sei. Die Folterdebatte nach dem 11. September 2001 ist ein treffendes Beispiel einer solchen Veränderung im sozialen Imaginären (6.4.2), die sich allerdings nach dem Abu-Ghraib-Skandal wieder ein Stück weit normalisierte (10.4).
4. Moral und Öffentlichkeit
Seit ihren Anfängen gehört die Moral zum Kerngeschäft der Soziologie, wenn auch die Annahme einer moralischen Integration der Gesellschaft in den letzten Jahren zunehmend in Kritik geraten ist (z.B. Luhmann 1997: 1043; 2008). Diese Kritik ist in zweierlei Hinsicht berechtigt. Einerseits problematisiert die Diversifizierung der Moral in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus die Rede von der einen Moral der Gesellschaft. Andererseits steht die Moral in Konkurrenz zu anderen Wertorientierungen wie dem Streben nach ökonomischem Profit, nach wissenschaftlicher Wahrheit oder aber politischer Macht. Dem ersten Einwand lässt sich entgegenhalten, dass eine öffentliche Moral gibt, die gesellschaftsweite Geltung beansprucht. Im Folgenden wird es in erster Linie um diese öffentliche Moral gehen, die in zivilgesellschaftlichen Diskursen zum Ausdruck kommt (4.3). Dem zweiten Einwand soll hier im Rückgriff auf den Soziologen Karl-Otto Hondrich Rechnung getragen werden, der Moral als „Supermacht der demokratischen Gesellschaft“ bezeichnet (2002: 161). Ihm zufolge stellt die Moral kein eigenständiges Subsystem der Gesellschaft dar, weil sie selbst das Prinzip der funktionalen Differenzierung steuert. 1 Die Macht des Geldes und der Politik, wie Hondrich am Beispiel von Skandalen zeigt, findet ihre Schranken in der öffentlichen Moral. Ob Dienstleistungen wie die Bereitstellung von Trinkwasser privatisiert werden sollten, ist zunächst keine rein wirtschaftliche Entscheidung (gleichwohl sich nur dann Investoren finden, wenn das Angebot lukrativ ist), sondern eine politische Entscheidung, die sich öffentlich und moralisch rechtfertigen muss. Zwar müssen nicht immer moralische Kriterien in der Debatte ausschlaggebend sein, aber selbst die Einstufung eines Problems als moralisch irrelevant erfolgt immer schon vor einem moralischen Hintergrund. Zumindest für den Kernbereich der öffentlichen Moral gilt immer noch, was Talcott Parsons und Edward Shils vor einem halben Jahrhundert gesagt haben:
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Auch Niklas Luhmann (1986/1965) hat sich in einem frühen Werk mit den verfassungsrechtlichen und sozialen Vorrausetzungen der funktionalen Differenzierung beschäftigt – ohne allerdings deren moralischem Fundament angemessen Rechnung getragen zu haben.
158 | A BU G HRAIB UND DIE FOLGEN „Moral value standards are the most comprehensive integrative standard for assessing and regulating the entire system of action under consideration, whether it be a personality or a society or a subsystem of either. They are the ‚court of last appeal‘ in any large-scale integrative problem within the system.“ (Parsons & Shils 1962/1951: 73f.)
Die Imagination von Gesellschaften als moralischer Gemeinschaften findet öffentlich statt. Erst in der Sphäre der Öffentlichkeit (4.2) kann sich als kollektive Reaktion auf skandalöse Moralverletzungen eine gemeinsame moralische Ordnung bilden. In dieser Studie wird es vorwiegend um die öffentliche Moral gehen, auch wenn gruppenspezifische Moralvorstellungen bei den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib sicherlich handlungsleitend waren (7.4). Die Macht der öffentlichen Moral kann Politiker zu öffentlichen Entschuldigungen oder zum Rücktritt zwingen (8.2.2-3), sie kann Unternehmen zum Einlenken bewegen (z.B. Brent Spar) oder zu Gesetzesänderungen führen (z.B. § 218). Moral legt zwar nicht fest, was als wissenschaftliche Wahrheit zu gelten hat, sie setzt aber dem Forscherdrang moralische Grenzen. Erst die Öffentlichkeit verleiht der Moral eine gesellschaftumspannende Bedeutung. Nach Habermas handelt es sich bei der Öffentlichkeit um einen offenen, aber zugleich strukturierten Raum für Kommunikation. Öffentliche Macht ist immer kommunikativ erzeugte Macht. Der Begriff der Öffentlichkeit umfasst eine Bandbreite von Bedeutungen, die in der Analyse des empirischen Datenmaterials eine Rolle spielen werden. Die öffentlichen Straßen von New York, Bagdad oder Teheran, auf denen politische Aktivisten und Propagandisten die Bilder von Abu Ghraib bearbeiteten und verbreiteten (9.4), funktionieren nach einer anderen Logik als die mediale Öffentlichkeit, in der die Fotografien erstmals gezeigt worden waren (8.1). Die erste Form von Öffentlichkeit ist auf körperliche Anwesenheit angewiesen, während die mediale Öffentlichkeit an keinen konkreten Ort gebunden ist. Des Weiteren lässt sich zwischen einem individuellen Begriff von Öffentlichkeit, der auf freie Zugänglichkeit abstellt (4.2.1), und einem kollektiven Begriff von Öffentlichkeit, der auf die Interessen und Werte eines Kollektivs abzielt (4.2.2), unterscheiden. Schließlich kann „Öffentlichkeit“ auch in einem „emphatischen Sinn“ verwendet werden, insofern eine „deliberative Öffentlichkeit“ gewisse Rationalitätskriterien erfüllt, die von außen an sie herangetragen werden. Von einer solchen Verwendungsweise soll im Folgenden aber ausdrücklich abgesehen werden. „Öffentlichkeit“ wird ausschließlich in einem deskriptiven Sinn verwendet, wobei natürlich den normativen Gehalten von öffentlichen Diskursen als einem Teil des Untersuchungsgegenstandes Rechnung getragen werden muss. Im Folgenden wird die These vertreten, dass politische Öffentlichkeiten als zivilgesellschaftliche Diskurse verstanden werden können, die sich in erster Linie an dem binären Code einer öffentlichen Moral orientieren (4.3.1), aber auch von sekundären Codes und politischen Programmen strukturiert werden (4.3.2).
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4.1 M ORAL Wir wollen die Moral nicht aus der Wissenschaft ableiten, sondern die Wissenschaft der Moral betreiben, was etwas ganz anderes ist. ÉMILE DURKHEIM, VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE DER ARBEITSTEILUNG (2004/1893: 76)
Als die Soziologie im Begriff stand, sich als wissenschaftliche Disziplin herauszubilden, galt die wissenschaftliche Erforschung der Moral als ihre vornehmste Aufgabe. Davon zeugen Webers enzyklopädisches Interesse an der Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Simmels frühes Werk zur Moralwissenschaft, das auch heute noch von soziologischem Interesse ist, und Durkheims Auseinandersetzung mit der Moral, die sich durch sein gesamtes Werk zieht und in einem (leider nichtvollendeten) opus magnum mit dem Titel „Die Moral“ kulminieren sollte. Im Anschluss an die Arbeiten von Durkheim soll zunächst eine nähere Bestimmung des Begriffs des „Moralischen“ erfolgen. In den letzten Jahren steht „Moral“ – zumindest was die soziologische Theoriebildung angeht – nicht besonders hoch im Kurs. Während der wohl wichtigste Soziologe des 20. Jahrhunderts, Talcott Parsons, der Moral noch eine integrative Funktion für Gesellschaften zugesprochen hatte, forderte sein Epigone Niklas Luhmann, dass „die Vorstellung einer moralischen Integration der Gesellschaft“ (1997: 1043) aufgegeben werden solle. Die ein oder andere Zeitdiagnose scheint dieser Skepsis Recht zu geben: In der Postmoderne löse sich die universelle Moral in eine prekäre Ethik der Toleranz und eine Vielzahl von individuellen und partikularen Moralvorstellungen auf (Bauman 2009). Mitschuld an der Misere der Moralsoziologie trägt die sogenannte „kritische Soziologie“, die unter der Federführung von Jürgen Habermas an der Universalität moralischer Normen festhält, ohne sie einer nüchternen, wissenschaftlichen Analyse unterziehen zu wollen. 2 Die folgenden Überlegungen knüpfen an die klassische Tradition der Soziologie an, für die 2
Habermas’ Unterscheidung zwischen einer alle verpflichtenden Moral und einer partikularistischen Ethik, die auf die Konzeptionen der „Moralität“ bei Kant und der „Sittlichkeit“ bei Hegel zurückgeht, ist in soziologischer Hinsicht fragwürdig. Während „Moralität“ der Denkerstirn in voller Rüstung als ein aus Vernunftprinzipien deduziertes System entspringt, ist „Sittlichkeit“ mit dem Makel des Konkreten, Empirischen und historisch Kontingenten behaftet. Für Habermas (1991) ist universelle Moral das Produkt eines rationalen und herrschaftsfreien Diskurses. Der Hiatus zwischen Sein und Sollen wird hier durch die Parallelisierung von normativen und kognitiven Geltungsansprüchen zum Verschwinden gebracht. Eine Kultursoziologie muss der historischen Kontingenz von kognitiven Wahrheitsansprüchen und normativen Geltungsansprüchen Rechnung tragen. Sie sollte sich hierfür stärker an Hegels empirischer Konzeption der Sittlichkeit orientieren.
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Moral noch der „Kitt“ der Gesellschaft und ein Motor der gesellschaftlichen Entwicklung war.3 Allerdings darf die moralische Ordnung moderner Gesellschaften nicht als Ergebnis einer linearen gesellschaftlichen Evolution begriffen werden, sondern ist als Resultat kontingenter Ereignisse und gesellschaftlicher Diskurse aufzufassen. Die im Folgenden vertretene These, dass Moral als symbolische Ordnung durch Unvollständigkeit und Ambivalenz gekennzeichnet ist (4.1.2), rückt die Veränderbarkeit moralischer Ordnungen in den Vordergrund. Im Folgenden geht es vor allem um die Erschütterungen und Verwerfungen in der „moralischen Landschaft“ (Taylor 1994), die Ereignisse wie der 11. September 2001 (6.4) oder auch der Abu-Ghraib-Skandal (10.4) ausgelöst haben. 4.1.1 Moralische Tatbestände ‒ Soziologie als Moralwissenschaft Eingangs haben wir den Begriff der „sozialen Norm“ in Anlehnung an Luhmann als eine „kontrafaktisch stabilisierten Erwartungshaltung“ eingeführt (vgl. 1.1.1). Was das individuelle Bewusstsein angeht, so lässt sich zunächst sagen, dass Normen in der Vorstellung der Akteure bzw. in der reziproken Unterstellung von Akteuren existieren. Die normative Rahmung einer Handlung erfolgt nur in den wenigsten Fällen intentional, da diese immer schon in einen vorintentionalen Hintergrund des Handelns eingebettet ist (1.2.1). Daraus folgt, dass Normen in der Regel nur in ihrer Übertretung sichtbar werden. Normen sind nicht nur Teil der kognitiven Erfassung von Situationen, sondern werden auch von Emotionen begleitet, was sich in Durkheims „Gefühl der Obligation“ (1996: 124-129) und der Empörung angesichts einer Normverletzung äußert (5.3.3). Eine soziale Norm entsteht im Zusammenspiel von kognitiven, emotionalen und evaluativen Komponenten. Genauer betrachtet erweist sich die soziale Norm als ein paradoxes Phänomen: Sie ist auf die Enttäuschung ihrer Erwartung angewiesen, also auf Normverstöße, weil ihr normativer Gehalt nur im Beibehalten der Erwartung angesichts ihrer Enttäuschung aufscheint. Anders gesagt: Würde niemand hin und wieder gegen eine Norm verstoßen, wären wir nicht in der Lage, sie von bloßen Gewohnheiten zu unterscheiden; traditionales und normatives Handeln fielen in eins. Normen sind nicht nur deskriptiv erfassbare Regelmäßigkeiten des Handelns, sondern fungieren auch als präskriptive Handlungsmodelle. Aus diesem Grund muss ihnen auch eine kausale Wirksamkeit zugesprochen werden. Des Weiteren müssen Normen latent bleiben, um für sich eine fraglose Geltung beanspruchen zu können. Die Thematisierung einer Norm birgt Gefahren, da sie ihre Kontingenz und Austauschbarkeit 3
Natürlich unterschlägt diese Zuspitzung, dass es auch in den letzten Jahren wichtige Beiträge zur Soziologie der Moral gab. Zu nennen sind insbesondere die Arbeiten zu Regimen der Rechtfertigung von Luc Boltanski und Laurent Thévenot (2007), Axel Honneths Analyse der moralischen Grammatik sozialer Konflikte (1992) sowie Philip Smiths und Jeffrey Alexanders Studien zu zivilgesellschaftlichen Diskursen (z.B. 1994; vgl. 4.3.1).
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sichtbar macht. Von Zeit zu Zeit muss es aber zu manifesten Normverstößen und zur Thematisierung der Norm kommen, da diese ansonsten vollends aus dem kulturellen Hintergrund verschwinden würde. Nichtsdestotrotz erschüttert jede Verletzung einer Norm das Vertrauen in die Geltung dieser Norm. Aus diesem Grund muss auf Übertretungen der Norm mit Emotionen und Sanktionen reagiert werden. Normen existieren in allen gesellschaftlichen Teilbereichen. Sie regeln das korrekte Ausfüllen von Formularen, den Ablauf religiöser Zeremonien und die Durchführung von Forschungsvorhaben. Es erschließt sich nicht auf den ersten Blick, wie sich moralische Normen von anderen sozialen Normen abgrenzen lassen. Im Folgenden soll ein Vorschlag von Richard Münch aufgegriffen werden, der „moralische Achtung als ein Medium der Kommunikation“ begreift, das prinzipiell „eine globale Reichweite“ besitzt (1995: 214). Ihm zufolge operiert moralische Kommunikation mit den Codewerten Achtung/Missachtung. Damit lassen sich moralische Normen über die Art der zu erwartenden Sanktion spezifizieren. Moralisch wird eine soziale Norm erst dann, wenn ihre Befolgung mit moralischer Achtung belohnt oder ein Verstoß gegen sie mit moralischer Ächtung sanktioniert wird. 4 War moralische Achtung in vormodernen Gesellschaften noch stärker an gesellschaftliche Positionen geknüpft (z.B. über „Ehre“), so dominieren heute zwei komplementäre Modi der Achtungsvergabe. Einerseits wird dem Einzelnen eine moralische Würde qua seines Status als Mensch zugeschrieben (3.2.2), andererseits muss sich jeder Einzelne seine moralische Achtung durch moralische Leistungen erwerben.5 Beide Modi der Achtungsvergabe verdeutlicht Münch mit einer erhellenden Metapher: Einerseits gebe es ein „moralisches Grundeinkommen“, die Würde des Menschen, andererseits könne das „moralische Eigenkapital“ durch einen moralischen Zuverdienst aufgebessert werden (1995: 225). Im Gegensatz zu anderen Formen der Beurteilung von Personen und Handlungen scheint sich moralische Achtung auf die ganze Person, nicht nur auf die jeweilige soziale Rolle zu beziehen. Analog zu der binären Codierung der moralischen Kommunikation lässt sich Moral als symbolische Ordnung begreifen, die sich an der Differenz des (moralisch) Guten und Schlechten bzw. „Bösen“ orientiert (4.1.2) – eine Modifikation der durkheimianischen Differenz zwischen dem „Heiligen“ und dem „Profanen“ bzw. 4
Auch beim Anfertigen von wissenschaftlichen Arbeiten gibt es Normen, z.B. unter welchen Umständen bestimmte Methoden zulässig sind oder in welcher Form die Darstellung zu erfolgen hat (Zitierweise etc.). Eine Übertretung dieser Normen ist aber noch keine moralische Verfehlung, ein Plagiat oder die Fälschung von Daten hingegen schon.
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Im Anschluss an Parsons und Shils können wir von einer Polarisierung von „ascription“ und „achievement“ sprechen (1962/1951: 82f.). Die moralische Ordnung moderner Gesellschaft (4.1.2) lässt askriptive Merkmale (außer Gattungsmerkmalen) zunehmend als moralisch irrelevant erscheinen. Außer der Heiligkeit des Individuums zählt nur noch die individuelle Leistung bei der Zuschreibung von moralischen Qualitäten.
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„Unheiligen“ (2005/1912). Moralische Normen fungieren als Programme, welche die Zuteilung von Achtung und Missachtung regeln, aber auch „moralisch gute“ von „moralisch schlechten“ Handlungen unterscheiden. Sowohl in teleologischen als auch in deontologischen Handlungsmodellen ist Moral als motivierender und damit auch kausal wirksamer Faktor zu berücksichtigen. Angesichts ihrer Relevanz für die Erklärung des Handelns und gesellschaftlicher Diskurse sollte die Soziologie das Phänomen der Moral wieder stärker ins Zentrum ihrer Überlegungen rücken. Durkheim forderte bereits in der Arbeitsteilung, die „Tatsachen des moralischen Lebens entsprechend der Methode der positiven Wissenschaften zu behandeln“ (2004/1893: 76). Er tendiert dazu, den Bereich des „Sozialen“ mit dem „Moralischen“ gleichzusetzen, was angesichts der semantischen Nähe der beiden Worte im Französischen (und Deutschen) naheliegt. Darüber hinaus versucht Durkheim aber auch, die Soziologie der Moral als eine Teildisziplin zu etablieren. In seinen Vorlesungen zur Soziologie der Moral spricht er, in Anspielung auf Kant, von einer „Physik der Sitten und des Rechts“ (Durkheim 1999). Als Teildisziplin der Soziologie habe sich diese – neben der Erforschung „soziologischer Tatbestände“, wie er sie in den Regeln der soziologischen Methode ( 2002/1895) beschreibt – mit den moralischen und rechtlichen Tatbeständen einer Gesellschaft auseinanderzusetzen. In Abgrenzung zum Oberbegriff des „soziologischen Tatbestandes“ definiert Durkheim moralische (und rechtliche) Tatbestände als „sanktionsbewehrte Verhaltensregeln“. Der Soziologie als Moralwissenschaft obliege es zum einen, zu klären, „wie diese Regeln im geschichtlichen Verlauf entstanden sind, das heißt, auf welche Ursachen sie zurückgehen und welchen Zwecken sie dienen“, zum anderen aber zu erforschen, „wie sie innerhalb der Gesellschaft funktionieren, das heißt, auf welche Weise sie von den Individuen angewandt werden“ (Durkheim 1999: 1). Einerseits geht es ihm um die soziale Genese und Funktion von moralischen Regeln, andererseits aber um die Frage, wie moralische Regeln von den einzelnen Akteuren angewendet und interpretiert werden. Auch wenn einzelne Regeln von verschiedenen Individuen unterschiedlich ausgelegt werden können, koppelt Durkheim den Begriff der „Moral“ an Gruppen und andere Kollektivitäten – und damit an das eingangs skizzierte Phänomen der „kollektiven Intentionalität“ (1.1.2): „Für jedes Volk gibt es zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte eine Moral, und im Namen dieser herrschenden Moral verurteilen die Gerichte und urteilt die öffentliche Meinung. Für jede gegebene Gruppe gibt es eine wohldefinierte Moral. Mich auf die Tatsachen stützend, behaupte ich also, dass es eine allen zu einer Kollektivität gehörenden Menschen gemeinsame Moral gibt.“ (Durkheim 1996: 90)
Moral ist für Durkheim ein historisches Phänomen, das zwischen sozialen Gruppen variiert und keine universelle, überzeitliche Geltung beanspruchen kann. Er unterscheidet ferner zwischen einem „objektiven“ und einem „subjektiven“ Aspekt der
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„moralischen Wirklichkeit“. Moral objektiviert sich beispielsweise in den institutionellen Sphären des Rechts und der Öffentlichkeit. 6 Neben dieser Moral existieren aber auch noch subjektive Moralvorstellungen, denn „jedes Individuum, jedes moralische Bewusstsein bringt die gemeinsame Moral auf seine Weise zum Ausdruck“ (1996: 90). Durkheim geht zwar von einer moralischen Integration der Gesellschaft aus, räumt aber zugleich ein, dass es divergierende Interpretationen der öffentlichen Moral geben kann: „Sogar die wesentlichsten Aspekte der Moral werden von den verschiedenen Individuen unterschiedlich wahrgenommen“ (1996: 90). In Durkheims Theorie der Moral ist also durchaus auch ein Moment des Konfliktes und des Wandels angelegt, wenngleich dieses in seinen Analysen zu kurz kommt. In einem Punkt ist allerdings Vorsicht geboten: Aus der Subjektivität der Auslegung und Anwendung von moralischen Regeln folgt nicht, dass diese Subjektivität auch individuell sein muss. Der kulturelle Hintergrund des Erlebens und Handels als mentale Disposition lässt sich beispielsweise dem wahrnehmenden und handelnden Subjekt zuzurechnen, wird aber dennoch von einem Kollektiv geteilt (1.2). Dasselbe gilt für das soziale Imaginäre, das zwar nicht „objektiv“ ist, weil es nicht kodifiziert werden kann, aber gleichwohl von einer Gruppe von Menschen geteilt wird. Der Begriff des „sozialen Imaginären“ (1.3.3) unterläuft die Dichotomie von „Sozialität“ und „Subjektivität“, da es auf subjektive Deutungsmuster zielt, die dennoch sozial geteilt werden. Eine soziologische Analyse der gesellschaftlichen Moral darf nicht bei der objektivierten Moral stehen bleiben, sondern muss die subjektiven, aber insbesondere kollektive Deutungen berücksichtigen, die der Anwendung von moralischen Normen und Codes zu Grunde liegen. Wenn es subjektive Deutungsmuster gibt, die zugleich kollektiv sind, dann existieren vielleicht auch individuelle Objektivationen einer persönlichen Moral. So bleibt der Habitus samt seinen eingefleischten moralischen Überzeugungen dem Individuum nicht innerlich, sondern wird in seinem Auftreten und Handeln äußerlich. Im sozialen Verkehr gerinnen diese Objektivationen zu einem moralischen Image, das sich nur schwerlich wieder abschütteln lässt. So wurden die Fotografien aus Abu Ghraib im amerikanischen Diskurs als Objektivation der moralischen Verkommenheit der beteiligten Soldaten gelesen (8.3.1), während die öffentliche Entschuldigung von Rumsfeld diesem moralisch angerechnet wurde (8.2.2). Die Unterscheidung zwischen der sozialen Verbreitung und dem epistemologischen Status von moralischen Phänomenen liegen also quer zueinander:
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Diese Objektivationen können unterschiedlichster Natur sein, wie nicht zuletzt die Bandbreite moralischer Phänomene in der vorliegenden Studie zeigt: Die öffentliche Moral objektiviert sich in Gesetzestexten (6.4.1), Gerichtsurteilen (9.3), Meinungsumfragen (8.5.3), Nachrichten und Populärkultur (6.4.2; 10.3). Selbst die Skandalbilder können als Ausdruck und Objektivation einer spezifischen Gruppenmoral gedeutet werden (7.4).
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Tabelle 6: Moralphänomene Moralphänomen Subjektive Deutungsmuster
Objektive Manifestationen
Individuelle Moral
Individuelles Imaginäres und Ausdruck im Körperbild und persönliche Überzeugungen in der soziale Performanz
Kollektive Moral
Soziales Imaginäres
Öffentlichkeit und Recht
Moral lässt sich – vergleichbar dem System der Sprache (1.3.1) – als eine symbolische Ordnung begreifen, die auf Unterscheidungen und Regeln basiert. Als gesellschaftlicher Diskurs orientiert sich Moral an dem binären Code moralisch/unmoralisch, wobei das „Wesen“ der Moral unbestimmt bleiben muss und erst durch die Anwendung von moralischen Programmen konkretisiert wird (1.3.2). Eine elaborierte Kodifizierung von moralischen Programmen und Systemen findet man in diversen philosophischen Ethiken, bei denen es sich immer um Systematisierungen eines alttäglichen Moralverständnisses handelt. Eine philosophische Ethik ist kein idiosynkratrisches Hirngespinst, sondern ein Produkt des moralischen Imaginären einer Gesellschaft – ansonsten dürfte sie nicht auf eine breite Resonanz und Akzeptanz hoffen. Populäre philosophische Ethiken können als Indikatoren für die moralische Ordnung einer Gesellschaft herangezogen werden. Simmel hat in seiner Einleitung in die Moralwissenschaft die „monistischen“ Moralphilosophien einer Fundamentalkritik unterworfen und eine Moralwissenschaft eingefordert, die sich dem Phänomen der Moral in einer unvoreingenommenen Weise und auf empirischer Basis nähern sollte (1991/1892, 1991/1893). Ihm zufolge sind die oberste Prinzipien und letzten Zwecke moralphilosophischer Systeme, beispielsweise Glückseligkeit, Freiheit oder eben Kants kategorischer Imperativ, inhaltlich unterbestimmt. In anderen Worten: Es handelt sich bei ihnen um leere Signifikanten, welche das moralische System als symbolische Ordnung konstituieren (1.3.2). Simmel ist überzeugt, dass solche Begriffe keine tragfähige Basis für eine Moralphilosophie abgeben, die sich stattdessen der faktisch gelebten Moral, Hegels Sittlichkeit, zuwenden sollte.7 Laut Simmel kommt es im Bereich der Moral immer wieder zu Entscheidungen, die prinzipiell unentscheidbar sind, da es keinen äußeren Maßstab gibt, um Konflikte zwischen moralischen Pflichten oder Gütern aufzulösen. Dennoch treffe das „sittliche Gefühl mit großer subjektiver Sicherheit und scheinbarer Feinheit die Abwägung seiner Entscheidungen“ (1991/1893: 369). 7
Die Unzulänglichkeit monistischer Moralphilosophien lässt sich an Dilemmata aufzeigen, die in hypothetischen Gedankenexperimenten und faktischen Situationen zu Tage treten. Eine dogmatische Anwendung moralischer Systeme scheitert entweder an internen Widersprüchen oder an unseren moralischen Intuitionen (vgl. Binder 2013b).
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Die Aufgabe einer Moralwissenschaft sei nun herauszufinden, „auf welche Momente innerer unbewusster Abwägung“ diese Entscheidungen erfolgen. Auch wenn Simmel eine psychologische Erklärung moralischer Urteile im Sinn zu haben scheint, lassen sich die „Momente innerer unbewusster Abwägung“ auch im Sinne des kulturellen Hintergrundes deuten (1.2-3). Im Folgenden soll davon ausgegangen werden, dass moralische Entscheidungen nicht alleine der individuellen Willkür oder psychologischen Mechanismen geschuldet sind, sondern auf überindividuellen kulturellen Mustern beruhen, die die Anwendung von moralischen Normen regeln. Soziologie als eine Moralwissenschaft muss kulturelle Muster und Prinzipien identifizieren, die dem moralischen Urteil von Akteuren zu Grunde liegen. Dies kann durch die Identifikation von moralischen Schlüsselmetaphern (Lakoff 2006; siehe 4.3.2), von Vorbildern und Narrativen (2.1-2), aber auch durch die „Herausarbeitung der letzten, innerlich ‚konsequenten‘ Wertaxiome“ (Weber 1988/1917: 510) geschehen. Entscheidend ist, dass die empirische Quelle der Moral letztlich diffus und ambivalent bleibt. Keine moralische Ordnung lässt sich auf ein einziges gehaltvolles Prinzip zurückführen, von dem sich alle moralischen Normen und Werte ableiten ließen. Es spricht viel dafür, dass unser intuitives Moralverständnis nach einer „fuzzy logic“ (vgl. Kron 2005) operiert, für deren Verständnis das soziale Imaginäre, das sich in Metaphern, Bildern und Narrativen verkörpert, entscheidend ist. Letztbegründungen und letzte Werte symbolisieren Bereiche, die von dem moralischen Diskurs ausgeschlossen sind, aber trotzdem vorausgesetzt werden müssen.8 Das Scheitern der monistischen Moralphilosophie zeigt, dass Moral nicht einfach als Regelsystem aufgefasst werden kann, das über einen binären Code gesteuert wird. Die moralische Ordnung ist vielmehr durch ein hohes Maß an Offenheit und Unbestimmtheit gekennzeichnet, was zugleich moralischen Wandel ermöglicht. 4.1.2 Die moralische Ordnung liberaler Gesellschaften Ein System der Moral, das moralische Prinzipien und Normen in einen mehr oder weniger kohärenten Zusammenhang bringt, lässt sich symbolische Ordnung beschreiben (vgl. 1.3.2). Daraus folgt, dass anerkannte moralische Prinzipien wie die Würde und Autonomie des Einzelnen, aber auch die daraus resultierenden Normen, letztlich unterbestimmt bleiben müssen. Sie bedürfen der Vervollständigung durch ein soziales Imaginäres, das den leeren Signifikanten der Moral mit Bedeutung füllt und so die Anwendung moralischer Normen ermöglicht. Das soziale Imaginäre der Moral in modernen westlichen Gesellschaften zeichnet sich nach Taylor (2002; 2009: 275-295) durch drei Kernelemente aus: Die Vorstellung des Individuums als 8
So lässt sich auch die „Herrschaftsfreiheit“ eines Diskurses, im Sinne von Habermas, nur durch einen „herrschaftsfreien“ Diskurses feststellen. Diese Selbstbezüglichkeit führt zu einer Paradoxie, die latent gehalten werden muss. Herrschaftsfreiheit ist nicht diskursiv entscheidbar; sie muss aus dem Diskurs ausgeschlossen und vorausgesetzt werden.
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einem freien und autonomen Akteur; die Vorstellung einer aus Individuen bestehen Gesellschaft, die auf den Vorteilen wechselseitiger Kooperation beruht; schließlich aber die Vorstellung einer politischen Ordnung, die dem Wohl der Individuen verpflichtet und auf eine moralische Legitimation angewiesen ist. Die Autonomie des Individuums ist von zentraler Bedeutung für das Phänomen der Moral. Einerseits ist die Autonomie des handelnden Subjekts die Voraussetzung moralischen Handelns, andererseits stellt das autonome Individuum das eigentliche Objekt des moralischen Handelns dar. Der moralische Wert der Autonomie des Individuums lässt sich in zwei Aspekte untergliedern: die individuelle Freiheit einerseits und die Würde des Menschen andererseits. Würde und Freiheit lassen sich, wie Luhmann (1986/1965: 53-83) gezeigt hat, als die inneren und äußeren Bedingungen einer gelungenen Selbstdarstellung begreifen (3.2.1). Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass Freiheit und Würde als fundamentale Prinzipien der modernen, liberalen Moralordnung verstanden werden müssen. Nur freie Individuen können moralisch fehlgehen. Das menschliche Individuum ist aber nicht nur der moralisch Handelnde, sondern zugleich auch das „heilige“ Objekt der Moral. Die These von der Sakralisierung des Individuums in der modernen Gesellschaft findet sich bereits bei Durkheim, der dem „Kult des Individuums“ zunächst skeptisch gegenüber stand (2004/1893: 218-228), aber schon fünf Jahre später zum einzigen Glaubenssystem, das die moderne Gesellschaft integrieren könne, adelte (1986/1898). Hans Joas (2011) hat diesen Gedanken kürzlich noch einmal in seiner Sakralität der Person aufgegriffen und ausgearbeitet. Die Freiheit und die Würde des Einzelnen werden durch die moralische und rechtliche Ordnung geschützt – gegenüber den anderen Mitgliedern der Gesellschaft, aber auch gegenüber politischen Zugriffen. Die Freiheit des Einzelnen findet ihre moralischen Schranken in der Würde und der Freiheit von anderen Individuen, aber auch in der eigenen Würde (wenn beispielsweise die Selbsttötung als ein Missbrauch der eigenen Freiheit, als „Selbstmord“, moralisch und rechtlich verurteilt wird). Ein wesentlicher Aspekt der Autonomie und Sakralität des Individuums ist die „Unversehrtheit des Körpers“ (hierzu Walt & Menke 2007). Im Übergang von der Vormoderne zur Moderne lässt sich ein Wandel vom Schutz der Ehre hin zum Recht auf körperliche Unversehrtheit konstatieren (Kalupner 2006). Verletzungen des Körpers sind heutzutage nur zulässig, wenn sie auf Freiwilligkeit beruhen (z.B. Operationen). Die Anwendung von Gewalt ist als legitimes Mittel meist ausgeschlossen und bedarf besonderer Rechtfertigung. Die Ächtung von Körperstrafen und Folter ist eine Konsequenz dieser Stellung des Körpers im moralischen Imaginären der Gesellschaft. Ein anderer Aspekt der leiblichen Unversehrtheit ist das „seelische Wohlbefinden“ des Einzelnen. So gilt Grausamkeit, die per Definition die Subjektivität ihrer Opfers beschädigt, unter Liberalen als summum malum, nicht weiter begründungsbedürftiges Übel (z.B. Rorty 1989: 14; Margalit 1997: 113).
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Die Freiheit des Individuums hat ihre Schranken: Nicht nur den Körper, sondern auch die Freiheit der Anderen gilt es zu respektieren. Wie ist individuelle Freiheit mit der Freiheit der Anderen zu vereinbaren? Die Beantwortung dieser Frage ist von fundamentaler Bedeutung für das Zusammenleben in liberalen Gesellschaften. Allerdings gibt es mehr als eine mögliche Lösung dieses Problems. Das moralische Fundament liberaler Gesellschaften erweist sich damit als unterbestimmt und ambivalent. Die moralische Ordnung einer Gesellschaft lässt sich nicht aus universellen Prinzipien ableiten, sondern beruht auf historisch-kontingenter Imagination und Setzung. Im vierten Artikel der französischen Menschenrechtserklärung heißt es: „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet: die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat mithin nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz festgelegt werden.“ (zitiert nach Gauchet 1991)
Die rechtliche und politische Ordnung, die hier das Zusammenleben der Menschen regeln soll, beruht auf einer moralischen Ordnung, die in ein spezifisch modernes Imaginäres eingebettet ist. Im vorliegenden Fall wird Freiheit in erster Linie als „negative“ und „individuelle“ Freiheit bestimmt. Das heißt, dem Einzelnen wird nicht vorgeschrieben, wie er seine Freiheit zu nutzen hat. Diese liberale Freiheitskonzeption findet in Rawls Theorie der Gerechtigkeit eine zeitgemäße Formulierung, und zwar bereits in ihrem ersten Grundsatz: „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist“ (2003: 81). Diese „negative Freiheit“ findet vor allem im Recht einer liberalen Gesellschaft ihren Ausdruck – allerdings handelt es sich hier um ein „halbiertes“ Verständnis von Freiheit (vgl. Taylor 2006: 118-144), das entschieden zu kurz greift, wenn wir das moralische Imaginäre einer Gesellschaft verstehen wollen. Die moralische Ordnung einer Gesellschaft schreibt dem Einzelnen in bestimmten Fällen vor, wie er seine Freiheit zu nutzen hat. Diese „positive Freiheit“ wird zwar seltener zum Gegenstand rechtlichen Sanktionen, aber moralische Achtung wird trotzdem nur demjenigen entgegengebracht, der seine Freiheit auch „richtig“ zu nutzen versteht. Den Einwänden der sogenannten „Kommunitaristen“ gegen die liberalen Theoretiker ist aus einer empirisch-soziologischen Perspektive stattzugeben. Gruppen und Gesellschaften haben ihre Vorstellungen vom „guten Leben“, die das Handeln der Akteure beeinflussen. Wenn es ein allgemeines Prinzip der positiven Freiheit gibt, dann wohl die Weisung, die eigene Freiheit zum Nutzen aller einzusetzen (Taylor 2009: 286-291). Die Vorstellung, dass sich die Politik gegenüber einer höheren Instanz zu rechtfertigen habe, hat ihren Ursprung in der sogenannte „Achsenzeit“ (vgl. Eisenstadt 2005), in der jüdische Propheten und griechische Philosophen politische Machthaber erstmals unter Berufung auf transzendente Prinzipien kritisierten. Allerdings ist
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erst in der Neuzeit der Versuch gemacht worden, Politik auf den moralischen Individualismus zu gründen. Dies war die Stunde des Gesellschaftsvertrags, den Hobbes (1999/1651) aus der „Natur“ des Einzelnen abzuleiten versuchte. Diese Begründung des Politischen durch Individuen war wegweisend für die politische Ideengeschichte – wenngleich der hobbesianische Staat, der autoritäre Leviathan, sich nicht gegenüber den ihn konstituierenden Individuen zu rechtfertigen hatte. Die liberale Idee, dass die Freiheit des Einzelnen geschützt werden müsse, impliziert eine politische Instanz, die die Rechte des Einzelnen schützt – unter anderem auch vor dem Staat selbst. Sie findet ihren Ausdruck im zweiten Artikel der französischen Menschenrechtserklärung von 1789, in dem es heißt: „Der Endzweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unvergänglichen Menschenrechte“ (Gauchet 1991: 10). Der Staat wird damit zu einer öffentlichen Angelegenheit (4.2.2), deren vornehmliche Aufgabe im Schutz der Rechte des privaten Individuums besteht. Diese moralische und rechtliche Selbstbeschränkung der Politik gewinnt nach dem Ende der totalitären Politikprojekte des 20. Jahrhunderts, die auf eine Sakralisierung von Nation, Volk und Rasse auf Kosten der Individuen setzten, zunehmend an Bedeutung. Moderne Politik setzt sich in den unveräußerlichen Rechten des Individuums eine Schranke und in dem gesellschaftlichen Projekt des „guten Zusammenlebens“ ein Ziel. Nicht nur liberale Demokratien verpflichten sich auf die Sakralität des Individuums und die Förderung gesellschaftlicher Solidarität, sondern zunehmend auch autokratische Regime, die sich gegenüber ihren Bürgern vor den Augen einer kritischen Weltöffentlichkeit rechtfertigen müssen. Allerdings treten in der zeitgenössischen Politik auch moralische und rechtliche Dilemmata hervor, beispielsweise zwischen der Sicherheit der Bürger auf der einen Seite und der Freiheit und Würde von Individuen auf der anderen Seite. Selbst wenn man von Konflikten zwischen unterschiedlichen moralischen Ordnungen einmal absieht, zeichnet sich schon die einzelne moralische Ordnung durch Ambivalenz (vgl. Binder 2013b). Die Prinzipien und Normen, die eine moralische Ordnung konstituieren, teilen das Schicksal aller symbolischen Ordnungen, die für sich genommen unterdeterminiert und auf ein komplementäres soziales Imaginäres angewiesen sind (1.3.2-3). Die Unvollständigkeit und Widersprüchlichkeit moralischer Ordnungen wird überdeutlich, wenn wir uns moralische Dilemmata und sogenannte „tragic choices“ anschauen. Überall wo es Moral gibt, kommt es zu Konflikten zwischen moralischen Prinzipen. Die moralische Ordnung der modernen Gesellschaft bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen der Sakralität des Einzelnen und der Verantwortung für die Mitmenschen und das gesellschaftliche Ganze. Zwischen den Grundpfeilern der Individualität und Sozialität, wie sie sich beispielhaft im Naturrecht und der Theorie des sozialen Vertrags zeigen, spannt sich die moderne moralische Ordnung auf. Wie lässt sich die Freiheit des Einzelnen mit der Freiheit der Anderen vereinbaren? Gerade auch für den Bereich der Menschenrechte, dem kodifizierten sakralen Kern der modernen moralischen Ordnung, wurde
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von Kritikern moniert, dass Menschenrechte nicht mit Menschenpflichten einhergingen (Galtung 1994). Dann aber stellt sich die Frage, welche Konsequenzen denn die Nichterfüllung von Menschenpflichten haben soll? Die Aberkennung von Menschenrechten? Hier tritt die Sakralität der Person in einen Konflikt mit der Reziprozität von Rechten und Pflichten. Die Idee der Menschenwürde impliziert, dass jeder Mensch, unabhängig von seinem Verhalten, eine gewisse Achtung verdient (3.2). Wo die Grenze zwischen notwendig zugeschriebener Würde und kontingent erworbener moralischer Achtung verlaufen soll, ist eine empirisch-historische Frage. Gerade die moralische Rechtfertigung von Gewalt (3.1.2), sei es zur individuellen Notwehr, zur hoheitlichen Durchsetzung des Gewaltmonopols auf dem staatlichen Territorium oder im Krieg gegen andere Staaten, führt in Dilemmata, die sich im Rekurs auf moralische Prinzipien und Normen nicht einfach ausräumen lassen. Der gesellschaftliche Umgang mit moralischen Dilemmata erfolgt im Rekurs auf Bilder, Narrative und Performanzen: Die Bilder von Abu Ghraib haben uns die Behandlung von Gefangenen als Akte der Entwürdigung erfahren lassen (7.1-3), ohne dass wir genaue Regeln und Gründe dafür anzugeben wüssten; es sind apokalyptische Kriegsnarrative (6.3-5), die militärische Eingriffe rechtfertigen, auch wenn dabei die eigenen Soldaten und auch Zivilisten zu Schaden kommen; es ist die glaubwürdige Performanz eines Einzelnen, die uns dazu zwingen kann, moralische Urteile zu revidieren. Die moralische Ordnung der modernen Gesellschaft ist auf Formen kultureller Repräsentation angewiesen, die sich zu einem gegebenen kulturellen Hintergrund konsonant oder auch dissonant verhalten können. Ein zentrales moralisches Dilemma der modernen Politik stellt das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit dar. Einerseits hat der Staat für die leibliche Unversehrtheit seiner Bürger zu sorgen, andererseits muss er ihre Freiheit achten. Auch hier verschieben sich die Grenzen zwischen dem legitim und dem illegitim Erachteten, wie beispielsweise der Patriot Act in den Vereinigten Staaten nach dem 11. September zeigt (6.4.2). Wie stark dürfen Bürgerrechte zur Terrorismusabwehr eingeschränkt werden? In verschärfter Weise stellte sich dieses grundlegende Problem im Umgang mit Nichtbürgern, deren Freiheit, Würde und körperliche Unversehrtheit gegenüber dem Schutz der eigenen Bürger oft zurücktreten muss. Paradigmatisch hierfür ist der Umgang der amerikanischen Behörden mit Gefangenen im Krieg gegen den Terror, denen zunächst kein Zugang zu Anwälten und ordentlichen Gerichtsverfahren gewährt wurde – ohne dass dies für die Mehrheit der Amerikaner oder amerikanischen Gerichte ein Problem gewesen wäre. Erst infolge des AbuGhraib-Skandals wurde der unvermeidbare Kompromiss zwischen der Freiheit und Würde des Einzelnen und der öffentlichen Sicherheit neu justiert (9.2). In ein moralisches Dilemma mündet auch das absolute Verbot der Folter, das durch seinen Status als Menschenrecht nicht nur die höchste rechtliche Verbindlichkeit, sondern auch eine unvergleichliche moralische Dignität beansprucht. Dennoch gibt es Narrative, wie das „Ticking-Bomb-Szenario“ (6.4) oder die „selbstver-
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schuldete Rettungsbefragung“, die Folter als moralisch geboten und rechtlich vertretbar darstellen (vgl. Binder 2013b). Für uns ist vor allem das Ticking-BombNarrativ von zentraler Bedeutung, das Luhmann einmal folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Die Terroristen haben eine Atombombe, und es kommt darauf an, diese zu finden und unschädlich zu machen. Würden Sie foltern?“ (2008/1993). Jeder Versuch, Folter zu legitimieren, stellt eine Relativierung der Menschenwürde dar, die meist zum Schutz der leiblichen Unversehrtheit von unschuldigen Opfern erfolgt. Eine solche Relativierung der Menschenwürde sollte nicht überdramatisiert werden, da es sich bei jeder Konzeption der Menschenwürde um einen historischen Kompromiss handelt, der auf dem jeweiligen aktuellen sozialen Imaginären beruht. Eine Aufweichung des Folterverbotes und die entsprechende Relativierung der Menschenwürde lässt sich – um eine erhellende Metapher von Richard Münch aufzugreifen (1995: 225) – als eine Senkung des „moralischen Grundeinkommens“ beschreiben. Dies bedeutet allerdings auch, dass die Geschichte der Menschenwürde und der Menschenrechte noch nicht an ihr Ende gekommen ist, da sich das moralische Grundeinkommen der Menschheit durchaus noch steigern lässt. Auf die inhaltliche Ausweitung der Implikationen der Menschenwürde und der Menschenrechte setzt beispielsweise das sogenannte „Generationenmodell der Menschenrechte“. Es ist nicht undenkbar, dass in einer nicht allzu fernen Zukunft der freie Zugang zum Internet als ein Menschenrecht gelten wird. Jedes moralische System und jedwede moralische Ordnung kann nicht zugleich vollständig und widerspruchsfrei sei (vgl. Binder 2013b). Moral ist immer von Ambivalenzen gekennzeichnet. Das moralische Imaginäre komplettiert die moralische Ordnung, indem sie Lücken ausfüllt und Widersprüche verdeckt. Die amerikanischen Sklavenhalter haben keinen Widerspruch zwischen der Praxis des Sklavenhaltens und der Bill of Rights gesehen. Das soziale Imaginäre der Moral ist historischen Wandlungen unterworfen, die alte Rechte in einem neuen Licht erscheinen lassen. Auch die immer nur vorläufige Lösung moralischer Dilemmata verdankt sich einem kulturellen Hintergrund, der historischen Wandlungen unterliegt. Die Frage, ob denn die Verhängung der Todesstrafe unmoralisch sei, lässt sich nicht auf Grundlage der Würde des Menschen entscheiden, sondern hängt davon ab, wie diese Würde interpretiert wird (vgl. 4.3.2). So beruht auch der zunehmende Widerstand gegen bestimmte Formen der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten eher auf Bildern und Narrativen als auf Prinzipien (Smith 2008: 142-168). Für die Moderne lässt sich eine zunehmende moralische Inklusion von Individuen und eine Ausweitung moralischer Ansprüche konstatieren. Allerdings ist dies kein irreversibler Prozess, wie nicht zuletzt der Krieg gegen den Terror gezeigt hat. Außerordentliche Ereignisse wie der 11. September 2001 und der Abu-Ghraib-Skandal können zu Verwerfungen in der moralischen Landschaft moderner Gesellschaften führen, die sich wiederum im individuellen und politischen Handeln niederschlagen.
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4.2 Ö FFENTLICHKEIT Im Staat ist alles Schauhandlung, das Leben des Volks ist Schauspiel; mithin muss auch der Geist des Volks sichtbar sein. NOVALIS, BLÜTENSTAUB, 76. APHORISMUS
Zunächst gilt es, den Begriff der „Öffentlichkeit“ zu klären, bevor dann die zivilgesellschaftlichen Diskurse und die öffentliche Meinung genauer in den Blick genommen werden sollen (4.3). Das Prädikat „öffentlich“ besitzt zwei Grundbedeutungen, die beide einer Präzisierung bedürfen.9 Zum einen wird Öffentlichkeit nach dem Modell der agora in griechischen Stadtstaaten gedacht, einem Marktplatz und Versammlungsort, auf dem freie Bürger ihre Meinung äußern und sich austauschen konnten.10 Das andere Modell orientiert sich am römischen Begriff der res publica, der mit „Gemeinwesen“ oder „Staat“ wiedergegeben werden kann. Im ersten Fall ist die Öffentlichkeit des Handelns und der Kommunikation entscheidend, im zweiten das öffentliche bzw. kollektive Interesse an einer Sache. Der agora entspricht am ehesten das Modell der „Versammlungsöffentlichkeit“, die einen offenen Dialog unter den versammelten Anwesenden ermöglicht. Weitaus wichtiger für moderne Gesellschaften ist allerdings die monologische Kommunikation, wie sie für die Massenmedien charakteristisch ist. Dem Modell der res publica entspricht der Staat als öffentliche Angelegenheit und kollektiv legitimierter Handlungssphäre, aber auch die politische Öffentlichkeit, die kollektive Legitimation verleihen bzw. entziehen kann. In einem letzten Schritt ist dann auf Öffentlichkeit als dreifache „Vorstellung“, als Imagination, Repräsentation und Inszenierung, einzugehen. 4.2.1 Agora ‒ Öffentlichkeit als topischer und metatopischer Raum Wenn Goffman (2000, 2009) von „Interaktionen im öffentlichen Raum“ spricht, so meint er damit soziales Handeln in frei zugänglichen Räumen zwischen einander meist unbekannten Akteuren. Der Gegenbegriff zur „Öffentlichkeit“ ist die „Pri-
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Die folgende Typologie geht einerseits auf Bernhard Peters Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit als sozialer Handlungssphäre, als institutionalisierter Handlungssphäre und als „Öffentlichkeit“ im emphatischen Sinn (2007/1994: 55-59), andererseits aber auch auf Jeffrey C. Alexanders Unterscheidung zwischen „kommunikativen“ und „regulativen Institutionen“ der zivilen Sphäre zurück (2006a: 69-192).
10 Hier lassen sich zwei Aspekte unterscheiden, die in den komplementären Arbeiten von Jürgen Habermas und von Michail Bachtin zum Ausdruck kommen. Während es auf Bachtins Marktplatz karnevalesk zugeht und ein Wirrwarr unterschiedlicher Stimmen vorherrscht, sind Habermas bürgerliche Diskussionszirkel gesittet und vernünftig.
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vatsphäre“, die sowohl eine räumliche als auch eine kommunikative Bedeutung besitzt. „Privat“ ist zunächst ein Raum, der Zugangsbeschränkungen unterliegt (z.B. die „eigenen vier Wände“), aber auch die Exklusivität bestimmter Kommunikationssituationen. Natürlich handelt es sich bei der scharfen Unterscheidung zwischen „privat“ und „öffentlich“ um eine idealtypische Entgegensetzung, bei der es viele Schattierungen und Abstufungen gibt, von der exklusiven Privatheit der Intimkommunikation, der Interaktion mit Freunden und Familie über die berufliche oder anderweitige Einbindung in formale Organisationen bis hin zum Handeln in der Masse, vor einem anonymen Publikum, vor Fernsehkameras oder im Internet. „Öffentlich“ ist im Idealfall das, was vor jedermanns Augen geschieht. Die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem verweist letztlich auf eine moralische und rechtliche Ordnung, in der die Privatsphäre des Einzelnen unter einem gewissen Schutz steht, während andere Aktivitäten öffentlich gemacht werden müssen. In der neueren Debatte über „informationelle Selbstbestimmung“ wird deutlich, dass auch personenbezogene Informationen zu der Privatsphäre des Einzelnen gezählt werden können. Schon in der „Schweigepflicht“ von Ärzten, Anwälten und anderen Professionen, für die ein Zugang zu privaten Informationen erforderlich ist, kommt dieser Schutz der Privatsphäre zum Ausdruck. Die Weitergabe bestimmter Informationen an Unbefugte wird hier untersagt. In diesem Sinne lässt sich ein öffentlich zugängliches Wissen von der Exklusivität des Geheimnisses abgrenzen. Aber nicht alle Geheimnisse fallen unter den Schutz der Privatsphäre. So geschehen moralische Verfehlungen und Straftaten meist im Verborgenen und werden in der Regel von den Beteiligten geheim gehalten. In der Enthüllung des Skandals wird eine solche Verfehlung publik gemacht (5.3.2). Allerdings kommt der „Publizität“ einer Information ein besonderer Stellenwert zu: „Publizität“ lässt sich nicht auf das Wissen der beteiligten Akteure reduzieren, sondern muss als emergentes Kommunikationsphänomen aufgefasst werden. Sie existiert nur in einem gemeinsam konstituierten, öffentlichen Raum, sei es in der Interaktion zwischen Anwesenden oder in der Öffentlichkeit der Massenmedien. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass es auch „offene Geheimnisse“ gibt: Alle wissen über einen gewissen Sachverhalt Bescheid – und wissen auch, dass alle anderen darüber Bescheid wissen. Dennoch macht es einen Unterschied, ob das offene Geheimnis gewahrt oder öffentlich ausgesprochen wird.11 „Geteiltes Wissen“ ist eben noch kein „öffentliches Wissen“.
11 Ari Adut demonstriert dies am Beispiel des Oscar-Wilde-Skandals im viktorianischen England (2005). Erst der Publizität des Normverstoßes führte über die sozialen Mechanismen der Kontamination und Provokation zur Skandalisierung und strafrechtliche Verfolgung: „[M]any inconsistencies in norm enforcement cannot be understood unless we take into account the externalities on third parties that may be unleashed when transgressions are publicized ‒ as opposed to when they are simply known“ (2005: 215).
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Neben dem öffentlichen, frei zugänglichen Raum potenzieller Interaktionen gibt es auch noch die „Versammlungsöffentlichkeit“ einer Gruppe, die sich über körperliche Anwesenheit, relative Offenheit und wechselseitige Kommunikation definieren lässt. Eine „Versammlungsöffentlichkeit“ – das können sowohl Betroffene einer Baumaßnahme sein, die sich in einem Gemeindehaus treffen, als auch ein wissenschaftliches Publikum, das sich zu einem Vortrag mit anschließender Diskussion zusammenfindet. Die Idee der Versammlung prägt bis heute unsere Vorstellung von politischer Öffentlichkeit, weswegen es auch kein Zufall ist, dass das Versammlungsrecht in Deutschland Verfassungsrang besitzt. Auch Jürgen Habermas (1990) entwickelt seinen Begriff der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ am Beispiel von aufklärerischen Lesezirkeln und Diskussionsgruppen. Diesem Vorbild ist letztlich auch sein normatives Verständnis von Öffentlichkeit geschuldet, dem die modernen Massenmedien nur schwerlich gerecht werden können.12 Gesellschaftlich folgenreiche Kommunikation über Moral findet in der Öffentlichkeit der Massenmedien statt. Ohne die soziale Bedeutung der moralischen Alltagskommunikation schmälern zu wollen, hat sich, so die hier vertretene These, die soziologische Moralforschung vorrangig mit der Analyse zivilgesellschaftlicher Diskurse und populärkultureller Formate in den Massenmedien zu beschäftigen. Im Gegensatz zum „topischen“ Raum der Versammlungsöffentlichkeit handelt es sich bei jenem öffentlichen Raum, den die Massenmedien konstituieren, um einen „metatopischen“ Raum (Taylor 2009: 323 f.), der streng genommen nur in der sozialen Imagination existiert (4.2.3). Metatopische Räume funktionieren nach einer grundlegend anderen Logik als topische Räume, in denen sich Anwesende aneinander orientieren und miteinander interagieren können. Der „metatopische“ öffentliche Raum bedarf zwar – anders als die „topische“ Versammlungsöffentlichkeit – nicht der körperlichen Anwesenheit von Individuen, schließt aber dafür die Möglichkeit eines „echten“ Dialoges zwischen Sprecher und Publikum aus.13 12 Die Tatsache, dass sich Versammlungsöffentlichkeiten durch Anwesenheit auszeichnen, ermöglicht besondere Formen der Erzeugung und Verbreitung von Informationen. Versammlungsöffentlichkeiten stellen, mit Vilém Flusser gesprochen, die „‚ursprünglichsten‘, gewissermaßen ‚tribalistische[n]‘ Kommunikationsformen“ dar (2003: 35). Sie sind nach außen geschlossen, aber nach innen geöffnet. Sie ermöglichen es jedem Anwesenden mit dem jeweiligen Sprecher und dem Publikum in einen Dialog zu treten. 13 Dass den Massenmedien eine mangelnde Dialogfähigkeit konstatiert werden muss, liegt nicht alleine daran, dass Kommunikation unter Nichtanwesenden auf Medientechnologien zurückgreifen muss, die sich zwischen den Sender und den Empfänger der Information schieben. So gibt es durchaus interaktionsnahe und dialogfähige Medientechnologien, wie beispielsweise das Telefon, Chats oder Konferenzschaltungen. Das Internet hat in den letzten Jahren die gesellschaftliche Kommunikation revolutioniert und auch zum Entstehen neuer Formen von öffentlicher Kommunikation in Foren und Blogs geführt.
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Luhmann (1996) zufolge kommunizieren Massenmedien mit einer großen Anzahl unbestimmter und vereinzelter Adressaten, wobei zwischen Sender und Empfänger jedwede Interaktion – und damit jede Möglichkeit eines Dialogs – ausgeschlossen ist. Die Kommunikation der Massenmedien ist monologisch, da der Empfänger dem Sender nicht antworten und somit auch keinen Dialog einleiten kann. Dies gilt für alle klassischen Massenmedien – Presse, Rundfunk und Fernsehen –, die dem Empfänger eine reine Publikumsrolle zuweisen.14 Darüber hinaus versammelt die Sendung auch kein größeres Publikum, das zueinander in Kontakt treten könnte. Die Sendung selbst ist zwar öffentlich, aber ihr Empfang findet meist in der Privatsphäre der Zuschauer statt. Die Zuschauer (oder Zuhörer) der Massenmedien können sich nur in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld über das Gesehene (oder Gehörte) austauschen – oder die Kritiken in der Zeitung konsultieren. Nach Luhmann führt diese „Unterbrechung des unmittelbaren Kontaktes“ zum einen zu höheren Freiheitsgraden auf Seiten des Senders, zum anderen aber auch zu einer erhöhten Unsicherheit, da die Massenmedien „auf Vermutungen über Zumutbarkeit und Akzeptanz angewiesen“ bleiben (1996: 12). Medienunternehmen, die auf dem Markt der Massenmedien miteinander konkurrieren müssen, sind darauf angewiesen, mithilfe von Einschaltquoten und Zuschauerbefragungen ein Bild von der öffentlichen Meinung zu konstruieren. Während in einer Versammlungsöffentlichkeit alle Anwesenden in einen Dialog miteinander treten können und gegebenenfalls auch ein Konsens unter allen Beteiligten erreicht werden kann, ist dies im Falle der Massenmedien schlichtweg unmöglich. Ein gesellschaftsweiter Dialog oder gar Konsens lässt sich dort nicht erzielen, sondern nur inszenieren (4.2.3). Eine moderne Gesellschaft kann sich, etwas salopp formuliert, weder zu einem Lagerfeuergespräch einfinden, noch an einem runden Tisch oder in einem Stadion versammeln. Trotzdem bleiben modernen Gesellschaften auf Öffentlichkeit und damit auf die Leistung der Massenmedien angewiesen. Allerdings unterliegen „virtuelle Versammlungsöffentlichkeiten“ ähnlichen Beschränkungen wie Versammlungen im „Real Life“: Die Anzahl der Teilnehmer, die sich produktiv in einen Dialog einbringen können, ist begrenzt, während die Gefahr des „Diskursvandalismus“ in der Anonymität des Netzes sogar zunimmt. Die anfänglich gehegten Hoffnungen bezüglich des demokratischen Potenzials des Internets haben sich nicht erfüllt. Klassische Strukturen von Massenmedien ließen sich hingegen gut auf das Internet übertragen, wie nicht zuletzt die Internetpräsenz führender Zeitungen und Fernsehsender zeigt. Wenn das Internet unsere Kommunikation revolutioniert hat, dann durch die virale Verbreitung von Information in sozialen Netzwerken (und Twitter). Aber auch hier kann man von Dialogizität nur in einem sehr eingeschränkten Sinn sprechen. 14 Interessanterweise besitzt die parlamentarische Demokratie eine ähnliche Struktur. Auch hier muss eine scharfe Trennung von Publikumsrollen und politischen Akteuren konstatiert werden. Nur am Wahltag dreht sich der Spieß um: Das Publikum wird zum Wähler.
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4.2.2 Res publica ‒ Staat und politische Öffentlichkeit Der Begriff der „Öffentlichkeit“ lässt sich nicht nur auf die kommunikative Sphären, von Versammlungsöffentlichkeiten bis zu den Massenmedien, sondern auch auf institutionalisierte Handlungssphären beziehen (Peters 2007/1994). Damit ist in erster Linie die res publica gemeint, der Staat als einer Angelegenheit des öffentlichen Interesses. Erst wenn die privaten Interessen eines Machthabers bzw. Amtsinhabers und die normative Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl auseinandertreten, macht es Sinn, vom Staat als einer kollektiv legitimierten Handlungssphäre zu sprechen. Eine entscheidende historische Vorrausetzung hierfür war die Trennung des öffentlichen Haushaltes (demos) von den privaten Finanzen (oikos) des jeweiligen Machthabers. Wer ein öffentliches Amt bekleidet, ist in seiner Eigenschaft als Amtsinhaber verpflichtet, im öffentlichen Interesse und nicht als Privatperson zu handeln. Auch die öffentlich-rechtlichen Medien haben anders als private Medienkonzerne ihrem öffentlichen Auftrag nachzukommen. Während der Begriff der „Legalität“ auf eine rein rechtliche Konformität abzielt, verweist „Legitimität“ auf eine höhere Instanz, die öffentliche Moral der Gesellschaft. Der Kluft zwischen Legalität und Legitimität entspricht das Gefälle zwischen Recht und Gerechtigkeit. Alexander (2006a: 107-209) spricht von den regulativen Institutionen der Politik und des Rechts, die über ihren öffentlichen Charakter an die Zivilgesellschaft als Quelle kollektiver Legitimität zurückgebunden sind. Am offensichtlichsten ist der Bedarf an Legitimation in der Politik, die kollektiv bindende Entscheidungen fällt. Diese Entscheidungen lassen sich nicht alleine im Rekurs auf ordnungsgemäß durchgeführte Verfahren rechtfertigen, sondern sind auch inhaltlich auf öffentliche Anerkennung angewiesen. Demokratien steht der Mechanismus der Wahl zur Verfügung, mit dessen Hilfe die öffentliche Meinung über die Vermittlung des Wählerwillens einer Politik die kollektive Legitimation entziehen kann. Ein politisches Amt, dessen Inhaber den kollektiven Wählerwillen zu vertreten hat, wird nur auf Zeit verliehen. Innerhalb einer Wahlperiode kann der öffentliche Druck, der über Massenmedien und Meinungsumfragen erzeugt wird, Politiker in die Knie oder sogar zum Rücktritt zwingen. Das Recht wird ebenfalls im Namen des Volkes gesprochen, obgleich Richter und Staatsanwälte meist nicht demokratisch gewählt werden. Rechtsprechung, die ebenfalls einen Anspruch auf kollektive Verbindlichkeit erhebt, hat einerseits die zivilen Gebote von Rechtsstaatlichkeit und Unparteilichkeit einzuhalten, andererseits öffentliche Meinung und herrschende Moralvorstellungen zu berücksichtigen. Richter, die „skandalöse Urteile“ fällen, laufen Gefahr, selbst zum öffentlichen Ärgernis zu werden. Diese „Fehlentscheidungen“ können dann wiederum von höheren Gerichten zurückgenommen werden. Nicht nur die regulativen Institutionen einer Gesellschaft sind von kollektiver Legitimität abhängig, sondern auch deren „Erzwingungs-Stab“ (vgl. Weber 2002/ 1921-22: 17f.), zu dem unter anderem Polizei, Armee und Geheimdienste gehören.
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So ist die Armee eine Institution, die im öffentlichen Auftrag handelt. Jeder Soldat bekleidet ein öffentliches Amt und ist in der Ausübung dieses Amtes dem Staat und der Zivilgesellschaft verpflichtet. Der Abu-Ghraib-Skandal hätte nicht dieselbe Bedeutung gehabt, wenn es sich bei den Tätern nur um amerikanische Söldner, Geschäftsmänner oder gar Touristen gehandelt hätte. Dies erklärt auch, warum militärische Fehlleistungen wie das Bombardement von Tankern in Afghanistan durch deutsche Luftstreitkräfte oder die Missbrauchsfälle innerhalb der Armee das Zeug zum Skandal hatten. Soldaten werden – stärker noch als ihre zivilen Mitbürger – als Repräsentanten ihrer Nation wahrgenommen – obgleich natürlich die Bedeutung der Armee für das kollektive Selbstbild einer Gesellschaft variiert. „Kollektiven Legitimität“ ist in einer Gesellschaft ungleich verteilt und trennt diese in ein Zentrum und eine Peripherie (Shils 1975). Im Zentrum der Gesellschaft sind staatliche Institutionen, Ämter und „Persönlichkeiten“ angesiedelt, die die Gesellschaft als Ganzes verkörpern und deswegen in besonderem Maße auf kollektive Legitimität und Anerkennung angewiesen sind. In der Peripherie der Gesellschaft sind hingegen private Akteure mit ihren partikularen Interessen beheimatet. Während politische Macht und kultureller Einfluss zentrifugal wirken, verläuft die kollektive Legitimierung zentripetal: Die Peripherie legitimiert das Zentrum – oder entzieht diesem Legitimität. Moderne Revolutionen, aber auch Skandale richten sich gegen das „unreine“, illegitime Zentrum einer Gesellschaft (Giesen 2004c: 85105). Massenmedien und politische Assoziationen lassen sich einer Semi-Peripherie bzw. einer „zentrierten Peripherie“ (Habermas 1992: 430; Peters 2007/1994) zuordnen, da sie ebenfalls in einem – wenngleich diffusen – öffentlichen Auftrag handeln. Dennoch handelt es sich bei ihnen um die zentralen Vermittlungsinstanzen kollektiver Legitimität – ohne die kein moderner Staat zu machen ist. In liberalen Gesellschaften wird niemand von den Zumutungen der kollektiven Legitimität ausgenommen, was unter anderem an der „mutual benefit“-Klausel des imaginierten Gesellschaftsvertrags liegt (4.1.2). Auch soziale Ungleichheiten haben sich zu legitimieren: Sie können durch individuelle Leistung, aber auch durch ihren öffentlichen Nutzen gerechtfertigt werden. Eine elaborierte Manifestation dieses Rechtfertigungsbedürfnisses findet man in John Rawls Theorie der Gerechtigkeit (2003), die zu klären versucht, unter welchen Bedingungen soziale Ungleichheiten in liberalen Gesellschaften als gerechtfertigt gelten dürfen. Angesichts von gesellschaftlichen Krisen oder Skandalen können auch die privaten Interessen von Unternehmen und Individuen ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik geraten. So wurde nach der Finanzkrise nicht nur den Politikern die mangelnde Regulierung der Finanzmärkte angekreidet, sondern auch die „Gier“ der Investmentbanker moralisch verurteilt. Die anhaltende Debatte um Managergehälter und Bonuszahlungen zeigt, dass die kollektive Legitimität nicht bei Privatunternehmen halt macht. Hinter der Legitimität einer sozialen Ordnung steht letztlich die öffentliche Macht der Moral.
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Politische Ämter und politisches Handeln im öffentlichen Interesse setzen nicht die Existenz einer unabhängigen politischen Öffentlichkeit voraus. Friedrich der Große bezeichnete sich – trotz der seinerzeit nicht vorhandenen politischen Öffentlichkeit – als „ersten Diener des Staates“. Auch der als „preußischer Staatsphilosoph“ verrufene Hegel definierte den Staat – in Abgrenzung zu den besonderen „Sphären des Privatrechts, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft“ (2000/ 1821: 407, § 261) – als eine Sphäre der Allgemeinheit, die dem Wohl des Kollektivs und der Kultur verpflichtet sei. Die bürgerliche Gesellschaft ist hier nur eine Sphäre des wirtschaftlichen Verkehrs zwischen privaten Individuen – und kein Ort öffentlicher Meinungsäußerung. Hegel verwehrte sich des Gedankens, dass die öffentliche Meinung für die Allgemeinheit spreche bzw. eine legitimitätsstiftende oder kritische Funktion besitze (2000/1821: 482-480, § 314-320). Der Begriff der „Zivilgesellschaft“, der in den letzten Jahren eine Konjunktur erlebt (vgl. Alexander & Smith 1994; Münch 2002), zeichnet sich – wie bereits die „bürgerliche Gesellschaft“ bei Hegel – durch eine Distanz zum Staat aus. Zugleich tritt die Zivilgesellschaft aber auch in einen Gegensatz zum ökonomischen Markt und den anderen gesellschaftlichen Teilbereichen (vgl. Offe 2000). Die Zivilgesellschaft manifestiert sich in der politischen Öffentlichkeit, in Bürgerinitiativen und anderen Assoziationen. Für Habermas (1992) ist die Öffentlichkeit – in einem emphatischen Sinn – zivilgesellschaftlich organisiert und nicht den Vermarktungsinteressen von Medienkonzernen unterworfen. In seinen Augen stellt sie eine Verlängerung der Lebenswelt dar, die sich der funktionalen und strategischen Logik der übrigen Teilsysteme der Gesellschaft widersetzt (1997). Während der Staat kollektiv verbindliche Entscheidungen trifft und durchsetzt, kann die politische Öffentlichkeit diesen Entscheidungen Legitimität verleihen oder sie ihnen entziehen. Die öffentliche Thematisierung von sozialen und politischen Problemen stellt, im Gegensatz zum alltäglichen Geschäft der Politik und Verwaltung, einen „außerordentlichen Problembearbeitungsmodus“ dar (Habermas 1992: 433). Die Kapazitäten der Öffentlichkeit, insbesondere der knapp bemessene mediale Aufmerksamkeitsraum, sind hierfür begrenzt. Peters (2007/1994) und Habermas (1992: 430) beschreiben das Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit als ein Verhältnis von Zentrum und Peripherie, wobei der Einfluss der Peripherie auf das Zentrum kein Regelfall, sondern eine Ausnahme darstellt. Dieses Verhältnis von Zentrum und Peripherie mag zwar dem Gestus kritischer Gesellschaftstheorien entgegenkommen, die gerne in kritischer Distanz zur Macht sehen, aber es lässt sich auch genauso gut umkehren: Nicht nur alle politische Macht geht vom Volke aus, sondern auch die rechtliche Verfassung wird auf die verfassungsgebende Gewalt des Volkes zurückgeführt. Das Volk als innerweltliche Transzendenz des Kollektivs findet aber in der politischen Öffentlichkeit seinen zeitgemäßen Ausdruck (so auch Giesen 2005). Die Außerordentlichkeit öffentlicher Einflussnahmen ist vielmehr ein Beleg für die zentrale Stellung der Öffentlichkeit in liberalen Demokratien.
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Die politische Öffentlichkeit legitimiert die Politik und die öffentliche Moral das Recht. als Quelle der kollektiven Legitimität ist die Öffentlichkeit das eigentliche Zentrum der Gesellschaft. Sie ist – um einen Gedanken von Durkheim aufzugreifen – die zentrale Manifestation des kollektiven Bewusstseins. Habermas zufolge fungiert die politische Öffentlichkeit als „Resonanzboden“ für Probleme, „die vom politischen System bearbeitet werden müssen, weil sie andernorts nicht gelöst werden“, als eine Art „Warnsystem mit unspezialisierten, aber gesellschaftsweit empfindlichen Sensoren“ (1992: 435). Somit spielt die Öffentlichkeit nicht nur für politische Fragen im engeren Sinne, sondern auch für die Wahrnehmung sozialer Probleme eine zentrale Rolle. Bernhard Giesen zufolge beruht die Konstruktion sozialer Probleme auf einem medial vermittelten und öffentlich artikulierten Interesse, auf einer sozialen Grenzziehung zur Bestimmung der gesellschaftlichen Gemeinschaft und einer normativen Definition des Problems, die vor dem Hintergrund der moralischen Ordnung der Gesellschaft stattfindet (1983: 236). Aus der erfolgreichen Konstruktion „sozialer Probleme“, resultiert nicht nur Handlungsbedarf für die Politik, sondern es entstehen auch Tätigkeitsfelder für „moralische Unternehmer“. Öffentlichkeit als zivilgesellschaftlicher Diskurs lässt sich auf zwei Weisen thematisieren. Zum einen kann von „Öffentlichkeit im emphatischen Sinn“ als einer normativen Konzeption gesprochen werden (Peters 2007/1994: 59-68), zum anderen kann der zivilgesellschaftliche Diskurs als empirisches Faktum untersucht werden (Alexander & Smith 1994; 4.3.1). Der emphatische Begriff einer „deliberativen Öffentlichkeit“ erschöpft sich weder in der offenen Kommunikation noch in der kollektiven Legitimierung politischer Entscheidungen, sondern setzt voraus, dass diese Legitimation durch eine rationale Argumentation innerhalb eines herrschaftsfreien Diskurses hergestellt wird. Diesem rationalistischen Verständnis zivilgesellschaftlicher Diskurse wurde in Deutschland durch die normative Besetzung des Diskursbegriffs in der sogenannten „Diskursethik“ Vorschub geleistet (Apel 1976; 1.1.5), während der empirische Diskursbegriff vor allem auf die Arbeiten von Michel Foucault zurückgeht. Da sich der normative Diskursbegriff am dialogischen Modell der Versammlungsöffentlichkeit orientiert, stellt für Habermas die „massenmedial vermachtete Öffentlichkeit“ (1992: 451) keine politische Öffentlichkeit im emphatisch-normativen Sinn des Wortes dar. Nur eine kritisch-räsonierende Öffentlichkeit kann die ihr – von Philosophen − zugedachte Funktion der demokratischen Willensbildung und der Kritik der Herrschenden erfüllen. 4.2.3 Öffentlichkeit als kollektive Vorstellung Öffentlichkeit kann in dreierlei Hinsicht als eine Vorstellung begriffen werden: Erstens als sozial geteilte Imagination, die den Praktiken der Akteure eine spezifische Bedeutung verleiht; zweitens als performative Repräsentation, durch die sich Einzelne, seien es Journalisten, Politiker oder Intellektuelle, als Sprecher eines Kollek-
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tivs in Szene setzen; drittens als Inszenierung eines gesellschaftlichen Dialogs, welche das Publikum mit auf die Bühne holt. Alle drei Formen sind auf eine Imagination von Öffentlichkeit und Gemeinschaft angewiesen, die das faktische Geschehen überbietet. Die einsame Tätigkeit des Zeitungslesers oder Fernsehzuschauers muss gleichzeitig als Teilhabe an einem öffentlichen Diskurs verstanden werden. Der Politiker und der Intellektuelle sprechen in der Öffentlichkeit nicht für sich, sondern treten als Sprachrohre einer sozialen Gemeinschaft auf, die selbst wiederum nur in der Vorstellung zu existieren scheint. Leserbriefen in Zeitungen und Bürgerbefragungen im Fernsehen wird in einer ähnlichen Weise eine Bedeutung zugeschrieben, die über die faktische Meinungsäußerung des Einzelnen hinausgeht: Sie gelten als Stimmen aus dem Volke, die die imaginierte Gemeinschaft repräsentieren. Die „metatopische Öffentlichkeit“ (vgl. 4.2.1) lässt sich nur vor dem Hintergrund latent bleibender sozialer Vorstellungschemata und kultureller Deutungsmuster verständlich machen (vgl. Taylor 2009: 320-339). Die eigentümliche Vorstellung eines öffentlichen Raumes, „in dem Menschen, die einander niemals begegnen, nach eigenem Verständnis miteinander diskutieren und sich eine gemeinsame Meinung bilden können“ (2009: 323), ist auf die Einbildungskraft angewiesen, da ein solcher Ort als brute fact nicht existiert. Die Vorstellung einer Öffentlichkeit verleiht den intentionalen Akten von medialen Performern und ihrem Publikum eine neue Bedeutung. Sie ist Teil eines sozialen Imaginären, vor dessen Hintergrund der Akt des Zeitunglesens oder das Halten einer Rede an die Nation erst ihre eigentümliche Bedeutung gewinnen. Ein offener Brief in einer Zeitung hat für den Verfasser wie auch für den Leser eine andere Bedeutung als ein privater Schriftwechsel. Der Mehrwert an Bedeutung speist sich aus der Imagination eines abwesenden Publikums. In seiner Einsamkeit weiß sich der einzelne Fernsehzuschauer oder Zeitungsleser als einer von vielen – insbesondere, wenn er Zeuge bedeutender Medienereignissen wie dem 11. September 2001 wird. Die Öffentlichkeit als abwesendes Publikum wird im Akt der Rezeption mit vergegenwärtigt. Sie ist nicht auf eine direkte Repräsentation angewiesen, sondern wird vom Rezipienten „appräsentiert“. Der Zuschauer bzw. Leser weiß um die Öffentlichkeit von Nachrichten und kann sie innerhalb gewisser Grenzen als geteiltes Wissen für künftige Interaktionen voraussetzen. Öffentlichkeit ist eine imaginierte Gemeinschaft im Sinne von Anderson (1996). Zum einen ist sie eine Gemeinschaft der Zuschauer, die in der Vorstellung des einzelnen Zuschauers lebt, zum anderen bringt sich die Öffentlichkeit auch selbst als Gemeinschaft auf die Bühne – durch Repräsentation und Inszenierung. Öffentlichkeit als Repräsentation handelt in erster Linie nicht von dem, was sich jemand mental vorstellt, sondern von dem, was einer performativ darstellt (2.3). Die Repräsentation des Volkes liegt in einer liberalen Demokratie nicht alleine beim Staat und den politischen Ämtern, sondern auch in der Öffentlichkeit, wo einzelne Akteure und Organisationen als Sprachrohr des Volkes auftreten können. Journalisten, Redakteure und Nachrichtensprecher repräsentieren und konstituieren damit
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erst Öffentlichkeit. Sie artikulieren die öffentliche Meinung. Auch politische Demonstrationen im öffentlichen Raum versuchen, die Repräsentation der Öffentlichkeit für sich zu reklamieren. Demonstrationen sind in erster Linie keine Versammlungsöffentlichkeiten, denen es um inhaltliches Räsonnement und Verständigung geht, sondern Gesinnungsgemeinschaften, denen es auf medial verstärkte Außenwirkung ankommt. Der auf den Leipziger Montagsdemonstrationen verwendete Slogan „Wir sind das Volk“ – oder jüngst: „We are the 99 percent“ – ist im buchstäblichen Sinne falsch, aber wir verstehen seine Bedeutung, weil wir den Bannerträger als Repräsentanten einer imaginierten Gemeinschaft auffassen können. Eng verwandt mit der symbolischen Repräsentation von Öffentlichkeit ist die Inszenierung von Öffentlichkeit durch die Massenmedien, die weniger auf Repräsentation als auf einer spezifischen Form der Selektion beruht (4.2.2). Um dem Mangel an Dialogizität (oberflächlich) Abhilfe schaffen zu können(vgl. Luhmann 1996: 11), kommen in den Massenmedien unterschiedliche Techniken zur Anwendung, die das Publikum (scheinbar) mit einbeziehen und so den eigenen Anspruch auf kollektive Repräsentation untermauern. Die Inszenierung von Bürger-, Zuschauer- und Leserbeteiligung reicht von abgedruckten Leserbriefen über Interviews mit Passanten auf der Straße oder am Telefon bis hin zur Beteiligung der Zuschauer an Umfragen. Ähnliche Probleme hat auch die Politik, die nur über die Wahlen ein direktes Feedback der Bürger bekommt, sich aber durch die regelmäßig erhobene „Sonntagsfrage“ und die in den Medien repräsentierte öffentliche Meinung ein Bild vom Wählerwillen zu machen versucht. Die Massenmedien simulieren Dialogizität und Partizipation, die durch das Medium selbst ausgeschlossen sind. In eine ähnliche Richtung gehen die Kommentare und Diskussionsplattformen im Internet, die die klassischen Medienformate begleiten. Auch hier darf die faktische Einbindung des Users nicht überschätzt werden. Vielmehr handelt es sich um eine sehr eingeschränkte Möglichkeit der Partizipation, die nur von wenigen Usern genutzt wird und in erster Linie der Simulation von Dialogizität dient. Die Öffentlichkeit der modernen Gesellschaft lässt sich als soziales Imaginäres begreifen, das zusammen mit den Massenmedien als materielle und symbolische Infrastruktur eine Institution bildet. Zugleich ist Öffentlichkeit eine imaginäre Konstruktion, die auf eine symbolische und mediale Vermittlung angewiesen bleibt. Luhmann charakterisiert die Öffentlichkeit der Massenmedien als monologische Kommunikation, während sich Habermas in erster Linie an einem dialogischen Modell orientiert. Diese Untersuchung geht jedoch von einem triadischen Modell der öffentlichen Kommunikation aus, in dem die Öffentlichkeit als ein abwesender Dritter, der zu einer dyadischen Beziehung hinzutritt, begriffen wird. „Öffentlichkeit“, so die These, ist kein Akteur im herkömmlichen Sinne, sondern Platzhalter für eine unbestimmte Zahl weiterer Akteure, die einen Dialog beobachten oder sich an diesem sogar beteiligen könnten. „Öffentlichkeit“ ist eine Form der Imagination gesellschaftlicher Einheit – die reale Konsequenzen zeitigt.
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4.3 Ö FFENTLICHE M ORAL – Z UR T HEORIE ZIVILGESELLSCHAFTLICHER D ISKURSE Ohne Zweifel kann man die öffentliche Meinung als Studienobjekt wählen und daraus eine Wissenschaft machen; daraus besteht hauptsächlich die Soziologie. ÉMILE DURKHEIM, ZUSAMMENFASSUNG DER ELEMENTAREN FORMEN DES RELIGIÖSEN LEBENS (2005/1912: 586)
Die öffentliche Meinung ist ein soziologischer Tatbestand par exellence. Sie lässt sich nicht auf die individuelle Meinung einzelner Akteure zurückführen, sondern stellt ein soziales Phänomen sui generis dar. Dies bedeutet nicht, dass öffentliche Meinung nicht auch aus einer Akteursperspektive verständlich wäre. Die Ausführungen über die kollektive Intentionalität von Bewusstseinszuständen und Handlungen haben gezeigt (1.1.2), dass die Kollektivität sozialer Phänomene nicht notwendig in einem Widerspruch zum methodologischen Individualismus stehen muss. Ähnlich verhält es sich mit der öffentlichen Äußerung von Meinungen und Gefühlen sowie dem performativen Handeln in der Öffentlichkeit. Auch wenn öffentliche Akte nicht per se kollektiv sind, sind sie doch einer kollektiven Beobachtung ausgesetzt. Äußerungen im öffentlichen Diskurs müssen sich, selbst wenn sie als private Meinungen ausgeflaggt werden, an bestimmten Codes orientieren, um Gehör und Zuspruch zu finden. Öffentliche Diskurse sind von normativen Regeln durchzogen, die von kollektiven Gefühlen gestützt werden. Selbst reine Tatsachenbehauptungen, wie beispielsweise die Feststellung, dass die Erde flach oder von Gott in sechs Tagen erschaffen worden sei, müssen, wenn sie gegen kollektive Überzeugungen verstoßen, damit rechnen, auf Empörung zu stoßen. Selbst kollektiven Wissensbeständen haftet somit etwas Normatives an. Die Frage ist nun, wie soziologische Theorien diese inhärente Normativität der öffentlichen Meinung konzeptualisieren. Im Folgenden soll daher zunächst einmal der Unterschied zwischen „normativen“ und „deskriptiven“ Theorien der öffentlichen Meinung geklärt werden. Theoretische Zugänge zur öffentlichen Meinung lassen sich danach unterscheiden, ob sie einen normativen Anspruch erheben oder sich mit einer empirischen Beschreibung und Erklärung von Öffentlichkeit begnügen. Während die sogenannten „kritischen Theorien“ unter Berufung auf universelle Prinzipien über die öffentliche Meinung urteilen, versucht der größte Teil der Öffentlichkeitsforschung zwischen empirischer Untersuchung und normativer Kritik zu trennen ‒ oder auf letztere ganz zu verzichten. Hier wird die Auffassung vertreten, dass nur ein deskriptiver Zugang zur inhärenten Normativität des Sozialen den wissenschaftlichen Ansprüchen in Sachen Werturteilsfreiheit Genüge tut. Wenn die Soziologie einen eigenständigen Beitrag zur Wertedebatte leisten will, dann sollte sie als Reflexionsdisziplin auftreten,
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die latente normative Muster öffentlich zugänglich macht. Dieser dritte Weg ist der einer sogenannten public sociology, die als Akteur in den öffentlichen Diskurs eingreift und aus einer soziologisch informierten Perspektive zu normativen Fragen Stellung bezieht. Hier hat der Soziologe oder Intellektuelle keine herausgehobene Beobachterposition mehr, von der aus er über die Gesellschaft urteilen könnte, sondern ist selbst ein Teil der Gesellschaft und des öffentlichen Diskurses. Schon Durkheim hat darauf hingewiesen, dass die Soziologie selbst öffentlich werden müsse, um einen Einfluss auf die öffentliche Meinung zu haben: „Aber die Wissenschaft der Meinung erzeugt noch keine Meinung. Sie kann nur aufklären, sie kann sie nur ihrer selbst bewusst machen. In der Tat kann Wissenschaft die öffentliche Meinung dadurch verändern. Aber die Wissenschaft hängt auch dort weiter von der Meinung ab, wo sie sie zu beherrschen scheint. Denn sie nimmt, wie wir gezeigt haben, die nötige Kraft um auf die Meinung zu wirken, aus der Meinung.“ (2005/1912: 586; vgl. auch 287)
Die Soziologie kann als Wissenschaften in öffentlichen Diskursen wirksam werden – aber eben nur nach Maßgabe der Strukturen der Öffentlichkeit. In vielen Fragen von öffentlichem Interesse stößt die (sozial-)wissenschaftliche Autorität schnell an ihre Grenzen ‒ vor allem wenn die Forschungsergebnisse in eine andere Richtung weisen als das öffentliche Klima. Philip Zimbardos wissenschaftliche Erklärung der Abu-Ghraib-Missbrauchsfälle konnte sich zwar auf das sozialpsychologische Stanford-Prison-Experiment berufen (7.4), aber dies hatte nicht zur Folge, dass seine Erklärung im öffentlichen Diskurs als überlegen angesehen wurde (8.3.2). Aber auch in einem weiteren Punkt ist die Soziologie von der öffentlichen Meinung abhängig: Es ist der öffentliche Diskurs, der soziale Probleme und Themen identifiziert (Giesen 1983; 4.1.1), die dann von der Soziologie aufgegriffen werden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Abu Ghraib ist hierfür ein gutes Beispiel, aber auch das durch die Finanzkrise geschürte Interesse an der Finanzmarktsoziologie. Theorien der Öffentlichkeit unterscheiden sich dahingehend, welche Bedeutung sie der Rationalität der Akteure und irrationalen Faktoren wie Emotionen beimessen. Kritische Theorien der Öffentlichkeit, der Art wie sie von Habermas in Faktizität und Geltung vertreten wird (1992: 399-467), sehen in der öffentliche Meinung das Produkt von spontanen und rationalen Meinungsbildungsprozessen, die allerdings den störenden Einflüssen von Manipulationen und Affekten ausgesetzt sind. Diesen Verzerrungen der idealen Kommunikationssituation setzen kritische Theorien die Forderung nach einer „Aufklärung der Öffentlichkeit“ entgegen.15 Deren 15 Auch andere Theoretiker, z.B. der technokratisch argumentierende Hans Mathias Kepplinger (2005), bescheinigen der öffentlichen Meinung gravierende Rationalitätsdefizite, ziehen allerdings daraus andere Schlüsse: Nicht Aufklärung soll die Rationalitätsdefizite beseitigen, sondern die Herrschaft rationaler, nüchterner und sachlicher Experten.
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Kritiker wiederum erlaubten es sich anzumerken, dass sich medienvermittelte, öffentliche Diskussionen nur bedingt am Modell des rationalen aufgeklärten Diskurses orientieren (Giesen 1983; Münch 1995; Hondrich 2002). Karl-Otto Hondrich geht sogar so weit zu behaupten, dass die irrationalen und emotionalen Aspekte der öffentlichen Meinung nicht nur unvermeidbar, sondern auch funktional seien. So kommt es in der Empörung anlässlich eines Skandals zu einer spontan-irrationalen Einheit des Gefühls, die tiefer greift als der im rationalen Diskurs erzielte Konsens (5.3.3). Argumenten in einem Diskurs kann man mit Zurückweisung oder Gegenargumenten begegnen; kollektive Gefühle gehen den Beteiligten jedoch unter die Haut – ob sie dies wollen oder nicht. Eine weitere Möglichkeit, öffentliche Diskurse zu verstehen, besteht darin, die Motive der beteiligten Akteure auf ihr Eigeninteresse zu reduzieren. Allerdings führt dies nicht sehr weit, da selbst strategisch handelnde Akteure sich an den Strukturen des Diskurses orientieren müssen, um in ihrem Handeln erfolgreich zu sein: Laut Peters (2007/1994) zeichnen sich öffentliche Diskurse durch den Anspruch auf kollektive Akzeptanz aus; bei Münch heißt es, dass partikulare Interessen in öffentlichen Diskursen als verallgemeinerungsfähig dargestellt werden müssen (1995: 214-240); Elster (1998a) spricht von der zivilisierenden Kraft der „Heuchelei“; auch Giesen (1983) hat schon früh darauf hingewiesen, dass kollektive Deutungsschemata keineswegs willkürlich gehandhabt werden können, sondern für die Akteure eine strategische Bedeutung gewinnen. Aus diesem Grund müssen die vorgeblichen öffentlichen Interessen, aber auch die latenten kulturellen Muster bei der Analyse öffentlicher Diskurse immer berücksichtigt werden. Die Akteure operieren innerhalb einer symbolischen Ordnung und können durch den geschickten Gebrauch der Codes die öffentliche Meinung für sich gewinnen. Einen adäquaten, deskriptiven Zugang zur Realität und Moralität öffentlicher Diskurse verspricht die Theorie zivilgesellschaftlicher Diskurse in der neueren amerikanischen Kultursoziologie (4.3.1), die als theoretischer Bezugsrahmen für die Diskursanalyse in den letzten drei Kapiteln dienen wird. Allerdings trägt das einfache Modell zivilgesellschaftlicher Diskurse, der internen Differenzierung öffentlicher Diskurse zu wenig Rechnung trägt. Aus diesem Grund ist der primäre moralische Code öffentlicher Diskurse, zivil/unzivil, durch sekundäre Codierungen wie links/rechts oder konservativ/liberal zu erweitern (4.3.2). So lässt sich ohne die Unterscheidung zwischen einem liberalen und einem konservativen Diskurs der Verlauf des Abu-Ghraib-Skandals nicht angemessen rekonstruieren (8.3). 4.3.1 Die Struktur zivilgesellschaftlicher Diskurse Die moralische Ordnung moderner Gesellschaften lässt sich als symbolische Ordnung beschreiben, die sich an einem binären moralischen Code orientiert (4.1). Es bietet sich an, den allgemeinen Code vom Code der „öffentlichen Moral“ zu unter-
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scheiden. Im Gegensatz zur universellen Moral der Philosophen oder der partikularen Moral der Lebensstile bezieht sich die zivile Moral auf ein nationales Kollektiv und eine politische Öffentlichkeit. Jeffrey C. Alexander und Phillip Smith haben eine Theorie des zivilgesellschaftlichen Diskurses entworfen, in der sie den Code der öffentlichen Moral als „demokratisch/repressiv“ bezeichnen (Alexander & Smith 1994). In neueren Arbeiten spricht Alexander (2006a) auch von „liberty“ und „repression“. Im Folgenden wird von „zivil“ und „unzivil“ die Rede sein, da sich dieses Begriffspaar sowohl auf liberal-demokratische als auch auf autoritäre Diskurse anwenden lässt. Alexander und Smith argumentieren, dass sich der binäre Code der zivilen Sphäre in öffentlichen Diskursen auf Akteure und ihre Motive, auf soziale Beziehungen und auf die Institutionen einer Gesellschaft beziehen lässt (1994: 165f.; vgl. auch Alexander 2006a: 57-59): Tabelle 7: Diskursive Struktur zivilgesellschaftlicher Diskurse Diskursive Struktur
Demokratischer Code / Gegendemokratischer Zivil Code / Unzivil
Akteure und Motive
Aktiv Rational Ruhig Realistisch Normal
Passiv Irrational Erregbar Unrealistisch Verrückt
Soziale Beziehungen
Offen Kritisch Aufrichtig Ehrlich Freund
Verborgen Ehrerbietig Berechnend Falsch Feind
Institutionen
Regelgeleitet Recht Gleichheit Unpersönlich Amt
Willkürlich Macht Hierarchie Persönlich Persönlichkeit
Laut Alexander und Smith lässt sich diese Struktur als ein Grundgerüst interpretieren, das allen zivilgesellschaftlichen Diskursen zu Grunde liegt. Akteure bedienen sich dieser Struktur, indem sie Anderen unlautere Motive unterstellen, soziale Beziehungen als „korrupt“ diskreditieren oder Institutionen anschwärzen. Auch wenn den Autoren beizupflichten ist, dass es sich bei der binären Struktur des zivilgesell-
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schaftlichen Diskurses um ein allgemeines Merkmal öffentlicher Diskurse handelt, stößt die Ausgestaltung dieser Struktur schon bei der Beschreibung amerikanischer politischer Diskurse an ihre Grenzen. So klaffen beispielsweise bei den Demokraten und den Republikaner die Vorstellungen darüber, was als „Freiheit“ oder als „Repression“ zu gelten habe, welches Verhalten als „zivil“ und welches als „unzivil“ anzusehen sei, manchmal weit auseinander. Neben der primären Codierung des zivilgesellschaftlichen Diskurses, die von allen Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt werden, gibt es noch sekundäre Codierungen (z.B. links/rechts, liberal/konservativ), die nur für bestimmte Gruppierungen gelten (4.3.2). Auch einzelne Attribute, die Alexander und Smith den jeweiligen Seiten des Codes zuordnen, variieren von Kontext zu Kontext. Nicht jedes Geheimnis lässt sich als „geheimniskrämerisch“ und/oder „repressiv“ brandmarken. Die Entscheidung der Obama-Administration, keine weiteren Abu-Ghraib-Bilder zu veröffentlichen, ist hierfür ein gutes Beispiel (10.5). Darüber hinaus werden Hierarchien in bestimmten Institutionen, wie der Armee, für legitim erachtet, während sie in anderen Institutionen verpönt sind Die Schwierigkeiten nehmen zu, wenn man dieses Modell auf andere Diskursformationen überträgt. In royalistischen Diskursen gelten nun mal die Königstreuen als zivil – und nicht die Revolutionäre, die für eine neue politische Ordnung streiten. Das nicht alle öffentlichen Diskurse die Freiheit des Einzelnen auf der positiven Seite des Codes verorten, hat bereits einer der beiden Autoren in einer Studie zum Kommunismus und Faschismus gezeigt (Smith 1998). Im Nationalsozialismus hatte man ein „anständiger Deutscher“ zu sein, das heißt die vollgültige Inklusion in den öffentlichen Diskurs war nicht nur von „zivilen“, sondern auch von „primordialen Codes“ abhängig.16 Auch in den nationalistischen Diskursen der Gegenwart spielen diese askriptiven Merkmale eine große Rolle. Alle zivilgesellschaftlichen Diskurse operieren nach einem binären Code (analog zur Differenz von heilig/profan), der allerdings in verschiedenen Gesellschaften eine unterschiedliche Ausprägung erfahren kann. Gesellschaften unterscheiden sich hinsichtlich ihrer moralisch-politischen Programme, die die Zuweisung von Codewerten regeln (1.3.2), und bezüglich ihres sozialen Imaginären, das dem symbolischen Gerüst öffentlicher Diskurse erst seine Bedeutung verleiht. Das Basismodell lässt sich für jede Analyse von öffentlichen Diskursen verwenden, aber die Spezifizierungen des binären Codes müssen dem jeweiligen Forschungsgegenstand angepasst werden. 17 Die Rede von der Zivilgesellschaft impliziert allerdings eine politische Öffentlichkeit, die ge16 Zum Begriff des „primordialen Codes“, der die Zugehörigkeit zu Gruppen an „natürliche“ Merkmale wie Geschlecht, Herkunft und Rasse knüpft, vgl. die Arbeiten von Bernhard Giesen (1993; vgl. auch Eisenstadt & Giesen 1995) 17 Das Schema lässt sich auch auf autoritäre Staaten und Monarchien übertragen, die in öffentlichen Diskursen nicht von vornherein als „unzivil“ gelten, sondern durchaus als legitim (weil im Interesse des beherrschten Kollektivs) gerahmt werden können.
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genüber staatlichen Eingriffen und Marktzwängen einen gewissen Grad an Autonomie besitzt (Offe 2000; Alexander 2006a). Die sogenannten „kommunikativen Institutionen“, zu denen Alexander (2006a: 69-105) vor allem die Massenmedien, aber auch Umfragen und Assoziationen zählt, stellen die materielle und organisatorische Basis von öffentlichen Diskursen dar. Unter den Begriff „Massenmedien“ lassen sich hier vor allem Fernsehsender, Zeitungen und Radiostationen subsumieren, die sich als Medienunternehmen auf dem Meinungsmarkt behaupten müssen – seien sie in staatlicher oder privater Trägerschaft. Natürlich ist hier auch das Internet zu nennen, das allerdings (zumindest was zivilgesellschaftliche Diskurse angeht) in erster Linie an bereits bestehende Medienplattformen anknüpft. Trotz der Einbindung in Märkte kommt zivilgesellschaftlichen Diskursen eine relative Autonomie gegenüber Marktzwängen bzw. gegenüber den politischen Interessen der Besitzer der Medienunternehmen zu. Der Berufsethos der Journalisten und der öffentliche Auftrag der Massenmedien regulieren zivilgesellschaftliche Diskurse und sichern ihnen eine gewisse Autonomie.18 Während private Medienunternehmen in erster Linie über die Profitorientierung an ihr Publikum gebunden sind, handeln staatliche Medienanstalten in öffentlichem Auftrag. Diese sind teils einer staatlichen Einflussnahme, teils aber auch den Mechanismen des Marktes unterworfen. Auch in ihrem Fall muss von einer relativen Autonomie gesprochen werden. Sowohl staatliche Medienanstalten als auch private Medienunternehmen sind mit den Prinzipien zivilgesellschaftlicher Diskurse vereinbar. Der zivilgesellschaftliche Diskurs besitzt Schnittstellen zu anderen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere zur Politik und zum Recht (Alexander 2006a: 107192; Peters 1993: 322-362). Zum einen sind die politischen und rechtlichen Institutionen eines Staates dazu verpflichtet, die zivilgesellschaftlichen Werte zu schützen, zum anderen sind sie einer öffentlichen Dauerbeobachtung ausgesetzt. Wichtige Entscheidungen in Politik und Recht werden öffentlich beobachtet, kommentiert und kritisiert. Dies trifft zumindest auf den Kern des politischen Feldes, auf die Re18 Es gibt keinen inhärenten Widerspruch zwischen zivilgesellschaftlichem Diskurs und dem marktförmigen Wettbewerb der Medienunternehmen – nur für jene, die einer kruden Manipulationstheorie anhängen. Das Angebot auf dem Markt der öffentlichen Meinung richtet sich in weiten Teilen nach der antizipierten Nachfrage, wofür nicht zuletzt die Mechanismen des Marktes sorgen. Medienkonsumenten sind keiner einseitigen Manipulation ausgesetzt, sondern entscheiden selber, welchen Meinungen sie sich aussetzen wollen. Eine politische Einflussnahme von Seiten der Besitzer von Medienunternehmen ist damit nicht ausgeschlossen, aber ihr sind Grenzen gesetzt. Monopole und Oligopole gefährden die Autonomie zivilgesellschaftlicher Diskurse stärker als der freie Markt der öffentlichen Meinung. Dem Manipulationsverdacht, dem Medienunternehmen unterliegen, muss entgegnet werden, dass eine journalistische Berichterstattung zwar Stimmung machen kann, ihre Resonanz aber trotzdem von der Stimmung in der Bevölkerung abhängt.
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gierung, die Parteien und das Parlament, zu, weniger allerdings auf die staatliche Bürokratie, die weitestgehend unabhängig von öffentlicher Einflussnahme nach ihrer eigenen Logik operiert – es sei denn, ein skandalöser Fall bürokratischen Versagens wird publik gemacht. Politik ist wegen ihrer Aufgabe, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen, eine genuin öffentliche Angelegenheit. Gerade weil Politiker, zumindest dem Anspruch nach, die Interessen der Öffentlichkeit vertreten und in Demokratien auch faktisch von Wählerstimmen abhängig sind, dringt die öffentliche Meinung tief in den Bereich politischer Entscheidungen ein. Dies hindert Politiker natürlich nicht daran, auch einmal unpopuläre Entscheidungen zu treffen – allerdings müssen sie dann mit den Konsequenzen leben. In modernen Demokratien bilden Mehrparteiensysteme das Spektrum der öffentlichen Meinung im Parlament ab. Selbst ein Zweiparteiensystem wie das der Vereinigten Staaten muss schon auf kleinste Verschiebungen in der öffentlichen Meinung reagieren, weil Wahlen letztendlich „in der Mitte“ gewonnen werden. Die Gewissensfreiheit im deutschen wie im amerikanischen Parlament löst den Abgeordneten – zumindest dem Prinzip nach – aus der hierarchischen Parteidisziplin heraus: Als gewählter Repräsentant ist er nur seinem Gewissen und dem öffentlichen Interesse verpflichtet. Das Ausmaß der Autonomie der Abgeordneten variiert allerdings nach Maßgabe der jeweiligen politischen Kultur. In Deutschland besitzt der „Fraktionszwang“ eine lange Tradition und Abweichler in den eigenen Reigen werden als Symbol der Uneinigkeit und Schwäche gedeutet, während in den Vereinigten Staaten, gerade aufgrund des Direktwahlsystems, der eigene Abgeordnete weniger stark an die Parteilinie gebunden ist. Dies erleichtert, wie im Falle des McCain-Amendments (9.2), parteiübergreifende Mehrheiten. Entscheidend für die öffentliche Einflussnahme ist, dass Politiker nicht für eine bestimmte Zeit gewählt werden, in der sie – innerhalb der Grenzen des Gesetzes – nach eigenem Belieben schalten und walten können. Vielmehr sind sie der Beobachtung durch die Öffentlichkeit ausgesetzt und – im eigenem Interesse – dazu gezwungen, „dem Volk aufs Maul zu schauen“ – oder zumindest den Journalisten als der Stimme des Volkes. Ein weiterer staatlicher Bereich, der mit zivilgesellschaftlichen und moralischen Diskursen aufs Engste verknüpft ist, ist das Recht (hierzu auch Noelle-Neumann 1991: 178-191). Im Gegensatz zur öffentlichen Macht der Moral, die lediglich moralische Achtung vergeben oder entziehen kann, stehen für die Durchsetzung des Rechts die Sanktionsmechanismen des Staates zur Verfügung. Schon in der Arbeitsteilung hat Durkheim (2004/1893) auf den engen Zusammenhang zwischen Recht und öffentlicher Moral hingewiesen, ja das Recht sogar als materiellen Ausdruck der allgemeinen Moral bezeichnet. Zwar kann eine neue Moral in einen zeitweiligen Gegensatz zum überlieferten Recht treten, aber dieser Gegensatz ist für Durkheim nur ein vorübergehendes Symptom gesellschaftlichen Wandels (2004/1893: 112f.). Allerdings kann das institutionalisierte Recht und die öffentliche Moral, wie nicht zuletzt an der Folterdebatte nach dem 11. September 2001 und dem Abu-
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Ghraib-Skandal ersichtlich wird (6.4; 10.4), auch dauerhaft auseinanderklaffen. Moralische Dilemmata führen in Graubereiche des moralischen Handelns (4.1.2), die einer rechtlichen Institutionalisierung entzogen werden können. In der akademischen Debatte zum Thema Folter bildete sich ein Konsens heraus, der von einer moralischen Zulässigkeit von Folter in bestimmten Situationen ausgeht, aber ihre rechtliche Institutionalisierung strikt ablehnt (10.4.2). Alexander sieht im Recht als regulativer Institution einen Bestandteil der zivilen Sphäre (2006a: 151-192). Giesen begreift den Aufstieg der Moral in der Moderne als Folge des Verlustes jenseitiger Transzendenzen und als notwendige Ergänzung zum Rechtspositivismus: „Wird eine Gesellschaft durch eine übergreifende Moral integriert, so kann zum ersten Mal bestehendes Recht als ungerecht kritisiert und durch gänzlich neue Rechtsströmungen kritisiert werden“ (1991b: 218; vgl. auch 2005). In der öffentlichen Moral findet das Recht den Grund seiner Legitimität. Da in der Auslegung des jeweils geltenden Rechts und der Bemessung des Strafmaßes ein gewisser Spielraum herrscht, werden rechtliche Entscheidungen nicht alleine durch Gesetze determiniert. Für das Rechtsystem gelten nämlich dieselben Aporien, die bereits am normativistischen Handlungsverständnis herausgearbeitet wurden (1.1.4). Rechtliche Normen sind unterbestimmt und werden erst durch ihre Interpretation und Anwendung konkretisiert. Zudem kann über die Anwendbarkeit von Normen bestritten werden. Dies lässt die Rechtsprechung auch zu einem Einfallstor für das öffentliche Klima werden, das als „unentscheidbare Entscheidungsprämisse“ (Luhmann 2000) in rechtliche Urteile mit einfließt. Die schnelle und harte Bestrafung der Täter von Abu Ghraib durch ein Militärgericht verdankte sich dem politischen und öffentlichen Druck (8.5.1), der im Laufe des Skandals aufgebaut wurde. In ähnlicher Weise stärkte der Supreme Court, das höchste Gericht der Vereinigten Staaten, in den Nachwehen des Skandals und gegen den erklärten Willen der Regierung, die Rechte der Gefangenen in Abu Ghraib (9.3). Umgekehrt muss natürlich auch rechtlichen Entscheidungen ein Einfluss auf das öffentliche Meinungsklima zugestanden werden (vgl. Noelle-Neumann 1991: 188-191). Das Rechtssystem bleibt als symbolische Ordnung, bestehend aus einem binären Code und einem System rechtlicher Normen und Werte, immer auch auf ein imaginäres Supplement angewiesen. So hat Robert M. Cover (1983) den griechischen Begriff nomos für das normative Universum bzw. den moralischen Hintergrund geprägt, in dem Menschen schon vor der Existenz eigenständiger rechtlicher Institutionen lebten, das aber auch für unser gegenwärtiges Verständnis von rechtlichen Ordnungen von Bedeutung ist: „The normative universe is held together by the force of interpretive commitments – some small and private, others immense and public. These commitments – of official and of others – do determine what law means and what law shall be“ (1983: 7). Eine zentrale Rolle räumt er narrativen Mustern ein, die den nomos strukturieren und organisieren. Selbst identische rechtliche Ordnungen können, so Cover, im Lichte unterschiedlicher Narrative anders in-
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terpretiert und angewendet werden. Dies bedeutet aber auch, dass geltendes Recht – vor dem Hintergrund unterschiedlicher Rechtsauffassungen − von einer Gemeinschaft von Interpreten als „ungerecht“ kritisiert werden kann. 4.3.2 Öffentliche Meinung ‒ Diskursive Hegemonie und Polarisierung Trotz des normativen und rationalistischen Diskursbegriffs im Anschluss an Apel und Habermas hat sich auch hierzulande – zumindest in den Sozial- und Kulturwissenschaften – ein deskriptiver und empirischer Diskursbegriff durchgesetzt. In Anschluss an Laclau und Mouffe (2000) lässt sich öffentliche Meinung als Hegemonie und damit als zeitweilige Besetzung des leeren Signifikanten im zivilgesellschaftlichen Diskurs definieren. Der leere Signifikant steht für das Kollektiv, das sich durch äquivalent gehandhabte partikuläre Differenzen von seinem konstitutiven Außen abgrenzt (1.3.2). Die öffentliche Meinung ist unbestimmt und umkämpft. Auch für Alexander und Smith (1994) ist die öffentliche Meinung das Ergebnis eines diskursiv ausgetragenen Kampfes um die legitime Repräsentation des Kollektivs (4.2.3). In dem hier vorgeschlagenen Modell stellt „öffentliche Meinung“ eine diskursiv erzielte Hegemonie dar, die zunächst nur begrenzt Rückschlüsse auf die moralischen Einstellungen der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft zulässt. Trotzdem stellt die öffentliche Moral einen lohnenden Forschungsgegenstand dar, da sie durch kommunikative und regulative Institutionen einen großen Einfluss besitzt. Gesetzgebung und Rechtsprechung besitzen, wie auch die Soziologie, ‒ aller Meinungsumfragen zum Trotz ‒ keinen direkten Zugriff auf die privaten Meinungen der Bürger. Politikern und Richtern bleibt meist nichts anderes übrig, als sich an der öffentlichen Meinung zu orientieren, wie sie im zivilgesellschaftlichen Diskurs verhandelt wird. Dennoch scheint die Hypothese plausibel, dass die herrschende öffentliche Meinung die tatsächlichen Einstellungen der Mitglieder einer Gesellschaft zu einem gewissen Grade reflektiert und auch beeinflusst. Mit der Diskrepanz zwischen öffentlicher Moral und den moralischen Einstellungen der Mitglieder einer Gesellschaft hat sich Elisabeth Noelle-Neumann (1991) in ihrer „Theorie der Schweigespirale“ auseinandergesetzt. Sie unterscheidet zwischen der „manifesten“ und der „latenten Funktion“ öffentlicher Meinung, wobei die manifeste Funktion dem normativen bzw. rationalen Diskursverständnis entspricht. Hier dient die öffentliche Meinung der Selbststeuerung einer Gesellschaft. Schon in seinem Werk Strukturwandel der Öffentlichkeit schrieb Habermas (1990: 344) der räsonierend-kritischen Publizität die Funktion zu, politische Herrschaft zu legitimieren. Dabei wandte er sich dezidiert gegen ein Verständnis von der öffentlichen Meinung als einer staatsrechtlichen Fiktion, aber auch gegen die aggregierte Massenmeinung der Sozialpsychologie (1990: 343-352). Die latente Funktion der öffentlichen Meinung, die mit dem von Habermas kritisierten sozialpsychologischen Modell von Öffentlichkeit übereinstimmt, besteht
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für Noelle-Neumann (1991) in der „sozialen Kontrolle“. Ihr zufolge leistet die öffentliche Meinung einen Beitrag zur Integration der Gesellschaft, indem sie abweichendes Denken und Handeln unterdrückt. Noelle-Neumanns „Schweigespirale“ fungiert als kausaler Mechanismus dieser sozialen Kontrolle. Sie beschreibt den empirischen Befund, dass abweichende Meinungen von der hegemonialen öffentlichen Meinung zunächst nicht mehr öffentlich geäußert und dann sogar fallen gelassen werden. Diesen sozialen Mechanismus führt Noelle-Neumann auf elementarere sozialpsychologische Mechanismen zurück. Grundlegend für die Funktionsweise der Schweigespirale ist die drohende Sanktionierung von abweichenden Meinungen durch moralische Ächtung und soziale Exklusion. Über dem Einzelnen schwebt das Damoklesschwert einer – meist implizit bleibenden – Isolationsdrohung. Das Individuum reagiert auf diese Drohung mit einer Isolationsfurcht, die es wiederum zum Schweigen motiviert (1991: 59-83). Der Konformitätsdruck reicht aber noch weiter, bis in das Innere des Individuums hinein. So verschwinden im Laufe der Zeit jene Meinungen, die vom hegemonialen Diskurs abweichen. Es kommt zu einer Einstellungsänderung bei den Betroffenen, die möglicherweise der Bewältigung „kognitiver Dissonanz“ geschuldet ist (vgl. Festinger 1968). Die öffentliche Macht der Moral verdankt sich, wo sie nicht durch ihre Autorität überzeugen kann, einer anonymisierten Drohmacht (3.1.1). Die Schweigespirale ist ein empirisch gut belegter Mechanismus, der die öffentliche Meinung, die öffentlich geäußerten Meinungen und die Einstellungen der Bürger in einen kausalen Zusammenhang bringt. Die Einheit des zivilgesellschaftlichen Diskurses wird durch einen binären moralischen Code repräsentiert. Dieser zivile Code ist allerdings – wie alle symbolischen Codes (1.3.2) – unspezifisch und lässt Freiräume für Interpretationen. Schauen wir uns reale öffentliche Diskurse an, so stellen wir fest, dass sie eine interne Differenzierung besitzen und von tiefsitzenden Deutungskonflikten geprägt sind. So hat schon Parsons mit Blick auf die Vereinigten Staaten bemerkt, dass sich der hegemoniale Diskurs – zwischen den politischen Extrempolen der äußersten Linken und Rechten – in zwei Flügel, nämlich einen liberalen und einen konservativen Diskurs, differenziert (2007: 84f.). Diese Differenzen und Konflikte dürfen uns allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass alle beteiligten Akteure über eine gemeinsame symbolische Ordnung und ein geteiltes soziales Imaginäres verfügen. Dieser kulturelle Boden, auf dem sich Dissens erst etablieren kann, wird von Wittgenstein Lebensform genannt: „Richtig und falsch ist, was die Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform“ (Wittgenstein 1984/1953: 356).19 Erst vor einem geteilten kulturellen Hintergrund, der gemeinsame Bedeutung konstituiert, kann es zu Meinungsverschiedenheiten kommen. Auch zivilgesellschaftliche Diskurse können als ein derartiges „Sprachspiel“ begriffen werden, das auf einer pri19 Zum Begriff der „Lebensform“ als Kultur vgl. Derra Alexandra (2007).
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mären Codierung beruht, die von allen Akteuren geteilt wird. Allerdings greift ein solches Konzept, wie es insbesondere von Alexander und Smith vertreten wird (4.3.1), für die Beschreibung realer Diskurse zu kurz, da es die interne Differenzierung, ja Polarisierung dieser Diskurse vernachlässigt. Die Polarität zivilgesellschaftlicher Diskurse erstreckt sich nicht nur auf den Bereich manifester öffentlicher Konflikte, sondern reicht bis in die Bereiche der Lebenswelt und in die private Lebensführung hinein. George Lakoff (2006) stellt zu Beginn seiner Studie Moral Politics fest, dass Liberale und Konservative in den Vereinigten Staaten bestimmte Begriffe unterschiedlich verwenden und deswegen aneinander vorbeireden. Frei nach Wittgenstein müssen wir den Liberalen und Konservativen nicht nur unterschiedliche Meinungen, sondern auch Unterschiede in der Lebensform, im kulturellen Hintergrund in Rechnung zu stellen. So sind beispielsweise die Leitbegriffe „Freiheit“ und „Repression“ in amerikanischen zivilgesellschaftlichen Diskursen unterbestimmt. Es handelt sich um leere Signifikanten, die zeitweilig durch hegemoniale Vorstellungen besetzt werden können (1.3.2). Was für Konservative in den Vereinigten Staaten eine selbstverständliche Freiheit ist, beispielsweise das Recht, Waffen zu tragen, ist für manche Liberale schlichtweg Wahnsinn. Was für Liberale eine zu verteidigende Freiheit darstellt, z.B. das Recht auf Abtreibung, ist für Konservative das Töten unschuldiger Babys. 20 Konservative gehören wiederum mehrheitlich zu den Befürwortern der Todesstrafe, die von Demokraten in aller Regel abgelehnt wird. Lakoff (2006) stellt sich nun die Frage, woher diese systematischen Unterschiede zwischen liberalem und konservativem Denken kommen. Ihm zufolge korrespondiert die politische oder öffentliche Moral von Konservativen und Liberalen mit ihrer jeweiligen Alltags- oder Familienmoral. Sein Ansatz besteht darin, nach Schlüsselmetaphern zu suchen, die zu den wichtigsten Aspekten des kulturellen Handlungshintergrundes gehören (grundlegend hierzu Lakoff & Johnson 2003). In seiner Studie zur amerikanischen Moralpolitik kommt Lakoff (2006) zu dem Schluss, dass sowohl die Liberalen als auch die Konservativen eine Schlüsselmetapher teilen, nämlich jene vom „Staat als Familie“. Diese Schlüsselmetapher verschränkt auf einer vorbewussten mentalen Ebene den Bereich der Alltagsmoral mit dem der öffentlichen Moral, darüber hinaus steht sie für die Einheit des Diskurses, die eine Verständigung über die politischen Lager hinweg ermöglicht. Zugleich markiert sie aber auch den Punkt, an dem ein unterschiedliches Familienverständnis in politische Differenzen umschlägt: Konservative und Liberale pflegten nämlich, 20 Dies äußert sich auch in dem jeweiligen Rechtsverständnis. So polarisiert die Entscheidung des Supreme Court über die Legalisierung der Abtreibung den zivilgesellschaftlichen Diskurs der Vereinigten Staaten bis auf den heutigen Tag: „It is a somber fact of our own world, that many citizens believe that, with Roe v. Wade, the Supreme Court licensed the killing of absolutely innocent beings“ (Cover 1983: 7).
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so Lakoff, unterschiedliche Familienmodelle, die sie dann auf den Staat übertragen.21 Konservative gehen von dem strengen Vater als dem Oberhaupt der Familie aus, der die erwachsenen Kinder in die Freiheit entlässt, während die Liberalen das Ideal von fürsorglichen Eltern hegen, die ihre Kinder ein Leben lang unterstützten. Diese kulturellen Unterschiede zwischen der liberalen und der konservativen Moral, die auch die zivilgesellschaftlichen Diskurse der Vereinigten Staaten prägen, besitzen im amerikanischen Zweiparteiensystem ihre politische Entsprechung. Beide Parteien artikulieren die kulturellen Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft in einer spezifischen Weise, die der anderen Partei nicht nur fragwürdig, sondern oft auch widersinnig erscheint. Dass ein Republikaner für die Todesstrafe und gegen Abtreibung sein kann, aber staatliche Programme zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit ablehnt, stelle viele Demokraten vor ein Rätsel (vgl. 2006: 25). Was die Streitfrage der Abtreibung anbelangt, argumentiert Lakoff, dass die Unterschiede in der politischen Einstellung zunächst einmal damit zu tun hätten, dass Konservative den vorehelichen Sex von Jugendlichen als Missachtung der Autorität des Vaters ablehnen (Lakoff 2006: 263-270). Im amerikanischen Kontext ist die öffentliche Debatte um Abtreibung mit der moral panic vor „underage pregnancies“ verknüpft. Während Konservative in dieser Frage auf die Enthaltsamkeit der Kinder und die Autorität der Eltern setzen, propagieren Liberale sexuelle Aufklärung und den Einsatz von Verhütungsmittel. Dementsprechend stellt die ungewollte Schwangerschaft für Konservative die natürliche Strafe einer moralischen Übertretung dar. Sich dieser Bestrafung entziehen zu können, verderbe den Charakter. Lakoffs Theorie bietet einen Einblick in kulturelle Muster, die die Alltagsmoral der Vereinigten Staaten und ihre zivilgesellschaftlichen Diskurse durchziehen. Zwar ist der reduktionistische Einschlag seiner Theorie, die politische und religiöse Modelle letztendlich auf Familienstrukturen zurückführt, durchaus bedenklich, aber man muss diese Einschätzung nicht teilen, um die generellen Aussagen seiner Theorie mitzutragen. Seine Theorie eignet sich hervorragend dafür, den Ansatz von Alexander und Smith zu ergänzen (4.3.1), da sie nicht nur der symbolischen Unbestimmtheit von politischen Kampfbegriffen Rechnung trägt, sondern darüber hinaus eine kulturelle Erklärung für die unterschiedliche Füllung leerer Signifikanten bietet (1.3.2). Die sekundäre Codierung von zivilgesellschaftlichen Diskursen, die grundlegenden Unterschieden in moralischen Einstellungen entspricht, erlaubt es, zu erklären, warum bestimmte Narrative und Performanzen bei einem Publikum auf Resonanz stoßen und bei einem anderen Publikum kein Gehör finden. Robert Wuthnow (1988) hat sich ebenfalls mit der Polarisierung von Diskursen auseinandergesetzt. Er untersuchte die Struktur evangelikaler Diskurse in den Vereinigten Staaten und kam zu dem Ergebnis, dass sich die liberalen und konservati21 Die Imaginationen von Familie und Staat sind dabei als handlungsleitende Modelle im Sinne eines „model of“ und eines „model for“ zu verstehen (Geertz 1987).
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ven bzw. fundamentalistischen Diskurse innerhalb des Evangelikalismus weniger in ihren Inhalten, als vielmehr in ihrer Form voneinander unterscheiden. Sein Interesse an religiösen Diskursen begründet er damit, dass die Polarisierung zwischen liberalen und konservativen Christen in den Vereinigten Staaten zugenommen habe und in die öffentlichen Diskurse übergeschwappt sei. Die von Wuthnow herausgearbeiteten diskursiven Muster beschränken sich nicht auf das religiöse Feld, sondern sind auch für den zivilgesellschaftlichen Diskurs von Bedeutung. Die Ergebnisse seiner Studie können als Bestätigung und Ergänzung von Lakoffs Theorie gelesen werden. Sie beginnt, ähnlich wie Lakoffs Buch, mit der Feststellung, dass sich konservative und liberale Christen in Amerika einander fremd sind – und das, obwohl sie die wesentlichen religiösen Inhalte miteinander teilen. Seine Untersuchung von Predigten in verschiedenen Kirchen zeigt, dass sich die jeweiligen Diskursstile fundamental voneinander unterscheiden. Während liberale Diskurse auf Dialog setzen und eine offene Struktur aufweisen, ist für konservativfundamentalistische Diskurse die Autorität des Predigers und die Geschlossenheit des Diskurses charakteristisch. Konservative und fundamentalistische Christen halten an einer „wörtlichen Bedeutung“ der Bibel fest, während sich Liberale auf das Spiel der Interpretation einlassen. Bei den Konservativen wird Komplexität reduziert und die existenziellen Fragen auf eine einfache Antwort zugespitzt („Jesus is the answer“), liberale Predigten fangen mit einfachen Problemen an und bauen sukzessive Komplexität auf, die auch am Ende der Predigt nicht aufgelöst wird. Wuthnow spricht von einer „zentrifugalen“ Bedeutungsstruktur der liberalen Diskurse und einer „zentripetalen“ Struktur in fundamentalistischen Diskursen (1988: 334f.). Wie wir sehen, gibt es einige signifikante Unterschiede zwischen liberalen und fundamentalistischen Diskursen, die sich möglicherweise auch auf andere Diskurse übertragen lassen. Ähnliche Differenzen – und dies spricht für die Richtigkeit und Generalisierbarkeit der Ergebnisse von Wuthnow – gibt es auch in der Verfassungsrechtsprechung in den Vereinigten Staaten. Konservative Verfassungsrichter wie Antonin Scalia tendieren zu einer textualistischen Auslegung der Verfassung, für die alleine die „ursprüngliche Intention der Verfasser“ und der Wortlaut des Gesetzes maßgeblich sind. Liberale Verfassungsrichter berufen sich in aller Regel auf den pragmatischen Ansatz einer „living constitution“, in der die bisherige Rechtsprechung berücksichtigt wird und die Auslegung des Gesetzes – nicht dem Wortlaut, sondern seinem „Sinn“ nach – an die aktuelle Situation angepasst wird. Vergleichbare sekundäre Codierungen gibt es auch in der islamischen Rechtsprechung. Die folgende Tabelle fasst die bereits diskutierten Aspekte der sekundären Codierung zivilgesellschaftlicher Diskurses in den Vereinigten Staaten zusammen und ergänzt sie noch um die von Liberalen und Konservativen favorisierten Modelle der Handlungserklärung, die nicht nur für die soziologische Handlungstheorie, sondern auch für die empirische Analyse der Missbrauchsfälle von Bedeutung sind (7.4):
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Tabelle 8: Sekundäre Codierung des amerikanischen Diskurses Sekundäre Codierung nach
Konservativ
Liberal
Macht (Lakoff und Wuthnow)
Autorität
Dialog
Familienmodell (Lakoff)
Strenge
Fürsorge
Staatsmodell (Lakoff)
Nachtwächterstaat
Wohlfahrtsstaat
Auslegungsmodus (Wuthnow)
Zentripetal (Schließung)
Zentrifugal (Öffnung)
Bibel (Lakoff)
Altes Testament
Neues Testament
Bibelverständnis (Wuthnow)
Wörtliche Bedeutung
Gleichnis, Auslegung
Anrede in Predigten (Wuthnow)
Individuell
Kollektiv
Verfassungsverständnis
„Textualism“
„Living Constitution“
Handlungserklärung
Monokausal
Multikausal
Sowohl die von Lakoff und Wuthnow beschriebenen diskursiven Strukturen als auch die Unterschiede im Handlungsverständnis lassen sich im empirischen Material zu Abu Ghraib nachweisen. So bevorzugte der konservativ-hegemoniale Diskurs eine monokausale Erklärung der Missbrauchsfälle, während der linksliberale Gegendiskurs eine komplexere Betrachtung der Zusammenhänge forderte, die auch die Militärführung und die Regierung mit in die Verantwortung nahm (8.3). Erst als es gelang, die Verantwortung der Regierung in konservativen Begrifflichkeiten verständlich zu machen, konnte es zu einem neuen, übergreifenden Konsens in der Beurteilung der Missbrauchsfälle kommen (9.2; 10.1). Trotz nationaler Unterschiede, was die politische Landschaft bzw. Kultur betrifft, scheint es sich bei „Einheit“ und „Polarität“ um allgemeine Strukturmerkmal3 von zivilgesellschaftlichen Diskursen zu handeln. Ohne eine gemeinsame symbolische Ordnung wäre Kommunikation schlechterdings unmöglich, ohne kulturelle Differenzen in der Interpretation der Codes würde dem Diskurs einiges an Dynamik abgehen. Die Beilegung strittiger Debatten geht oft mit kulturellen Veränderungen einher, welche den kulturellen Hintergrund einer Gesellschaft nachhaltig prägen können. Zur Sedimentierung der öffentlichen Meinung in der Lebenswelt der Akteure tragen auch Mechanismen wie die Schweigespirale bei. Kaum ist allerdings ein gemeinsamer Boden gefunden, gibt es schon neuen Konfliktstoff für politische Debatten.
5. Grundzüge einer kultursoziologischen Skandaltheorie
Die öffentliche Macht zivilgesellschaftlicher Diskurse nimmt im Skandal eine besonders dramatische Gestalt an. Im Folgenden wird es darum gehen, eine kultursoziologische Theorie des Skandals zu skizzieren, die einen Rahmen für die spätere Analyse des Abu-Ghraib-Skandals zur Verfügung stellt. Nach einigen einleitenden Bemerkungen sollen zunächst drei grundlegende Narrative der Skandalkritik skizziert werden, die auch in zeitgenössischen Skandaltheorien wirksam sind (5.1.1). In Auseinandersetzung mit diesen Positionen und im Rückgriff auf die funktionalistische Straftheorie von Durkheim ist dann eine integrative und dynamische Theorie des Skandals und seiner gesellschaftlichen Funktionen zu entwerfen (5.1.2). In einem weiteren Schritt wird dann der Skandal als „außerordentliches Ereignis“ (5.2.1), „Medienritual“ (5.2.2) und „soziales Drama“ (5.2.3) diskutiert, wobei jeder dieser Begriffe andere Aspekte des Phänomens offenlegt. Den Abschluss bildet ein Prozessmodell des Skandals als einem sozialen Drama in fünf Akten (5.3). Für moderne Öffentlichkeiten gilt: Vox populi, vox dei. Dies zeigt sich besonders deutlich am Skandal, wo sich der Zorn des alten Gottes in der öffentlichen Empörung eine neue Bahn bricht. Der Begriff des Skandals hat nicht von ungefähr eine religiöse Konnotation, entstammt er doch der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments. Das altgriechische Wort scándalon bezeichnete ursprünglich das Stellhölzchen, das eine Falle am Zuschnappen hindert, bis es von einem unachtsamen Tier beiseite gestoßen wird. Im griechischen Bibeltext tritt es an die Stelle eines hebräischen Wortes, das in der Lutherübersetzung zumeist mit „Ärgernis“ wiedergegeben wird. Im biblischen Kontext stellt das scándalon eine religiöse Verfehlung dar.1 Vor dem religiösen Hintergrund westlicher Zivilgesellschaften ist es kaum verwunderlich, dass der Skandal auch heute noch die tragische Form eines selbstverschuldeten Falls in Ungnade annimmt (2.2.1), wie sie archety1
Zur Etymologie des Skandals vgl. vor allem Käsler (1991). Eine ausführliche Behandlung der Symbolik der Sünde und des Bösen findet sich bei Ricoeur (1971).
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pisch im biblischen Sündenfall vorgezeichnet ist. Im Frankreich tauchte der Begriff erstmals in seiner heutigen Bedeutung als „öffentliches Ärgernis“ auf und wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Lehnwort in den deutschsprachigen Raum übernommen (vgl. Neckel 1989). An diesem Bedeutungswandel wird sinnfällig, wie das Gesetz des zornigen und strafenden Gottes von der Moral einer zunehmend säkularen Öffentlichkeit verdrängt wurde (vgl. Giesen 2005). Diese Etymologie stützt Durkheims wohlbekannte These, dass sich eine Gesellschaft in ihren Göttern selbst verehrt (2005/1912: 285-295). Quelle der kollektiven Identität ist in modernen Gesellschaften nicht mehr die offenbarte Religion, sondern die öffentliche Moral des zivilgesellschaftlichen Diskurses (4.3). Die moralische Verfehlung stellt somit eine Sünde wider die für alle verbindliche „Zivilreligion“ dar (vgl. Bellah 1991). Unter einem Skandal wollen wir zunächst einmal folgenden sozialen Prozess verstehen: Eine moralische Verfehlung findet statt, wird öffentlich gemacht und führt zu einer allgemeinen Empörung des Publikums. Seit der Entstehung der Tagespresse, dem ersten modernen Massenmedium, sind Skandale aus dem öffentlichen Leben nicht mehr wegzudenken. Dennoch wurde dem sozialen Phänomen des Skandals lange Zeit wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt. Anfang der siebziger Jahre beklagte Niklas Luhmann noch das Fehlen einer ernst zu nehmenden Skandalforschung, „die nicht selbst skandalös wäre“ (2008/1972: 69, Fn. 62). Dieser Klage dürfte sich heute wohl kaum noch jemand anschließen, da die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Skandalen seit den achtziger Jahren stark zugenommen hat. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Fallstudien und theoretische Beiträge, die sich für eine soziologische Betrachtung des Skandals fruchtbar machen lassen.2 Allerdings wird der Skandal in den meisten zeitgenössischen Theo2
Die beste deutschsprachige Monographie über den Skandal stammt aus der Feder des Frankfurter Soziologen Karl-Otto Hondrich (2002). Enthüllung und Entrüstung besticht durch seinen essayistischen Stil und die – an Durkheim geschulte – dezidiert soziologische Perspektive, die sich wohltuend von politikwissenschaftlichen oder medienwissenschaftlichen Arbeiten abhebt. Steffen Burkhardt hat eine umfangreiche Dissertation zum Medienskandal (2006) aus einer journalistischen und kommunikationswissenschaftlichen Perspektive vorgelegt. Für die deutsche soziologische Debatte war insbesondere der von Rolf Ebbighausen und Sighard Neckel herausgegebene Sammelband zum politischen Skandal wegweisend (1989). Einen geschichtswissenschaftlichen Zugang bietet Frank Bösch in seinem Werk Öffentliche Geheimnisse (2009). In der englischsprachigen Literatur ist vor allem John B. Thompsons grundlegende Arbeit zum politischen Skandal geradezu ein Muss (2000), während der von James Lull und Stephen Hinerman herausgegebene Sammelband Media Scandals sowohl theoretische Beiträge als auch empirische Fallstudien bietet (1997). Unter den neueren Veröffentlichungen in soziologischen Fachzeitschriften ragen die theoretisch ambitionierten Fallstudien von Ari Adut hervor (2004, 2005), der mittlerweile auch eine Monographie zu dem Thema veröffentlicht hat (2008).
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rien der Öffentlichkeit immer noch nicht angemessen gewürdigt – und das, obwohl der Aufstieg des Skandals unverkennbar mit der Entwicklung der Massenmedien und der Herausbildung einer unabhängigen Öffentlichkeit einherging (vgl. Bösch 2004: 447-449). Normativ argumentierende Sozialphilosophen wie Jürgen Habermas (1990, 1992), aber auch stärker auf Realismus bedachte Politologen wie Bernhard Peters (2007/1994), vermögen im Skandal wenig mehr als eine irrationale Verzerrung idealer Kommunikationsstrukturen zu erkennen. Das rationalistische und verständigungsorientierte Pathos dieser Theorien lädt dazu ein, dem Phänomen des Skandals von vornherein jeden systematischen Stellenwert abzusprechen. Von den zeitgenössischen Theoretikern der Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit ist es vor allem Jeffrey C. Alexander, der dem Phänomen des Skandals in theoretischer als auch empirischer Hinsicht Rechnung trägt (1993; 2006a: 132-150). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die binären Codes der zivilen Sphäre nicht nur kognitiv verankert, sondern auch affektiv besetzt sind (4.3.1). Diese „heißen“ Codes strukturieren das Handeln und Wahrnehmen im öffentlichen Raum in einer Weise, die kaum mit dem unterkühlten Konzept des „kommunikativen Handelns“ vereinbar ist. Alexander definiert den Skandal als die öffentliche Erniedrigung einer Person oder einen Personengruppe (vgl. 3.3.1), als außeralltägliche Form der sozialen Bestrafung für eine moralische Verfehlung. Die moralische Verfehlung droht als symbolische Verschmutzung die übrige Gemeinschaft zu kontaminieren, da sie die Unterscheidbarkeit von „gut und „böse“, von „rein“ und „unrein“, von „innen“ und „außen“ in Frage stellt. Der Skandal wirkt einer drohenden „Entdifferenzierungskrise“ entgegen (Girard 1992: 23-37), in dem er die Trennung von „gut“ und „böse“ wiederherstellt, Schuldige ermittelt und diese symbolisch aus der Gemeinschaft ausschließt. Erst mit der Bestrafung der vermeintlichen Übeltäter, dem Ausschluss des Sündenbocks, wird die moralische Ordnung wiederhergestellt. Skandale sind in dreifacher Hinsicht von soziologischem Interesse: Als ephemere Oberflächenphänomene tragen sie durch ihr fortwährendes Entstehen und Vergehen zur prozessualen Reproduktion der Gesellschaft bei. Daneben verweisen Skandale immer auch auf eine normative und kulturelle Tiefenstruktur, den kulturellen Hintergrund einer Gesellschaft (1.2-3), der dem Prozess der Vergesellschaftung zu Grunde liegt. Schließlich stellen Skandale auch Phänomene einer Koppelung von Oberfläche und Tiefenstruktur dar, was sie zu einem Katalysator des sozialen Wandels werden lässt (Hondrich 2002: 28-31), der bisweilen auch desintegrative Wirkungen zeitigen kann. Der Skandal kann zunächst einmal als ein vergängliches Ereignis im Prozess der Vergesellschaftung untersucht werden. Jeder Skandal lässt sich aber auch selbst wieder als Prozess betrachten und in mehrere Komponenten zerlegen. Zum einen kann man die Akteursebene untersuchen, zum anderen lassen sich auch zeitliche Verlaufsmuster von Skandalen feststellen. Auf der Akteursebene lassen sich „Skandalisierter“, „Skandalisierender“ und „Publikum“ unterscheiden (so Neckel 1989). Ohne einen Skandalisierten geht es nicht, da sich Skandale gera-
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de durch eine Personalisierung von Verfehlungen auszeichnen, die auch für andere moralische Phänomene charakteristisch ist. Aber auch ohne Publikum könnte es keinen Skandal geben, weil erst die kollektive Empörung der Norm und ihrer Übertretung eine übersubjektive Geltung und gesellschaftliche Bedeutung verleiht. Der Skandalisierende strebt in der Regel danach, als individuelle Person in den Hintergrund zu treten, um besser als kollektiver Repräsentant und Stimme des Publikums auftreten zu können. Die Fusion zwischen Performer und Publikum als Kennzeichen einer gelungenen Performanz (Alexander 2006b, vgl. 2.2.3) ist auch für den Erfolg einer Skandalisierung von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus folgen alle Skandale einem Verlaufsmuster. Nach Hondrich beginnt der Skandal mit der „moralischen Verfehlung“, worauf die „Enthüllung der Verfehlung“ und dann die „kollektive Empörung“ folgen (2002). Bei näherer Betrachtung unterliegt der Skandal einer rekursiven Logik: Erst mit der Enthüllung gewinnt die moralische Verfehlung eine gesellschaftliche Realität und Bedeutung, erst mit der kollektiven Empörung erfährt die Enthüllung eine öffentliche Beachtung und Bewertung. Der Skandal ist nicht nur ein in sich unterschiedener und gegliederter Prozess, sondern ebenso sehr die Totalität seiner Momente. Sowohl das überraschende Aufkommen als auch die fortwährende Wiederkehr von Skandalen verweisen auf die beständigen Strukturen einer Gesellschaft, ihre normative Ordnung und den geteilten kulturellen Hintergrund, was eine kultursoziologische Analyse des Skandals als ein lohnendes Unterfangen erscheinen lässt. 3 Skandale können als makrosoziologische Krisenexperimente betrachtet und als empirische Indikatoren für eine Untersuchung von implizit geltenden Normen und Werten verwendet werden (vgl. Imhof 2002). Die moralische Verfehlung stellt im Skandal nicht nur die Manifestation eines Normverstoßes dar, sondern zeigt auch – entsprechend dem Figur/Hintergrund-Verhältnis von Ausnahme und Regel (vgl. Ortmann 2003; 1.1.4) – die Existenz latent gehaltener gesellschaftlicher Normen an. Die moralische Krise des Skandals stellt für soziologische Beobachter eine einmalige Chance dar, Einblick in die Tiefenstrukturen einer Gesellschaft zu bekommen. Die öffentliche Anprangerung von Verfehlungen macht den Normverstoß erst als solchen kenntlich, wobei das Ausmaß der kollektiven Entrüstung einen Aufschluss über den Grad der Verankerung von gesellschaftlichen Normen und Werten gibt. Gerade weil Skandale die impliziten Normen und vorintentionalen Strukturen einer Gesellschaft prinzipiell beobachtbar machen, können sie eine explizite und intentionale Auseinandersetzung mit ebendiesen Normen im zivilgesellschaftlichen Diskurs nach sich ziehen – und damit zu Rückkopplungseffekten führen. 3
Der Skandal wird dabei als Anzeichen einer dahinterliegenden, nicht direkt beobachtbaren, gesellschaftlichen Wirklichkeit genommen; Charles Sanders Peirce würde in diesem Fall von „indices“ sprechen (1998/1894). Skandale lassen sich als kulturelle Symptome lesen bzw. als Manifestationen eines kulturellen Hintergrundes deuten (1.2-3).
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Skandale lassen sich nicht nur als Indikatoren einer normativen Ordnung und eines kulturellen Hintergrundes verstehen, sondern können auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Rückkopplung mit der moralischen Ordnung und dem sozialen Imaginären betrachtet werden. Ein einseitiges, unhistorisches Determinationsverhältnis zwischen Tiefenstruktur und Oberfläche, wie es für den klassischen Strukturalismus kennzeichnend war, muss aufs Schärfste zurückgewiesen werden. Zwischen dem Skandal als einem ephemeren Ereignis und der Gesellschaftsstruktur besteht ein Verhältnis der Wechselwirkung. Zum einen leisten Skandale einen Beitrag zur Reproduktion dieser Struktur; zum anderen können Skandale zu einem tiefgreifenden moralischen Wandel in der Gesellschaft führen. Skandale stellen somit eine empirische Schnittstelle zwischen Mikro- und Makroebene dar (vgl. Alexander et al. 1987). In den individuellen und öffentlichen Performanzen des Skandals tritt die Bedeutung überpersönlicher Strukturen deutlich zu Tage, wobei deren Aneignung und Interpretation durch die Akteure sich wiederum in den gesellschaftlichen Strukturen niederschlägt. Damit leistet die Erforschung wirkmächtiger Skandale einen Beitrag zum Verständnis von Gesellschaften in ihrem jeweiligen „geschichtlichen So-und-nichtanders-Gewordensein“ (Weber 1988/1904: 171) und damit zur Erklärung sozialen Wandels überhaupt. Der Skandal, so anrüchig er als wissenschaftliches Thema zunächst auch scheinen mag, stellt einen ausgezeichneten Gegenstand der soziologischen Forschung dar. Im Folgenden sollen die Grundzüge einer kultursoziologischen Theorie des Skandals skizziert werden.
5.1 S KANDALKRITIK
UND
S KANDALTHEORIE
Was wir heute erleben, ist der zweite, der endgültige Zusammenbruch Preußens. WILHELM HENNIS, DEUTSCHER POLITIKWISSENSCHAFTLER4
Die individuellen und kollektiven Haltungen zum Skandal sind aufs Engste mit den Vorstellungen verknüpft, die sich die Mitglieder einer Gesellschaft von ebendieser Gesellschaft machen. Lange bevor der Skandal Gegenstand wissenschaftlichen Interesses wurde, stand der vermeintliche Nutzen und Nachteil der Skandalisierung immer wieder zur Debatte. So haben professionelle Journalisten und öffentliche Intellektuelle einzelne Skandale als Anzeichen eines gesellschaftlichen Wandels gedeutet – sei es als Symptom eines fortschreitenden Verfalls oder der zunehmenden Vervollkommnung einer Gesellschaft. Es ist sowohl eine kritische als auch eine affirmative Haltung zum Skandal möglich, wobei es in beiden Fällen der nötigen wis4
So Hennis zur Parteispendenaffäre der CDU, die er als Folge einer „Katholisierung der alten Bundesrepublik“ interpretiert. Zitiert nach Karl-Otto Hondrich (2002: 9f.).
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senschaftlichen Distanz und Reflexion mangelt. Dennoch lohnt sich die Betrachtung dieser Grundhaltungen im Rahmen einer Theorie des Skandals aus zweierlei Gründen. Zum einen fällt jede öffentliche Stellungnahme zu Skandalen in den Gegenstandsbereich einer Skandaltheorie, zum anderen handelt es sich bei diesen Grundhaltungen um vortheoretische Deutungen und narrative Muster, die als vorintentionaler Hintergrund die kulturelle Basis für wissenschaftliche Skandaltheorien darstellen. Es gibt also eine Entsprechung zwischen populären Imaginationen von Skandalen und den bis heute vertretenen Skandaltheorien. Es lassen sich insgesamt drei verschiedene Positionen ausmachen, die es in einer soziologischen Theorie des Skandals zu umschiffen gilt. Als Scylla und Charybdis einer Skandaltheorie dürfen die ideologiekritische und die konservative Skandalkritik gelten. Aber auch eine naiv-affirmative Haltung zum Skandal – sozusagen die Insel der Lotusesser – ist tunlichst zu meiden, soll unsere Theorieodyssee Erfolg haben. 5 Im Anschluss an die Diskussion diese Formen der Skandalkritik sollen die Grundzüge einer kultursoziologischen Theorie des Skandals im Anschluss an Durkheims Straftheorie umrissen werden. Eine solche Theorie hat zum einen die Oberfläche des Skandals mit seiner Tiefenstruktur in Beziehung zu setzen und mögliche Dysfunktionalitäten aufzeigen. 5.1.1 Drei Formen der Skandalkritik Die ideologiekritische Skandalkritik – zwischen Komödie und Satire (2.2.1) – entlarvt den Skandal als reines Oberflächenphänomen, als massenmedialen Schein, der für das gesellschaftliche Sein bedeutungs- und folgenlos bleibt. Im Rahmen der Ideologiekritik ist der Skandal nicht bloß Enthüllung eines Normverstoßes, sondern auch Verhüllung gesellschaftlicher Verhältnisse. Er ist ein blendendes Spektakel und eine Verschleierung realpolitischer Prozesse – wie für den Marxismus die bürgerlichen Ideologien die Klasseninteressen und Ausbeutungsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft verschleiern. Von konservativer Seite heißt es hingegen, dass dem Skandal keine stabilisierende Funktion zukommen könne. Folgt man der konservativen Skandalkritik, so birgt und enthüllt der Skandal eine schreckliche Wahrheit. Der Skandal ist hier ein Zeugnis des moralischen Verfalls, des unvermeidlichen Untergangs einer Gesellschaft – ein tragisch-apokalyptisches Narrativ. Allerdings gibt es innerhalb des konservativen Lagers durchaus Differenzen in der 5
John B. Thompson (2000: 234-245) verwendet eine auf den ersten Blick ähnliche, aber dennoch anders gelagerte Unterscheidung zwischen vier Typen von Skandaltheorien: Die „no-consequence theory“, die eine gewisse Nähe zu der ideologiekritischen Haltung gegenüber dem Skandal aufweist, die „functionalist theory of scandal“, der man mit gewissen Einschränkungen auch die hier vorgeschlagene Skandaltheorie zuordnen könnte, die „trivialization theory“, die sowohl von ideologiekritischen wie auch von konservativen Skandalkritikern bedient wird, sowie eine postmoderne „subversion theory of scandal“, die die liminalen und karnevalesken Aspekte von Skandalen würdigt.
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Beurteilung der Rolle des Skandals: Einerseits lässt sich der Skandal als bloßes Anzeichen und Symptom des Verfalls deuten, andererseits kann er als Katalysator dieses Verfallsprozesses fungieren, also selbst eine wirkende Ursache sein. 6 Die dritte, naiv-affirmative Position, die Professionsideologie des investigativen Journalismus, geht von der gegenteiligen Annahme aus, nämlich dass der positive Nutzen der Skandalisierung die negativen Folgen bei Weitem überwiegt. Nur die Skandalisierung von Verfehlungen könne, so die Argumentation, die Gesellschaft von den moralischen Übeln erlösen. Dahinter steckt ein romantisches Narrativ: der investigative Journalist als Held sowie die geschichtsteleologische Verheißung der Aufklärung, die Perfektibilisierung der Gesellschaft durch eine umfassende Anprangerung von Missständen. Alle drei Positionen sollen nun im Einzelnen vorgestellt und hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen überprüft werden. Jede Form der Ideologiekritik weist ikonoklastische Züge auf. Dies lässt sich gerade auch am Beispiel der ideologiekritischen Skandalkritik zeigen. Von einer ideologiekritischen Warte aus betrachtet erweist sich der Skandal als oberflächliches Trugbild, dessen tiefere Bedeutung alleine darin besteht, dass es von dem eigentlichen Geschehen ablenkt. Wir können zwei Formen der ideologiekritischen Skandalkritik unterscheiden: Für die realpolitische Schule der ideologiekritischen Skandalkritik verdeckt das Spektakel des Skandals die handfesten Interessen und Machtverhältnisse der Akteure hinter den Kulissen, während der Skandal aus der Perspektive einer systemischen Ideologiekritik dazu dient, Systemfehler als moralische Verfehlungen einzelner Individuen auszugeben. Im Folgenden soll vor allem die realpolitische Skandalkritik im Vordergrund stehen, die in den Sozialwissenschaften einflussreiche theoretische Entsprechungen besitzt. Skandalkritik als Teil einer umfassenden Systemkritik hat es im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2008 gegeben: Die Skandalisierung einiger gieriger Banker schien in den Augen von manchem Kritiker von den grundlegenden Risiken des Weltfinanzsystems abzulenken. Die realpolitische Schule der Skandalkritik wird von jenen Sozialwissenschaftlern vertreten, die in der Tradition von Thrasymachos und Machiavelli stehen. 7 6
Der erste Position lässt sich dem von Hondrich (2002: 9f.) zitierten Wilhelm Hennis zuordnen, die zweite Position kann Richard Sennet (1998) oder aber Jürgen Habermas (1990), der von Thompson als Vertreter einer „trivialization theory“ des Skandals diskutiert wird (2000: 239f.), zugeschrieben werden.
7
Alexander fasst in seiner Abhandlung über die zivile Sphäre jene (scheinbar) realistischen Ansätze, die das Handeln in der Öffentlichkeit auf ein instrumentell-strategisches Handeln reduzieren und dabei die Realität der Moral ausblenden, unter dem Etikett der „Tradition des Thrasymachos“ zusammen (2006a: 39-42). Thrasymachos ist sowohl eine historische als auch eine literarische Figur, die als Gegenspieler des Sokrates in Platons Politeia eingeführt wird. Die Auseinandersetzung zwischen Sokrates und Thrasymachos soll demonstrieren, dass ohne eine moralische Ordnung kein Staat zu machen ist.
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Derartige Erklärungen bedienen sich einer „low-mimesis“-Erzählung, in der Akteuren niedere und profane Motive zugeschrieben werden (2.2.1). Diese Form der Skandalkritik ist von besonderem Interesse, da die Skandalisierten und ihre Advokaten oft eine ähnliche Argumentation verwenden, um sich den negativen Konsequenzen einer Skandalisierung zu entziehen: So behaupten Skandalisierte in der Regel, man sei das Opfer einer Intrige geworden, deren Drahtzieher hinter dem ganzen Spektakel steckten. Einer der einflussreichsten Autoren, die die öffentliche Dimension der Politik auf ein bloßes Spektakel reduzieren, das die Interessen der beteiligten Akteure maskiere, ist Murray Edelman. Bei Edelman (1988; 2005) wird die sogenannte „symbolische“ Politik auf der öffentlichen Vorderbühne gespielt, während die Realpolitik auf einer verborgenen Hinterbühne stattfindet. Ihm zufolge sind die öffentlichen Auftritte von Politikern am ehesten noch der Gattung theatralischer Performanzen zuzurechnen (2.2.2) – mit dem einzigen Unterschied, dass sie vom Publikum nicht als solche durchschaut werden. Dass Skandale innerhalb dieses theoretischen Rahmens als Teil eines allumfassenden politischen Theaters auftreten, vermag daher kaum zu überraschen. Skandale erscheinen als das moralische Feigenblatt knallharter Interessenkonflikte – so wie das bürgerliche Recht nach Marx die Ausbeutung der Arbeiterklasse zugleich verdeckt und legitimiert. Moral wird hier zu einer Waffe degradiert, mit deren Hilfe Interessen- und Machtkonflikte entschieden werden. Ein rein instrumentelles Verständnis von symbolischer Politik lässt wenig Platz für die Eigenlogik normativer und symbolischer Ordnungen jenseits von individuellen Interessen und sozialen Machtbeziehungen.8 Im Rahmen einer solchen Theorie wird zwar verständlich, wie einzelne Politiker die öffentliche Moral und den zivilgesellschaftlichen Diskurs für den eigenen Karriereweg nutzen können, aber die bindende und sinnstiftende Wirkung der Symbole, vor der auch die politischen Akteure selbst nicht gefeit sind, bleibt hier notwendig unterbelichtet. Ein kultursoziologischer Ansatz muss auf der Autonomie des kulturellen Hintergrundes gegenüber dem interessegeleiteten Handeln von Akteuren bestehen. Edelmanns „schwache“ und „flache“ Symbolkonzeption muss als theoretisch unzureichend und empirisch unzutreffend zurückgewiesen werden. Moral und Kultur sind kein bloßer Schein, sondern entfalten eine eigenständige Wirksamkeit, die keiner Determination – auch nicht in letzter Instanz – durch „harte“ Faktoren unterliegen. Dies gilt erst recht für Medienereignisse wie dem Skandal, bei denen die öf8
Gegen diese zynische und – soziologisch betrachtet – eher oberflächliche Theoriekonzeption wurden wichtige Einwände geltend gemacht: Gerhard Göhler hat in Abgrenzung zu Edelmann und im Rückgriff auf die reichhaltige Literatur zum Symbolbegriff eine Neufassung der symbolischen Dimension politischen Handelns vorgeschlagen (1999, 2002). In dieselbe Kerbe schlagen auch die Arbeiten des Konstanzer Sonderforschungsbereichs „Norm und Symbol“ (z.B. Schlögl 2004). Auch das Konzept der „sozialen Performanz“ sprengt einen derartigen Theorierahmen (vgl. Alexander et al. 2006; 2.3.3).
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fentliche Performanz einzelner Akteure zu einer historischen Weichenstellungen führen kann. Für die wissenschaftliche Behandlung des Skandals reicht es nicht aus, die Oberfläche des Spektakels auf den Widerschein einer materialen oder ideellen Tiefenstruktur zu reduzieren. Stattdessen ist herauszuarbeiten, auf welche Weise die Entstehung von Skandalen durch institutionelle und kulturelle Ordnungen präfiguriert wird, wie sich kontingente Performanzen auf ihren Ablauf auswirken und wie die Resultate dieser Prozesse wieder auf gesellschaftliche Strukturen zurückwirken. Die konservative Kritik am Skandal ist so alt wie der Skandal selbst. Jeder halbwegs ernst zu nehmende Skandal wird von Kassandrarufen begleitet, die den Untergang des Abendlandes prophezeien.9 Auch hier lassen sich zwei grundlegende Formen der Kritik unterscheiden. Oft richtet sich die konservative Kritik gegen eine aufgedeckte moralische Verfehlung, die als Anzeichen eines moralischen Verfalls gedeutet wird. So beklagte beispielsweise der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis die Parteispendenaffäre der CDU als Folge „einer Katholisierung der alten Bundesrepublik“ (zitiert nach Hondrich 2002: 10). Nicht selten steht allerdings auch die Enthüllung selbst im Kreuzfeuer der konservativen Kritik. Dahinter steckt die (im Grunde nicht unberechtigte) Annahme, dass die Enthüllung von Verfehlungen das Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutionen untergrabe und im Falle politischer Skandale zur Politikverdrossenheit führe (so vor allem Kepplinger 2005). Die Wahrheit des Skandals wird hier nicht für bare Münze genommen, sondern entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine gefährliche Illusion, die zerstörerische Folgen zeitigt: So untergraben Skandale nicht nur das grundlegende Vertrauen in die Institutionen, sondern führen auch dazu, dass die fähigsten Köpfe einer Gesellschaft auf dem Altar der öffentlichen Moral auf Basis von falschen Unterstellungen, sachfremden Argumenten und irrationalen Affekten geopfert werden.10 Selbst bei unbestreitbaren Normverletzungen können konservative Skandalkritiker gegen eine Skandalisierung Partei ergreifen, weil, so die Argumentation, die Institutionen einer Gesellschaft nun einmal wichtiger seien als das Gerechtigkeitsempfinden des Einzelnen. So kann die Autorität eines Gerichts und die Unfehlbarkeit der Richter für wichtiger erachtet werden als die Korrektur eines juristischen Fehlurteils. Dies lässt sich am Beispiel der konservativen Kritik am DreyfusSkandal im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhundert sehr gut aufzeigen. Die 9
Das Kassandra kein Gehör finden darf, da sonst ihre Vorhersage nicht eintreffen würde, hat Bernhard Giesen in einem Essay über Intellektuelle bemerkt (2010: 258-270).
10 Hondrich stimmt mit Kepplingers empirischem Befund überein, ohne allerdings dessen Bewertung zu teilen. In seiner Analyse der CDU-Spendenaffäre interpretiert Hondrich den CDU-Politiker Wolfgang Schäuble als unschuldiges Opfer und perfekten Sündenbock (2002: 114-122). Er betont, dass die Suche nach einem adäquaten Opfer nicht alleine sachlichen und rationalen Erwägungen folgen dürfe, da im Skandal die Besänftigung der kollektiven Gefühlen im Vordergrund stehe.
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Anti-Dreyfusiens bezogen nicht nur Stellung gegen Dreyfus, sondern auch gegen die Skandalisierung von Seiten der Dreyfusiens. Viele zogen die ungerechte Verurteilung des französischen Hauptmanns Dreyfus einer Schwächung der zentralen nationalen Institutionen, Armee, Staat und Kirche, vor. Durkheim (1986/1898) hat inmitten der Affäre gegen diese Position in einem Essay öffentlich und soziologisch Stellung bezogen. Ihm zufolge ist nämlich für den Bestand der sozialen Ordnung in modernen Gesellschaften nicht die Autorität einzelner Institutionen oder Personen entscheidend, sondern normative und kulturelle Hintergrundmuster, zu denen auch der moralische Individualismus gehört. Erst die Skandalisierung als öffentliche Anprangerung einer offenbar gewordenen moralischen Verfehlung, so Durkheim, vermag es, die verletzte moralische Ordnung wiederherzustellen. Die naiv-affirmative Haltung gegenüber dem Skandal ist – aus verständlichen Gründen – vor allem unter Journalisten weit verbreitet. Der investigative Journalismus verdankt sein Charisma nicht zuletzt der aufklärerischen (aber auch amerikanisch-puritanischen) Überzeugung, dass sich durch öffentliche Anprangerung gesellschaftliche Missstände beseitigen und künftige Verfehlungen verhindern lassen.11 Die logische und praktische Konsequenz dieser Position lautet: Es sollten so viel Verfehlungen wie möglich aufgedeckt werden. Die Skandalisierung wird hier zum Vehikel einer Vervollkommnung der Gesellschaft, die in letzter Konsequenz auf eine Selbstabschaffung des investigativen Journalismus samt den Skandalen hinauslaufen würde. Hier zeigen sich Parallelen zu jener naiven Straftheorie, welche die Funktion von Strafe in der künftigen Verhinderung von Straftaten erblickt – und ihr Ideal in einer kriminalitätsfreien Gesellschaft. Vergessen wird hingegen, dass mit der Enthüllung aller moralischer Verfehlungen die schlimmsten Alpträume der konservativen Skandalkritiker wahr werden würden: Das schiere Ausmaß der Normverletzungen könnte die gesamte moralische Ordnung ins Wanken bringen (so Popitz 2006: 158-174). Der Schleier, der über der gesellschaftlichen Unterwelt liegt, darf nur ein wenig gelüftet werden – die ganze Wahrheit wäre einfach zu schrecklich (vgl. Hondrich 2002: 20f.; Giesen 2010: 103-125). In der naiven Bejahung des Skandals geschieht eine folgenschwere Verwechslung: Die naiven Intentionen der an diesen Prozessen beteiligten Personen werden für bare Münze genommen und als manifeste Funktionen der Gesellschaft verkauft. Eine soziologische Theorie des Skandals muss diese naive Gleichsetzung von Intention und Funktion hinterfragen und die latenten Funktionen von Skandalen identifizieren (vgl. Merton 1995a). Das soziologische Denken gelangt so zu kontraintuitiven Einsichten, wie z.B. bei Durkheim, der ein gewisses Maß an Kriminalität in einer Gesellschaft nicht nur als normal, sondern gar als notwendig erachtet (2002/ 11 Am Einfluss des Protestantismus mag es auch liegen, dass gerade in den USA der investigative Journalismus einen regelrechten Kultstatus erlangt hat. In katholisch geprägten Ländern ist ein lockerer und diskreterer Umgang mit Verfehlungen zu erwarten.
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1895: 159). Unterschreitet eine Gesellschaft dieses Maß, ist sie für Durkheim ein pathologischer Fall, da sie die Bestrafung von Verbrechen nicht mehr in einem ausreichenden Maße zur Herstellung gesellschaftlicher Solidarität und Bekräftigung kollektiv geteilter moralischer Überzeugungen nutzen kann. Abweichendes Verhalten auf der Mikroebene stellt somit eine Voraussetzung für Normalität auf der Makroebene dar (Hondrich 1987). Dasselbe gilt natürlich auch für Skandale, die Mikropathologien in Makronormalität transformieren (vgl. Hondrich 2002). Ein Versiegen der fortwährenden Skandalisierung von Verfehlungen würde die Geltung von moralischen Normen untergraben, da Normverstöße für die Bildung und Reproduktion kontrafaktischer Erwartungshaltungen nun einmal unentbehrlich sind (4.1.1). Eine Gesellschaft ohne Skandale würde jener affektiv-spontanen Vergemeinschaftung entbehren, für die erfolgreiche Skandalisierungen immer wieder aufs Neue sorgen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Skandale – je nach Verlauf und Bezugsproblem – nicht auch dysfunktional sein können. 5.1.2 Die funktionale Theorie des Skandals und ihre Kritiker Jede dieser drei Grundhaltungen zum Skandal basiert auf empirischen Beobachtungen, plausiblen Mechanismen und mehr oder minder einleuchtenden Annahmen über die Natur der Gesellschaft. Die theoretischen Einseitigkeiten und empirischen Mängel dieser Positionen müssen jedoch in einer integrativen Theorie des Skandals aufgehoben werden. Ein solches Theoriegebäude lässt sich auf dem Fundament von Durkheims funktionalistischer Straftheorie errichten. So verdeutlicht Durkheim an einer Stelle die Funktion der Strafe am Beispiel eines öffentlichen Skandals: „Das Verbrechen bringt also das Bewusstsein aller ehrbaren Leute enger zusammen und verdichtet sie. Man braucht nur zu sehen, wie es, besonders in einer kleinen Stadt, zugeht, wenn sich ein Moralskandal ereignet hat. Man bleibt auf der Straße stehen, man besucht sich an bestimmten Orten, um über das Ereignis zu reden, und man empört sich gemeinsam. Aus allen dieser einander ähnlichen Eindrücken, die ausgetauscht werden, aus all den verschiedenen Zornesausbrüchen entsteht ein je nach Fall mehr oder weniger bestimmter einheitlicher Zorn, der Zorn eines jeden ist, ohne deshalb ein persönlicher zu sein; der öffentliche Zorn.“ (Durkheim 2004/1893: 152f.)
Vor der Verbreitung der Tagespresse war ein Moralskandal auf solche face-to-faceInteraktionen und somit auch auf eine gewisse räumliche Nähe angewiesen. Dennoch sind in Durkheims Kleinstadt dieselben Mechanismen der Skandalisierung wirksam wie im globalen Dorf der modernen Mediengesellschaft. Das öffentliche Bekanntwerden der Normverletzung führt zur kollektiven Empörung der Gemeinschaft als einer Äußerung ihres Kollektivbewusstseins. Die Aufwallung der kollektiven Gefühle ist teils spontan-kollektiver, teils epidemisch-interaktiver Natur.
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Einerseits ruft das Verbrechen bei allen Mitglieder einer Gesellschaft – auch unabhängig voneinander – die gleichen Gefühle hervor, andererseits führt der gesellschaftliche Austausch aber auch zu einer Verbreitung und Intensivierung dieser Gefühle durch emotionale Ansteckung. Die Normverletzung wird zum Anlass und Gegenstand einer Kommunikation zwischen den Individuen, wodurch sich die kollektiven Gefühle verbreiten und verstetigen. Durkheim betont, dass diese kollektiven Gefühle anderen Ursprungs sind als rein individuelle Gefühle: „Was den sozialen Charakter dieser Reaktion betrifft, so stammt er aus der sozialen Natur der verletzten Gefühle. Weil diese im Bewusstsein eines jeden anzutreffen sind, erregt das Vergehen bei allen, die Zeuge geworden sind oder die davon gehört haben, die gleiche Ablehnung. Alle Welt ist betroffen und folglich setzt sich alle Welt gegen den Angriff zur Wehr. Dabei ist die Reaktion nicht nur allgemein, sie ist auch kollektiv, was nicht das gleiche ist. Sie entsteht nicht isoliert in jedem einzelnen, sondern mit einer im Übrigen fallweise veränderlichen Einheitlichkeit und Geschlossenheit.“ (Durkheim 2004/1893: 152)
Kollektive Emotionalität ist mehr als die Summe individueller Affekte, nämlich eine Form „kollektiver Intentionalität“ (1.1.2). Kollektive Gefühle erschöpfen sich nicht darin, dass die Mitglieder einer Gruppe auf eine ähnliche Art und Weise fühlen. Die Empörung über einen öffentlich gewordenen Normverstoß muss vielmehr als ein von allen geteiltes kollektives Gefühl begriffen werden. Durkheim zufolge sind diese kollektiv geteilten Gefühle nicht nur relativ einheitlich, sondern auch weitaus intensiver als individuell-private Gefühle. Selbst heute, wo individuelle Emotionen an Bedeutung gewonnen haben, lässt sich dieser Befund nicht völlig von der Hand weisen. Mag auch das emotionale Band zwischen Geliebten stärker als die Liebe zum Vaterland sein, so sind es immer noch die von allen verabscheuten Verbrechen (z.B. Kindesmissbrauch), die für die größte Empörung sorgen. Die (scheinbar) irrationale Tatsache, dass der spontane Ausbruch kollektiver Emotionalität für die Entstehung eines Skandal unabdingbar ist, hat dazu beigetragen, dass dem Skandal von Seiten der rationalistischen Öffentlichkeittheorien und der kognitivistischen Diskurstheorien kaum Beachtung geschenkt wurde (vgl. aber Iser 2008). Diese kollektiven Gefühlsausbrüche erfüllen allerdings eine unverzichtbare Funktion für die moralische Ordnung einer Gesellschaft. Erst die Irrationalität der Empörung macht die überpersönliche Geltung der verletzten moralischen Norm von intersubjektiver Zustimmung (die immer auch die Möglichkeit des Nichtzustimmens einschließt) und rationaler Argumentation (die immer auch Bestreitbarkeit ermöglicht) unabhängig. Ohne diesen emotionalen Kurzschluss wäre es dem Skandal nicht möglich, seine gesellschaftlichen Funktionen zu erfüllen: „Im Übrigen ist er [der öffentliche Zorn] nur von Nutzen. Denn in der Tat: Die Gefühle, die daran beteiligt sind, holen ihre Kraft aus der Tatsache, dass sie in aller Welt gemeinsam sind;
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sie sind kraftvoll, weil sie unbestritten sind. Der besondere Respekt, dessen sie sich erfreuen, liegt darin, dass sie allgemein respektiert werden. Das Verbrechen ist aber nur möglich, weil dieser Respekt nicht wirklich universell ist. Folglich impliziert das Verbrechen, dass sie nicht absolut kollektiv sind und dass es diese Einstimmigkeit untergräbt, die die Quelle der Autorität ist. Wenn sich also, sobald ein Verbrechen geschieht, die Individuen, deren Bewusstsein es verletzt hat, nicht vereinigen um sich gegenseitig zu bezeugen, dass sie in Kommunikation bleiben und dass dieser besondere Fall eine Anomalie ist, so würde nicht ausbleiben können, dass sie auf die Dauer erschüttert würden. Sie müssen sich stärken und sich gegenseitig versichern, dass sie noch immer im Einklang stehen. Das einzige Mittel hierfür ist die gemeinsame Reaktion. Mit einem Wort: Da es das gemeinsame Bewusstsein ist, dass verletzt worden ist, muss es auch genau dieses gemeinsame Bewusstsein sein, das den Widerstand leistet und folglich muss der Widerstand ein kollektiver sein.“ (Durkheim 2004/1893: 153)
An diesem Textabschnitt lassen sich einige zentrale gesellschaftliche Funktionen des Skandals aufzeigen. Zunächst einmal dienen die kollektiven Gefühle der Wiederherstellung einer verletzten moralischen Ordnung, die eine universelle und unbedingte Geltung beansprucht. Die Enthüllung der Normverletzung führt zu einer Enttäuschung der kollektiven Erwartung, dass man sich jederzeit ordnungsgemäß verhält. Ohne die kollektive Empörung wäre mit einer kognitiven Anpassung der kollektiven Erwartungshaltung zu rechnen (vgl. 1.1.1), was aber die universelle Geltung der Norm untergraben würde. Stattdessen wird die Normverletzung durch die Skandalisierung als ein Verstoß gerahmt, der die Geltung der Regel nicht außer Kraft setzt. Die kollektive Empörung führt so zur Wiederherstellung des verletzten kollektiven Bewusstseins (bzw. Gewissens) und damit zur Reproduktion der moralischen Ordnung. Diesen über kausalen Mechanismen erzielten Effekt des Skandals kann man als „normative Reproduktionsfunktion“ bezeichnen. Nehmen wir nun allerdings nicht länger die mental verankerte moralische Ordnung als Bezugspunkt unserer Funktionsbestimmung, sondern das aus Akteuren und ihren Interaktionen bestehende soziale Gefüge, so wird ein weiterer Effekt des Skandals sichtbar. Die wechselseitige Bezeugung der Geltung der Norm und das spontane Aufwallen der Empörung gegenüber dem Normbruch bringt die einzelnen Menschen näher zusammen – und das nicht nur räumlich, sondern auch sozial. Der Aufstand der Anständigen erzeugt somit (mechanische) Solidarität (im Sinne Durkheims) und trägt dadurch zur Herstellung einer gesellschaftlichen Gemeinschaft (im Sinne Parsons) bei. Heute können wir sagen, dass der Skandal einen Beitrag zur Integration der Gesellschaft leistet – genauer gesagt, zu ihrer Sozialintegration (vgl. Lockwood 2008). Dieser vergemeinschaftende Effekt von Skandalen kann daher als „soziale Integrationsfunktion“ bezeichnet werden. Sowohl die normative Reproduktionsfunktion als auch die soziale Integrationsfunktion beziehen sich auf die nichtintendierten Folgen des absichtsvollen Handelns von Akteuren und sind in ihrer Erfüllung vom jeweiligen Verlauf des Skandals abhängig. Latente Funktionen dürfen
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nicht als kausale Mechanismen und Automatismen begriffen werden und stellen auch keine bewussten Handlungsziele der Akteure oder quasi-teleologische Attraktoren der öffentlichen Kommunikation dar. Die Erklärung eines Skandals muss von seiner funktionalen Analyse getrennt werden. Allerdings liefert die funktionale Analyse ein Schema, vor dessen Hintergrund erklärungsbedürftige Anomalien sichtbar werden, die dann in einer empirischen Analyse erklärt werden können. Der hier skizzierte funktionalistische Ansatz widerspricht den verbreiteten Formen der Skandalkritik. Vom Standpunkt einer ideologiekritischen Skandalkritik aus betrachtet (5.1.1) handelt es sich beim Kollektivbewusstsein des Skandals um ein „falsches Bewusstsein“. Die im Skandal aufschäumenden Emotionen, der öffentliche Zorn und die Solidarität der Zornigen fungieren hier, mit Marx zu sprechen, vor allem als „Opium des Volkes“, das die Akteure erregt und benebelt, sie aber nicht die wahren Hintergründe des Spektakels durchschauen lässt. Zweck des Skandals ist hier vielmehr die Täuschung des Volkes, die von politischen Akteuren gesteuert wird und vor dem Publikum geheim gehalten werden muss. Den Beitrag des Skandals zur Reproduktion von Normen kommt – wie auch die allgemeine Bedeutung von Moral für Öffentlichkeit und Politik – in diesen Ansätzen zu kurz. Aber auch die konservative Kritik am Skandal (5.1.1), der man keine Vernachlässigung seiner moralischen Dimension vorwerfen kann, verkennt die latente Funktion von Skandalen. Konservative Kritiker empören sich wie alle anderen über den Normverstoß, aber können nicht sehen, wie gerade ihr Lamentieren die Norm kontrafaktisch wiederherstellt. Das konservative Bewusstsein des Skandals ist – frei nach Hegel – ein „unglückliches Bewusstsein“. Auf den ersten Blick scheint es sich bei der funktionalistischen Skandaltheorie um eine soziologische Variante der naiven Affirmation des Skandals zu handeln. Allerdings ist bereits Durkheims Funktionalismus bei weitem nicht so naiv, wie Kritiker gerne unterstellen. Im Folgenden widmen wir uns zunächst der Kritik an funktionalistischen Ansätzen, um diese im Anschluss einer kulturalistischen Kritik und Erweiterung zu unterziehen. Am Ende steht eine funktionalistisch inspirierte, dezidiert kultursoziologische Theorie des Skandals. Auf die hier vorgeschlagene Skandaltheorie trifft das Gros der Kritik, die an funktionalistischen Ansätzen geübt wurde, nicht zu. Seine Kritiker verwenden den „Funktionalismus“ gerne als einen Strohmann, der mit ernsthaft vertretenen Positionen kaum mehr etwas zu tun hat.12 Als Beispiel einer Kritik an funktionalistischen Skandaltheorien sollen im Folgenden die Ausführungen von Hans-Matthias Kepplinger (2005: 148-161) dienen. Dieser orientiert sich vor allem an der Studie von 12 So z.B. Hans Joas und Wolfgang Knöbl (2004), vgl. auch die Rezension des Verfassers zur englischen Ausgabe ihres Buches (Binder 2010a). Für eine Verteidigung eines richtigverstandenen Funktionalismus siehe Robert K. Merton (1995a) und Shmuel N. Eisenstadt (1990). Zum rekonstruktiven Funktionalismus und zur Funktion der Kritik funktionaler Ansätze vgl. die Ausführungen von Bernhard Peters (1993).
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Heinrich Popitz über die „Präventivwirkung des Nichtwissens“ (2006: 158-174), die er als eine Kritik der funktionalistischen Straftheorie interpretiert. Popitz argumentiert, dass die Entdeckung und Bestrafung aller Verfehlungen zu einer „schrecklich-unmöglichen Gesellschaft“ führen würde. Popitz bestreitet damit nicht die Funktionalität von Strafe, allerdings kann sie ihre soziale Wirksamkeit paradoxerweise so lange nur bewahren, wie die Mehrheit nicht bekommt, was sie verdient (2006: 174). Richtig verstanden stellen die Überlegungen von Popitz keine Kritik, sondern ein Korrektiv zum naiv-affirmativen Skandalverständnis dar. Kepplinger schüttet durch seine einseitige Rezeption von Popitz das Kind mit dem Bade aus. Durkheim als klassischer Verfechter einer funktionalistischen Straftheorie geht keineswegs davon aus, dass „die Aufdeckung und Bestrafung von Straftaten“ dazu führe, „dass die Gesetze eingehalten werden“ (Kepplinger 2005: 149). Vielmehr teilen Durkheim und Popitz die Überzeugung, dass eine Gesellschaft ohne Verbrechen weder möglich noch wünschenswert sei. Kepplingers Missverständnis beruht in wesentlichen Teilen auf einer unzureichenden Berücksichtigung der Unterscheidung zwischen „manifesten“ und „latenten Funktionen“ (hierzu Merton 1995a). In Gesellschaften mag sich die Vorstellung durchsetzen, dass die Bestrafung tatsächlich die (manifeste) Funktion erfüllen sollte, deviante Handlungen in Zukunft zu verhindern. In dem einen oder anderen Fall mag Strafe ja tatsächlich den gewünschten pädagogischen Erfolg bzw. abschreckendenden Effekt haben ‒ empirisch lassen sich nur schwerlich Korrelationen zwischen der Härte der Strafe und der Häufigkeit des Verbrechens feststellen. Die weitaus wichtigere (latente) Funktion des Strafens, die von keinem der Akteure intendiert wird, sondern eine nichtintendierte Folge ihres Handelns darstellt, besteht darin, die kollektive Erwartung an normgerechtes Handeln wiederherzustellen. Ein gewisses Maß an Verbrechen dient der Stabilisierung der normativen Ordnung der Gesellschaft, da ein Normverstoß erst die Reproduktion kontrafaktischer (und das heißt: normativer) Erwartungshaltungen ermöglicht. Es ist ist irreführend, über den gesellschaftlichen Nutzen von Skandalen alleine auf Basis ihrer manifesten Funktionen zu urteilen ‒ wie dies Kepplinger tut (1996, 2005). Auch wenn Skandale, wie Kepplinger in seinen Studien nachgewiesen zu haben meint, tatsächlich das Vertrauen in politische Institutionen untergraben und damit zu Politikverdrossenheit führen, bedeutet dies noch lange nicht, dass der Schaden von Skandalen ihren gesellschaftlichen Nutzen überwiegt. Misstrauen gegenüber politischen Würdeträgern und Institutionen kann genauso gut als Indikator für Demokratiefähigkeit gedeutet werden. Hinter Kepplingers Theorie des Skandals verbirgt sich letzten Endes eine konservative Skandalkritik (4.1.1), die den affektivirrationalen Regungen der Öffentlichkeit misstraut und ein Expertenmonopol rationaler Verfahren auf Wahrheitsfindung und Rechtsprechung einfordert. Im Rückgriff auf Durkheims wurden bereits zwei Funktionen des Skandals herausgearbeitet: Einerseits tragen Skandale zur Reproduktion der moralischen Ordnung einer Gesellschaft bei (normative Reproduktionsfunktion), andererseits brin-
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gen Skandale die Mitglieder einer Gesellschaft zusammen, indem sie ihnen Anlässe und Thema geben, um sich in Interaktionen wechselseitig ihrer Solidarität versichern zu können (soziale Integrationsfunktion). Trotz ihrer Vorzüge erweist sich die funktionalistische Straftheorie von Durkheim – dies sei den Kritikern zugestanden – als unterkomplex und erweiterungsbedürftig. Im Folgenden soll vor allem seine Konzeption sozialen Wandels, die der Kontingenz historischer Entwicklungen nur unzureichend Rechnung trägt, und die Annahme einer gesellschaftlichen Kohärenz problematisiert werden. Durkheim konzeptualisiert gesellschaftlichen Wandel überwiegend als relativ irreversible und unilinear fortschreitende Entwicklung, beispielsweise in Richtung einer zunehmenden Arbeitsteilung oder einer abnehmenden mechanischen Solidarität (2004/1893). Eine soziologische Perspektive, welche den großen Erzählungen der Moderne skeptisch gegenübersteht, wird sich dagegen mit der fundamentalen Offenheit von Geschichte abfinden müssen (2.2.2). Sozialer Wandel muss als Resultat historischer Ereignisse und handelnder Akteure aufgefasst werden. Die jeweilige faktische Ordnung mag zwar kontingent sein, kann aber in ihrer Genese dennoch über geeignete soziale Mechanismen rekonstruiert werden. Durkheim geht von einer relativ einheitlichen und widerspruchfreien Gesellschaft aus, die über einen verbindlichen Normenkatalog für jedermann verfügt. Damit bleibt die Fragmentierung, Hybridisierung und Widersprüchlichkeit moderner Gesellschaften unterbelichtet. Skandale enthüllen nicht nur moralische Verfehlungen, sie thematisieren auch latente Spannungen oder können dabei helfen, bisher unklare moralische Überzeugungen zu artikulieren. Die im Skandal zu Tage tretenden Norm- und Wertkonflikte werden so zum Motor gesellschaftlicher Entwicklung. In diesem Sinne können wir von einer „normgenetischen Funktion“ des Skandals sprechen, da sich unscharfe Erwartungshaltungen oft erst im Skandalisierungsprozess konkretisieren und zu sozialen Normen kristallisieren. Es können neue Lösungen für Norm- und Wertkonflikte gefunden und auf Dauer gestellt werden. Skandale fördern einen gesellschaftlichen Lernprozess (Hondrich 2002: 55-73). Ein weiterer Punkt ‒ gerade mit Blick auf Abu Ghraib ‒ ist die Bedrohung des kollektiven Selbstbildes einer Gesellschaft durch Skandale (vgl. 8.2). Poststrukturalistische Kulturtheorien im Anschluss an Derrida haben auf die Unverzichtbarkeit eines „konstitutiven Außens“ für kollektive Identitäten hingewiesen (z.B. Laclau & Mouffe 2000; vgl. auch 1.3.2). Damit gehen die symbolische und soziale Ausgrenzungsmechanismen einher: Die Exklusion des Normbrechers, seine Bestrafung, ist ein notwendiges Korrelat zur Integration der Gesellschaft. Die Bestrafung des Verbrechers reinigt die Gemeinschaft in demselben Maße, wie dieser durch die Strafe symbolisch aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Dies lässt sich am Rechtssystem beobachten, wo die symbolische Exklusion oft durch eine räumliche Isolation der Kriminellen ergänzt wird, beispielsweise durch die Unterbringung in Gefängnissen (6.3.1). Moralische Inklusion und Exklusion erfolgt hingegen über die Zuteilung von Achtung oder Missachtung (4.1.1). Die Bestrafung durch das Recht
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und die moralische Ächtung gehen zwar oft Hand in Hand, sind aber logisch voneinander unabhängig. So stellen Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung in weiten Teilen der Bevölkerung Kavaliersdelikte dar, das heißt sie werden wohl rechtlich, aber nicht moralisch verurteilt. Bei Skandalen überwiegt die öffentliche Ächtung, da der Skandalisierte oft keine rechtliche Verfolgung zu befürchten hat (z.B. bei der außerehelichen Affäre eines Politikers). Den Ausschluss unreiner Elemente aus einer Gemeinschaft können wir als „symbolische Reinigungsfunktion“ bezeichnen. Durch sie wird die kollektive Identität einer Gruppe wiederhergestellt. In diesem Zusammenhang ist der „Sündenbock“-Mechanismus, wie er von René Girard (1992, 2006) in Mythos, Literatur und Geschichte herausgearbeitet wurde, aufschlussreich. Der Sündenbock repräsentiert nicht nur die das konstitutive Außen, sondern nimmt auch die Sünden der Gemeinschaft auf sich. Dabei werden die eigenen Mängel auf das Opfer projiziert – der kleine Mann vergisst seine eigenen Steuersünden, wenn wieder einmal die Hatz auf die Schwarzgeldkonten in der Schweiz entbrennt. Neben der Funktion der symbolischen Reinigung erfüllt das Opfern eines Sündenbocks, auch im Skandal, eine „kathartische Funktion“. Gäbe es, so Girard, den Sündenbock nicht, würden die aufgestauten Aggressionen in der Gemeinschaft zum unkontrollierten Ausbruch von Gewalt führen. Das kollektive Aufwallen der Empörung kanalisiert diese potenziell destruktiven Affekte und stabilisiert so den emotionalen Haushalt der Gesellschaft. Neben dieser affektiven Leistung erfüllt der Skandal auch eine rein „kognitive Funktion“, da im Zuge der Thematisierung von Verfehlungen bestimmte Sachverhalte oft auch erstmals einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden (vgl. Hondrich 2002: 68). Rekapitulieren wir noch einmal das bisher Erreichte: Es lassen sich dem Skandal in der Tat unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen zuschreiben, zu denen aber gerade nicht – oder nur sehr bedingt – die künftige Prävention von moralischen Verfehlungen gehört. Der Sinn des Skandals liegt vielmehr in der kollektiven Empörung selbst, die ein Ausdruck dessen ist, was Durkheim „mechanische Solidarität“ nennt. Die kollektive Empörung ist nicht nur eine Folge, sondern zugleich auch Ursache dieser Solidarität. Der Skandal integriert moderne Gesellschaften, indem er zeitweilig zum Symbol einer gesellschaftlichen Gemeinschaft wird. Die gesellschaftliche Gefahr, die von einer öffentlichen moralischen Verfehlung ausgeht, liegt nicht in den direkten Folgen dieser Verfehlung, sondern in ihren Konsequenzen für das moralische Bewusstsein der Menschen. In anderen Worten: Es geht im Skandal in erster Linie darum, die normative Erwartungshaltung der Akteure zu erneuern, und weniger darum, sicherzustellen, dass auch entsprechend dieser Erwartungen gehandelt wird. Aus diesem Grund wäre es dysfunktional, jeden Verstoß öffentlich zu machen, aber jeder öffentliche Verstoß muss skandalisiert werden, damit die moralische Ordnung der Gesellschaft keine bleibenden Schäden davonträgt. Moralische Verfehlungen müssen von Zeit zu Zeit ans Licht der Öffentlichkeit geraten, weil eine Regel nur durch ihre Übertretung, eine Norm nur im Verstoß sichtbar
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wird. Dadurch leisten Skandale einen Beitrag zur Reproduktion der moralischen Ordnung der Gesellschaft. Darüber hinaus nehmen Skandale auch in hohem Maße Einfluss auf die Gestaltung von moralischen Ordnungen, indem sie strukturelle Spannungen zum öffentlichen Thema machen oder einen normativen Regelungsbedarf anzeigen. Nicht zuletzt dient der Skandal der Produktion eines konstitutiven Außens sowie der Affektregulierung moderner Gesellschaften. Die Funktionen des Skandals lassen sich wie folgt in einer Tabelle zusammenfassen: Tabelle 9: Gesellschaftliche Funktionen des Skandals Gesellschaftlicher Teilbereich
Bezugsproblem
Funktion
Moralische Ordnung
Strukturerhalt
Normreproduktion
Gesellschaftliche Gemeinschaft
Solidarität
Sozialintegration
Sozialer Wandel
Normative Anpassung
Normproduktion
Kollektive Identität
Kollektive Repräsentation
Reinigungsfunktion
Gesellschaftlicher Affekthaushalt
Affektregulierung
Kathartische Funktion
Gesellschaftliches Wissen
Kognitive Anpassung
Kognitive Funktion
5.2 D ER S KANDAL
ALS
E REIGNIS , R ITUAL
UND
D RAMA
Mag sich alles ändern in einer schnelllebigen Welt: Skandale sind darin eine Art ruhender Pol, eine verlässliche Größe, geradezu ein Symbol für die ewige Wiederkehr des Gleichen. Dabei scheint es doch immer der Reiz des Neuen zu sein, mit dem sie uns anziehen. KARL OTTO HONDRICH, EINBLICKE IN DIE UNTERWELT (2002: 9)
Gesellschaften sind von fundamentalen Dichotomien durchzogen, die für die soziologische Theoriebildung wichtige Eckpfeiler darstellen. So changieren soziale Phänomene zwischen Struktur und Prozess, Systemerhaltung und kreativem Handeln, Routine und Ereignis, Alltäglichem und Außeralltäglichem, Regel und Ausnahme.
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Auch der Skandal hat zwei Gesichter. Zum einen erstaunt die Verlässlichkeit, mit der Skandale immer wieder die Öffentlichkeit heimsuchen, zum anderen inszeniert sich jeder Skandal als unerhörte und einzigartige Begebenheit. Die Verlässlichkeit des Skandals hat Hondrich (2002) dazu bewogen, von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ zu sprechen. Er erklärt dieses Faktum (oder besser: Fatum) mit der fortschreitenden funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften und dem Beitrag der Moral zur Aufrechterhaltung dieser Differenzierung (2002: 13f., 150-164). Politische Skandale entstehen nicht selten infolge einer Verquickung von öffentlichem Amt und privaten Geschäftsinteressen, also an der Schnittstelle von politischem System und Wirtschaftssystem. Die funktionale Differenzierung führt nicht nur zu Reibungen zwischen einzelnen Funktionssystemen, sondern auch zu Loyalitätskonflikten, da segmentäre und stratifizierte Ordnungen nicht einfach verschwinden, sondern parallel zur funktionalen Differenzierung bestehen bleiben. Gerade die Loyalität zu partikularen Gruppen wie der Familie oder der Firma wird in modernen Gesellschaften oft als Beeinträchtigung der Funktionsweise von Bürokratien und Märkten wahrgenommen und als Korruption oder unlauteres Geschäftsgebaren gebrandmarkt. Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch unscharfe Grenzen und moralische Graubereiche aus, was die Möglichkeit für Normverstöße noch einmal potenziert. Skandale ziehen Grenzen zwischen Systemen, aber auch zwischen regelkonformem und abweichendem Verhalten, immer wieder neu. Skandalisierer verwenden die binären Codes des zivilgesellschaftlichen Diskurses (4.3.1), um die moralischen Grauzonen mit moralisierender Schwarzweißmalerei zu übertünchen – eine Sisyphos-Aufgabe, da die Grenzen zwischen „Innen“ und „Außen“ bzw. „gut“ und „böse“ ohne Skandalisierung immer wieder zu verwischen drohen. Die moralische Ordnung einer Gesellschaft setzt durch ihre Normen einen Maßstab für normkonformes Verhalten. Diese Normsetzung macht abweichendes Verhalten erst möglich, ja erzwingt geradezu die Entstehung einer devianten Unterwelt, die vor den Blicken der moralischen Öffentlichkeit geschützt werden muss (Becker 1981; Hondrich 2002). Zwischen der normativen Ordnung und den immer wieder stattfindenden Regelverstößen besteht nicht nur ein antagonistisches, sondern auch ein komplementäres Verhältnis (vgl. Ortmann 2003). Erst der Regelverstoß bringt die Geltung der Regel zu Bewusstsein; und erst vor dem Hintergrund der Regel kann eine Handlung als Ausnahme gerahmt werden. Die Enthüllung des Normverstoßes ist ein Ereignis, das die Unterwelt des devianten Handelns für einen Moment aufblitzen lässt, während das Grollen des Publikums noch einige Zeit nachhallt. Trotz dieser prinzipiellen Vorhersagbarkeit von Skandalen tritt der einzelne Skandal stets als historisches Ereignis in Erscheinung, das ungeahnte Folgen zeitigen kann. Der Skandal lässt sich im Anschluss an Turner (2005) als „antistrukturelles Phänomen“ bezeichnen, das eine wichtige Stellung innerhalb der Struktur moderner Gesellschaften einnimmt. Zwischen den Begriffen „Struktur“ und „Antistruktur“ besteht ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis, ähnlich dem gestaltpsychologi-
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schen Verhältnis von „Figur“ und „Hintergrund“. Gerade wegen des wissenschaftlichen Interesses an der Entdeckung relativ stabiler gesellschaftlicher Strukturen besitzt das antistrukturelle Moment eine besondere epistemologische Relevanz: „Tatsächlich stößt man in menschlichen Kulturen oft darauf, dass strukturelle Widersprüche, Asymmetrien und Anomalien unter Schichten von Mythen, Ritualen und Symbolen zum Vorschein kommen, die den axiomatischen Wert wichtiger Strukturprinzipien gerade in Situationen betonen, in denen diese am wenigsten zu funktionieren scheinen.“ (Turner 2005: 51)
In einer ähnlichen Stoßrichtung hat auch schon der Soziologe Harold Garfinkel vorgeschlagen, mit Hilfe von Krisenexperimenten die unhinterfragten Annahmen des alltäglichen Lebens aufzudecken (1967; 1.2.1). Skandale können in diesem Sinne als makrosoziale Krisenexperimente aufgefasst werden. Turner hat in seinen ethnologischen Fallstudien nicht nur gezeigt, dass antistrukturelle Ereignisse latente gesellschaftliche Strukturen sichtbar machen, sondern auch darauf hingewiesen, dass bestimmte Formen eingehegter Antistruktur (wie der Karneval oder das indische Holi-Fest) in funktionaler Hinsicht einen Beitrag zur strukturellen Reproduktion einer gesellschaftlichen Ordnung leisten können (2005: 169-179). Darüber hinaus sind antistrukturelle Phänomene bevorzugte Orte der Entstehung des Neuen. So gruppieren sich Sekten in der Regel um einen charismatischen, antistrukturellen Kern, der sich im Prozess der Institutionalisierung und Verkirchlichung verflüchtigt.13 Die kulturwissenschaftliche Relevanz der Antistruktur lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: Aus einer epistemologischen Perspektive ermöglicht sie die Erforschung gesellschaftlicher Strukturen, in funktionaler Hinsicht leistet sie einen Beitrag zum Strukturerhalt, und in historischer Betrachtungsweise öffnet sie den geschlossenen Kreislauf der Strukturreproduktion für Neues. Turners Begriffspaar muss relational verstanden werden: Was als „Struktur“ oder „Antistruktur“ bezeichnet wird, hängt vom jeweiligen Referenzrahmen ab. Was im einen Fall „Struktur“ darstellt, kann schon im nächsten Fall als „Antistruktur“ fungieren. Auch der Skandal besitzt einen eigentümlich strukturierten Prozessverlauf, der wiederum antistrukturelle Momente beinhaltet. Bevor wir im nächsten Kapitel auf den typischen Verlauf eines Skandals eingehen, soll dieser zunächst als Medienereignis, öffentliches Ritual und soziales Drama charakterisiert werden. Die Unterscheidung zwischen „Ereignis“, „Ritual“ und „Drama“ orientiert sich an einer Typologie verschiedener Ereignistypen von Bernhard Giesen (2006b): Ereignisse erster Ordnung stellen eine Erscheinung des Außerordentlichen dar, das in den alltäglichen Lauf der Dinge einbricht. Sie sind damit 13 So auch bei der Entstehung des Christentums, wobei sich dieser Prozess bei kirchlichen Abspaltungen und Neurungen wiederholte. Vgl. hierzu Turners Untersuchungen zum Heiligen Franziskus und der Entstehung des Franziskanerordens (2005: 136-148).
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antistrukturelle Phänomene par excellence. Rituale lassen sich als Ereignisse zweiter Ordnung beschreiben, die der Einhegung antistruktureller Momente dienen (2.3.1). Sie unterwerfen die einzelnen Ereignisse dem Gesetz der Serie. Ereignisse dritter Ordnung kombinieren Ereignishaftigkeit und Strukturbildung. Ein Beispiel hierfür sind theatralische und soziale Performanzen, die als symbolische Akte in einer Serie stehen, aber ihre Bedeutung erst im Unterschied zu vorangegangenen Ereignissen und vor dem Hintergrund kultureller Mustern gewinnen (2.3.2-3). Der Erfolg von sozialen Performanzen, die den Verlauf eines Skandals als einem sozialen Drama maßgeblich beeinflussen, ist kontingent, aber nicht zufällig. In der Konzeption des Skandals als einem sozialen Drama erschließt sich eine historische Form der Kontingenzbewältigung, die sich sowohl von der radikalen Kontingenz des ursprünglichen Ereignisses als auch vom starren Gesetz der Serie abhebt. 5.2.1 Der Skandal als Medienereignis Jedes Ereignis stellt eine „unerhörte Begebenheit“, eine außerordentliche Verkörperung des Neuen dar. Im Ereignis tritt das Reale zu Tage, weil die symbolische Ordnung der Welt aus den Fugen gerät. Somit transzendiert das Ereignis – nicht unähnlich der charismatischen Persönlichkeit bei Weber (2002/1921-22: 140f.) – die alltägliche Ordnung der Dinge. Wie das persönliche Charisma ist auch die Außeralltäglichkeit eines Ereignisses dem zeitlichen Verfall unterworfen. 14 Ganz allgemein gibt es drei mögliche Wege der „Veralltäglichung“ von Ereignissen: Ihre natürliche Profanisierung, ihre Überschattung durch dringlichere Ereignisse und schließlich ihre partielle Aufhebung durch gegenläufige Ereignisse. So kann auch der charismatische Führer nicht nur aufgrund von bloßer Gewöhnung und räumlicher Nähe (Hegel zufolge gibt es für den Kammerdiener keinen Helden), sondern auch infolge einer Skandalisierung seinen außeralltäglichen Status verlieren. Skandale stellen soziale Katalysatoren im natürlichen Verfallsprozess des Charismas dar (vgl. Giesen 2010: 226). Als Medienereignisse können Skandale von anderen Ereignissen überschattet oder aufgehoben werden – wie die Enthauptung von „Nick“ Berg zwei Wochen nach Ausbruch des Abu-Ghraib-Skandals gezeigt hat (8.4.2). Das Ereignis ist, wie auch Webers Begriff des „Charismas“, keine natürliche, sondern eine beobachterabhängige Kategorie. Jedes Ereignis („event“) stellt immer 14 Zehn Jahre nach dem 11. September 2001 haben die Anschläge auf das World Trade Center spürbar an weltgeschichtlicher Bedeutung eingebüßt. Der Kampf gegen den Terror, der die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2004 noch maßgeblich geprägt hatte, spielte im Wahlkampf 2008 nur noch eine untergeordnete Rolle, nicht zuletzt weil das Trauma von 9/11 von der Finanzkrise überschattet wurde. Der Bedeutungsverlust von 9/11 spiegelt nicht nur die „natürliche“ Veralltäglichung des Ereignisses wieder, sondern wurde durch andere Ereignisse beschleunigt. In dieser Studie wird die These vertreten, dass der Abu-Ghraib-Skandal einen zentralen Wendepunkt im Krieg gegen den Terror darstellt.
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auch schon eine Selektion vor dem Hintergrund des bloßen Geschehens dar (so Mast 2006: 117). Die Analyse von Medienereignissen zeigt, dass Ereignisse nach Maßgabe medienspezifischer Prinzipien und Formate konstruiert werden. Die Selektion und Produktion von Ereignishaftigkeit findet im System der Massenmedien statt. Luhmann zufolge operieren die Massenmedien mit der Leitunterscheidung von „Information“ und „Nichtinformation“ (1996). Ereignisse sind nach dieser Terminologie per se informativ. Zu den Prozessen der Selektion von Nachrichten und der Produktion von Ereignissen gibt es mittlerweile umfassende Untersuchungen mit relativ gesicherten, wenngleich kaum überraschenden Erkenntnissen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die sogenannte „Nachrichtenwerttheorie“, in der zwischen „Nachrichtenfaktoren“ als den unabhängigen Variablen und dem „Nachrichtenwert“ als abhängiger Variable unterschieden wird (Ruhrmann et al. 2003). Als klassische Nachrichtenfaktoren gelten „Vereinfachung“ (simplification), „Identifikation“ (identification) und „Sensationalismus“ (sensationalism), elaboriertere Versionen der Theorie weisen wesentlich mehr Faktoren auf (vgl. Maier 2003). Zudem wird ein deutlicher Anstieg der Bedeutung des Nachrichtenfaktors „Visualität“, also der Verfügbarkeit geeigneten Bildmaterials, konstatiert (Ruhrmann 2003: 231f.). Es fällt sofort auf, dass die Skandalisierung von moralischen Verfehlungen, gemessen an der klassischen Nachrichtenwerttheorie, eine attraktive Strategie für das Mediensystem darstellt. Skandale simplifizieren, weil sie Missstände nach einem binären Schwarz/Weiß-Schema anprangern, und personalisieren, da sie Verantwortlichkeiten individuell zurechnen. Sowohl die Personalisierung der Schuldfrage als auch die mit dem Skandal einhergehende Dramatisierung erleichtert die Identifikation des Publikums mit den Akteuren. Heimliche Faszination und offene Abscheu auf Seiten der Zuschauer tragen ihren Teil dazu bei, den Skandal zu einer Sensation und einem Spektakel aufzubauschen. Die Verfügbarkeit von Bildmaterial steigert die Attraktivität von Skandalen weiter, wie es nicht zuletzt der Abu-Ghraib-Skandal, aber auch schon die Berichterstattung über das My-LaiMassaker während des Vietnamkrieges (6.2.2) gezeigt hat. Medienereignisse stellen aber nicht nur Informationen bereit, die von den Rezipienten rein kognitiv verarbeitet werden. Das kollektive Interesse an Medienereignissen wird erst durch den emotionalen und evaluativen Gehalt der Berichterstattung verständlich. Was rein kognitiv eine Neuigkeit darstellt (wie der sprichwörtliche Sack Reis, der in China umfällt), muss noch lange nicht relevant sein. Nur die emotionale Besetzung und evaluative Beurteilung von Ereignissen, die immer vor einem kulturellen Hintergrund stattfindet, erlaubt es, die Spreu vom Weizen zu trennen. Als Hintergrundfolie für die Wahrnehmung von Ereignissen dienen gesellschaftliche Klassifikationsschemata, vor allem aber die durkheimianische Unterscheidung zwischen dem „Heiligen“ und dem „Profanen“. Was als „heilig“ gilt, steht nicht nur im Zentrum des kollektiven Interesses, sondern vermag es auch, kollektive Gefühle zu wecken. Das Profane ist höchstens von individuellem Interesse.
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Als „high holidays of mass communication“ repräsentieren Medienereignisse das heilige Zentrum moderner Gesellschaften (Dayan & Katz 1996). Die Transzendenz von Medienereignissen kann, wie schon das Heilige bei Durkheim (2005/1912: 548-555), sowohl eine positive als auch eine negative Form annehmen. Zu den Medienereignissen mit positiver Transzendenz zählen beispielsweise Krönungen und Hochzeiten (Shils 1975; Dayan & Katz 1988), während Anlässe für kollektive Trauer wie Krisen, Katastrophen und Attentate ex negativo auf das heilige Zentrum einer Gesellschaft verweisen (Alexander 2004; Tiryakian 2005; Eyerman 2008). Im sozialen Leben einer Gemeinschaft gehen solche Ereignisse mit einer perspektivischen Verschiebung einher. Dominiert im Alltag, insbesondere in der medialen Unterhaltung, die individuelle Perspektive des Zuschauers, so tritt für die Zeugen eines Medienereignisses das kollektive Erleben in den Vordergrund. Ereignisse lassen sich als zeitliche Erscheinung des Außerordentlichen und des Heiligen einer Gemeinschaft definieren (vgl. Giesen 2006b: 335-338). Wie der Ausbruch von Gewalt (3.1.2), so unterbricht auch das Ereignis die zeitliche Ordnung des Alltags. Der Anschlag vom 11. September 2001 und die Ermordung von John F. Kennedy am 22. November 1963 können hier als Beispiele dienen: Die Forderungen des Tages blieben liegen, stattdessen verfolgte man die Ereignisse am Bildschirm oder rief Bekannte an, um sie zu informieren oder sich mit ihnen auszutauschen. Zugleich aber waren sich die Menschen an den Bildschirmen bewusst, dass sie zu Zeitzeugen dieses Ereignisses wurden – ja dass die ganze Nation mit ihnen zusah. Hier zeigt sich eine frappierende Übereinstimmung mit Durkheims Schilderung eines Moralskandals, der eine kleine Stadt in Aufruhr versetzt und die alltäglichen Geschäfte zum Erliegen bringt (5.1.2). Der Skandal stellt als Ereignis eine medial vermittelte und zeitlich begrenzte Erscheinung des Außerordentlichen dar, die kollektiv erlebt wird. Skandale sind aber nicht nur gesellschaftliche Epiphanien, sondern stellen zugleich den Versuch dar, das Unfassbare in eine mediale und kulturelle Form zu gießen. Kurzum, wir müssen den Skandal zugleich als ein Ereignis zweiter Ordnung und damit als öffentliches Ritual betrachten. 5.2.2 Der Skandal als öffentliches Ritual Skandale können nicht nur als reine Ereignisse, sondern auch als Medienrituale betrachtet werden (vgl. Dayan & Katz 1988; Couldry 2003; Cottle 2006). Turner (2005) hat in seinen Untersuchungen den ereignishaften und antistrukturellen Kern von Ritualen herausgearbeitet, für den der Begriff des „Liminalen“ steht (2.3.1). Das Konzept der Liminalität geht auf van Gennep (1999) zurück, der die sogenannten „Übergangsriten“ in drei Phasen unterteilt: Erst Abspaltung, sodann die Schwellen- oder liminale Phase, schließlich Wiederangliederung. Nach Turner zeichnet sich diese mittlere Phase durch „Antistruktur“ aus – ein Zustand, in dem die gesellschaftliche Ordnung zeitweise außer Kraft gesetzt wird und sich ein Raum für krea-
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tives Handeln und Innovationen öffnet. Liminalität tritt oft als Epiphanie, als eine Erscheinung des Heiligen zu Tage. Dieses Übergangsstadium kann – und hier drängt sich der Vergleich zu Durkheims Konzeption des Heiligen auf – nicht nur eine positive, sondern auch eine negative Bewertung erfahren: „Liminalität mag für viele weniger das Milieu kreativer zwischenmenschlicher oder transmenschlicher Befriedigungen und Leistungen als vielmehr den Gipfel der Unsicherheit, den Einbruch des Chaos in den Kosmos, der Unordnung in die Ordnung darstellen. Liminalität kann der Schauplatz von Krankheit, Verzweiflung, Tod und Selbstmord, des Zusammenbruchs normativer, klar definierter sozialer Beziehungen und Bindungen sein, ohne dass neue Beziehungen dieser Art an ihre Stelle träten. Liminalität kann Anomie, Entfremdung [im Original „alienation“, W.B.], Angst, ‒ die drei verhängnisvollen Alpha-Schwestern vieler moderner Mythen ‒ bedeuten.“ (Turner 2009: 72)
Nicht nur eine Epiphanie kann sich im Liminalen ereignen ‒ es kann auch der bedrohliche Abgrund des Realen aufklaffen. Dementsprechend beschwört die moralische Verfehlung im Skandal oft Ängste vor Werteverlust, Regellosigkeit und Amoralität herauf. Der Skandal ist eine kulturelle Form, die es modernen Gesellschaften erlaubt, auf eine als kollektiv empfundene Bedrohung zu reagieren. Für ein Verständnis des Skandals als einem Medienritual ist der Ritualbegriff des späten Durkheim zentral.15 Das Ritual stellt eine Form des kollektiven Handelns dar, die Solidarität erzeugt und so die kollektive Identität absichert. Im Zentrum jedes Rituals stehen sakrale Objekte oder Symbole, die die gesellschaftliche Solidarität und kollektive Identität repräsentieren (Durkheim 2005/1912: 166-177; Collins 2004: 81-87). So ist beispielsweise der „Kult des Individuums“ bei Durkheim ein System von Vorstellungen und rituellen Praktiken, die sich auf den einzelnen Menschen als heiliges Objekt beziehen (1986/1898, 2004/1893). Im Anschluss an Durkheim wurden Medienereignisse immer wieder als „Medienrituale“ charakterisiert (Dayan & Katz 1988, 1996; Cottle 2006), wenn auch bisweilen deren Funktionalität vehement bestritten wurde (Couldry 2003). Auch Robert Bellah (1991) hatte in seinem bahnbrechenden Aufsatz über die Zivilreligion die Rolle von Medienritualen in der amerikanischen Öffentlichkeit hervorgehoben. Jeffrey Alexander (2003c), ein 15 Während in der Arbeitsteilung noch die organische Solidarität im Vordergrund steht und die mechanische Solidarität, auf der Skandale und Bestrafungen basieren, vor allem als Kontrastfolie dient, wendet sich Durkheim in seinen elementaren Formen des religiösen Lebens verstärkt jenen Formen der Solidarität zu, die auf einer substanziellen Ähnlichkeit zu basieren scheinen. Während der frühe Durkheim mit dem Begriff der mechanischen Solidarität eine natürliche Ähnlichkeit der Mitglieder einer Gesellschaft verbindet, beschäftig sich der späte Durkheim mit sozialen und kulturellen Formen, welche Gleichförmigkeit, Übereinstimmung und kollektive Identität herstellen.
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Schüler Bellahs, hat eine Analyse der Watergate-Affäre als demokratisches Ritual vorgelegt. Im Zentrum von Skandalen finden wir meistens „unreine Objekte“ wie die Watergate-Bänder oder die Abu-Ghraib-Fotografien, die den Gegenstand ritueller Auseinandersetzungen bilden und öffentliche Diskurse anstoßen. Bei dem Stein des Anstoßes handelt es sich in der Regel um ein corpus delicti, die Spur oder das Indiz einer Normverletzung. Als solches repräsentiert das Objekt die Gruppe ex negativo. Das „unreine Objekt“ zeichnet sich in der Regel durch kognitive Ambiguität, affektive Besetzung und negative Bewertung aus. Das Medienritual fungiert als ein Reinigungsritual, das die vom jeweiligen Objekt ausgehende Gefahr bannt und seine negative Liminalität in ein positives Strukturprinzip transformiert.16 Skandale, wie wir sie heute kennen, sind durch die neuen Medientechnologien im Ausgang des 19. Jahrhunderts möglich geworden (Bösch 2004). Sie verdanken sich einerseits neuen Kommunikationskanälen, die den Kreis der Partizipierenden und insbesondere des Publikums ungemein erweiterten; andererseits steigerten auditive und visuelle Aufnahme- und Speichermedien die Möglichkeiten der Dokumentation von Normverletzungen und damit auch der Produktion von Symbolen und Artefakten, die im Fokus von Medienritualen stehen können. Die Erfindung, Entwicklung und Verbreitung der Fotografie hat die Skandalisierungsmöglichkeiten enorm gesteigert. Für den Abu-Ghraib-Skandal war die seinerzeit relativ neue Technik der Digitalfotografie von überragender Bedeutung. Ohne die billigen und handlichen Digitalkameras, die rund um die Uhr zur Verfügung standen, und die dazugehörige Computertechnik, die eine einfache, aber schwer zu kontrollierende Verbreitung der Bilder ermöglichte, hätte es den Skandal vermutlich nie gegeben. Medientechnologien sind für Skandale in doppelter Hinsicht von Bedeutung: Als Aufnahme- und Speichermedien können sie für die Dokumentation von Normverletzungen genutzt werden und fungieren somit als Bindeglied zwischen Normbruch und Enthüllung, während sie als Kommunikations- und Verbreitungsmedien dafür sorgen, dass die Enthüllung ein größeres Publikum erreicht und die Entrüstung einen Anspruch auf Repräsentativität erheben kann. Sowohl der rituelle Charakter von Medienereignissen als auch ihre symbolische Vermittlung durch Bilder lassen sich von einer normativen Warte aus kritisieren. Die antiritualistische Kritik von Medienritualen (Couldry 2003; Edelman 2005) und die ikonoklastische Kritik an ihrer visuellen Dimension (Müller 2004; aber auch Ruhrmann 2003: 231) mögen noch so berechtigt sein, sie sollten die Soziologie jedoch nicht daran hindern, nach den gesellschaftlichen Funktionen von Ritualen und Bildern Ausschau zu halten. Als Ereignisse zweiter Ordnung folgen öffentliche Rituale verbreiteten kulturellen Mustern und allgemein bekannten Verlaufsschemata. Ganz allgemein kann man 16 So ist der gekreuzigte Jesus ‒ als sterbender Gott das Skandalon schlechthin ‒ im Christentum zu einer Ikone geworden. In ähnlicher Weise transformieren säkulare Ikonen die bildliche Darstellung von Normverstössen in Objekte eines säkularen Kults (vgl. 2.1.3).
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– in Analogie zur Unterscheidung von „Riten der Lebenskrisen“ und „kalendarischen Riten“ bei Turner (2005: 161f.) – zwischen der rituellen Bewältigung „nichtperiodischer“ und „periodischer Ereignisse“ unterscheiden. Periodisch wiederkehrende Medienereignisse wie die Olympischen Spiele oder politische Wahlkämpfe sind vorhersehbar und stellen im Wesentlichen eine Wiederholung vorheriger Ereignisse dar. Sie haben feste Formen (Fackellauf bzw. Fernsehduell), kombinieren diese aber mit einem gewissen Maß an Kontingenz. In derselben Weise sichert das Ritual des politischen Wahlkampfes und der Wahl den kritischen Übergang der Machtübergabe – gerade angesichts des ungewissen Wahlausgangs. Man kann sagen, dass das demokratische Ritual der Wahl den liminalen Übergang von einer Herrschaft zur nächsten Herrschaft absichert, indem sie die revolutionäre Situation der Enthauptung des Königs immer wieder aufs Neue inszeniert (Giesen 2004c). Nichtperiodisch wiederkehrende Ereignisse sind prinzipiell unvorhersehbar (die nächste Krise kommt bestimmt, fragt sich nur wann). Fallen nichtperiodische Ereignisse sogar aus dem Horizont des Erwartbaren, können sie den kognitiven Hintergrund und die kulturelle Identität einer Gesellschaft in Frage stellen, was traumatische Folgen haben kann (vgl. 1.3.5). In der Reaktion auf unvorhergesehene Ereignisse spielen allerdings auch etablierte Muster eine große Rolle. Dies zeigt sich gerade an den medialen Formaten der Vermittlung des Außerordentlichen: Geschieht etwa ein großes Unglück oder wurde ein schwerwiegender Skandal aufgedeckt, so werden sofort Sondersendungen geschaltet. Diese unterbrechen das alltägliche Programm und signalisieren damit die zeitweilige Suspension der normalen Ordnung, womit sie dem Ereignis letztlich eine Aura des Außeralltäglichen verleihen. Dennoch handelt es sich bei Sondersendungen um ein etabliertes Format, das es den Fernsehsendern erlaubt, auf das Nichtvorhersehbare in einer dafür vorgesehenen Weise zu reagieren. So wird das außerordentliche Ereignis durch rituelle Formen handhabbar gemacht und wieder in die soziale Ordnung eingehegt. Traumatische Ereignisse im engeren Sinne, wie beispielsweise der 11. September 2001, zeichnen sich dadurch aus, dass auf sie nicht mehr in angemessener Weise reagiert werden kann. Die Kommentatoren sind sprach- und fassungslos. Der Skandal stellt ein nichtperiodisches Medienereignis dar, das die Funktionen periodischer Ereignisse übernehmen kann. Politische Skandale, die einen Politiker zum Rücktritt zwingen, stehen als funktionales Äquivalent zu dessen Abwahl oder Pensionierung zur Verfügung (so auch Giesen 2010: 228). Sie sind eine notwendige Ergänzung zum Wahlverfahren, insofern sie die demokratische Kontrolle auch jenseits des Urnengangs öffentlich in Szene setzen. Ohne die fortwährende Kontrolle der Legislative und Exekutive durch die Öffentlichkeit wären demokratische Systeme konstitutionelle Wahldiktaturen auf Zeit. Erst die zivilgesellschaftlichen Diskurse der Öffentlichkeit stellen die Herrschaft des Volkes auf Dauer (4.2).
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5.2.3 Der Skandal als soziales Drama Der Begriff des „sozialen Dramas“ stammt von Victor Turner, der damit eine spezifische Form der öffentlichen Austragung sozialer Konflikte bezeichnet (2009: 95139). Genauer handelt es sich dabei „um eine spontane Einheit des sozialen Prozesses“ (2009: 108), ein öffentliches Ereignis der dritten Ordnung, das in der vorliegenden Skandaltheorie dem offenen Ausgang von Skandalen Rechnung tragen soll. Turner zufolge weisen soziale Dramen folgendes Verlaufsmuster auf: „Als Hypothese, die sich auf wiederholte Beobachtungen derartiger Prozesseinheiten in verschiedenen soziokulturellen Systemen sowie meine Lektüre ethnographischer und historischer Literatur stützt, möchte ich formulieren, dass soziale Dramen [...] vier Phasen aufweisen, die ich Bruch, Krise, Bewältigung und entweder Reintegration oder Anerkennung der Spaltung nenne.“ (Turner 2009: 108)
Dieses Schema weist einige bemerkenswerte Übereinstimmungen mit Hondrichs (2002) Skandalverlaufsschema – der Trias von Normverstoß, Enthüllung und Entrüstung – auf. So scheint der „Bruch“ zunächst dem „Normverstoß“ im Skandal zu entsprechen, insofern auch er eine Regelverletzung darstellt, über die im öffentlichen Leben nicht mehr so ohne Weiteres hinweggegangen werden kann: „Ganz gleich, ob es sich dabei um eine große Affäre wie die Dreyfus- oder Watergate-Affäre oder einen Kampf um das Amt des Dorfoberhaupts handelt, ein soziales Drama beginnt zunächst mit einem öffentlichen Bruch einer sozialen Norm, der Verletzung einer moralischen Regel, dem Verstoß gegen ein Gesetz, einem Brauch oder eine Etikette.“ (Turner 2009: 110)
Eine genauere Lektüre zeigt, dass für Turner in erster Linie die öffentliche Normverletzung von Interesse ist. Normverstoß und Enthüllung werden im „Bruch“ zu einer Einheit zusammengezogen. Turner interessiert sich nicht für das Verhältnis von verborgenen Normverstößen zu den öffentlich gewordenen Verfehlungen, wofür vor allem die Selektionsmechanismen der Medien von Bedeutung sind (5.3.2). Eine weitere Differenz zu Hondrich liegt in Turners Konzeption von „Krise“: „Hierauf folgt eine sich zuspitzende Krise, ein bedeutsamer Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den Bestandteilen eines sozialen Feldes, an dem aus dem scheinbaren Frieden offener Konflikt wird und unterschwellige Antagonismen zum Vorschein kommen. Man ergreift Partei, bildet Splittergruppen, und falls der Konflikt nicht schnell auf einen kleinen Bereich der sozialen Interaktion begrenzt werden kann, besteht die Tendenz, dass sich der Bruch solange ausweitet, bis er zur Spaltung im umfassendsten System relevanter sozialer Beziehungen, dem die konfligierenden Parteien angehören, führt.“ (Turner 2009: 110)
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Hondrich geht von einer einmütigen Empörung aus, die sich an Durkheims einfachem Modell des Rituals als einem Integrationsmechanismus der Gemeinschaft orientiert. Hingegen geht es Turner um den Konfliktfall, in dem unterschiedliche soziale Gruppen aneinandergeraten und über die Deutungshoheit der sozialen Krise streiten. Im Gegensatz zu Girard, der die gesellschaftliche Krise als anomische Entdifferenzierung begreift (1992: 23-37), geht es Turner um die Krise als drohendes gesellschaftliches Schisma. Der Normverstoß führt hier zu einer Spaltung innerhalb der Gruppe. Es bleibt also nicht bei dem Bruch als einer Regelverletzung, einer Überschreitung der für alle verbindlichen normativen Ordnung, sondern dieser weitet sich zu einem sozialen Bruch aus. Hier treten die Grenzen des normativen Paradigmas in der Soziologie deutlich zu Tage: Der öffentliche Bruch der Norm ist kein positivistisch feststellbares Faktum, sondern Resultat von sozialen Aushandlungsprozessen, die ihrerseits wieder auf kulturelle Muster zurückgreifen müssen (1.1.45). Ob ein Normverstoß vorliegt, wie schwer dieser wiegt, wem er zugerechnet wird oder ob nicht doch der transgressive Akt der Normüberschreitung am Ende als legitime Ausnahme gerahmt wird – darüber entscheidet der kontingente Verlauf des sozialen Dramas. Dieser hängt wiederum vom öffentlichen Einsatz der beteiligten Akteure ab, die auf gemeinsame Deutungsmuster zurückgreifen müssen, damit eine hegemoniale Deutung des Bruchs und somit auch eine Beilegung des Konfliktes gelingen kann. Das soziale Drama wird erst durch die Krise zu einem Prozess mit offenem Ausgang. Hat man sich erst einmal über die Krise verständigt, können Maßnahmen getroffen werden, um diese einzudämmen, wodurch eine weitere Phase des sozialen Dramas, die Bewältigung, eingeleitet wird: „Um die Ausweitung des Bruchs zu vermeiden, setzen führende Mitglieder der betroffenen Gruppe bestimmte Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen in Gang. […] Ein solches Ritual schließt ein tatsächliches oder ein moralisches ‚Opfer‘ ein, das als Sündenbock für die von der Gruppe im Zuge der gewaltsamen Krisenbewältigung begangenen ‚Sünde‘ dient.“ (Turner 2009: 111)
Die Protagonisten des sozialen Dramas setzen soziale Performanzen, standardisierte Rituale oder andere Formen individuellen wie kollektiven Handelns ein, um den sozialen Bruch zu kitten und so der Krise Herr zu werden. Ein bewährtes Mittel zur Beilegung des Konflikts ist der von Turner erwähnte und von Girard (1992, 2006) ausführlich behandelte „Sündenbock“. Obwohl (oder gerade weil) es sich beim Sündenbock ursprünglich um ein religiöses Phänomen handelte, spielt er auch in den aktuellen öffentlichen Diskursen eine große Rolle. In den sogenannten moral panics fungieren Sündenböcke vorwiegend als Projektionsfläche für kollektive Ängste (vgl. Cohen 1982), während sie im sozialen Drama – und natürlich auch im Skandal – der Krisenbewältigung dienen. Gerade weil der idealtypische Sündenbock nicht am Konflikt beteiligt ist, da er keiner der streitenden Parteien angehört,
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kann sein Opfer integrativ wirken. In modernen Gesellschaften gilt das Opfern von Unschuldigen als rechtlich unzulässig und moralisch verwerflich – außer natürlich im Falle eines Selbstopfers, durch welches der vermeintlich Schuldlose die Schuld des Kollektivs in einem performativen Akt der Demut auf sich nimmt (3.3.1). Der öffentliche Vorwurf des scapegoating dient somit in erster Linie der Verteidigung der vermeintlichen Sündenböcke gegen die Angriffe der gegnerischen Partei. Im Abu-Ghraib-Skandal waren es vor allem die Anwälte der Soldaten, die diese als Sündenböcke bezeichneten (8.3). An die Stelle des Sündenbock-Mechanismus tritt in modernen Gesellschaften der unpersönliche Mechanismus des Rechts, der ebenfalls eine Beilegung des Konfliktes ohne Parteinahme verspricht (Girard 2006: 2746). Nichtsdestotrotz bleibt der Sündenbock-Mechanismus auch in liberalen Öffentlichkeiten wirksam, wenn auch die Benennung von Sündenböcken nie offen erfolgt, sondern sich unter einem moralischen und rechtlichen Deckmantel vollzieht.17 Die letzte Etappe des sozialen Dramas ist sein offener Ausgang. Der Skandal als soziales Drama kann sowohl – wie im Fall von Watergate – mit einer Reintegration, als auch – wie die Dreyfus-Affäre gezeigt hat – mit einer anhaltenden Spaltung der Gesellschaft einhergehen (vgl. Alexander 1993). Oder in Begriffen der narrativen Logik: Das soziale Drama kann sowohl einen tragischen als auch einen romantischen Verlauf nehmen (2.2.1). Während die Reintegration zur Beilegung des sozialen Konfliktes, zu einer Solidarisierung der streitenden Gruppen und zur Bekräftigung der gemeinsamen kollektiven Identität führt, gibt es im Falle der Spaltung keine allgemein anerkannte Lösung des sozialen Dramas. Stattdessen wird die Spaltung als solche anerkannt und auf Dauer gestellt, was die kollektive Identität und den Zusammenhalt der Gesellschaft nachhaltig schwächen kann. Auch wenn sich soziale Dramen durch die Existenz unterschiedlicher Interessengruppen und Interpretationsgemeinschaften auszeichnen, setzen sie einen gesellschaftlich geteilten Hintergrund voraus: „Soziale Dramen entstehen in Gruppen, deren Mitglieder die gleichen Werte und Interessen sowie eine – tatsächlich oder angeblich – gemeinsame Geschichte aufweisen. Hauptakteure im sozialen Drama sind Personen, die in der Gruppe, dem Feld der dramatischen Handlung, hohe Wertschätzung genießen“ (Turner 2009: 106). Soziale Dramen sind auf Stellvertretung angewiesen. Jedes soziale Drama hat seine Protagonisten, denen nicht nur von den ihnen zugehörigen Gruppen Achtung entgegengebracht und Einfluss zugestanden wird, sondern die auch für bestimmte Aspekte des Kollektivs als Ganzem stehen. Wer im Laufe des sozialen Dramas, beispielsweise durch eine erfolgreiche Skandalisierung oder eine misslungene Performanz, seine Achtung verliert, büßt damit 17 Hondrich sieht in seiner Analyse des CDU-Spendenskandals von 1999 den SündenbockMechanismus am Werke (2002: 115f.). Der Rücktritt altgedienter Parteimitglieder sei dem aufgebrachten Publikum nicht genug gewesen, weswegen mit Wolfgang Schäuble ein vergleichsweise junger und unbelasteter Hoffnungsträger zurücktreten musste.
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auch seinen Einfluss und das Recht ein, für seine Gruppe und das gesellschaftliche Ganze zu sprechen. Skandale lassen sich hinsichtlich ihres Ablaufs und ihrer Komplexität zwischen zwei Polen verorten. Triviale Skandale entsprechen weitestgehend dem Ritualbegriff von Durkheim und dem von Hondrich vorgeschlagenen Verlaufsmodell des Skandals.18 Die Empörung über die enthüllte Normverletzung erfolgt hier prompt und unisono. Viele zeitgenössische Skandale sind in diesem Sinne relativ trivial. Sie problematisieren Normverstöße, über die öffentlich Einigkeit besteht und für die bereits institutionalisierte Sanktionen vorliegen. Die gesellschaftlich bedeutenderen und wissenschaftlich interessanteren Skandale zeichnen sich in der Regel durch Situationen der Unentscheidbarkeit aus, die sich nicht mehr nach „Schema F“ lösen lassen. Hier greift Turners Konzept des sozialen Dramas: Sowohl die Schuldzuweisungen als auch die institutionellen Vorkehrungen werden öffentlich problematisiert und zum Gegenstand von sozialen Deutungskonflikten. In der Form von sozialen Dramen führen Skandale „entscheidbare Unentscheidbarkeiten“ bzw. Handlungsspielräume in die Gesellschaft ein. Mit der Bewältigung eines Skandals fällt eine Entscheidung und der Freiraum wird geschlossen. Damit ist aber die Geschichte des Skandals als einem sozialen Drama noch nicht zu Ende. Soziale Dramen führen ein Nachleben, insofern sie sich zu kulturellen Mustern verfestigen und so in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft eingehen. Daher üben sie nicht nur einen Einfluss auf die Rezeption von Normverstößen und den Verlauf sozialer Dramen aus,19 sondern können sogar in künstlerische Schaffensprozesse eingehen, die wiederum auf performatives Handeln und soziale Prozesse zurückwirken. Soziale Dramen besitzen eine implizite rhetorische Struktur, die sie Werken der Kultur und Populärkultur entlehnen, in denen wiederum ein impliziter sozialer Prozess steckt. Dies macht Turner am Beispiel der Watergate-Krise deutlich: „So war z.B. Das soziale Drama ‚Watergate‘ in allen seinen Phasen ausgesprochen ‚bühnenreif‘: angefangen bei der an Guy Fawkes erinnernden konspirativen Atmosphäre der ‚Bruch‘Episode, die sich mit dem Fund des belastenden Tonbands ankündigte, und der realistischen Fiktionalität der Vertuschung bis hin zur ‚Krisen‘-Phase der Untersuchungen mit ihren ‚Deep Throat‘-Enthüllungen und Kombinationen aus hochgesinntem prinzipiellen und gewöhnlichem politischem Opportunismus. Auch die Bewältigungsphase folgte implizit einem Drehbuch, das sich an theatralischen und fiktionalen Modellen orientierte. Ich brauche wohl nicht die Anhörungen und das Samstagabend-Massaker zu beschreiben. Heute gibt es über Water18 Das Adjektiv „trivial“ wird hier nicht im Sinne von „belanglos“ verwendet, sondern in seiner kybernetischen Bedeutung, wonach eine triviale Maschine infolge eines bestimmten Inputs immer den gleichen Output produziert. 19 Es folgten unter anderem „Waterkantgate“, „Whitewatergate“, „Monicagate“, „Nipplegate“ und „Torturegate“ (im Zusammenhang mit Abu Ghraib).
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gate und seine dramatis personae naturalis Bühnenstücke, Filme und Romane, die ‒ in der aseptischen Sprache der Sozialwissenschaften ausgedrückt ‒ gemäß der Struktur und den Eigenschaften des sozialen Feldes, das ihre Autoren zur Zeit ihrer Verfassung umgab und durchdrang, gestaltet sind. (Turner 2009: 117)
Der Politiker und sein öffentliches Handeln, die Öffentlichkeit und ihr moralisches Empfinden, der Künstler und sein kreatives Schaffen – sie alle sind in soziale und kulturelle Kontexte eingebettet und gestalten diese Kontexte mit. Das soziale Drama entfaltet seine Bedeutung nicht nur als originärer Prozess, sondern auch als Zitat eines abwesenden kulturellen Textes. Dieser im mentalen Hintergrund der Akteure mitlaufende und in ihrem Handeln wirksam werdende Kontext ermöglicht erst die Entstehung eines sozialen Dramas. Seine Elemente – Symbole und Skripte, Rituale und Performanzen, Narrative und Bilder – gewinnen erst vor dem Hintergrund eines relativ diffus bleibenden, aber dennoch gemeinsamen kulturellen Hintergrundverständnisses, dem sozialen Imaginären, ihren spezifischen Sinn und ihre soziale Wirksamkeit. Vor diesem kulturellen Hintergrund reproduzieren soziale Dramen ebenso wie Bühnendramen nicht nur bestehende Muster, sondern sind zugleich schöpferisch tätig, stellen also neue kulturelle Muster bereit, die in das Reservoir von Deutungen einer Gesellschaft eingehen (vgl. 2.3). Wir können diese Leistungen des Skandals als „kulturelle (Re-)Produktionsfunktion“ bezeichnen. Die Liminalität des Skandals wie auch die Liminoidität der Kunst tragen damit zum kulturellen Wandel einer Gesellschaft und zur Entstehung des Neuen bei. Damit schließt sich der Kreis: Soziale Dramen stellen individuelle Performanzen, gesellschaftliche Prozesse und kulturelle Muster in einen wechselseitigen Wirkungszusammenhang.
5.3 D ER S KANDAL ALS P ROZESS – E IN V ERLAUFSSCHEMA Nichts ist den guten Sitten zuträglicher als ein Skandal, vorausgesetzt, er vollendet sich. KARL-OTTO HONDRICH, SKANDAL CDU (2002: 111)
Zwischen Hondrichs Phasenmodell des Skandals und Turners Verlaufsschema eines sozialen Dramas gibt es viele Übereinstimmungen, aber auch einige bedeutende Differenzen. So findet bei Hondrich die „moralische Verfehlung“ im Verborgenen statt und wird erst durch die Enthüllung für alle öffentlich sichtbar. Auf die Enthüllung folgt dann die kollektive Empörung, wobei Hondrich an einer Stelle auch noch von der „Vollendung des Skandals“ als einer zusätzlichen Phase spricht (2002: 16f.). Während es Hondrich vor allem um die Bestimmung des Skandals als einem
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sozialen Phänomen und Prozess geht, interessiert sich Turner für die allgemeine Form, in der gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden. Schon der öffentliche „Bruch“, die erste Phase des sozialen Dramas, umfasst die ersten beiden von Hondrich genannten Schritte. Die Normverletzung ist im Modell des sozialen Dramas immer schon eine öffentliche Verfehlung (Turner 2009: 110). Vielleicht muss aber auch noch Hondrichs dritter Schritt, die „Entrüstung“, dem Bruch zugerechnet werden, denn erst an der emotionalen Reaktion des Publikums wird die öffentliche Verletzung der normativen Ordnung erkennbar. Der Bruch spitzt sich nach Turner erst dann zu einer echten Krise zu, wenn eine zwiespältige Reaktion auf den öffentlichen Normbruch erfolgt. Repräsentanten verschiedener Gruppen ringen um die Gunst des Publikums und um die Deutungshoheit. Daran schließen sich Versuche an, der Krise mittels geeigneter Bewältigungsmechanismen – vor allem Rituale und Performanzen – wieder Herr zu werden. Mit dem offenen, letzten Akt des Dramas – Reintegration oder Anerkennung der Spaltung – trägt Turner der Tatsache Rechnung, dass soziale Dramen im Allgemeinen und Skandale im Besonderen nicht immer zu gesellschaftlicher Solidarität und sozialer Integration führen. Aus der Krise kann eine dauerhafte Spaltung der Gesellschaft erwachsen. Diese letzten beiden Phasen des sozialen Dramas, die Mechanismen der Bewältigung und sein Nachspiel, entsprechen wiederum der Vollendung des Skandals bei Hondrich. Beide Ansätze lassen sich in einem analytisch sinnvollen und formal ansprechenden Modell vereinigen: Der Skandal als soziales Drama in fünf Akten. 5.3.1 Die moralische Verfehlung als abweichendes Verhalten Am Anfang des Skandals steht ein Normverstoß der besonderen Art – die moralische Verfehlung. Soziale und moralische Normen sind relativ erfahrungsresistente und sozial stabilisierte Erwartungshaltungshaltungen von Akteuren gegenüber dem Handeln anderer Akteure (1.1.1; 4.1.1). Bemerkenswert ist nicht nur, dass die Geltung einer Norm auch kontrafaktisch, also angesichts ihrer Verletzung, durchgehalten wird, sondern dass die Norm selbst auf ihre wiederkehrende Verletzung angewiesen bleibt. Der Normverstoß als eine Form des abweichenden Verhaltens lässt sich nur in Relation zur jeweils geltenden normativen Ordnung bestimmen. Zwischen Norm und Normverletzung besteht somit ein Verhältnis von Figur und Hintergrund. Dieses Verhältnis hat neben seinen epistemologischen Implikationen auch soziale Konsequenzen. Die Setzung einer normativen Ordnung hat immer auch zur Folge, dass ein Bereich des abweichenden Handelns mit gesetzt wird (Becker 1981) und somit die gesellschaftliche Oberwelt notwendig ihre Verkehrung in Form einer normativen Unterwelt hervorbringt (Hondrich 2002). In komplexeren Gesellschaften bilden sich so Bereiche mit unterschiedlichen normativen Orientierungen heraus. Moral ist in diesen Zusammenhängen durch Ambivalenz gekennzeichnet. Vor
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einem variablen moralischen Hintergrund kann ein- und dasselbe Verhalten einmal als geboten, ein anderes Mal aber als abweichend erscheinen. In modernen Gesellschaften wurde das allsehende Auge Gottes von der Öffentlichkeit abgelöst, in deren Schatten eine Vielzahl von normativen Devianzbereichen existiert. Trotz diesem Nebeneinander von teils unvereinbaren normativen Ordnungen existiert in allen Gesellschaften eine mehr oder weniger scharf umrissene, relativ konsistente, öffentlich bekannte und für alle gleichermaßen verbindliche moralische Ordnung. Sie gilt als offizielles Maß allen Handelns und wird zu großen Teilen durch das Rechtssystem gestützt und sanktioniert. Es gibt allerdings auch moralische Normen, die sich einer Verrechtlichung entziehen, aber dennoch eine allgemeine Geltung beanspruchen. Akteure bewegen sich oft in Situationen, wo ihr Verhalten von anderen Akteuren nicht als Verletzung einer normativen Ordnung wahrgenommen wird, obwohl dies in anderen Situationen durchaus der Fall sein würde: Man nimmt in einer Szene unbehelligt Drogen, prahlt bei seinen Kumpels mit Steuerhinterziehung und arbeitet „schwarz“, ohne dass sich der Auftraggeber darüber empört. In ähnlicher Weise wird im Krieg massakriert, vergewaltigt und gefoltert, ohne dass es zu Einwänden von Seiten der Kameraden käme. Jede faktische Normverletzung ist relativ zu einer gegebenen normativen Ordnung. Entweder entspricht ein Verhalten der Norm oder es stellt vom Standpunkt dieser normativen Ordnung eine Verletzung dieser Norm dar – tertium non datur, so scheint es zumindest. Auf die Enttäuschung einer Erwartungshaltung kann aber auch noch in einer dritten Weise reagiert werden: Neben der kognitiven Reaktion des Lernens und der normativen Reaktion einer Empörung gibt es noch eine weitere Möglichkeit, nämlich die Rahmung des Normverstoß als einer legitimen Ausnahme – und eben nicht als moralische Verfehlung. Die Logik der Ausnahme behauptet die „Unanwendbarkeit der Regel“ (Giesen 2010: 36), ohne dabei die Geltung dieser Regel außer Kraft zu setzen. Dies geschieht in der Regel durch den Verweis auf die Persönlichkeit des Handelnden (z.B. Charisma) oder den Kontext der Handlung (z.B. Notlage). Für den Verlauf des Skandals und die öffentliche Beurteilung eines Normverstoßes ist die für alle verbindliche gesellschaftliche Moral relevant, wenn auch partikulare Moralvorstellungen für das Zustandekommen eines Normverstoßes, für das Handeln einzelner Akteure in einem Skandal (man denke nur an das „Ehrenwort“ Kohls) oder für seine Rezeption in bestimmten Milieus relevant sein können. Die öffentliche Moral stellt den Kernbereich dessen dar, was Durkheim „mechanische Solidarität“ nennt. Hier befindet sich das kollektive Gewissen einer Gesellschaft, und nur Normverletzungen, die dieses verletzten, haben das Potenzial für erfolgreiche Skandalisierungen. Die Voraussetzung dafür, dass eine moralische Verfehlung als solche erkannt wird und in einem nächsten Schritt öffentlich werden kann, liegt zunächst darin, dass sie als abweichend und moralisch verwerflich wahrgenommen wird. Weil sich normative Devianzbereiche herausbilden, in denen Verfehlungen zur Norm werden, werden Verstöße oft von Außenseitern aufgedeckt. So ist es kein
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Zufall, dass Seymour Hersh als in Amerika sitzender Journalist die Brisanz des MyLai-Massakers erkannte, während sich seine Kollegen vor Ort schon mit dem ganz normalen Wahnsinn des Krieges abgefunden hatten (6.2.2). Dies trifft auch auf den whistle-blower von Abu Ghraib zu (8.1). Eine Normverletzung muss erst als abweichendes Handeln erkannt und als moralische Verfehlung eingestuft werden, bevor sie zu einer Verletzung des kollektiven Gewissens stilisiert werden kann. 5.3.2 Die Enthüllung als Selektion der Massenmedien Nach Hondrichs Standardmodell des Skandals findet die moralische Verfehlung unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit statt und wird erst in einem weiteren Schritt öffentlich gemacht. Dies muss aber nicht immer der Fall sein. So kann ein Skandal auch mit einem Normbruch in aller Öffentlichkeit seinen Anfang nehmen. Ein öffentlicher Normbruch, wie z.B. die entblößte Brust von Janet Jackson vor laufender Kamera während der Übertragung des Super Bowl 2004 (das sogenannte „Nipplegate“), macht eine separate Enthüllung überflüssig. Hier kommt es nur darauf an, dass die Handlung nachträglich als Normverstoß und moralische Verfehlung gerahmt wird, wobei sich die Skandalisierten oft damit verteidigen, dass es sich bei dem Normverstoß um ein bloßes Versehen gehandelt habe. In der Regel findet der Normverstoß aber im Vorborgenen statt. Erst der Skandal bringt ihn ans Licht der Öffentlichkeit. Dieses Geschehen vollzieht sich für die Öffentlichkeit als eine Offenbarung der Wahrheit – auch wenn es in Wahrheit die Illusion einer Wahrheit sein sollte (so zumindest Kepplinger 2005). In den meisten westlichen Gesellschaften ist der Enthüllungsjournalismus als Arbeit am Skandal positiv besetzt (wenn man einmal von der anrüchigen Skandalpresse absieht). Der investigative Journalist wird als einer der letzten Aufklärer dargestellt und in Bühnendramen, TV-Serien und Kinofilmen immer wieder als moderner Held gefeiert. 20 Die Enthüllung ist oft ein langwieriger, prinzipiell unabschließbarer Prozess. Hinter jedem Schleier steckt ein weiterer Schleier und hinter tausend Schleiern immer noch nicht die ganze Wahrheit. Die journalistische Enthüllungsarbeit ist eine wahre Sisyphos-Aufgabe, die sich im System der Massenmedien jedoch bezahlt macht. Ein Skandal kommt selten allein. Im Gefolge eines Skandals können Vertuschungsversuche skandalisiert und neue Verfehlungen aufgedeckt werden, was die Attraktivität von Skandalen für die Berichterstattung abermals steigert. Dennoch wird nur ein geringer Anteil möglicher Skandalthemen von den Massenmedien aufgegriffen. Der Aufmerksamkeitsraum („attention space“) der Öffentlichkeit und die Aufnahmekapazität des Publikums sind begrenzt. Eine Selektion wird damit zwingend erforderlich. Jede Enthüllung stellt immer auch eine Selektion im System der Massenmedien dar. Massenmedien reduzieren Umweltkomplexität, indem sie der 20 Man denke nur an die Oscar-prämierte Verfilmung des Watergate-Skandals: „Die Unbestechlichen“ (All the President’s Men, 1976).
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Öffentlichkeit nur eine begrenzte Zahl von Themen zugänglich machen. In diesem Zusammenhang spricht man auch von der sogenannten „Gatekeeping-Funktion“ der Massenmedien (White 1964). Eine zentrale Rolle bei der Etablierung von Themen kommt den sogenannten „Leitmedien“ zu, die nicht unbedingt ein großes Publikum erreichen, deren Selektion aber einen großen Einfluss auf die übrige Medienlandschaft hat. Skandale, die in Leitmedien (in Deutschland lange Zeit der Spiegel, in den Vereinigten Staaten insbesondere der New Yorker) publik gemacht werden, greifen in der Regel auch andere Akteure des journalistischen Feldes auf. Um den Schritt der Enthüllung von Skandalen zu verstehen, müssen wir uns den Selektionsmechanismus näher anschauen. Dafür eignet sich die bereits erwähnte Nachrichtenwerttheorie, welche die Selektionsprinzipien zu isolieren versucht, mit denen die mediale Berichterstattung arbeitet (5.2.1). Galtung und Runge (1965) haben in einem erweiterten Modell zwölf Nachrichtenfaktoren unterschieden, die zum Teil noch in mehrere Unterfaktoren zergliedert werden können. Ein Nachrichtenwertfaktor, der die Selektion von Skandalen schon immer favorisiert hat, ist die „Negativität“ eines Ereignisses (Galtung & Ruge 1965: 69f.). Oder: „bad news are good news“. Immer bedeutender wird – und dies hat unter anderem auch wieder der Fall von Abu Ghraib gezeigt – die Verfügbarkeit geeigneten Bildmaterials bzw. „Visualität“ als Nachrichtenfaktor (Ruhrmann 2003: 231f.). Die Verwendung von unbewegten oder bewegten Bildern in den Medien erfüllt schon für sich genommen alle drei Kriterien der klassischen Nachrichtenwerttheorie. Bilder vereinfachen, fordern zur Identifikation mit den dargestellten Personen auf und sprechen die Emotionalität der Rezipienten an. Damit eignen sie sich vorzüglich zur Skandalisierung, indem sie deren spontane Bewertung erleichtern und nicht zuletzt eine Personalisierung und affektive Erregung über moralische Verfehlungen ermöglichen. Ari Adut (2005) hat am Beispiel von Oscar Wilde gezeigt, dass das kollektive Wissen um eine moralische Verfehlung nicht ausreicht, um einen Skandal auszulösen. Ein allen bekanntes, offenes Geheimnis macht noch keine Skandalisierung von Seiten Dritter erforderlich. So war auch Wildes Verstoß gegen die Sexualnormen des viktorianischen Zeitalters seinerzeit nichts Unerhörtes und Außerordentliches. Erst als Wilde eine Klage auf Verleumdung einreichte, konnte sein Normverstoß nicht mehr ohne Weiteres ignoriert werden. Eine ähnliche Rolle spielten auch die Fotografien von Abu Ghraib, die eine Reaktion auf den Normverstoß unumgänglich machten. Ein breiter Teil der Öffentlichkeit wäre sicherlich nicht ungeneigt gewesen, die Realitäten in Abu Ghraib oder Guantanamo auszublenden. Jedoch zwangen deren Dokumentation durch Bilder und ihre Veröffentlichung die Armee (8.1.2) und wenig später auch die amerikanische Regierung zu einer Stellungnahme (8.2). Nicht nur der Normverstoß und die Ausnahme, sondern auch die „Enthüllung“ ist eine Form der Überschreitung. So überschreitet die Öffentlichkeit bei einer Enthüllung die Grenze zu dem, was als „privat“ gilt oder geheim gehalten wurde. Was zunächst im Verborgenen geschah, wird auf einmal zum Gegenstand öffentlichen
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Interesses. Dies hat zur Folge, dass die Enthüllung selbst wieder zum Gegenstand eines Skandals werden kann, sei es durch die Verletzung der Privatsphäre des Skandalisierten (ein üblicher Vorwurf gegen die „Regenbogenpresse“), oder sei es dadurch, dass den Journalisten oder ihren Informanten Geheimnisverrat vorgeworfen wird (9.1; 10.5). Die Enthüllung kann aber auch im Hinblick auf ihre Rezeption zum Gegenstand einer Kulturkritik durch Intellektuelle werden. Sie fungiert nämlich zugleich als Spektakel, das nicht zuletzt die Schaulust des Publikums bedient. So gibt es eine – wenn auch oft mit Abscheu gepaarte – Faszination am Bösen, die sich auch an den moralischen Verfehlungen anderer ergötzt. Somit kann nicht nur der Enthüller des Skandals, sondern auch das begierig schauende Publikum der Unanständigkeit bezichtigt werden. 5.3.3 Die Empörung als Aufstand der Anständigen Wenn das vermeintliche Vergehen erst einmal ans Licht der Öffentlichkeit gelangt ist, kann es zu einer kollektiven Empörung als einer affektiv-expressiven Reaktion auf die Verfehlung kommen. Empörung ist kein bloßes Gefühl, sondern die artikulierte emotionale Erregung anlässlich eines öffentlichen Ärgernisses. Die kollektive Empörung ist mehr als die gemeinschaftliche Empfindung von Abscheu, Ärger und Wut, nämlich deren öffentliche Artikulation – und als solche äußerst ansteckend. Die öffentliche Artikulation kollektiver Emotionen verstärkt nicht nur den Prozess der Ansteckung, sondern lässt auch die Stimmen der Andersfühlenden verstummen. Aufgrund des öffentlichen Charakters und der wahrgenommen Verbindlichkeit dieser Gefühle greift die Logik der Schweigespirale, die sich der Isolationsangst der Mitglieder einer Gesellschaft zur Herstellung äußerer Konformität bedient (4.3.2). Im Skandal muss die kollektive Empörung durch die Medien simuliert bzw. repräsentiert werden. Die Massenmedien stellen auch Skandalthemen für alltägliche Kommunikationen bereit und stimulieren dadurch das zeitweilige Aufflackern kollektiver Entrüstung im Alltag, aber diese lebensweltliche Empörung lässt sich wiederum nur mittels journalistischer Kunstgriffe in das Mediensystem einspeisen. Das Kommunikationsgefälle zwischen den Produzenten des Mediensystems und seinem Publikum ist prinzipiell unüberwindbar (vgl. 4.2).21 Auf Seiten der Massenmedien bemüht man sich zwar, einzelne Stimmen aus dem Publikum zu Wort kommen zu lassen, sei es durch anonyme Umfragen oder Interviews vor laufender Kamera, sei es durch das Abdrucken oder Vorlesen ausgewählter Leserbriefe. Jedoch bleibt 21 Es gibt Fälle einer spontanen Empörung vieler Einzelner, wie z.B. die unzähligen Protestbriefe an Nixon im Rahmen der Watergate-Affäre nach dem berüchtigten „SaturdayNight-Massacre“. Aber selbst hier oblag es zunächst den kommunikativen Institutionen der Massenmedien, diese vereinzelten Äußerungen als kollektive Empörung sichtbar werden zu lassen. Das gleiche gilt für Spontandemonstrationen, die erst durch eine mediale Berichterstattung zur Repräsentationen eines gesellschaftlichen Zorns werden können.
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auch diese Ausweitung der öffentlichen Kommunikation immer auf eine Selektion von Seiten des Mediensystems angewiesen: Über welche Umfragen berichtet wird, welche Leserbriefe abgedruckt und welche Interviews gezeigt werden, liegt letztlich in der Hand der Sender und der Verlage. Auch das Aufkommen des Internets hat an der grundlegenden Asymmetrie zwischen dem öffentlichen Zentrum der Medienelite und der semi-öffentlichen Peripherie der Zuschauer wenig geändert. Kollektive Empörung muss von den Massenmedien repräsentiert bzw. fingiert werden, so wie auch die Öffentlichkeit als institutionelle Sphäre auf die Imagination einer gesamtgesellschaftlichen Einheit angewiesen ist (4.2.3). Journalisten und Kommentatoren setzen sich in Skandalen als Vertreter der öffentlichen Meinung in Szene. Es gibt ein Moment der Selbstselektion, das bei Umfragen und Leserbriefen, aber auch bei anderen Formen der öffentlichen Meinungsäußerung eine Rolle spielt. Hier machen sich strukturelle Faktoren – wie politisches Engagement und die zur Verfügung stehende Zeit – bemerkbar (so sind Rentner in der Regel überrepräsentiert). Ein weitaus bedeutenderer Faktor ist allerdings die Nähe zum Zentrum der Gesellschaft. Personen des öffentlichen Interesses, beispielsweise Politiker oder „Prominente“, fällt es weitaus leichter, sich zu einem Thema öffentlich zu äußern und dafür ein medial verstärktes Gehör zu finden. Auch berühmte Künstler, öffentliche Intellektuelle und Wissenschaftsexperten können ihrer Empörung einen öffentlichen Nachdruck verleihen, wie nicht zuletzt auch Émile Zolas offener Brief an den französischen Präsidenten im Rahmen der Dreyfus-Affäre gezeigt hat. Es gibt aber auch Chancen für relativ unbekannte Akteure und Organisationen, sich durch spektakuläre Inszenierungen und Massendemonstrationen in die Öffentlichkeit zu drängen. Mit zunehmender Entfernung zum Zentrum einer Gesellschaft fällt es allerdings auch zunehmend schwerer, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die kollektive Entrüstung straft den vermeintlichen Übeltäter mit Verachtung. Sie stellt eine moralische Sanktion dar, mit der eine öffentlich gewordene Verfehlung geahndet wird (4.1.1). Bleibt die Empörung und damit auch die Sanktion aus, wird der enthüllte Normbruch nicht als sozialer Bruch erlebt, der den Übeltäter vom Rest der Gemeinschaft abspaltet. Damit verliert auch die Norm ihre Autorität bzw. ihren Rückhalt in den kollektiven Gefühlen der Einzelnen. Zudem kann auch eine aufwallende oder entfallende Empörung zum Gegenstand weiterer Skandalisierungen werden. So versuchte die radikale Rechte in den Vereinigten Staaten – wenn auch relativ erfolglos – die Empörung über die Abu-Ghraib-Bilder zum eigentlichen Skandal zu stilisieren, wofür sie wiederum vom hegemonialen Diskurs skandalisiert wurde (8.3.3). Mehr Erfolg hatte die amerikanische Rechte bei der Skandalisierung der (angeblich) fehlenden Empörung in den (liberalen) Medien über die Enthauptung von Nick Berg (8.4.2). Aber hier sind wir schon mitten in der sozialen Krise, in der streitende Parteien über die Deutungshoheit kämpfen.
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5.3.4 Die Krise als gesellschaftlicher Konflikt Der Bruch des sozialen Dramas ist eine öffentliche oder öffentlich gewordene Normverletzung, die eine kollektive Empörung nach sich zieht. Erst nach dem erfolgten Bruch entscheidet es sich, ob der Skandal ein schnelles Ende findet oder ob es zu einem öffentlichen Konflikt um die Deutungshoheit des anstößigen Ereignisses kommt. Der „triviale Skandal“, der nach dem Modell der klassischen Ritualtheorie verstanden werden kann (5.2.2), zeichnet sich durch einmütige Empörung und eindeutige Schuldzuweisungen aus. Hier stehen die vermeintlichen Übeltäter einer geeinten Öffentlichkeit gegenüber. Kommt es nicht zu einem solchen frühen Konsens, weitet sich der soziale Bruch zur gesellschaftlichen Krise aus, indem es zu einer Spaltung innerhalb des Publikums und zu einem Konflikt zwischen seinen Repräsentanten kommt. Es liegt dann ein „nichttrivialer Skandal“ mit ungewissem Ausgang vor. In diesem Fall muss auf Turners Modell des sozialen Dramas zurückgegriffen werden (5.2.3), um der Komplexität des Skandals als einem ergebnisoffenen sozialen Prozess soziologisch Rechnung tragen zu können. Der konkrete Verlauf eines Skandals hängt zunächst einmal davon ab, wie die skandalisierten Personen und die betroffenen Institutionen auf die Anschuldigungen reagieren. Beschuldigte Personen oder gefährdete Institutionen können sich unterschiedlicher Strategien bedienen, um den öffentlichen Zorn von sich abzuwenden oder zumindest den drohenden Schaden zu begrenzen. Die einfachste Strategie besteht darin, den Wahrheitsgehalt der Anschuldigungen zu bestreiten: Der Vorfall wird geleugnet, vorliegendes Beweismaterial und Zeugenaussagen angezweifelt oder neue Gegenbeweise und Alibis ins Feld geführt. Eine andere Strategie erkennt den Normverstoß als Tatbestand an, aber versucht die Rahmung, das Ausmaß und die Bewertung des Normverstoßes zu ändern: Die Vorkommnisse werden heruntergespielt, indem der Normverstoß als unbeabsichtigtes Missgeschick dargestellt oder gar ins Positive gewendet und durch hehre Ziele gerechtfertigt wird. Beide Strategien können ihrerseits mit einer Empörung über die Enthüllung bzw. Skandalisierung einhergehen. Oft werden den Skandalisierern unlautere Ziele unterstellt oder ihnen eine Verletzung der Privatsphäre und der Persönlichkeitsrechte des Skandalisierten vorgeworfen.22 Eine weitere Strategie der Schadensbegrenzung und Eindämmung des Skandals besteht im „vorrauseilenden Gehorsam“, sei es durch eine Entschuldigung, ein partielles Schuldeingeständnis oder ein Bauernopfer. Dabei wird dem Skandal nicht jede Berechtigung abgesprochen und es besteht weiterhin Diskussionsbedarf hinsichtlich der Schuldfrage und der Konsequenzen. Schließlich bleibt noch das Aussitzen des Skandals. Ohne neue Anstöße kann die kollektive Empörung nur schwerlich auf Dauer gestellt werden, selbst wenn die Verfehlung in
22 Man setzt dem heroisch-romantischen Narrativ eine „low-mimesis“-Erzählung entgegen – oder ein Täternarrativ, das einen selbst als Opfer dastehen lässt (2.2.1).
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ihrem Ausmaß unumstritten sein sollte. Alle vier Strategien lassen sich gut mit der Versicherung einer „brutalstmöglichen Aufklärung“ verbinden. Jede dieser Strategien kann den Skandal zur Vollendung bringen. Einmütig gibt sich die Öffentlichkeit dann mit dem Stand der Aufklärung und dem ihr gezollten Tribut zufrieden. Die kognitive Anerkennung des Normverstoßes, sein evaluativer Charakter als moralische Verfehlung und das rechte Maß an Strafe können aber jederzeit wieder zum Gegenstand von gesellschaftlichen Konflikten werden. Wenn sich die Öffentlichkeit nicht auf eine einheitliche Rahmung der Vorfälle einigen kann, entstehen in der Regel zwei gesellschaftliche Lager, die um die gesellschaftliche Deutungshoheit über den Konflikt konkurrieren. Oft entwickeln sich diese Lager entlang organisierter Gruppen – wie z.B. politische Parteien und ihre Anhänger –, oder sie verlaufen entlang latenter Konfliktlinien, die dann in der Krise manifest werden. Als Beispiel für die Formierung streitender Lager kann die Dreyfus-Affäre im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts herangezogen werden: Anlässlich eines Spionagefalls kam es zu einem Konflikt zwischen den konservativen und liberalen Kräften im Lande. Die konservativen Antidreyfusiens, die sich dem vorrevolutionären Ancien Régime verbunden fühlten, waren in erster Linie der katholischen Kirche und der französischen Armee verbunden. Ihnen ging es in vor allem darum, so zumindest die Interpretation Durkheims (1986/1898), die Autorität gesellschaftlicher Institutionen zu stärken – notfalls auch durch Opferung des perfekten Sündenbocks, Alfred Dreyfus, der aus dem grenznahen Elsass stammte und zudem jüdischer Herkunft war. Die liberalen Dreyfusiens waren hingegen Anhänger der Ideale der französischen Revolutionen, welche die Autorität der Gesellschaft nicht mehr in den konkreten Institutionen, sondern in der Geltung universeller Normsysteme und Werte verortete. Unter Berufung auf den französischen Rechtstaat und die Erklärung der Menschenrechte von 1789 forderten sie, auf Dreyfus als einen Sündenbock zu verzichten und die Klärung des Spionagefalls einem ergebnisoffenen rechtlichen Verfahren anheimzustellen. Die Dramatik des Skandals verlangt nach handelnden Personen, weswegen die Repräsentation von Personengruppen durch einzelne Akteure unabdingbar ist. Zudem hängt die Wirksamkeit der bereits erwähnten Strategien in hohem Maße vom Erfolg sozialer Performanzen ab. In ähnlicher Weise wie sich Journalisten als Delegation der Öffentlichkeit gerieren, so findet auch im Falle sozialer Krisen eine Delegation von Sprechern – oder besser: deren Selbstermächtigung im Namen eines Kollektivs statt (Bourdieu 1989). Zwischen den öffentlichen Repräsentanten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und den Gruppen selbst besteht dabei eine gewisse Homologie, ob es sich nun um das Verhältnis von Journalist und Leser oder zwischen politischem Führer und Anhänger handelt (Bourdieu 1989: 48f.). Diese Homologie wird in der politischen Öffentlichkeit durch die Unterscheidung zwischen „rechten“ und „linken“ bzw. „konservativen“ und „liberalen“ Parteien und Medien codiert (4.3.2). Eine Homologie mit dem Publikum wird auch beim Auftre-
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ten von öffentlichen Intellektuellen oder anderen Repräsentanten unterstellt; daher der Einfluss, der moralischen Eliten in modernen Gesellschaften zugeschrieben wird. Als sich Susan Sontag zu Abu Ghraib äußerte (8.3.2), konnte sie sicher sein, dass ein großer Teil des linksliberalen Milieus in den Vereinigten Staaten hinter ihr stand oder zumindest an ihren Ausführungen interessiert war. In der Öffentlichkeit findet gleichsam ein Stellvertreterkrieg zwischen den Repräsentanten unterschiedlicher Lager statt. Allerdings gibt es auch den Fall, dass die geglückte Performanz eines selbsternannten Propheten auf Resonanz stößt, die sein Gefolge zu allererst konstituiert. So hat Emile Zolas Intervention im Dreyfus-Skandal („J’accuse“) maßgeblich zur Mobilisierung der Dreyfusiens beigetragen. Der öffentliche Adressat der Kommunikation wurde damit erst durch den Akt der Kommunikation hervorgebracht – ein klassischer Fall einer „self-fulfilling prophecy“ (Merton). Pierre Bourdieu (1989) kritisiert die Delegation als politischen Fetischismus und Verkennung des Repräsentanten durch das repräsentierte Kollektiv. Akzeptieren wir jedoch mit Durkheim, dass Totemismus und Fetischismus notwendige Bestandteile moderner Gesellschaften sind, lässt sich Bourdieus „Mysterium des ministerium“ als Projektion eines Kollektivbewusstseins und damit als Manifestation des Heiligen einer Gesellschaft deuten. Gerade die Heiligkeit des gesellschaftlichen Zentrums zeigt sich auch für die ikonoklastischen Tendenzen im Prozess der Skandalisierung verantwortlich: Der scheinbar heilige Repräsentant des Kollektivs wird als einfacher Mensch oder gar als Übeltäter entlarvt – vorzugsweise durch solche, die selbst die Repräsentation des Kollektivs und damit den Status der Heiligkeit beanspruchen. Die Aberkennung des Status als Repräsentant oder der Entzug der Delegation, aber auch der demütige Rücktritt eines beschädigten Amtsinhabers (3.3.1), eröffnen die Möglichkeit einer Beilegung der Krise und eine Versöhnung der streitenden Parteien. Mit seinem Rücktritt erweist der angeschlagene Amtsinhaber seiner Partei und der Gesellschaft einen letzten Dienst als Sündenbock (9.5). 5.3.5 Die Bewältigung des Skandals und sein Nachspiel Jeder Skandal geht einmal zu Ende. Dies kann auf eine unterschiedliche Art und Weise geschehen. Zunächst einmal können Skandale einfach im Sand des Tagesgeschäfts verlaufen. Jene kollektiven Gefühle, unter deren Einfluss zunächst voller Empörung nach einem Schuldigen verlangt wurde, kühlen sich ab, oder es kommt zu keinen weiteren Enthüllungen, wodurch das Medieninteresse nachlässt. Skandale verschwinden allmählich von der Bildfläche – um vielleicht später noch einmal wiederzukehren. Dieser zeitliche Verfall des Skandals kann aber auch durch teils unbewusst wirkende, teils bewusst von den Akteuren eingesetzte Mechanismen der Skandalbewältigung unterstützt oder aufgehalten werden. So können die Schuldigen angemessen bestraft werden – dies kann durch moralischen Achtungsentzug (10.1), oder aber auch durch strafrechtliche Verfolgung (8.5.1; 10.5) geschehen.
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Durch eine Bestrafung der vermeintlichen Übeltäter wird die Verletzung des kollektiven Gewissens gesühnt und die kollektive Empörung beruhigt. Mit Genugtuung wendet sich dann die Öffentlichkeit von ihren Opfern ab und wieder dem politischen Tagesgeschäft zu. Jedoch kann der angebliche Normverstoß auch erfolgreich bestritten oder profanisiert werden. Damit geht in der Regel die Skandalisierung der vermeintlichen Enthüller als Rufmörder oder machtpolitische Strategen einher. Es scheint, dass die erregte Öffentlichkeit ihr Opfer braucht. Entpuppt sich die Anklage als Täuschung, so wendet sie sich gegen den vermeintlichen Täuscher. Bleibt aber die große Empörung aus, bevor der Skandal von der medialen Bildfläche verschwindet, hat dies Konsequenzen für die Geltung der verletzten Norm. Die Norm wird in ihrer Geltung geschwächt und es wird im nächsten Fall vermutlich nicht einmal mehr zu einer Enthüllung derartiger Verstöße kommen, weil sie ihren Wert als Nachricht verlieren. Damit sind wir schon beim Nachspiel des Skandals. Während sich bei trivialen Skandalen das Kollektiv gegen die Missetäter zusammenschließt, können komplexere Skandale zu gesellschaftlichen Verwerfungen führen. Abhängig davon, wie die Bewältigung des Skandals bei den beteiligten Parteien und dem gespaltenen Publikum aufgenommen wird, kommt es entweder zu einer Einigung im Namen des öffentlichen Interesses, dem sich dann auch die unterlegene Partei anschließt, oder zur Entstehung eines latent schwellenden Konfliktherdes, der sogar eine nachhaltige Spaltung nach sich ziehen kann. Der Ausgang eines Skandals ist immer ungewiss, aber keineswegs dem bloßen Zufall überlassen. Einer „Soziologie des Skandals“ obliegt die Aufgabe, Ereignisse, Mechanismen und Performanzen zu identifizieren, die dem Skandal als sozialem Drama eine temporäre Wendung bzw. seine historische Form geben. Während soziale Performanzen einer der streitenden Parteien zum Sieg verhelfen können, stellen Rituale soziale Mechanismen der Krisenbewältigung dar (Shils 1975: 153-163). Rituelle Performanzen betonen Gemeinsamkeiten angesichts einer drohenden Spaltung. So hat beispielsweise Jeffrey C. Alexander (Alexander 1993) überzeugend dargelegt, warum sich die Watergate-Affäre erst schleppend über zwei Jahre hingezogen hatte, bevor sich dann die Ereignisse überschlugen und im Rücktritt von Nixon gipfelten. Angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahl von 1972 verlief die Affäre entlang der verhärteten Fronten der sechziger Jahre, was eine überparteiliche Einigung unmöglich machte. Erst der Druck der Ereignisse und die Wirkung sozialer Performanzen ließ die Differenzen zwischen den streitenden Parteien in den Hintergrund treten. Eine Welle der Empörung schlug Nixon entgegen, der sich schließlich sogar überzeugte Republikaner anschlossen. Alexander zeigt in seiner Analyse der einzelnen Etappen des Skandals, wo die Konfliktlinien zwischen den Parteien verliefen, wie diese eine frühe Vollendung des Skandals verunmöglichten, wie neue Enthüllungen den Status quo ins Wanken brachten und welchen Einfluss die öffentlichen Watergate-Anhörungen für die Überwindung der weltanschaulichen Kluft hatte. Watergate führte letzten Endes nicht nur zur Re-Integration der
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amerikanischen Gesellschaft, sondern trug auch zur Wiederbelebung der demokratischen Kultur in Amerika bei. Aber erst als der Skandal nicht mehr als ein Interessen- bzw. Weltanschauungskonflikt zwischen verschiedenen Parteien gesehen, sondern die Aufklärung der Affäre als öffentliches Interesse wahrgenommen wurde, konnte es zu einer Reintegration der amerikanischen Gesellschaft kommen. Die Dreyfus-Affäre in Frankreich entzündete sich an bestehenden gesellschaftlichen Konfliktlinien (Sennett 1998: 306-320). Im Gegensatz zu Watergate hat der Spionagefall zu einer nachhaltigen Spaltung der französischen Gesellschaft geführt – und das obwohl Dreyfus im Jahre 1906 vollständig rehabilitiert wurde. Dieser Fall zeigt, dass rechtliche Verfahren zwar als Bewältigungsmechanismen fungieren können, aber keineswegs moralisch bindend sind (vgl. Begley 2009). Weder hat man sich auf Seiten der Dreyfusiens mit der Verurteilung von Dreyfus durch ein ordentliches französisches Gericht zufrieden gegeben, noch hat sich die Gegenseite mit seinem Freispruch und seiner Rehabilitation abgefunden. Die Anerkennung der Legitimität von rechtlichen Verfahren ist von der politischen Kultur einer Gesellschaft abhängig, die in den Bereich der öffentlichen Moral fällt (so Hondrich 2002). Eine fest verankerte politische Kultur und eingeschliffene Übergangsrituale können die Krisenbewältigung einer Gesellschaft und damit ihre Re-Integration erleichtern. Man führe sich den hitzig geführten amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf vor Augen: Für einige Monate ist das Land in zwei große Lager gespalten, während nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses und der Inauguration des neuen Präsidenten dieser (auch von Seiten der Wahlverlierer) zunächst vorbehaltlos unterstützt wird. In weniger stabilen Staaten kann es zu Protesten gegen den Ausgang der Wahl kommen; Verlierer beschuldigen die Gewinner der Manipulation; im äußersten Fall kommt es zu einer Revolution oder einem Bürgerkrieg. Auf den ersten Blick scheinen liberale Demokratien und Öffentlichkeiten besonders anfällig für destabilisierende Krisen und Skandale zu sein, da sie sozialen Konflikten und politischen Dramen eine größere Bühne bieten. Dem ist aber nur mitnichten so: Einer funktionierenden Demokratie gelingt es immer wieder, soziale Konflikte in gesellschaftliche Solidarität umzumünzen. Liberale Demokratien haben im Vergleich zu autoritären Regimen einen zusätzlichen Vorteil: Ihre Institutionen sind relativ unabhängig von einzelnen Individuen. So lassen sich soziale Missstände personalisieren und moralische Verfehlungen ahnden, ohne das demokratische System als solches in Frage stellen zu müssen. Gewählte Politiker müssen Verantwortung für gesellschaftliche Missstände übernehmen; freie Wahlen ermöglichen die Abwahl von verbrauchten Politikern und dadurch eine periodische Reinigung und Erneuerung der Gesellschaft, während Skandale einen außerordentlichen Mechanismus der Erneuerung, eine nichtperiodische, aber wiederkehrende Selbstreinigung darstellen.
Historisch-empirischer Teil
6. Exposition – Amerika auf dem Weg nach Abu Ghraib Dieser Untersuchung liegt ein Verständnis von Soziologie als einer historischen Kulturwissenschaft zu Grunde (vgl. Weber 1988/1904). Der historische Bezug ist schon bei einer Erklärung des Handelns einzelner Akteure unabdingbar, die nicht nur in einem geschichtlich-gewordenen Umfeld handeln, sondern deren Handeln auch immer in einen geschichtlich-geformten Hintergrund eingebettet ist. Dies gilt erst recht für komplexere soziale Phänomene, die selbst wiederum auf den Gang der Geschichte Einfluss nehmen können. Historische Ereignisse wie der Abu-GhraibSkandal können nicht aus sich selbst heraus verstanden werden. Erst die Erinnerung an eine gemeinsam durchlebte Geschichte stellt Kontexte und Hintergründe des Verstehens bereit, die dem aktuellen Ereignis seinen Sinn geben. Dies gilt nicht nur für den Sozialwissenschaftler, sondern auch für die Menschen in ihrer alltäglichen Lebenswelt. Aber nicht nur sinnhaftes Verstehen, sondern auch ursächliches Erklären eines Ereignisses ist nur im Rekurs auf Vergangenes und Erinnertes möglich. Geschichte ist nichts Vorgefundenes, sondern muss von individuellen und kollektiven Akteuren erzählt werden (2.2). Vergangenheit ist somit immer eine Konstruktion, oder besser: eine Rekonstruktion von historischen Ereignissen im Lichte der Gegenwart. Erst in der historischen Erzählung wird, im Rückgriff auf narrative Grundmuster, der Trümmerhaufen der Vergangenheit zu einem sinnhaften Ganzen verwoben. Dies geschieht einerseits in biographischen Erzählungen, die dem eigenen Leben eine narrative Struktur und damit auch einen Sinn verleihen, andererseits aber auch in den Gründungsmythen und der offiziellen Geschichtsschreibung von Nationen. Vergangenes ist nur im intentionalen Modus der Erinnerung gegenwärtig. Allerdings erschöpft sich das Phänomen des Gedächtnisses nicht im intentionalen Akt der Erinnerung, sondern erstreckt sich bis in den kulturellen Hintergrund einer Gesellschaft. So unterscheiden beispielsweise Bernhard Giesen und Kay Junge (2003: 326f.) zwischen dem Gedächtnis als intentionaler Hervorbringung und dem Gedächtnis als einer nicht-intentionalen Wiederkehr, die durch einen geeigneten Auslöser in Gang gesetzt werden kann. Paradigmatisch für die nicht-intentionale Wiederkehr von Erinnerungen sind Traumata, die zunächst latent im Gedächtnis verbleiben, aber dann durch ein Ereignis, das im kulturellen Hintergrund auf Reso-
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nanz stößt, manifest werden können (1.3.5). In der vorliegenden Studie trifft dies auf das Gedenken an Pearl Harbor zu (6.1.1), das anlässlich des 11. Septembers aktualisiert wurde (6.4), aber auch auf das My-Lai-Massaker, das in den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib seinen Wiedergänger fand, und schließlich auf das Trauma des Scheiterns in Vietnam (6.2), das als aktueller Bezugsrahmen der kollektiven Erinnerung und Deutung der Gegenwart mit dem absehbaren Scheitern im Irak an Bedeutung gewann (6.5). Ein „kulturelles Trauma“ ist dabei selbst als ein historisches Phänomen zu betrachten. Es folgt nicht einfach auf ein traumatisches Ereignis, sondern stellt eine historisch gewordene Diskursformation dar, deren Entstehen gegenüber dem ursprünglichen Ereignis eine relative Autonomie besitzt. Zugleich aber präfiguriert ein existierendes kulturelles Trauma, wie auch andere Formen des kulturellen Gedächtnisses (Assmann 2002; 2007), den gesellschaftlichen Umgang mit historischen wie auch aktuellen Ereignissen. Darüber hinaus ist die komparative Dimension historischer Analysen für diese Untersuchung von besonderem Interesse. Erst die geschichtliche Betrachtung eröffnet einen Horizont, vor welchem Ereignisse unter verschiedenen Gesichtspunkten vergleichbar werden. Während Erinnerung als ein intentionaler Akt, Vergangenes zu gegenwärtigen, begriffen werden kann, lässt sich das Gedächtnis als Disposition oder vorintentionaler Hintergrund verstehen, der die Möglichkeit individuellen wie auch kollektiven Erinnerns sichert. So spricht schon Maurice Halbwachs (2006) von den sozialen Bedingungen des Gedächtnisses, die einen Rahmen für individuelle wie kollektive Erinnerungen bereitstellen. Diese Bedingungen formen den kulturellen Hintergrund des Gedächtnisses in einer Weise, die bestimmte Erinnerungen ermöglicht und andere ausschließt. Dem individuellen und kollektiven Gedächtnis liegt zudem eine symbolische Ordnung zu Grunde, die binär strukturiert ist. In diese Richtung weist auch die Polarität von „Triumph“ und „Trauma“, wie sie von Bernhard Giesen (2004c) herausgearbeitet wurde. Triumph und Trauma stellen zwei entgegengesetzte Pole auf einem Kontinuum zwischen positiv bewerteten Erinnerungen und negativ bewerteten Erinnerungen dar. Dem entsprechen die Figuren des Helden auf der einen sowie die des Täters und des Opfers auf der anderen Seite. Helden, Täter und Opfer sind kulturelle Imaginationen dieser symbolischen Ordnung von Erinnerungsdiskursen und integraler Bestandteil ihrer Narrative (Giesen 2010: 67-87). Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit der kulturellen Rahmung von Ereignissen der neueren amerikanischen Geschichte in hermeneutischer, explanativer und komparativer Absicht. Möchte man das kollektive Gedächtnis von Gesellschaften untersuchen, ist die Analyse öffentlicher und akademischer Diskurse das Mittel der Wahl. Selbst die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Vietnamkrieg sind im amerikanischen Diskurs immer noch von großer Bedeutung. Im Folgenden soll die These erhärtet werden, dass sich die beiden Kriege in der symbolischen Ordnung des amerikanischen Gedächtnisses als strukturierende Pole, als „Triumph und Trauma“ (Giesen 2004c), diametral gegenüberstehen (6.1-2). So
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wird der Zweite Weltkrieg in den Vereinigten Staaten trotz (oder: gerade wegen) des anfänglichen Traumas von Pearl Harbour und der nachträglichen Traumatisierung des Holocausts als militärischer und moralischer Triumph erinnert. Im Unterschied zu dieser Eindeutigkeit des Erinnerns bleibt das kollektive Gedenken an den Vietnamkrieg ambivalent und umstritten. Das Einzige, worüber man nach dem Truppenabzug übereinkam, war die militärische Niederlage des amerikanischen „Goliath“ gegenüber dem nordvietnamesischen „David“. Diese polare Struktur des amerikanischen Geschichtsgedächtnisses schlug sich auch in der kulturellen Rahmung späterer Kriegshandlungen nieder. Dies lässt sich vor allem an der Veränderung der Wahrnehmung des Irakkrieges von 2003 aufzeigen. Dominierte zu Beginn des Krieges im amerikanischen Diskurs noch die Analogie zum Zweiten Weltkrieg, so wich diese Rahmung im Zuge des Abu-Ghraib-Skandals und des ausbleibenden militärischen Erfolgs bald der Vorstellung vom Irak als einem zweiten Vietnam. In dieser historischen Exposition zum Abu-Ghraib-Skandal konnten nur wenige ausgewählte Arbeiten berücksichtigt werden, die sich meist mit dem symbolischen Charakter von Kriegsereignissen und der Bedeutung von kulturellen Codes für die nationale Erinnerung auseinandersetzen. Besonderes Augenmerk liegt auf kollektiven Symbolen und säkularen Ikonen, die als Referenzpunkte des kollektiven Gedächtnisses dienen. In den folgenden Ausführungen geht es weder um eine historische Rekonstruktion des tatsächlichen Geschehens, noch um eine umfassende Betrachtung einzelner historischer Ereignisse. Vielmehr sollen spezifische Schlüsselereignisse der jüngeren amerikanischen Geschichte im Hinblick auf den 11. September 2001 und den Abu-Ghraib-Skandal ausführlicher diskutiert und eine skizzenhafte Generalisierung der symbolische Ordnung und des sozialen Imaginären der hier untersuchten Erinnerungsdiskurse vorgenommen werden. Neben der Auswertung von historischen und soziologischen Studien greifen weite Teile des dritten und des fünften Kapitels auf eine eigens durchgeführte Diskursanalyse englisch- und deutschsprachiger Zeitungen zurück. 1 So lässt sich anhand dieser Daten nachzeichnen, wie das Abu-Ghraib-Gefängnis noch unter Saddam Husseins Herrschaft zu einem negativen Symbol in den westlichen Mediendiskursen und damit zu einem Instrument der symbolischen Mobilmachung für den Golfkrieg von 1991 und den Irakkrieg von 2003 wurde (6.3). Die Tatsache, dass Abu Ghraib schon vor der amerikanischen Okkupation als ein negativ besetzter Ort des Schreckens galt, darf in ihrer Bedeutung für die Rezeption der Abu-Ghraib-Bilder und die Entstehung des Skandals nicht unterschätzt werden. Die Legitimation des Golfkrieges von 1991 erfolgte im Wesentlichen über den mnemotechnischen Rückgriff auf den Zweiten 1
Die Diskursanalyse erfolgte im Frühjahr 2008 auf Basis einer stichprobenartigen Erhebung mit der Datenbank Lexis-Nexis. Der verwendete Suchbegriff war „Abu Ghraib“; der Suchzeitraum begann am 1. Januar 1980 und endete am 31. Dezember 2003; es wurden amerikanische, englische, kanadische und deutsche Tageszeitungen berücksichtigt.
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Weltkrieg, nach der Saddam Husseins Invasion von Kuwait in Analogie zu Hitlers Angriff auf Polen gesehen wurde (6.3.2). Auch der Krieg gegen den Terror erfolgte im Rückgriff auf den Zweiten Weltkrieg, da der Anschlag auf das World Trade Center am Trauma von Pearl Harbor rührte. Der Irakkrieg von 2003 muss ebenfalls vor dem Hintergrund des 11. Septembers 2001, aber auch im Kontext des vorangegangenen Golfkrieges und des Zweiten Weltkrieges, verstanden werden (6.5). Die mutmaßliche Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak und die darin implizierte Gefahr eines biologischen oder gar nuklearen „Holocausts“, führte in den Vereinigten Staaten zu einer breiten Zustimmung für den militärischen Einsatz. Abu Ghraib wurde aber bald nach seiner Übernahme durch die Amerikaner zu einem Symbol für die verhassten Besatzer und damit zu einem bevorzugten Ziel für Anschläge (6.5). Diese Anschläge schufen ein Klima der Bedrohung und Vergeltung, das wiederum den Gefangenenmissbrauch in Abu Ghraib förderte (7.4).
6.1 D ER Z WEITE W ELTKRIEG – T RAUMA UND T RIUMPH I fear all we have done is to awaken a sleeping giant. ADMIRAL ISOROKU YAMAMOTO, IN PEARL HARBOR (2001)2
Die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs liegt nicht alleine in seiner historischen Tragweite als einem Ereignis, welches das Antlitz der Welt veränderte, sondern ebenso in seiner fortwährenden Wirkung als erinnerte Geschichte, die Schemata zur Interpretation der Gegenwart bereitstellt. So lässt sich konstatieren, dass der Zweite Weltkrieg zur klassischen Vorlage für zeitgenössische Kriegsrechtfertigungsnarrative geworden ist. Unliebsame Diktatoren werden gerne mit Adolf Hitler verglichen, der Holocaust steht Pate für epigonale Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Angriffskriege werden der missglückten Appeasement-Politik gegenüber dem dritten Reich und der geglückten Besetzung von Deutschland und Japan legitimiert. So diente im öffentlichen Diskurs in Deutschland der mutmaßliche Völkermord in Jugoslawien und insbesondere das Massaker von Srebrenica der Rechtfertigung der deutschen Beteiligung am Kosovokrieg. Der erste Militäreinsatz in der Geschichte der Bundeswehr wurde von Journalisten, Politikern und Intellektuellen im Rückgriff auf den Holocaust und die historische Verantwortung der Deutschen legitimiert (vgl. Schwab-Trapp 1999). Das „Dritte Reich“ stellt nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen zivilgesellschaftlichen Diskursen ein konstitutives Außen dar. Als alternative Füllung der symbolischen Leerstelle eines „Reich des 2
Dieses Zitat ist historisch nicht verbürgt. Die Macher von Pearl Harbor zitieren den Film Tora! Tora! Tora! (1970), wo dem Admiral ein ähnliches Zitat in den Mund gelegt wird: „I fear all we have done is to awaken a sleeping giant and fill him with a terrible resolve“.
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Bösen“ kommt in den meisten westlichen Diskursen nur noch Stalins Sowjetunion in Frage, wenn auch die berüchtigten Säuberungen und Gulags nie den symbolischen Status des Holocausts und der Konzentrationslager erreichen konnten. Im zivilgesellschaftlichen Diskurs der Vereinigten Staaten sind sowohl das „Dritte-Reich“-Schema als auch das „Stalinismus“-Schema vertreten. Daneben gibt es aber noch ein weiteres kulturelles Reservoir, das aus der amerikanischen Erfahrung des Krieges gegen Japan schöpft. Im Folgenden soll zunächst einmal auf den traumatisierenden Angriff der Japaner auf Pearl Harbor eingegangen werden, der den amerikanischen Kriegseintritt markierte, bevor schließlich zu den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki übergangen wird, die den militärischen Triumph über Japan symbolisieren . Im Gegensatz zu der genuin amerikanischen Besetzung der Symbole „Pearl Harbor“ und „Hiroshima“ steht die nahezu universelle Bedeutung des „Holocaust“, der im Zuge der siebziger Jahre in öffentlichen Diskursen auf der ganzen Welt zu einem absoluten Negativsymbol avancierte . 6.1.1 „Pearl Harbor“ und „Hiroshima“ als kollektive Symbole Nach dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise dominierten im öffentlichen Diskurs der Vereinigten Staaten isolationistische Tendenzen. So hielten noch 1937 etwa 70% der Bevölkerung die amerikanische Beteiligung am ersten Weltkrieg für einen Fehler (vgl. Schwartz 1996: 913). Auch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges stand die Mehrheit der Amerikaner einem etwaigen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten ablehnend gegenüber – trotz einer demokratischen Regierung, die eine amerikanische Beteiligung am Krieg ausdrücklich befürwortete. Der Erste Weltkrieg war als legitimierender und motivierender Code für eine amerikanische Beteiligung am Zweiten Weltkrieg zunächst unbrauchbar. Wie Barry Schwartz (1996) in einer Studie zeigt, erfolgte die symbolische Aufrüstung zunächst mit Hilfe der Mobilisierung von Abraham Lincoln als einem kollektiven Symbol, das für ein amerikanisches Modell von Demokratie stand, das in Europa als bedroht wahrgenommen wurde. Schon sechs Monate vor dem Angriff auf Pearl Harbor gelang es Präsident Roosevelt im symbolischen Rückgriff auf Lincoln einen nationalen Ausnahmezustand auszurufen (Schwartz 1996: 914f.). Aber erst der japanische Angriff auf die amerikanische Pazifikflotte im hawaiianischen Hafen Pearl Harbor sorgte vollends für einen Umschwung der öffentlichen Meinung. Das Ereignis von Pearl Harbor kann als „traumatisch“ bezeichnet werden, weil es einige Hintergrundannahmen der amerikanischen Bevölkerung untergrub (Neal 1998: 60-66).3 So steht „Pearl Harbor“ für den ersten Angriff einer fremden Macht auf amerikanischem Territorium und wurde damit als Bedrohung der Nation selbst wahrgenommen. Auch die fast vollständige Vernichtung der Pazifikflotte am 7. De3
Zu Pearl Harbor als nationalem kulturellen Trauma vgl. vor allem die Arbeit von Michael Hartwig (2011), der auch die Beziehung zum 11. September thematisiert.
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zember 1941 war für die meisten Amerikaner ein Schock. Sie verletzte nicht nur die isolationistische Hintergrundannahme, dass sich Amerika unbeschadet aus den Konflikten der Alten Welt heraushalten könne (vgl. Smith 2005: 219), sondern führte auch dazu, dass sich die selbstbewusste Nation in der ungewohnten Rolle des Opfers wiederfand. Der kollektive Schock und der verletzte Nationalstolz schlugen alsbald, nicht zuletzt dank der performativen Vermittlung Roosevelts, in ein Bedürfnis nach Vergeltung um, welches die Regierung zur Proklamation des Kriegseintritts nutzte (Neal 1998: 66-71). Die Tatsache, dass nach dem Krieg bekannt wurde, dass dem amerikanischen Geheimdienst im Vorfeld des Angriffs auf Pearl Harbor zahlreiche Fehler unterlaufen waren (vgl. Kahn 1991), gibt bis zum heutigen Tage Anlass zu Verschwörungstheorien, die allerdings weder öffentliche noch akademische Anerkennung fanden (vgl. Dower 2010: 35). Am Tag nach dem Angriff eröffnete Präsident Franklin Roosevelt seine Rede an die beiden Häuser des amerikanischen Parlaments mit folgenden Worten: „Yesterday, December 7, 1941 ‒ a date which will live in infamy ‒ the United States was suddenly and deliberately attacked by naval and air forces of the Empire of Japan“ (zitiert nach Dower 2010; vgl. auch Rosenberg 2003: 84f.). Die eigene militärische Niederlage wurde als moralische Verfehlung des Gegners porträtiert, als heimtückischer und ehrloser Angriff, der Amerika unvorbereitet treffen musste. Im Rohentwurf zu der Rede hatte es noch „a date which will live in world history“ geheißen, aber Roosevelts handschriftliche Notiz und seine tatsächliche Performanz vor den Parlamentariern und der amerikanischen Öffentlichkeit ließen „infamy“ zu einem Codewort für Pearl Harbor werden, das schließlich auch auf den 11. September 2001 gemünzt wurde (Dower 2010: 3-38; Rosenberg 2003: 174-190). „Infamy“, die Schande und Ehrlosigkeit des Gegners, half den Amerikanern, ihr eigenes Selbstbild auch angesichts dieser offensichtlichen Niederlage zu wahren. Das anfängliche Trauma von Pearl Harbor wurde allerdings bald durch den beispiellosen Triumph der Alliierten, der sich in der bedingungslosen Kapitulation von Deutschland und Japan äußerte, fast vollständig überdeckt. Der bedingungslosen Kapitulation Japans ging der Abwurf von Atombomben über Hiroshima und Nagasaki voraus, der nicht nur als militärisch-strategischer Akt verstanden werden darf, sondern zugleich auch als performativ-symbolische Handlung begriffen werden muss. Heute besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass der Einsatz der atomaren Bombe keinesfalls militärisch notwendig war, was im Übrigen auch für das konventionelle Flächenbombardement deutscher und japanischer Städte gilt (Friedrich 2002; Childers 2005; Dower 2010: 162-196). Der amerikanische Historiker John W. Dower wies darauf hin, 4 dass diese exzessiven Gewaltakte für ihre
4
Dower (2010) unterzieht die Flächenbombardements und die Atombombenabwürfe während des Zweiten Weltkriegs einer kulturalistischen Analyse – mit besonderer Berück-
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Durchführung als auch hinsichtlich ihrer öffentlichen Rezeption auf Seiten der Alliierten eine Limitierung der gesellschaftlichen Vorstellungskraft voraussetzten: „Faith in one’s own and one’s nation righteous cause, and to some degree personal sanity itself, required closing off any genuinely unblinking and sustained imagination of what modern warfare had come to“ (2010: 211). Diese Blockade der Vorstellungskraft hatte paradoxerweise zur Folge, dass im Diskurs und in den Köpfen vieler Menschen ein vergleichsweise unrealistisches Bild vom Krieg existierte. Hier wird deutlich, dass Imagination eine zentrale Zugangsbedingung zur „realen“ Wirklichkeit darstellt. Die direkt an den Kampfhandlungen beteiligten Akteure wurden sich der realen Konsequenzen ihrer Handlungen öfter bewusst, als es ihnen lieb war, und mussten, wie folgender Auszug aus den Memoiren eines Bomberpiloten zeigt, diese störenden Vorstellungen beiseiteschieben: „You drop a load of bombs and, if you’re cursed with any imagination at all, you have at least a quick horrid glimpse of a child lying in a bed with a whole ton of masonry tumbling down on top of him; or a three-year-old girl wailing for Mutter… Mutter… because she has been burned. Then you have to turn away from the picture if you intend to retain your sanity. And also if you intend on doing the work your Nation expects of you.“ (nach Dower 2010: 503)
Hier wird deutlich, dass es sich bei dem Imaginären und dem Symbolischen um analytisch unabhängige Aspekte der Kultur handelt. Wenn Vorstellungen und Bilder konträr zur symbolischen Ordnung verlaufen, kann dies zu mentalen Spannungen führen, die sich sozialpsychologisch als „kognitive Dissonanz“ (Festinger 1968), oder marxistisch, als „Entfremdung“, deuten lassen. Im Rahmen einer Theorie des sozialen Imaginären sprechen wir von Entfremdung, wenn sich eine Gesellschaft in ihren eigenen Produkten nicht mehr wiedererkennt (Castoriadis 1987: 226). Auf lange Sicht kann ein derartiges Auseinanderklaffen von symbolischer Ordnung und sozialem Imaginären zu kulturellem Wandel führen, sofern nicht Verdrängung und Vergessen überhand nehmen. Entscheidend für die erfolgreiche Codierung des Flächenbombardements und der Atombombenabwürfe als einem gerechten Triumph über die bösen Achsenmächte war, dass das soziale Imaginäre von weinenden Kinder und wehklagenden Müttern weitgehend verschont blieb. Sowohl die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki als auch das Flächenbombardement japanischer und deutscher Städte müssen als symbolische Akte aufgefasst werden, denen primär eine kommunikative Funktion zukam. Insbesondere der Einsatz der Atombombe entfaltete eine bisher unbekannte symbolische Sprengkraft. So sollte die Bombe zunächst die japanische Führung und Öffentlichkeit einschüchtern, die auch nach den konventionellen Flächenbombardements noch sichtigung der Bezüge zum 11. September 2001 und dem Krieg im Irak. Die vorliegenden Ausführungen verdanken seinen Überlegungen und historischen Quellen sehr viel.
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nicht zu einer bedingungslosen Kapitulation bereit waren. Aber der Einsatz der Atombombe richtete sich zugleich auch an die öffentliche Meinung an der Heimatfront. Ein Friedensabkommen zu den japanischen Konditionen wäre im damaligen öffentlichen Klima der Vereinigten Staaten, wo ein Drittel der Bevölkerung nach der Schmach von Pearl Harbor und den vielen gefallenen Soldaten eine Hinrichtung des japanischen Kaisers befürwortete, einem politischen Himmelfahrtskommando gleichgekommen (Dower 2010: 250). Zudem, so heißt es jedenfalls in verschiedenen internen Berichten und Memoranda, wurde der Einsatz der Atombombe von politischer Seite zunehmend als die einzige Möglichkeit gesehen, die exorbitanten Kosten des Manhattan-Programms zur Entwicklung der Atombombe gegenüber der amerikanischen Öffentlichkeit zu rechtfertigen (so Dower 2010: 248f.). Das wohl wichtigste Publikum waren aber wohl die unbeteiligten Dritten, allen voran die zunehmend als Bedrohung wahrgenommene Sowjetunion. Der Abwurf der Atombomben diente somit nicht zuletzt einer Stärkung der Verhandlungsposition der Amerikaner auf der Potsdamer Konferenz (Paul 2006: 244f.; Dower 2010: 241248). In der Retrospektive wurde der Atombombenabwurf allerdings mit der sofortigen Herbeiführung des Kriegsendes und den dadurch ersparten Verlusten auf Seiten der Alliierten öffentlich gerechtfertigt (Dower 2010: 212-220). Dieser Argumentation ließe sich entgegenhalten, dass ein sofortiges Kriegsende auch durch eine Einwilligung in die Bedingungen Japans oder eine weltöffentliche Demonstration der Bombe auf einem unbewohnten Atoll hätte erreicht werden können. Lässt man sich erst einmal auf darauf ein, dass die einzig denkbare Alternative zum Einsatz der Atombombe in einer Invasion bestand, die womöglich bis zu einer Million amerikanischer Soldaten das Leben gekostet hätte, so tritt die Ähnlichkeit des apokalyptischen Narrativs zu dem Ticking-Bomb-Szenario im Krieg gegen den Terror zu Tage (6.4). Die Rede von Abertausenden oder gar Millionen möglicher amerikanischer Verluste stellen allerdings weniger eine realistische Schätzung, als vielmehr ein rhetorisches Mittel dar, welches das Viel-zu-viele oder „far-too-many“ der vorhersehbaren Verluste signalisierte: „Whatever the number might be, it was to be avoided at all costs“ (Dower 2010: 217). Der Einsatz der Atombombe wurde – dem Ticking-Bomb-Szenario vergleichbar – in ein apokalyptisches Narrativ eingebettet, das als Handlungshintergrund alle anderen Handlungsmöglichkeiten auszuschließen schien. Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht zumindest auf die Atombombenabwürfe zu Gunsten einer weltöffentlichen Demonstration der neuen Waffe hätte verzichtet werden können. Hier müssen wir uns zunächst einmal auf die performative und kommunikative Funktion exzessiver Gewaltakte besinnen (3.1). Gerade die Überschreitung geltender Normen der Kriegsführung besitzt ein enormes symbolisches Potenzial, das nicht nur den Ausnahmezustand des Krieges signalisiert, sondern auch den Willen zum Einsatz äußerster Mittel performativ unter Beweis stellt. Diese gelungene Demonstration militärischer Stärke wirkte sich natürlich positiv auf die Verhandlungsposition der Amerikaner in Potsdam aus. Daneben
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kann man aber auch von einer „redemptive function of American strategic bombing“ in Bezug auf das traumatische Ereignis von Pearl Harbor sprechen (Linenthal 1993: 185). Die symbolische Kraft des transgressiven Gewaltaktes lässt sich so als angemessene Reaktion auf den japanischen Angriff auf Pearl Harbor verstehen, wodurch sich eine „moral symmetry of righteous vengeance“ (Linenthal 1993: 185) habe herstellen lassen. Wir werden sehen, dass sich auch der Einsatz von Folter im Krieg gegen den Terror als Mechanismus der symbolischen Vergeltung und Herstellung einer moralischen „Gerechtigkeit“ deuten lässt (6.4). Nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte die „mushroom cloud“ zu einer visuellen Ikone, die in den Vereinigten Staaten zunächst als ein Symbol des Fortschritts und des Sieges gefeiert wurde (Rosenthal 1991; Paul 2006). Erst der kalte Krieg ließ den „Atompilz“ zu einer globalen Medienikone werden, die zunehmend auch „als Symbol des Schreckens in der West-Ost-Auseinandersetzung“ fungierte. Das progressive Narrativ auf der amerikanischen Seite fand sein Gegenstück in der apokalyptischen Rahmung der „mushroom cloud“ in Europa. Allerdings setzte mit dem Ende des kalten Krieges eine grundlegende Veränderung in der Wahrnehmung von atomarer Bedrohung ein. So war nun vermehrt damit zu rechnen, dass Atomwaffen auch in die Hände nichtstaatlicher Akteure geraten könnten. Wie „Pearl Harbor“ kam auch „Hiroshima“ als Code im Zuge des 11. September 1001 zur Anwendung (Dower 2010: 153-161, vgl. 6.4). Dower zufolge hatte sich der Name „Ground Zero“, der nach 9/11 auch auf den ehemaligen Standort der Zwillingstürme angewendet wurde, bereits im Jahr 1946 als fester Begriff für das Zentrum einer Atomexplosion eingebürgert (2010: 157). Selbst die amerikanische „shock and awe“-Strategie im Irakkrieg von 2003 lässt sich als eine Anspielung auf die kollektiv erinnerte Erfahrungen mit Hiroshima und Nagasaki verstehen (2010: 153). Trotz seiner Verwendung als negativem Code, handelt es sich bei „Hiroshima“ schwerlich um ein kulturelles Trauma. Während das von den Alliierten besetzte Westdeutschland seine Niederlage im Zweiten Weltkrieg allmählich zu einem Tätertrauma umcodierte (Giesen 2004a), gingen die Vereinigten Staaten aus dem zweiten Weltkrieg zunächst mit gestärktem Selbst- und Sendungsbewusstsein hervor.5 6.1.2 „Holocaust“ – Zur Universalisierung eines moralischen Codes Nicht nur der Schrecken der Atombombe wurde vom progressiven Nachkriegsnarrativ der Amerikaner verdeckt; auch dem Völkermord an den europäischen Juden konnte zunächst keine historische Sonderstellung zugesprochen werden. Jeffrey Alexander beginnt seine Analyse des kulturellen Traumatisierungsprozesses zunächst mit der simplen Feststellung, dass von dem Holocaust kurz nach dem Zwei5
Der Status von Hiroshima als „universal symbol of the horror of modern war and human suffering“ (Linenthal 1993: 185) ist im amerikanischen Diskurs immer noch umstritten. Vor allem Konservative halten an einer triumphalistischen Deutung des Ereignisses fest.
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ten Weltkrieg noch nicht die Rede war (2003b, vgl. auch Novick 2003). Bevor der Völkermord an den europäischen Juden zu einem globalen Symbol für das menschliche Leiden überhaupt wurde, galt er in erster Linie als Kriegsverbrechen, das die Ermordung von mehr als sechs Millionen Zivilisten zur Folge hatte – wenn auch zugestanden werden muss, dass der Anklagepunkt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ auf den Nürnberger Prozessen schon ein historisches Novum darstellte. Allerdings spielte die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Opfer jüdischer Herkunft war, damals noch keine große Rolle. Nach dem Zweiten Weltkrieg, so Alexander weiter, wurde der Holocaust zunächst als Symbol für die Gräuel der Naziherrschaft verwendet, weswegen er in letzter Konsequenz der Verherrlichung des Triumphes der Alliierten diente (2003b: 37-48). So erfüllte das negative Ereignis des Holocausts dank seiner Einbettung in ein progressives Narrativ zunächst eine positive Funktion im kulturellen Gedächtnis. Auch die Gründung der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurden von diesem positiven Geschichtsnarrativ getragen, wie insbesondere der Präambel der UNCharta zu entnehmen ist. Die Gräuel des Zweiten Weltkrieges wurden so zum Gründungsverbrechen einer neuen Weltordnung. Trotz des Schocks, den die Berichte und die Fotografien aus den Konzentrationslagern bei den Beobachtern auslösten, kam es in der amerikanischen Öffentlichkeit zunächst nicht zur Konstruktion eines kulturellen Traumas, weil die Negativität des Ereignisses sofort in einer positiven Geschichtskonstruktion aufgehoben wurde. Oder, wie Alexander an anderer Stelle schreibt: „What was a trauma for victims was not a trauma for the audience“ (2003b: 48). Dies traf unter anderem auch auf die jüdischen Organisationen in den Vereinigten Staaten zu, die nach dem Krieg kein Interesse an einem Holocaust-Mahnmal zeigten. Das progressive oder romantische Narrativ, das von dem glorreichen Sieg über die finstere Naziherrschaft erzählte, wurde erst im Laufe der sechziger und siebziger Jahre von einer tragischen Erzählung abgelöst, die das Versagen der Menschheit angesichts der Vernichtung der europäischen Juden ins Zentrum rückte (2003b: 48-67). Während die romantische Geschichtserzählung das Augenmerk auf den Triumph des Helden über das Böse lenkt, thematisiert die tragische Erzählung das unverschuldete Leiden der Opfer. Erst die Einbettung der Ermordung der europäischen Juden in eine tragische Erzählung ließ den Holocaust zu einem kulturellen Trauma werden. 6 Die zentrale Vorrausetzung dafür, dass der Holocaust zu einem kulturellen Trauma avancierte, ist nach Alexander die Identifikation mit den Protagonisten (2003b: 51-54) – und dies schließt nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter mit 6
Es sollte sich von selbst verstehen, dass mit der Analyse von sozialen und kulturellen Bedingungen nicht die sachliche – und normative – Berechtigung einer solchen Traumakonstruktion in Abrede gestellt wird. Der deutsche Verfasser der vorliegenden Arbeit hält die tragische Erzählung für die einzige, die den Opfern und der Geschichte gerecht wird.
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ein.7 Während die meisten Fotografien von KZ-Überlebenden nur ausgemergelte und entmenschlichte Körper zeigten, vermochten es insbesondere die literarischen Erzählungen, den Opfern ein menschliches Gesicht zu geben. Von durchschlagender Wirkung war das Tagebuch der jungen Holländerin Anne Frank, das im Jahr 1949 von ihrem Vater als dem einzigen Überlebenden der Familie herausgegeben wurde. Gerade dieser Bericht über die alltäglichen Sorgen und Wünsche eines jungen Mädchens stellte dem Leser – in sehr viel stärkerem Maße als die sogenannte „Lagerliteratur“ – Identifikationsangebote mit den Opfern des Holocausts bereit, die die Aufmerksamkeit von der Unmenschlichkeit des Massenmordes auf die Menschlichkeit der Opfer (und damit auf die Willkür ihrer Ermordung) verschobenen. Eine wichtige Rolle spielte das Fernsehdrama Holocaust in den siebziger Jahren, welches die fiktive Geschichte einer jüdischen Familie in Berlin erzählte. 8 Alexander zeigt in seiner Rekonstruktion, dass die Identifikation mit den Tätern für die Universalisierung des Holocausts ebenso wichtig war wie die Identifikation mit den Opfern (2003b: 60-62). Diesbezüglich muss dem Eichmann-Prozess in Jerusalem, der sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten jede Menge Aufmerksamkeit erregte, eine zentrale Bedeutung zugemessen werden. Das juristische Drama der Anklage und Verurteilung des in Argentinien festgenommen Organisators der Judenvernichtung, Adolf Eichmann, wurde von Millionen von Zeitungslesern und Fernsehzuschauern auf der ganzen Welt verfolgt. Eichmann wurde im Laufe des Prozesses zum archetypischen Schreibtischtäter stilisiert. Hannah Arendt (1986), die den Prozess als Journalistin begleitete, arbeitete in ihrer einflussreichen Deutung des Prozesses jene „Banalität des Bösen“ heraus, die es ermöglichte, in Eichmann eine Personifikation des Bösen, zugleich aber auch nur „einen von uns“, zu sehen. Diese Täterdeutung war alles andere als unumstritten, konnte sich aber auf sozialpsychologische Befunde stützen. Kurz nach Beginn des Eichmann-Prozesses entwarf Stanley Milgram (1974) ein Experiment, das über die Psychen von Tätern wie Eichmann Aufschluss geben sollte. Das legendäre „Milgram-Experiment“, das an der Yale University durchgeführt wurde, demonstrierte, dass ein Großteil der Probanden den Anordnungen des Versuchsleiters Folge leistete und dritte Personen bei angeblichen Fehlern mit Stromschlägen zu strafen bereit war. Eine der Versuchspersonen erzählte seiner Frau von dem Ausgang des Experiments, worauf diese ihm antwortete: „You can call yourself Eichmann“ (Milgram 1974: 54). Diese Antwort lässt sowohl Rückschlüsse auf die Präsenz von Eichmann im öffentlichen Diskurs als auch auf den Kontext der Rezeption der Ergebnisse der Studie zu. Milgram hatte das Experiment vor dem 7
Die Einsicht, dass die Menschlichkeit der Protagonisten eine Voraussetzung von Mitleid ist, findet sich schon in der Tragödientheorie von Aristoteles (2010: 37-41, Kapitel 13).
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Zur Resonanz der Serie in den USA und Deutschland vgl. den materialreichen Sammelband von Friedrich Knilli und Siegfried Zielenski (1982).
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Hintergrund des Holocausts und des laufenden Eichmann-Prozesses entworfen – und vor diesem Hintergrund wurden die Ergebnisse auch wahrgenommen. Das Experiment zeigte, dass die meisten Menschen unter dem Einfluss einer (in diesem Fall: wissenschaftlichen!) Autorität zu grausamen Akten der Gewalt fähig sind, was von Milgram auf die Planung und Durchführung des Holocausts durch „ganz normale“ Deutsche übertragen wurde. Dank dieses Experimentes brachte es Milgram zu großer Popularität und auf die Titelseite des Time Magazine. Das Experiment ist heute zu einer sozialpsychologischen Ikone geworden und stößt sowohl in der Wissenschaft als auch in der Populärkultur immer noch auf Resonanz. Erst die Identifikation mit Opfern und Tätern ermöglichte die Universalisierung des Holocausts als einem globalen Symbol. Als Konsequenz dieser Universalisierung verloren allerdings die Vereinigten Staaten und Israel die Kontrolle über die Verwendung des Symbols (Alexander 2003b: 62-67). So reklamierten die amerikanischen Ureinwohner gegenüber der amerikanischen Regierung einen „Native American holocaust“, aber auch die Internierung von amerikanischen Staatsbürgern japanischer Herkunft nach dem Angriff auf Pearl Harbor wurde mit der Unterbringung von deutschen Juden in Konzentrationslagern verglichen. Im Zuge des AbuGhraib-Skandals wurden die fotografischen Zeugnisse des Holocausts von einem arabischen Mitglied des israelischen Parlaments zur Deutung der Missbrauchsfälle verwendet (7.2.1). In Deutschland schließlich wurde das Gedenken an den Holocaust anlässlich der Massaker des Jugoslawienkrieges beschworen und zur Legitimierung des militärischen Eingreifens von Deutschland genutzt (vgl. Schwab-Trapp 1999). In ähnlicher Weise wie „Pearl Harbor“ und „Hiroshima“ wurde so auch der „Holocaust“ zu einem Code bzw. Sinnbild, das eine Sinnstiftung in der Gegenwart vor dem Hintergrund einer kollektiv erinnerten Vergangenheit ermöglicht. Der Holocaust ist mittlerweile fester Bestandteil eines globalen sozialen Imaginären, das von Fotografien, Erzählungen, Museen, Denkmälern und Filmen getragen wird. Der Holocaust gilt heute als das kollektive Trauma schlechthin (LaCapra 1994; Hartman 1996; Brunner & Zajde 2011). Als Trauma sperrt sich der Holocaust gegen seine Versprachlichung oder andere Formen der Darstellung, auch wenn Formen der kulturellen Repräsentation für seine Überlieferung unerlässlich bleiben (1.3.5). Selbst wenn man dem Dogma der Nichtdarstellbarkeit des Holocausts skeptisch gegenüber steht, muss zugestanden werden, dass die Problematik der Repräsentation für das kulturelle Trauma des Holocausts konstitutiv ist. Leerstellen und Aussparungen kommen in den Darstellungen des Holocausts eine besondere Rolle zu, da sie über das System der sprachlichen Zeichen und die überlieferten Fotografien hinausweisen und dadurch an das Imaginäre appellieren. So sind es gerade Erzählungen wie das Tagebuch der Anne Frank, welche die Gräuel der Vernichtungscamps aussparen, oder aber Fotografien, beispielsweise von Schuhbergen oder den Toren von Ausschwitz, welche nicht die Opfer selbst zeigen, die im bloßen Verweis auf das Unaussprechliche die Imagination des Betrachters befeuern.
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Im Großen und Ganzen darf der Beitrag der Fotografien aus den Vernichtungslagern für die Konstruktion des Holocausts als einem kulturellen Trauma gegenüber den Erzählungen von Überlebenden und Opfern nicht überbewertet werden. So sind die meisten Fotografien erst bei der Befreiung der Lager entstanden, weshalb sie die eigentliche Stärke ihres Bildmediums, nämlich – in diesem Fall – die Realität der Todeslager authentisch wiederzugeben, nicht ausspielen konnten (2.1.3). Des Weiteren erschwert die schiere Menge an Fotografien (von denen es über eine Million gibt!) eine etwaige Ikonisierung – auch wenn einzelne Bilder, wie beispielsweise jenes vom Jungen im Warschauer Ghetto, aus der schieren Menge der Bilder hervorragen. Drittens ist nur wenigen Bildern jene ikonische Qualität zu eigen, die einen solchen Prozess hätte befördern können. Bilder von aufgetürmten Leichen wecken nicht in derselben Weise unser Interesse wie Geschichten von Opfern und Überlebenden. So konnten die Bilder zwar im Rahmen des progressiven Narrativs die Gräuel der Naziherrschaft anschaulich machen (vgl. Glasenapp 2007); ihren Status als säkulare Ikonen haben sie allerdings erst dem Aufstieg des Holocausts zu einem kulturellen Trauma zu verdanken. Dies heißt natürlich nicht, dass die Veröffentlichung der Bilder aus den Konzentrationslagern in den letzten Kriegstagen ohne Folgen blieb. In den Vereinigten Staaten begann die Veröffentlichung der Fotos im Rahmen einer Pressekampagne, die vom 9. April bis Anfang Mai 1945 dauerte (Glasenapp 2007: 256-260). Die Fotos aus den Konzentrationslagern haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Differenzierung zwischen den anständigen Deutschen und verbrecherischen Nazis zunächst in den Hintergrund trat und die Deutschen als Gruppe zunehmend negativ gesehen wurden (Casey 2001: 212f.).
6.2 D ER V IETNAMKRIEG
ALS AMERIKANISCHES
T RAUMA
It has been over for a generation, and the Cold War world that shaped U.S. policy has itself passed into history, but the Vietnam War still casts long shadows over American life. It lingers in the national memory, hovering over our politics, our culture, and our long unfinished debate over who we are and what we believe. ARNOLD R. ISAACS, VIETNAM SHADOWS (2000: IX)
Bis heute stellt der Vietnamkrieg einen Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte dar. Wie kein anderer Krieg hat er das Land gespalten und Konfliktlinien aufgeworfen, die auch heute noch die zivilgesellschaftlichen Diskurse der Vereinigten Staaten bestimmen. Jede militärische Intervention der Amerikaner muss sich seitdem gegenüber dem militärischen und/oder moralischen Fiasko von Vietnam
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rechtfertigen. Dieser Vergleich wurde insbesondere während des Irakkrieges von 2003 (6.5), dem ersten größeren amerikanischen Einsatz von Bodentruppen seit Vietnam, bemüht – vor allem nachdem sich der anfängliche Kriegsgrund als unbestätigtes Gerücht verflüchtigte, der schnelle militärische Erfolg ausblieb und Skandale die amerikanischen Truppen heimzusuchen begannen. Auch die Wahrnehmung der Vorgänge in Abu Ghraib, so die noch zu belegende These, wurde von der gespaltenen Erinnerung an den Vietnamkrieg beeinflusst. Dies liegt unter anderem auch an Seymour Hersh, der als junger Journalist das My-Lai-Massaker in Vietnam aufgedeckt hatte (6.2.2) und, etwa 35 Jahre später, auch an der Enthüllung des AbuGhraib-Skandals maßgeblich beteiligt war (8.1.1; 8.3.2). Hersh verkörpert die Referenz von Abu Ghraib auf Vietnam in Personalunion. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die amerikanische Erinnerung an den Vietnamkrieg sich aus drei verschiedenen Traumadiskursen zusammensetzt, die jeweils ihre eigenen sozialen Trägergruppen besitzen: das „Trauma der Opfer“ , das insbesondere von Veteranenorganisationen gepflegt wird, das „Trauma des Scheiterns“, das bei den Rechtskonservativen dominiert, und das „Tätertrauma“ von Vietnam, das bis heute zum Kernbestand linksliberaler Überzeugungen in den Vereinigten Staaten gehört. 6.2.1 Der Vietnamkrieg im amerikanischen Gedächtnis Der Vietnamkrieg war ein Produkt des Kalten Krieges. Die Staaten des Warschauer Paktes, vereint unter dem Banner des Kommunismus und unter der Führung der Sowjetunion, und die westliche Welt, die sich unter der Hegemonie der Amerikaner in der Nato organisiert hatte, standen sich feindlich gegenüber. Auch das kommunistische China wurde aufgrund dieses binären Klassifikationsschemas vom Westen als natürlicher Verbündeter der Sowjetunion wahrgenommen. Aufgrund der Drohmacht der auf beiden Seiten vorhandenen Atomwaffen, konnte es zu keiner direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen den Machtblöcken kommen. Die atomare Vergeltung, die auf den atomaren Erstschlag erfolgt wäre, führte zur Verbreitung von apokalyptischen Narrativen – in öffentlichen Diskursen wie auch in der Populärkultur, so z.B. in den James-Bond-Filmen oder auch im Spielfilm The Day After (1983). Aus diesem Grunde beschränkten sich militärische Auseinandersetzungen zwischen den beiden Machtblöcken auf sogenannte „Stellvertreterkriege“. Das Gespenst des Kommunismus, das in den Augen der Amerikaner die freie Welt bedrohte, musste auch auf scheinbaren Nebenschauplätzen wie in Korea und Vietnam bekämpft werden. Dies legte zumindest die von Präsident Eisenhower 1954 proklamierte „Domino-Theorie“ nahe. Er vertrat die These, dass eine sozialistische Revolution – in Form des Dominoeffekts – erst die gesamte Region erfassen und schließlich die übrige Weltordnung destabilisieren würde. Diese Doktrin wurde schnell zu einem Teil des amerikanischen Selbstverständnisses und des nationalen Imaginären. Auch ihr liegt ein apokalyptisches Narrativ zu Grunde, das nicht nur
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der Legitimation von äußersten Maßnahmen diente, sondern auch die Ergreifung dieser Maßnahmen motivierte. Die Attraktivität des binären Ost-West-Weltbildes liegt unter anderem in der Struktur von politischen Diskursen, die über die Subsumierung vielfältiger Konflikte unter einen Hauptantagonismus eine hegemoniale Ordnung herstellen (1.3.2; 4.3.1). Auch der militärische Konflikt in Vietnam wurde vor diesem weltpolitischen Horizont gedeutet, statt ihn – wie Kritiker anmahnten – als antikolonialistischen und nationalistischen Befreiungskampf zu verstehen. Diese apokalyptische Erzählung kann auch zur Erklärung des amerikanischen Eingreifens in Vietnam herangezogen werden. Vietnam durfte nicht an die Kommunisten verloren gehen, da dies in letzter Konsequenz das Ende der freien Welt bedeutet hätte. Die Anwendbarkeit der Domino-Theorie und des binären KaltenKrieg-Schemas war durchaus problematisch, hatte doch der vietnamesische Kommunismus seine Wurzeln im Befreiungskampf gegen die französische Kolonialherrschaft – und gehörige Distanz zu Moskau und Peking. Dennoch ließ das vorherrschende Weltbild die Intervention in Vietnam als verständlich, ja zwingend erscheinen. Aber gerade diese anfängliche Einhelligkeit ließ die Offenheit und Ambiguität des Krieges im amerikanischen Gedächtnis noch stärker hervortreten: „The legacy of Vietnam is an unending topic. More than twenty-three years after the Fall of Saigon, Vietnam remains an „unfinished war,“ a conflict that has not found a settled place in the history of the United States. As Arnold R. Isaacs writes, the Vietnam War „lingers in the national memory, hovering over our politics, our culture, and our long unfinished debate over who we are and what we believe.“ (Neu 2000b: 1)
Der Vietnamkrieg ist ein umkämpfter Signifikant, ein ambigues Objekt im amerikanischen Diskurs, das seiner narrativen Schließung harrt. Als Leerstelle, die sich durch symbolische Unterbestimmtheit auszeichnet, suggeriert er etwas Reales, an dem sich der Diskurs abarbeitet, ist aber zugleich auch Einfallstor für die gesellschaftliche Imagination: Wie war es in Vietnam wirklich? Die Ambiguität des historischen Objektes, das ungreifbar Reale des traumatischen Ereignisses, kann nicht aufgehoben werden, ohne zugleich die Erzählung zu einem Ende und damit das Trauma zum Verschwinden zu bringen: „On many levels and in many different ways, the process of coming to terms with the Vietnam war continues to unfold“ (Neu 2000a: xi). Die öffentliche Debatte, die Populärkultur und die Wissenschaft sind gesellschaftliche Bereiche, in denen an der Fixierung und Öffnung der Bedeutung von „Vietnam“ gearbeitet wird. Unmengen an belletristischer und wissenschaftlicher Literatur, Spiel- und Dokumentarfilme ranken sich um den Vietnamkrieg. Wenige Jahre nach dem Krieg entbrannte in der amerikanischen Öffentlichkeit ein neuer Kampf um Vietnam, diesmal um die Deutungshoheit des Krieges, dessen Bedeutung nicht fixiert werden konnte (vgl. McMahon 2002). Dies zeigt unter anderem die Debatte um das Vietnam-Memorial in Washington (Wagner-
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Pacifici & Schwartz 1991; Neal 1998: 143f.). An Vietnam scheiden sich in Amerika nach wie vor die Geister. Und sie tun dies in einer symptomatischen Weise, die auch die Diskurse über den Irakkrieg von 2003 präfigurierte. Es lassen sich im amerikanischen Vietnamdiskurs drei konkurrierende Großerzählungen unterscheiden, denen jeweils eine bestimmte Form des kulturellen Traumas zu Grunde liegt. Der Vietnamkrieg stellt für die amerikanische Identität wohl das traumatischste Ereignis des 20. Jahrhunderts dar (Neal 1998: 129-146). Dies liegt unter anderem daran, dass die kollektiven Wunden von Pearl Harbor – trotz seiner „Wiederholung“ am 11. September 2001 (6.4) – durch den nationalen Triumph von Hiroshima nahezu ausgelöscht worden sind. Hingegen hat das kulturelle Trauma des Vietnamkrieges im Laufe der Zeit die von Giesen beschriebenen Phasen gesellschaftlicher Traumatisierung durchlaufen (2004a; 1.3.5). Dem traumatischen Ereignis folgte zunächst eine mehrjährige Latenzphase, die erst gegen Ende der siebziger Jahre einer manifesten Beschäftigung mit der Geschichte wich und sich in politischen Reden, wissenschaftlichen Arbeiten und popkulturellen Erzeugnissen äußerte: „The silence with which we greeted the veterans of that war was symptomatic of this collective repression of what we had made of ourselves. How, then, are we to account for the ways that „Vietnam“ has become today an unavoidable word in American culture?“ (Berg & Rowe 1991: 2). Dem respektvollen Schweigen, dem Zurückweichen vor dem Grauen, folgte die geschwätzige Trauerarbeit der Diskurse. Wie erklärt sich die nachhaltige Faszination, die Vietnam auf das amerikanische Publikum ausübt? Die Crux des Vietnamkrieges scheint darin zu bestehen, dass er die nationale Identität, den geteilten kulturellen Hintergrund der Vereinigten Staaten, gleich in dreifacher Weise in Frage stellt: „‚Vietnam‘ now refers primarily to our wounds of war. It is almost as if following a ‚respectful silence,‘ we have committed ourselves to the bittersweet work of mourning our loss: of war, our national innocence, the lives of our sons and daughters“ (Berg & Rowe 1991: 2). Der Bezug zur kollektiven Identität der Vereinigten Staaten wird hier durch die Verwendung der 1. Person Plural („we“ und „our“) deutlich gemacht. Die kollektive Erinnerung an Vietnam dient damit zuallererst der nationalen Selbstfindung der Amerikaner. Anhand des Zitates lassen sich zudem die drei konkurrierenden Großerzählungen des amerikanischen Traumadiskurses aufzeigen. Als traumatisierende Erfahrung wurde von der breiten Bevölkerung – vielleicht mit Ausnahme einiger Kriegsgegner – vor allem die militärische Niederlage der bis dato unbesiegbaren Hightech-Armee der Vereinigten Staaten wahrgenommen. Der Verlust der nationalen Unschuld (bzw. die Beschädigung des kollektiven Gewissens, wie Durkheim sagen würde) wurde vor allem von liberalen Kritikern als Reaktion auf die von amerikanischen Soldaten begangenen Gräueltaten konstatiert. Später fand auch die Trauer um die eigenen Opfer des Krieges einen Platz im kulturellen Gedächtnis Amerikas. Die Veteranen wurden auf eine dreifache Art und Weise Opfer des Krieges: Sie haben selbst unter dem Krieg gelitten, sie mussten als Sündenböcke für den verlo-
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renen Krieg herhalten und wurden wohl auch von manchen Kriegsgegnern pauschal der Kriegsverbrechen bezichtigt (vgl. Neal 1998: 140). Viele der Heimgekehrten litten unter einem „post-traumatic stress syndrome“ (kurz: PTSS) – ein Sammelbegriff für psychische Erkrankungen, die auf ein traumatisches Erleben zurückgeführt werden. Umgangssprachlich war vom „Vietnamsyndrom“ die Rede. Die Kriegserfahrung und das Leben der Veteranen nach ihrer Rückkehr wurden zum Gegenstand vieler amerikanischer Filme und Serien. Ein Großteil der Produktionen folgt dem Genre des „Noble Grunt“ (Aufderheide 1990). Diese Filme, für die Platoon (1986) beispielhaft ist, besitzen eine romantische oder tragische Erzählstruktur, wobei die filmische Darstellung der Realität des Krieges nicht einmal ansatzweise Rechnung trägt. So werden überwiegend Bodenkämpfe gezeigt und die wenig heroischen Bombardierungen ausgeblendet. Etwaige moralische Verfehlungen sind auf Einzelne zurechenbar und damit der kollektiven Schuld entzogen. Es gibt gute Soldaten, wie die Helden der jeweiligen Erzählung, aber auch böse Soldaten. Kritischer ist der Film Born on the Fourth of July (1989), der Tom Cruise in der Rolle des Veteranen Ron Kovic zeigt, der gelähmt und impotent aus dem Krieg heimkehrt und sich der Antikriegsbewegung anschließt. Schon der Titel des Filmes, der eben nicht nur auf Kovics Geburtstag, sondern auch auf den amerikanischen Nationalfeiertag verweist, muss als Aufforderung verstanden werden, den Film als Parabel auf die kollektive Identität der Vereinigten Staaten zu lesen. Das Schicksal des Protagonisten ist exemplarisch für das seiner Nation. Es dominiert eine tragische Deutung der Vietnamerfahrung, die das Opfertrauma des Veteranen mit dem nationalen Trauma des Scheiterns verschränkt: „The implied impotence of all American males, symbolized by Kovic, is presented in the film as the Vietnam War’s greatest tragedy“ (Sturken 2002: 111). Das Motiv der Entmannung ist nicht nur aus diversen mythischen und psychoanalytischen Traditionen bekannt, sondern findet sich auch auf den Abu-Ghraib-Bildern wieder (7.3.1). Es spielt ebenfalls in Stanley Kubricks Vietnamfilm Full Metal Jacket (1987) eine untergründige Rolle. So gibt es darin eine Szene, in der ein weiblicher vietnamesischer Scharfschütze gleich mehrere amerikanische Soldaten ausschaltet. Die Soldaten wie auch die Nation scheitern im Kampf gegen einen Feind, der ihnen eigentlich hoffnungslos unterlegen sein sollte. Die Demütigung durch eine Frau beraubt sie ihrer männlichen Potenz. Das „natürliche“ Symbol der Entmannung durch die Frau markiert hier den Übergang vom Trauma der Opfer zu einem Trauma des Scheiterns. Das wohl bedeutendste und einflussreichste Trauma des Vietnamkrieges resultierte aus der Wahrnehmung der amerikanischen Niederlage. Die militärische Supermacht unterlag dem vietnamesischen David – im einzigen Krieg, den Amerika bis dato verloren geben musste. Das brutale Faktum der Niederlage war unbestreitbar, selbst als das Trauma noch latent war und nicht ausgesprochen werden durfte: „Nothing else about Vietnam seemed to matter very much to Americans during the mid-1970s except the undeniable fact that we had lost the war“ (Berg & Rowe
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1991: 1). Nicht nur die Soldaten oder die Armee, sondern die Nation selbst hatte den Krieg verloren, was unter der Präsidentschaft von Jimmy Carter den isolationistischen Bestrebungen in der amerikanischen Politik wieder Auftrieb gab. Das Trauma von Vietnam wurde aber erst manifest, als der Präsidentschaftskandidat Ronald Reagan im Jahre 1980 in einer Wahlkampfrede auf dem Veteranentreffen in Chicago eine Abkehr vom kollektiven Trauma einforderte: „For too long, we have lived with the ‚Vietnam Syndrome‘“. Der Republikaner legte nahe, dass es neben den psychischen Erkrankungen der Veteranen auch ein „nationales Vietnamsyndrom“ gäbe, das sich durch ein mangelndes militärisches Selbstvertrauen und unangebrachte moralische Schuldgefühle auszeichne. Reagan versprach in seiner Rede, das beschädigte Selbstbild der Amerikaner und den Glauben an die historische Mission des amerikanischen Volkes wiederherzustellen („a shining city upon a hill“, vgl. 2.2.3). Er versicherte seinem Publikum, dass der Vietnamkrieg nicht nur einem hehren Ziel gedient hatte, sondern sogar gewonnen hätte werden können, wenn die Johnson- und die Nixon-Administration mehr Einsatzwillen gezeigt hätten. Reagans symbolische Wiederherstellung der Größe Amerikas war so überzeugend und verheißungsvoll, dass er zum 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. Aber erst sein Nachfolger, George Bush Senior, erklärte nach über zehn Jahren im Siegestaumel des Golfkriegs das nationale Vietnamsyndrom für beendet. Der Historiker George Herring sieht in der „illusion of American omnipotence“, die Teil des nationalen Selbstbildes und damit auch des kulturellen Hintergrundes sei (vgl. 2.2.3), den Grund für die schockierenden Erfahrung des Scheiterns in Vietnam. Sie stehe auch im Hintergrund des konservativen Geschichtsrevisionismus, der dogmatisch daran festhalte, dass der Vietnamkrieg zu gewinnen gewesen wäre: „When failure occurs it must be our fault, and we seek scapegoats in our midst: the poor judgment of our leaders, the media, the antiwar movement“ (1991: 111f.). Dadurch wird das Scheitern in ein tragisches Narrativ eingebettet, das es dem gescheiterten Helden erlaubt, sein positives Selbstbild zu wahren (Giesen 2004c: 6f.). Der kollektive Zorn des amerikanischen Volkes traf nicht nur die politischen Führer und die Antikriegsbewegung, sondern auch die heimkehrenden Veteranen, die einer doppelten Viktimisierung unterworfen wurden, da ihnen sowohl die Kriegsbefürworter als auch die Kriegsgegner Vorwürfe machten. 9 Auf Seite der Konservativen wurde dieses tragische Narrativ zu einer Art medialen „Dolchstoßlegende“ ausge9
Die Verachtung, die dem heimkehrenden Vietnamveteranen entgegenschlug, hat seinen popkulturellen Niederschlag in dem ersten Rambo-Film First Blood (1982) gefunden. Jerry Lembcke (2000), amerikanischer Soziologe und Vietnamveteran, hat den in konservativen Kreisen weitverbreiteten „Mythos“, dass Kriegsgegner Veteranen bespuckt hätten, heftig kritisiert. Ihm zufolge lassen sich für das sogenannte „spitting image“ kaum empirische Belege finden. Der Mythos ist wohl eher dem phantasmatischen Wunschdenken von Rechtskonservativen als der historischen Realität geschuldet.
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baut (Paul 2005b: 85), nach der erst die Berichterstattung der liberalen Medien die Antikriegsproteste angeheizt und so die siegreichen Truppen in Vietnam ihrer öffentlichen Unterstützung beraubt habe. Dieser „Mythos Vietnam“ wurde allerdings nicht nur von Konservativen gehegt und gepflegt; auch liberale Journalisten schrieben den Medien eine wesentliche Rolle bei der Beendigung des Krieges zu (vgl. Paul 2005b; Klein 2007). Noch Jahre später musste die relativ freie Berichterstattung über den Vietnamkrieg als Kontrastfolie für die eingeschränkte bzw. gelenkte Berichterstattung im Golfkrieg von 1991 und im Irakkrieg von 2003 herhalten. Als militärischer Wendepunkt im Vietnamkrieg wurde die sogenannte „TetOffensive“ der Nordvietnamesen im Jahr 1968 wahrgenommen. Obwohl sie von Amerikanern und Südvietnamesen erfolgreich abgewehrt werden konnte, entpuppte sich dies als Pyrrhussieg für die Amerikaner. Die konservativen Falken, wie z.B. der spätere Präsident George W. Bush, hielten an der Deutung fest, dass die TetOffensive mit einer Niederlage für die nordvietnamesische Armee endete. Dennoch folgte ein schrittweiser Rückzug aller Truppen aus Nordvietnam. Das Trauma des Scheiterns hatte zur Folge, dass die Vereinigten Staaten ihr militärisches Engagement in den nächsten Jahren zurückfuhren. Das Pendel der öffentlichen Meinung schwang wieder von der Unterstützung einer interventionistischen Politik zu einem politischen Isolationismus. Die erste größere militärische Intervention nach Vietnam, der Golfkrieg von 1991, kann vor dem Hintergrund des Scheiterns in Vietnam als Gelegenheit für eine Revanche gelesen werden: „Indeed, in many ways, the Persian Gulf War at times seemed for the military (and for the rest of American society) more about Vietnam than about Kuwait, oil, and Iraq. Those officers and noncoms who had experienced the agony of Vietnam saw the Gulf War as an opportunity for redemption“ (George 2000: 75). Der militärische Triumpf im Nahen Osten sollte die Amerikaner von dem Trauma des Scheiterns in Indochina erlösen. Das amerikanische Militär hatte derweil seine eigenen Lehren aus dem Vietnamkrieg gezogen. So wurde im Golfkrieg von 1991 nicht nur eine andere Militärstrategie verwendet, sondern erstmals auch eine aktive Bildpolitik betrieben (6.3.2). Dies bedeutete das Ende von Laissez-faire in Sachen amerikanischer Kriegsberichterstattung. Dies lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass Pressefotografien aus Vietnam zu Ikonen der Antikriegsbewegung wurden. 6.2.2 Das liberale Tätertrauma – My Lai In Kriegen wird organisierte Gewalt zur Erreichung von politischen Zielen angewendet. Wir haben bereits gesehen, dass Gewalt eine Eigenlogik besitzt, die sich ihrer instrumentellen Einhegung zu entziehen droht (3.1.2). Dies hat zur Folge, dass in liminalen Zeiten und Räumen, insbesondere im Krieg und in Kriegsgebieten, mit Gewaltexzessen und Gräueltaten gerechnet werden muss. Dies heißt nicht, dass Gewaltexzesse nicht auch absichtlich provoziert oder sogar geplant werden können.
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In fast allen kriegerischen Auseinandersetzungen gibt es aber nicht nur eine Grausamkeit des Kalküls, sondern auch die Grausamkeit der Gewalt um ihrer selbst willen. Die Erfahrung der Täterschaft führt nicht immer zu einem individuellen Trauma, wie auch die Gräueltaten der eigenen Soldaten nicht unbedingt zu einem kulturellen Trauma werden müssen – gerade wenn sie von dem Triumph über den Feind überschattet werden. So führte die exzessive Anwendung militärischer Gewalt im Zweiten Weltkrieg nicht zu einem kollektiven Trauma der Täterschaft bei den Alliierten. Und auch im Vietnamkrieg beschränkte sich das Tätertrauma auf den liberalen Diskurs und auf jene Minderheit in der Bevölkerung, die ihre amerikanische Identität durch die Gräueltaten ihrer Landsleute (und nicht so sehr durch die Niederlage oder die eigenen Verluste) beschädigt sahen. Ungeplante Exzesse wie das MyLai-Massaker konnten im hegemonialen Diskurs als individuelle Verfehlungen abgetan werden, die keiner kollektiven Verantwortung unterlagen, während der flächendeckende Einsatz von Napalm nicht als grausam wahrgenommen wurde, sondern als legitimes Mittel im Kampf gegen den Weltkommunismus galt. Das Trauma auf Seiten der amerikanischen Linken und der Bürgerrechtsbewegung resultierte nicht aus der militärischen Niederlage. Vielmehr wurde das amerikanische Selbstverständnis als Champion des Guten durch den Verlauf des Krieges in Frage gestellt (Neal 1998: 136-139). In dem Maße, wie der Auftrag, die südvietnamesische Demokratie zu schützen, im liberalen Diskurs an Plausibilität verlor, wurde der Krieg nach dem mythischen Vorbild von David und Goliath wahrgenommen. Aber neben den Sympathien, die dem kleinen Land bald in seinem Kampf gegen die Supermacht zukam (gerade in Amerika gilt: im Zweifel für den Underdog), spielten hier vor allem die amerikanischen Gräueltaten in Vietnam eine gewichtige Rolle, da sie die moralische Überlegenheit und das „Saubermann-Image“ Amerikas in Zweifel zogen. Der Kriegsschauplatz wurde zur Bühne grausamer Akte, welche das Selbstverständnis der amerikanischen Armee erschütterten und bis heute noch die Erinnerung an den Vietnamkrieg prägen. 10 Dieses Tätertrauma hat sich insbesondere in das amerikanisches Bildgedächtnis eingegraben. Die Ikonen des Krieges, beispielsweise das Foto von jenem schreienden, nackten Mädchen, das durch den Napalmangriff auf das Dorf Trang Bang starke Verbrennungen erlitten hatte, aber auch der Schnappschuss von der Erschießung eines Vietcongs durch den südvietnamesischen General Nguyen Loan, sind auch über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus bekannt geworden. Unter den Gräueltaten der amerikanischen Armee ragt das My-Lai-Massaker hervor, das seine Wirkung ebenfalls fotografischen Zeugnissen verdankt. Die Resonanz dieser Bilder – ähnlich wie im Fall der Holocaust-Fotografien – war weniger ihrer ikonischen Qualität als ihrer narrativen
10 Zur Berichterstattung im Vietnamkrieg siehe insbesondere die Arbeiten von Gerhard Paul (2005b) und Paul Knightley (1982: 342-400).
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Einbettung geschuldet. Dennoch erwiesen sich die Fotografien als visueller „Beweis“ für die Gräueltaten für die Skandalisierung von My Lai als unerlässlich. Am 6. März 1968 stürmte ein Trupp amerikanischer Soldaten unter der Führung von Lieutenant William L. Calley das vietnamesische Dorf My Lai und tötete innehrhalb weniger Stunden mehrere Hundert Zivilisten, hauptsächlich Frauen und Kinder.11 Unter allen bis heute bekanntgewordenen Gräueltaten der amerikanischen Armee in Vietnam ragt dieses Massaker hervor. Der Sozialpsychologe Harald Welzer (2005) erklärt das Zustandekommen des My-Lai-Massakers unter anderem über die Strukturierungsfunktion von Gewalt. Amerikanische Soldaten in Vietnam operierten oftmals in einer Grauzone, in der nicht klar zwischen Freund und Feind unterschieden werden konnte. Gewalt kann in solchen Situationen als Klassifikationstechnik zur Anwendung kommen und so den Umgang mit kognitiver Unsicherheit erleichtern: „Wenn jemand getötet wurde, dann war er Vietcong; Töten und Definieren ist hier dasselbe“ (Welzer 2005: 225). Dass der Strukturierungsfunktion von Gewalt im Vietnamkrieg besonders wichtig war, lag nicht nur an den generellen Schwierigkeiten eines Kriegs gegen eine Guerillaarmee, sondern auch an militärischen Institutionen wie dem „body count“. Dieser maß die Anzahl der getöteten Vietcongs und war vor allem nötig geworden, um den Erfolg und den Fortschritt im Krieg gegen den unsichtbaren Feind zu symbolisieren. In Kombination mit der militärischen Doktrin des „search and destroy“ und der Einrichtung von „Free Fire Zones“, führte dies zu Gewaltexzessen. So konnten die Amerikaner den „Krieg um die Herzen“ der vietnamesischen Bevölkerung nur schwer gewinnen. Die Armee unterzog den Vorfall in My Lai erst nach über einem Jahr einer internen Untersuchung. Davon erfuhr der damals 32-jährige Journalist Seymour Hersh. Es gelang ihm schließlich, den Anführer des Soldatentrupps und Hauptverantwortlichen für das Massaker, Lieutenant Calley, für ein Interview zu gewinnen. Am 13. November 1969 wurde Hershs Bericht über den Vorfall und die Untersuchungen in 36 Zeitungen im ganzen Land veröffentlicht. Das My-Lai-Massaker bekam in den folgenden Tagen viel internationale Aufmerksamkeit, allerdings stieß die Geschichte in den Vereinigten Staaten zunächst nur auf wenig Resonanz. Dies änderte sich erst mit der Veröffentlichung der Fotografien des Militärfotografen Ronald L. Haeberle. Trotz anfänglicher Zweifel an ihrer Authentizität und massiver Bedenken hinsichtlich ihrer unpatriotischen Wirkung wurden die Bilder von dem Magazin Life aufgekauft und weltweit publiziert. Das öffentliche Interesse erreichte 11 Es gibt unterschiedliche Angaben über die Opferzahlen. In seinem 1975 erstmals erschienenen Buch The First Casualty – der Titel spielt auf die Wahrheit als erstes Kriegsopfer an – spricht Knightley von 90-130 Opfern (1982), neuere Untersuchungen legen die Zahl der Toten auf 504 Vietnamesinnen und Vietnamesen fest. Unter den Toten waren nur drei junge Männer, der Rest bestand aus Frauen, Kindern und Alten. Außerdem wurden viele Frauen vor ihrer Ermordung vergewaltigt (vgl. Welzer 2005: 220f.).
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etwa drei Wochen nach der Veröffentlichung der Fotografien seinen Höhepunkt, als das Time Magazine wie auch die Newsweek das My-Lai-Massaker zu ihrem Titelthema machten. Das Time Magazine nannte die Vorfälle eine amerikanische Tragödie („an American tragedy“), die Newsweek sprach von einem schockierenden Einzelfall („A single incident in a brutal war shocks the American conscience“). In den amerikanischen Medien wurde My Lai zu einem Einzelfall stilisiert und als Tragödie gerahmt (vgl. Oliver 2006). Calles wurde als befehlshabender Offizier wegen Mordes an Zivilisten zu lebenslänglicher Haft verurteilt, aber tags darauf von Präsident Nixon zu einem Hausarrest begnadigt. Auch der demokratische Gouverneur und spätere Präsident, Jimmy Carter, äußerte seine Unzufriedenheit über die Verurteilung von Calley. Diese Übereinstimmung der Führer der beiden politischen Lager kam nicht von ungefähr – auch die amerikanische Bevölkerung stand mehrheitlich hinter Calley und äußerte sich in Meinungsumfragen überwiegend kritisch zu seiner Verurteilung. Dreieinhalb Jahre nach seiner Verurteilung war Calley wieder ein freier Mann. Trotz der medialen Skandalisierung des Massakers und der scharfen Angriffen auf Calley von Seiten der Presse gelang es dem öffentlichen Diskurs nicht, die kollektiven Emotionen gegen Calley zu mobilisieren (vgl. Oliver 2006: 89-99). Calley wurde als guter Soldat und tragischer Held gefeiert, der in einem schmutzigen Krieg unabsichtlich Schuld auf sich geladen hatte. Der Skandal um My Lai blieb unvollendet, weil sich die Empörung der Bevölkerung über den Normverstoß und den Übeltäter in Grenzen hielt. Als klar wurde, dass der öffentliche Diskurs kaum Rückhalt in der Bevölkerung besaß, passte sich dieser der Stimmung im Land an. Die strafrechtlichen und politischen Folgen der Skandalisierung fallen daher im Vergleich zum Abu-Ghraib-Skandal eher dürftig aus. My Lai wurde im hegemonialen Diskurs als individuelle und entschuldbare Verfehlung wahrgenommen. Aber es gab auch einen Gegendiskurs, welcher die Schuld auf Seiten der Regierung verortete und den systematischen Charakter des Vorfalls betonte. So beschuldigte die Mutter eines beteiligten Soldaten bei einem Fernsehauftritt die Armee und die Regierung, ihren Sohn verdorben zu haben: „I sent them a good boy and they made him a murderer“ (zitiert nach Knightley 1982: 361). Im Zuge der Skandalisierung wurde deutlich, dass es schon vor My Lai vergleichbare Vorfälle gegeben hatte, über die entweder nicht berichtet wurde oder deren Enthüllung kaum Aufmerksamkeit erregt hatte. My Lai war ein Stein des Anstoßes, der zwar keine Lawine der Entrüstung ins Rollen, aber dafür weitere moralischen Verfehlungen der amerikanischen Armee ans Tageslicht brachte. Warum wurde vor My Lai über diese Gräueltaten so wenig berichtet? Und warum bekamen die vereinzelten Berichte so wenig Aufmerksamkeit? Obwohl es im Vietnamkrieg offiziell keine Zensur gab, war der journalistische Diskurs von informellen Tabus durchzogen und durch spezifische Regeln der Sagbarkeit strukturiert. Erst My Lai, so die These von Phillip Knightley (1982: 362), hob diese Tabus und Sprechverbote über den Vietnamkrieg auf. Doch warum gelang dies gerade der
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Berichterstattung über My Lai? Ohne Zweifel war die Veröffentlichung der Bilder von entscheidender Bedeutung für das öffentliche Interesse an My Lai. Obwohl die Fotografien von Haeberle nicht den sozialen und formalen Kriterien von säkularen Ikonen genügten (vgl. 2.1.3), lieferten sie einen Beweis für die zivilen Opfer des amerikanischen Einsatzes in Vietnam, die das Weltbild vieler Amerikaner bedrohten. Außerdem konnten die Bilder und die Story von My Lai erst auf fruchtbaren Boden fallen, als die Zustimmung der Bevölkerung zum Vietnamkrieg, die seit 1965 kontinuierlich sank, stark genug gefallen war, um für die entsetzlichen Seiten dieses Krieges empfänglich zu sein. Als der amerikanische Sender CBS in einer im August 1965 gesendeten Dokumentation das Niederbrennen eines Dorfes durch amerikanische Flammenwerfer zeigte, in dem sich noch Frauen und Greise aufhielten, welche die Amerikaner um Schonung baten, wurde der Film von wütenden Zuschauern als kommunistische Propaganda verurteilt (Knightley 1982: 363f.). Das dominante soziale Imaginäre schützte damals noch phantasmatisch vor den Zumutungen der Realität des Krieges. Erst durch eine Verschiebung im kulturellen Hintergrund konnte es überhaupt zu einem traumatischen Schock kommen. Knightley zählt aber noch weitere Gründe für die Skandalisierung des My-LaiMassakers auf. Erstens wurde der Bericht von einem Reporter geschrieben, der nicht vor Ort war und sich gerade deswegen über den Vorfall empören konnte (Knightley 1982: 365).12 Kriegsreporter in Vietnam waren derartige Gräueltaten schlichtweg gewöhnt und maßen ihnen wohl keinen nennenswerten Informationswert bei. Zweitens, war der Zeitpunkt der Veröffentlichung günstig, da sich gerade die Stimmung im Land gegen den Krieg zu wenden begann. Das Jahr 1968 war ein herber Rückschlag für die Siegeshoffnung der Amerikaner. Anfang des Jahres schafften es die Vietcongs, die amerikanische Botschaft in Saigon zu erobern und 25 Tage besetzt zu halten. Die Tet-Offensive der Vietcongs entpuppte sich zwar als militärischer Fehlschlag, übertraf aber dennoch in ihrer Schlagkraft die schlimmsten Befürchtungen der amerikanischen Öffentlichkeit und erzielte alleine schon dadurch einen performativ-symbolischen Effekt. Die politisch-kulturelle Voraussetzung für den unbestreitbaren Erfolg der My-Lai-Story war ein Wechsel des narrativen Genres, der durch den ausbleibenden militärischen Erfolg eingeleitet wurde. Der apokalyptische Kampf gegen die kommunistische Vorherrschaft nahm im Folgenden eine tragische Wendung. Kritische Intellektuelle verurteilten die amerikanischen Soldaten als Täter und stilisierten die Vietnamesen zu Opfern und Helden (Smith 2005: 219-222). Die Fotografien von Haeberle waren für die Skandalisierung des My-Lai-Massakers, das diesen Genrewechsel begünstigte, unabdingbar. Erst die Bilder verschafften den Berichten und Vorwürfen die nötige Konkretheit und unmittelbare Evidenz. Damit gewannen sie eine große Bedeutung für die Op12 Ähnliches gilt für die Enthüllungen von Abu Ghraib, die von Joe Darby, einem Neuankömmling und Außenseiter, aufgedeckt wurden (8.1.1).
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position gegen den Vietnamkrieg (Sontag 2003: 90f.). Zu Ikonen des Vietnamkrieges wurden diese Bilder aber nicht. Dies mag zum Teil daran gelegen haben, dass diese Bilder nicht für sich selbst sprachen, sondern auf einen erläuternden Text angewiesen waren. Darüber hinaus waren die Bilder auch in formal-ästhetischer Hinsicht nicht besonders interessant. Die abgebildeten Leichenhaufen sind zwar erschreckend, aber zu eindeutig, um Raum für Imagination zu lassen, und damit auch ungeeignet für eine etwaige Ikonisierung (2.1.3). Die Fotografien von My Lai waren nicht selbstredend, sondern illustrierend – und daher auf eine narrative Ergänzung angewiesen. Die wahren Ikonen des Vietnamkrieges sprechen hingegen für sich selbst. Sie wurden nicht erst durch eine Geschichte interessant, sondern fordern den Betrachter dazu auf, selbst nach einer Geschichte zu suchen. Einen ikonischen Status erlangte die Fotografie des nackten, schreienden Mädchens von „Nick“ Ut, das auf der Titelseite der New York Times erschien und den Pulitzer-Preis gewann (vgl. auch Blum 2004). Das Bild stellt den Betrachter vor ein Rätsel: Warum ist das Mädchen ‒ im Gegensatz zu den anderen auf dem Bild zu sehenden Kinder ‒ nackt? Wovor fliehen die Kinder? Es verlangt nach einer Erzählung, um die syntagmatische Offenheit des Bildes zu schließen (2.1.3). Die Kinder flohen vor einem Napalm-Angriff und das Mädchen hatte sich die Kleider wegen des brennenden Napalms vom Leib reißen müssen. Die Nacktheit des Mädchens verweist nicht nur auf die verheerende Wirkung des Napalms, sondern unterstreicht auch die Unschuld und Hilflosigkeit des Opfers. Das Bild spielt darüber hinaus mit der Vorstellung, dass ein junges Mädchen im Krieg leicht Opfer sexueller Gewalt werden kann. Zudem greift es das Schlüsselmotiv von Edward Munchs Schrei auf (1893-1910). Der stumme Schrei des Mädchens lockt den Betrachter hinter die Oberfläche des Bildes, weist aber gleichzeitig über dessen visuelle Textur hinaus und regt dadurch die Vorstellungskraft des Rezipienten an. Angesichts dieser symbolischen Überbesetzung ist es kein Wunder, das diese Fotografie zu einem Sinnbild für unschuldiges Leiden geworden ist. Eine andere Ikone des Vietnamkriegs, Eddie Addams Foto von der Erschießung eines mutmaßlichen Vietcongs durch einen südvietnamesischen General, ist ein klassischer Schnappschuss und „about-todie image“.13 Der Abzug der Pistole ist gedrückt, der Kopf des Opfers scheint schon dem Druck des Schalls oder des Projektils nachzugeben ‒ aber noch steht es, in einer seltsamen Zwischenlage, zwischen Tod und Leben. Diesem ästhetischexistenziellen Aspekt verdankt das Bild wohl seine außerordentliche Popularität. Ikonographisch knüpft das Bild an Robert Capas berühmte Fotografie aus dem spanischen Bürgerkrieg an, deren Authentizität allerdings umstritten ist.
13 Barbie Zelizer (2005: 33) vertritt die These, dass zeitgenössische Massenmedien „aboutto-die“-Fotos den Fotografien von Toten vorzögen, was dazu führe, dass sich der Betrachter mit dem Opfer identifiziere, was wiederum spezifische Emotionen auslöse.
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6.3 ABU G HRAIB UND DER G OLFKRIEG
VON
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A building or a place is not evil. The men who run it make it evil. Abu Ghraib was supposed to be a modern, progressive institution.14 ABDUL KAREEM HANI, ERBAUER UND SPÄTER INSASSE DES ABU-GHRAIB-GEFÄNGNISSES
Gebäude und Plätze sind nie an sich gut oder böse. Dem ersten Teil der Aussage des Erbauers des Abu-Ghraib-Gefängnisses lässt sich nicht nur vor dem Hintergrund eines aufgeklärten Moralverständnisses zustimmen, sondern gerade auch aus einer diskursanalytischen oder kultursoziologischen Perspektive. Allerdings gehen dieser lebensweltliche Commonsense und die kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise in der Bewertung der zweiten Behauptung von Hani, nämlich dass es die Betreiber des Gefängnisses seien, die für den sakralen und moralischen Status des Gebäudes ausschlaggebend sind, auseinander. Für eine Kultursoziologie gibt es keine an sich guten oder schlechten Handlungen (3.1). Die Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“ bzw. „heilig“ oder „dämonisch“ ist zwar ein universelles Klassifikationsschema, unterliegt in ihrer Anwendung jedoch starken kulturellen Variationen. Die Veränderung und Festschreibung der Bedeutung von „Gut“ und „Böse“ findet in öffentlichen Diskursen statt (4.3). Was hinter den Toren des Gefängnisses wirklich geschah, besitzt zunächst keine gesellschaftliche Relevanz, sondern gewinnt diese nur als Repräsentation in der Öffentlichkeit. Das folgende Kapitel beschäftigt sich vor allem mit frühen Darstellungen des Abu-GhraibGefängnisses in westlichen Medien, um dann zur Analyse der Rahmung des Golfkrieges von 1991 überzugehen (6.3.2). Zunächst sollen aber die Grundzüge einer „sakralen“ Raumsoziologie diskutiert werden, wie sie Philip Smith (1999) seiner Untersuchung der Transformation der Bastille zu Grunde gelegt hat. 6.3.1 Zur Sakralsoziologie des Raumes – Das Gefängnis In seinem religions- und kultursoziologischen Spätwerk hat Émile Durkheim die qualitative Bestimmtheit von Räumen in archaischen Religionen herausgearbeitet. Eine solche Perspektive bricht fundamental mit der klassischen wissenschaftlichen Vorstellung vom Raum als quantitativ-gleichförmigen Phänomen (2005/1912). Die Unterscheidung zwischen „heiligen“ und „profanen“ Räumen ist allerdings kein Charakteristikum archaischer Gesellschaften, sondern bestimmt auch die Raumwahrnehmung in modernen Gesellschaften. Dies zeigt nicht nur die Thematisierung
14 „Shedding Light On a Symbol Of Iraqi Terror; Ex-Prisoners Describe Horrors, Call for Justice“, The Washington Post, 6. Oktober 2003.
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von Orten wie Pearl Harbor oder Ausschwitz in Erinnerungsdiskursen, sondern auch das Verhalten und Handeln an diesen Orten. So legen wir beispielsweise auf einem Friedhof ein anderes Verhalten an den Tag als in einer Fußgängerzone. Auch das touristische Verhalten gegenüber Sehenswürdigkeiten zeugt von einer sakralen Qualität von bestimmten Plätzen und Gebäuden (vgl. Giesen 2010: 199-210). In gleicher Weise wirkt sich die unmittelbare Nähe zu einem Gefängnis eher negativ auf den Wert einer Immobilie aus. Dies kann nur schwerlich auf rationale Sicherheitserwägungen zurückgeführt werden, sondern ist durch die symbolische „Verschmutzung“ eines solchen Ortes zu erklären. Das Abu-Ghraib-Gefängnis ist ein Paradebeispiel für die sakrale bzw. dämonische Qualität von Orten (6.3.2), aber auch für die Schwierigkeit ihrer diskursiven Neubesetzung (6.5). Im Anschluss an Durkheim und Eliade unterscheidet Smith zwischen vier elementaren Formen des Raumes –„heilige“, „unheilige“, „profane“ und „liminale“ Orte (1999: 16-22).15 Heilige Orte verkörpern die kollektive Identität und die Werte einer Gesellschaft, unheilige Orte ihr Gegenteil. Zwischen dem Heiligen und dem Unheiligen, beides Erscheinungen des Außerordentlichen, sind Übergänge und Wechsel leichter möglich als zum Profanen. Nicht zuletzt „Pearl Harbor“ und „Ground Zero“ haben gezeigt, wie Orte traumatischer Ereignisse zu positiven Gedenkstätten umgedeutet werden können. Während das Verhalten an sakralen und profanen Orten durch Normen reglementiert und reguliert wird, werden diese Regeln an liminalen Orten außer Kraft gesetzt. Als Beispiel eines liminalen Ortes führt Smith (1999: 21) das Kalifornien der sechziger und siebziger Jahr an – ein Mekka der experimentierfreudigen „counter culture“. Es wäre allerdings angemessener, auf das „Liminale“ als eigenständigem Typus zu verzichten, da Turner (2005) diesen Begriff vornehmlich zur Charakterisierung des Heiligen und Kollektiven verwendet. Turners Begriff des „Liminoiden“ (2009: 28-94), der auf das Individuelle und Spielerische abstellt, eignet sich sehr viel besser zur Charakterisierung jenes „liminalen“ Typus von Raum, den Smith auch in seiner Fallstudie über den place de la bastille verwendet (1999: 22-33). Während der Französischen Revolution wurde die Bastille zu einem Symbol für das Ancien Régime und nach dessen Sturz geschleift. Daraufhin wurde der Platz zu einem heiligen Erinnerungsort der Republik, der sich 15 Im Original handelt es sich um „sacred“, „profane“, „mundane“ und „liminal spaces“. Smith (1999: 21) kritisiert nämlich an Durkheim, dass er die neutrale Kategorie des „Alltäglichen“ („mundane“) vernachlässigt habe. Stattdessen fasst Smith „profane“ als Kategorie des negativen Heiligen auf. Diese Kritik an Durkheim beruht allerdings auf einem Missverständnis, das womöglich der englischen Bedeutung des Begriffes „profane“ geschuldet ist, die sehr viel stärker das Unheilige akzentuiert, als dies im Deutschen oder Französischen der Fall ist. Das Profane bei Durkheim steht in der Tat für das Alltägliche, während das „Profane“ im Sinne von Smith in den Formen des religiösen Lebens als „unreines Heiliges“ diskutiert wird (Durkheim 2005/1912: 548-555; vgl. auch Hertz 2007).
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allerdings – von liminalen (besser: liminoiden) Phasen unterbrochen – einem fortschreitenden Prozess der Veralltäglichung nicht entziehen konnte. Für die folgende Untersuchung ist von Bedeutung, dass die Bastille – die noch kein modernes Gefängnis, sondern eher ein Kerker war – zu einem negativen Symbol des repressiven Souveräns wurde. Folgt man Foucault (2003), so hat die moderne Disziplinarmacht, die sich unter anderem in Gefängnissen manifestiert, die Macht des Souveräns abgelöst. An die Stelle ritueller Marter im Namen des Königs trat der medizinisch-pädagogische Diskurs der Disziplinierung. Foucaults Geschichte des Strafens folgt dem Weberschen Narrativ der „Entzauberung“, indem sie einen Übergang von der sakralen Autorität des Fürsten zu einem technisierten und verwissenschaftlichten Strafvollzug skizziert. Allerdings lässt sich das Gefängnis nicht ausschließlich als entzauberter Ort begreifen, an dem eine unpersönliche Disziplinarmacht über austauschbare Menschen verfügt. Aus einer kultursoziologischen Perspektive umschließt ein Gefängnis symbolisch „befleckte“ Gefangene, die durch hohe Mauern von der profanen Außenwelt getrennt werden. Mag kriminelles Handeln im medizinisch-pädagogischen Diskurs als profane und therapierbare Pathologie bestimmt werden, in der populären Imagination hat sich der Straftäter gegenüber dem Kollektiv versündigt und hat dafür zu büßen. Der „unreine“ Häftling wird für eine gewisse Zeit aus der gesellschaftlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Insofern die Rechtsprechung im Namen des Volkes oder des Herrschers geschieht, repräsentiert das Gefängnis das Kollektiv bzw. den Souverän. Unter bestimmten Umständen – vor allem wenn es um politische Gefangene geht – kann der Verweis auf die staatliche Souveränität überhand nehmen. Allerdings kann die Staatsmacht auch als willkürlich und repressiv gerahmt werden, was die Häftlinge zu unschuldigen Opfern oder idealistischen Märtyrern werden lässt. 16 Als Manifestation des Außerordentlichen und Heiligen ist Souveränität immer ambivalent. Auch das Gefangenenlager in Guantanamo auf Kuba wurde nach dem Abu-GhraibSkandal zu einem umstrittenen Symbol der amerikanischen Souveränität im Krieg gegen den Terror. Das Gefängnis ist ein Ort, an dem sich Staatsmacht verdichtet und sichtbar wird. In den öffentlichen Diskursen können Manifestationen der Staatsmacht entweder als legitim gerahmt werden oder repressive Züge annehmen. Findet eine symbolische Verunreinigung der Haftanstalt statt, führt dies zu einem Legitimitätsverlust. Eine symbolische Transformation kann sowohl durch romantische und tragische Narrative als auch durch ironische und satirische Erzählformen erreicht werden (2.2.1). So verweist Smith in einer neueren Studie auf den Topos des „Country Club Prison“, der das moderne Gefängnis als eine Farce zeichnet, wo es sich Gefangene auf Kosten der Allgemeinheit gut gehen lassen (2008: 85f.). 16 So der Fall des Stammheim-Gefängnisses, in dem viele RAF-Mitglieder ihre Strafe zum Teil in „Isolationshaft“ absitzen mussten. Für Sympathisanten der RAF wurde diese Vollzugsanstalt zu einem Symbol des „repressiven“ westdeutschen Staates.
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6.3.2 Das Abu-Ghraib-Gefängnis und der Golfkrieg Ein Blick in die Medienlandschaft der achtziger Jahre zeigt, dass das Abu-GhraibGefängnis in Großbritannien zuerst zu einem Symbol des Schreckens wurde. In der westlichen Presse wurde „Abu Ghraib“ zunächst als Name eines Vororts von Bagdad bekannt, der Anfang der achtziger Jahre wegen mehrerer Infrastrukturprojekte unter Beteiligung von britischen Firmen, aber dann vor allem wegen der Zahlungsschwierigkeiten auf irakischer Seite in die britischen Schlagzeilen geriet. Das AbuGhraib-Gefängnis hingegen wurde erst ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre – und ebenfalls zunächst nur in britischen Zeitungen – thematisiert. Mehrere britische Staatsangehörige wurden dort wegen des Verdachts auf Beamtenbestechung (im Rahmen der erwähnten Infrastrukturprojekte) festgehalten. In den Artikeln werden die Bestechungsvorwürfe nicht bestritten, allerdings wird ein Zusammenhang zwischen den Verhaftungen im Irak und der Verurteilung des Attentäters des früheren irakischen Premierministers durch britische Gerichte gesehen. Der Verhaftung und Inhaftierung britischer Staatsbürger wurde damit eine politische Rahmung gegeben. Schon damals stand das Abu-Ghraib-Gefängnis in einem zweifelhaften Ruf: „Still in the notorious Abu Ghraib prison outside Baghdad is Ian Richter, 43, who was arrested in June 1986, given a 45-minute trial before a revolutionary court in February 1987, and sentenced to life imprisonment on a charge of bribing officials“.17 Gegen Ende der achtziger Jahre begann dann die britische Presse im Rahmen der Berichterstattung über die eigenen inhaftierten Staatsbürger auch über irakische Übergriffe auf die kurdische Bevölkerung („genocide“), Folterkammern („torture chambers“) und Erschießungskommandos („firing squads“) im Abu-GhraibGefängnis zu berichten.18 Neben der Inhaftierung und Ermordung von politischen Gefangenen wurde auch die Verhaftung und Misshandlung von Angehörigen angeprangert, zumal auch Amnesty International über die Erschießung von Kindern im Abu-Ghraib-Gefängnis berichtet hatte.19 Es fällt auf, dass in der amerikanischen Presse das humanitäre Problem im Irak weitgehend ignoriert wurde. In dem hier untersuchten Sample fand sich − für die achtziger Jahre − kein amerikanischer Artikel, in dem „Abu Ghraib“ auch nur erwähnt wurde. Dies lag daran, dass der Irak in den Vereinigten Staaten als progressives Regime und als natürlicher Verbündeter gegen den Iran wahrgenommen wurde (vgl. Smith 2005: 101-104). Dies änderte sich erst mit der Invasion Kuwaits durch den Irak im August 1990. Bei der amerikanischen Entscheidung, im Irak zu intervenieren, spielten sicherlich auch geopolitische Erwägungen eine Rolle. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der bipolaren Weltordnung galt es, die militärische Vormachtstellung der Ver-
17 „British ‚tact’ fails to work on Iraqis“, The Independent (London), 14. Februar 1989. 18 „Who can stop the tyrants?“, Herald, 20. September 1988. 19 „Stop abuse of children, Iraqis urged“, The Globe and Mail (Canada), 1. März 1989.
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einigten Staaten auszubauen. Dies war nur schwer möglich, solange die Amerikaner unter der Niederlage in Vietnam litten. Eine erfolgreiche Intervention bot nicht nur die Möglichkeit, auf die Machtverhältnisse im Nahen Osten Einfluss zu nehmen, sondern auch das militärische Selbstbewusstsein der Amerikaner zu stärken. Eine rationale Erklärung der Kriegsvorbereitungen im narrativen Modus des „lowmimesis“ (2.2.1) – nach dem Muster „Blut für Öl“ – wurde hingegen von Kriegsgegnern bemüht. Aber auch in den Politikwissenschaften dominierte eine „realpolitische“ Erklärung des Golfkrieges (z.B. Münkler 2003: 29-94). So berechtigt die Spekulation über die „tatsächlichen Kriegsgründe und Motive“ auch sein mag, möglich wurde der militärische Eingriff erst durch kulturelle Narrative, die in der Öffentlichkeit auf Resonanz stießen. In modernen liberalen Demokratien kann der Kampf um die öffentliche Meinung nicht mit Hilfe nüchterner Interessenabwägungen gewonnen werden, sondern nur durch eine emotionale Argumentation, die sich der mächtigen Symbole des zivilgesellschaftlichen Diskurses zu bedienen weiß. Im Zuge der symbolischen Mobilmachung im Vorfeld des Krieges wurde Saddam Hussein in den amerikanischen Diskursen als machtgieriger Diktator dargestellt und seine Invasion Kuwaits mit Hitlers Einmarsch in Polen verglichen. Im Hintergrund dieses Vergleichs stand das Versagen der Appeasement-Politik der Alliierten an der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg. Damit war der Boden für eine apokalyptische Deutung des Konfliktes bereitet. So galt es nunmehr, einen größenwahnsinnigen Diktator zu stoppen, bevor dieser die Region und damit die ganze Welt destabilisieren konnte. Es waren zunächst wieder britische Zeitungen, die Saddam Hussein beschuldigten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, und den Vergleich mit den Gräueln der Naziherrschaft heraufbeschworen: „Let me deal here with the related accusation: that Saddam Hussein committed crimes against humanity. We will, if required, call before this tribunal a pitiful array of Kurdish men and women who will describe the horrors of Halabja and other towns where invisible and deadly gases struck down fathers fleeing with their sons in their arms, mothers suckling their babies; we will detail the tens of thousands forced to abandon their homes; and we will give you the long list of those who believed it when Saddam Hussein offered an amnesty, and returned to Iraq. Those we cannot produce. They are dead, murdered by the dictatorial regime Saddam Hussein built around himself.“20
Diese drastische Schilderung der Vorfälle im Irak macht deutlich, wie die Vorstellungskraft in öffentlichen Diskursen als Waffe eingesetzt werden kann. Nicht bloß Menschen, sondern Väter, Söhne und Mütter fielen der unsichtbaren Bedrohung zum Opfer. Die Giftgasangriffe, die auf Befehl Saddam Husseins im August und September 1988 gegen die kurdische Minderheit im Irak durchgeführt wurden, 20 „The trial of Saddam Hussein“, The Independent, 21. Oktober 1990.
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stellten einen direkten Bezug zum Holocaust und der Verwendung von Giftgas in den Konzentrationslagern her. Im Jahr der Angriffe wurde die Richtigkeit und Authentizität der Berichte von kurdischen Überlebenden und Flüchtlingen von der amerikanische Presse noch angezweifelt (Smith 2005: 103). Erst mit der Invasion Kuwaits gewann der Giftgasangriff auf die Kurden in der amerikanischen Öffentlichkeit rückwirkend an Plausibilität. Das gegen Zivilisten eingesetzte Giftgas und der kriegerische Überfall auf den kleineren Nachbarn verdichteten sich im Diskurs zu einem Symbol, das den Vergleich mit Hitlerdeutschland geradezu herausforderte und seine diskursive Wirksamkeit steigerte. Nicht nur Hussein wurde durch den Vergleich mit Hitler zu einem Symbol des radikalen Bösen, auch das Abu-GhraibGefängnis wird in dem Artikel als repressives Instrument eines Diktators gerahmt: We will produce for you those found by the Allied forces in the prison of Abu Ghraib: those who have tongues will tell you of what went on there; some do not. Those who can see will describe the daily executions, the beatings, the electric shocks; some can no longer see. They will tell of the „crimes“ for which they were committed to this awful place: a whispered comment about the excesses of Saddam Hussein’s son Uday, who will later face a charge of murder; a joke about the men who ran the Ba’ath party as an instrument of terror and a source of wealth; a curse at the mention of the dictator’s name. 21
Die Charakterisierung von Saddam Hussein als blutrünstiger Diktator begann zwar in Großbritannien, griff aber bald auf die Vereinigten Staaten und den Rest der liberalen westlichen Welt über, die sich in Abgrenzung zur irakischen Diktatur positionierten.22 Der zivilgesellschaftliche Diskurs basiert auch hier auf einer binären Struktur (4.3.1), die historische und zeitgenössische Oppositionen zu Äquivalenzketten aneinanderreiht: Konzentrationslager, Gulags und Abu Ghraib verweisen in diesem symbolischen System ebenso aufeinander wie Hitler, Stalin und Hussein. So ist zu lesen, dass Saddam Hussein ein großer Bewunderer von Stalin sei und seine Folterknechte ihr Handwerk bei der rumänischen Securitate gelernt hätten.23 Die öffentliche Mobilmachung für den Golfkrieg spinnt ein Netz von Bedeutungen, in dem Saddam Hussein, das irakische Regime und das Gefängnis von Abu Ghraib mit negativ besetzten Symbolen verwoben und so affektiv aufgeladen werden. 24 Für die Legitimierung des Krieges spielten auch – teils sorgfältig orchestrierte – Performanzen eine große Rolle. Insbesondere die Anhörung der 15-jährigen 21 „The trial of Saddam Hussein“ 22 Zur „Hitler narrative“ von Saddam Hussein in der amerikanischen Öffentlichkeit vergleiche die detaillierten Ausführungen von Philip Smith (2005: 105-109). 23 „Prison city where torture is common“, The Times, 22. August 1992. 24 Eine Analyse des Golfkriegsdiskurses in der deutschsprachigen Presse unter Berücksichtigung des „Hitler“-Motivs findet sich bei Stefan Schnallenberger (1999).
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Nayirah as-Sabah, die am 10. Oktober 1990 auf ABC von etwa 53 Millionen Amerikanern gesehen wurde (Kunczik 2007: 25), ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Sie berichtete unter Tränen, dass irakische Soldaten in einem kuwaitischen Krankenhaus Säuglinge aus den Brutkästen gerissen und auf den Boden geschmissen hätten – die auf den ersten Blick authentische Performanz einer „Zeugin“ war möglicherweise kriegsentscheidend, wobei gegenüber der Person und dem Wahrheitsgehalt ihrer Aussage nach dem Krieg große Zweifel laut wurden. 25 Philip Smith hat in seiner kultursoziologischen Analyse des Golfkrieges von 1991 gezeigt (2005: 99-153), dass der amerikanische Diskurs in kürzester Zeit den irakischen Herrscher Saddam Hussein von einem antikolonialistischen Volkshelden in einen verbrecherischen Diktator verwandelte. Der Angriff auf die staatliche Souveränität von Kuwait stellte eine Analogie zum Einmarsch deutscher Truppen in Polen dar, und Hussein wurde zu einem neuen Hitler, zu einem größenwahnsinnigen Tyrannen, der um jeden Preis gestoppt werden musste. Nach dem erfolgreichen Kriegseinsatz erklärte der amtierende Präsident George H. Bush, Vater des späteren Präsidenten George W. Bush, am 1. März 1991 das nationale Trauma des Scheiterns für überwunden: „The Vietnam syndrome is over“. Der Triumph der amerikanischen Armee (und ihrer Verbündeten) stieß jedoch nur auf eine begrenzte Resonanz in der amerikanischen Bevölkerung, was sich nicht zuletzt darin zeigte, dass Bush Senior aus seinem militärischen Triumph kein politisches Kapital schlagen konnte. Zur Erklärung dieses Befundes lassen sich mehrere Gründe anführen. Erstens wurde der militärische Triumph der Amerikaner von der wirtschaftlichen Schwäche der Vereinigten Staaten überschattet. Bill Clinton konnte trotz des militärischen Triumphes seines Konkurrenten mit dem griffigen Slogan „It’s the economy stupid“ diesem die Gunst der amerikanischen Wähler abspenstig machen. Zweitens lässt sich mit Smith (2005: 121-124) argumentieren, dass der tragische Misserfolg von George Bush Senior an einer „genre inflation“ gelegen habe: In dem Maße, wie Saddam Hussein zu einer absoluten Personifikation des Bösen stilisiert wurde, war es moralisch unvertretbar, sich an das begrenzte UNMandat, das nur die Befreiung von Kuwait gestattete, zu halten. Das Ziel des Militärschlags konnte eigentlich nur noch der Sturz von Saddam Hussein und die Befreiung des irakischen Volkes sein. Es wäre eine „genre deflation“ vonnöten gewesen, um die hochgeschraubten Erwartungen der amerikanischen Öffentlichkeit der
25 So deckte die New York Times im Januar 1992 auf, dass es sich bei dem jungen Mädchen nicht um eine Krankenschwester, sondern um die Tochter des Kuwaitischen Botschafters gehandelt habe, die zum Zeitpunkt der Invasion nicht einmal im Land war. Michael Kunczik (2007: 25f.) geht in einer Arbeit über Public Relations in Kriegszeiten sowohl auf den Einfluss dieser Performanz als auch auf die Rolle der PR-Firma Hill and Knowlton bei der Vorbereitung dieser Performanz ein (vgl. auch MacArthur 1993: 65-82).
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Resolution des UN-Sicherheitsrates anzupassen. Den unvollendeten Krieg des Vaters wird zwölf Jahre später sein Sohn zu Ende zu bringen versuchen. Dass der militärische Triumph am Golf nicht die ganz großen kollektiven Gefühle wecken konnte, lag auch an der neuen Bildpolitik der Amerikaner, die eine Konsequenz aus den Erfahrungen des Vietnamkrieges darstellte (Paul 2007: 114120). Der High-Tech-Krieg wurde ausschließlich mit Luftstreitkräften und Raketen bestritten. Die militärischen Operationen wurden für das Fernsehen als „chirurgische Eingriffe“ inszeniert (vgl. auch Virilio 1993). Die Bilder des Golfkrieges zeigten ein Feuerwerk am Bagdader Himmel, den Abschuss von Marschflugkörpern und den Anflug ferngesteuerter Raketen aus deren Kameraperspektive. In den Bildern steckte zu wenig Heroismus, als dass der militärische Triumph die Wiederwahl von Georg Bush Senior hätte sichern können. Daraus zogen das amerikanische Militär eine wichtige Lehre: Anlässlich des Irakkrieges von 2003 fand abermals eine ikonische Wende in der amerikanischen Bildpolitik statt, die auf eine ReHeroisierung des Kampfgeschehens abzielte (Bredekamp 2005; Paul 2007).
6.4 „9/11“
UND DER
K RIEG
GEGEN DEN
T ERROR
America and its allies are waging today a war against terrorism. This is said to be necessary and rational, a means to attain the end of safety. Is the war against terrorism only this, or even primarily this? No for it rests on fantasy as much as on facts. JEFFREY C. ALEXANDER (2003A: 3)
Der 11. September 2001 stellt nicht nur eine welthistorische Zäsur dar, sondern bildet auch den Auftakt zum Krieg gegen den Terror, dessen heiße Phase wohl mit dem Crash der Lehman Brothers im September 2008, spätestens aber mit der Tötung von Osama bin Laden im Mai 2011 ein Ende fand. Der 44. Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Hussein Obama, strich bei seinem Amtsantritt im Januar 2009 die Bezeichnung „Global War on Terrorism“ aus dem offiziellen Sprachgebrauch der amerikanischen Regierung. An seine Stelle trat eine neue Großerzählung, die „globale Finanzkrise“, in der individuelle, institutionelle und nationale Akteure, sei es als notorische Spekulanten oder unmoralische Gläubiger, sei es als unschuldige Opfer oder heroische Retter, neue Rollen spielten. Die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib, die sich an ihre Enthüllung anschließenden Diskurse und die mannigfaltigen Konsequenzen des Skandals lassen sich nur vor dem Hintergrund des Krieges gegen den Terror verstehen und erklären. Dieser Untersuchung liegt die These zu Grunde, dass der Abu-Ghraib-Skandal den eigentlichen Wendepunkt, den
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Anfang vom Ende des Krieges gegen den Terror, markiert. Aus diesem Grund ist es notwendig, auf den 11. September und seine Folgen einzugehen. Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen der politische und rechtliche „Ausnahmezustand“, die Folterdebatte und die amerikanische Populärkultur (6.4.2). Die Bedeutung des 11. Septembers lässt sich nicht aus vermeintlich „objektiven“ oder „harten“ Fakten herleiten (vgl. Smith 2005: 160f.). Der Angriff auf das World Trade Center muss vielmehr als Medienereignis und terroristische Performanz verstanden werden, deren Erfolg im Wesentlichen von der Produktion von Fernsehbildern bzw. von der Resonanz des amerikanischen und auch globalen Publikum abhing (so Alexander 2004). Man hätte ihn prinzipiell auch als kriminellen Akt einstufen können, dem bedauerlicherweise circa dreitausend Menschen zum Opfer gefallen waren und der Sachschäden in Milliardenhöhe zur Folge hatte. Das wäre eine profane Sichtweise auf die Anschläge gewesen – gemäß dem narrativen Modus, den Smith als „low mimesis“ bezeichnet (2005: 23f.; 2.2.1). Nichtsdestotrotz wäre eine solche Rahmung in hohem Grade unwahrscheinlich gewesen, da Manhattan und das World Trade Center als Symbole einer westlich dominierten Weltordnung und amerikanischen Hegemonie galten. Ohne Zweifel stellt New York als größte amerikanische Stadt, als Tor zu den Vereinigten Staaten und als Sitz der Vereinten Nationen ein „heiliges Zentrum“ (vgl. Shils 1975) der amerikanischen Gesellschaft und der westlich geprägten Weltgesellschaft dar. Der terroristische Gewaltakt wurde nicht nur als vorsätzlicher Mord an Tausenden von Unschuldigen, sondern auch als Angriff auf die amerikanische Nation und die freie Welt interpretiert und entfesselte dementsprechend gewaltige symbolische Energien. Die symbolische Sprengkraft und mediale Aufmerksamkeit, die dem Anschlag zukamen, wurde von den Terroristen antizipiert. Wir wollen hier nicht so weit gehen wie Richard Schechner (2009), der den Anschlag als „avantgardistische Kunst“ zu deuten versuchte. Unbestreitbar scheint jedoch, dass der 11. September als performativer Akt verstanden werden muss (Alexander 2004): Die Terroristen inszenierten ein Gewaltspektakel für ein globales Publikum.26 Der performative Charakter von terroristischen Anschlägen, ihre öffentliche Sichtbarkeit, die auf ihre Vorbereitung und Durchführung im Geheimen folgt, muss als konstitutives Merkmal des modernen Terrorismus angesehen werden (Giesen 2010: 211-219). Der 11. September war für die amerikanische Öffentlichkeit ein Schock. Er stellte viele Hintergrundannahmen des globalen Imaginären in Frage, unter anderem die Unverwund26 Schechner hat vermutlich Recht, dass der Zeitpunkt des Anschlags und der Abstand zwischen den Einschlägen weder zufällig war, noch gewählt wurde, um möglichst viele Menschen zu töten, sondern das Publikum der terroristischen Performanz maximieren sollte (2009: 1824). Der Anschlag erfolgte zu Beginn des news cycle in den USA, während der Abstand zwischen den Einschlägen kurz genug war, um Abwehrmaßnahmen zu vereiteln, aber lang genug, um eine Live-Übertragung des zweiten Einschlags zu zeigen.
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barkeit der Vereinigten Staaten als globaler Supermacht, die Sicherheit von Bürgern in liberalen Demokratien und die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks nicht ganz unberechtigte Hoffnung auf ein „Ende der Geschichte“ (z.B. bei Fukuyama 1992).27 Allerdings wich der anfängliche Schock bald Demonstrationen nationaler und internationaler Solidarität (Alexander 2004; Tiryakian 2005). Eine wichtige Vorlage für die amerikanische Wahrnehmung des 11. September 2001 stellt der legendäre Angriff auf Pearl Harbor dar, der zum Kriegseintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg führte (6.1.1). Trotz des endgültigen militärischen und moralischen Triumphes im Zweiten Weltkrieg blieb der erste Militärschlag einer feindlichen Macht gegen die eigenen Streitkräfte auf amerikanischem Territorium als traumatisches Ereignis in kollektiver Erinnerung. Die Ereignisse des 11. Septembers erschienen als „déjà-vu“ (Chéroux 2011) bzw. „Wiederholung“ des Angriffs auf Pearl Harbor (Hartwig 2011). Zahlreiche Zeitungen in den Vereinigten Staaten, aber beispielsweise auch in Kanada, titelten unmittelbar nach den Anschlägen „Infamy“, „New day of infamy“ oder aber „second Pearl Harbor“ (Chéroux 2011: 55-60; Hartwig 2011: 16f.). Diesem Vergleich wurde nicht zuletzt durch die Instrumentalisierung von Flugzeugen durch die Selbstmordattentäter Vorschub geleistet (Smith 2005: 161), da sie die kollektive Erinnerung an die KamikazeAngriffe japanischer Piloten aus dem Zweiten Weltkrieg (hierzu Neal 1998: 72f.) wachriefen. Die Tatsache, dass der 11. September vor dem Hintergrund Pearl Harbors interpretiert wurde, verdankte sich nicht alleine dem gesellschaftlichen Geschichtswissen um dieses Ereignis, sondern war auch in weiten Teilen seiner Popularisierung durch den gleichnamigen Hollywoodfilm geschuldet. Pearl Harbor feierte am 25. Mai 2001 Premiere und avancierte, trotz schlechter Kritiken, zum Kassenschlager. In diesem Film kommen beim Angriff auf Pearl Harbor sogar Kamikaze-Piloten zum Einsatz, was zwar historisch falsch ist, aber seine Stimmigkeit darin besitzt, dass Klischees des sozialen Imaginären bedient werden. Aber nicht nur historische Formate, die das kollektive Gedächtnis medial transportieren und reproduzieren, prägten die Rezeption von 9/11, sondern gerade auch fiktionale Formate wie etwa das Science-Fiction-Genre. So soll der Finanzkorrespondent des amerikanischen Senders NBC am Abend des 11. Septembers gesagt haben: „Honestly, it was like a scene out of ‚Independence Day‘“. 28 Die Fernsehbilder der einstürzenden Hochhäuser waren nicht nur schockierend, sondern rührten auch an ein den Zuschauern wohlvertrautes Imaginäres. Die Bilder des kollabierenden World Trade Centers „zitieren“ nicht nur die gewaltige Zerstörung in Independence Day (1996), sondern auch die Schlussszene von Fight Club (1999). Der Literaturwissenschaftler Michael C. Frank (2010) unterscheidet zwei Modi der Bedeu27 Zu den unterschiedlichen Interpretationen, die der 11. September 2001 im In- und Ausland erfahren hat, vgl. Jan Philipp Reemtsma (2005: 100, insbesondere Fußnote 157). 28 „Struggling to Convey Tragedy“, Chicago Tribune, 12. September 2001.
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tung der Popkultur für 9/11. Einerseits erleichtern die popkulturellen Hintergrundschemata die Einordnung des außerordentlichen Ereignisses und tragen damit zur Bewältigung der durch den 11. September ausgelösten Krise bei. Andererseits können popkulturelle Referenzen die Unsicherheit des Publikums sogar noch verstärken, indem sie beispielsweise die Bedrohung durch terroristische „aliens“ (im Sinne von „Fremden“) mit der durch Außerirdische gleichsetzen. W.J.T. Mitchell (2011) und Philipp Sarasin (2004) vertreten die These, dass das Phantasma des Bioterrors, das durch Filme wie Outbreak (1995) populär geworden war, die Rezeption der Anschläge und die Reaktion auf sie maßgeblich beeinflusst habe. Wenige Minuten nach dem Anschlag auf das World Trade Center wurde die Suche nach Bakterien und Viren, das heißt nach Spuren eines bioterroristischen Angriffs, eingeleitet (Sarasin 2004: 13). Die Anthrax-Anschläge im Gefolge des 11. Septembers kamen daher alles andere als unerwartet, sondern fügten sich vielmehr in einen bereits bestehenden kulturellen Hintergrund ein (Sarasin 2004: 34-47). Auch „Hiroshima“ spielte bei der Wahrnehmung von 9/11 eine Rolle (vgl. Smith 2005: 160; Dower 2010: 151-161), was sich nicht zuletzt in der Benennung des Trümmerfeldes, das der Zusammensturz des World Trade Centers hinterließ, äußerte: „Ground Zero“ bezeichnete ursprünglich den Detonationsort einer Atombombe (Dower 2010: 157). Damit wird ein möglicher terroristischer Einsatz von Massenvernichtungswaffen, seien sie nun biologischer oder atomarer Natur, symbolisch vorweggenommen. Möglicherweise verbirgt sich hinter den Rauchwolken, die auf den Bilder vom 11. September 2001 dominieren (Chéroux 2011: 24-33), auch ein Verweis auf die Atombombe. Der Rückgriff auf Symbole und Schemata aus dem Zweiten Weltkrieg findet sich ebenfalls in der Wortschöpfung „Islamofaschismus“ – ein Begriff, der in den Vereinigten Staaten, aber auch in Deutschland, rege Verbreitung fand. Wie schon „Pearl Harbor“ zuvor, so wurde auch „9/11“, so die Kurzformel des Ereignisses, bei der es sich zugleich um eine Anspielung auf die Notrufnummer in den Vereinigten Staaten handelt, zu einem symbolischen Code. 9/11 zeichnet sich durch ein apokalyptisches Narrativ aus, das die Vereinigten Staaten und die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, durch den Terrorismus in ihren Werten und ihrer Existenz gefährdet sah (vgl. Smith 2005: 160-166). Die Trauer um die Opfer wurde schnell von Heldenerzählungen überlagert, die vom unerschrockenen Einsatz der Feuerwehrmänner oder vom beherzten Eingreifen der Passagiere des abgestürzten United-Airline-Fluges 93 handelten. Die symbolische Verletzung von 9/11 forderte eine angemessene symbolische Vergeltung: Präsident Bush rief den „Global War on Terrorism“ aus. Als außerordentliches Ereignis ließ 9/11 außergewöhnliche Maßnahmen erforderlich und gerechtfertigt erscheinen. Der Krieg gegen den Terror signalisierte einen globalen Ausnahmezustand, der Präventivkriege und Folter legitimierte, sollten sie sich als die einzigen Mittel erweisen, künftige Anschläge zu verhindern. Im Folgenden soll auf einige wenige Aspekte der Wirkungsgeschichte des 11. Septembers 2001 eingegangen werden. Zunächst
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wird es um politische Maßnahmen und die rechtliche Umdeutung des Folterverbots gehen. Danach ist dem Einfluss von 9/11 in der Folterdebatte nachzuspüren und deren Wechselwirkung mit der amerikanischen Populärkultur zu umreißen. 6.4.1 Amerikanische Sicherheitspolitik nach dem 11. September 2001 Eine erste große Reaktion des amerikanischen Gesetzgebers auf den Anschlag erfolgte Ende Oktober mit dem sogenannten „USA PATRIOT act“ (Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism Act of 2001), der mit überwältigender Mehrheit von den beiden Häusern des Kongresses verabschiedet wurde. Er erweiterte die Befugnisse der Regierung in Sachen Terrorismusbekämpfung und sollte so die Arbeit der Geheimdienste erleichtern. Die Kehrseite des Erlasses war allerdings eine Einschränkung von amerikanischen Bürgerrechten sowie Erschwernisse bei der Einreise von Nichtbürgern. Noch im selben Monat wurde von der Regierung das Office of Homeland Security gegründet, das verschiedenste Aktivitäten zur Terrorabwehr koordinieren sollte. Im folgenden Jahr wurde das OHS zu einem Ministerium für Heimatschutz ausgebaut, das bis heute mit etwa 200 000 Beschäftigten die drittgrößte staatliche Behörde in den Vereinigten Staaten darstellt. Die vom 11. September ausgelösten Reformen schlugen sich nicht nur in neuen Institutionen wie dem Patriot Act oder dem Department of Homeland Security nieder, sondern führten auch zu einer rechtlichen Neuinterpretation der Notstandsbefugnisse des US-Präsidenten. Die neokonservativen Kräfte in der Regierung nutzten den 11. September, um ihrer Vision einer starken „unitary executive“ (hierzu Hasian 2007; Skowronek 2008; Calabresi & Yoo 2008) näher zu kommen. In geheimen Memoranda, die erst im Zuge des Abu Ghraib-Skandals ans Licht der Öffentlichkeit gelangten, wurden die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Terrorbekämpfung von den Anwälten der amerikanischen Regierung sehr großzügig ausgelegt. Nur zwei Wochen nach dem 11. September schrieb der Justizbeamte John Yoo im Auftrag der Regierung ein Memorandum, das dieser schrankenlose Macht in Sachen Terrorismusbekämpfung zugestand: „Neither statue, however, can place any limits on the President’s determinations as to any terrorist threat, the amount of military force to be used in response, or the method, timing, and the nature of the response. These decisions, under our Constitution, are for the President alone to make“ (2005/2001: 24). Das apokalyptische Narrativ des Krieges gegen den Terror führte zu einer großzügigen Neuauslegung der Befugnisse des amerikanischen Präsidenten. So wurde dem Präsidenten nicht nur das Recht zugestanden, Militäroperationen gegen mutmaßliche Terroristen und die sie beherbergenden Staaten einzuleiten, sondern auch gegen Staaten, die eine vergleichbare Bedrohung darstellten. Als derartige Bedrohung wurde später der Irak gerahmt, dem von amerikanischer Seite der Besitz von Massenvernichtungswaffen vorgeworfen wurde (6.5). Nicht nur das Amt des Präsi-
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denten wurde nach 9/11 neu interpretiert, sondern auch der Status von inhaftierten Terroristen, die weder als Kriminelle noch als Kriegsgefangene eingestuft werden sollten. Eine Verfügung des Präsidenten (Bush 2005/2001) und mehrere Memoranda (Philbin & Yoo 2005/2001; Yoo & Delabunty 2005/2002; Bybee 2005/2002a) führten den Status des ungesetzlichen Kombattanten ein („unlawful combatant“), dem weder das Recht auf Anfechtung der Inhaftierung durch ein ordentliches juristisches Verfahren (habeas corpus), noch den Schutz durch die Genfer Kriegskonventionen zustand. Der ungesetzliche Kombattant nimm, wenn man Giorgio Agambens Argumentationslinie vom homo sacer der römischen Antike bis zu den Häftlingen von Guantanamo folgt (2004, 2007/1995), eine Stellung zwischen Leben und Tod ein. Der ungesetzliche Kombattant, so die Anwendung der Theorie auf den Krieg gegen den Terror, darf ungestraft gefoltert und getötet werden (Žižek 2005: 118f.). Die Zwischenlage des ungesetzlichen Kombattanten entpuppte sich damit als Gegenstück zu dem rechtlichen Ausnahmezustand, der die politische Souveränität der Vereinigten Staaten verkörperte und stärkte (Butler 2005: 69-120). In einem Memoranda an den amerikanischen Präsidenten wurde das allgemeine Folterverbot durch die fragwürdige Unterscheidung zwischen „Folter“ und „verschärften Vernehmungstechniken“ („enhanced“ bzw. „harsh interrogation techniques“) umgangen. Der Verfasser des Memorandums, Jay S. Bybee, vertrat nicht nur die Position, dass verschärfte Vernehmungstechniken rechtlich unproblematisch sei, sondern war auch der Meinung, dass ein striktes Verbot der Folter angesichts des Krieges gegen den Terror möglicherweise verfassungswidrig sein könnte: „Further, we conclude that under the circumstances of the current war against al Qaeda and its allies, application of Section 2340A [welche nach dem amerikanischen Recht die Anwendung von Folter außerhalb der Vereinigten Staaten unter Strafe stellt, W.B.] to interrogations may be unconstitutional. Finally, even if an interrogation method might violate Section 2340A, necessity or self-defense could provide justifications that would eliminate any criminal liability.“ (2005/2002b: 214)
Das Memorandum bedient sich einer doppelten Strategie, die eine Entsprechung zum öffentlichen Diskurs über Folter hat. Auf der einen Seite wird der symbolisch beschmutze Begriff der Folter zur Charakterisierung der eigenen Handlungen gemieden und begrifflich dergestalt enggeführt, dass er nur noch auf wenige Handlungen anwendbar ist. Auf der anderen Seite werden aber auch Ausnahmen vom Folterverbot in Anspruch genommen und durch apokalyptische Szenarien gerechtfertigt. Einerseits wird das bestehende Recht gebeugt und die Verwendung von Wörtern wie „Folter“ den bestehenden Erfordernissen angepasst, andererseits wird mit der Transgression der rechtlichen Normen gespielt und die symbolische Kraft dieser Überschreitung genutzt. Das auf der Insel Kuba gelegene Gefangenenlager in Guantanamo Bay, das im Januar 2002 den Betrieb aufgenommen hatte, wurde
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durch seine exterritoriale Zwischenlage – als Teil des amerikanischen Territoriums außerhalb der nationalen Rechtsprechung – zum Signum dieses Ausnahmezustandes. Hier zeigt sich der von der Bush-Administration in Anspruch genommene Vorrang des Politischen gegenüber dem Recht am deutlichsten. 29 Guantanamo Bay wurde zu einem Symbol für die neuen Richtlinien zur Handhabung der Gefangenen. So wurden dort insbesondere verschärfte Verhörtechniken eingeführt, die im Krieg gegen den Terror als notwendig erachtet wurden. Der außerordentliche Status des Gefangenenlagers in Guantanamo Bay war der Öffentlichkeit von Anfang an bekannt und über eine lange Zeit weithin akzeptiert, obwohl sich das Lager und das, was sich darin abspielte, jeder öffentlichen Kontrolle entzog.30 Das „Ticking-BombPhantasma“ (6.4.2), das unter anderem in Fernsehserien und Filmen Verbreitung fand, schloss diese Wissenslücke. Es rechtfertigte die Existenz von Guantanamo, indem es dem Publikum eine Vorstellung davon bot, was in Guantanamo (und anderswo) getan werden musste, um das amerikanische Volk und die zivilisierte Welt vor der Bedrohung des Terrorismus zu schützen. Erst die Bilder von Abu Ghraib und, in deren Gefolge, auch die kleineren Skandale um Guantanamo (z.B. Koranschändungen), stellten dieses Phantasma in Frage. An dessen Stelle im sozialen Imaginären traten die grotesken Misshandlungen von Abu Ghraib, die fortan die Imagination von Folter und Verhören bestimmen sollten (10.4). Wie lässt sich diese Neuauslegung des Rechts nun aber erklären? Im Folgenden soll die These plausibilisiert werden, dass die Memoranda – auch wenn sie erst im Zuge des Abu-Ghraib-Skandals veröffentlicht wurden – symptomatisch für einen allgemeineren Wandel im sozialen Imaginären der Vereinigten Staaten sind. Es wäre zu kurz gedacht, wenn man den Patriot Act oder die Memoranda alleine aus den partikularen Interessen der amerikanischen Regierung (z.B. Machterweiterung) heraus erklären würde. Zum einen kommt den kulturellen Formen, die partikularen Interessen den Anschein von Allgemeinheit und damit auch Legitimität verleihen, im öffentlichen Diskurs eine entscheidende Bedeutung zu. Zum anderen wäre es verfehlt, wenn man den Politkern unterstellen wollte, dass sie zum Schock von 9/11 ein rein instrumentelles Verhältnis gehabt hätten. Die politischen und rechtlichen Konsequenzen des 11. Septembers sind nur vor dem Aufstieg des apokalyptischen 29 Der Vorrang des Politischen wurde von Carl Schmitt begründet (2002). Über seinen Schüler Leo Strauss, der Schmitts ursprüngliche Fassung der Theorie kritisierte und weiterentwickelte (Meier 1998; Binder 2009: 194-196), gelangte sein Denken in die Vereinigten Staaten, wo es das konservative Denken, insbesondere im Krieg gegen den Terror, stark beeinflusste (vgl. Norton 2004; Scheuerman 2006). 30 Der Name des ursprünglichen Lagers Camp X-Ray (Röntgenstrahl), das im April 2002 in Camp Delta überführt wurde, mutet in dieser Hinsicht schon fast paradox an: Was der Durchleuchtung der Terroristen dienen sollte, entpuppte sich als Black-Box, deren Inneres dem öffentlichen Blick verborgen blieb.
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Narrativs verständlich, das keineswegs auf die amerikanische Regierung beschränkt war, sondern auch in den Massenmedien, der Öffentlichkeit und in akademischen Kreisen propagiert wurde. Dasselbe gilt in abgeschwächtem Maße für andere Länder wie Großbritannien oder Deutschland, wo ebenfalls Bürgerrechte eingeschränkt wurden – und offen über weitere Schritte der Terrorismusbekämpfung (wie den Abschuss von Passagierflugzeugen) nachgedacht wurde. 31 6.4.2 Folter im öffentlichen Diskurs und in der populären Imagination Nach dem 11. September 2001 war die Diskussion über die Anwendung von Folter auf einmal kein Tabu mehr, sondern geradezu ein Modethema. Die mögliche Legitimität der Folter trat aus dem Bereich des Unsagbaren in den Bereich des Sagbaren – eine tiefgreifende Verschiebung des Diskurses, ein Wandel des kulturellen Hintergrundes, der die manifesten Veränderungen auf der Aussagenebene übersteigt. Noch am 5. November 2001 erschien im amerikanischen Magazin Newsweek ein Artikel von Jonathan Alter, der Folter als Mittel der Terrorismusbekämpfung öffentlich verteidigte. 32 Innerhalb des apokalyptischen Rahmens, der durch die Terroranschläge vom 11. September aufgespannt wurde, gewann das sogenannte „Ticking-Bomb-Szenario“, das bis dato vor allem in Seminaren zur praktischen Philosophie diskutiert wurde, an Plausibilität. Das zu verhindernde Worst-Case-Szenario, das sich des amerikanischen und globalen Imaginären bemächtigte, bestand in der Möglichkeit eines atomaren Terrorschlags. 33 Auch in akademischen Kreisen wurde das Ticking-Bomb-Szenario als Argument für die Rechtfertigung des Einsatzes oder gar der Institutionalisierung von Folter verwendet. Selbst liberale Autoren, die der Folter eher skeptisch gegenüberstanden, konnten die Einwände gegen den Absolutheitsanspruch des Folterverbotes nur schwerlich von der Hand weisen. So plä31 In Deutschland nutzten konservative Denker die Gunst der Stunde, um im Rückgriff auf Carl Schmitt die Souveränität des Staates zu stärken. So argumentierte Otto Depenheuer, dass der Terrorismus die „totale Infragestellung der eigenen politischen Existenzform“ darstelle, weswegen denn auch der Terrorist „staatstheoretisch“ als „Feind“ anzusehen sei und damit „außerhalb des Rechts“ stehe (2008). Vgl. auch Andrea Dernbach: „Der Ernstfall in der Normallage. Schäubles juristischer Vordenker Otto Depenheuer erklärt, wie sich der Staat gegen Terror wehren muss“, Tagesspiegel, 23. September 2007. 32 Alter, Jonathan: „Time to Think about Torture. It’s a New World, and Survival May well Require Old Techniques that Seemed out of the Question“, Newsweek, 5. November 2001; vgl. auch „Borderless Network of Terror, Bin Laden Followers Reach Across the Globe“, Washington Post, 23. September 2001; Bowden, Mark: „The Dark Art of Interrogation“, Atlantic Monthly, Oktober 2003, 51-76. 33 Aus der Sozialpsychologie wissen wir, dass bei Worst-Case-Szenarien die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Ereignissen gegenüber deren negativ empfundenen Konsequenzen in den Hintergrund treten (Sunstein 2007: 97-133).
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dierte selbst der liberale Rechtsprofessor und Politiker Michael Ignatieff in dem Buch Lesser Evils (2004) und in einem gleichnamigen Artikel in der New York Times für eine offene Debatte über die mögliche Anwendung von Folter.34 Im öffentlichen Diskurs schien sich die Vorstellung von einer „Ökonomie der Folter“ (Weitin 2007; vgl. auch Wisnewski & Emerick 2009: 16-55) durchzusetzen. Selbst Folterskeptiker wie Ignatieff waren auf einmal der Meinung, dass das Folterverbot einen Preis habe und damit einem Kalkül der Abwägung unterliege. Aus einer kultursoziologischen Perspektive bedeutet dies, dass die Folterfrage aus der Sphäre des Heiligen der Gesellschaft, ihrer Werte, in die Welt des Profanen gerückt wurde. Auf einmal war die Menschenwürde gefolterter Terroristen diskutier- und verrechenbar. Insbesondere der Beitrag des liberalen Rechtsgelehrten Alain Dershowitz (2002), der sich für eine Institutionalisierung der Folter aussprach, wurde ein zentraler Bezugspunkt der Folterdebatte. Im Rückgriff auf das Ticking-Bomb-Szenario versuchte Dershowitz die Unverzichtbarkeit von Folter als Mittel im Kampf gegen den Terror zu begründen. Darüber hinaus sprach er sich dezidiert für eine Legalisierung von Folter aus, um sie unter rechtlicher Kontrolle zu halten. In seinem Buchkapitel „Should the Ticking Bomb Terrorist Be Tortured“ (2002: 131-163) lassen sich vier Kunstgriffe aufzeigen, mit deren Hilfe er seine Leser zu überzeugen versucht. Erstens bedient sich Dershowitz hypothetischer Fälle, die die narrative Struktur des Ticking-Bomb-Szenarios besitzen, was einerseits die Dringlichkeit und Unabweisbarkeit der Folterfrage unterstreicht und sie andererseits in ein ökonomisches Kalkül überführt. Zweitens verweist Dershowitz auch auf reale Fälle angeblich erfolgreich durchgeführter Folterverhöre (2002: 137). Dies ist nötig, um seine Leser davon zu überzeugen, dass Folter, wenn schon nicht in allen, so doch in einigen Fällen, funktioniert.35 Drittens zeichnet er ein geradezu klinisch sauberes Bild von Folter. So schlägt Dershowitz beispielsweise vor, sterilisierte Nadeln unter die Fingernägel der Terroristen zu schieben (2002: 144). Damit stemmt er sich gegen ein soziales Imaginäres, das mit dem Wort „Folter“ weitaus Schlimmeres verbindet. Dieses klinisch bereinigte Bild der Folter senkt den subjektiven Preis, das der Leser für eine Befürwortung der Institutionalisierung von Folter zu entrichten hat. 34 „Lesser evils“, New York Times, 2. Mai 2004. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels – das Buch war bereits erschienen – entpuppte sich als schlechtes Timing, da nur vier Tage zuvor die Bilder von Abu Ghraib veröffentlicht worden waren (vgl. 10.4.1). 35 Stephanie Athey (2007) hat sich Dershowitzs Referenzfall, den 1995 auf den Philippinen gefolterten Pakistani Abdul Hakim Murad, näher angeschaut. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Faktenlage weder zu der Annahme berechtige, dass die Anwendung von Folter alternativlos gewesen sei, noch die Behauptung zu erhärten vermag, dass durch die im Verhör gewonnen Informationen Anschläge auf den Papst Johannes Paul II und elf amerikanische Fluglinien verhindert werden konnten. Murad wurde noch Monate nach der Abreise des Papstes von philippinischen Spezialisten gefoltert.
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Neben dem Ticking-Bomb-Szenario und der klinischen Verharmlosung von Folter kommen bei Dershowitz auch noch andere Kunstgriffe zur Anwendung. So flechtet er in seine Argumentation eine autobiographische Erzählung ein, die den jungen Autor als einen Foltergegner portraitiert (2002: 139-142), der mit den Realitäten des Terrorismus in Israel konfrontiert wird und letztendlich zum Befürworter von Folter wird. Der Leser identifiziert sich schon aufgrund der narrativen Struktur mit dem Protagonisten und Autor und wird demselben Bekehrungsprozess unterworfen. Diese narrative Form, die auch aus dem deutschen Bildungsroman bekannt ist, wird von der Literaturwissenschaftlerin Susan R. Suleiman als „apprenticeship story“ bezeichnet und eignet sich in besonderer Weise, um ideologische Inhalte zu vermitteln (1983: 74-84). Der Soziologe Robert Wuthnow hat gezeigt, dass sich die religiöse Rhetorik der Evangelikalen derselben Technik bedient, um ihr Publikum für sich einzunehmen und auf den „rechten Pfad“ zu führen (1988: 328-333). Darüber hinaus lässt sich an Dershowitzs schriftstellerischer Tätigkeit aufzeigen, wie sich wissenschaftliche, öffentliche und popkulturelle Diskurse wechselseitig durchdringen. In seinem Roman von 1999, Just Revenge, der 2001 unter dem Titel Anwalt der Gerechtigkeit auf Deutsch erschien, gibt es eine Szene, in welcher der Held der Geschichte von dem Mann, der seine Familie ermordet hat, durch Androhung und Anwendung von Gewalt ein Geständnis erzwingt (vgl. Rejali 2007: 546). Es ist kein Zufall, dass literarische Imagination und wissenschaftliche Argumentation oft Hand in Hand gehen. Beide speisen sich aus dem individuellen und sozialen Imaginären. Deswegen kann es kaum verwundern, dass 9/11 unter anderem auch einen Einfluss auf die Darstellung von Folter in der amerikanischen Populärkultur hatte, und von dort wieder auf akademische und insbesondere Rechtsdiskurse wirkte. Die Beziehung zwischen 9/11 und der Populärkultur geht in beide Richtungen. So beeinflusste das Motiv der „Terrorist Aliens“ (Frank 2010) nicht nur die Wahrnehmung von Terroristen, sondern auch die fiktionale Darstellung von Außerirdischen. In der Science-Fiction-Serie Battlestar Galactica (2004-2009), die an die gleichnamige Serie aus den siebziger Jahren anknüpft, treiben auf einmal feindliche Außerirdische als Schläfer in menschlicher Gestalt unter den Menschen ihr Unwesen.36 Nicht zuletzt aufgrund seiner Wirkungen auf die Populärkultur erwies sich der 11. September 2001 als kulturelle Zäsur (Poppe et al. 2009) – vor allem, aber keineswegs ausschließlich, in den Vereinigten Staaten. Paradebeispiel für den populärkulturellen Einfluss von 9/11 ist die Serie 24 (2001-2010), die auf dem Ticking-Bomb-Szenario basiert.37 Aber auch andere Se36 Vgl. den deutschsprachigen Beitrag von Sascha Seiler (2009), aber auch den englischsprachiger Sammelband von C. W. Marshall und Tiffany Potter zu der Serie (2008). 37 Aufgrund ihrer innovativen Erzähltechniken (z.B. Split-Screen), aber auch wegen ihrer moralischen und politischen Implikationen, wurde die Serie zum Gegenstand wissenschaftlicher Studien (so z.B. Burstein & De Keijzer 2007; Peacock 2007; Weed 2008).
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rien und Filme sowie der öffentliche Diskurs haben dazu beigetragen, dass der Mythos des „ticking-bomb-terrorist“ in Amerika (aber auch in Deutschland) zu einem festen Bestandteil des sozialen Imaginären wurde. Das Motiv der tickenden Bombe als dramaturgisches Mittel zur Erzeugung von Spannung war schon lange vor dem 11. September aus unzähligen Actionfilmen und Fernsehserien bekannt. Während es im klassischen Narrativ der tickenden Bombe zunächst nur darum geht, dass die Bombe durch den Helden rechtzeitig entschärft wird, stellt das nach dem 11. September 2001 populär gewordene Ticking-Bomb-Szenario ein Sonderfall dieses Narrativs dar. Hier muss nämlich erst ein Terrorist durch den Helden gefoltert werden, bevor die Bombe entschärft werden kann, da der genaue Aufenthaltsort der Bombe unbekannt und nicht durch andere Mittel in Erfahrung zu bringen ist. Somit kann nur noch das Foltern des Bösewichtes die drohende Apokalypse verhindern. Stephen Holmes bringt die Figur des folternden Helden mit der Formel der „torturer/savior-fusion“ (2006: 128) auf den Punkt. Der Folterer als Heilsbringer wurde nach dem 11. September zu einem integralen Bestandteil der amerikanischen Populärkultur, am bekanntesten wohl in Gestalt von „Jack Bauer“ aus der Serie 24. Der heldenhafte Folterer lässt sich als eine spezifische Manifestation des gesetzesbrechenden Helden („law-defying hero“) deuten, der in der amerikanischen Populärkultur weit verbreitet ist (vgl. Holmes 2006). In den Vereinigten Staaten nehmen Selbstjustiz und Vigilantismus eine bedeutende Rolle im sozialen Imaginären ein, was nicht zuletzt in den unzähligen Western und Hollywood-Action-Filmen deutlich wird, in denen sich der Held auf eigene Faust an seinen Gegenspielern rächt. Der kulturelle Hintergrund der Vereinigten Staaten enthielt bereits Repräsentationen des gesetzesbrechenden Helden, sodass deren Anwendung auf die Folterfrage nach 9/11 nahe liegend erschien. Paradigmatisch wird der „law-defying hero“ durch den Polizisten Callahan in Dirty Harry (1971) verkörpert. Im ersten Teil von Dirty Harry kommt es zu einer Folterszene, wo der sympathische Callahan unverzagt auf den sadistischen und psychopathischen Antagonisten einprügelt, um den Aufenthaltsort eines entführten jungen Mädchens herauszufinden. Leider vergebens – der Antagonist kann ihm nur noch den Weg zur Leiche des Mädchens weisen. Die visuelle und dramatische Darstellung der einzelnen Charaktere ist für die Wirkung der Erzählung, die moralische Bewertung der Handlung und die emotionale Reaktion des Publikums von großer Bedeutung. So kann der Zuschauer angesichts des körperlichen Einsatzes von Callahan kaum anderes als Befriedigung empfinden – Mitleid für den psychopathischen Antagonisten ist nahezu ausgeschlossen. Die Folterdebatte machte auch vor Deutschland nicht halt. Bereits vor dem 11. September 2001 gab es in Deutschland einzelne Juristen, die angesichts eines hypothetischen Ticking-Bomb-Szenarios für eine Legalisierung von Folter plädierten. 38 38 Während Niklas Luhmann (2008/1993) in einem Vortrag in Heidelberg im Jahre 1991 das Ticking-Bomb-Szenario in erster Linie verwendete, um sein Publikum zu provozieren
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Aufwind erhielt die Debatte sowohl durch die Anschläge auf das World Trade Center als auch durch einen Entführungsfall, der strukturell Ähnlichkeiten zu der oben diskutierten Szene aus Dirty Harry besitzt. Der Frankfurter Millionärssohn Jakob von Metzler wurde im September 2002 von dem Jurastudenten Magnus Gaefgen entführt. Nach erfolgter Lösegeldübergabe stand Gaefgen zunächst unter Beobachtung der Polizei und wurde dann – ohne die Polizei zu dem Aufenthaltsort des Jungen geführt zu haben – festgenommen. Im Verhör durch die Polizeibeamten weigerte sich Gaefgen zunächst, über den Aufenthaltsort des Entführungsopfers Auskunft zu geben. Schließlich wurde ihm auf Anweisung des stellvertretenden Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner mit Folter gedroht, worauf Gaefgen den Aufenthaltsort des Opfers preisgab, von dem er allerdings schon wusste, dass es nicht mehr lebte. Der „Fall Daschner“ löste in Deutschland eine öffentliche und eine rechtliche Debatte über die Zulässigkeit der sogenannten „Rettungsfolter“ bzw. „selbstverschuldeten Rettungsbefragung“ aus (Reemtsma 2005; Trapp 2006; Görlich 2007; Lamprecht 2009, Binder 2013b). Seine Brisanz gewann der Fall allerdings erst vor dem Hintergrund des 11. Septembers 2001. Die Vorstellung einer Abwägung zwischen der Würde möglicher Opfer und der Würde der Täter schlug sich auch in einer Neukommentierung des Grundgesetzes nieder (hierzu Weitin 2007). Allerdings blieb auch diese Debatte nicht unbeeinflusst von den Geschehnissen von Abu Ghraib und den berechtigten Zweifeln am Heldennarrativ von Daschner (10.4).
6.5 D ER I RAKKRIEG VON 2003 UND DIE T RANSFORMATION VON ABU G HRAIB We don’t want the smoking gun to be a mushroom cloud. CONDOLEEZZA RICE, NATIONALE SICHERHEITSBERATERIN, 8. SEPTEMBER 2002
Der historische Überblick über den Vorlauf und die Voraussetzungen des AbuGhraib-Skandals soll nun mit einigen Ausführungen zum Irakkrieg 2003 beschlossen werden. Wir haben gesehen, dass die symbolische Mobilmachung für den Golfkrieg 1991 mit einer Inflationierung des narrativen Genres einherging. Saddam Hussein wurde zur apokalyptischen Bedrohung des Weltfriedens stilisiert, indem er in eine Reihe mit Diktatoren wie Hitler und Stalin gestellt wurde. Allerdings erlaubund auf die Form der „tragic choice“ als einer Paradoxie aufmerksam zu machen, nimmt der Jurist Winfried Brugger das Beispiel Luhmanns als Ausgangspunkt, um eine rechtliche Ausnahme für das Folterverbot einzufordern. Bei einer Podiumsdiskussion am 28. Juni 2001 in Berlin, also noch vor dem 11. September, sprach sich Brugger in einer Debatte mit Kollegen für eine Einschränkung des Folterverbots aus (Grimm et al. 2002).
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te das UN-Mandat nur die Befreiung von Kuwait und die Errichtung einer Flugverbotszone im südlichen Irak. Saddam Hussein blieb auch nach der Erfüllung der Kriegsziele an der Macht. Der Irak blieb für die Amerikaner ein „unfinished business“. Was George H. Bush begann, sollte nun sein Sohn, George W. Bush, zu Ende bringen. Diese Gelegenheit bot sich vor dem Hintergrund des 11. Septembers, der einer möglichen Bedrohung des amerikanischen Volkes durch Massenvernichtungswaffen zu neuer Plausibilität verhalf. Am 29. Januar 2002 sprach Präsident Bush erstmals von einer „axis of evil“, zu der er die Staaten Irak, Iran und Nordkorea zählte. Ihren Regierungen wurde vorgeworfen, terroristische Aktivitäten zu unterstützen und Massenvernichtungswaffen zu besitzen bzw. deren Besitz anzustreben. Vor dem Hintergrund des apokalyptischen Narrativs in der amerikanischen Öffentlichkeit und den erweiterten Befugnissen des Präsidenten, die sich in den post9/11-Memoranda niederschlugen (6.4.1; 9.1), schienen diese Vorwürfe bereits ein militärisches Eingreifen der Vereinigten Staaten zu rechtfertigen. Der Begriff der „Achse des Bösen“ verwies natürlich auf die Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg, womit an den unumstrittenen Triumph gegen das ultimative Böse angeknüpft und ein romantischer Sieg über die Mächte der Finsternis in Aussicht gestellt wurde. Im Jahr 2002 begann sich der Streit mit dem Irak wegen des angeblichen Besitzes von Massenvernichtungswaffen zuzuspitzen. Schon bald war die symbolische Aufrüstung in vollem Gange. In amerikanischen und britischen Zeitungen wurden Listen mit den im Abu-Ghraib-Gefängnis durchgeführten Exekutionen und den dort angewandten Foltertechniken veröffentlicht. Am 11. Oktober 2002 erteilte der USKongress dem Präsidenten die Vollmacht, notfalls auch ohne UN-Mandat in den Irak einzumarschieren. Daraufhin begann auch Saddam Hussein mit der symbolischen Mobilmachung. Am 20. Oktober 2002 erließ er eine Generalamnesie, von der nur „Zionisten“ und „amerikanische Spione“ ausgenommen waren. Diese symbolische Geste war in erster Linie an das eigene Volk gerichtet und diente wohl der Abschwächung innerer Konflikte gegenüber der äußeren Bedrohung. In der internationalen Presse wurde Abu Ghraib immer wieder als das größte Gefängnis im Irak und als Symbol der Schreckensherrschaft von Saddam Hussein beschworen: „At the Abu Ghraib prison, a sprawling compound on the desert floor 20 miles west of Baghdad that has become a notorious symbol of fear among Iraqis for its history of mass executions and allegations of torture, the heavy steel gates gave way under the crush of a huge crowd of relatives who rushed to the jail within an hour of the amnesty broadcast.“ 39
Die Strategie, sich der Gunst des Volkes durch Amnestien und Freilassungen zu versichern, sollte auch später von den Amerikanern im Abu-Ghraib-Skandal ange39 „Threats and responses. The great escapes; Hussein and Mobs Virtually Empty Iraq’s Prisons“, The New York Times, 21. Oktober 2002.
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wendet werden. Schon lange vor dem Krieg, war das Abu-Ghraib-Gefängnis eine Ikone unter den irakischen Gefängnissen („notorious“). Dies wird im Anfang des Berichts von David Pratt über die Verschwundenen im Irak besonders deutlich: „It was last October when I got my first ever glimpse of the infamous Abu Ghraib prison“.40 Der Artikel macht auf das Schicksal jener aufmerksam, die auch nach der Generalamnestie verschwunden geblieben sind. Das Abu-Ghraib-Gefängnis wird in Artikeln häufig mit den sowjetischen Gulags und den Konzentrationslagern des Dritten Reiches verglichen, was Saddam Husein wieder in die ansteckende Nähe von Stalin und Hitler rückte.41 „Abu Ghraib“ wurde zum Symbol für die Menschenrechtsverletzungen unter dem Regime von Saddam Hussein und ergänzte so die anderen Kriegsgründe, insbesondere die Suche nach Massenvernichtungswaffen. Obwohl der amerikanische Kongress dem Präsidenten schon im Oktober 2002 die Genehmigung erteilte, notfalls auch ohne UN-Resolution militärisch gegen den Irak vorzugehen, bemühten sich die Amerikaner zunächst um eine breitere internationale Unterstützung. So hielt Colin Powell am 5. Februar 2003 vor dem UNSicherheitsrat eine Power-Point-Präsentation, welche den Rat von der Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak überzeugen sollte (vgl. Paul 2005a: 34-40).42 In der Präsentation wurde undeutlichen Satellitenbildern durch erläuternde Beschriftungen eine Aussagekraft verliehen, die weder die Bilder noch die Aussagen für sich selbst genommen besaßen. Zudem wurde auf Visualisierungen zurückgegriffen, die verdeutlichen sollten, dass es sich bei den auf den Satellitenbildern erkennbaren Trucks in Wirklichkeit um mobile Labors zur Herstellung biologischer und chemischer Waffen handelte. Der Erfolg von Powells Performanz wurde je nach Publikum unterschiedlich bewertet. Nicht nur in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien wurde Colins Präsentation als Beweis für die Existenz von Massenvernichtungswaffen gefeiert (Smith 2005: 170), sondern auch in Teilen der deutschen Presse (Paul 2005a: 38f; Schweizer & Vorholt 2004: 37f.). Die Authentizität von Powells Performanz verdankte sich nicht nur der Anschaulichkeit des Bildma40 „If the West is so worried about Saddam Hussein’s human rights record, why has it ignored Iraq’s ‚disappeared‘?“, The Sunday Herald, 5. Januar 2003. 41 „Iraq’s gulag offers tale of terror. Butcher’s hooks evidence of mass hangings under Saddam“, The International Herald Tribune, 27. Januar 2003. Vgl. auch „The World; How Many People Has Hussein Killed?“, The New York Times, 26. Januar 2003. Peter Worthington hat sogar ausgerechnet, dass die Anzahl der getöteten Personen im Verhältnis zur irakischen Gesamtpopulation der Größenordnung der stalinistischen Säuberungen entsprach: „Saddam. The Butcher of Baghdad“, The Toronto Sun, 9. Februar 2003. 42 Die Power-Point-Präsentation von Colin Powell ist im Internet verfügbar: http://www.jo nathanboutelle.com/a-failure-to-disarm-colin-powells-2003-ppt-on-slideshare; letzter Zugriff am 1. Juli 2013. Eine kritische Analyse der Sicherheitsratssitzung als „Gremium unverbindlicher Selbstdarstellung“ findet sich bei Wolfgang Sofsky (2003: 62).
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terials, sondern wurde auch durch sein eigenes Image unterstrichen, da er nicht zu den neokonservativen Falken im Umfeld von Bush gezählt wurde. Trotz dieses performativen Erfolges gelang es den Amerikanern und ihren Verbündeten nicht, die anderen Mitglieder des Sicherheitsrates und ihre Experten von der unmittelbaren Bedrohung durch den Irak zu überzeugen. Ein Missgeschick stellte Powells Performance allerdings in ein schlechtes Licht: Im Vorfeld der Veranstaltung wurde eine Kopie von Picassos Gemälde Guernica, das sich in einem Vorraum des Sitzungsaals befand, auf Wunsch der Amerikaner verhängt (vgl. Schweizer & Vorholt 2003; Paul 2005a), was paradoxerweise die Aufmerksamkeit auf das Bild lenkte und in seinem ikonischen Status als Antikriegsbild bekräftigte. Gerade die Bemühungen um eine Verhüllung des Bildes erregten eine große mediale Aufmerksamkeit, die die „Powell-Point-Präsentation“ fragwürdig erscheinen ließ. Am 19. März war es dann so weit: Die Alliierten griffen den Irak – auch ohne eine erweiterte Resolution – erst aus der Luft, dann auch mit Bodentruppen an. Während der Kriegshandlungen wurden immer wieder amerikanische und europäische Reporter in Bagdad verhaftet und im Abu-Ghraib-Gefängnis untergebracht.43 Der Irakkrieg von 2003 lässt sich, wie schon der Afghanistankrieg, als ein Versuch der Bewältigung der traumatischen Erfahrung von 9/11 begreifen, aber er stellt auch eine Fortsetzung des unvollendeten Golfkrieges von 1991 dar. Georg W. Bush oblag es, die Mission seines Vaters zu vollenden, wofür eine Bodeninvasion vonnöten war. Wie Smith (2005: 160-166) in seiner Analyse des Irakkrieges überzeugend darlegt, war die treibende narrative Rahmung des Krieges eine „apokalyptische“. So ging es in erster Linie darum, die Bedrohung der freien Welt durch Massenvernichtungswaffen abzuwehren. Es gab allerdings noch einen zweiten narrativen Strang im amerikanischen Diskurs, der als „romantisch“ bezeichnet werden kann: Eine Heldengeschichte von der Befreiung des irakischen Volkes aus den Fängen des bösen Diktators. Nach der Invasion der Alliierten wurde im Irak nach Indizien für die Existenz von Massenvernichtungswaffen oder Beziehungen zu Al-Quaida und im Abu-Ghraib-Gefängnis nach Belegen für die Menschenrechtsverletzungen des Regimes gesucht – zumindest für Letzteres ließen sich Beweise finden.44 Obwohl weder Massenvernichtungswaffen noch Verbindungen zu Al-Quaida gefunden worden waren und sich das apokalyptische Szenario somit als nichtig entpuppte, konnte 43 „Freed journalists describe Iraqi prison horrors“, in: The Washington Times, 3. April 2003. Ironischerweise spiegelt sich hier der Status der Inhaftierten in Guantanamo und der späteren Gefangenen im Irak wieder. Vgl. auch „A nation at war. Survivors; Journalists Tell of a Prison Filled With Screams“, The New York Times, 3. April 2003. 44 „Aftereffects. Prison Graveyard; Threat Gone, Iraqis Unearth Hussein’s Nameless Victims“, The New York Times, 25. April 2003. Vgl. auch „Prison graveyard tells a tale of brutality in Saddam’s Iraq: Only numbers mark plots: Executions continued until a week before the invasion“, in: National Post (Canada), 23. April 2003.
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doch zumindest am romantischen Narrativ der „Operation Iraqi Freedom“ festgehalten werden. Allerdings versetzte der Abu-Ghraib-Skandal dieser letzten positiven Rechtfertigung des Krieges, nämlich der Befreiung des irakischen Volkes von seinen Unterdrückern, einen symbolischen Todesstoß, da die Fotografien aus dem Gefängnis die Befreier als die neuen Unterdrücker porträtierten, die einfach die Nachfolge von Husseins Schergen angetreten hatten. Während im Golfkrieg von 1991 das Bild eines hochtechnisierten Krieges gezeigt und gezeichnet wurde, änderte sich die Bildstrategie der Amerikaner im Irakkrieg 2003 grundlegend (Paul 2007). Die Zensur wurde entschärft, und den militärischen Einheiten wurden sogar Pressefotografen („embedded photographers“) zugeteilt (Paul 2005a: 68-91; Rid 2007: 151-171). Mit dieser neuen Bildpolitik verfolgte die US-Armee im Wesentlichen zwei Ziele: Einerseits war es, so Horst Bredekamp, „das Ziel, durch eine teilnehmend-mitkämpfende Präsenz das Kampferlebnis in einen neuen Heroismus zu überführen“ (2005: 5); andererseits ging es auch darum, eine Kumpanei zwischen Reportern und Soldaten zu fördern, die eine Selbstzensur der Reporter wahrscheinlich machte. Allerdings blieben Bilder von toten USSoldaten und Särgen nach wie vor strengstens verboten. Robin Wagner-Pacifici zeigt in ihrem Buch The Art of Surrender (2005), dass für die Beilegung von Konflikten eine Dekomposition von Souveränität der unterlegenen Seite notwendig ist. Diese kann nur performativ erzielt werden. In vielen modernen Kriegen kommt es gar nicht mehr zum Akt der Kapitulation, weswegen diese durch eine einseitige Inszenierung ersetzt werden muss. Gerade am Irakkrieg von 2003 lässt sich die Inszenierung und Visualisierung eines Souveränitätswechsels ausgesprochen gut aufzeigen (vgl. Weiß 2009). So wurde Saddam Husseins Palast, ebenfalls in dem Bagdader Vorort Abu Ghraib gelegen, nach seiner Eroberung demonstrativ für ein Treffen der alliierten Generäle genutzt.45 Natürlich hätte man sich auch außer Landes oder aber auf einem Flugzeugträger treffen können. Dies wäre vermutlich einfacher, sicherer und zielführender gewesen. Der performative Effekt dieser Versammlung wäre dann allerdings ausgeblieben. Das Treffen im Palast des ehemaligen Despoten stellte die Souveränität von Hussein in Frage und signalisierte zugleich die militärische Kontrolle über das Kriegsgebiet. Auch einfache amerikanische Soldaten ließen sich in den besetzten Palästen des Diktators ablichten (Paul 2005a: 97-100; Weiß 2009: 82-85). Die Inszenierung des Triumphes setzte sich dann in der Demontage von Herrschaftssymbolen des Regimes fort (Sofsky 2003: 130-136). Hervorzuheben ist der gefilmte Sturz einer Statue Saddam Husseins (Paul 2005a: 101f.; Weiß 2009: 85-88). Man versuchte, die Demontage der Herrschaftssymbole als ein Werk des irakischen Volkes darzustellen. Allerdings griffen die amerikanischen Soldaten der „empörten Menge“ dabei kräftig unter die 45 „A Nation at War. Postwar Planning; U.S. Generals Meet in Palace, Sealing Victory“, The New York Times, 17. April 2003.
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Arme. Dabei wurde der Kopf der Statue vor ihrem Sturz mit einem Sternenbanner verhüllt, was als performative Fehlleistung gewertet werden muss, da sie das Narrativ vom spontanen Ausbruch des Volkszorns unglaubwürdig erscheinen ließ. Das Sternenbanner suggerierte nicht nur einen Irak unter amerikanischer Besatzung, sondern stellte auch einen ikonographischen Vorgriff auf die verhüllten Häftlinge von Abu Ghraib dar. Die bewusste Erniedrigung von Saddam Hussein nach dessen späterer Festnahme, deren Bilder um die Welt gingen, kann ebenfalls als eine Fortsetzung des „symbolischen Tyrannenmords“, als eine „Entmythisierung“ des einstigen Herrschers gedeutet werden (Weiß 2009: 88-90). Einen vorläufigen Höhepunkt erfuhr die Inszenierung des kriegerischen Triumphes aber in der sogenannten „Top-Gun-Rede“ von George W. Bush, bei der er sich als Kriegsheld in Szene setze (vgl. Dörner 2009): Am 1. Mai 2003 landete Bush in voller Fliegermontur in einem Kampfflugzeug auf dem Flugzeugträger „Abraham Lincoln“. Dort erklärte er vor versammelter Mannschaft und der Weltöffentlichkeit vor einem Siegesbanner („Mission Accomplished“) die Hauptkampfhandlungen für beendet. Allerdings kam es aber auch nach dem proklamierten Ende des Kampfgeschehens immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen und Anschlägen. Die sorgfältig orchestrierte Performanz von Bush wurde im Rückblick zu einer gescheiterten Performanz, da die narrative Rahmung des Krieges als einem triumphalen Sieg des Guten über das Böse angesichts des zunehmenden Widerstands zu einer Farce zu verkommen drohte (6.5). Nach der Eroberung Bagdads dauerte es nicht lange, bis das Abu-GhraibGefängnis von den amerikanischen Befreiern/Besatzern wieder in Betrieb genommen wurde. Allerdings geriet die Anlage und die dort stationierten Truppen und Gefangenen regelmäßig unter feindlichen Beschuss.46 Für viele Iraker wurde das Abu-Ghraib-Gefängnis zu einem Symbol für die verhassten Besatzer, während die Amerikaner angesichts des aufkeimenden Widerstandes sichtlich nervös wurden. Am 18. August erschossen amerikanische Truppen versehentlich einen palästinensischen Kameramann, der vor den Toren des Abu-Ghraib-Gefängnisses für die Nachrichtenagentur Reuters filmte. Der verantwortliche Soldat gab zu Protokoll, die Kamera fälschlicherweise für einen Raketenwerfer gehalten zu haben. Die Ermittlungen gegen den Soldaten wurden daraufhin eingestellt. Zunehmend wurde in den westlichen Medien auch von der Willkür berichtet, die Amerikaner bei der Festnahme von Verdächtigen hätten obwalten lassen. So wurde ein Exiliraker nur drei Tage nach seiner Rückkehr in die befreite Heimat festgenommen und ohne Angabe von Gründen über einen Monat lang festgehalten. 46 „After the war. Combat; G.I. Killed and 6 Are Wounded in Stepped-Up Attacks“, The New York Times, 17. Juli 2003; „Attacks in Iraq Might Be Signs of New Tactics“, 18. August 2003; „The Struggle for Iraq. Casualties; Car Bombing Outside U.N. Mission in Baghdad Kills at Least One and Injures Others“, 22. September 2003.
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Eine geglückte Transformation von Souveränität ist immer auch eine Frage der Performanz – dies betrifft sowohl den irakischen Staat als auch das Gefängnis von Abu Ghraib. Nachdem Abu Ghraib als amerikanisches Militärgefängnis wiedereröffnet wurde, lud die Militärführung eine Gruppe westlicher Journalisten ein, um den Wandel des Gebäudes vor Ort zu bezeugen. Robert Fisk von der britischen Zeitung Independent schildert in einem Artikel vom 17. September 2003, also wenige Tage vor den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib, den vermeintlichen Wandel mit ironisch-skeptischen Untertönen: „No pictures of the prisoners, we were told. Do not enter the compound. Do not go inside the wire. Of the up to 800 Iraqis held here, only a handful are ‚security detainees‘ – the rest are ‚criminal detainees‘ – but until now almost all of them have lived out here in the heat and dust and muck. Which is why the Americans were so pleased to see us at Saddam’s vile old prison yesterday: things are getting better. […] In the newly painted cells there are blankets and toothpaste, toothbrush, soap and shampoo for every man, neatly placed for them – and for us, I suspect – on their prison blankets. Even the jail canteen has been re-floored with new tiles.“47
Das Gebäude wurde oberflächlich renoviert, nicht zuletzt um den Reportern und der Öffentlichkeit jenen tiefgreifenden moralischen Wandel zu signalisieren, den das Gefängnis durchlaufen habe. Allerdings war diese Performanz nur begrenzt erfolgreich, da Fisk die Künstlichkeit der Inszenierung zum Thema macht und damit ihre Authentizität untergräbt. So beschreibt er die Führung durch das Gefängnis als theatralische Inszenierung für die Reporter (2.3.2), die nur begrenzt die wirklichen Zustände wiedergespiegelt habe. Die Oberkommandierende des Gefängnisses, General Janis Karpinski, die sich später auch für den Abu-Ghraib-Skandal zu verantworten hatte (8.5.1), versuchte das Gefängnis von seiner besten Seite zu präsentieren, aber musste sich auch einigen kritischen Nachfragen stellen: „[…] she had a little difficulty at first in recalling that there was a riot at the jail in May in which US troops used ‚lethal force‘ when protesting prisoners threw stones and tent-legs at American military policemen. The troops killed a teenage inmate. But she was remarkably frank on other events: such as the fact that the Americans in Abu Ghraib are attacked four out of every seven nights with mortar shells, small arms and rocket-propelled grenades. That’s 16 times a month. And that’s a lot of attacks.“ 48
47 „Saddam’s vilest prison has been swept clean, but questions remain“, in: The Independent (London), 17. September 2003. 48 „Saddam’s vilest prison has been swept clean, but questions remain“
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Der Artikel macht also deutlich, dass es schon in den ersten Wochen nach der Wiedereröffnung des Gefängnisses problematische Zwischenfälle, ja sogar Todesfälle, gegeben hat, die aber so gut wie keine Beachtung in der westlichen Öffentlichkeit fanden. Er thematisiert auch die Gefahr für Leib und Leben, der die amerikanischen Soldaten in Abu Ghraib Tag für Tag ausgesetzt waren. Im Fortgang wird über die 800. Militärpolizei-Brigade berichtet, die für die Pflege („caring“) und Bewachung („guarding“) der Gefangenen verantwortlich war. General Karpinski, die im Interview erwähnt, dass sie vor ihrem Einsatz im Irak das Gefangenenlager in Guantanamo Bay für einige Tage besucht habe („but had not brought any lessons learnt there to Baghdad“), bestätigt auch die Anwesenheit des militärischen Geheimdienstes in Abu Ghraib. Allerdings betont sie mit Nachdruck, dass die Militärpolizei bei den Verhören selbst nicht anwesend gewesen sei. Zur 800. MP-Brigade gehörten, wie die Öffentlichkeit bald erfahren sollte, auch die Täter von Abu Ghraib. Das Lager wurde allerdings nicht ausschließlich von Angehörigen des amerikanischen Militärs betrieben. Nach einigen Interviews stellte sich heraus, dass ein Großteil des irakischen Personals schon unter Saddam Hussein in Abu Ghraib beschäftigt war: „Then came the head doctor of Abu Ghraib prison, Dr Majid. When I asked him what his job was when Saddam used the place as a torture and execution centre, he replied that he was, um, the head doctor of Abu Ghraib prison. Indeed, half his staff were running the medical centre at Abu Ghraib under the Saddam regime. […] The new Iraqi prison guards at Abu Ghraib have been trained in human rights – including two, it turned out, who had been police officers under the Saddam regime.“49
Der Reporter gibt seiner Beunruhigung über die personelle Kontinuität im Gefängnis einen unmissverständlichen Ausdruck. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die Transformation des als oberflächlich. So übernahmen die Amerikaner nicht nur das Gebäude, sondern auch weite Teile des Mitarbeiterstabes, der in direkter oder indirekter Verbindung zu den Gräueltaten des ehemaligen irakischen Diktators stand. Die „Unreinheit“ des Hussein-Regimes drohte auch hier auf die amerikanischen Truppen überzugreifen. Die kosmetischen Veränderungen können nicht über die institutionellen Mängel hinwegtäuschen: „Against Saddam’s cruelty, any institution looks squeaky clean. Yet there’s a lot about Abu Ghraib that doesn’t look as clean as the new kitchens. There is still no clear judicial process for the supposed killers, thieves and looters behind the razor wire.“50 Die Zustände in dem überfüllten Gefängnis stellten die Amerikaner vor große Probleme. Erst nach der Gefangennahme von Saddam Hussein und kurz vor der Bekanntgabe der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib kündigte das amerikanische Militär die Freilassung von 9.000 bis 13.000 49 „Saddam’s vilest prison has been swept clean, but questions remain“ 50 „Saddam’s vilest prison has been swept clean, but questions remain“
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irakischen Gefangenen an. Dieser Akt muss sowohl instrumentell als auch symbolisch verstanden werden. Einerseits waren die Gefängnisse maßlos überfüllt und die Entlassung der Gefangenen schuf die bitter benötigte Entlastung. 51 Andererseits muss die Entlassung der Gefangenen auch als ein performativer Versuch verstanden werden, die eigene Souveränität als Besatzungsmacht zu unterstreichen und die Popularität bei den Irakern zu steigern. Die Amerikaner wendeten ironischerweise dieselbe Technik des hoheitlichen Gnadenaktes an, mit der schon Saddam Hussein im Vorfeld des Irakkrieges sein Volk auf seine Seite ziehen wollte. Wir haben gesehen, dass die apokalyptische Bedrohung Amerikas (und der „freien Welt“) durch Massenvernichtungswaffen aus dem Arsenal von Saddam Hussein der narrativen Rahmung und Legitimation des Irakkrieges diente. Nach dem Krieg wurden allerdings keine Massenvernichtungswaffen gefunden, womit das apokalyptische Motiv, das die irakische Bedrohung in die Nähe von 9/11 und dem Ticking-Bomb-Szenario rückte, in der Öffentlichkeit an Plausibilität und Bedeutung verlor. Enthüllungen über „aufgehübschte“ („sexed up“) Geheimdienstberichte brachten das apokalyptische Narrativ dann vollends zu Fall (vgl. Michalski & Gow 2007: 145-151). Nachdem sich die apokalyptische Rahmung verflüchtigt hatte, blieb nur noch die romantische Erzählung von der Befreiung des irakischen Volkes, die dem Militäreinsatz den Namen „Operation Iraqi Freedom“ gab, als legitimierender Rahmen übrig. Trotz der symbolischen Inszenierung des Sieges der Alliierten über das Regime von Saddam Hussein („Mission Accomplished“) kam es immer wieder zu Kämpfen mit Aufständischen. Damit geriet die „Befreiung“ des irakischen Volkes in diskursive Nöte. Die Alliierten wurden mehr und mehr als Besatzer des Iraks wahrgenommen. Während des ersten halben Jahres nach Kriegsende fielen mindestens 10.000 irakische Zivilisten den alliierten Streitkräften zum Opfer.52 Aber auch die Besatzungsmächte wurden mit steigenden Verlusten konfrontiert, was darauf hindeutete, dass man zunehmend die Kontrolle verlor. Die Truppen der Alliierten befanden sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Fotografien von Abu Ghraib in einer schwierigen Lage. Am 6. Oktober 2003 griff das Time Magazine auf das bekannte Bild von Bush in Fliegermontur zurück, titelte aber „Mission not accomplished“. In dem Magazin wurde schon Mitte 2003 durch einen Artikel mit dem Titel „Iraq is Not Vietnam, But…“ wurde darauf hingewiesen, dass Vietnam nicht nur der populärkulturelle Referenzpunkt der im Irak stationierten amerikanischen Soldaten sei, sondern dass der Konflikt im Irak auch in 51 Diese Überfüllung wurde in den Untersuchungsberichten zu Abu Ghraib als wichtigste systemische Ursache der Missbrauchsfälle aufgeführt (Taguba 2005/2004: 423; Schlesinger 2005/2004: 944f.); auch Philip Zimbardo misst den situativen Gegebenheiten vor Ort eine entscheidende Bedeutung bei (2007: 332-337). 52 „Another Day in the Bloody Death of Iraq; at least 10,000 Iraqi Civilians have been gunned down since the end“, in: Independent on Sunday (London), 21. September 2003.
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anderer Hinsicht an das nationale Trauma des Vietnamkrieges erinnere: Die sich abzeichnende Dauer des Einsatzes, seine immensen Kosten, die täglichen Verluste durch Guerillaangriffe und die Popularitätsprobleme der amerikanischen Truppen bei der irakischen Bevölkerung weckten unschöne Erinnerungen. 53 Am 19. April 2004, wenige Tage vor der Enthüllung der Abu-Ghraib-Fotografien, titelte auch das deutsche Magazin Der Spiegel: „Die Falle Irak. Bushs Vietnam“. Die narrative Legitimationskrise und der militärische Misserfolg im Irak bereiteten den Boden, auf dem die Enthüllungen von Abu Ghraib ihre Wirkung entfalten konnten. Der Skandal kam zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, da die Vereinigten Staaten nun auch die moralische Oberhoheit zu verlieren drohten. Dabei waren die Missbrauchsfälle alles andere als unvorhersehbar. Schon im Juli 2003 klagte Amnesty International der Armee über ernst zu nehmende Menschenrechtsverletzungen in Abu Ghraib und anderenorts. Die Sprecherin von Amnesty, Judit Arenas Licea, kritisierte sowohl die Rechtfertigung des Krieges als auch das Verhalten der Besatzungsmacht: „‚We are disappointed that human rights were used as an excuse to go to war in Iraq and now the human rights of Iraqis are being violated,‘ she said yesterday, condemning conditions at, among other sites, Saddam Hussein’s once notorious Abu Ghraib prison“.54 Diese Kritik ging nicht nur dem Skandal fast um ein Jahr voraus, sondern wurde auch drei Monate vor den berüchtigten Missbrauchsfällen geäußert. Offensichtlich sah man weder auf Seiten der Armee noch auf Seiten der Regierung einen dringenden Handlungsbedarf. Die Berichte von Amnesty International schafften es nicht, die öffentliche Meinung zu mobilisieren. Erst die Bilder von Abu Ghraib wurden von der Armee ernst genommen. Erst ihre Veröffentlichung sorgte für eine kollektive Empörung, welche die amerikanische Regierung in Erklärungsnöte brachte und in eine narrative Krise stürzte.
53 Karon, Tony: „Iraq is Not Vietnam But…“, Time, 24. Juni 2003. 54 „US guilty of rights abuses, says Amnesty“, The Australian, 22. Juli 2003.
7. Die Skandalfotografien – Eine Interpretation
Das folgende Kapitel nimmt eine zentrale Stellung in dieser Untersuchung ein, da hier eine Auseinandersetzung mit den Abu-Ghraib-Bildern erfolgt, die im Zentrum des Skandals standen (8.1). Ohne eine eingehende Analyse der Bilder sind sowohl die performative Gewalt in Abu Ghraib als auch der durch die Fotografien angestoßene Diskurs nicht angemessen zu verstehen. Es folgt zunächst der Versuch einer ikonologischen Interpretation der einschlägigen Skandalbilder (7.1-3). Diese Interpretation hat nicht nur altbekannte Deutungen mit den Bildern zu konfrontieren und zu überprüfen, sie zu sammeln und zu systematisieren, sondern auch in Auseinandersetzung mit den Bildern neue Lesarten zu entwickeln und soziologisch fruchtbar zu machen. Die Interpretation der Bilder von Abu Ghraib ist in dieser Studie kein Selbstzweck, da sie einerseits – unter Berücksichtigung bereits vorhandener Erklärungsansätze – eine handlungsmäßige Rekonstruktion der Vorfälle in Abu Ghraib ermöglichen soll (7.4), andererseits aber auch jene bildlichen Elemente erfassen will, die für die öffentliche Rezeption der Fotografien entscheidend waren (7.5). Die hier vorgenommene Interpretation der Skandalfotografien muss einerseits von der Analyse ihrer Produktion im Rahmen eines erniedrigenden Gewaltrituals und andererseits von der Analyse ihrer öffentlichen Rezeption als Ikonen eines Medienrituals unterschieden werden. Weil die Fotografien von den Tätern selbst stammen, können sie als Dokumente einer Handlungs- und Folterpraxis aufgefasst werden, wobei die Anfertigung einer Fotografie als „Bildakt“ (im Sinne von Bredekamp 2010) in diesem Fall selbst ein Akt der Demütigung darstellt. Als Produkte einer sozialen Praxis lassen sie Rückschlüsse auf situative und kulturelle Faktoren zu, die im Produktionsprozess selbst wirksam waren. Die öffentliche Rezeption verweist ebenfalls auf einen kulturellen Hintergrund (1.2-3), vor dem diese Bilder erst ihre Wirkung entfalten konnten. Die Deutungsmuster, die Rückschlüsse auf die Produktion der Fotografien ermöglichen, und jene Motiven, die bei der Rezeption der Bilder eine Rolle gespielt haben, sind allerdings nicht koextensiv. Im Zentrum der Analyse stehen Bilder, die am 28. April 2004 in der amerikanischen Nachrichtensendung 60 Minutes erstmals gezeigt worden waren und an-
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schließend weltweit reproduziert und rezipiert wurden. Daneben sollen aber auch noch weitere Bilder hinzugezogen werden, die vom New Yorker am 3. Mai 2004 veröffentlicht wurden (8.1.1). Im Laufe des Skandals wurde offenbar, dass die USArmee über mehrere tausend Fotografien mit belastendem Material verfügte, die allerdings nur von Militärangehörigen und einigen Mitgliedern des US-Kongress eingesehen werden konnten. Aus diesem Bildreservoir tauchten zu Beginn des Jahres 2006 hunderte neuer Fotos im Internet auf, die den Skandal noch einmal aufs Neue entfachten. Eine vollständige Sammlung der bisher veröffentlichten Fotografien samt Kommentaren findet sich im Archiv des amerikanischen Internetmagazins salon.com, das auch im Folgenden als Bildquelle verwendet wird.1 Die überwältigende Mehrheit der Bilder ist jedoch nach wie vor unter Verschluss (vgl. 10.5). Zur Methode – Ikonologie als kulturwissenschaftliche Bildhermeneutik Im Folgenden geht es um eine Rekonstruktion der Bedeutung der Abu-GhraibFotografien. Um die kulturelle Einbettung sozialen Handelns am empirischen Material sichtbar machen können, benötigt man eine leistungsfähige Interpretationstechnik. Ausgangspunkt dieser methodischen Überlegungen ist die Ikonologie Panofskys (1955, 1964), die sich in den letzten Jahren auch unter Soziologen einer wachsenden Beliebtheit erfreut (2.1.1). Die Transformation der kunstgeschichtlichen Interpretationstechnik in eine sozialwissenschaftliche Methode ist dabei weniger innovativ, als es zunächst den Anschein haben könnte. Das für die Ikonologie charakteristische dreistufige Interpretationsverfahren stammt ursprünglich aus der Kultursoziologie von Karl Mannheim (2009). Es handelt sich dabei um eine genuin soziologische Methode, die Panofsky für die Kunstgeschichte adaptierte hatte und die in den letzten Jahren wieder in die Soziologie zurückgekehrt ist. Eine an die Arbeiten von Mannheim und Panofsky anknüpfende Bildhermeneutik (vor allem Bohnsack 2009) eignet sich in besonderer Weise für kultursoziologische Fragestellungen, da sie einen Zugang zu den kulturellen Mustern verspricht, die auch der Produktion und Rezeption der Abu-Ghraib-Bilder zu Grunde lagen. Die Ikonologie von Panofsky, die bereits in den Ausführungen zum Bild-Begriff vorgestellt wurde (2.1.1), stellt die methodische Grundlage für die folgenden Interpretationen dar, weswegen es lohnend erscheint, noch einmal detaillierter auf das dreistufige Interpretationsverfahren einzugehen. Die vorikonographische Interpretation erschließt dem Interpreten die Ebene des „Phänomensinn“ (Panofsky 1964). Hier kann noch einmal zwischen dem „Sachsinn“, der gegenständlichen Wahrnehmung des Dargestellten, und dem „Ausdruckssinn“, der Expressivität der dargestellten Personen, unterschieden werden. In 1
Die Bilder sind mit Zeitangaben versehen und chronologisch angeordnet; einige wurden aus ethischen Erwägungen zensiert: http://www.salon.com/news/abu_ghraib/2006/03/14/ introduction, letzter Zugriff am 23. Juni 2013.
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ähnlicher Weise wie schon das gegenständliche Sehen eine Bewusstseinsleistung in Anspruch nimmt, die einen vorintentionalen Hintergrund voraussetzt, stellt auch das Erkennen von Gegenständen auf Bildern eine vorrausetzungsvolle Leistung dar, welche auf die ikonische Differenz und die Vertrautheit mit bestimmten Darstellungstechniken angewiesen bleibt (2.1.1). Auch der menschliche Körper, der schon für sich genommen ein bildliches Ausdrucksmedium darstellt (2.1.2), muss zunächst einmal in seiner bildlichen Darstellung identifizierbar sein, bevor dieser Darstellung ein psychisches Innenleben zugeschrieben werden kann (vgl. 3.2.2). Der Ausdrucksinn des Bildes trägt damit der Tatsache Rechnung, dass Mimik, Gestik und Haltung der dargestellten Personen immer auch als Repräsentationen innerer Zustände gedeutet werden. Die vorikonographische Beschreibung des Bildes ist keine bloße Beschreibung dessen, „was auf dem Bild zu sehen ist“, sondern schon selbst eine Interpretation von Techniken und Stilen der Darstellung, die immer relativ zu einem kulturellen Hintergrund sind. Die vorikonographische Beschreibung gehört – als Explikation der impliziten Leistung, die jeder „normale“ Betrachter eines Bildes von alleine erbringt – zum Kerngeschäft der Kunstgeschichte, die Techniken und Stile der gegenständlichen (und nichtgegenständlichen) Darstellung einer vergleichenden Untersuchung unterziehen kann. In der Fotografie scheint die Bedeutung von Techniken und Stilen in den Hintergrund zu treten, da sich die mechanische Produktion der Fotografie zunächst einmal grundlegend von der handwerklichen Arbeit eines bildenden Künstlers unterscheidet. Dieser „Objektivität“ der Darstellung verdankt das fotografische Medium seine eigentümliche Transparenz und seinen naturalistischen Stil (2.1.3). Allerdings gibt es auch bei Fotografien stilistische Unterschiede in der gegenständlichen Darstellung des Bildinhalts, die sich unter anderem in der Perspektive, der Schärfe und der Belichtung des Bildes äußern. Die ikonographische Interpretation geht über die vorikonographische Beschreibung hinaus, indem sie die den „Bedeutungssinn“ des Bildes freilegt, der sich aus der Verwendung konventioneller Zeichen und historisch überlieferter Bildmotive speist. Panofsky (1964) geht es in erster Linie um Motive, die sich auf die Intention des Künstlers zurückführen lassen. Von einer wirkungsgeschichtlichen oder rezeptionsästhetischen Perspektive kommend lassen sich aber auch noch Motive hinzunehmen, die erst für den Rezipienten eine Bedeutung gehabt haben können. Während die ikonographische Analyse schon lange zum Kernbestand kunstgeschichtlicher Methoden gehört, stellt die von Panofsky vorgeschlagene ikonologische Interpretation eine bedeutsame Erweiterung dar: Der Wissenschaftler kann nämlich, im Anschluss an die vorhergehenden Interpretationsschritte, nach dem „objektiven“ oder „latenten“ Sinngehalt eines Bildes, seinem „Dokumentsinn“ (Mannheim 2009) oder „Wesenssinn“ (Panofsky 1964) fragen. Dieser letzte Schritt ist nicht nur für die Kunstgeschichte, sondern für alle Kulturwissenschaften von höchster Bedeutung, da hier das Kunstwerk als „kulturelles Symptom“ einer Epoche, Gruppe oder
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Kulturkreises gelesen wird. Während sich die Ikonographie auf den Inhalt des Bildes bezieht, zielt die Ikonologie auf seine innere „Struktur, an deren Aufbau Charakter, Herkunft, Umgebung und Lebensschicksal in gleicher Weise mitgearbeitet haben“ (Panofsky 1964: 93).2 Diese letzte Stufe der Interpretation ist der Schlüssel zur Weltanschauung, einem kulturellen System, in das jede Handlung und natürlich auch jedwede fotografische Praxis eingebettet ist. Der ikonologische Gehalt eines Bildes verweist auf den Habitus des Bildproduzenten (2.1.1). Der Habitus als kultureller Hintergrund und Erzeugungsprinzip des Handelns dokumentiert sich nicht nur im klassischen Kunstwerk, sondern auch in den sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie (Bourdieu 1983a: 17; vgl. 2.1.3). Ralf Bohnsack (Bohnsack 2007, 2009) hat die ikonologische Methode von Panofsky um einige wichtige Elemente erweitert, die teils seiner Arbeit mit Fotografien, teils seiner Rezeption neuerer Kunsttheorien geschuldet sind. So macht es bei fotografischen Bildern Sinn, zwischen einem „abbildenden“ und einem „abgebildeten Bildproduzenten“ zu unterscheiden. Nicht nur der Fotograf mit seiner Kamera, sondern auch die fotografierte Person ist an der Entstehung des fotografischen Bildes beteiligt – was einerseits dem Bildcharakter des menschlichen Körpers (2.1.2), andererseits aber dem mechanischen Abbildungsverhältnis der Fotographie geschuldet ist (2.1.3). Dies trifft schon auf einfache Schnappschüsse zu, tritt aber mit besonderer Deutlichkeit zu Tage, wenn die abgebildeten Personen – wie die Soldaten in Abu Ghraib (7.2-3) – für die Kamera posieren. Darüber hinaus unterscheidet Bohnsack (2007) in seinen allgemeinen Ausführungen zur dokumentarischen Methode zwischen einem „intendierten Ausdrucksstil“ und einem „habitualisierten Stil“. Während es sich bei dem intendierten Ausdrucksstil um ein strategisch platziertes Image handelt, kommt im habitualisierten Stil der unbewusste und vorintentionale Hintergrund zum Ausdruck (1.2-3). Diese Unterscheidung lässt sich sehr gut auf die Interpretation von Fotografien übertragen. Die Pose vor der Kamera zeigt den intendierten Ausdrucksstil eines Menschen, der sich auf eine bestimmte Weise in Szene zu setzen versucht. Dieser intendierte Ausdruckstil operiert mit gesellschaftlich etablierten Bedeutungen, die einer ikonographischen Interpretation zugänglich ist. Auf der Ebene der ikonologischen Interpretation wird jedoch auch der nichtintendierte, habitualisierte Stil einer Performanz vor der Kamera sichtbar, der als Ausdruck einer Gruppenkultur, Schichtzugehörigkeit oder geschichtlichen Epoche gelesen werden kann. In Fotografien kann sich eine Spannung zwischen intendiertem und nichtintendiertem Ausdrucksstil manifes2
Panofsky zufolge liegt jedem Kunstwerk, wie auch jeder anderen „Lebensäußerung“, ein „wesensmäßiger Gehalt“ zu Grunde, nämlich „die ungewollte und ungewusste Selbstoffenbarung eines grundsätzlichen Verhaltens zur Welt, das für den individuellen Schöpfer, die individuelle Epoche, das individuelle Volk, die individuelle Kulturgemeinschaft in gleichem Maße bezeichnend ist“ (1964: 93).
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tieren, beispielsweise wenn eine Pose verunglückt oder sich eine Performanz durch eine unbeabsichtigt mitgeteilte Information desavouiert. Schließlich erweitert Bohnsack das dreistufige Modell von Panofsky noch um Elemente der „ikonischen Interpretation“ nach Max Imdahl (2006), mit denen auch die formalen Aspekte der Bildkomposition, die der gegenständlichen Darstellung auf dem Bild vorausgehen, in den Blick genommen werden können Die hier vorgenommene Interpretation der Bilder soll unter anderem jene kulturellen Muster sichtbar machen, die die Täter von Abu Ghraib angeleitet haben könnten. Dabei werden auch Interpretationen der Bilder herangezogen, die im öffentlichen und im akademischen Diskurs diskutiert wurden. Damit kommt zugleich die Rezeption der Bilder ins Blickfeld, die einen Zugang zu den kulturellen Hintergründen der Interpreten eröffnet. In einer rezeptionsästhetischen Erweiterung der Theorien von Panofsky und Bohnsack hat Burkhard Michel (2006) darauf hingewiesen, dass Bilder ambigue Elemente und Leerstellen aufweisen, bei deren Deutung und Füllung der jeweilige Habitus des Rezipienten eine wichtige Rolle spielt. Der Rückgriff auf die bereits bestehenden Bildinterpretationen erfüllt damit einen doppelten Zweck: Einerseits wird die intersubjektive Geltung der hier vorgenommenen Deutungen ausgewiesen, andererseits fallen sie selbst in den Gegenstandsbereich dieser Arbeit. Die Interpretation der Bilder, deren Grundstock in einer Gruppendiskussion gelegt wurde,3 erfolgte nach dem Stufenschema von Panofsky und Bohnsack. Allerdings wurde bei der Darstellung zu Gunsten einer sachlichen Kohärenz und einer narrativen Stringenz auf eine sklavische Imitation dieses Interpretationsschema verzichtet.
7.1 I NTERPRETATION I – D IE I KONE DES S KANDALS Of all the photographs of American soldiers tormenting Iraqi prisoners in the Abu Ghraib prison one alone has become the icon of the abuse. SARAH BOXER, JOURNALISTIN4
Die „hooded figure“ ist wohl das bekannteste und einflussreichste Skandalbild von Abu Ghraib (Abb. 1). Es gehört zu einer Serie von sechs Fotografien, die am 4. November 2003 zwischen 21:45 und 23:15 entstanden sind.5
3
Dank gebührt an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich den anderen Mitgliedern des „soziologischen Quartetts“, nämlich Heike Kanter, David Pachali und Susanne Friedel, die sich Anfang 2007 in der damaligen Berliner Wohnung des Verfassers zu einer äußerst ergiebigen Interpretationssitzung einfanden.
4
„Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal“, The New York Times, 13. Juni 2004.
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Abbildung 1: Die Ikone des Skandals
Salon.com, Foto vom 4. November 2003, 23:01
Auf dem Bild ist ein Gefangener zu sehen, der mit verhülltem Gesicht und verkabelten Händen auf einer Kiste steht. Das Opfer gab zu Protokoll, dass er Stromschlägen erhalten würde, sollte er von der Kiste herunterfallen. Der entsprechende Militärbericht enthält nicht nur eine knappe Beschreibung des Bildes (Fay & Jones 2005/2004: 1079), sondern gibt darüber hinaus auch Informationen preis, die nicht direkt aus dem Bild ersichtlich werden.6 So erfährt man etwas über die Täter, aber auch, dass ein Stromkabel am Penis des Mannes befestigt wurde – ein unsichtbares Detail, das auf die symbolische Kastrationsandrohung einer späteren Bildinterpretation verweist (7.3.1). Der Bericht enthält außerdem eine klare Schuldzuweisung, wobei die Military Intelligence (MI), der amerikanischen Militärgeheimdienst, explizit von jeglicher Beteiligung oder auch nur Mitwisserschaft ausgenommen wird. Von all diesen Fakten, die zum Teil auch dem öffentlichen Diskurs über die Bilder zur Verfügung standen,7 ist zunächst aus methodischen Gründen Abstand zu neh5
Vgl. die Bilder 17-22 auf http://www.salon.com/news/abu_ghraib/2006/03/14/chapter_4/ slideshow.html; letzter Zugriff: 23. Juni 2013.
6
Der Zwischenfall als zehnter (von 40) geführt. Für eine Rekonstruktion des Tathergangs
7
Dass dem Gefangenen mit Elektroshocks gedroht worden war, wurde schon bei der Erst-
auf Basis von Täterinterviews, vgl. auch Gourevitch und Morris (2009: 186-188). ausstrahlung der Bilder auf CBS bekannt gegeben und auch in den ersten Zeitungsberich-
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men. Das kontextspezifische Vorwissen muss zunächst im phänomenologischen Sinne „eingeklammert“ werden. Erst nachdem der Eigenlogik der Bilder Genüge getan wurde, ist es wieder schrittweise bei der Interpretation zu berücksichtigen. 7.1.1 Vorikonographische Beschreibung und ikonische Interpretation Die vorikonographische Beschreibung richtet sich auf den gegenständlichen Inhalt eines Bildes, während bei der ikonischen Interpretation nach Imdahl (Imdahl 2006) und Bohnsack (2009) die formalen Bildstrukturen in den Blick genommen werden. Zunächst soll mit einer knappen Beschreibung des Bildinhaltes begonnen werden. Im Vordergrund ist eine mit schwarzem Stoff behängte Gestalt zu sehen. Die Hände, die Füße und der zwischen Umhang und Kapuze aufblitzende Hals lassen einen menschlichen Körper erkennen – ohne diese kleinen Details könnte es sich auch um eine Vogelscheuche handeln. Auf der rechten Seite des Bildes sind Leitungen zu sehen, die vom Fußboden ausgehend in einem „schwarzen Fleck“ zwischen Decke und Wand münden. An den Fingern der menschlichen Gestalt sind Kabel oder Drähte befestigt, die in den Hintergrund des Bildes führen, wo sie auf die Leitungen treffen. Der Verhüllte steht mit leicht angewinkelten Füßen auf der schmalen Kiste, die sich auf einem grauen Betonboden befindet, der das untere Viertel der Bildfläche einnimmt. Für die formale Struktur des Bildes sind die beiden horizontalen Linien im Hintergrund, die von links nach rechts leicht ansteigen, von zentraler Bedeutung, da sie die Instabilität der Szene verstärken. Darüber hinaus wird die Bildkomposition von der angedeutete Kreuz- und Dreiecksform der schwarzgewandeten Gestalt bestimmt. Die Horizontale des Kreuzes, die leicht nach unten hängenden Arme, messen den mittleren Bildteil fast vollständig aus, während die Achse Kiste/Kapuze die Vertikale bildet, die in den unteren und oberen Bildteil hineinragt – wie auch die Leitungen, welche sich vom Boden aus senkrecht über die Wand bis an die Decke erstrecken. Durch die Vertikale des Kreuzes und der Leitungen sticht das leichte Hängen der Arme und die Schräge der horizontalen Hintergrundlinien besonders ins Auge. Zusammen mit der spitz zulaufenden Kapuze bilden die Arme eine ikonisch bestechende Dreiecksform (die mit Podest und Körper an einen nach oben gerichteten Pfeil erinnert). Während das Hängen der Arme einen Eindruck von Schwäche vermittelt, was schon in den Bereich des Ausdruckssinn gehört, verstärkt die Schräge im Hintergrund die Instabilität des szenischen Arrangements. Auf Bildern, die menschliche Körper zeigen, muss auch noch der Ausdrucksinn des Körperbildes berücksichtigt werden. Die Gestalt auf dem Bild wirkt auf den ersten Blick skurril. Warum sollte sich ein Mensch in diesem Aufzug in die abgebildete Position begeben und sich dabei auch noch ablichten lassen? So verwundert
ten aufgegriffen. Vgl. „U.S. Tries to Calm Furor Caused by Photos; Bush Vows Punishment for Abuse of Prisoners“, The Washington Post, 1. Mai 2004.
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es kaum, dass Slavoj Žižek das Arrangement auf dem Foto auf den ersten Blick für eine art performance hielt: „Als ich zum ersten Mal das bekannte Foto des nackten Gefangenen sah, der, den Kopf mit einer Schwarzen Kapuze bedeckt und die Gliedmaßen mit Stromkabeln versehen, in einer lächerlich theatralischen Pose auf einem Stuhl steht, dachte ich zunächst, es handele sich um ein künstlerisches Ereignis in Lower Manhattan“.8 Schließt man als Betrachter aufgrund des mitgelieferten sozialen Kontextes das Vorliegen einer freiwilligen Performanz aus, so bleibt eigentlich nur noch die Möglichkeit, dass der Abgebildete gezwungen wurde, sich in diese Position zu begeben. Offensichtlich befindet sich der Gefangene in einer von seinen Peinigern inszenierten Situation, in der er – durch Drohungen gezwungen – das Gleichgewicht auf dem schmalen Paket halten soll. Bei den Drähten, die von den Fingern zu den Leitungen in der Wand gehen, könnte es sich um Stromkabel handeln, was nahe legt, dass das Opfer jederzeit Stromschläge bekommen könnte.9 Die Bedrohung durch Stromschläge erinnert an ein in manchen amerikanischen Bundesstaaten nach wie vor eingesetztes Hinrichtungswerkzeug, den elektrischen Stuhl, weswegen es auch wenig überrascht, dass dieses Motiv auch bei der Rezeption der Bilder eine Rolle spielte (7.1.3). Die Kapuze, bei der es sich im Übrigen um einen zweckentfremdeten Schlafsack handelte, raubt dem Opfer nicht nur Sicht und Orientierung, sondern beeinträchtigt auch seinen Gleichgewichtssinn. Dies erleichterte es den Soldaten, sich die Willfährigkeit des verunsicherten Opfers zu erzwingen.10 Aus der Perspektive des Opfers kommt die sensorische Deprivation bei gleichzeitigem Ausgeliefertsein an die Täter einem Verlust von Welt und einer Erfahrung von Ohnmacht gleich – nicht unähnlich dem „unmaking of the world“, das Elaine Scarry (1985) zufolge durch extreme Schmerzen herbeigeführt werden kann. Die Daueranwendung dieser Verhörtechnik kann zu Halluzinationen und Psychosen führen. In der Perspektive des Täters nimmt die Verhüllung dem Opfer sein menschliches Antlitz und damit den körperbildlichen Ausdruck seiner Personalität 8
„Die Amerikaner kontrollieren gar nichts! Nicht mal sich selbst! Warum Comical Ali recht behalten hat: einige Überlegungen über Abu Ghraib und das Unbewusste in der Popkultur“, Berliner Zeitung, 23. Juni 2004. Im Original: „Between Two Deaths. The Culture of Torture“, London Review of Books, 3. Juni 2004.
9
Allerdings handelte es sich bei den Drähten lediglich um Attrappen, so zumindest der offizielle Bericht. Dies Tat ihrem Einsatz als Drohmittel jedoch keinen Abbruch.
10 Das amerikanische Verteidigungsministerium hat sowohl Verhüllung („Hooding during transport & interrogation“) und Täuschung („Deception“) von Gefangenen als auch das Spiel mit ihren Ängsten („Inducing stress by use of detainee’s fears“) als Verhörtechniken in Guantanamo und Afghanistan ausdrücklich gestattet (vgl. die Memos 16-21 in Greenberg & Dratel 2005: 223-237, aber auch die Liste auf Seite 1239). Obwohl nicht alle diese Techniken für die Militärgefängnisse im Irak freigegeben waren, fand eine „Migration“ von Foltertechniken in den Irak statt (vgl. Schlesinger 2005/2004: 911; 8.5.2).
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(vgl. 2.1.2). Durch die Technik des „hooding“, die übrigens im Zuge des Skandals von der Armee in Abu Ghraib verboten wurde,11 wird das Opfer entmenschlicht und entindividualisiert. Das Opfer präsentiert sich dem Täter nunmehr als ein bloßes „Ding“. Die nackten Füße, die offenen Handflächen und der entblößte Hals sind das einzige, was wir vom Körper des Gefangenen sehen. Die ausgestreckten Arme führen zu einer offenen Körperhaltung, die in anderen Kontexten als Begrüßung oder Segen interpretiert werden könnte, hier aber die Verletzbarkeit des Körpers zur Schau stellt. Die Darstellung bewegt sich damit im Spannungsfeld zwischen der Verhüllung des Opfers und seiner existenziellen Nacktheit. 7.1.2 Der Fotograf und die Ikonographie der Inszenierung Von der Fotografie lässt sich auf einen Fotografen schließen, bei dem es sich um einen der Täter handeln könnte. Ja, es muss sogar von einer Komplizenschaft zwischen Kamera und Täter ausgegangen werden, die durch das Medium der Fotografie begünstigt wird: Wer fotografiert, beobachtet. Wer beobachtet, greift zunächst einmal nicht ein. Der Fotograf bringt sich auf Distanz zur Welt und dokumentiert diese, statt sie zu verändern. Wer in einer Situation, in der Menschen gedemütigt werden, zur Kamera greift, statt dem Opfer zu Hilfe zu eilen, macht sich selbst schuldig. Dass der Habitus des Täters und des Fotografen in diesem Bild zusammenfallen, zeigt sich unter anderem daran, dass diese abgebildete Situation nicht nur inszeniert wirkt, sondern vermutlich auch mit Blick auf das Foto arrangiert wurde. Damit dreht sich das Verhältnis von Theorie und Praxis, Urbild und Abbild, Ursache und Wirkung um. Die antizipierte Fotografie wird zur Ursache dieser spezifischen Form von Folterpraxis. Die Kamera wird produktiv, so dass von einer reinen Dokumentation der Wirklichkeit nicht mehr die Rede sein kann. 12 Inwiefern handelt es sich bei den fotografisch dokumentierten und inszenierten Szene aber um eine Form der Erniedrigung oder gar der Folter? Zunächst ist einmal festzuhalten, dass das Opfer von den Tätern in seiner Position fixiert und auf eine völlige Passivität reduziert wird, während seine Peiniger über seinen Körper absolut verfügen können. Die Situation des Opfers wurde ihm von seinen Peinigern auferlegt. Aufgrund von Schmerz- oder gar Todesdrohungen sah es sich gezwungen, diese Position einzunehmen und in dieser zu auszuharren. Diese Haltung fordert vom Opfer äußerste Anstrengungen, sie führt zu Ermüdung und verursacht Schmerzen. 11 „Early signs were given secondary priority“, USA Today, 10. Mai 2004. 12 Dieser grundlegende Wandel – vom Gewaltakt zum Bildakt – ist insbesondere im Krieg gegen den Terror offensichtlich geworden (Bredekamp 2010: 224ff.). Die symbolische Wirkung der Anschläge von Terroristen sind auf die Augen der Weltöffentlichkeit und Kameras angewiesen. Es werden Inszenierungen geschaffen, um im Bilde gesehen zu werden, so z.B. bei der Inszenierung des Triumphes im Irak (6.5) oder der Enthauptung des amerikanischen Soldaten Nick Berg (vgl. Bredekamp 2005, siehe auch 8.4.2).
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In der Abweichung der Arme von der idealtypischen Kreuzform kommt die Anstrengung und Ermüdung des Opfers zum Ausdruck. Eine genauere Untersuchung bringt die perfide Logik der Situation zum Vorschein. Es geht hier nicht darum, dem Gefangenen durch die Anwendung äußerlicher Gewalt Verletzungen zuzufügen. Vielmehr verlegt die hier angewandte Technik die Gewalt in den Körper des Gefangenen, der sich die Schmerzen selbst zufügt. Die Drohung der Anwendung äußerster Gewalt mobilisiert Ängste, welche das Opfer dazu antreiben, in einer Stellung zu verharren, welche ihm andauernde Qualen verursacht. Wolfgang Sofsky beschreibt anschaulich, wie sich durch dauernden Schmerz „das Selbstverhältnis des Menschen“ verändert, von der „Zerstörung der subjektiven Welt“ über das „Zerbrechen des leiblichen Selbstbezugs“ bis hin zur nackten Verzweiflung: „Ein tiefer Riss zerspaltet die Mitte der Person. Der angstvolle, gequälte Leib wird selbst zum Feind, zum inneren Feind des Menschen. Er widersetzt sich jeder Anstrengung des Willens. Die Kraft zum Handeln ist dahin. Der Verzweifelte kann nicht mehr, so sehr er zu wollen versucht. Er verzweifelt an sich selbst, an seinem Leib. In dieser Ohnmacht besteht die physische Grundlage des negativen Selbstverhältnisses, das wir Verzweiflung nennen.“ (1996: 77)
In der Folter wird die Wurzel, in der physische und personale Integrität zusammenlaufen, gekappt. In der hier gezeigten Foltertechnik wird die Verzweiflung, die den eigenen Körper zum Feind macht, noch einmal gesteigert. So muss der Gefangene den Anweisungen seiner Wärter Folge leisten, wenn ihm Leib und Leben lieb ist. Es werden Drohmittel verwendet, um ihn zur Anwendung von Gewalt gegen sich selbst zu motivieren; sein ihm verbliebener Wille, seine Kraft zu Handeln wird nicht völlig zerstört, sondern gegen ihn gewendet; kurz: Er ist gezwungen, sich selbst Schmerzen zuzufügen, um noch größerer Pein oder gar dem Tod zu entgehen. Die abgebildete Situation folgt einer Logik des Panoptismus, wie sie von Michel Foucault in Überwachen und Strafen herausgearbeitet wurde (2003: 251-294): So kann auch unser Gefangener seine Wächter und Peiniger nicht sehen, während er für diese durchaus sichtbar und überdies verwundbar ist. Aber er weiß um diese seine Sichtbarkeit und Verwundbarkeit. Da er die Wächter nicht sehen kann, ist deren Anwesenheit nicht unbedingt erforderlich. Der Gefangene kontrolliert sein Verhalten, als ob er von außen gesehen werden würde.13 Die Androhung von Gewalt 13 Dieses Arrangement, welches die Bestrafungs- und Überwachungsinstanz in den Körper des Delinquenten verlagert, kommt bei Foucault in der architektonischen Gestalt von Benthams Panopticon besonders prägnant zum Ausdruck. Dessen Hauptwirkung besteht in der „Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt“, wodurch ein Machtverhältnis entsteht, „welches vom Machtausübenden unabhängig ist; die Häftlinge sind Gefangene einer Machtsituation, die sie selber stützen“ (2003: 258). Allerdings ist auch
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genügt, um das Opfer in eine Situation zu zwingen, in der es sich selber diszipliniert und Schmerzen zufügt. Die abgebildete Technik gehört als „stress position“ zum Standardrepertoire der modernen Folter. 14 Ihre Anwendung hat das amerikanische Verteidigungsministerium im Dezember 2002 für die Dauer von bis zu vier Stunden für zulässig erklärt (Greenberg & Dratel 2005: 223-237, 1239).15 Die Fotografie nimmt in unserem Fall die Außenperspektive der Wächter und Peiniger ein. Sie verweist damit auf den inneren Blick, den der Gefangene auf sich selbst richten muss. Dieser bekommt zwar nicht mit, ob er gesehen oder fotografiert wird, in seiner Haltung – er muss relativ bewegungslos auf einer kleinen Kiste verharren, um nicht von dieser herunterzufallen – ähnelt er aber dennoch jemandem, der sich in eine fotografische Pose begibt. Die erzwungene Selbstdarstellung des Opfers ist eine Inszenierung der Täter. Die Haltung des Gefangenen erscheint nicht nur künstlich wie eine Pose, sondern wirkt auch, nicht zuletzt aufgrund seiner Kostümierung, lächerlich. Der Lächerlichkeit preisgegeben, wird das Opfer erniedrigt und seiner personalen Würde beraubt, die gerade in der autonomen Selbstdarstellung des Individuums zum Ausdruck kommt (3.2). Allerdings zeigt die Rezeption des Bildes, dass gerade die Haltung des Opfers an ikonographische Vorbilder anknüpfte und dadurch seine inhärente Würde zum Ausdruck bringen vermochte. 7.1.3 Ikonographische und ikonologische Analyse kultureller Muster In den bisherigen Ausführungen fanden bereits Vorgriffe auf ikonographische und ikonologische Aspekte des Bildes statt. Im folgenden Abschnitt sollen einige Bildmotive aus der christlichen Ikonographie, der amerikanischen Populärkultur und dem arabisch-islamischen Kulturkreis beleuchtet werden, die sowohl die Produktion als auch die Rezeption dieses Bildes beeinflusst haben. Kulturelle Muster, die dieses Machtverhältnis nicht freischwebend, da nicht nur die potenzielle Anwesenheit des Wächters erforderlich ist, sondern diese Macht von Zeit zu Zeit auch demonstriert werden muss, um die Glaubwürdigkeit des Kontrollszenarios aufrechtzuerhalten. 14 Der iranisch-amerikanische Politikwissenschaftler Darius Rejali (2007) hat in seiner Monografie über das Verhältnis von Folter und Demokratie den historischen Wandel der Foltertechniken als Entwicklung von der sichtbaren Folter, die auf einer direkten Anwendung von Gewalt beruht, hin zur „invisible torture“, die insbesondere auf „stress positions“ zurückgreift, eindrücklich beschrieben. Der Begriff „Stress“ drückt diese neuartige Belastung, die aus der Internalisierung von Macht und Gewalt resultiert, angemessen aus. Die sogenannten „stress positions“ bringen den Körper gegen sich selbst auf. 15 Dem Memorandum vom 27. November 2002, in dem der Gebrauch sogenannter „counter-resistance techniques“ genehmigt wurde, fügte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld noch eine handschriftliche Notiz hinzu, die nach der Veröffentlichung der Memo für einen kleinen Skandal sorgte: „However, I stand for 8-10 hours a day. Why is standing limited to 4 hours? D.R.“ (Greenberg & Dratel 2005: 236f.).
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für die Produktion der jeweiligen Bilder bedeutend (und das heißt vor allem: ursächlich wirksam) gewesen sein könnten, müssen von solchen unterschieden werden, die nur für den Rezipienten eine Bedeutung gewinnen können, wenn auch Überschneidungen möglich sind. An der Produktion von Körperbildern ist in der Regel nicht nur der abbildende Fotograf, sondern auch die abgebildete Person beteiligt. Aber in unserem Fall ist das Opfer fast vollständig zum Werkzeug des Täters geworden, da es seiner Selbstdarstellung – und damit auch seiner Würde (3.2) – beraubt wurde. Es lassen sich zwei Gruppen von Bildmotiven unterscheiden: Einerseits religiöse Motive, die hier als erstes zu behandeln sind, andererseits popkulturelle Motive, deren Resonanzen in der populären Imagination der Vereinigten Staaten daran anschließend nachzugehen ist. Auf die Frage, warum gerade dieses Bild zur Ikone des Skandals wurde, gibt die Journalistin Sarah Boxer folgende Antwort: „Why this image above all the rest? It is far from the most violent, but easily the most graphic. You need less than a second’s glance to know exactly what it is. The triangle of the hood silhouettes sharply against the hot pink or chartreuse background of a fake iPod ad. Andy Warhol himself could not have done better. It holds its own on murals meant to be read from far away. It plays well against the Statue of Liberty. It suggests Christ on the cross. And, best yet, the hooded figure in the photograph is on a pedestal. It is already an icon.“16
Boxer macht darauf aufmerksam, dass die Figur aufgrund ihrer schwarzen, dreiecksförmigen Silhouette eine ikonische Prägnanz und Qualität besitzt, die ihren Wiedererkennungswert sichert und für künstlerische Nachahmungen attraktiv macht (9.4). Neben der ironischen Bemerkung, dass die Figur schon für sich genommen eine Ikone sei, weil sie auf einem Podest stehe, verweist Boxer auf ikonographische Motive, die für die kulturelle Resonanz des Bildes von großer Bedeutung waren – allen voran das Motiv des gekreuzigten Christus. Der Bildtheoretiker W.J.T. Mitchell ging der christlichen Symbolik des Bildes, die in der Rezeption des Bildes nachhallte, in einem Zeitungsartikel nach: „Why has this image become the icon of the moment and possibly a historical marker? It’s what we used to call a ‚Christ figure‘ evoking a long history of images that unite figures of torture and sacredness or divinity. This is not the crucified or resurrected Christ, but a figure from the Passion plays, the staging and humiliation of Jesus.“17
Während sich Mitchell hier noch gegen die Lesart des Bildes als einer Kreuzigungsszene ausgesprochen hatte, wurde diese in seinen späteren Arbeiten zum sel16 „Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal“, The New York Times, 13. Juni 2004. 17 „Echoes of a Christian symbol. Photo reverberates with the raw power of Christ on cross“, Chicago Tribune, 27. Juni 2004.
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ben Thema ausdrücklich mit einbezogen (2011: 150-157). Obgleich es unwahrscheinlich ist, dass die Soldaten das Christus-Motiv bei der Inszenierung der Pose des Gefangenen bewusst aufgriffen, wissen wir, das die Fotografin des Bildes, Sabrina Harman, nach eigenen Angaben an Jesus Christus dachte, als die den Auslöser ihrer Kamera betätigte (vgl. Mitchell 2011: 114). Damit muss dem kulturellen Muster auch eine ursächliche Wirksamkeit an der Produktion der Fotografie zugestanden werden. An der allgemeinen christomimetischen Deutung des Bildes besteht wenig Zweifel, wenngleich sich die einzelnen Lesarten in ihren Details unterscheiden. So spricht der Kunsthistoriker Gerd Blum im Bezug auf das Foto von einer „imago pietatis“, den Darstellungen des sogenannten „Schmerzensmann“, „in denen die abwärts in einem Winkel von 45 Grad abgespreizten Arme einer frontalen Leidensfigur zu einem in der christlichen Kunst hundertfach wiederholten Motiv geworden sind“ (2004: 32). Was die Resonanz des Kreuzigungsmotives noch verstärkte, war die Ausstrahlung von Mel Gibsons Film The Passion of the Christ (2004) im Vorfeld des Skandals.18 Auch Steve Caton liest die Bilder von Abu Ghraib vor dem Hintergrund von The Passion und zitiert folgende Passage aus einem iranischen Blog: „[This] theatrical play features ‚The passion of the Christ‘ in Abu Ghraib prison, performed simultaneously in many other prisons in the region“ (2006: 121). Dieses Zitat zeigt unter anderem, dass das kulturelle Motiv der Kreuzigung keineswegs auf christlich geprägte Gesellschaften beschränkt ist, sondern mittlerweile auch zum popkulturellen Bildervorrat der Weltgesellschaft gehört. Allerdings unterscheidet sich die christliche Rezeption dieses Motivs von jener in der arabischen Welt. Während die christliche Botschaft des Bildes in den Vereinigten Staaten subversiv gegen seine Produzenten und seinen Entstehungszusammenhang gewendet wurde, erscheint sie in dem Blogbeitrag als eine Fortsetzung des militärischen und kulturellen Imperialismus eines christlich geprägten Westens. Es gibt jedoch noch weitere religiöse Deutungsmöglichkeiten. Im islamischen Kontext lässt sich die Verhüllung des Opfers auf zwei Weisen interpretieren: Sie kann zum einen als Inszenierung einer weiblichen Verschleierung und damit als Erniedrigung des männlichen Opfers gelesen werden (Petchesky 2005: 313), zum anderen aber auch als imitatio des verschleierten Propheten Mohammed (Mitchell 2011: 158, vgl. auch die achte Abbildung in der Mitte des Buches), was, wie auch im christlichen Fall, auf eine Sakralisierung des Opfers hinauslaufen würde. 19 Eine weitere Deutung mit religiösen Konnotationen zieht die Bilder Francisco de Goyas von der Inquisition in Spanien heran. Nur zwei Tage nach der Veröffentlichung der 18 Mitchell spricht von eine „uncanny coincidence“, welcher die Araber und Muslime auf eine subversive Weise in die Position von Jesus Christus rücke (Mitchell 2011: 155f.). 19 Mitchell zufolge stellt der „hooded man“ eine Synthese der drei semitischen Weltreligionen dar, die im „Global Holy War on Terror“ eine Rolle spielten (2011: 158f.).
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Abu-Ghraib-Fotos wies der Kritiker Jeff Sharlet auf die Ähnlichkeit des AbuGhraib-Bildes mit einer Zeichnung des spanischen Malers hin,20 was auch von anderen Beobachtern bemerkt wurde (Blum 2004: 32f.; Eisenman 2007: 12-16).21 Aber auch ohne expliziten Verweis auf Goya fand das Motiv vielfach Erwähnung, beispielsweise bei Smith, der von einer „Inquisition-like figure“ spricht (2008: 161), oder bei Philip Kennicott, der nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des Bildes in der Washington Post über eine mögliche Bedeutung des Inquisitionsmotivs spekulierte: „Is it an accident that the man in the hood, arms held out as if on a cross, looks so uncannily like something out of the Spanish Inquisition? That they have the feel of history in them, a long, buried, ugly history of religious aggression and discrimination?“22 Sowohl Sharlet und auch Kennicott bedienen sich des Inquisitionsmotivs, um Parallelen zwischen der religiösen Verfolgung im Mittelalter und dem religiösen Eifer des Krieges gegen den Terror aufzuzeigen. Diese unheimliche Vertrautheit mit den Bildmotiven findet sich auch bei anderen, „amerikanischen“ Deutungsmustern, wie beispielsweise Halloween, der KuKlux-Klan oder der elektrische Stuhl. Philip Gourevitch und Erol Morris lenken unsere Aufmerksamkeit auf die karnevalesken und gespenstischen Züge der fotografierten Gestalt: „It is an image of carnival weirdness: this upright body shrouded from head to foot; those wires; that pose; and the peaked hood that carries so many vague and ghoulish associations“.23 Sie wirkt wie eine der Lächerlichkeit preisgegebene „Vogelscheuche“,24 oder wie ein dunkles Gespenst, das die „böse Natur“ des Gefangenen zum Ausdruck bringen soll.25 So besehen lässt sich die Gestalt als 20 „Pictures from an Inquisition“, The Revealer, 30.4.2004; http://www.therevealer.org/ archives/revealing_000355.php; letzter Zugriff am 12.12.2009. 21 Der Kunsthistoriker Stephen Eisenman warnt vor einer Überbewertung dieser oberflächlichen Übereinstimmungen, da den Bildern von Goya eine völlig andere Absicht zu Grunde gelegen habe (2007: 13f.). Stattdessen schlägt er vor, die Bilder von Abu Ghraib als Pathosformel zu deuten, die eine Identifikation mit den Opfern erschwere. Dagegen ist einzuwenden, dass sich die Bedeutung eines Kunstwerks oder kulturellen Artefaktes sich nicht alleine auf die Intention des Künstlers reduzieren lässt. 22 „A Wretched New Picture Of America; Photos From Iraq Prison Show We Are Our Own Worst Enemy“, The Washington Post, 5. Mai 2005. 23 Gourevitch, Philip, & Morris, Errol: „Exposure. The woman behind the camera in Abu Ghraib“, The New Yorker. 24. März 2008. 24 Man könnte an die „scarecrow“ aus The Wizard of Oz denken oder aber an den gleichnamigen Antagonisten aus Batman ‒ oder sogar an die Figur des Batman selbst. 25 Hier sind die Ausführungen von Karl Rosenkranz zum Gespenstischen als einer ästhetischen Erscheinungsform des Bösen instruktiv (2007: 316-331). Das Gespenstische oder der „Widerspruch, dass das Tote dennoch lebendig sein solle“ (2007: 316f.), weist zudem Ähnlichkeiten mit Agambens Figur des „homo sacer“, dessen „nacktes Leben“ an der
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eine Verkörperung des Gespensts des Terrors deuten, das seit dem 11. September 2001 die Vereinigten Staaten heimsucht. In der Verhüllung des Gesichtes wird dem Opfer nicht nur die eigene Persönlichkeit aberkannt, sondern es bekommt zugleich das Aussehen eines anonymen Feindes verpasst, der als solcher notwendig gesichtslos bleiben muss. In der Inszenierung des Opfers als einem Gespenst materialisiert sich die ungreifbare Bedrohung des Terrors. Die Stilisierung des Gefangenen zu einer Figur des Bösen wird von seiner hilflosen und lächerlichen Stellung auf dem Paket konterkariert. Diese eigentümliche Inszenierung kann als ein ritualisiertes Verlachen des Bösen gedeutet werden – nicht umsonst erinnert die Gestalt an das amerikanische Fest des Halloween, das vier Tage vor dieser Szene auch von den Soldaten in Abu Ghraib gefeiert wurde.26 Die Inszenierung des Gefangenen auf dem Foto lässt sich damit auch in den Kontext der mittelalterlichen Tradition des „Grotesken“ (vgl. Bachtin 1995) oder der modernen Gattung der „Karikatur“ stellen (vgl. Rosenkranz 2007: 361-399). Die narrative Entsprechung dieser Bildmotive ist die „Satire“, welche die Protagonisten sowohl schwach als auch bösartig erscheinen lässt. Die Mitglieder der 800th MP Brigade, zu der die Täter von Abu Ghraib gehörten, nannten die anonymen Gefangenen der CIA „ghost detainees“.27 In der Retrospektive stellt das Gespenstermotiv einen Vorgriff auf die Debatte um „ghost detainees“ und die Geheimgefängnisse der CIA dar (9.1), die aus den Enthüllungen von Abu Ghraib resultierte. Das Motiv des Gespensts findet sich auch im Titel des Dokumentarfilms Ghosts of Abu Ghraib (2007; vgl. 10.2) sowie in dem Theaterstück The God of Hell wieder.28 Die Abu-Ghraib-Bilder, so schien es vielen Beobachtern, wurden selbst zu Gespenstern, Grenze von Leben und Tod angesiedelt ist (2007/1995). Žižek vertritt im Anschluss an Agamben die These, dass sich die Gefangenen im Krieg gegen den Terror „zwischen zwei Toden“ befinden, „Between Two Deaths. The Culture of Torture“, London Review of Books, 3. Juni 2004; Klaus Madlek spricht in Bezug auf Abu Ghraib und Guantánamo gar von einem „Zwischen-Raum des Untoten“ (2008: 259-261). 26 Mitchell verweist auf eine Halloween-Party, die am 31. Oktober in Abu Ghraib stattfand, und zeigt das Foto eines amerikanischen Soldaten mit einem aufgemalten Hakenkreuz auf der Stirn, das am Abend der Party geschossen wurde (2011: 110, vgl. auch die dritte Abbildung in der Mitte des Buches). In diesem Zusammenhang erscheint es nur konsequent, dass in der Herbst-Ausgabe des amerikanischen Satiremagazins The Stranger AbuGhraib-Halloween-Kostüme vorgestellt wurden; http://www.thestranger.com/seattle/2004 s-scariest-halloween-costumes/Content?oid23399; letzter Zugriff am: 27. Februar 2012. 27 „Secret World of U.S. Interrogation; Long History of Tactics in Overseas Prisons Is Coming to Light“, The Washington Post, 11. Mai 2004. 28 Aus einer Besprechung des Stücks: „The hooded specter of the tortures at Abu Ghraib, for instance, materializes in Emma’s and Frank’s living room.“ In: „That’s No Girl Scout Selling Those Cookies“, The New York Times, 17. November 2004.
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die Amerika auch noch viele Jahre nach dem Skandal heimsuchen sollten (vgl. Holzer 2006: 14).29 Die Kopfbedeckung und der Umhang des Gefangenen wecken allerdings auch Assoziationen an den berüchtigten Ku-Klux-Klan. Die Kostümierung der Gestalt wirkt fast wie ein (fotografisches) Negativ der weißen Kutte der rassistischen Untergrundorganisation. Dieses Motiv kommt auf einem in Bagdad anzutreffenden Wandgemälde des irakischen Künstlers Sallah Edine Sallat zum Ausdruck (Mitchell 2011: 103f., vgl. auch 9.4; Apel 2005: 96). Darauf ist eine Freiheitsstatue in einem Ku-Klux-Klan-Kostüm zu sehen, die mit dem rechten Arm, in dem sie normalerweise die Fackel der Freiheit hoch hält, einen Stromschalter bedient, der über die Kabel zu dem verkabelten Gefangenen als schwarzem Gegenstück der weißen Ku-Klux-Klan-Statue führt. An das hier auch aufscheinende Motiv der „electrocution“ knüpft Philip Smith an, der in einer Analyse des Diskurses über den elektrischen Stuhl eine weitere Lesart des Bildes andeutet: „The connection [of the electric chair] with torture was repeated in the Abu Ghraib prison scandal“ (2008: 161). Smiths zufolge hat die „böse“ Aura des elektrischen Stuhls die amerikanische Rezeption der Fotografie maßgeblich beeinflusst und mit dazu beigetragen, dass gerade dieses Bild zur Ikone des Skandals wurde. Diese These lässt sich mit einer Szene aus der ersten Staffel der Fernsehserie Prison Break (2005-2009) stützen, wo ein irakischer Gefangener mit schwarzer Kapuze und Umhang auf einer Art von elektrischem Stuhl gefoltert wird (10.3). Die Deutung des Bildes vor dem Hintergrund des elektrischen Stuhls lässt sich durch die kulturelle Resonanz dieses Motives in der amerikanischen Populärkultur plausibilisieren. Allerdings, und dies war für den ikonischen Status des Bildes wohl entscheidender (vgl. 2.1.3), erschöpft sich die Bedeutung dieses Fotos nicht in einem einzelnen Motiv. Aufgrund seiner ikonischen Prägnanz und seiner ikonographischen Vielschichtigkeit eignet sich der „hooded man“ in besonderer Weise für künstlerische Nachbildungen. Bezüglich der ikonologischen Interpretation des Bildes lässt sich zunächst festhalten, dass die Grausamkeit moderner Foltermethoden und die Demütigung von Folteropfern in dieser Fotografie einen bildlichen Ausdruck erhalten. Für die Rezeption des Bildes und seine Inthronisierung als Ikone des Skandals erwies sich aber insbesondere die Ambivalenz des Bildes als entscheidend: Das Bild zeigt einerseits die schiere Ohnmacht des Gefangenen, schafft es aber andererseits auch, das abgebildete Opfer im Rückgriff auf die christliche Ikonographie zu sakralisieren und dessen unaufgebbare Würde zum Ausdruck zu bringen. Die Indexikalität der Fotografie verbürgt, dass die hier dokumentierte Szene von dieser Welt ist. Zugleich weist das Bild aber über sich selbst hinaus: Dem anonymen Opfer wird eine exemplarische Bedeutung zugesprochen, die es zu einem zeitlosen Zeugnis der Würde des Menschen und ihrer Gefährdungen werden lässt. 29 Z.B. „Regarding the Torture of Others“, The New York Times, 23. Mai 2004.
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7.2 I NTERPRETATION II – D IE MENSCHLICHE P YRAMIDE Brutal, roh und barbarisch wie sie ist, offenbart die Folterung selbstbewusst (auch dort wo sie dies unbewusst tut) ihr Wesen. ELAINE SCARRY, DIE STRUKTUR DER FOLTER (1992: 60)
In der Nacht vom 7. zum 8. November 2003 hatten mehrere Soldaten zwischen 23:15 und 00:24 insgesamt 29 Fotografien gemacht, von denen einige ebenfalls am 28. April von CBS gezeigt wurden und anschließend für weltweites Aufsehen sorgten. Auf diesen Bildern sind mehrere nackte Gefangene zu sehen, die körperlich misshandelt, übereinander gestapelt und zu sexuellen Handlungen gezwungen werden. Die Köpfe der Gefangenen sind auf den Fotos – wie bei dem oben analysierten Bild – von Kapuzen bzw. Tüten bedeckt. Allerdings kann man hier auf mehreren Bildern die Gesichter einiger grinsender amerikanischen Soldaten erkennen, die auf den Fotos mit den Gefangenen posieren. Im Fay-Jones-Report wird diese mitternächtliche Bestrafungsaktion, die später unter dem Titel „night shift of Tier 1“ (Schlesinger 2005/2004: 909) bekannt werden sollte, als elfter Zwischenfall angeführt (Fay & Jones 2005/2004: 1079).30 Die Gefangenen wurden zusammengepfercht, die Soldaten ritten auf ihnen wie auf Tieren und zwangen sie, sich gegenseitig zu schlagen. Einer der Gefangenen wurde von einem Soldaten bewusstlos geprügelt und ein weiterer so schwer getroffen, dass er Probleme mit dem Atmen bekam und ein Sanitäter gerufen werden musste. Der Sanitäter gab später zu Protokoll, dass er bei der Behandlung des Gefangenen auch Zeuge der auf mehreren Bildern festgehaltenen „human pyramid“ geworden sei.31 Er habe darin allerdings keine Veranlassung gesehen, den Vorfall zu melden. Das gleiche gilt für einen an den Missbrauchsfällen unbeteiligten Soldaten, der ein Bild der „human pyramid“ als Bildschirmschoner auf einem der örtlichen Computer identifizierte. Offensichtlich 30 Eine Schilderung dieser Nacht auf Basis von Täterinterviews, welche die eigentümliche Stimmung und soziale Dynamik der Nacht zwischen „rasender Gewalt und clownesker Heiterkeit“ einzufangen versucht, findet sich bei Gourevitch und Morris (2009: 199ff.). 31 Der Begriff der „Pyramide“ wurde schon zu Beginn des Skandals, also vor der Veröffentlichung des Berichts, in der Öffentlichkeit verwendet, so z.B. „U.S. Tries to Calm Furor Caused by Photos; Bush Vows Punishment for Abuse of Prisoners“, The Washington Post, 1. Mai 2004; „Deborah Norville Tonight 21:00“, MSNBC, 3. Mai 2004. In einem CNN-Bericht ist von einer „pyramid of shame“ die Rede, wobei sich Scham und Schande hier nicht auf die irakischen Opfer, sondern auf die amerikanischen Soldaten beziehen, vgl. „US apologies for treatment of Iraqi prisoners have made little difference in Middle East perceptions“, CBS Evening News (18:30), 7. Mai 2004.
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wurden derartige Vorfälle nicht als Normverletzung wahrgenommen – oder unter den Soldaten bestand eine stillschweigende Übereinkunft, solche Normverletzungen nicht den Vorgesetzten zu melden. Die „night shift on Tier 1“ spielte im AbuGhraib-Skandal eine herausragende Rolle, zum einen weil die hier entstandenen Bilder wegen ihrer pornographischen Bezüge ein großes Aufsehen erregten, zum anderen aber weil sie die alleinige Grundlage der Verurteilung der sieben im Zuge des Abu-Ghraib-Skandals angeklagten Soldaten waren (8.4.1). Auch an diesem Zwischenfall waren, dem Bericht zufolge, keine Angehörigen des militärischen Geheimdienstes beteiligt. Zunächst sollen die beiden bekanntesten Bilder der „human pyramid“ in Augenschein genommen werden, bevor dann zu den eigentlichen Dokumenten sexueller Erniedrigung übergegangen wird (7.3). 7.2.1 Die Pos(s)e – Touristen und Großwildjäger Auf zwei Bildern sind die nackten Körper von sieben Gefangenen zu sehen, die zu einem amorphen Fleischberg aufeinandergestapelt wurden. Dahinter posieren jeweils ein Soldat und eine Soldatin. Beide Bilder lassen sich in eine obere Hälfte, in der die Soldaten posieren, und eine untere Hälfte, die durch die Körper der Gefangenen ausgefüllt wird, unterteilen. Insbesondere bei dem zweiten Bild ist diese Unterteilung aufgrund des Hochformats besonders gut zu erkennen (Abbildung 2). Die Perspektive ist auf beiden Bildern durch den Fluchtpunkt am Ende des Flures geprägt. Im ersten Bild läuft dieser, auch wenn die Soldatin im Bildmittelpunkt steht, auf den stehenden Soldaten zu, im zweiten zwischen den Köpfen der Soldaten zusammen. Im Zentrum stehen die Soldaten, nicht die misshandelten Gefangenen. Abbildung 2: Die menschliche Pyramide I
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Im Hintergrund des ersten Fotos ist hinter einem Gitter ein hell erleuchteter Flur zu sehen, während rechts an der Wand die Kleider der Gefangenen liegen. Der männliche Soldat auf dem Bild trägt neben seiner Armeekleidung eine Brille, eine schwarze Mütze sowie türkisfarbene Gummihandschuhe. Er lächelt und posiert für die Kamera, indem er seine Arme vor der Brust verschränkt und mit dem Daumen seiner rechten Hand nach oben zeigt. Die Soldatin nimmt eine gebückte Haltung ein, als ob sie hinter den Gefangenen knien würde. Auch sie lächelt in die Kamera und hält, was auf den ersten Blick schwer zu erkennen ist, ihren linken Daumen über dem Rücken des obersten Gefangenen nach oben. Die Soldaten sind in einer vertikalen Linie über den Gefangenen angeordnet. Die Gesichter der Gefangenen sind nicht zu erkennen, da ihnen olivgrüne Tüten über die Köpfe gestülpt wurden. Die Gefangenen stützen sich gegenseitig ab, um das Gleichgewicht zu halten, ihre Bewegungsfreiheit ist daher massiv eingeschränkt. Abbildung 3: Die menschliche Pyramide II
Salon.com, Foto vom 7. November 2003, 23:51
Auf dem zweiten Foto ist die menschliche Pyramide von hinten zu sehen. Im Hintergrund des Fotos ist die andere Seite des Ganges zu sehen, die dunkler ist, da sie nur von einigen Neonröhren beleuchtet wird. Eine Tür auf der linken Seite des Ganges ist geöffnet. Der Fluchtpunkt liegt genau zwischen den Köpfen der Soldaten, deren Oberkörper von einem Quadrat, welches durch die Wand am Ende des Ganges gebildet wird, eingerahmt werden. Die in Abbildung 3 zu sehenden, ent-
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blößten Hinterteile sind nicht weniger entindividualisierend als die grünen Plastiktüten auf den Köpfen der Gefangenen. Allein der Gefangene, der links unten im Bild zu sehen ist, ist auch auf anderen Bildern eindeutig wiederzuerkennen, da auf seinem rechten Oberschenkel der Schriftzug „RAPEIST“ zu lesen ist.32 Beide Bilder haben gemeinsam, dass auf ihnen die gestapelten Körper zu einem Fleischberg verschmelzen, der eine Zuordnung der einzelnen Gliedmaßen erschwert. Die einzelnen Gefangenen gehen in der amorphen Masse unter, was sie ihrer Individualität beraubt. Wer individuell dargestellt wird, sind die Soldaten. Eines der verbreitetsten Motive in der Rezeption der menschlichen Pyramide ist die „Orgie“, was wohl der Tatsache geschuldet ist, dass hier mehrere nackte Körper aufeinanderliegen. Eine weitere Assoziation, die vor allem im amerikanischen Diskurs verbreitet war, ist die „Pyramide“ als eine aus dem Bereich des Cheerleading bekannte Figur. Azmi Bishara, ein arabisches Mitglied des israelischen Parlamentes, verglich die menschliche Pyramide hingegen mit den Leichenbergen auf den Fotos von der Befreiung der Konzentrationslager. 33 Wir sehen, dass die Deutung des Körperhaufens mit dem kulturellem Hintergrund und sozialem Kontext variiert. Eine allgemeinere Deutung, die einen Schlüssel für die Ikonologie der Bilder darstellen könnte, lässt sich über die Figur des „Grotesken“ herstellen. Nach Mikhail Bachtin (1995) ist das Groteske jene ästhetische Form verstehen, in der Körpergrenzen verschwinden und existenzielle Gegensätze ineinander übergehen. Das Groteske stellt somit eine ästhetische Doublette des – ebenfalls von Bachtin untersuchten – karnevalesken Treibens dar, in dem alle sozialen Unterschiede aufgehoben oder gar zeitweilig in ihr Gegenteil verkehrt werden (vgl. Caton & Zacka 2010; Binder 2010b). Auch die Grenzbereiche der Sexualität und der Körperausscheidungen sind hier ein beliebtes Thema. Bachtin konstatiert aber einen Verfall des Grotesken in der Moderne, von dem nur noch die „reine Negativität“ übrig geblieben sei. Der Eindeutigkeitswahn der Moderne habe allen Ambivalenzen den 32 Man beachte die Rechtschreibung von „rapist“ (zu Deutsch: „Vergewaltiger“). Dem mit der Aufschrift gezeichneten Gefangenen wurde von den Soldaten vorgeworfen, einen minderjährigen Mithäftling vergewaltigt zu haben. Die Einschreibung der Straftat in den Körper des Beschuldigten zeigt nicht nur, dass der menschliche Körper ein materieller Trägern von Bild und Schrift sein kann (vgl. 2.1.2), sondern ist auch von kulturtheoretischem Interesse. So ist die Einschreibung einer Straftat schon aus der Bibel bekannt (man denke nur an das Kainsmal) und hat in Kafkas Strafkolonie eine fantastische literarische Ausarbeitung erfahren. Nach Foucault ist es die „Ordnung des Diskurses“, die sich in die Körper einschreibt (2003) – wenngleich hier oberflächlich und orthografisch falsch. 33 Aus der palästinensischen Zeitung Al-Hayat Al-Jadida. eine englische Übersetzung findet sich in „Reaction and Counter-Reaction to the Abu Ghureib Abuses in the Arab Media“, The Middle East Research Institute, Special Dispatch Series No. 718; vgl. http:// www.memri.org/report/en/0/0/0/0/0/0/1135.htm; letzter Zugriff am 27. Februar 2012.
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Garaus gemacht (vgl. auch Bauman 1991). Das Groteske taucht zwar immer wieder auf, etwa im Kunstsystem als Abject-Art, aber darin zeigt sich erst recht die moderne Vereinseitigung des Grotesken. Auch die Bilder der menschlichen Pyramide dokumentieren dieses moderne Verständnis des Grotesken. Die individuellen Soldaten triumphieren über den Menschenhaufen; Macht und Ohnmacht, Leben und Tod, Triumph und Erniedrigung werden fein säuberlich getrennt. Während die sexuellen Ausschweifungen im Karneval von allen Anwesenden freiwillig angenommen werden, wurden diese Handlungen den Opfern auf dem Bild aufoktroyiert. Mit der Figur des Grotesken besitzen wir nun den Schlüssel zur ikonologischen Interpretation der menschlichen Pyramide, aber auch der Ikone des Skandals. Das moderne Groteske repräsentiert das Unreine und Böse, das konstitutive Außen einer Gruppe oder Gesellschaft. Es eignet sich daher gut zur Inszenierung von Feindbildern. Diese Bilder sind zugleich furchterregend und lächerlich. Der besiegte Feind wird im Akt des Lachens und Fotografierens noch einmal unterworfen. Das Groteske erfüllt eine Funktion innerhalb eines Erniedrigungsrituals (3.3.1), aber in seiner Form verweist es zugleich auf den weltanschaulichen Hintergrund der modernen Gesellschaft. Die Soldaten posieren auf den Bildern wie auf Urlaubsfotos, weswegen die Fotografien an touristische Souvenirs erinnern, wie auch im öffentlichen Diskurs mehrmals bemerkt wurde.34 Zwischen dem Fotografen (dem abbildenden Bildproduzenten) und den beiden Soldaten (den abgebildeten Bildproduzenten), herrscht offensichtlich Komplizenschaft und Eintracht. Der Menschenhaufen zu Füßen der Soldaten lässt sich nicht wirklich als autonomer Bildproduzent begreifen, da die sieben Gefangenen hier nicht als eigenständige Personen erscheinen, sondern sich der Inszenierung der Soldaten zu fügen haben. Die Gefangenen stützen und behindern sich wechselseitig. Nicht alleine die Androhung von Gewalt, sondern auch das Arrangement minimiert ihren Bewegungsspielraum – und damit die Möglichkeit, sich als autonomes Selbst auszudrücken. Die Gefangenen sind hier nicht einmal Statisten, sondern Requisiten einer Inszenierung der Soldaten. Zwischen dem Fotografen und den beiden Soldaten gibt es eine Übereinstimmung in der Intention wie auch im Habitus – nichts auf den Fotos lässt auf das Gegenteil schließen (was bei einer subversiven oder ironischen Fotografie der Fall gewesen wäre). Der Fotograf und die abgebildeten Peiniger arbeiten Hand in Hand. Die Kamera wird damit zu einem weiteren Folterinstrument, einem Werkzeug der Demütigung. Die fotografische Aufnahme dieser Szene ist keineswegs zufälliger Natur und das macht sie in unseren Augen besonders verwerflich:
34 Z.B. „Tourists and Torturers“, The New York Times, 11. Mai 2004; „The McCain Choice“, The Washington Post, 21. Mai 2004; „My Life as a Guard“, The New York Times, 7. Mai 2004. Zum touristischen Blick vgl. außerdem die Ausführungen von Bernhard Giesen in den Zwischenlagen (2010: 199-210).
312 | A BU G HRAIB UND DIE FOLGEN „Intrinsic to the perpetration of this evil is the shamelessness of photographing it. The pictures were taken as souvenirs and made, some of them, into postcards; more than a few show grinning spectators, good churchgoing citizens as most of them had to be, posing for a camera with the backdrop of a naked, charred, mutilated body hanging from a tree. The display of these pictures makes us spectators, too.“ (Sontag 2003: 91)
Was Susan Sontag anlässlich einer New Yorker Ausstellung über „photographs of black victims of lynching in small towns in the United States between 1890s and the 1930s“ festgestellt hat, trifft auch auf diese beiden Fotografien zu. Auch sie wurden zum privaten Vergnügen aufgenommen, erfuhren dann eine öffentliche Verbreitung und wurden nach dem Skandal in einem New Yorker Museum ausgestellt (vgl. 9.4). Im amerikanischen Diskurs zu Abu Ghraib wurde oft auf diese Ähnlichkeit zu den Lynching-Bildern hingewiesen (Apel 2005; Mitchell 2011), unter anderem von Sontag selbst.35 Zwischen Lynching und Abu Ghraib gibt es erstaunliche Parallelen: In beiden Fällen handelt es sich um Bilder der Demütigung, die dann zu Bildern der Scham wurden – im Falle der Lynching Bilder dauerte dies allerdings mehrere Jahrzehnte. Angesichts des Stils der Bilder gewinnt man leicht den Eindruck, dass sich hier amerikanische Touristen mit einer fremdländischen Sehenswürdigkeit ablichten lassen, wenn auch diese Erklärung die Spezifik der Gestik und der Pose unberücksichtigt lässt. Es fällt die performative Demonstration von Macht auf, wie sie höchstens auf den Urlaubsfotos eines Großwildjägers zu finden wären. Die geballte Faust mit dem erhobenen Daumen ist ein Zeichen des Triumphes, der getanen Arbeit. Die Deutung der Fotografien als Trophäen darf nicht außer Acht gelassen werden, insbesondere da sie eine Kontinuität in der Geschichte der Kriegsfotografie darstellt (Holzer 2006). Als Trophäen erfüllen Kriegsfotografien eine doppelte Funktion: Einerseits halten sie vergangene Momente des Triumphes fest, andererseits sollen sie auch den Träger gegen künftiges Unheil wappnen (apotropäische Funktion). Die Fotografien waren persönliche Souvenirs, aber sie wurden auch als Bildschirmschoner verwendet und den Kollegen als Trophäen gezeigt – bis sich einer von ihnen an seinen Vorgesetzten wandte (8.1.1). 7.2.2 Purifizierendes Ritual und triumphale Geste Schauen wir uns die Hände des männlichen Soldaten genauer an, so fällt auf, dass er auf beiden Bildern türkisfarbene Gummihandschuhe trägt. Gummihandschuhe können einerseits dem Schutz des Arbeitsgegenstandes, andererseits aber auch dem Schutz der Arbeiter vor einer Verunreinigung durch infektiöses oder ätzendes Material dienen. Hier trifft wohl Letzteres zu: Die Handschuhe markieren die Grenze 35 So beispielsweise in „Regarding the Torture of Others“, New York Times, 23. Mai 2004; andere Journalisten kamen ihr aber zuvor, z.B. „Abu Ghraib, and America’s Past“, The New York Times, 16. Mai 2004.
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zwischen dem „reinen“ Körper des Amerikaners und den „unreinen“ Körpern der Gefangenen. Ihre Verwendung dient dem Schutz vor Gefahr und ist zugleich ein Ausdruck von Professionalität. Lässt sich die hier abgebildete Form der Gewalt und Erniedrigung als ein Ritual begreifen, handelt es sich bei ihnen um Paraphernalia. Durkheim (2005/1912) definierte das Ritual bekanntlich über die Unterscheidung zwischen dem „Heiligen“ und dem „Profanen“. Einerseits liegt Ritualen immer ein Klassifikationssystem zu Grunde, andererseits muss die Grenze zwischen dem Heiligen und dem Profanen immer wieder durch Rituale gezogen werden (2.3.1). Neben dem Heiligen, das sich durch starke, positiv bewertete und kollektive Emotionen auszeichnet, und dem Profanen, das den Bereich des Alltäglichen und Individuellen umfasst, führt Durkheim den Begriff des „unreinen Heiligen“ ein, der in derselben Weise wie das „reine Heilige“ starke und kollektive Emotionen hervorruft, aber negativ bewertet wird (2005/1912: 408f., 548-555).36 Dieser Doppelcharakter des Heiligen zeigt sich auch am lateinischen Wort sacer, das sowohl „heilig“ als auch „verflucht“ bedeutet. Mary Douglas (1991) hat im Anschluss an Durkheim Klassifikationssysteme und Rituale untersucht, über die das Reine und das Unreine voneinander unterschieden werden. Das Unreine wird bei ihr darüber definiert, dass es wie das Heilige im profanen Klassifikationssystem einer Gesellschaft keinen Platz findet (vgl. auch Giesen 2010: 187-198). Douglas hat außerdem – in bester durkheimianischer Manier – auf die Kontinuität von religiösen Formen in säkularen Gesellschaften hingewiesen, bei denen Schmutz an die Stelle des Unreinen getreten ist und sich religiöse Gebote in hygienische Vorschriften verwandelt haben. Folter lässt sich als ein Gewaltritual beschreiben, bei dem der Körper und die Seele des Folteropfers die Stelle des heiligen bzw. unheiligen Objekts einnehmen (3.3.2). Der Gefolterte ist – je nach Perspektive – eine Verkörperung des Bösen oder ein heiliger Märtyrer. In ähnlicher Weise wie herkömmliche Rituale durch kollektiven Bezug auf das reine Heilige Solidarität stiften, dient liminale Gewalt und auch Folter der Herstellung von Solidarität zwischen den Tätern in Abgrenzung von ihren Opfern (vgl. Giesen 2010: 134-136). Wenn die Folterer davon ausgehen, dass sie sich im Einklang mit den Normen und Werten ihrer Gesellschaft befinden, so wird auch die Identifikation mit der übrigen Gesellschaft verstärkt. Stephen Holmes argumentiert mit Blick auf Abu Ghraib, dass eine rituelle Perspektive auf Folter gegenüber einem instrumentellen Folterverständnis mehr Plausibilität besitzt: 36 Es gibt nicht nur die Ambivalenz des Heiligen als Anziehendem und Abstoßendem, als mysterium faszinans und mysterium tremendum (Otto 1987/1917), sondern auch ein Heiliges mit negativem und eines mit positivem Vorzeichen (vgl. auch Hertz 2007). Beide Dimensionen sind voneinander unabhängig. Das Böse und die Sünde können in gleicher Weise erschreckend und anziehend sein wie das Heilige und die Tugend. Darstellungen von Gewalt in den Medien oder moralischen Verfehlungen in Skandalen werden nicht selten zu einem Spektakel, das auch die Sensationslust der Zuschauer befriedigen kann.
314 | A BU G HRAIB UND DIE FOLGEN „The claim that torture is meant to intimidate the victims’ community and reassure the community of the perpetrators cannot easily verified or falsified. But it certainly makes more sense of the observable facts than the principal alternative, namely that torture was employed and has proved acceptable because of its utility in extracting information necessary to prevent future calamities.“ (Holmes 2006: 131)
Die Analyse der beiden Bilder nährt den Verdacht, dass diese Zeugnis und Produkt eines Gewaltrituals sind. Die aufeinandergestapelten nackten und entindividualisierten Opfer stehen für das amorphe und schmutzige Böse. Sie liegen als Haufen auf dem Boden, das heißt dort, wo sonst der Müll liegt. 37 Der männliche Soldat vollzieht ein Reinigungsritual und bannt damit das Böse. Die Handschuhe schützen den amerikanischen Saubermann vor einer Kontamination mit dem Unreinen, während die Tüten über den Köpfen der Gefangenen die Soldaten vor dem Antlitz ihrer Opfer, ihrer Menschlichkeit und dem eigenen Mitleid schützen. Darüber hinaus verkörpern die Gummihandschuhe das medizinisch-professionelle Ethos der Folter, das jedoch von der übrigen Darstellung karikiert wird (7.2.3). Der Terror muss auf Armlänge vom amerikanischen Körper ferngehalten werden, der Krieg gegen den Terror darf nicht im eigenen Land, sondern muss woanders geführt werden. Hans Belting (2006) hat wiederholt auf die Bildlichkeit des menschlichen Körpers hingewiesen, die zum einen in der Pose, zum anderen aber in der Gestik und Mimik zum Ausdruck kommt (2.1.2). Eine Geste ist eine einzelne Körperbewegung, in der Regel mit dem Arm ausgeführt, die auch als kommunikatives Zeichen verwendet werden kann, wenn sie über eine hinreichend bestimmte Bedeutung verfügt. Mimik bezieht sich hingegen auf Gesichtszüge, die in erster Linie dem emotionalen Ausdruck dienen. Oft reichen Gestik und Mimik aus, um Ablehnung oder Zustimmung zu signalisieren, während für die nonverbale Übermittlung komplexerer Inhalte eine eigens ausgearbeitete Gebärdensprache nötigt ist. Aby Warburg (2000) hat sich in seinem Bildatlas Mnemosyne um eine Entschlüsselung der „Bildersprache der Gebärde“ bemüht. Mit dem Begriff der „Pathosformel“ bezeichnet er prägnante Gesten, in denen der Geist ihrer Epoche zum Ausdruck kommt und die sich von der Antike über die Renaissance zum Teil bis in die Gegenwart gehalten haben.38 So erblickte Warburg in der Symbolik der imperialen Triumphzüge und der blutigen Spektakel im Kolosseum den „Triumph der Existenz“ in seiner „er37 „Müll“ ist eine beispielhafte Verkörperung des Unreinen, die aus dem Klassifikationssystem der Gesellschaft fällt, da Müll weder heilig noch nützlich ist (Giesen 2010: 187-198). 38 Eine Interpretation der Abu-Ghraib-Bilder als antike Pathosformel von Warburg findet sich bei Stephen Eisenman (2007), der allerdings zu vorschnell von der Pathosformel auf eine Ineffektivität der Bilder schließt. W.J.T. Mitchell kritisiert diese voreiligen Folgerungen wie auch Eisenmans unzutreffende Beobachtung, dass die Abu-Ghraib-Bilder die abgebildeten Leiden durch die Darstellung „schöner Körper“ ästhetisieren (2011: 116).
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schütternden Gegensätzlichkeit“, „die unheimliche Doppelheit des Siegerkranzes des Imperators und der Märtyrer“ (2000: 4). In einer ähnlichen Weise bestimmen nicht nur die Bilder stürzender Saddam-Statuen (6.5), sondern auch die AbuGhraib-Fotos unser Bild von den Vereinigten Staaten von Amerika. Es soll im Folgenden nun jene Geste des „thumbs up“, die auch auf den hier analysierte Bildern zu sehen ist und die an die Gladiatorenkämpfe im Kolosseum erinnert, als Pathosformel in ihrer geschichtlich gewordenen Bedeutung entschlüsselt werden. In alten wie auch neueren „Sandalenfilmen“ über römische Gladiatoren darf die Symbolik des erhobenen Daumens nicht fehlen. Das Publikum, welches sich an dem blutrünstigen Spektakel ergötzt, signalisiert dem siegreichen Kämpfer mit dem erhobenen Daumen, dass er das Leben des unterlegenen Kämpfers schonen soll, während der nach unten zeigende Daumen seinen Tod verlangt. In der historischen Wirklichkeit wie auch in der Fiktion gebührte die Entscheidung über Tod und Leben dem höchsten Würdenträger im Stadion, der aber dem Einfluss des Publikums ausgesetzt war. Anthony Corbeill (2004) kommt in seiner Studie über Gestik und Mimik des alten Roms zu dem Schluss, dass der erhobene Daumen keinesfalls die Schonung des Unterlegenen, sondern vielmehr sein Todesurteil bedeutete. Ihm zufolge rührt die symbolische Macht des Daumens von seiner Sonderstellung gegenüber den anderen Fingern her, die der menschlichen Hand erst die Macht des Greifens verleiht und sie so zu einem vielseitigen Werkzeug macht. Allerdings war die herausragende symbolische Bedeutung des Daumens in der Antike eine römische Besonderheit, die den Griechen beispielsweise unbekannt war. Die Geste des erhobenen Daumens kann unter anderem als Imitation einer Erektion angesehen werden – für seine Verwendung als sexuelle Metapher führt Corbeill eine Vielzahl von Beispielen an (2004: 49ff.).39 Immer wieder fungierte der Daumen als Symbol von Macht und Männlichkeit, weswegen der erhobene Daumen bei den Römern auch als feindliche Geste verwendet werden konnte (infestus pollux). Die entgegengesetzte Bedeutung hatte der auf die geschlossene Faust gelegte Daumen, welcher freundliche Absichten, einen guten Willen oder Gnade signalisierte. Die aus Amerika stammende Geste des „thumbs up“ und das in Deutschland gebräuchliche „Daumendrücken“ lassen sich, so Corbeill, auf diese beiden Gesten zurückführen. Zwar wird das amerikanische „thumbs up“ nicht unbedingt als feindliche Geste gebraucht und interpretiert, aber die Demonstration von Macht spielt dabei immer noch eine wichtige Rolle. Durch den erhobenen Daumen signalisiert man, dass alles unter der eigenen Kon-
39 Der erhobene Daumen konnte in beleidigender Absicht verwendet werden und hatte darüber hinaus eine apotropäische Funktion, wie sie auch den Abu-Ghraib-Bildern als Trophäen zugeschrieben werden kann: „Originally representing the erect phallus, the gesture conveys simultaneously a sexual threat to the person toward whom it is directed and an apotropaic means of warding off unwanted elements of the more than human“ (2004: 6).
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trolle ist, während es beim „Daumendrücken“ immer um das unverfügbare Andere geht, wo einem nur noch das Glück und die Götter helfen können. Der erhobene wie auch der gedrückte Daumen sind Pathosformeln im Sinne Warburgs, die zweitausend Jahre tradiert wurden und dabei auch einige Veränderungen mitgemacht haben. Die Pathosformel des gestreckten Daumens hat sich in den Vereinigten Staaten als „thumbs up“ etabliert, während ihre Bedeutung in Europa weitestgehend verloren ging. Die amerikanisch dominierte, globale Medienkultur führte dann zu einer weltweiten Verbreitung von „thumbs up“. Dennoch ist diese Geste in keiner Kultur so verwurzelt wie in der amerikanischen, was sich an den Reaktionen der amerikanischen Medien auf die Abu-Ghraib-Bilder ablesen lässt.40 Bereits die CBS-Sendung am 28. April 2004 nannte diese Geste beim Namen und brachte damit die kollektive Abscheu darüber zum Ausdruck, dass die Täter von Abu Ghraib diese uramerikanische Geste in diesem scheußlichen Zusammenhang gebrauchten. Die deutsche Presse hingegen sprach nur von „grinsenden“ Soldaten und schenkte der Geste keine besondere Aufmerksamkeit. Nun können wir der Frage nachgehen, was die uramerikanische Geste des „thumbs up“ auf den beiden Photographien bedeutet. Zunächst einmal bringt diese Geste die Zugehörigkeit der Soldaten zur amerikanischen Kultur zum Ausdruck. Die Geste verweist damit auch auf jene amerikanischen Normen und Werte, die auf den Bildern mit Füßen getreten werden. Diese Spannung erklärt die Aufmerksamkeit, die dieser Geste gewidmet wurde, wie auch das starke Abgrenzungsbedürfnis gegenüber den Tätern. Man entrüstete sich darüber, dass sich die Missetäter womöglich noch für gute Amerikaner hielten. Die Soldaten drohten, mit ihrer Selbstdarstellung die amerikanische Kultur zu kontaminieren, weswegen der Medienskandal als Selbstvergewisserungsprozess (Wo stehen wir?) und Reinigungsritual (Ihr gehört nicht zu uns!) von größter Wichtigkeit war (8.2). Nicht nur die Folter der Soldaten, sondern auch der Skandal lässt sich als ein öffentliches Ritual des Umgangs mit dem Unreinen (5.2.2), als Entsorgung des „toxic social spill from Abu Ghraib“ (Mestrovic 2006), begreifen. Das Abu-Ghraib-Gefängnis zu einem schmutzigen Ort des Bösen, in dem erst die Schergen von Saddam Husein ihr Unwesen trieben (6.3) – und jetzt die schwarzen Schafe der amerikanischen Armee. 7.2.3 Das scheinbare und das unscheinbare Heldentum Der erhobene Daumen konnte als „thumbs up“ und damit als traditionsreiche Geste des Triumphs entschlüsselt werden. Nun ist von der Bedeutung dieser Geste auf die „Pose“, das heißt auf die Haltung des gesamten Körpers, überzugehen. Posen sind körperliche Nachahmungen von inneren und äußeren Bildern, die einem intersub40 Vgl. „Bush Voices ‚Disgust‘ at Abuse of Iraqi Prisoners“, The New York Times, 1. Mai 2004; „Interview With One of Doctors Seeing Thomas Hamill in Landstuhl; Interview With Brigadier General Janis Karpinski“, American Morning (7:00), CNN, 4. Mai 2004.
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jektiv geteilten Bildvorrat entspringen. Ein „poser“ ist jemand, der so tut, als ob (vgl. die theatralische Performanz, 2.3.2). Die Pose verweist auf eine Darstellung, die kein natürlicher und unmittelbarer Ausdruck ist. Für das Bildmedium der Fotografie ist sie geradezu charakteristisch (2.1.3). Die Gestalt des Gefangenen auf der ersten Abbildung, die Assoziationen zu einer Vogelscheuche oder zu einem Gespenst zulässt, mutet schon wie eine Pose an, obgleich das Opfer durch disziplinierende Maßnahmen seines Ausdrucksvermögens beraubt wurde und so nur passiv zur Bildproduktion beitrug. Bei einer Pose im eigentlichen Sinn handelt es sich aber um eine bewusste Selbstdarstellung, welche dem „intendierten Ausdrucksstil“ bei Bohnsack (2007) entspricht. Daneben lassen sich aber oft auch noch Elemente eines unintendierten Ausdruckstils beobachten, welche die Bemühungen, die sich dem intendierten Stil zuordnen lassen, konterkarieren und zunichtemachen können. Doch zunächst einmal wieder zu dem erhobenen Daumen, der als körperliches Symbol eine volle Kontrolle über die Situation signalisiert. „Unter Kontrolle“ sind die gestapelten Gefangenen, die der Macht der Wärter unterworfen sind. Die verschränkten Arme des Mannes auf der zweiten Abbildung stellen ebenfalls eine Machtdemonstration dar, die unter Umständen auch bedrohliche Züge annehmen kann. Wenn man die Arme vor einem Gegner verschränkt, baut man sich vor diesem auf und legt es auf eine Konfrontation an. Die Schultern hängen nicht herab und der Oberkörper wirkt breiter. In Kombination mit der Geste des „thumbs up“ und dem Grinsen im Gesicht des Soldaten fällt jedoch der Aspekt der Bedrohung weg – es wird signalisiert, dass schon alles unter Kontrolle ist. Die Pose des Soldaten – verschränkte Arme, erhobener Daumen – steht also für Stärke und getane Arbeit. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Handschuhe, mit denen der Soldat zupacken kann, ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Der Mann steht zwar auf der zweiten Abbildung noch hinter bzw. über der Frau, die bei den Gefangenen kniet und ihren Daumen über den Haufen hält, aber es kann ihr eigentlich nichts passieren, weil die Arbeit, fein säuberlich gestapelt, schon vom Mann geleistet wurde. Der erhobene Daumen der Frau, der als solcher nicht sofort zu erkennen ist, wirkt eher spielerisch. Mit Leichtigkeit scheint sie über den besiegten Feind, der zu ihren Füssen liegt, zu verfügen. Dies alles wurde vom Fotografen und seinem Apparat bereitwillig dokumentiert. Während auf der zweiten Abbildung ein hierarchisches Verhältnis zwischen Mann und Frau herrscht, ist deren Beziehung auf der dritten Abbildung von partnerschaftlicher Natur. Sie legen sich gegenseitig den Arm um die Schultern und geben mit ihrer freien Hand ein „thumbs up“. Die Pose steht für gutes Teamwork, wobei das Produkt dieser Arbeit zu Füssen der Soldaten liegt. Aber auch hier hat der Mann die Handschuhe an und erweckt damit den Eindruck, die eigentliche Arbeit geleistet zu haben. Diese Zurschaustellung der eigenen Macht und Stärke, der geleisteten Arbeit, entspricht der narrativen Figur des „Helden“ (vgl. Giesen 2004c: 15-44; 2010: 76-80). So können wir uns auch Herakles mit verschränkten Armen, geballten Handschuhen und erhobenen Daumen
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vorstellen, nachdem er gerade den Stall des Augias ausgemistet hat. Genauso mussten die sich auf den Bildern in Szene setzenden „Helden“ in jenem dreckigen Gefängnis von Abu Ghraib mit dem „Abschaum“ fertig werden. Die Soldaten auf beiden Photographien, insbesondere aber der Mann, nehmen die Pose eines Helden an. In den Darstellungen kommt keine Ironie zum Ausdruck, so dass davon ausgegangen werden muss, dass diese Selbstdarstellung auch dem Selbstbild der Soldaten entsprach. Dieser intendierte Ausdruckstil, die Selbstinszenierung als Held, gehört zum Habitus der abgebildeten Soldaten. Darüber hinaus kommt aber auch ein Widerspruch zwischen Wesen und Erscheinung zum Ausdruck: Der intendierte Ausdruckstil wird nämlich – unintendiert – von der abgebildeten Szenerie konterkariert. Die gestapelten Gefangenen befinden sich in einer Situation äußerster Hilflosigkeit und Erniedrigung. Gefangene in einem Gefängnis zu misshandeln ist – zumindest für uns Betrachter – ein Ausdruck institutioneller Machtverhältnisse, aber sicherlich keine Demonstration von persönlicher Stärke. Helden müssen sich im Kampf gegen würdige und ebenbürtige Gegner beweisen. Davon ist aber auf diesen Bildern nichts zu merken. Wir haben es also nur mit einem scheinbaren Heldentum zu tun, das eine oberflächliche Betrachtung der Bilder sofort entlarvt. Von diesem „scheinbaren Heldentum“ des Folterns ist noch das „unscheinbare Heldentum“ zu unterscheiden, wobei es im Folgenden auf die strukturelle Beziehung zwischen diesen beiden Formen ankommt. Mit der kulturellen Figur des Helden geht oft eine Rhetorik des Bösen einher, wie sie nach dem 11. September 2001 wieder verstärkt Einzug hielt (Silverstone 2007: 56-79). Für die Interpretation der Skandalbilder muss diese Rhetorik als ein Element des kulturellen Hintergrundes in Betracht gezogen werden, da sie für die Täter von Abu Ghraib handlungsleitend gewesen sein könnte. Durch das Ritual der Folter und ihre Selbstinszenierung als Helden haben die Täter zugleich eine Grenze zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“, dem „Reinen“ und dem „Unreinen“, den „zivilisierten Menschen“ und dem „Abschaum“, gezogen. Die Figur des Helden und die Rhetorik des Bösen gehören zu ein- und derselben Weltanschauung, zu demselben kulturellen System; in ihnen dokumentiert sich ein- und derselbe kollektive Habitus; und beide entsprechen dem imperialen Gestus der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Publikation der Skandalbilder und die Berichterstattung über Abu Ghraib hat, so Roger Silverstone, diese Weltanschauung nachhaltig verändert. One is dramatically revealed, shamefully revealed, in the puncturing of everyday mediated space, even during the long-running misery generated by the war in Iraq, by the publication of pictures of the torture of Iraqi prisoners in the prison Abu Ghraib. And that is the presence of evil within. […] Such images break the illusion of virtue which US and western culture (as indeed all cultures, to some extent) need to preserve themselves. It is an illusion that is sustained through the projection of evil onto the stranger and its denial to the neighbor or to the self. Such images as these, circulated with such horror and shame, are there to constrain, at
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the very least, the hubris of the imperial powers in Iraq. [...] They fracture the singularity of dominant media representation, provide an arguably necessary caution, and in doing so they express a certain constancy in western art and culture. (2007: 57f.)
Indem sie an tradierte kulturelle Muster anknüpfen, brechen diese Bilder zugleich mit dem Selbstverständnis des amerikanischen Publikums (8.2.1). Silverstone charakterisiert die gesellschaftliche Externalisierung des Bösen als eine phantasmatische, aber auch konstitutive Bedingung von Gesellschaften, die allerdings auch pathologische Züge annehmen kann. Die Abu-Ghraib-Bilder durchbrachen diesen phantasmatischen Schirm, indem sie eine Verkehrung der verkehrten Welt der Folterer zeigten: Aus glorreichen Helden wurden Schurken, aus potenziell bösartigen Terrorverdächtigen unschuldige Opfer. Wer das Böse im Anderen bekämpft, entdeckt es auf einmal in sich selbst. Diese Erkenntnis macht Reinigungsrituale erforderlich: Die Quelle des Bösen muss identifiziert und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Erst dann ist es möglich, an der Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“, aber auch an der Tugend der eigenen Armee, festzuhalten – auch wenn sich einmal ein paar Schurken unter die tadellosen Soldaten gemischt haben sollten. Stephen Holmes argumentiert in seinem Essay über „Folter im Krieg gegen den Terror“, dass diese nicht als instrumentelle Verhörtechnik, sondern vielmehr als symbolische Vergeltung für den 11. September verstanden werden muss (2006). Im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Akzeptanz der Folter spielt in der amerikanischen Kultur die Vorstellung eines leisen, unscheinbaren Heldentums („quiet heroism“) eine wichtige Rolle. Im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001 gelangte der heldenhafte Folterer und das korrespondierende Ticking-BombNarrativ im amerikanischen Diskurs und in der populären Imagination zu großer Beliebtheit (6.4.2). Unscheinbar oder „leise“ müssen die Folter und auch der Folterer vor allem deshalb bleiben, weil Folter nun einmal mit der öffentlichen Moral und der rechtlichen Ordnung liberaler Gesellschaften unvereinbar ist: The ticking time bomb fable also suggests the quiet heroism of those who, defying moral norms and legal conventions, chose torture. They sacrifice their scruples for the greater good. They follow the ethics of responsibility instead of the ethics of conscience. Those who torture (or approve the torture of) prisoners, according to the implicit storyline, are protecting their fellow Americans from mass death by nuclear incineration. […] And the once-scorned torturer now appears as a potential savior. This torturer/savior fusion does not seem all that remote from the self-image of those who support the current U.S. policies of harsh interrogation. This heroic self-image seems pervasive even though none of the prisoner abuse in Abu Ghraib, for example, could have contributed in any way to the safety of Americans back home. (Holmes 2006: 128)
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Der heroische Folterer ist das dramaturgische Korrelat zum Ticking-Bomb-Narrativ und wird in beispielhafter Weise durch Jack Bauer in 24 verkörpert (6.4.2; 10.3.1). Die Figur des grenzüberschreitenden, oft im Verborgenen wirkenden Helden knüpft an zahllose Muster aus der amerikanischen Populärkultur an. Die gesellschaftliche Anerkennung, die jene für sich in Anspruch nehmen können, die Gesetze übertreten und Menschen foltern, ist der Schlüssel zur Heldenpose von Abu Ghraib. Allerdings war diese Performanz in der Öffentlichkeit zum Scheitern verurteilt. Die Pose wirkte selbstgerecht, deplatziert und dadurch obszön, so dass selbst gestandene Folterbefürworter von den Bildern aus Abu Ghraib erschüttert waren und sie aufs Schärfste verurteilten (8.2; 10.4). Vor dem Hintergrund des kulturellen Musters des unscheinbaren Heldentum wird die intentionale Überschreitung der Täter verständlich: „Soldiers knew they were violating the approved techniques and procedures“ (Fay & Jones 2005/2004: 991). Wenn die Überschreitung moralischer und rechtlicher Normen ein kulturelles Legitimationsmuster besitzt, wenn Grausamkeit und Skrupellosigkeit im Krieg gegen den Terror zum Ausweis von Loyalität wird, ist auch davon auszugehen, dass militärische Vorgaben überschritten oder nicht eingehalten werden. Obwohl die Soldaten von Abu Ghraib nicht unter dem unmittelbaren Zwang, Informationen zu beschaffen, gehandelt haben, ist von einem kausalen Einfluss dieses kulturellen Musters auszugehen – selbst wenn letztendlich niederere Motive wie die Lust am Foltern ausschlaggebend gewesen sein sollten.
7.3 I NTERPRETATION III – S EXUALITÄT
UND
D EMÜTIGUNG
Wir bilden junge Männer aus, um auf Menschen Bomben abzuwerfen, aber ihre Kommandeure wollen ihnen nicht erlauben, ‚Ficken‘ auf ihre Flugzeuge zu schreiben, weil das obszön ist. COLONEL WALTER E. KURTZ41
Im Folgenden soll noch auf drei weitere Fotografien eingegangen werden, die im Zuge der berüchtigten „night shift“ aufgenommen wurden. Zwei von ihnen zeigen Gefangene, die zu sexuellen Handlungen genötigt werden. Auf der vierten Abbildung ist ein Gefangener zu sehen, der zur Masturbation gezwungen wird, während auf der fünften Abbildung ein „blow job“ zwischen zwei Männern nachgestellt wird. Die sechste Abbildung zeigt schließlich eine Soldatin, die einen der Gefangenen an einer Hundeleine hält. Auch hier setzte sich eine sexuelle Deutung als „Domina“ durch, die es angemessen erscheinen lässt, alle drei Bilder unter dem Gesichtspunkt „Sexualität und Folter“ abzuhandeln. Eine sexuelle Konnotation 41 Die fiktive Figur eines abtrünnigen Offiziers in Coppolas Apocalypse Now (1979).
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schwingt zwar auch auf dem Foto mit, das die menschliche Pyramide aus nackten Gefangenen zeigt; in den folgenden Bildern wird jedoch explizit auf sexuelle Gesten und Posen zurückgegriffen. Der Bereich der Sexualität scheint sich zur Erniedrigung von Menschen in besonderer Weise zu eignen, weswegen zunächst kurz auf das Verhältnis von Sexualität und sozialer Ordnung eingegangen werden soll. Die Kontrolle von sexuellen Praktiken war schon immer ein zentraler Bestandteil von Gesellschaftsordnungen. Sexualität ist nicht nur für die biologische Reproduktion der Gattung unabdingbar, sondern dient auch als Mechanismus, der soziale und emotionale Bande zwischen Individuen knüpft und festigt (Collins 2004: 223257). Sexualität ist aber auch eine anomische Kraft, die kulturell konditioniert und codiert werden muss, um ihrer gesellschaftlich Herr zu werden. Sexualität gehört nicht in den profanen Bereich des gesellschaftlichen Lebens, sondern ist mal heilig und rein, mal unrein und schmutzig. Aus der Würde des Menschen folgt nach heutigem Verständnis ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Wahrung der sexuellen Identität (3.2; 4.1.2). Während das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung eher den Aspekt der Freiheit betont, ist die sexuelle Identität an ein Selbstbild geknüpft, dessen Verletzung in modernen Gesellschaften als entwürdigend gilt. Schon bei der menschlichen Pyramide fiel uns die Nacktheit der Opfer ins Auge. Erzwungene Nacktheit gibt den Körper schutzlos den Blicken anderer preis. Sie macht einen Körper nicht nur verwundbarer gegenüber Gewalt, sondern darüber hinaus auch zum Gegenstand sexuellen Begehrens. Nacktheit wird in vielen Kulturen dem Bereich äußerster Intimität zugeordnet und über die Emotion der Scham kontrolliert. Nicht umsonst versuchten einige der Gefangenen auf den folgenden Bildern, ihre Blöße zu verdecken. Nacktheit ist in der Regel an liminale Räume und Zeiten gebunden, wie die Sexualität unterliegt sie sozialen Restriktionen und Konditionen. Der Umgang mit Nacktheit erfordert Takt und nicht selten die Beachtung bestimmter Rituale und Normen. Gerade im jüdisch-christlich-muslimischen Kulturkreis, aber nicht nur dort, galt die Nacktheit des Menschen lange als etwas, dessen er sich nach dem Sündenfall schämen musste. Die Geburtsstunde der Moral, die Erkenntnis des Guten und des Bösen, fällt damit zusammen, dass sich Adam und Eva ihrer Nacktheit bewusst wurden, sich ihrer schämten und ihre Blöße bedeckten. Der nackte, natürliche Körper des Menschen wurde in der philosophischen Tradition lange Zeit als „animalisch“ bezeichnet und damit abgewertet. Erst wenn seine natürliche Lebensgrundlage gesichert und zugleich überwunden werde, könne der Mensch als freies, geistiges und moralisches Wesen in Erscheinung treten. Zugleich kommt in der Nacktheit die Verwundbarkeit unserer Existenz zum Ausdruck – vor allem wenn das Gesicht, der eigentliche Ausdruck der Individualität, verhüllt bleibt. Erst innerhalb der Kultur kann dem nackten Körper wieder eine neue Bedeutung zukommen, wie etwa in der Freikörperkultur. Das „removal of clothing“ gehörte im amerikanischen Krieg gegen den Terror zu den Verhörtechniken der zweiten Kategorie, die das Verteidigungsministerium
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im Dezember 2002 – zumindest für Guantanamo Bay – ausdrücklich erlaubt hatte (vgl. Greenberg & Dratel 2005: 223-237). Es war dabei durchaus beabsichtigt, die zwangsentkleideten Opfer Scham empfinden zu lassen – in der Hoffnung, dass diese sich dann als kooperativ erweisen würden, um ihre Kleider zurückzubekommen. Nacktheit wurde als Machtmittel eingesetzt, um unkooperatives Verhalten zu sanktionieren. Obwohl in den offiziellen Dokumenten explizit hervorgehoben wird, dass alle Verhörtechniken die humane Behandlung der Gefangenen nicht gefährden dürften, zeigen nicht zuletzt die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib, dass erzwungene Nacktheit leicht zu demütigenden Situationen führt. 42 Der Fay-Jones-Report befasst sich mit der unautorisierten Ausbreitung der Verhörtechnik der erzwungenen Nacktheit von Afghanistan und Guantanamo Bay in den Irak. Die beiden Offiziere verurteilen die Technik zwar nicht prinzipiell, bewerten jedoch ihre unintendierten Folgen durchaus kritisch: „The use of clothing as an incentive (nudity) is significant in that it likely contributed to an escalating ‚de-humanization‘ of the detainees and set the stage for additional and more severe abuses to occur“ (Fay & Jones 2005/2004: 1025). Die Nacktheit der Gefangenen machte ihre Körper gegenüber sexuellen Demütigungen und gewalttätigen Angriffen verwundbar. Die beiden Autoren verwenden hier – etwas verzagt – ein „slippery slope“- bzw. Dammbruchargument, wie es auch in der Post-Abu-Ghraib-Folterdebatte eine Rolle spielte (10.4). Die durch Nacktheit herbeigeführte Demütigung der Gefangenen in Abu Ghraib mag für sich noch nicht problematisch gewesen sein, allerdings begünstigte sie weitere Formen Erniedrigung und des Missbrauchs. 7.3.1 Erzwungene Masturbation und symbolische Kastrationsdrohung Im Abendland, aber auch in anderen Kulturen, wurde Masturbation lange Zeit als „verfemter Teil“ (Bataille) der Sexualität ausgegrenzt. Wenn man einmal von religiösen oder medizinischen Argumenten absieht, kann das Verbot der Masturbation soziologisch dadurch erklärt werden, dass eine Sexualität, die mit sich selbst ausgelebt wird, nicht mehr als Quelle der Solidarität für soziale Beziehungen zur Verfügung steht. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten die Schädlichkeit der Masturbation widerlegt wurde und Masturbation auch nicht mehr als „wollüstige Selbstschändung“ (Kant), sondern als integraler Bestandteil des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung gefasst wird, darf nicht unterschätzt werden, dass in christlichen und muslimischen Kontexten der Akt der Masturbation oft noch als „unrein“ bzw. „pervers“, als eine Sünde wider Gott und als moralische Verfehlung gilt.
42 Gegen eine derartige Verwendung von Nacktheit als einer Verhörtechnik ließe einwenden, dass erzwungene Nacktheit in systematischer Weise die Selbstachtung ihrer Opfer verletzt – und damit auch ihre Würde und Menschlichkeit (3.2).
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Abbildung 4: Erzwungene Masturbation
Salon.com, Foto vom 8. November, 00:14
Auf der vierten Abbildung ist eine Soldatin und eine Reihe nackter Gefangener mit olivgrünen Plastiktüten auf ihren Köpfen zu sehen. Im Bildhintergrund liegen auf der rechten Seite die Kleider der Gefangenen an einer Wand, während links oben ein Gitter am Ende des Ganges zu erkennen ist. Es fällt auf, dass Gefangene im Hintergrund des Bildes – vor Scham – ihre Blöße bedeckt halten. Einer der Gefangenen steht im Vordergrund des Bildes. Er ist aus der Reihe seiner Mitgefangenen hervorgetreten und vollzieht mit seiner rechten Hand den Akt der Masturbation. Die linke Hand der Soldatin zeigt den erhobenen Daumen, während an ihrer rechten Daumen und Zeigefinger gespreizt sind, wobei der gestreckte Zeigefinger auf das Glied des Mannes zeigt; ihr Blick ist auf die Kamera gerichtet. Der Bildmittelpunkt liegt zwischen der Soldatin und dem vorgetretenen Gefangenen, gemeinsam bilden sie die szenische Einheit des Fotos. Die Geste der rechten Hand kann zunächst als ein „thumbs up“ gelesen werden, zusammen mit der linken Hand könnte sie aber auch nur Teil einer komplexeren Geste sein und so eine zusätzliche Bedeutung annehmen. Die Geste der linken Hand kann als ein indexikalisches Deuten verstanden werden, aber auch als Androhung einer „Entmannung“, da ihr linker Zeigefinger wie eine Waffe auf das Glied des Mannes gerichtet ist, während die rechte Hand einen imaginierten Abzug betätigt. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Kastrationsdrohung durch eine Frau in Szene gesetzt wird. Was aber ist ihr Sinn? Einerseits geht es um die Demütigung des Gefangenen, die mit seiner symbolischen Entmannung einhergeht, andererseits bildet die Geste der Entmannung mit der Masturbation des Gefangenen eine Einheit, die als Bestrafung der Masturbation gelesen werden kann. Einige Interpreten glauben auf diesen Bildern zu erkennen, dass die Soldaten ihre „sexuell verklemmten“ muslimischen Gefangenen einer westlichen
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Sexualtherapie unterzogen hätten.43 Dieser Gedanke, dass also auf die „Befreiung“ des irakischen Volkes die sexuelle „Befreiung“ der Gefangenen erfolgt sei, ist so abstrus, dass er intellektuell schon wieder reizvoll erscheint. Wie dem auch immer sein mag – er hält eine Konfrontation mit dem empirischen Material nicht stand. Die Rede von einer Bestrafung des angedeuteten Masturbationsakts durch die Soldatin scheint zunächst wenig Sinn zu machen, da der Gefangene auf dem Bild offensichtlich zu diesem Akt gezwungen wurde. Und doch erfährt diese Deutung eine unerwartete Bestätigung durch die Äußerungen der Soldaten selbst: Zeugen zufolge kommentierte der Soldat Charles Graner die erzwungene Masturbation mit folgenden Worten: „Schauen Sie mal, was die Viecher machen, wenn man sie für zwei Sekunden alleine lässt“ (zitiert nach der deutschen Übersetzung in Gourevitch & Morris 2009: 210). In der Aussage kommt eine Form der Erniedrigung zum Ausdruck, die an die öffentliche Zurschaustellung von Sexualität geknüpft ist. Des Weiteren muss konstatiert werden, dass die Masturbationsakte auf den Bildern nur schwerlich als Initiationsrituale gedeutet werden können (3.3.1). Im Gegensatz zu den Mitgliedern einer „fraternity“ wartete auf die Gefangenen nämlich keine Aufnahme in eine Gruppe, sondern nur Gelächter und Verachtung. Das Motiv der Masturbation diente vielmehr der ritualisierten Demütigung der Gefangenen, da mit seiner Hilfe die Opfer als barbarisch und animalisch in Szene gesetzt werden können. Diese Gleichsetzung der Gefangenen mit Tieren, die in Graners Bemerkung zum Ausdruck kommt, ist nicht nur demütigend und entmenschlichend, sondern könnte auch die Hemmung der Soldaten für weitere Akte der Grausamkeit gegenüber den Gefangenen gesenkt haben.44 Vor dem Hintergrund dieser Interpretation stellt nicht primär die erzwungene Masturbation des Gefangenen, sondern die symbolische Kastrationsdrohung der Soldatin eine „zivilisierende“ Maßnahme dar. 7.3.2 Die Inszenierung von Homosexualität Homosexuelle Praktiken werden in vielen Gesellschaften als „unrein“ behandelt. Dies könnte man darauf zurückführen, dass Homosexualität, auch wenn sie innerhalb sozialer Beziehungen durchaus partnerschaftliche Solidarität stiften kann, keinen Beitrag zur biologischen Reproduktion der Gemeinschaft leistet. So einleuchtend dieses evolutionäre Argument auch erscheinen mag, aus einer kultursoziologischen Perspektive lässt sich ein anderes Argument vorbringen: Homosexualität, 43 Vor allem Slavoj Žižek ( „Die Amerikaner kontrollieren gar nichts! Nicht mal sich selbst! Warum Comical Ali recht behalten hat: einige Überlegungen über Abu Ghraib und das Unbewusste in der Popkultur“, Berliner Zeitung, 23. Juni 2004), aber auch Albrecht Koschorke (2007) und Judith Butler (2008) sympathisieren mit einer therapeutischen Deutung dieser Szene als einem Initiationsritual in die moderne Sexualkultur. 44 In einer Abwandlung des Milgram-Experiments bekamen Opfer, die als „animal“ gelabelt wurden, stärkere Stromschläge (Zimbardo 2004: 31f.).
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insbesondere unter Männern, ist wider die Kultur, weil sie die binäre Klassifikation der Geschlechter unterläuft. Dafür spricht, dass oft nur die sexuelle Unterwerfung eines Mannes gegenüber einem anderen Mann für verwerflich gilt.45 Der penetrierte und „verweiblichte“ Mann verstößt gegen etablierte Konzepte von Männlichkeit. Ähnlich wie die Masturbation wurde auch die Homosexualität erst in den letzten Jahrzehnten unter Berufung auf die Werte der sexuellen Selbstbestimmung und Identität normalisiert und legalisiert – zumindest in den liberalen, westlich orientierten Gesellschaften. Allerdings gilt Homosexualität in vielen konservativen und religiösen Kreisen – in den Vereinigten Staaten, aber auch in der arabischen Welt – als „Krankheit“ oder „moralische Verfehlung“. Abbildung 5: Inszenierte Fellatio
Salon.com, November 2003, 23:57
Auf der fünften Abbildung sehen wir zwei nackte Gefangenen mit Plastiktüten über dem Kopf. Der Gefangene auf der linken Seite kniet unter einem Mitgefangenen und hat seine Arme auf seine Oberschenkel gelegt. Der Gefangene auf der rechten Seite hält den Kopf des Mitgefangenen an seinen Unterleib. Auf diesem Bild wird offensichtlich eine sexuelle Handlung in Szene gesetzt. Den Hintergrund bildet die Wand eines Gangs, auf der rechten Seite ist eine geschlossene Tür zu sehen. Vor 45 So beispielsweise in amerikanischen Gefängnissen (Duerr 1993: 269-273), aber zum Teil auch im arabisch-muslimischen Kulturraum (Patai 2002: 134f.).
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der Wand stehen zwei weitere Gefangene, von denen sich der eine den offenbar schmerzenden Unterleib, der andere gesenkten seinen Kopf hält. Die erzwungene Inszenierung sexueller Handlungen zwischen den Männern stellt nicht nur einen Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen, sondern darüber hinaus auch auf die sexuelle Identität heterosexueller Männer dar. Erschwerend kommt hinzu, dass der homosexuelle Verkehr zwischen Männern im traditionellen Islam als besonders „unrein“ und moralisch verwerflich angesehen wird. Dasselbe gilt allerdings für die amerikanische Armee, in der homosexuelle Männer ebenfalls stigmatisiert werden. Heteronormativität ist immer noch ein zentrales kulturelles Merkmal westlicher wie auch nichtwestlicher Gesellschaften. Insbesondere an den gebräuchlichen Schimpfwörtern wird deutlich, dass normative Abweichungen sexuell konnotiert und sexuelle Abweichungen moralisch stigmatisiert werden können. Andrés Nader (2003) hat gezeigt, dass kurz nach dem 11. September 2001 in der amerikanischen Armee, der Presse und vor allem im Internet mit der „sexuellen Konstruktion des Feindes“ begonnen wurde – beispielsweise durch Karikaturen, die die Penetration von Osama bin Laden durch das Empire State Building zeigen. Diese imaginative und fiktive Konstituierung des Feindes als „unmännlich“ und homosexuell schlägt auf dem Bild in eine reelle Inszenierung um. Die Verwendung dieses sexuellen Motivs ist kein pathologischer Einzelfall, sondern eine in den meisten Kulturen verständliche Form der Erniedrigung. Dies wurde dadurch möglich, dass Homosexualität in den Klassifikationsschemata vieler Gesellschaften lange Zeit keinen Platz hatte und folglich als unreine Aberration galt. In den Missbrauchsfällen kommen kulturelle Muster zum Ausdruck, welche nicht nur in der amerikanischen Gesellschaft verbreitet sind, sondern nahezu in allen Gesellschaften anzutreffen sind (man denke an das deutsche Schimpfwort „Schwuchtel“). Skandalös ist, dass die Soldaten diese kollektiven Schemata und Phantasien mit den ihnen zur Verfügung stehenden Gewaltmitteln zu realisieren suchten. Im amerikanischen Diskurs zu Abu Ghraib wurde diskutiert, inwieweit die Verbreitung von Pornographie in der amerikanischen Gesellschaft eine Mitschuld an den Missbrauchsfällen getragen habe.46 Selbst für wissenschaftliche Autoren wie Paul A. Taylor (2007) sind die Bilder von Abu Ghraib die Symptome einer pornographischen Gesellschaft. Diese Reaktion ist vor dem puritanischen Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft verständlich, kann aber leicht in die Irre führen. Es muss zwar der Tatsache Rechnung getragen werden, dass im Diskurs immer wieder von „Pornographie“ die Rede ist, aber es kann zwischen zwei Redeweisen unterschieden werden. Zum einen kann der Begriff auf einer ikonographischen Ebene 46 Sontag, Susan: „Regarding the torture of others“, The New York Times, 23. Mai 2004; „Religious Leaders See Broad Lessons for American Society in the Abuse of Iraqi Prisoners Grappling With the Morals On Display in Abu Ghraib“, The Washington Post, 29. Mai 2004.
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auf die pornografischen Inhalte der Bilder angewendet werden, beispielsweise auf die Nacktheit der Gefangenen und die Inszenierung sexueller Handlungen. Zum anderen kann der Begriff auch ikonologisch auf die Produktion und Rezeption der Bilder bezogen werden. Anton Holzer (2006: 19-21) zufolge ist das Verschwimmen zwischen Pornographie und Folter für die Bilder von Abu Ghraib charakteristisch, während sich ihr Verhältnis zum Betrachter durch Schaulust und Voyeurismus auszeichnet. Die Frage, inwieweit es sich bei den Bildern von Abu Ghraib um Pornographie handele, ist nicht nur im amerikanischen Diskurs heiß diskutiert worden (8.3.2-3), sondern auch für die Rekonstruktion des Vorfalls von großer Bedeutung. Ferrel M. Christensen hat in einer Studie zu Pornographie vorgeschlagen, diese über ihren sexuellen Inhalt und ihren Zweck, sexuelle Gefühle zu erregen oder zu befriedigen, zu definieren (1990: 1f.). Legt man diese Definition zu Grunde, muss den Bildern wohl das Prädikat „pornographisch“ abgesprochen werden. So hatten die Macher dieser Bilder aller Wahrscheinlichkeit nach nicht im Sinn, das sexuelle Begehren der Betrachter erregen oder gar befriedigen zu wollen. Dies wird vor allem an der distanzierten Rolle der abgebildeten Soldaten deutlich, die sich an den sexuellen Akten nicht beteiligen, sondern sich mit einem erhabenen Lächeln, das von allen Anzüglichkeiten frei ist, von den sexualisierten Gefangenen abgrenzen. Das gleiche lässt sich über die Rezeption der Bilder sagen, da sich im öffentlichen Diskurs keine Äußerungen finden, in denen die Bilder unmittelbar als eine Quelle einer sexuellen Erregung zum Ausdruck kommen. 47 Dementsprechend ist es irreführend, von einer „pornographic function“ der Bilder zu sprechen, selbst wenn man sie einer „political function“ unterordnet (Apel 2005: 93). Nicht nach der pornographischen Funktion der Bilder, sondern nach der Funktion der pornographischen Motive auf den Bildern ist zu fragen. So kann man sehr wohl von einer pornographischen Ikonographie der Fotografien sprechen, für die vermutlich auch pornographische Bilder als Vorbilder gedient haben.48 Die Funktion der pornographischen Motive, so die These, besteht alleine darin, die Gefangenen zu erniedrigen und eine Grenze zwischen den reinen Soldaten und den unreinen, „perversen“ Gefangenen zu ziehen. Aus einer liberalen Moralperspektive ist nicht die Nachstellung 47 Wenn man von den Äußerungen des rechts-konservativen Radiomoderators Rush Limbaugh absieht (8.3.3). Aber auch Limbaugh ließ sich nicht von den sexuellen Akten der Männer erregen, sondern von den amerikanischen Soldatinnen auf den Bildern, die er „babes“ nennt; vgl. The Rush Limbaugh Show, 3. Mai 2004, http://cloudfront.media matters.org/static/pdf/limbaugh-20040503.pdf; letzter Zugriff am 19. Februar 2012. 48 Die Fotografien von Abu Ghraib lassen sich durchaus im Lichte der medialen Veränderungen im Bereich der Pornographie betrachten, zu denen die Digitalisierung und das Internet geführt haben. Nicht umsonst erinnern die Fotos und auch die Videos von Abu Ghraib an die Verbreitung sogenannter „Snuff-Videos“. Ebenso ist davon auszugehen, dass diese Bilder selbst wieder in die Produktion derartiger Videos einflossen.
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von Masturbation oder des Oralverkehrs zwischen Männern problematisch, sondern allein die erzwungene Inszenierung sexueller Akte, die in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung eingreift. Die Gefangenen auf den Bildern werden zu einem Verhalten gezwungen, welches ihrem Selbstbild zuwiderläuft. Und dass sie dazu gezwungen werden, widerspricht der moralischen Ordnung der Gesellschaft. 7.3.3 Die Soldatin als Domina – Entmannung und Entmenschlichung In die bisherige Diskussion über Sexualität und Erniedrigung in Abu Ghraib fügt sich noch eine weitere – und neben der Ikone des Skandals die wohl bekannteste – Fotografie aus Abu Ghraib ein. Seinen ikonischen Status hat das Bild sicherlich seiner implizit sexuellen Symbolik zu verdanken, ohne das darauf, wie auf den letzten beiden Abbildungen, ein expliziter sexueller Akt, zu sehen wäre. Es ist etwa zwei Wochen vor der berüchtigten „night shift“ entstanden; die Szene wird von dem Internetmagazin Saloon.com auf den 24. Oktober, von den Verfassern des FayJones-Berichts aber erst auf den Tag danach datiert (2005/2004: 1078). Abbildung 6: An der Leine
Salon.com, Foto vom 24. Oktober 2003, 20:16
Auf dem Foto ist eine junge Soldatin zu sehen, die einen Gefangenen an einer Art Leine hält und dabei in die Kamera blickt. Auf der linken Bildseite ist noch ein weiterer Soldat zu sehen, der, an eine Wand gelehnt, relativ teilnahmslos auf den Gefangenen schaut. Der Gefangene, der auf dem Boden kauert und auch in Richtung Kamera zu blicken scheint,49 stützt sich mit seiner linken Hand ab. Durch die straff gespannte Leine entsteht zudem der Eindruck, dass der Gefangene über den Boden gezogen würde. Ikonografisch erinnert diese Szenerie zunächst an das DominaMotiv, ruft aber auch Bilder von Haustieren in Erinnerung, die von Herrchen oder 49 Saloon.com hat die Bilder retuschiert, um die Identität und Würde der Opfer zu wahren.
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Frauchen an der Leine geführt werden. Einerseits geht es um ein Motiv der Herrschaft, das an die binäre Unterscheidung von Frau und Mann anknüpft, zum anderen aber um Entmenschlichung, die bei der Unterscheidung von Mensch und Tier ansetzt. In beiden Deutungen lässt sich diese Inszenierung als rituelle Erniedrigung des Gefangenen verständlich machen. Im öffentlichen Diskurs wurde insbesondere die erste Deutung stark gemacht, was in erster Linie an der unterstellten Bedeutung der Mann/Frau-Differenz für die arabische Kultur liegen dürfte: „But the image plays very heavily in the Middle East, particularly the idea of a woman holding a man on a leash. The degradation of the male is a powerful symbol.“50 Wohl aus diesem Grund wurde dieses Foto auch von einem Maler in Form eines Wandgemäldes in Teheran kopiert (Apel 2005: 88) und in Theateraufführungen aufgegriffen (9.4). Indem der Gefangene in dieser Inszenierung zu einem Tier degradiert wird, wird seinem schmutzigen und unreinen Charakter noch einmal performativ Ausdruck verliehen. 51 Diese Gleichsetzung der Gefangenen mit Tieren auf diesem Bild ist wahrlich kein Einzelfall. So wurden während der berüchtigten „night shift“ auf den Gefangenen wie auf Tieren geritten (7.2), aber auch in Guantanamo wurde, wie sich später herausstellte, die Gleichsetzung oder gar Inferiorität gegenüber Tieren systematisch betont. Ein Artikel des Time Magazine gibt einen Ausschnitt aus dem Tagebuch eines Verhörspezialisten in Guantanamo Bay vom 20. Dezember 2002 wieder: „Told detainee that a dog is held in higher esteem because dogs know right from wrong and know how to protect innocent people from bad people. Began teaching the detainee lessons such as stay, come and bark to elevate his social status to that of a dog. Detainee became very agitated.“52 Die Resonanz dieser Erzählung verdankt sich unter anderem ihrem Bezug auf die AbuGhraib-Bilder. Solche Parallelen trugen dazu bei, dass der „toxic spill“ von Abu Ghraib auf Guantanamo überschwappte (vgl. Mestrovic 2006). Alle bisherigen Performanzen weisen eine sexuelle Dimension auf. Auf der Ikone des Skandals ist die sexuelle Dimension nicht sofort ersichtlich, aber von dem Militärbericht wissen wir, dass Drähte an dem Penis des Mannes befestigt waren (7.1). So hatte man es also auch in diesem Fall mit einer Art symbolischen Entmannung zu tun, wie sie dann auf der vierten Abbildung zu Tage trat. Bei der menschlichen Pyramide spielte das groteske Motiv der Orgie eine wesentliche Rolle 50 Deborah Norville Tonight (21:00), MSNBC, 11. Mai 2004. 51 Zur Rolle der „Bestialität“ in Abu Ghraib vgl. den Beitrag von Colleen Glenney Boogs (2008). Die Autorin geht auf die Symbolik des Tieres als Verkörperung des Unreinen mit Bezug auf den amerikanischen Hintergrund näher ein und argumentiert unter anderem, dass in der Rezeption der Bilder die Bestialisierung der Gefangenen in eine Bestialisierung der Täter als „viehisch“ und „unmenschlich“ umgeschlagen sei (278). 52 Zagorin, Adam und Michale Duffy: „Inside the Interrogation of Detainee 063“, Time, 20. Juni 2005.
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(7.2), während in der Interpretation der letzten drei Fotografien dezidiert eine pornografische Ikonographie an den Tag legen. Trotzdem wäre es verfehlt, die Bilder von Abu Ghraib als typisch amerikanische Pornographie (Limbaugh, Sontag) zu bezeichnen oder von den Missbrauchsfällen als einer „pornographischen Missionierung“ (Koschorke 2007: 188f.) der Gefangenen zu sprechen. So ist davon auszugehen, dass sowohl die Akte als auch die Bilder nicht primär der sexuellen Erregung und Befriedigung der Soldaten gedient haben. Vielmehr scheint es den Soldaten bei diesen Bildern in erster Linie um die Erniedrigung der Gefangenen gegangen zu sein. Das Sexuelle und das Animalische liegen auf den Bildern nahe beieinander, da sie beide als unreine Symbole fungieren, welche die Inferiorität der Gefangenen zum Ausdruck bringen sollten. Ein letztes Missverständnis, das bei vielen Interpreten zu finden ist, ist die Gleichsetzung der auf den Bildern zu sehenden Formen der Erniedrigung mit der rituellen Form der Erniedrigung in Initiationsritualen (3.3.1). Trotz der frappierenden Ähnlichkeit zwischen den Missbrauchsfällen und Initiationsritualen erfüllte die Erniedrigung in Abu Ghraib einen anderen Zweck: Es ging nicht primär um eine temporäre Unterwerfung unter die Autorität der Gruppe, an deren Ende die Aufnahme in die Gruppe steht, sondern um die dauerhafte Unterwerfung und Abwertung der Gefangenen, ihrem rituellen Ausschluss aus der menschlichen Gattung. Die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib müssen wie auch Folter als spezifische Form der rituellen Demütigung verstanden werden (3.3.2).
7.4 R EKONSTRUKTION : R ITUALE DER D EMÜTIGUNG It is the photographs that gives one the vivid realization of what actually took place. Words don’t do it. DONALD RUMSFELD, VOR DEM VERTEIDIGUNGSAUSSCHUSS DES AMERIKANISCHEN SENATS
53
Auf Basis der bisherigen Interpretation der Bilder und unter Heranziehung weiterer Datenquellen sollen nun unterschiedliche Erklärungsansätze der Missbrauchsfälle diskutiert werden. Zunächst ist zu klären, warum die Bilder und Vorfälle überhaupt als erklärungsbedürftig wahrgenommen wurden. Der Schlüssel hierzu findet sich, so die These, ebenfalls in den Bildern und ihrer Rezeption. In der Erstausstrahlung der Fotografien aus Abu Ghraib in der amerikanischen Nachrichtensendung 60 Minutes kommentierte der Nachrichtensprecher diese als „shocking“ (8.1). Dieser Schock findet seine bildliche Entsprechung in dem syntagmatischem Bruch innerhalb die Bilder, die lächelnde amerikanische Soldaten und „Mädchen“ bei der 53 „Rumsfeld Speaks Before Senate Armed Services Committee on Abuse in Iraqi Prison“, CNN Live Event/Special (11:30), 7. Mai, 2004.
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Misshandlung ihrer Gefangenen zeigen, oder auch in den Leerstellen von einzelnen Bildern, wie beispielsweise bei der Ikone mit ihrem bizarr kostümierten Gefangenen (7.1). Die syntagmatische Offenheit der Bilder führt letztendlich zu der Frage, wie amerikanische Soldaten so etwas anderen Menschen antun konnten, oder, wie das Time Magazine am 17. Mai 2004 titelte: „How did it come to this?“. Nachdem der Nachrichtensprecher die Schockwirkung der Bilder angesprochen hatte, stand ihm der amerikanische General Mark Kimmitt Rede und Antwort. Er verurteilte die abgebildeten Vorfälle scharf, betonte aber zugleich, dass es sich nur um Einzelfälle handele, mit denen die überwiegende Mehrheit der Soldaten nichts zu tun habe. Schon mit der ersten Ausstrahlung der Abu-Ghraib-Bilder trat die Dialektik zwischen der Offenheit der Bilder und den Versuchen einer diskursiven Schließung zu Tage. Die Armee versuchte, die Vorfälle in ihren Untersuchungsberichten über eine Pathologisierung der Täter und deren mangelnde Kontrolle durch Vorgesetzte zu erklären (8.5.2) – und damit die Bilder ihrer Brisanz zu berauben. Diese Auslegung wurde nicht nur von der militärischen Führung propagiert, sondern auch von der amerikanischen Regierung übernommen. Einen prägnanten Ausdruck fand sie in der Redewendung „just a few bad apples“. Die mutmaßlichen Täter verteidigten sich gegen diese Anschuldigungen mit der Behauptung, dass sie nur auf Befehl von Offizieren und Geheimdienstangehörigen gehandelt hätten (8.5.1). Allerdings erschien diese Verteidigung der Öffentlichkeit alles andere als glaubwürdig, was nicht zuletzt dem grotesken und pornographischen Charakter jener Bilder, die während der sogenannten „night shift“ entstanden waren, geschuldet war (7.2-3). Zwar gab es in den Untersuchungsberichten durchaus auch Hinweise darauf, dass die Soldaten in Abu Ghraib von ranghöheren Offizieren oder Angehörigen des militärischen Geheimdienstes zu Übergriffen ermuntert worden seien, allerdings traf dies nicht auf die Vorfälle während der „night shift“ zu, die später im Zentrum des Gerichtsverfahrens stehen sollte. Genauso wenig ließ sich durch dieses Narrativ der groteske Exzess, der auf den Fotografien zu sehen war, verständlich machen. Gerade die Lust am Missbrauch, die die Täter auf den Bildern von Abu Ghraib so schamlos zur Schau stellten, passte so gar nicht zu dem Bild des Befehlsempfängers, das die Verteidigung zu zeichnen versuchte. Für die Rekonstruktion der Vorfälle in Abu Ghraib sind neben den Bildern vor allem die Untersuchungsberichte der amerikanischen Armee eine wertvolle Quelle (vgl. auch 8.5.2). Von allen Armeeberichten setzte die Untersuchung von Paul T. Mikolashek (2005/2004) am stärksten auf eine individualistische Erklärung der Vorfälle. Darin wird der Gefangenenmissbrauch den Tätern als intentionale Verfehlung angelastet, wobei auch das Versagen einzelner Vorgesetzten bei der Einhaltung der geltenden Regeln angemahnt wird (2005/2004: 632). Der Bericht von Antonio Taguba (2005/2004), wies auf systemische Probleme im Abu-Ghraib-Gefängnis hin: ein Klima des Missbrauch, an dessen Entstehung auch der Militärgeheim-
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dienst beteiligt war, der die einfachen Soldaten zu Verhörzwecken eingesetzt und zu Misshandlungen ermuntert haben soll. Der Bericht von Anthony R. Jones und George R. Fay (2005/2004) befasst sich von allen Armeeberichten am detailliertesten mit den tatsächlichen Vorfällen in Abu Ghraib. Es werden hier 44 Zwischenfälle aufgeführt, die in die Zeit vom 25. Juli 2003 bis zum 6. Februar 2004 fallen und an denen insgesamt 27 Soldaten und Zivilisten beteiligt gewesen sein sollen – wobei es von den meisten dieser Vorfälle keine Fotos gibt. Alleine schon diese Zahlen schüren einen berechtigten Zweifel an dem Bad-Apple-Narrativ und den individualistischen Erklärungsansätzen. Der Bericht unterscheidet zwischen „intentionalen Misshandlungen“, die den beteiligten Akteuren moralisch angelastet wurden, und „unabsichtlichen Normverletzungen“, die vermutlich im guten Glauben an die Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns begangen wurden (2005/2004: 1004f.). Die unintendierten Verstöße führen die Autoren auf eine Fehlinterpretation der geltenden Doktrin zurück, auf das mangelhafte Training der Soldaten und institutionelles Versagen. Die intentionalen Misshandlungen in Abu Ghraib werden in erster Linie durch die individualpsychologischen Pathologien der Täter erklärt. Im Vordergrund stehen vor allem die intentionalen Verfehlungen, die auf die „moralische Korruption“ der Täter zurückgeführt werden – eine Erklärung, die mit der Rahmung der Täter als „bad apples“ im konservativhegemonialen Diskurs übereinstimmte (8.3.1). So ist im Bericht von den Tätern als einer „small group of morally corrupt soldiers“ (2005/2004: 989) die Rede. Neben den Tätern hatte aber auch die Führung der in Abu Ghraib stationierten 205th MI Brigade und der 800th Military Police Brigade Verantwortung für die Vorfälle zu übernehmen, da sie es versäumt habe, die Befehlskette und damit „discipline and leadership“ aufrechtzuhalten. Wie schon Taguba kommen auch Fay und Jones zu dem Schluss, dass auch der militärische Geheimdienst nicht völlig unbeteiligt an den Vorfällen war: „Some MI personnel encouraged, condoned, participated in, or ignored abuse. In a few instances, MI personnel acted alone in abusing detainees“ (2005/2004: 1105). In dem Bericht lassen sich also durchaus Hinweise auf ein Klima des Missbrauchs finden, wie auch Stjepan Mestrovic und Ronald Lorenzo (2008), die dafür den durkheimianischen Begriff der „Anomie“ gebrauchen, in ihrer soziologischen Analyse des Fay-Jones-Reports hervorheben. Im Großen und Ganzen kamen diese situativen Faktoren in dem Bericht jedoch entschieden zu kurz. Der von Verteidigungsminister Rumsfeld in Auftrag gegebene Final Report of the Independent Panel, der unter der Leitung des ehemaligen Außenministers und Generals James Schlesinger (2005/2004) angefertigt wurde, sollte, wie der Name schon sagt, die Debatte um die Missbrauchsfälle endgültig zum Abschluss zu bringen. Der Schlesinger-Report ging allerdings weiter als die Vorgängerberichten, da hier der anomischen Situation vor Ort, vor allem aber auch der sozialen Dynamik von Gewalt und Erniedrigung, eine höhere Bedeutung für die Erklärung der Miss-
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brauchsfälle beigemessen wurden. Die intentionalen Misshandlungen werden nicht mehr alleine auf individuelle Pathologien zurückgeführt, sondern sozialpsychologisch erklärt. Mit dieser Deutung knüpft die Untersuchung an das berüchtigte Stanford-Prison-Experiment an, das explizit diskutiert wird (2005/2004: 970f.). 54 Philip Zimbardo, Sozialpsychologe und ehemaliger „Gefängnisdirekter“ während des Stanford-Prison-Experiments, wurde nach dem Abu-Ghraib-Skandal von einem der Verteidiger des ranghöchsten angeklagten Soldaten als Gutachter in das Gerichtsverfahren bestellt. In einer neueren Monographie versuchte Zimbardo (2007), die aus dem Gefängnis-Experiment gewonnenen Einsichten und seine Einblicke in das Gerichtsverfahren für eine Analyse der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib fruchtbar zu machen. Die (liberale) Grundthese des Buches lautet, dass Menschen nicht aufgrund bestimmter psychologischer Dispositionen, sondern aufgrund bestimmter situativer Konstellationen zu Tätern werden. Zimbardo (2007: 324-329) berichtet an einer Stelle, wie er aus Zufall ein Zeuge der Erstausstrahlung der Abu-Ghraib-Bilder wurde.55 Dem anfänglichen Schock wich bald das Gefühl, etwas Vertrautes auf den Fotos wiederzuerkennen: Die Bilder von Abu Ghraib erinnerten ihn an die schlimmsten Szenen des Stanford-Prison-Experiments (2007: 328). Zimbardo wäre kein Sozialpsychologe, wenn er sich in seiner Analyse auf die Ähnlichkeiten in der Ikonographie beschränkt hätte. Für ihn war diese Ähnlichkeit keine zufällige Übereinstimmung, da beiden Missbrauchsfällen eine gemeinsame Erklärung zu Grunde liege, nämlich jene soziale Dynamik von Gewalt und Erniedrigung, die in bestimmten Situationen gedeihen und die Handlungsintentionalität der Akteure mitreißen kann. Der moralisierenden Erzählung von den „schlechten Äpfeln“ setzt Zimbardo eine „good apple, bad barrel“-Theorie entgegen (8.3.2). Die anomische Situation im Abu-Ghraib-Gefängnis und die einfache Unterscheidung zwischen Soldaten und Gefangenen habe schon ausgereicht, um eine soziale Dynamik in Gang zu bringen, die in den Bildern von Abu Ghraib gegipfelt habe. Das Beispiel von Zimbardo zeigt, dass die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib auch eine gewisse Faszination auf Wissenschaftler ausübten – nicht zuletzt, weil 54 In diesem Experiment, das zu Beginn der siebziger Jahre stattfand, wurden studentische Versuchspersonen zufällig auf zwei Gruppen, Gefangene und Wärter, aufgeteilt (Haney et al. 1973). Den Wärtern wurden weitreichende Befugnisse über die Gefangenen eingeräumt. Schon nach wenigen Tagen waren die Misshandlungen der Gefangenen durch ihre Wärter so gravierend, dass das Experiment abgebrochen werden musste. Das Experiment wurde weithin als ein Beweis dafür interpretiert, dass nicht individualpsychologische, sondern vor allem situative Faktoren für Gefangenenmissbrauch ausschlaggebend seien. 55 Es scheint symptomatisch für den ikonischen Status der Bilder zu sein, dass im Diskurs immer wieder davon die Rede ist, wann jemand die Bilder zum ersten Mal gesehen hat oder ob er gar bei deren Erstausstrahlung dabei war. Auch anlässlich von 9/11 wurde immer wieder erzählt, wo und wie man das Ereignis erlebt hat.
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sich hier eine Gelegenheit bot, selbst einmal im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Aber nicht nur wissenschaftliche „Stars“ nahmen sich des öffentlich diskutierten Themas an. Gerade weil das Thema in aller Munde war und die Öffentlichkeit vor Rätsel stellte, bot es sich als wissenschaftliches „Puzzle“ geradezu an. Trotzdem ist die sozial- und kulturwissenschaftliche Literatur zur Erklärung der Missbrauchsfälle – im Vergleich zu der Aufmerksamkeit, die den Bildern geschenkt wurde – relativ überschaubar. Im Folgenden sollen weitere Erklärungsansätze, die über das bisher Diskutierte hinausgehen, näher untersucht werden. Susan C. Monahan und Beth A. Quinn (2006) versprechen eine neoinstitutionalistische Erklärung der Misshandlungen von Abu Ghraib jenseits von „bad apples“ und „weak leaders“. In ihrem Aufsatz ziehen sie einen provokanten Vergleich zwischen den Missbrauchsfällen in Abu Ghraib und einem alltäglicheren Fall von „organizational deviance“, nämlich der Anfertigung von Praktikumszeugnissen in amerikanischen Architekturbüros durch die Praktikanten selbst. Die Autoren argumentieren, dass es sich beim Verfassen von Praktikumszeugnissen durch die Praktikanten um einen klassischen Fall einer Entkopplung von formaler Organisationstruktur und tatsächlicher Organisationspraxis handele. Als „Mythos“ und „Zeremonie“ verkörpere die formale Struktur die Einbettung der Organisation in einen kulturellen Hintergrund, der nach außen hin Legitimität für die Organisation und ihre Praktiken bereitstelle, aber der tatsächlichen Praxis in Organisationen oft zuwiderlaufe (Meyer & Rowan 1977). So wird im Falle der Praktikumszeugnisse so getan, als ob es sich um eine Evaluation der Leistung des Praktikanten durch den Vorgesetzten handele; die Anfertigung der Zeugnisse wird allerdings an die Praktikanten delegiert, die sich mit der von ihnen geleisteten Arbeit vermutlich auch besser auskennen als ihre Vorgesetzten. Monahan und Quinn beschreiben diese Entkopplung von formaler Struktur und abweichender Praxis als einen Mechanismus der Effektivitätssteigerung von Organisationen, die mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert werden. Ihnen zufolge lässt sich diese Einsicht auch auf die Misshandlungen in Abu Ghraib übertragen, wobei sich die beiden Autoren weniger auf die prominent gewordenen Missbrauchsfälle beziehen, sondern das allgemeine Organisationsklima in den Blick nehmen, unter dessen Einfluss auch weniger spektakuläre Abweichungen gedeihen konnten (Monahan & Quinn 2006: 375).In dieser neoinstitutionalistischen Erklärung spielen die Skandalbilder keine Rolle, da sie von den universellen Spannungen, denen alle Organisationen unterliegen, nur ablenken. In Teilen kann sich ein solcher Erklärungsansatz auf Befunde im Schlesinger-Report stützen, die von Mestrovic folgendermaßen auf den Punkt gebracht wurden: „In sociological vocabulary, the Schlesinger Report is stating that in addition to the apparently formal, rational-legal interrogation techniques approved by the U.S. Army, there existed a ‚folk culture‘ of informal, charismatic, and unofficial interrogation techniques not formally approved by the U.S. Army ‒ and that variations of both formal and informal techniques ‚mi-
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grated‘ and ‚circulated‘ vis-a-vis Army posts in GITMO, Afghanistan, and Iraq. In addition, the formal, rational-legal interrogation techniques of the U.S. Army changed rapidly. Some of these techniques mutated into what was later recognized as abuse.“ (Mestrovic 2006: 10f.)
Auch die Verfasser des Schlesinger-Reports gehen von einem Gegensatz zwischen formalen Vorschriften und Praktiken einerseits und den informellen Praktiken einer inoffiziellen „folk culture“ andererseits aus. Allerdings wird hier nicht erklärt, warum es zur Entstehung dieser „folk culture“ kam, während Monahan und Quinn (2006) davon ausgehen, dass sich der Rückgriff auf inoffizielle Praktiken auf die intentionale Steigerung der Effektivität von Verhörmethoden zurückführen lasse – was im Hinblick auf Abu-Ghraib-Bilder nicht wirklich plausibel erscheint. Die auf den Bildern zu sehenden Gefangenen wurden erniedrigt, aber nicht verhört – ihre Erniedrigung war somit Selbstzweck. Die Entkopplung von formaler Organisationskultur und informeller Praxis beschreibt zwar die institutionellen Bedingungen der Möglichkeit dieser Missbrauchsfälle, greift aber in ihrer instrumentellen Deutung entschieden zu kurz. In der neoinstitutionalistischen Erklärung taucht Kultur nur als legitimitätsstiftende Instanz auf der Ebene der Organisation auf, wird aber nicht für eine Erklärung des abweichenden Verhaltens herangezogen. Das Konzept der „folk culture“, hat demgegenüber den Vorzug, dass es ein Schlaglicht auf die kulturellen Bedingungen der Missbrauchsfälle wirft. Im Gegensatz zu den bisher diskutierten Ansätzen nehmen kulturwissenschaftliche Erklärungsversuche den ikonischen Gehalt und die vielschichtigen Motive der Fotografien ernst. Sie suchen den Schlüssel zur Erklärung der Missbrauchsfälle in kulturellen Mustern, die in den Bildern zu Tage treten, aber auch dem Handeln der Täter zu Grunde gelegen haben könnten. Indem sie die Missbrauchsfälle in Beziehung zu der Kultur einer Gesellschaft setzen, gehen sie über eine Konzeption von Kultur als einem Mythos formaler Organisationen oder einer lokal begrenzten „folk culture“ hinaus. Kultur wird hier als kultureller Hintergrund des Handelns, als präskriptives vorintentionales Modell auf der Ebene der Akteure, der Organisation und der Gesellschaft sichtbar. Kulturalistische Erklärungen der Missbrauchsfälle finden sich nicht nur bei professionellen Kulturwissenschaftlern, sondern wurden auch von öffentlichen Intellektuellen propagiert. In der intellektuellen Auseinandersetzung um die Bilder, die in hohem Grade politisiert war, kann man einen rechten und einen linken Flügel unterscheiden (8.3.2-3), die in in ihren Bildinterpretationen überraschend oft zu einer Übereinstimmung, obgleich mit entgegengesetzter Bewertung, kamen. Den Radiosprecher Rush Limbaugh, ein typischer Vertreter des rechten Flügels, bezeichnete die Bilder als „klassische amerikanische Pornographie“ und verglich die abgebildeten Demü-
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tigungen mit den Initiationsritualen an amerikanischen Eliteuniversitäten. 56 Die pornographische Deutung der Bilder erfüllt bei Limbaugh im Wesentlichen zwei Funktionen. Einerseits diente sie ihm als kulturalistische Erklärung der Missbrauchsfälle: Die Soldaten seien über die Medien und das Internet einer Flut von Pornographie ausgesetzt, die sich in der Inszenierung pornographischer Szenen in Abu Ghraib niedergeschlagen habe. Andererseits nutzte er dieses Motiv, um die Harmlosigkeit der Missbrauchsfälle zu unterstreichen: So warnte er davor, das Leben der beteiligten Soldaten wegen solcher „Bubenstreiche“ zu ruinieren und wegen des Skandals auf die nötige Härte im Kampf gegen den Terror zu verzichten. So deutete Limbaugh die im Zuge der Skandalisierung aufgekommene Empörung als Symptom einer „Feminisierung des Landes“. Auch wenn Limbaugh den Status der Bilder als säkulare Ikonen vehement bestritt, unterstrich er doch mit seiner ständigen Thematisierung ihre ikonische Bedeutung. Auf diese Weise tat er den Linken mit seinen Äußerungen einen großen Gefallen, weil er ihnen ein gutes Feindbild abgab und sie seine provokanten Sprüche zitieren konnten. Slavoj Žižek zog aus einer vergleichbaren Interpretation den entgegengesetzten Schluss: Die Bilder zeigten ein spezifisch amerikanisches „Theater der Grausamkeit“ und seien als ein Ausdruck der obszönen Unterseite der amerikanischen Gesellschaft zu lesen. In den Bildern von Abu Ghraib, so Žižek in Anschluss an Rumsfeld und Lacan, komme das „unbekannte Bekannte“, das „Wissen, das sich selbst nicht weiß“, das Unterbewusste der amerikanischen Gesellschaft, zum Ausdruck. 57 Limbaugh rechtfertigte den Gefangenenmissbrauch mit dem – in seinen Augen durchaus verständlichen – Bedürfnis der Soldaten, sich in ihrem harten Job ein wenig zu amüsieren und sich dadurch einen emotionalen Ausgleich zu verschaffen. In diese Verharmlosung reiht sich der Vergleich mit den Initiationsritualen nahtlos ein: „This is no different than what happens at the Skull and Bones initiation an we’re going to ruin people’s lives over it, and we’re going to hamper our military effort, and then we are going really hammer them because they had a good time“. 58 Der Hinweis auf „fraternity hazing“, das heißt auf die erniedrigenden Initiationsrituale in amerikanischen Studentenverbindungen und Geheimgesellschaften (3.3.1), wurde auf Seiten der Linken, unter anderem von Susan Sontag und auch von Slavoj Žižek, dankbar aufgenommen. Žižek geht soweit, zu behaupten, dass der Miss56 The Rush Limbaugh Show, 3. Mai 2004, http://cloudfront.mediamatters.org/static/pdf/ limbaugh-20040503.pdf; 10. Mai 2004, http://cloudfront.mediamatters.org/static/pdf/ limbaugh-20040510.pdf; letzter Zugriff am 19. Februar 2012. 57 „Die Amerikaner kontrollieren gar nichts! Nicht mal sich selbst! Warum Comical Ali recht behalten hat: einige Überlegungen über Abu Ghraib und das Unbewusste in der Popkultur“, Berliner Zeitung, 23. Juni 2004; vgl. auch „Between Two Deaths. The Culture of Torture“, London Review of Books, 3. Juni 2004. 58 Zitiert nach Sontag: „Regarding the Torture of Others“, New York Times, 23. Mai 2004.
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brauch eine Initiation der Gefangenen in die amerikanische Kultur darstelle. Auch Albrecht Koschorke (2007) erblickt in jenem „paradoxen Zwang zur Lust“ eine Initiation bzw. Sozialisation der Gefangenen in die amerikanische Gesellschaft. Eine solche Deutung, so provokant und plausibel sie auf den ersten Blick auch erscheinen mag, verwechselt allerdings den demütigenden Ausschluss aus einer Gemeinschaft mit einem erniedrigenden Initiationsritual. In ähnlicher Weise sieht Judith Butler in den „orchestrated scenes of sexual and physical humiliation“ von Abu Ghraib eine Zivilisierungsmission am Werke (2008: 16). Ausgerechnet die amerikanische Armee, die sich Butler zufolge durch einen Männlichkeitskult und Homophobie auszeichnet, habe sich auf den Bildern als sexuell progressive Kultur („sexually progressive culture“) inszeniert. Sie zieht einen gewagten Vergleich zwischen der Folter in Abu Ghraib und der Sexualpolitik westlicher Nationalstaaten, die ihren muslimischen Einwanderern eine Toleranz gegenüber Pornographie und homosexuellen Praktiken aufnötige (2008: 17). Dieser – politisch motivierten – Interpretation von Butler muss widersprochen werden. Die vorliegende Interpretation der Bilder legt nahe, was auch durch die Äußerungen der Soldaten gestützt wird, nämlich dass die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib als performative Akte der Demütigung verstanden werden müssen, an deren Ende gerade nicht die Missionierung und die Aufnahme in die eigene Kultur steht (3.3.1). So stellten die Soldaten nicht ihre sexuelle Fortschrittlichkeit gegenüber den Gefangenen zur Schau, sondern ihre physische und moralische Überlegenheit. Die hier im Vorfeld diskutierten Ansätze tragen alle auf ihre Weise zu einer integrativen Erklärung der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib bei. Die individualpsychologischen Ansätze können zumindest etwas zur Klärung der herausragenden Rolle einzelner Beteiligter beitragen, auch wenn sie aus einer soziologischen Perspektive unzureichend sind.59 Die sozialpsychologische Erklärung hilft bei dem Verständnis der sozialen Dynamik von Erniedrigungen und wirft – zusammen mit dem neoinstitutionalistischen Ansatz – ein Licht auf situationelle und institutionelle Einflüsse in Abu Ghraib. Die kulturwissenschaftlichen Ansätze kranken oft daran, dass sie einzelne Motive willkürlich herausgreifen und zu Erklärungen verabsolutieren. Sie begnügen sich in der Regel mit einer steilen, provokanten These, ohne 59 Der mutmaßliche Rädelsführer der Tätergruppe, Charles Graner, war vor seiner Zeit im Irak im amerikanischen Strafvollzug tätig und ist dort mit bestimmten Praktiken und dem dazugehörigen mindset sozialisiert worden. Während Philipp Zimbardo für die Erklärung von Täterschaft sein sozialpsychologisches Modell verwendet, erklärt er den „whistleblower“ von Abu Ghraib, Joe Darby, in individualpsychologischer Manier und aufgrund von Persönlichkeitsmerkmalen, die seine Resistenz gegenüber situationellen Einflüssen ausmachten, zum Helden (2007: 330f., 444-487). Allerdings war Darby nie direkt an den Missbrauchsfällen beteiligt, weswegen seine Rolle als Außenseiter zur Erklärung seines Handelns in Betracht gezogen werden muss (8.1.1).
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den geringsten Versuch, die Wirksamkeit dieser kulturellen Muster auch im Handlungshintergrund der Akteure auszuweisen – geschweige denn soziale Mechanismen zu benennen. Darüber hinaus können viele kulturalistische Thesen nicht einmal die erforderliche interne Konsistenz gewährleisten. Der Armee eine homophobe und misogyne Kultur zu unterstellen und sie dann zur selbsternannten sexuellen Avantgarde zu erklären (Butler 2008: 16f.), ist nicht nur mit dem empirischen Material unvereinbar, sondern erfüllt auch nicht die basalen Ansprüche auf interne Konsistenz von Handlungserklärungen. Im Folgenden soll die kultursoziologische Erklärung der Missbrauchsfälle in eine Konzeption der Folter als ritueller Demütigung eingebettet werden (3.3.2). Kulturellen Faktoren wie Rassismus, Pornographie oder eine Kultur der Schamlosigkeit sind einerseits im Handlungshintergrund an der Auslösung von Handlungsimpulsen beteiligt, andererseits formen sie auch die performative Gestalt einer Handlung. Die Bedeutung kultureller Muster kann über ihren (nicht immer intentionalen) Gebrauch als Symbole in einem Erniedrigungsritual verständlich gemacht werden. Eine strategische Betrachtung des Gefangenenmissbrauchs in Abu Ghraib greift zu kurz – zu deutlich sind seine rituellen Aspekte, seine theatralischen Züge und sein Charakter als soziale Performanz (2.3). Zunächst einmal kurz zu den situativen Faktoren und ihrer kulturellen Bedeutung. Entscheidend ist hierbei, dass die Situation nicht nur Opportunitäten zur Misshandlung bot, sondern auch ein Klima des Missbrauchs schuf, das sich auf den vorintentionalen Handlungshintergrund der Soldaten auswirkte. Zieht man zunächst einmal die externe Umwelt des Gefängnisses in Betracht, so lassen sich zwei externe Stressfaktoren identifizieren. Einerseits ist dies die ständige Bedrohung durch Angriffe von außen sowie potenzielle Aufstände im Inneren, andererseits aber der Druck, von Gefangenen Informationen gewinnen zu müssen. Beide Stressfaktoren fanden ihren Ausdruck in der Performanz der Soldaten, beispielsweise in der fiktionalen Erzeugung von Macht, in der apotropäischen (sprich: unheilabwehrenden) Verwendung von Gesten wie dem „thumbs up“ oder auch in der Anfertigung und Präsentation der Bilder als Trophäen. Dieser Stress hat maßgeblich zu einer Situation beigetragen, die mit Durkheim als „anomisch“ bezeichnet werden kann (vgl. Mestrovic & Lorenzo 2008). Die Auflösungserscheinungen der sozialen Ordnung reichten bis in die Definition der Situation durch die Akteure. Sowohl die institutionellen Hierarchien als auch der normative Rahmen des Handelns waren in Abu Ghraib nicht mehr klar absteckbar. Soziale und institutionelle Kontrollmechanismen konnten nicht mehr greifen. Die Entkopplung von Organisations- und Handlungsebene war keiner Effektivitätssteigerung geschuldet, sondern der Verselbständigung von Abu Ghraib als einer anomischen Handlungssphäre. Das anomische Klima in Abu Ghraib führte zu einer kognitiven und normative Desorientierung der Soldaten. Dies trug dazu bei, dass man sich mimetisch an dem Handeln anderer Akteure orientierte und auf ordnungsstiftende Rituale und Performanzen zurückgriff.
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Die an den Missbrauchsfällen beteiligten Soldaten bildeten eine kleine Gruppe Gleichgesinnter, die nicht nur einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund aufweist, sondern auch eine eigentümliche Dynamik besitzt. Gerade in Anbetracht der anomischen Umstände im Gefängnis muss davon ausgegangen werden, dass diese Gruppe für die einzelnen Akteure die zentrale soziale Referenz darstellte. Heimat und Familie waren fern, während die Vorgesetzen offensichtlich wenig Orientierung und Vorgaben für das eigene Handeln lieferten. So war man letztlich vor allem auf die Anerkennung seiner Kollegen angewiesen, die zugleich ein Publikum für die eigenen Performanzen darstellten. Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass die Inszenierungen und die Fotografien zunächst nur für ein überschaubares, und nicht für ein beliebiges Publikum gedacht waren. Die Bilder wurden an Kollegen weitergegeben, die derselben Einheit oder zumindest dem näheren Umfeld angehörten. Der performative Sinn des Fotografierens bestand hier nicht darin, vergängliche Momente für die spätere Erinnerung festzuhalten, sondern in der rituellen Überhöhung des tristen Gefängnisalltags. Das Fotografieren selbst gab dem Augenblick eine besondere Weihe. In ähnlicher Weise wird die Fotografie auch für die Herstellung von gelungenen Urlaubserlebnissen verwendet – und dient erst in einem zweiten Schritt der Vergegenwärtigung vergangener Erlebnisse. Die Bilder fungierten natürlich auch als Trophäen, die eine apotropäische Funktion besaßen, und von deren Verbreitung sich die Soldaten die Anerkennung ihrer Kollegen versprachen (zumindest Charles Graner, der die Bilder dem „whistle-blower“ Joe Darby gab; vgl. 8.1.1). Darüber hinaus diente die rituelle Demütigung der Gefangenen, zu der auch das Fotografieren selbst gehörte, der Binnenintegration der Gruppe in einem schlecht integrierten, anomischen institutionellen Umfeld. Das Fotografieren war in diesem Fall aber auch ein demütigender Bildakt, der die Entwürdigung der Gefangenen nicht nur abbildete, sondern zugleich potenzierte. Man wird der sozialen und kulturellen Dynamik der Folter in Abu Ghraib nicht gerecht, wenn man sie nur als Ritual der Überhöhung und Vergemeinschaftung beschreibt. Im Wechselspiel von Performer und Publikum haben wir darüber hinaus ein charakteristisches Merkmal der sozialen Performanz (2.3.3). In den Folterkammern von Abu Ghraib gab es kein unbeteiligtes Publikum, sondern einen fortwährenden Rollentausch zwischen den Soldaten, während die Inhaftierten als Requisiten in den ihnen zugewiesenen Rollen gefangen blieben. Die einen fotografierten, andere wiederum posierten für die Kamera, während sich außenstehende Dritte an dem Spektakel ergötzten (oder auch innerlich auf Distanz gingen). Die von Zimbardo (2007) skizzierte soziale Dynamik einer fortschreitenden Erniedrigung und Entmenschlichung der Opfer muss durch eine kulturelle Dynamik einer Logik des Überschreitens und wechselseitigen Übertreffens ergänzt werden. Die materiellen Manifestationen dieses sozialen Prozesses sind Bilder, die uns in ihrer Skurrilität und Abscheulichkeit erschrecken. Sie sind Produkte einer sich steigernden Grausamkeit, einer Überschreitung der Überschreitung und der internen Rivalität um
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Anerkennung. In dieser Dynamik spielten natürlich einzelne Personen wie der „ringleader“ Charles Graner, der aufgrund seiner Persönlichkeit und Vorgeschichte eine große Autorität in der Gruppe besaßen, eine entscheidende Rolle. Die Studien und die Interviews mit den anderen Beteiligten lassen kaum einen Zweifel daran, dass Graner der soziometrische Star der Gruppe war. Graner war ein Charismatiker, der es schaffte, Frauen wie auch Männer für sich einzunehmen. Darüber hinaus hatte er Erfahrungen im amerikanischen Strafvollzug gesammelt, die ihm auch einen „fachliche“ Autorität gegenüber seinen „peers“ einräumten. Wie die Interpretation der Skandalbilder gezeigt hat, schöpften die Soldaten für ihre Performanzen aus einem gemeinsamen Fundus, der sich aus amerikanischer Alltagskultur (Halloween, „thumbs up“ und Pornographie), amerikanischer Populärkultur (Heldendarstellungen) und dem christlichen Hintergrund der Vereinigten Staaten speiste. Auch wenn die christliche Ikonographie bei der Inszenierung des Kapuzenmanns nicht intentional Pate stand, hatte die Fotografin nach eigenen Angaben Christus vor Augen, als die den Auslöser ihrer Kamera betätigte (vgl. Mitchell 2011: 114; 7.1). Damit wäre das christomimetische Muster nicht nur in der Rezeption, sondern auch schon in der Produktion der Bilder wirksam gewesen. Gemeinsam ist den Bildern die performativ erzeugte symbolische Differenzierung zwischen Soldaten und Häftlingen, bei der auf vorgängige Klassifikationsschemata und rassistische Stereotypen zurückgegriffen wurde. Prinzipiell ist es auch möglich, den Einsatz einzelner Motive als zweckrationale Verhörtechniken zu betrachten, beispielsweise um eine vermeintliche kulturelle Schwäche der Araber gegenüber sexueller Erniedrigung auszunutzen, aber eine derartige Rationalisierung ist angesichts der Bilder und Umstände eher unwahrscheinlich. Die Bildmotive waren dem Zweck bzw. der Funktion untergeordnet, eine soziale Grenzziehung vorzunehmen. Dafür musste auf die in der Gruppe verbreiteten kulturellen Muster zurückgegriffen werden. Wir haben es also mit dem Ritual einer Kleingruppe zu tun, die darin ihre Weltanschauung reproduziert und kreativ artikuliert hat. Halten wir fest: Nicht nur die situativen Bedingungen haben in Abu Ghraib die Bühne für die Performanz von Demütigung und Folter bereitet, auch der kulturelle Hintergrund war maßgeblich an der Ausgestaltung der Performanzen beteiligt. In einem anomischen Umfeld sorgten die Rituale der Demütigung für klare Grenzziehungen und trugen zur sozialen Integration der Kleingruppe bei. Des Weiteren muss die soziale und performative Dynamik des Gruppenhandelns berücksichtigt werden, um die Steigerung des Missbrauchs in Abu Ghraib zu erklären. Jenseits von instrumenteller Orientierung und ritueller Grenzziehung generierten die Performanzen in Abu Ghraib einen Sinnüberschuss, der nicht nur den anderen Tätern Anschlussmöglichkeiten bot, sondern auch die Rezipienten der Bilder vor Rätsel stellte.
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7.5 R EZEPTION : D AS R EALE DER F OLTER
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UND DIE I MAGINATION
You see the photographs and you get a sense of it and you cannot help but be outraged. DONALD RUMSFELD, VOR DEM VERTEIDIGUNGSAUSSCHUSS DES SENATS
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Wir haben gesehen, dass der ikonische Gehalt der Abu-Ghraib-Bilder, der in den vorangegangenen Interpretationen gewonnen wurde (7.1-3), für eine kultursoziologische Erklärung der Missbrauchsfälle fruchtbar gemacht werden kann (7.4). Die Bilder sind nicht nur für die Rekonstruktion der Vorfälle in Abu Ghraib von Bedeutung, sondern waren auch für die kollektive Empörung über die Missbrauchsfälle ausschlaggebend. Ohne die Bilder hätte es – ähnlich wie bei dem Massaker von My Lai (6.2.2) – den Abu-Ghraib-Skandal nie gegeben. Sabine Sielke zufolge, ist die ikonische Bedeutung der Fotografien ihrem enthüllenden Charakter geschuldet: „[Unbeabsichtigt laufen sie Sturm] gegen das offizielle Bilderverbot und die Legende vom sauberen Krieg. Sie gewinnen ihre Signifikanz somit unter anderem, indem sie beleuchten, was westliche Medien zu zensieren suchten: die 100.000 toten Iraker des Golf-Kriegs, die Körper der gefallenen Amerikaner im Irak-Krieg und die Gefängnisse, in denen – an vielen Orten der Welt – gefoltert wird.“ (2007: 158)
Die Bilder aus Abu Ghraib können als „ikonoklastisch“ bezeichnet werden, da sie das „Image“ des Irak-Krieges und der Vereinigten Staaten in Frage stellten. Bei ihnen handelte es sich um ein visuelles Störfeuer, das die offiziellen Narrative des Krieges unglaubwürdig erscheinen ließ. Sielkes These vom Enthüllungscharakter von Abu Ghraib kann man – von einigen wichtigen Einschränkungen abgesehen – zustimmen: Ohne den Abu-Ghraib-Skandal hätte es die Debatte um die CIAFoltergefängnisse nie gegeben (9.1) und die dunklen Seiten des Irakkrieges hätten mit Sicherheit weniger Aufmerksamkeit gefunden. Dennoch trifft auch die Beobachtung, die Cornelia Brink (2000) bezüglich der Holocaust-Fotografien gemacht hat, auf die Abu-Ghraib-Bilder zu: In dem Maße, wie die Bilder gewisse Ereignisse „beleuchten“, werfen sie einen Schatten auf andere Vorgänge. Mit der Enthüllung geht immer auch eine Abdunkelung bestimmter anderer Aspekte einher. Die Skandalisierung der Vorfälle in Abu Ghraib impliziert, dass vor dem Zeitpunkt der Ent-
60 „Rumsfeld Speaks Before Senate Armed Services Committee on Abuse in Iraqi Prison“, CNN Live Event/Special (11:30), 7. Mai 2004.
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hüllung kein Anlass zur Empörung bestand – was in hohem Maße fragwürdig ist.61 Indem die ikonischen Bilder vor allem Szenen der rituellen Erniedrigung und sexuellen Demütigung zeigen, invisibilisieren sie die Anwendung körperlicher Gewalt gegenüber Gefangenen, die in Abu Ghraib und in Bagram zu Todesfällen geführt hat (10.2). Die Stilisierung und Ästhetisierung der Misshandlungen auf den Bildern lässt den systematischen und politischen Charakter der Missbrauchsfälle in den Hintergrund treten. Darüber hinaus legt die Abbildung der unmittelbaren Täter auf den Fotografien eine individuelle Zurechnung der Misshandlungen nahe. Eingangs haben wir uns mit dem Verhältnis des Realen zur Kultur beschäftigt und sind zu dem Schluss gekommen, dass das sogenannte „Reale“ aus einer kultursoziologischen Perspektive nie unmittelbar in Erscheinung treten kann, sondern dem Beobachter als mediale Spur oder als Riss der symbolischen Ordnung entgegentritt (1.3.4). Das Reale ist für die Rezeption der Abu-Ghraib-Bilder von dreifacher Bedeutung. Zum einen geht es um die visuelle Enthüllung einer verborgenen Unterwelt, die nicht zuletzt dem fotografischen Medium als einer authentisierenden Spur des Realen geschuldet ist (2.1.3). Zum anderen kann aber auch die schockierende Reaktion auf die Fotografien als ein Einbruch des Realen verstanden werden, der sich den spezifischen Inhalt der Bilder verdankt. Zu guter Letzt kann auch die auf den Bildern zur Schau gestellte Lust der Täter als eine Rückkehr des Realen interpretiert werden, die die geltende symbolische Ordnung unterläuft. Die Bilder von Abu Ghraib warfen ein Licht auf eine gesellschaftliche Unterwelt, die bis dato verborgen gewesen war. Die Fotografien machten die Machenschaften des amerikanischen Gefängnispersonals offenbar. Allerdings lässt sich die Echtheit von Bildern nicht alleine an technischen Kriterien festmachen, sondern ist immer auch eine Frage des Diskurses. Die Bilder von Abu Ghraib wurden vom Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung an von der amerikanischen Armee als „authentisch“ anerkannt und durch die vorausgegangene Pressemitteilung über die Ermittlung gegen die mutmaßlichen Täter gestützt (8.1.1). Ein Gegenbeispiel für ein Scheitern der Rhetorik des fotografischen Bildes sind die britischen Folterbilder, die wenige Tage nach den amerikanischen Bildern veröffentlich wurden, aber von Anfang an unter einem offiziellen Vorbehalt standen und dann als Fälschungen entlarvt wurden (8.4.2). Die vermeintliche Enthüllung des Realen kann jederzeit in die Skandalisierung eines Täuschungsversuches umschlagen. Schockbilder, so heißt es bei Roland Barthes (2010: 135-138), wirken nur, wenn sie nicht inszeniert wirken. Während eines Besuchs der Ausstellung „Inconvenient Evidence“ in New York, in welcher die Abu-Ghraib-Fotografien ausgestellt wurden, machte Benjamin Genocchio die Beobachtung, dass diese Fotografien aus dem gewohnten Rahmen herausfallen: „They are displayed as photographs, but they are 61 Der amerikanischen Öffentlichkeit war seit Januar 2004 bekannt, dass Verfahren gegen Soldaten wegen Misshandlung von Gefangenen in Abu Ghraib eingeleitet wurden.
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not really photographs. They are all blurry inkjet printouts of low-resolution Internet files, from what I can tell“.62 Der selbsterklärte Liebhaber fotografischer Kunst sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer „image degradation“. Dass die Abu-Ghraib-Bilder die Qualität professioneller Fotografien verfehlen, kommt allerdings ihrer Schockwirkung zugute. Sie besitzen eine eigentümliche Authentizität, eine besondere Beziehung zum Realen, die sie ihrem unprofessionellen Darstellungsstil verdanken. Natürlich ist der schockierende Charakter der Bilder nicht auf ihre fotografische Qualität zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass die Bilder zentrale Annahmen des kulturellen Hintergrundes der Vereinigten Staaten ins Wanken brachten (8.1.2). Hier nimmt die Enthüllung den Charakter der unerträglichen Wahrheit an, eines Spiegels, der den Amerikanern vorgehalten wird: „The photographs are us“, wie es bei Susan Sontag heißt (8.2.1).63 Im Anschluss an Lacan (1980/1964) und Žižek (2001, 2008) lässt sich auch die jouissance, das heißt die „Lust“ bzw. der „Genuss“, als ein Aspekt des Realen begreifen. Im Genuss macht sich nämlich das Subjekt von der symbolischen Ordnung der Verbote und Gebote (Freuds „Über-Ich“) unabhängig. Indem die Fotografien den Genuss am Missbrauch zeigen, unterlaufen sie die symbolische Ordnung der Folter. Hinter diesem Konzept des Realen verbirgt sich letztendlich ein kantianisches Pflichtverständnis: Entweder der Mensch lässt sich von moralischen Gründen leiten, oder er handelt nach seinen Neigungen. Moralisches Handeln zeigt sich für Kant nur im Handeln gegen die eigenen Neigungen. Aus einer soziologischen Perspektive stellt die Pflicht das sozial Verbindliche und kollektiv Abgesicherte dar, während die Neigungen der individuellen Willkür unterliegen.64 So darf die Anwendung öffentlich legitimierter Gewalt dem ausführenden Akteur keine Freude bereiten. Harte Verhörtechniken lassen sich nur legitimieren, wenn sicher gegangen werden kann, dass sie nicht der Neigung des Verhörspezialisten folgen, sondern aus reiner Pflichterfüllung geschehen. Ist dies nicht der Fall, so gerät jene symbolische Ordnung ins Wanken, die die Anwendung von Gewalt in Verhören legitimiert (10.4). Die grinsenden Möchtegernhelden von Abu Ghraib untergraben das Heldentum der Folter (7.2.3), das sich nach dem 11. September 2001 einer zunehmenden Beliebtheit erfreute (6.4.2). Die zur Schau gestellte Lust an der Folter hat darüber hinaus eine zweite Konsequenz, die einer individualistischen Erklärung der Missbrauchsfälle Vorschub leistete: die Pathologisierung der Täter zu Perversen. Das Reale des Genusses schlägt durch das Symbolische hindurch und beflügelt dabei das soziale Imaginäre, das die Täter von Abu Ghraib als Monstren imaginiert. 62 „Through the Blur: Photographs From Abu Ghraib“, The New York Times, 25. September 2005. 63 „Regarding the Torture of Others“, New York Times, 23. Mai 2004 64 Im Sinne des homo duplex bei Durkheim (2005/1912) oder auch der Unterscheidung zwischen Wünschen „erster“ und „zweiter Ordnung“ bei Frankfurt (1971; vgl. auch 1.1.1).
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Was an der Rezeption der Abu-Ghraib-Fotografien schockierte, war vor allem die Verkehrung der symbolischen Ordnung, die auf den Bildern zum Ausdruck kam. Damit ist gemeint, dass die Anwendung von Programmen und kulturellen Mustern, die die Zuweisung von binären Codes regeln (1.3.2), zu einem Ergebnis führte, das dem kulturellen Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft zuwiderlief. Die Bilder aus Abu Ghraib zeigten eine verkehrte Welt: Der heldhafte Folterer entpuppte sich auf einmal als gewöhnlicher Sadist, während der vermeintliche Terrorist als bedauernswertes Opfer wahrgenommen wurde. Die amerikanischen Soldaten, die Befreier und Beschützer des irakischen Volkes, wurden zur Besatzungsmacht, die offensichtlich nichts anderes zu tun hatte, als die einheimische Bevölkerung zu demütigen. Die irakischen Gefangenen, die zuvor als gefährliche Aufständische charakterisiert worden waren, erschienen auf einmal als Opfer soldatischer Willkür. Die Verkehrung der symbolischen Ordnung, die die Bilder von Abu Ghraib zeigen, war Wasser auf den Mühlen jener Kritiker, die die Vereinigten Staaten schon lange eines moralischen Doppelstandards bezichtigten. Zu einer weiteren symbolischen Verkehrung kam es in Hinblick auf das Geschlechterverhältnis, da in der Regel den Männern die Rolle des Täters und den Frauen die Rolle des Opfers zugewiesen wird. Im öffentlichen, aber auch im feministischen Diskurs wurde der Tatsache große Aufmerksamkeit geschenkt, dass es Frauen waren, die auf den Bildern an zentraler Stelle posierten. Lynndie England erlangte als „Domina“ einen geradezu ikonischen Status (7.3.3): Sie wurde mit dem angeleinten Gefangenen auf Wandgemälden in der iranischen Hauptstadt abgebildet (9.4) und die Rolling Stones widmeten ihr den Song „Dangerous Beauty“.65 England avancierte zum Gegenstück des offiziellen „Postergirls“ des Irakkrieges, Jessica Lynch (vgl. Faludi 2007: 165-195). Sie verkörpert – bildlich wie biographisch – die amerikanische Unschuld vom Lande und stellte damit einen Bruch im Syntagma des Bildes dar. Die Darstellung von Frauen als Tätern wurde im feministischen Diskurs nach Abu Ghraib eigens thematisiert. Barbara Ehrenreich (2004) interpretierte die Skandalbilder als ein Zeichen für Geschlechtergleichheit, welches die Annahme naiver Feministinnen, das Frauen die besseren Menschen seien, ad absurdum führe. Allerdings gab es auch feministische Stimmen, die darauf insistierten, dass auf den Bildern von Abu Ghraib dennoch vergeschlechtlichte Gewalt zu sehen sei, welche die Geschlechterdichotomie in ihrer Verkehrung reproduziere: Es handele sich trotz allem um eine frauenfeindliche, rassisch motivierte und heteronormative Gewalt – auch wenn sie von Frauen ausgeübt werde (z.B. Richter-Montpetit 2007). Ein terminologisches Problem jeder Untersuchung des Abu-Ghraib-Skandals ist die Verwendung des Begriffes „Folter“ bzw. „torture“ für die Missbrauchsfälle. Obwohl sie nicht der offiziellen Sprachreglung entspricht, kommt in zahllosen Arbeiten zu Abu Ghraib die Bezeichnung „Folter“ bzw. „torture“ wie selbstverständ65 Veröffentlicht auf dem Album A Bigger Bang (2005).
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lich zur Anwendung. Die vorliegende Untersuchung hat von einer solchen Verwendung des Folterbegriffs weitestgehend abgesehen. Stattdessen soll nun nach den Ursachen dieser „Verwechslung“ gefragt werden – die nicht alleine der politischen Motivation der jeweiligen Autoren geschuldet ist. Die offizielle Sprachreglung, die die Vorfälle in Abu Ghraib mit dem Begriff des „Missbrauchs“ bzw. „abuse“ belegt hat, kann sich auf die Folterdefinition in der Folterkonvention der Vereinten Nationen berufen: Dort wird der Begriff der Folter auf Schmerzen oder Leiden begrenzt, die von einem Akteur in seiner öffentlichen bzw. stattlichen Kapazität verursacht werden, oder auf Veranlassung eines solches Akteurs geschehen (vgl. 3.3.2). Gerade die Tatsache, dass der Fokus des Skandals auf den Fotografien der sogenannten „night shift“ lag, leistete der Auffassung Vorschub, dass die Soldaten auf eigene Faust und nicht auf Befehl gehandelt hätten. Insofern scheint die Bezeichnung „Missbrauch“ bzw. „abuse“, der sich auf die Verletzung der militärischen Anweisungen bezieht, sachlich angemessener als der Begriff der „Folter.“ Dennoch fällt der Begriff der Folter immer wieder im Zusammenhang mit Abu Ghraib, wie auch der Skandal später als Referenzpunkt des neuen Folterdiskurses dienen sollte (10.4). Assoziationen zur Folter sind vor dem Hintergrund des Krieges gegen den Terror und des Missbrauchs von Gefangenen in Abu Ghraib sicherlich nicht ganz unbegründet, da ein sachlicher Zusammenhang zwischen beidem besteht. Bei genauerer Betrachtung besitzen die Demütigungen von Abu Ghraib dieselbe Struktur wie das Erniedrigungsritual der Folter. Die dargestellten Akte hätten auch der Folter dienen können, wenn sie angeordnet worden oder im öffentlichen Interesse erfolgt wären. Doch zeichnen die Bilder von Abu Ghraib ein Bild der Folter, das so gar nicht zur Vorstellung einer richterlich angeordneten und medizinisch kontrollierten Form der Folter passt, die im Folterdiskurs nach dem 11. September 2001 dominierte (6.4.2). Dieses „reine“ Bild der Folter konnte sich zunächst behaupten, da die Situation der Gefangenen in Guantanamo Bay und anderswo der Kontrolle durch die amerikanische Öffentlichkeit entzogen war. Dies führte dazu, dass die sterile Vorstellung einer professionellen Folter zunächst eine gewisse Plausibilität für sich in Anspruch nehmen konnte. Gerade die Tatsache aber, dass diese Vorgänge in einer der Gesellschaft verborgenen Unterwelt stattfanden, befeuerte die soziale Imagination nach den Enthüllungen von Abu Ghraib. Die Bilder suggerierten eine groteske Imagination der Folter, eine „gothic fantasy“, wie sie von Philip Smith in seinen Arbeiten über den französischen Diskurs zur Guillotine herausgearbeitet wurde (2003: 42-48; 2008: 133-141). Wie die Mutmaßungen über das Nachleben des Geköpften die Guillotine als rationale und humane Hinrichtungsmaschine in Verruf brachten und symbolisch beschmutzen, brachten die Bilder von Abu Ghraib die nüchterne Vorstellung von „Folter“ in Verbindung zu schmutzigen Praktiken der sexuellen Erniedrigung und pornographischen Motiven. Im späteren Folterdiskurs wurde Abu Ghraib als die obszöne Unterseite der Folter immer mitgeführt.
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Darüber hinaus hat auch die christomimetische Rezeption der Bilder die Imagination von Folter beeinflusst. Mitchell zufolge vereinigt Christus „figures of torture and sacredness or divinity“.66 Das Christusmotiv legt nicht nur die Rezeption des Gefangenen als unschuldiges Opfer nahe, sondern macht sich zugleich auch die historischen Leistungen der christlichen Kunst zu Nutze, die sich schon seit hunderten von Jahren vor dem Problem steht, wie denn die Würde des Leidenden in seiner Erniedrigung dargestellt werden könne (vgl. Spaemann 1987). Christomimetische Bilder eignen sich deswegen hervorragend als säkulare Ikonen. Es ist kein Zufall, dass jene beiden Bilder, die am eindrücklichsten die Folter in Abu Ghraib zum Leiden Christi stilisieren, Titelbilder des deutschen Magazins Spiegel geworden sind.67 Die westliche Rezeption der Bilder vor einem christlichen Hintergrund wird auch in dem Gemälde deutlich, das der Künstler Matt Mahurin als Titelbild für das Time Magazin anfertigte.68 Die Form der Darstellung stilisiert die Leiden der Opfer und umgibt sie mit einer Aura der Unschuld. Die christomimetische Rezeption der Bilder verrät uns etwas über den kulturellen Hintergrund des Publikums; zugleich sorgt sie dafür, dass die populäre Imagination der Folter durch Assoziation mit dem göttlichen Leiden von Jesus Christus ins Dämonische verzerrt wird. Die Rezeption der Abu-Ghraib-Bilder zeichnet ein grotesk verzerrtes und symbolisch verunreinigtes Bild von der amerikanischen Armee, den Soldaten im Irak und der institutionellen Verhörpraxis. Auf einmal war es den Amerikanern nicht mehr möglich, „im Imaginären der Institutionen […] ihr eigenes Produkt zu erkennen“ (Castoriadis 1987: 226; vgl. 1.3.3). In diesem Sinne lässt sich die Rezeption der Bilder – trotz aller vertrauten Motive und retrospektiv festgestellter Kontinuitäten – als Entfremdungserfahrung begreifen. Abu Ghraib als Manifestation eines institutionellen Imaginären war mit dem, was die meisten Amerikaner über ihr Militär dachten, unvereinbar. Das Auseinanderklaffen von institutionellem und gesellschaftlichem Imaginärem im Fall von Abu Ghraib konnte so zu einem Motor des kulturellen und politischen Wandels werden.
66 „Echoes of a Christian symbol. Photo reverberates with the raw power of Christ on cross“, Chicago Tribune, 27. Juni 2004. 67 „Die Folterer von Bagdad. US-Söldner im Irak“, Spiegel, 3. Mai 2004; „Amerikas Schande. Folter im Namen der Freiheit“, Spiegel, 20. Februar 2006. 68 Das Bild zeigt einen gefesselten Häftling mit verhülltem Kopf und ausgemergeltem Oberkörper, der Spuren aufweist, die an Stigmata erinnern. Einerseits verweist es auf die Ikone des Skandals, andererseits auf künstlerische Vorbilder wie die Verspottung Christi (1503-1505) von Grünewald. Vgl. „How did it come to this?“, Time, 17. Mai 2004.
8. Diskursanalyse I – Der Skandal als soziales Drama
Nachdem wir uns in den vorangegangenen Kapiteln eingehend mit der Vorgeschichte und den Bildern von Abu Ghraib beschäftigt haben, werden wir uns nun dem öffentlichen Diskurs zu Abu Ghraib, dem Skandal als sozialem Drama und seinen Folgen zuwenden. Der Skandal lässt sich in drei Phasen unterteilen, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist. Dabei kann schon die Frühphase des Skandals als ein Drama für sich betrachtet werden, da nach der Enthüllung der Fotografien (8.1) und der Zuspitzung der Krise im Mai 2004 (8.2) der Skandal wieder eingedämmt und eine temporäre Bewältigung erreicht werden konnte (8.5). Die Wiederwahl von Bush im November 2004 markierte seinen vorläufigen Endpunkt und das Ende der frühen Phase. Zugleich stellt sie den Anfang einer fortdauernden Auseinandersetzung mit den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib dar, worauf in den beiden letzten Kapiteln einzugehen ist. Nachdem die polarisierende Phase des Wahlkampfes vorüber war, bekam Bush plötzlich Gegenwind aus dem eigenen Lager (9.1-2) – eine Entwicklung, die Jahre später in einem neuen Konsens über Abu Ghraib münden sollte (10.1). Zunächst einmal soll der überschaubare Forschungstand zur medialen Berichterstattung über Abu Ghraib skizziert und diskutiert werden, bevor dann die Auswahl und Auswertung des verwendeten Materials vorgestellt und schließlich mit der eigentlichen Diskursanalyse begonnen wird. Die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Interesse an den Missbrauchsfällen und Bildern auf der einen und den öffentlichen Diskursen auf der anderen Seite ist frappierend. Die mediale Berichterstattung und der öffentliche Diskurs zu Abu Ghraib hat so gut wie keine wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Mit einer Medienanalyse im engeren Sinne befassen sich nur drei, recht unterschiedliche Studien: die Monographie Language of the Empire von Lila Rajiva (2005), die Arbeit Folter frei von Horst Müller (2004) und einigen Medienstudenten der Hochschule Mittweida sowie der Artikel None Dare Call It Torture von den Kommunikationswissenschaftlern Lance W. Bennett, Regina G. Lawrence und Steven Livingston (2006). Schon die Titel zeigen die Politisierung des Themas.
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Die Monographie von Rajiva (2005) widmet sich den ersten Wochen des Skandals und kommt zu dem Ergebnis, dass der Skandal keine ernst zu nehmenden Konsequenzen gehabt habe. Dieses Ergebnis entspricht nicht nur der Einschätzung liberaler Kritikern, sondern wird auch in Teilen durch die folgende Untersuchung bestätigt. Leider genügt ihre Studie nur schwerlich den Standards wissenschaftlichen Arbeitens; sie ist noch am ehesten dem politischen Journalismus zuzurechnen. Ihre wissenschaftliche (und journalistische) Unbrauchbarkeit ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass sich die Autorin in ihrer Untersuchung von antiamerikanischen (und teils auch antiisraelischen) Ressentiments leiten lässt. Eine vorurteilsfreie Analyse und theoretische Durchdringung des empirischen Materials sucht man vergeblich. Das Buch muss als politische Streitschrift verstanden werden. Die Studie Folter frei (Müller 2004) widmet sich ebenfalls den ersten Wochen des Skandals, aber auch der Berichterstattung im Vorfeld der Erstausstrahlung der Bilder. Müller und seine Studenten kommen zu dem Schluss, dass die Medien, insbesondere auch die deutschen Printmedien, sehr viel früher von „Folter“ im Irak hätten berichten können. Auch wenn diese Studie gewissen wissenschaftlichen Standards Genüge tut, handelt es sich bei ihr in erster Linie um eine medienkritische Abhandlung. Zwar gelangen die Autoren zu dem richtigen Ergebnis, dass es ohne die Verfügbarkeit von Bildmaterial keine ernst zu nehmende Berichterstattung über die Vorfälle gegeben hätte, doch dient dieser Befund hier letztlich nur einer professionsethischen Kritik am zeitgenössischen Journalismus. So berechtigt diese Kritik auch sein mag, der wissenschaftliche Ertrag dieser Studie leidet unter ihrer ikonoklastischen Rhetorik und dem moralisierenden Abgesang auf den Qualitätsjournalismus, einem klassischen Verfallsnarrativ. Von den wenigen Arbeiten, in welchen die Medienberichterstattung und die öffentlichen Diskurse zu Abu Ghraib untersucht wurden, genügt der Artikel von Bennett, Lawrence und Livingston (2006) noch am ehesten wissenschaftlichen Ansprüchen. Die Kommunikationswissenschaftler haben in einer Untersuchung von Artikeln der Washington Post sowie von Nachrichtensendungen des amerikanischen Senders CBS im Zeitraum 1. Januar bis 31. August 2004 herausgefunden, dass in der Berichterstattung über Abu Ghraib öfter von „abuse“ als „torture“ die Rede war und dass sich diese Tendenz im Verlauf des Skandals noch verstärkte. Die Autoren erklären ihren Befund damit, dass es eine Selbstzensur in den amerikanischen Medien gegeben habe, die letztendlich dazu beigetragen habe, dass der Skandal versandete und Bush wiedergewählt wurde. Die quantitative Inhaltsanalyse der Autoren besitzt allerdings erhebliche Mängel, da sie die Kontexte des Gebrauchs dieser Begriffe systematisch ausbelendet. In einer Folgestudie (Rowling et al. 2011), die das Datenmaterial erweiterte und die Methode geringfügig veränderte, verschwand der von Bennet, Lawrence und Livingston postulierte Zusammenhang. Eine dichte Beschreibung des öffentlichen Diskurses zu Abu Ghraib, wie sie in den letzten drei Kapiteln unternommen wird, muss zwar auf statistische Repräsenta-
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tivität und Quantifizierbarkeit verzichten, kann aber durch eine reichere Darstellung, die auch die jeweiligen Kontexte berücksichtigt, eine höhere Validität erzielen. Ein weiteres Problem der Studie von Bennett, Lawrence und Livingston (2006) betrifft ihre Folgerung, dass sich die Häufigkeit der Verwendung der genannten Worte nur durch eine „Selbstzensur“ der Medien erklären lasse. Dieser Schluss ist überaus problematisch, da sie einen privilegierten Zugang zur „Wirklichkeit“ und zum Begriff der „Folter“ voraussetzt, der – wie wir gesehen haben – so nicht gegeben ist (3.3.2; 6.4.1). So lassen sich gute Gründe anführen, dass es sich bei den Vorfällen lediglich um „Gefangenenmissbrauch“ und nicht um „Folter“ gehandelt habe. In der Festlegung auf „Folter“ als „wahre“ Wirklichkeit von Abu Ghraib tritt einerseits der normative und politische Standpunkt der Autoren deutlich zu Tage, andererseits werden dadurch bestimmte wissenschaftliche Fragestellungen von vornherein ausgeschlossen. Viel interessanter ist doch die umgekehrte Frage, nämlich warum im Zusammenhang mit den Vorfällen in Abu Ghraib eigentlich überhaupt von „Folter“ die Rede war – und warum der Abu-Ghraib Skandal einen nachhaltigen Effekt auf die Folterdebatte ausüben konnte (10.4). Halten wir fest: Die wenigen Untersuchungen zum öffentlichen Mediendiskurs von Abu Ghraib sind allesamt mit großen Mängeln behaftet. Sie konzentrieren sich im Wesentlichen auf die ersten Wochen des Skandals und besitzen darüber hinaus eine normative Färbung, die dem wissenschaftlichen Ertrag der Studien abträglich sind. Die Autoren werden so selbst zu einem Teil der kollektiven Empörung über die Missbrauchsfälle, statt gegenüber dem von ihnen untersuchtem Phänomen eine wissenschaftlich-distanzierte Haltung einzunehmen. Die Studien sind – wie die meisten wissenschaftlichen Beiträge zu Abu Ghraib – in relativ kurzem Abstand zu der Veröffentlichung der Bilder entstanden, was einerseits ihre Distanznahme erschwerte und andererseits dafür sorgte, dass die längerfristigen Folgen von Abu Ghraib, wie beispielsweise das McCain-Amendment (9.2) oder auch die anschließende Folterdebatte (10.4), erst gar nicht in den Blick gerieten. Die bisher vorliegenden Arbeiten zeigen vor allem eines: Es bedarf einer Diskursanalyse, die den Abu-Ghraib-Skandal einer unvoreingenommenen und sachlichen Analyse unterzieht, die über die frühe, „heiße“ Phase des Skandals hinausgeht. In den nächsten drei Kapiteln wird der Versuch zu einer solchen Analyse unternommen. Zur Methode – Auswahl und Auswertung der Daten Die empirische Untersuchung des öffentlichen Diskurses zu Abu Ghraib stützt sich auf eine Analyse der amerikanischen Tagespresse und von Nachrichtensendungen im amerikanischen Fernsehen in einem Zeitraum von insgesamt sechs Jahren, von Januar 2004 bis Dezember 2009. Zu dem Materialkorpus der Tagespresse gehört die USA Today, die New York Times, die Washington Post und das Wall Street Journal. Die USA Today und das Wall Street Journal stellen mit einer Auflage von jeweils über zwei Millionen die meistverkauften Zeitungen der Vereinigten Staaten
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dar.1 Die USA Today ist ein eher farbloses Blatt, das gerne Hotelgästen zur Verfügung gestellt wird, aber gerade deswegen wie keine andere Zeitung den politischen Mainstream verkörpert. Das Wall Street Journal besitzt vor allem eine Reputation als Wirtschaftszeitung und ist stärker konservativ ausgerichtet, wobei politische Divergenzen zwischen den konservativen Editorials und den liberaleren Artikeln deutlich zu Tage treten (vgl. Alexander 2010: 294). Die New York Times und die Washington Post sind mit einer Auflage von eineinhalb Millionen bzw. einer knappen Million ebenfalls unter den fünf größten Zeitungen der USA. Sie stehen für einen Qualitätsjournalismus, der eher dem linksliberalen Spektrum zuzuordnen ist. Zur Erhebung der Daten wurde in der Lexis-Nexis-Datenbank nach Nennungen von „Abu Ghraib“ in dem Zeitraum vom 1. Januar 2004 bis zum 31. Dezember 2009 gesucht. Während die Artikel der USA Today, der New York Times und der Washington Post frei über die Datenbank verfügbar waren, waren im Falle des Wall Street Journals nur Zusammenfassungen zu einzelnen Artikeln verfügbar. Diese Zusammenfassungen konnten zwar nicht den Volltext ersetzen, ließen aber Rückschlüsse auf das Thema und die politische Ausrichtung der Artikel zu. Allerdings ließen sich einzelne Artikel des Wall Street Journals als Volltext im Internet finden. Da selbst die großen Zeitungen der USA zusammengenommen nur einen Bruchteil der Bevölkerung erreichen und das Fernsehen für die Analyse öffentlicher Diskurse in den Vereinigten Staaten das wichtigere Medium darstelle, wurde die Analyse noch einmal um die Transkripte von Fernsehsendungen auf vier amerikanischen Nachrichtensendern erweitert, was es darüber hinaus ermöglichte, den erhebungsbedingten Wegfall des Journals am rechten Rand des politischen Spektrums zu kompensieren. Es wurden die drei großen amerikanischen Nachrichtensender CNN, MSNBC und Fox News ausgewählt, wobei CNN die politische Mitte repräsentiert, MSNBC das linksliberale und Fox News das rechtskonservative Spektrum abdeckt. Der kleinere Sender CBS vervollständigt die Auswahl, da ihm bei der Enthüllung der Missbrauchsfälle eine besondere Rolle zukam: Hier wurden die Skandalfotos das erste Mal gezeigt. Allerdings kam es bei der Analyse der Transkripte zu einem praktischen Problem, da sich die Beiträge von CNN, einem reinen Nachrichtensender, nicht nur als sehr umfangreich, sondern auch als äußerst redundant entpuppten. Da der hier zu erwartende Auswertungsaufwand in keinem Verhältnis zu dem zu erwartendem wissenschaftlichen Ertrag stand, wurden die Transkripte von CNN nur bis Ende Mai 2004 berücksichtigt, wodurch die „heiße“ Phase des Skandals abgedeckt werden konnte, während die Beiträge der anderen Sender über den kompletten Zeitraum hinweg analysiert wurden. Außerdem sollte noch erwähnt werden, dass die Quellenangaben, die wie gewohnt in den Fußnoten erfolgt, harmo1
Die Angaben zu den Auflagen amerikanischer Tageszeitungen sind auf dem Stand vom 31. März 2006, also etwa in der Mitte des hier zu Grunde gelegten Untersuchungszeitraumes http://www.infoplease.com/ipea/A0004420.html; letzter Zugriff am 4. Juli 2011.
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nisiert wurde. Die forschungspragmatische Beschränkung der Analyse auf die reinen Textdaten von Lexis-Nexis hatte allerdings ihren Preis: Eine systematische Untersuchung des Zusammenspiels von Texten und Bildern auf den Zeitungsseiten und in den Nachrichtensendungen war wünschenswert, aber leider nicht möglich. Alles in allem standen mehrere tausend Artikel und Transkripte zur Verfügung, in denen der Suchbegriff „Abu Ghraib“ auftauchte. Diese wurden in das Analyseprogramm Atlas.ti eingespeist, geordnet und zunächst einmal oberflächlich gesichtet. Dabei bewährte sich folgendes Vorgehen: Es ging zunächst darum, die markierten Nennungen des Suchbegriffs „Abu Ghraib“ ausfindig zu machen und grob einzuordnen. Gelegentlich war nur von der gleichnamigen Stadt die Rede, insbesondere bei Gefallenenmeldungen, oder aber von dem Gefängnis, ohne dass dies in einem direkten Bezug zu dem Skandal stand. Die relevanten Treffer wurden sodann einer näheren Begutachtung unterzogen und mit Stichworten oder Codes versehen. Das so entwickelte Codeschema umfasste häufig wiederkehrende Personen (wie „McCain“), Institutionen (wie „Supreme Court“) und Themenkomplexe (wie „Folter“). Diese Typisierung wurde durch Memos ergänzt, durch die ungewöhnliche Artikel kenntlich gemacht und erste Überlegungen festgehalten werden konnten. Besonders prägnante Zitate wurden schon während der Durchsicht in Textdokumente zu den einzelnen Themengebieten eingearbeitet. Bei der Ausarbeitung der einzelnen thematischen Abschnitte wurden die relevanten Einträge des Stichwortkatalogs abgearbeitet. Vorab lässt sich festhalten, dass keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Zeitungsberichten und den Fernsehnachrichten festgestellt werden konnten. Alle Argumente, die im Fernsehen verhandelt wurden, tauchten auch in der Tagespresse auf. Die Fernsehtranskripte fügten der dichten Beschreibung des Abu-Ghraib-Skandals lediglich noch ein wenig Farbe hinzu. Überraschend war allerdings, dass die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib noch lange nach der „heißen“ Phase des Skandals in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auftauchten. Sie wurden nicht nur in Wahlkämpfen (8.5; 9.5; 10.1), sondern auch anlässlich von konkreten politischen Entscheidungen (9.2) oder Urteilen des Obersten amerikanischen Gerichtes (9.3) thematisiert. Die Ikonographie des Skandals wurde von politischen Aktivisten und Künstlern zitiert (9.4) und fand ihren Niederschlag auch in der Populärkultur (10.3) und in der Folterdebatte (10.4). Diese Zusammenhänge erschlossen sich alleine auf Basis der Analyse der Tagespresse und von Nachrichtensendungen im angegebenen Materialkorpus – wenn auch zu einzelnen Punkten zusätzliche Recherchen durchgeführt wurden. Alle im Folgenden zitierten Zeitungsartikel und Transkripte nehmen in der einen oder anderen Weise auf die Vorfälle von Abu Ghraib Bezug. Die vorliegende Studie zeigt, dass sich wichtige öffentliche Debatten, politische Kämpfe und kulturelle Verschiebungen in den Vereinigten Staaten im Untersuchungszeitraum am Leitfaden von Abu Ghraib nachverfolgen und explizieren lassen – wobei natürlich andere Untersuchungen mit anderen Schwerpunkten auch andere Aspekte der hier diskutierten Prozesse und
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Phänomene zu Tage fördern könnten. Die Ausarbeitung und Anordnung der einzelnen Kapitel zielt darauf ab, eine dichte, narrative Rekonstruktion des Skandals und seiner Folgen zu komponieren, die zugleich die sozialen Mechanismen seiner Verbreitung, Bewältigung und Verarbeitung offen legt.
8.1 B ILDBRUCH – E NTHÜLLUNG UND R AHMUNG DER N ORMVERSTÖSSE Americans did this to an Iraqi person. DAN RATHER, 60 MINUTES, CBS, 28. APRIL 2004.2
Es lassen sich mehrere Phasen der Enthüllung der Missbrauchsfälle und Bilder unterscheiden. Zunächst einmal fanden die Enthüllungen innerhalb der Armee statt, nämlich nachdem das kompromittierende Fotomaterial von dem „whistle-blower“ Joe Darby einem Vorgesetzten zugetragen worden war, der diese daraufhin an die Militärführung weiterleitete. Die nächste Phase der Enthüllung setzte dann Anfang des Jahres 2004 ein, als die Armee eine Untersuchung zu den Vorfällen in Abu Ghraib einleitete und darüber in der Presse berichtet wurde. Die dritte Phase der Enthüllung begann am 28. April 2004 mit der Veröffentlichung von Bildern in der CBS-Show 60 Minutes und setzte sich in den Artikeln des Journalisten Seymour Hersh fort, der nebst zusätzlichen Bildern auch noch aus einem bis dato geheimen Untersuchungsbericht der Armee zitierte. Dies war allerdings erst der Anfang, es folgten weitere Enthüllungen: die Veröffentlichung von Bildern, die angeblich Missbrauchsfälle der britischen Armee dokumentierten; die Publikation geheimer Memoranda, welche die amerikanische Regierung belasteten; schließlich tauchte auch noch ein Bericht des Internationalen Roten Kreuzes auf, der humanitäre Mängel in dem Abu-Ghraib-Gefängnis dokumentierte und dem amerikanischen Militär bereits vor den berüchtigten Missbrauchsfällen vorgelegen hatte (8.4.1). 8.1.1 Von der Armee in die Medien – Darby, der „whistle-blower“ Eine Schlüsselrolle bei der Enthüllung des Abu-Ghraib-Skandals spielte Joe Darby, der als Militärpolizist zur selben Einheit wie die Täter gehörte. Seine Rolle bei der Enthüllung des Skandals wurde erstmals durch einen Artikel von Seymour Hersh im New Yorker publik gemacht.3 Da der New Yorker kein breites Publikum erreicht,
2
Die ersten Worte der Sendung, in der die Abu-Ghraib-Bilder erstmals publik gemacht wurden. Sie kommentieren die Ikone des Skandals, die als erste Bild gezeigt wurde.
3
Hersh, Seymour M.: „Torture at Abu Ghraib. American soldiers brutalized Iraqis. How far up does the responsibility go?“, The New Yorker, 10. Mai 2004.
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wurde Darbys erst nach seiner namentlichen Erwähnung durch den Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, im Rahmen der ersten Abu-Ghraib-Anhörung im amerikanischen Senat am 7. Mai, prominent. Auf eine Nachfrage antwortete Rumsfeld damals, dass ein gewisser Joe Darby seinen Vorgesetzten Mitte Januar über die Missbrauchsfälle informiert und ihm dabei die Bilder übergeben habe. Dies geschah am 13. Januar, allerdings anonym, in Form einer CD und eines Begleitbriefes, da er Vergeltungsaktionen befürchtete. Erst tags darauf gab sich Darby als Verfasser des Schreibens zu erkennen, worauf das Militär umgehend die Untersuchung der Vorfälle einleitete und auch die Presse informierte. Für weite Teile der amerikanischen Öffentlichkeit wurde der „whistle-blower“ Darby zu einem Helden.4 Barack Obama führte in einer Rede über Patriotismus, mitten im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf, Joe Darby als Beispiel für einen wahren Patrioten an, der den Idealen der Nation stärker verpflichtet gewesen sei als der korrupten Realität. Auch Philipp Zimbardo bezeichnet Darby als einen „Helden“, da dieser es geschafft habe, sich gegenüber den situationellen Einflüssen in Abu Ghraib zur Wehr zu setzen, und generalisiert seinen Fall zu einer sozialpsychologischen Theorie des Heldentums (2007: 444-488). Diese Interpretation ist jedoch mit Vorsicht zu genießen, da Darby nie zur sozialen Gruppe der Täter gehört hat, sondern als Außenseiter, der kaum Kontakt mit den Gefangenen hatte, nicht denselben Einflüssen ausgesetzt war. Darbys Heldenstatus wurde jedoch nicht überall in der Bevölkerung anerkannt. Manche sahen in ihm eine „Petze“ („rat“) und einen „Verräter“ („traitor“), andere beschuldigten ihn, mit seiner Tat das Leben amerikanischer Soldaten im Irak gefährdet oder gar auf dem Gewissen zu haben. 5 Die Rolle, die Joe Darby bei der Enthüllung des Skandals gespielt hat, verrät uns vermutlich mehr über die Normalisierung des Gefangenenmissbrauchs in Abu Ghraib und die Mechanismen sozialer Kontrolle als über seine Persönlichkeit. Er wurde selbst nie Zeuge von Missbrauchsfällen, sondern bekam von Charles Graner eine CD mit den Skandalfotos zugesteckt. Als Außenseiter, der erst später nach Abu Ghraib gekommen war (und im Übrigen wenig direkten Kontakt zu den Gefangenen hatte), konnte Darby die Handlungen auf den Fotos als Normverstösse wahrnehmen und sich darüber empören, was vielen anderen Mitgliedern seiner Einheit offensichtlich nicht in demselben Maße möglich war. Der Fay-Jones-Report berichtet von mehreren Fällen, in denen Soldaten von den Missbrauchsfällen wussten, aber dennoch keine Veranlassung darin sahen, diese einem Vorgesetzten zu melden (2005/2004). So gab es durchaus viele in der Einheit, die Augenzeugen des Miss4
„What Would You Do?“, The Washington Post, 12. Mai 2004.
5
„Exposing the Truth; Joe Darby, man who turned in Abu Ghraib prison abuse photos, tells his side of the story“, CBS 60 Minutes (19:00), 10. Dezember 2006; „When Joseph Comes Marching Home; In a Western Maryland Town, Ambivalence About the Son Who Blew the Whistle at Abu Ghraib“, The Washington Post, 17. Mai 2004.
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brauchs von Gefangenen wurden; darüber hinaus konnten sich die Sanitäter, die die Opfer von Gewaltexzessen zu behandeln hatten, einen Reim auf die Vorfälle machen; und schließlich zirkulierten auch einige der Skandalfotografien unter den Soldaten, die in manchen Fällen sogar als Bildschirmschoner verwendet wurden (vgl. 7.2). Die Berichte der Armee deuten auf eine schleichende Eskalation und Normalisierung des Missbrauchs hin, was erklärt, warum selbst außerordentliche Verstöße als business as usual wahrgenommen wurden. Auch Philipp Zimbardo berichtet, dass er im Laufe des Stanford-Prison-Experiments zu einem kaltblütigen Gefängnisdirektor mutiert sei, der nur durch eine Intervention von außen zum Abbruch des Experiments gebracht werden konnte (2007: 168-171; 179f.). Ein ähnlicher Mechanismus der Anpassung war auch in Teilen dafür verantwortlich, dass über Gräueltaten der amerikanischen Armee in Vietnam von den Kriegsreportern vor Ort zunächst nicht berichtet wurde (6.2.2). So ist es kein Zufall, dass gerade ein Journalist, der nicht vor Ort gewesen war, nämlich Seymour Hersh, das My-Lai-Massaker aufdeckte. Eine vergleichbare Rolle kam dem Außenseiter Darby zu, dessen Heroismus zwar nicht abgestritten, aber in seinem sozialen Kontext gesehen werden sollte. Am 16. Januar 2004 gab das Militär in einer Pressemitteilung bekannt, dass wegen des mutmaßlichen Missbrauchs von Gefangenen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib eine offizielle Untersuchung der Vorfälle eingeleitet worden sei. Am Tag darauf wurde in der New York Times über die Missbrauchsvorwürfe berichtet, wo sie in einen breiteren Kontext von ähnlichen Vorfällen gestellt wurden.6 So war damals bereits bekannt, dass gegen einen Offizier ermittelt wurde, der während eines Verhörs seine Waffe abgefeuert hatte, um den Gefangenen einzuschüchtern; außerdem wusste man, dass drei Soldaten wegen Gefangenenmissbrauchs in Camp Bucca die Armee verlassen mussten und dass gegen acht Reservisten der Marine Anschuldigungen vorlagen, die in einem Zusammenhang mit dem Tod eines irakischen Gefangenen standen. Abu Ghraib war weder der erste noch der schlimmste Zwischenfall, der an die Öffentlichkeit gelangte. Allerdings zogen sowohl die Anschuldigungen von Abu Ghraib als auch die anderen Missbrauchsfälle und Tötungsdelikte zunächst wenig öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Aber Seymour Hersh, eine Ikone des investigativen Journalismus, begann ‒ durch die Zeitungsmeldungen neugierig geworden ‒ mit seinen Recherchen zu Abu Ghraib. Als zwei Monate später, am 20. März, sechs Soldaten wegen Körperverletzung („assault“), Grausamkeit („cruelty“), unanständiger Akte („indecent acts“) und der Misshandlung („maltreatment“) von Gefangenen angeklagt wurden, kam es zu einem Anstieg des öffentlichen Interesses. Allerdings war dies begrenzt und der öffentliche „Aufschrei“ blieb aus. Stattdessen äußerte man sich sachlich-nüchtern über mögliche Konsequenzen der Enthüllung. Der Philadelphia Inquirer wies frühzeitig auf die symbolische Bedeutung des Abu-Ghraib-Gefängnisses hin, und in der 6
„Inquiry Ordered Into Reports of Prisoner Abuse“, The New York Times, 17. Januar 2004.
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Washington Post hieß es, dass es sich bei den Vorfällen in Abu Ghraib nur um einen Fall unter anderen Fällen dieser Art handele.7 Der Inquirer bemerkte, dass die Anschuldigungen insofern ungewöhnlich seien, als es hier um „unanständiges“ Verhalten gehe, das möglicherweise auch sexuelle Übergriffe beinhalte: „Saturday’s charges were unusual in part because the „indecent acts“ accusation, according to the military’s court-martial manual, refers to ‚grossly vulgar, obscene, repugnant‘ behavior ‚to excite lust and deprave the morals with respect to sexual relations‘.“8 Diese Schilderung der Vorfälle musste dem puritanischen Amerika Unbehagen bereiten. Trotz derlei pikanter Details rückten die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib erst einen Monat später, und zwar mit der Veröffentlichung der Skandalbilder, ins Zentrum der öffentlichen Debatte. Die Bedeutung des fotografischen Materials für die Skandalisierung der Missbrauchsfälle kann, wie wir sehen, kaum überschätzt werden. Auch hier gibt es Parallelen zur Skandalisierung von My Lai, die erst mit der Veröffentlichung der Fotos an Momentum gewann (6.2.2). Der Fernsehsender CBS war über den Verwandten eines Angeklagten an das belastende Bildmaterial gelangt. Am 12. April 2004 unterrichtete man das Pentagon darüber, dass man im Besitz der Bilder sei und deren Veröffentlichung vorbereite. 9 Am 14. April bekam der Nachrichtensprecher Dan Rather einen Anruf von Generalstabschef Richard B. Myers, dem ranghöchsten Offizier der amerikanischen Streitkräfte. Er bat den Sender um Aufschub für die geplante Ausstrahlung, und zwar mit der Begründung, dass eine unmittelbare Veröffentlichung der Bilder den Erfolg gegenwärtiger Militäroperationen sowie das Leben westlicher Geiseln im Irak gefährde. Eine Woche später bat der Generalstabschef nochmals um Aufschub, aber am 28. April 2004 war es dann so weit: Als die Fotografien in der Nachrichtensendung 60 Minutes erstmals ausgestrahlt wurden, stand ein zugeschalteter Sprecher der Armee, General Mark Kimmit, dem Reporter Rede und Antwort. Allerdings war es nicht alleine dem CBS gelungen, in den Besitz der Bilder zu gelangen. Seymour Hersh, der durch die Berichterstattung auf den Gefangenenmissbrauch in Abu Ghraib aufmerksam geworden war, gelangte über einen Kontaktmann im Pentagon an die Fotografien und den Taguba-Report. Ähnlich wie der „whistleblower“ ist auch der geheime Informant eine aus dem öffentlichen Diskurs und den fiktionalen Formaten vertraute Helden- bzw. Helferfigur – man denke nur an „deep throat“, jenen berüchtigten Informanten des Watergate-Skandals und seine filmische Umsetzung in All the President’s Men (1976). In diesen Narrativen wird ein 7
„U.S. Soldiers Charged in Abuse of Iraqis“, The Washington Post, 21. März 2004.
8
„Details still sketchy on prisoner abuse; Officials are withholding the names of the six U.S. soldiers arrested in Iraq“, The Philadelphia Inquirer, 22. März 2004.
9
CBS scheint über den Onkel von Sergeant Frederick, einem der beschuldigten Soldaten an die Fotos gekommen zu sein; vgl. „Doing Battle for the Grunts; Virginia Group Seeks to Protect U.S. Troops on the Front Lines“, The Washington Post, 9. Februar 2006.
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Bild des geheimen Informanten als einem moralischen und aufrechten Idealisten gezeichnet, der für das Recht der Öffentlichkeit auf Information seinen Job riskiert. Am 28. April 2004 wurden die Fotografien aus Abu Ghraib in der Nachrichtensendung 60 Minutes II des amerikanischen Senders CBS zum ersten Mal öffentlich gezeigt.10 Erst mit der Veröffentlichung der Bilder kam es zum „Bruch“ im vollen Wortsinn (5.2.3). Mit einem Mal waren die Vorfälle in Abu Ghraib ein Gegenstand öffentlichen Interesses und kollektiver Gefühle. Der Nachrichtensprecher Dan Rather eröffnete seinen Beitrag mit den Worten: „Americans did this to an Iraqi person“. Im Vordergrund stehen hier nicht die Opfer, sondern die Täter – noch genauer: die Tatsache, dass sie Amerikaner sind. In seiner Kommentierung der Missbrauchsbilder wies er insbesondere darauf hin, dass die amerikanischen Soldaten auf den Fotos lachen und der Kamera ein „thumbs up“ geben (vgl. 7.2.3). Eine Analyse des Beitrags bringt die spezifischen Probleme von Fotografien in der Fernsehberichterstattung zum Vorschein – und wie mit ihnen umgegangen wird. Eine Fotografie ist eine Momentaufnahme, während sich das Fernsehen als audiovisuelles Medium ständig im Fluss befindet. Fotos, die in der Fernsehberichterstattung verwendet werden, stehen normalerweise nicht im Vordergrund, sondern dienen der begleitenden Illustration der Aussagen des Nachrichtensprechers. Anders im Falle von Abu Ghraib, denn hier waren die Fotografien selbst die „message“, die den Skandal ausmachte. Dies hatte zur Folge, dass die Fotografien dem Medium des Fernsehens angepasst wurden, insbesondere durch den filmischen Kunstgriff des Zoomens, der nicht nur die Darstellung dynamisierte und dramatisierte, sondern selbst schon eine inhaltliche Schwerpunktsetzung ermöglichte. Im Vordergrund standen die amerikanischen Täter, ihre Mimik und Gestik. In derselben Sendung durfte sich auch General Kimmitt, oberster Sprecher des amerikanischen Militärkommandos in Bagdad, zu den Missbrauchsfällen äußern. Zwar drückte er gegenüber den abgebildeten Akten seine Abscheu („disgust“) aus, wies aber zugleich darauf hin, dass eine solche Behandlung von Gefangenen nicht repräsentativ für die Armee – was zur hegemonialen Deutung der Skandalfälle werden sollte (8.3.1). Diese Nachrichtensendung enthält auf gewisse Weise das soziale Drama von Abu Ghraib in nuce: Einerseits nahm Kimmit mit seiner Reaktion die kollektive Empörung über die Missbrauchsfälle vorweg, andererseits versuchte er aber auch, der drohenden Krise im Vorfeld Einhalt zu gebieten, indem er das Ausmaß der Vorfälle herunterspielte und eine angemessene Bestrafung der Täter in Aussicht stellte. Am 30. April 2004 veröffentlichte der New Yorker auf seiner Webseite weitere Bilder sowie einen Artikel von Seymour Hersh, „Torture at Abu Ghraib“, der erst am 10. Mai in der Printausgabe des Magazins erschien. Die Veröffentlichung der 10 Verfügbar
unter
http://www.cbsnews.com/stories/2004/04/27/60II/main614063.shtml,
letzter Zugriff am 14. März 2012. Für diesen Beitrag wurden Dan Rather und 60 Minutes mit dem Peabody, einem Preis für Radio- und Fernsehjournalismus ausgezeichnet.
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Bilder wie auch des Artikels war eigentlich erst später geplant, wurde dann aber aufgrund der Enthüllung von 60 Minutes vorgezogen. Hersh eröffnet seinen Artikel mit einer Erinnerung an Abu Ghraib als einem „unreinen“ Symbol der Ära von Saddam Hussein (6.3) und seinem verheißungsvollen Wandel zum amerikanischen Militärgefängnis (6.5), um dann auf die aktuellen Untersuchungen und Gerichtsverhandlungen zu sprechen zu kommen. Während 60 Minutes das Fotomaterial von einem Onkel eines Angeklagten erhielt, bekam Hersh sein Material aus militärischen Kreisen, insbesondere den bis dato noch geheimen Untersuchungsbericht von General Taguba (2005/2004), aus dem er in seinen Artikeln ausführlich zitiert. Wie Dan Rather, so setzte sich auch Hersh in seinem Beitrag direkt mit den Bildern auseinander, beschreibt und kommentiert sie, wobei auch hier die Geste des „thumbs-up“ und das Grinsen der Soldaten („leering“) eine wichtige Rolle spielt. Hersh weist die von Kimmit in 60 Minutes propagierte Rahmung der Missbrauchsfälle als bedauerliche Einzelfälle vehement zurück. So argumentiert er, dass die Fotos den Eindruck erwecken, dass die Misshandlung von Gefangenen in Abu Ghraib an der Tagesordnung war und sich die Soldaten offensichtlich keine Mühe gegeben haben, ihr Handeln zu verbergen. Er zitiert weiterhin aus dem Bericht von General Taguba eine Aufzählung von fotografisch nicht dokumentierten Akten, die weitere barbarische Akte der sexuellen Demütigung, wie beispielsweise „sodomizing a detainee with a chemical light and perhaps a broom stick“ (Taguba 2005/2004: 417), enthält. Die Tatsache, dass überhaupt fotografiert worden sei, wurde von Taguba und Hersh als ein Beleg dafür gesehen, dass der Missbrauch von Gefangenen in Abu Ghraib keine Ausnahme, sondern an der Tagesordnung gewesen sei. 8.1.2 Schock und Abscheu – Der Bildbruch der Abu-Ghraib-Fotos Die Schlüsselworte der ersten Medienreaktionen auf Abu Ghraib waren „shock“ und „disgust“. Die Verwendung des Wortes „shock“ muss als Artikulation einer Krisenerfahrung aufgefasst werden, die aus einer Verletzung kognitiver Hintergrundannahmen resultiert (1.2.1). Vergleicht man die medialen Reaktion auf die Veröffentlichung der Fotografien aus Abu Ghraib mit dem Schock von 9/11, so muss zugestanden werden, dass die Schockwirkung der Anschläge auf das World Trade Center ungleich heftiger war, da deren Kommentatoren in den ersten Minuten tatsächlich sprachlos waren. Im Gegensatz zu „shock“ besitzt das englische Wort „disgust“ das ein Bedeutungsspektrum von „Abscheu“ über „Ekel“ bis hin zu „Empörung“ abdeckt, eine emotional-evaluative Stoßrichtung. Während das Phänomen des Schocks auf eine Verletzung von Hintergrundannahmen verweist, besitzt „disgust“ einen intentionalen Gehalt, da sich Ekel und Abscheu immer auf einen Gegenstand richten. Angesichts der Bilder des 11. Septembers hätte niemand von „Abscheu“ oder „Ekel“ gesprochen, da sich diese Begriffe in erster Linie auf abstoßende, affektive Reaktionen gegenüber einer ästhetischen Oberfläche bezie-
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hen, obgleich sie in einem zweiten Schritt auch auf die moralische Dimension von Handlungen übertragen werden können.11 Während 9/11 eine Ästhetik des Erhabenen bzw. des Terrors impliziert, verweist der „Ekel“ auf eine Ästhetik des Hässlichen (Rosenkranz 2007: 293-303). Das Ekelerregende steht dabei zunächst einmal für eine „reale“ Verschmutzung, aber auch für eine symbolische Verunreinigung. Während die Erniedrigungsrituale auf den Fotografien die Gefangenen als „unrein“ darstellen, werden die Täter – und damit auch die Fotografien selbst – in der öffentlichen Rezeption zu unreinen Objekten, die auf Distanz gehalten werden müssen. Am 29. April 2004, einen Tag nach der Erstausstrahlung der Bilder, waren es nur eine Handvoll amerikanischer Zeitungen – unter anderem die New York Times, St. Petersburg Times und Daily News –, die über die Fotografien und den Ausschluss von 17 Soldaten berichteten. Zunächst war es nur die Daily News, in der eine der Skandalfotografien zeigte. In einem Artikel der New York Times kommt neben General Kimmit auch der Anwalt von Sergeant Frederick zu Wort, der folgende Deutung des Verfahrens abgibt: „This case involves a monumental failure of leadership, where lower-level enlisted people are being scapegoated […] The real story is not in these six young enlisted people. The real story is the manner in which the intelligence community forced them into this position.“12 Zunächst gab es jedoch kein großes Interesse an dieser „wahren Geschichte“. In den folgenden Tagen schwappte eine Welle der Entrüstung über die Vereinigten Staaten und den Rest der Welt. Journalisten, Politiker und Militärangehörige, aber auch „normale Bürger“ äußerten sich in Leserbriefen öffentlich zu den Bildern: Viele waren nicht nur schockiert, sondern enttäuscht von ihren Soldaten enttäuscht oder schämten sich gar für sie.13 Auf den anfänglichen Schock und den Ekel folgte die komplexere Emotion der „Scham“, die aus der verletzten normativen Erwartungshaltung und dem beschädigten Image der Armee resultierte, aber darüber hinaus auch von einer Verbundenheit zu den Soldaten und einer Gefährdung der nationalen Identität zeugte. Zwei Tage nach der Erstveröffentlichung der Bilder drückte auch der amerikanische Präsident Bush seine Abscheu („disgust“) gegenüber den Fotografien und den darauf abgebildeten Missbrauchsfällen aus, was von ihm als Repräsentanten der Nation auch erwartet wurde. Diese öffentlich geäußerten Gefühle dürfen nun aber nicht ohne Weiteres den privaten oder individuellen Personen zugeschrieben werden, sondern müssen als eine Artikulationen kollektiver Gefühle und öffentlicher Moralvorstellungen aufgefasst werden (5.1.2). Kollektive Gefühle sind nicht nur stärker als individuelle Gefühle, sondern es wird zugleich auch erwartet, dass man sie hat (1.1.2). Ein Kommentar in der New York Times macht diese kollektive Di11 Zur ästhetischen Bestimmung des Ekelhaften als der reellen Seite des Scheußlichen, das „der physischen und moralischen Verwesung entspringt“, vgl. Rosenkranz (2007: 293ff.). 12 „G.I.’s Are Accused of Abusing Iraqi Captives“, The New York Times, 29. April 2004. 13 „The Shame of Abu Ghraib, Voices of Revulsion“, The New York Times, 4. Mai 2004.
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mension der öffentlichen Empörung anhand von Bushs Äußerungen explizit: „President Bush spoke for all Americans of conscience yesterday when he expressed disgust at photographs showing United States soldiers abusing and humiliating Iraqi prisoners“.14 Bush sprach im Namen des amerikanischen Volkes – nicht alleine aufgrund seines Status als einem kollektiven Repräsentanten, sondern auch, weil es die Pflicht jedes gewissenhaften Amerikaners sei, dieselben Gefühle gegenüber den Bildern und den Missbrauchsfällen zu hegen. Die mit kollektiver Emotionalität und kulturellen Bedeutungen aufgeladenen Bilder wurden so zu Negativsymbolen und säkularen Ikonen des zivilgesellschaftlichen Diskurses in den Vereinigten Staaten. Es bleibt die Frage, warum diese Bilder auf eine derartige Resonanz im amerikanischen Publikum stießen. Welche kulturellen Bedeutungen sind in den Bildern verankert, und wie wurden diese vom Publikum interpretiert? Es war weniger von Bedeutung, was auf den Fotografien in Szene gesetzt wurde, im Vergleich zu dem, wie es dargestellt wurde. So wurde in den Medien oft hervorgehoben, dass die Soldaten lächelten, lachten und ihre Daumen hochhielten, während sie Gefangene in erniedrigende oder sexuell demütigende Positionen zwangen. Die Tatsache, dass die Soldaten ihr eigenes Verhalten offensichtlich genossen haben, wurde mehrmals kritisch erwähnt und schien noch verstörender als die Missbrauchsfälle selbst gewesen zu sein. Ein Leserbrief eines gewissen A. Singh aus Indien, der in der New York Times veröffentlicht wurde, zeugt nicht nur von der globalen Anteilnahme an dem Skandal, sondern bringt auch etwas auf den Punkt, was ebenso auf das amerikanische Publikum zutraf: „While I am appalled by the images of American soldiers humiliating helpless Iraqi prisoners, what really shocked me is the way those soldiers brazenly posed for photographs“.15 Der Missbrauch selbst mag zwar abstoßend gewesen sein, aber das Schockierende an den Bildern war die Selbstinszenierung der Soldaten, in der nicht die Spur eines Unrechtsbewusstseins zum Ausdruck kam. Auch die ehemalige Oberkommandierende des Abu-Ghraib-Gefängnisses, General Janis Karpinski, bezeichnete in einem Interview mit CNN die Gesichter der Soldaten als das abscheulichste Detail der Skandalbilder. 16 Es war in erster Linie diese geschmacklose Selbststilisierung und der auf den Bildern zur Schau gestellte Genuss, der es für das Publikum ausschloss, das Handeln der Täter als eine Ausübung ihrer soldatischen Plicht zu verstehen. Die Täter traten als grausame Sadisten in Erscheinung, die das ihnen anvertraute Amt missbraucht hatten und für diese Vorfälle persönlich zur Verantwortung gezogen werden sollten. Die fotografischen Trophäen, bei denen es sich um Bilder des Stolzes zu handeln schien, wurden in der Öffentlichkeit zu Symbolen des Missbrauchs, die bei vielen Betrachtern Scham hervorriefen. Entscheidend für die symbolische Verschmutzung der Bilder war 14 „Abuses at Abu Ghraib“, The New York Times, 1. Mai 2004. 15 „The Shame of Abu Ghraib: Voices of Revulsion“, The New York Times, 4. Mai 2004. 16 „Images of Abuse Rock U.S. Military“, Wolf Blitzer Reports (17:00), CNN, 3. Mai 2004.
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nicht zuletzt ihre pornographische Ikonographie (7.3.2). Sie war für das liberale wie auch für das konservative Publikum inakzeptabel, selbst wenn es unterschiedliche Meinungen über den Einfluss von Pornografie auf die Missbrauchsfälle gab. 17 Die Rahmung der Täter als perverse Sadisten hatte einen symbolischen Umkehreffekt auf die Iraker, die auf diesen Fotografien erniedrigt wurden. Sie wurden nicht mehr länger als gefährliche Aufständische oder potenzielle Terroristen wahrgenommen (obwohl dies von rechten Kommentatoren immer wieder betont wurde, vgl. 8.3.3), sondern als unschuldige Opfer. Die Unschuld der Opfer wurde vor allem durch das erste im Fernsehen gezeigte Bild unterstrichen – jene Ikone des Skandals, die vom Christus-Motiv Gebrauch gemacht hatte (7.1). Diese Referenz wurde nur in wenigen Zeitungsartikeln explizit erwähnt,18 im Internet war sie allerdings schon früher im Umlauf.19 Trotz der überschaubaren expliziten Referenzen muss davon ausgegangen werden, dass dieses Motiv aufgrund des christlichen Hintergrundes der amerikanischen Zivilgesellschaft auf eine starke kulturelle Resonanz stieß. Daneben weckte die Rezeption der Bilder natürlich auch Assoziationen zur Pornographie, den Lynching-Fotografien und dem Ku-Klux-Klan. Letztlich kann aber die Empörung über diese Bilder nicht alleine auf ihren Inhalt oder ihren Stil zurückgeführt werden. Die Selbstpräsentation der amerikanischen Soldaten erregte vor allem deswegen Aufmerksamkeit, weil sie eine Gefahr für das Image der Vereinigten Staaten, für das nationale Selbst- und Fremdbild, darstellten. Die Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Bilder stellte die vorherrschende symbolische Ordnung und das soziale Imaginäre der Vereinigten Staaten in dreifacher Hinsicht in Frage (7.5). Amerikanische Soldaten waren zunächst einmal als sadistische Folterer zu sehen, was dem hohen Ansehen der Armee und dem heldenhaften Bild des amerikanischen Soldaten zuwiderlief. Der Bildbruch tritt vor allem in der Mimik und Gestik der Täter zu Tage, welche die Möglichkeit einer sympathisierende oder entschuldenden Identifikation mit ihnen von vorneherein ausschloss. Zweitens lag die sexuelle bzw. pornographische Ikonographie der Bilder für das amerikanische Publikum offensichtlich jenseits des Erwartbaren. Und schließlich lief – drittens – die Darstellung von Frauen als Täterinnen gegen das vorherrschende Bild von Männern als Tätern Sturm, was nicht nur bei feministischen Autoren wie Barbara Ehrenreich (2004) Befremden auslöste.20 17 „It Was the Porn That Made Them Do It“, The New York Times, 30. Mai 2004; vgl. auch die Leserbriefe „Doing Unto Others“, 6. Juni, und „The Liberal Line“, 13. Juni 2004. 18 Unter anderem „Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal“, The New York Times, 13. Juni 2004; aber auch in W.J.T. Mitchells Artikel „Echoes of a Christian symbol. Photo reverberates with the raw power of Christ on cross“, Chicago Tribune, 27. Juni 2004. 19 Z.B. Jeff Sharl, „Pictures from an Inquisition“, The Revealer, 30.4.2004, http://www. therevealer.org/archives/revealing_000355.php; letzter Zugriff am 12.12.2009. 20 „When Women Abuse Power, Too“, The Washington Post, 16. Mai 2004.
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8.2 I DENTITÄTSKRISE – ABU G HRAIB
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ALS I MAGEPROBLEM
Die Handlungssequenz, die durch eine anerkannte Bedrohung des Image in Bewegung gesetzt wird und mit der Wiederherstellung des rituellen Gleichgewichts endet, werde ich Ausgleichshandlung nennen. ERVING GOFFMAN, TECHNIKEN DER IMAGEPFLEGE (1991: 25)
Abu Ghraib war für die Amerikaner in doppelter Hinsicht ein Imageproblem: Einerseits lösten digitale Bilder (images) einen Skandal aus, andererseits beschädigte die Enthüllung der Missbrauchsfälle das Selbstbild (image) der Nation. Aber auch der Begriff des „Image“ als einem Selbstbild besitzt eine doppelte Bedeutung: einerseits, im Sinne eines „Self-Image“ (Dahrendorf 1961), Selbstbild eines individuellen oder kollektiven Akteurs, andererseits aber auch als „Image“, Selbstbild in der Außendarstellung. Das Image als Selbstbild von Akteuren im sozialen Verkehr ist in der Regel – Hochstapler ausgenommen – mit dem eigenen Selbstbild und der jeweiligen Identität als evaluativem Hintergrund des Handelns verschränkt. Das private Selbstbild hängt bis zu einem gewissem Grad immer von der Anerkennung durch andere Akteure ab; zudem kann die eigene Identität von außerordentlichen Ereignissen erschüttert werden, wie bereits am Beispiel des psychischen und des kulturellen Traumas erläutert wurde (1.3.5). Auch der Abu-Ghraib-Skandal kann über die Beschädigung eines Images hinaus als eine Bedrohung des amerikanischen Selbstbildes, als eine Gefährdung der kollektiven Identität, gesehen werden. Während hinsichtlich der Beschädigung des amerikanischen Images kaum Zweifel bestanden, stellte die Identitätsproblematik ein strittiges Thema im öffentlichen Diskurs dar. Die hegemoniale Rahmung des Skandals in seiner Anfangsphase legte es nahe, den Gefangenenmissbrauch als tragischen Einzelfall zu betrachten, der die kollektive Identität der Amerikaner nicht tangieren sollte. Allerdings lässt sich an vielen Äußerungen im Diskurs aufzeigen, dass Abu Ghraib zumindest als eine Gefährdung der amerikanischen Identität wahrgenommen wurde – weswegen im Folgenden nicht von Trauma, sondern einer „Identitätskrise“ gesprochen werden soll. Das Konzept des „Schocks“ steht für die traumatische Erfahrung von Diskontinuität, die die Geltung von Hintergrundannahmen außer Kraft setzt und so die alltägliche Lebenswelt übersteigt. Oft steht dabei die eigene Identität auf dem Spiel, sei sie nun personaler oder kollektiver Natur. Eine mögliche Gefährdung der amerikanischen Identität wird im Bildbruch der Skandalbilder sinnlich erfahrbar. Die Fotografien konnten eben nicht nur als Dokumente eines Verbrechens aufgefasst werden, sondern wurden, wie im Folgenden zu zeigen ist, auch als eine Bedrohung der amerikanischen Identität wahrgenommen. Zunächst ist festzuhalten, dass die be-
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schuldigten Soldaten als Repräsentanten der amerikanischen Nation im Irak gewesen waren, wenn auch das Militär und die Regierung nie müde wurden zu betonen, dass sie bei den Missbrauchsfällen auf eigene Faust gehandelt hätten. In modernen Demokratien wird das Militär der zivilen Sphäre untergeordnet (4.2.2). Die Armee legitimiert ihre Existenz und den Einsatz von Gewalt durch ihren Dienst am Volk und die Verfolgung nationaler Interessen. Soldaten sind damit in einer vergleichbaren Position wie politische Amtsträger. Die Täter von Abu Ghraib missbrauchten damit nicht nur Gefangene, sondern zugleich auch das ihnen zum Wohl des amerikanischen Volkes verliehene Amt und seine Würden. 8.2.1 Abu Ghraib zwischen PR-Desaster und Identitätskrise Die Vorfälle in Abu Ghraib stellten aber nicht nur das nationale Selbstbild in Frage. Als Imageproblem betraf Abu Ghraib das Ansehen der Vereinigten Staaten in aller Welt. Gerade die New York Times widmete diesem Thema von Anfang an sehr viel Aufmerksamkeit, die USA Today erst später und in geringerem Ausmaß. Schon früh wurde über die negativen internationalen Auswirkungen des Skandals und die Reaktionen der westlichen Presse auf die Missbrauchsfälle berichtet.21 Im Fokus der Berichterstattung stand allerdings der Irak und die arabische Welt, was vor dem Hintergrund des Krieges gegen den Terror und den anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen im Irak durchaus verständlich ist.22 Selbst isolationistische Politiker, die auf die Meinung des Rests der Welt sonst wenig gaben, mussten die strategische Bedeutung des Imageproblems anerkennen. Auch in der Washington Post wurde von der Rezeption der Bilder in der irakischen Presse und deren besorgniserregenden Konsequenzen für das Image der Vereinigten Staaten berichtet: „The photographs of U.S. soldiers abusing Iraqi prisoners at Abu Ghraib – images that reached Iraqi newspapers on Sunday, following a three-day holiday – have reinforced the long-held view here that the U.S. occupation is intent on humiliating the Iraqi people. The system has been rife with complaints for months, but now the testimony of former Iraqi prisoners claiming abuse at the hands of U.S. jailers has gained new credibility while further damaging the reputation of the U.S. occupation authority.“ 23
21 „The struggle for Iraq: World Reaction; Revulsion at Prison Abuse Provokes Scorn for the U.S.“, The New York Times, 5. Mai 2004; „Bush’s Words Do Little to Ease Horror at Prison Deeds“, 7. Mai 2004. 22 Für einen Überblick über die arabische Berichterstattung zu Abu Ghraib vgl. The Middle East Research Institute, Special Dispatch Series No. 718; http://www.memri.org/report/ en/0/0/0/0/0/0/1135.htm;; letzter Zugriff am 27. Februar 2012. 23 „Angry Ex-Detainees Tell of Abuse; Iraqis Say They Endured Physical, Psychological Hardship in U.S. Custody“, The Washington Post, 3. Mai 2004.
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Am 5. Mai 2004 trat der irakische Minister für Menschenrechte aus Protest über die Missbrauchsfälle aus der von den Amerikanern ernannten Interimsregierung zurück. Er gab an, dass Übergriffe durch amerikanische Soldaten im Irak an der Tagesordnung seien und widersprach damit der Bush-Regierung, welche Abu Ghraib als bedauerlichen, ja, tragischen Einzelfall dargestellt hatte. Der arabischen Nachrichtensender Al Jazeera stellte die Abu-Ghraib-Bilder in Form einer Fotogalerie ins Netz und führte unter ihren Besuchern eine Umfrage durch. Von über 70.000 Teilnehmern der Befragung waren 62% der Meinung, dass derartige Misshandlungen zur Routine gehörten.24 Eine Kommentator der in London ansässigen arabischen Tageszeitung Al Quds al Arabi behauptete gar, dass es sich bei den Missbrauchsfälle um eine Folge der offiziellen amerikanischen Kultur handele, die eine systematische Erniedrigung von Muslimen betreibe.25 Zwei Wochen nach der Veröffentlichung der Bilder erschien dann auch in der USA Today eine Reihe von Artikeln, in denen über die arabische Reaktion auf die Bilder und über die möglichen negativen Konsequenzen, die sich für den amerikanischen Militäreinsatz daraus ergeben könnten, berichtet wurde.26 Die amerikanische Regierung versuchte schon frühzeitig, den Schaden für das amerikanische Image zu begrenzen. So demonstrierte der amerikanische Präsident seine Übereinstimmung mit den kollektiven Emotionen, verurteilte die Missbrauchsfälle als „unamerikanisch“ und versprach eine lückenlose Aufklärung der Vorfälle und die baldige Bestrafung der Schuldigen: „‚I shared a deep disgust that those prisoners were treated the way they were treated,‘ President Bush said in a Rose Garden appearance with Canadian Prime Minister Paul Martin. ‚Their treatment does not reflect the nature of the American people. That’s not the way we do things in America. And so I didn’t like it one bit.‘ Bush said the abuses will be investigated and the perpetrators‚will be taken care of.‘“27
Die Vereinigten Staaten sind dafür bekannt, ein positives und ungebrochenes kollektives Selbstbild zu pflegen. Wie Bellah (1991, 1992) in seinen Studien zur amerikanischen Zivilreligion herausgearbeitet hat, gehört die Überzeugung, ein „auserwähltes Volk“, „Champion der freien Welt“ und den anderen Nationen moralisch überlegen zu sein, zur kollektiven Identität der Vereinigten Staaten, die insbesonde24 „Iraq Prison Scandal At Its Most Graphic“, The Washington Post, 9. Mai 2004. 25 Vgl. „Bush‘s Words Do Little to Ease Horror at Prison Deeds“, The New York Times, 7. Mai 2004. 26 „Role as U.S. ally gets riskier and riskier for Arab nations such as Kuwait, Jordan“, USA Today, 13. Mai 2004; „Some in Baghdad say U.S. troops no longer wanted“, 13. Mai 2004; „1st prisoner-abuse trial draws media from around world“, 19. Mai 2004. 27 „U.S. Tries to Calm Furor Caused by Photos; Bush Vows Punishment for Abuse of Prisoners“, The Washington Post, 1. Mai 2004.
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re durch ihren christlichen Hintergrund geprägt ist. Dies ist einer der Gründe, warum den Amerikanern der militärische Ausgang und die moralische Ambivalenz des Vietnamkrieges immer noch zu schaffen macht (6.2). „Vietnam“ führte nicht etwa zu einer Revision des Selbstbildes, sondern begleitet die amerikanische Identität nach wie vor als dunkler Schatten. Angesichts der Fotographien von Abu Ghraib wurde das Selbstbild der Amerikaner immer wieder öffentlich thematisiert, beispielsweise von Edward Akin, einem Experten für visuelle Geschichte, in der New York Times: „[T]he self-image of America is decency and fighting on the side of the right values. This war was waged as a moral war, with us being on the high ground. We think of other people in the world committing atrocities, not ourselves“.28 Dieses Selbstbild, das durch die Fotografien von Abu Ghraib in Frage gestellt wurde, manifestiert sich in Bildern, Narrativen und Performanzen, die wiederum zu seiner Verfestigung und Verbreitung beitragen. Als Projektionsflächen kollektiver Identität dienen vor allem die amerikanischen Heldenfiguren. Mythische Traditionen, die für personale und kollektive Selbstbilder schon immer von großer Bedeutung waren (2.2.5), leben auf diese Weise in der zeitgenössischen Populärkultur fort. Die Bedeutung der amerikanischen Populärkultur für die kollektive Identität der Vereinigten Staaten wird in demselben Artikel auch von weiteren Experten unterstrichen: „‚We’re a nation that grew up worshiping Superman and Spider-Man, who always did the right thing,‘ says Della Femina. ‚The bad guys always fight dirty and the good guys always fight clean.‘ Our culture has ingrained in each of us the unwavering notion that only bad people do bad things, and that good people do good things,‘ says Jerald Jellison, professor of psychology at the University of Southern California. ‚The photos give undeniable proof that bad things were caused by what are supposed to be good Americans,‘ he says.“ 29
Superhelden-Comics folgen in der Regel einem romantischen Narrativ, auch wenn der eine oder andere Held auch manchmal tragisch-düstere Züge annehmen kann. Interessanterweise kämpfen amerikanische Superhelden oft in einem Bereich außerhalb des Rechts, wie dies auch für den „law-defying hero“ typisch ist, dem wir in unseren Ausführungen zur Populärkultur nach dem 11. September (6.4.2) und bei der Interpretation der Folterfotos (7.2.3) schon begegnet sind. Als Vorkämpfer für Moral und Gerechtigkeit bewegt sich der gesetzesübertretende Held in einem gesetzlichen Graubereich, innerhalb dessen die moralischen Grenzen aber umso klarer gezogen sind. So greift er, wenn schon nicht zu schmutzigen Tricks, so doch zu schmutzigen Formen der Gewalt, um die Geschichte zu einem guten Ende zu bringen. Seine Devise lautet: „Der Zweck heiligt die Mittel“ – oder, um es mit den Worten von Jack Bauer, dem Held der Serie 24, zu sagen: „Whatever it takes“. Bei 28 „Photos bring our agony into focus“, The New York Times, 10. Mai 2004. 29 „Photos bring our agony into focus“
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dem klassischen „law-defying hero“, der sich zwar die Hände schmutzig macht, aber in seiner moralischen Integrität unangetastet bleibt, handelt es sich um eine ungebrochen positive Figur, der jegliche moralische Ambivalenz abgeht. Der Artikel der New York Times legt eine Übertragung der amerikanischen Heldenverehrung auf das heroische Selbstbild der Nation nahe, die von Präsident Bush als globaler Wächter der Demokratie und der Menschenwürde bezeichnet wurde. Sowohl der strahlende Superheld als auch der „law-defying hero“ weisen Parallelen zur Identität und zum Selbstbild der Vereinigten Staaten auf. Gerade die Schaffung von Guantanamo Bay als einem gesetzesfreien Raum (6.4) und die völkerrechtlich umstrittene Invasion des Iraks ohne die entsprechende Resolution des Sicherheitsrates (6.5) lassen sich als eine – ins Kollektive gewendete – Adaption des „lawdefying hero“ verstehen. Der Artikel schließt mit der Bemerkung, dass sich die Nation von den Skandalbildern aus Abu Ghraib, die so gar nicht zu ihrem Selbstbild passen wollten, fesseln ließ. Das eigentliche Gefängnis, so das Resümee, stelle aber das übersteigerte Selbstbild der Vereinigten Staaten dar. Die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib führten zu einer kognitiven Dissonanz, für die der kulturelle Rahmen der Vereinigten Staaten keinen Platz mehr bot (vgl. Mestrovic & Lorenzo 2008: 191f.). Erst der Bezug auf die bedrohte kollektive Identität lässt die heftigen Reaktionen der amerikanischen Öffentlichkeit verständlich erden. Die Identitätskrise erklärt nicht nur die öffentliche Entrüstung, sondern auch den öffentlichen Druck, der die Regierungsmitglieder dazu zwang, sich für die Missbrauchsfälle zu entschuldige. Susan Sontag brachte diese Krise mit der Feststellung „the photographs are us“ auf den Punkt.30 Ein Leser der New York Times kritisierte die Feststellung in einer fast durkheimianischen Weise: „It is not the case that the photographs of abused prisoners at Abu Ghraib are us. Rather, what truly represent this country’s values are the near-universal outrage the pictures provoked and the unselfconscious freedom with which that outrage has been aired“.31 Nicht die Akte selbst seien repräsentativ für das Land, sondern die Empörung über diese. Allerdings wird das schiere Ausmaß der Empörung nur vor dem Hintergrund einer drohenden Identitätskrise verständlich, die wiederum eine positive kollektive Identität voraussetzt. Der drohenden Identitätskrise wurde mit Hilfe von symbolischen Grenzziehungen begegnet, wie sie insbesondere in der Ausgrenzung der Täter und der Taten als „unamerikanisch“ zum Ausdruck kommen. Die Entrüstung über diese Bilder war einerseits ein Symptom der kollektiven Beunruhigung, andererseits stellte sie einen Mechanismus zur Überwindung der drohenden Identitätskrise bereit.
30 „Regarding the Torture of Others“, New York Times, 23. Mai 2004 31 „Regarding the Torture of Others. Letters to the Editor“, New York Times, 6. Juni 2004.
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8.2.2 Entschuldigungen als Techniken der nationalen Imagepflege Mit dem Bildbruch von Abu Ghraib kam es zu einem Imageproblem und einer Identitätskrise. Letztere äußerte sich in den kollektiven Gefühlen, die im Diskurs artikuliert wurden. Viele Amerikaner schämten sich für die Taten ihrer Soldaten – oder sogar dafür, selbst Amerikaner zu sein. In Leserbriefen erfolgten Entschuldigungen im Namen der Nation, und auch von den Regierungsmitgliedern wurden öffentliche Entschuldigungen gefordert. Ein gutes Beispiel für die kollektive Empörung, die mit dem Skandal einherging, lässt sich folgendem Leserbrief von Mary Bell entnehmen: „I want no one tortured in my name, not for my safety, not for democracy. The sexual humiliation of men is unholy. Every senator, member of Congress, religious leader and ordinary American should be screaming in protest“.32 Die Leserin stellt die Missbrauchsfälle als Verletzung des heiligen Kerns der amerikanischen Gesellschaft dar, der moralische Entrüstung und Wiedergutmachung zur ersten Bürgerpflicht mache. Darüber hinaus spricht sie sich explizit gegen eine staatliche Legalisierung von Folter aus – eine Frage, die wenige Tage zuvor noch in aller Selbstverständlichkeit diskutiert werden konnte. Den Repräsentanten der amerikanischen Gesellschaft hält sie vor, angesichts der Ungeheuerlichkeit von Abu Ghraib untätig zu bleiben. Schon Goffman hat darauf hingewiesen, dass jemand als Erwiderung auf eine Bedrohung des Images „Gelassenheit an den Tag legen“ kann, „während die anderen der Meinung sind, er hätte vor lauter Verlegenheit und Reue zusammenbrechen müssen“ (1991: 33). Diese hier sich auf die Interaktionsebene beziehende Beobachtung gilt erst recht für Performanzen in der Öffentlichkeit. Sowohl im Privatleben als auch in der politischen Öffentlichkeit kann man versuchen, die Beschädigung eines Images zu ignorieren und mit demonstrativer Gelassenheit auszusitzen. Da der Erfolg einer Performanz allerdings immer auch – und dies gilt in besonderem Maße für politische Performanzen – auf die Anerkennung durch andere Akteure angewiesen ist, kann der öffentliche Druck die politischen Akteure dazu bewegen, Ausgleichshandlungen zu vollziehen, um die verletzte „rituelle Interaktionsordnung“ wiederherzustellen. Die wohl wichtigste Ausgleichshandlung stellt der performative Akt des „Entschuldigens“ dar. Eine Entschuldigung ist ein möglicher Reparaturmechanismus in Interaktionen unter Anwesenden, aber auch in politischen und öffentlichen Kontexten anzutreffen (vgl. Cunningham 1999; Gibney et al. 2008). Eine Entschuldigung muss nicht in allen Fällen mit der Anerkennung von persönlicher Verantwortung und Schuld einhergehen. In ritueller Hinsicht handelt es sich bei einer Entschuldigung um eine Selbsterniedrigung (3.3.1). Eine öffentliche Entschuldigung ist ein Akt der Demut
32 „The Shame of Abu Ghraib: Voices of Revulsion“, The New York Times, 4. Mai 2004; vgl. auch die Leserbriefe von Joan Z. Greiner, Carla Seaquist und Mary Robertson sowie „Pentagon too slow to decry shameful U.S. acts in Iraq“, USA Today, 4. Mai 2004.
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durch welchen dem Opfer Anerkennung zuteilwird. In diesem Sinne stellen öffentliche Entschuldigungen Rituale der Statusumkehrung dar. Die Mächtigen lassen sich herab zu den Ohnmächtigen und bitten sie – im äußersten Fall – um Verzeihung. Viele hochrangige Mitglieder der Bush-Regierung und der Militärführung haben sich nur wenige Tage nach der Veröffentlichung der Bilder öffentlich für die Missbrauchsfälle entschuldigt.33 Condoleezza Rice, die damalige nationale Sicherheitsberaterin, verwendete bei ihrer Entschuldigung während eines Interviews mit einem arabischen Fernsehsender den Plural „we“, wodurch sie sich als Sprecherin eines Kollektivs, hier des amerikanischen Volkes, in Szene setzte. General Kimmitt, der schon die Abu-Ghraib-Bilder im amerikanischen Fernsehen kommentiert hatte (8.1.2), entschuldigte sich in Bagdad im Namen der Armee, die durch diese Vorfälle beschämt worden sei („shamed“). General Geoffrey Miller, der das Gefangenenlager in Guantanamo Bay geleitet hatte und nach den Missbrauchsfällen zum neuen Befehlshaber des Abu-Ghraib-Gefängnisses ernannte wurde, entschuldigte sich ebenfalls in Bagdad – sowohl im Namen der Nation als auch im Namen der Armee. Öffentliche Entschuldigungen dürfen automatisch als Schuldeingeständnisse aufgefasst werden – auch wenn ein Restrisiko bestehen bleibt, dass eine Entschuldigung, zumindest in Fällen, in denen eine Mitverantwortlichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, als ein Eingeständnis von persönlicher Schuld aufgefasst werden könnte. In Zeiten, in denen die kollektiven Emotionen hochkochen, wird von den Repräsentanten eines Kollektivs nicht selten ein Opfer, eine öffentliche Demonstration von Demut, verlangt. Die persönliche Schuld spielt hier eine untergeordnete Rolle: Gerade die öffentliche Entschuldigung einer „unschuldigen“ Person von hohem sozialen Rang wird in diesen Fällen besonders geschätzt. Diese zeigen wahrhafte Demut, indem sie sich freiwillig erniedrigen (3.3.1). Je größer das Opfer, desto größer der symbolische Wert einer Entschuldigung. Insbesondere in Gesellschaften mit einem christlichen Hintergrund ist es eine bekannte und anerkannte Form der Konfliktbewältigung, für die Sünden anderer symbolisch die Zeche zu zahlen. 34 Die beiden wichtigsten Akteure der amerikanischen Regierung, Präsident Bush und Verteidigungsminister Rumsfeld, folgten allerdings erst später dem Beispiel ihrer Kollegen und hatten zunächst versucht, einer direkten und eindeutigen Entschuldigung aus dem Weg zu gehen – was nicht ohne öffentliche Kritik blieb. Der 33 „Bush, on Arab TV, Denounces Abuse of Iraqi Captives“, The New York Times, 6. Mai 2004. Eine Auswahl der wichtigsten Entschuldigungen für Abu Ghraib findet sich bei Mark Gibney und Niklaus Steiner (2008: 291). 34 Eine der wirkungsvollsten Performanzen von Demut ist wohl Willy Brandts Kniefall an der Gedenkstätte der Opfer des Warschauer Ghettos. Obwohl Brandt selbst ein Widerstandskämpfer im schwedischen Exil gewesen war, vollbrachte er als deutscher Kanzler jene Geste individueller Demut und kollektiver Schuld, die ihn für das Time Magazine zum Mann des Jahres 1971 werden ließ (vgl. Schneider 2006; siehe auch 3.3.1).
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Talkmaster Keith Olbermann warf dem amerikanischen Verteidigungsminister vor, das Wort „apology“ zwar im Munde geführt zu haben, sich jedoch bei den Opfern nicht explizit entschuldigt zu haben – völlig zurecht, wie der öffentliche Auftritt von Donald Rumsfeld zeigt, der in Olbermanns Show als Videoausschnitt eingespielt wurde: „Anyone who sees the photographs does, in fact, apologize to the people who were abused. That is wrong, it shouldn’t have happened, it’s unAmerican, it’s unacceptable, and we all know that. And that apology is there to any individual who was abused“.35 Dieser Auftritt des Verteidigungsministers zeigt das performative Scheitern einer öffentlichen Entschuldigung. Seine Formulierung, dass sich jeder, der sich die Fotos ansehe, quasi schon „automatisch“ bei den Opfern entschuldigt hätte, führt die Logik des Entschuldigens ad absurdum. Eine politische Entschuldigung ist ein öffentlicher und performativer Akt, der als solcher auch anerkannt werden muss. Es stellt sich die Frage, warum Rumsfeld das Wort „apology“ wie eine heiße Kartoffel im Mund herumschob, statt sich einfach anständig zu entschuldigen. Dazu muss gesagt werden, dass eine Entschuldigung von Rumsfeld ein politisches Risiko barg, da sie womöglich als Anerkennung der Krise oder gar als ein Schuldeingeständnis aufgefasst worden wäre. Stattdessen versuchte Rumsfeld, die Empörung über die Vorfälle durch seine ausweichende Formulierung zu beschwichtigen. Noch glaubten Bush und Rumsfeld, dem aufkommenden Skandal mit Gelassenheit begegnen zu können und rechneten weder mit einem Gesichtsverlust noch mit einer Krise. „Gelassenheit“ ist nicht nur in Interaktionen unter Anwesenden eine „wichtige Technik der Imagepflege“ (Goffman 1991: 18), sondern auch in der politischen Öffentlichkeit, wo Skandale auch gerne einmal ausgesessen werden. Dabei wird, wie von Goffman beschrieben, der Zwischenfall zwar zur Kenntnis genommen, ihm aber das Potenzial für eine symbolische Bedrohung des eigenen Images abgesprochen (1991: 24). Diese Strategie, die in der Regel nur Individuen, die bestimmte Machtpositionen innehaben, zur Verfügung steht, ist – insbesondere in Demokratien – für die Machthaber nicht ungefährlich. So kann ein solches Verhalten nicht nur dem Zwischenfall unangemessen erscheinen, sondern auch als mangelnde Demut vor den Opfern und dem eigenen Volk ausgelegt werden. Rumsfeld scheiterte mit seiner „gelassenen“ Performanz allerdings schon auf der verbalen Ebene: Er verstrickte sich in Unsinnigkeiten. Rumsfeld musste sich in den ersten Tagen des Skandals mangelhaftes Krisenmanagement vorwerfen lassen – nicht nur von der Opposition oder den Medien, sondern auch vom Präsidenten selbst. So wurde er am 6. Mai von Bush öffentlich dafür gescholten, dass er ihn nicht rechtzeitig über die Fotos informiert habe. Einige Stimmen forderten daraufhin den Rücktritt Rumsfelds, aber Bush beließ es bei dieser symbolischen Bestrafung und stärkte seinem Verteidigungsminister den Rücken. Am 7. Mai übernahm Rumsfeld die volle Verantwortung für die Handhabung 35 Countdown (20:00), MSNBC, 5. Mai 2004.
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des Skandals und entschuldigte sich explizit für die Misshandlung der Gefangenen: „To those Iraqis who were mistreated by members of the U.S. armed forces, I offer my deepest apology“.36 Im Vergleich zu seiner vorangegangenen misslungenen Entschuldigung, die den Spott von Olbermann auf sich gezogen hatte, gelang ihm der performative Akt des Entschuldigens hier mit Bravour (hierzu kritisch: Gibney & Steiner 2008: 292). Seine Entschuldigung war persönlich, eindeutig und klar. Es fällt allerdings auf, dass sämtliche kollektive Referenzen fehlen. Die Entschuldigung erfolgte nicht im Namen des Volkes, auch wenn es sich bei den Tätern um amerikanische Soldaten gehandelt, und sie auch nur nur an die unmittelbaren Opfer ‒ und nicht an das irakische Volk oder gar die arabische Welt, wie dies in manchen Leserbriefen der Fall war. 37 Einerseits sendete der ehemalige Verteidigungsminister ein versöhnliches Signal, andererseits versuchte er aber auch, durch die Betonung der individuellen Täter- und Opferschaft eine Ausweitung der Krise zu verhindern. CBS berichtete, dass die amerikanischen Entschuldigungen für die Opfer der Missbrauchsfälle kaum Bedeutung besäßen. Ein Opfer der Missbrauchsfälle zweifelte sogar grundsätzlich den Sinn von Entschuldigungen an: „What good is an apology?“. Er fügte hinzu: „My dignity has been violated“ und „I can’t face my family and friends“.38 Es geht hier um einen Gesichtsverlust aufgrund einer Demütigung (3.3.3), der sich durch eine einfache Entschuldigung nicht so ohne weiteres rückgängig machen lässt. An dem Zitat wird außerdem deutlich, dass es in dem irakisch-arabischen Kontext nicht in erster Linie um die Scham und Schuld der Täter, sondern um die Schmach der Opfer geht. Nicht der Täter lädt Scham auf sich, sondern das Opfer hat sich zu schämen. Es geht nicht wirklich um die Würde des Einzelnen, sondern um den Verlust von Ehre innerhalb seiner Gemeinschaft (3.2). Die Missbrauchsfälle werden als eine Verletzung der Ehre von irakischen Männern gerahmt, die nicht durch eine Entschuldigung der Täter oder ihrer kollektive Stellvertreter gesühnt werden kann. Was hier fehlt, ist ein Mechanismus der Wiederherstellung der Ehre, für den vor allem Akte der Gewalt und der Demütigung in Frage kommen. 39 Wenn die Entschuldigungen von vielen Opfern gar nicht angenommen werden konnten, welche Funktion erfüllten sie dann? Hier muss man beachten, dass öffentliche Entschuldigungen auf ein breiteres Publikum abzielen. Letztendlich entscheidet weder der performative Akt des Entschuldigens noch die Akzeptanz des 36 Vgl. „‚My Deepest Apology‘ From Rumsfeld; ‚Nothing Less Than Tragic,‘ Says Top General“, The New York Times, 8. Mai 2004. 37 „The Shame of Abu Ghraib: Voices of Revulsion“, The New York Times, 4. Mai 2004. 38 „US apologies for treatment of Iraqi prisoners have made little difference in Middle East perceptions“, CBS Evening News (18:30), 7. Mai 2004. 39 So lässt sich der medienwirksame „Schuhwurf“ eines irakischen Journalisten auf den scheidenden amerikanischen Präsidenten im Dezember 2008 als ein Akt der Demütigung deuten, der zugleich die verletzte nationale Ehre wiederherstellen sollte.
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Adressaten über ihren Erfolg, sondern der unbeteiligte Dritte. Politische Entschuldigungen richten sich in erster Linie an die politische Öffentlichkeit. In zahllosen Artikeln und Leserbriefen wurde der Präsident dazu aufgefordert, sich im Namen der Nation bei den Opfern und dem irakischen Volk für die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib zu entschuldigen. Nur sein direkter Konkurrent um die Präsidentschaft, der Demokrat John Kerry, machte in seiner Kritik an Bush – wohlwissend um die politischen Risiken (vgl. 8.5.3) – kurz vor der Forderung nach einer Entschuldigung halt.40 Präsident Bush ließ sich für die von ihm geforderte Entschuldigung etwas länger Zeit. Bei einem Fernsehauftritt im arabischen Sender Al Arabiya, der sich in saudi-arabischer Hand und damit im Besitz von amerikanischen Verbündeten befindet, verpasste Bush die einmalige Gelegenheit, sich vor dem arabischen Publikum für die Vorfälle von Abu Ghraib zu entschuldigen: „Arabic subtitles translated excerpts of the interview, as Mr. Bush told Al Arabiya that he wanted to tell the people of the Middle East that the abuses ‚represent the actions of a few people,‘ and ‚it’s important for people to understand that in a democracy that there will be a full investigation.‘“41 Bushs Versicherung, dass die Misshandlungen in Abu Ghraib nicht repräsentativ seien und dass es eine vollständige Untersuchung der Vorfälle geben werde, wurde von dem arabischen Publikum als enttäuschend bewertet. Die New York Times zitierte eine verärgerte Stimme aus dem Publikum, die das Fehlen einer Entschuldigung bemängelte: „You call that an apology?“. Nicht nur die Amerikaner verlangten nach einer öffentlichen Entschuldigung für Abu Ghraib, auch die meisten Iraker hielten eine Entschuldigung des höchsten Repräsentanten des amerikanischen Volkes für angebracht. Möglicherweise hätte der Skandal zu diesem Zeitpunkt mit einer demütigen Entschuldigung, vielleicht sogar auf Arabisch, zu einem befriedigenden Abschluss gebracht werden können. Dies ist natürlich in hohem Maße spekulativ, aber eine starke symbolische Geste wäre mit Sicherheit auf große Resonanz gestoßen. Dies wird nicht zuletzt an einer verhältnismäßig kleinen Geste deutlich, zu der sich Bush durch den öffentlichen Druck bewegen ließ: Am 6. Mai zeigte der Talkmaster Olbermann einen Videoausschnitt, in dem sich der amerikanische Präsident anlässlich eines Besuchs beim König von Jordanien auf einer Pressekonferenz zu Abu Ghraib äußert: „I told his majesty, as plainly as I could, that wrongdoers will be brought to justice. I told him I was sorry for the humiliation suffered by the Iraqi prisoners, and the humiliation suffered by their families. I told him I was equally sorry that – that people um – have been seeing those pictures, didn’t understand the true nature and heart of America.“42 40 „Kerry Urges Bush to Voice U.S. Regret On Iraq Abuse“, The New York Times, 6. Mai 2004. 41 „Many Iraqis Are Skeptical of Bush TV Appeal“, The New York Times, 6. Mai 2004. 42 Countdown (20:00), MSNBC, 6. Mai 2004.
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Dieser Sprechakt genügt in formaler Hinsicht nur schwerlich den Bedingungen einer Entschuldigung (so auch Gibney & Steiner 2008: 290f.). Sie war, wie Olbermann bemerkte, bestenfalls der öffentliche Bericht einer privaten Entschuldigung. Außerdem hat sich der Präsident beim Staatsoberhaupt des Nachbarstaates des Iraks entschuldigt – nach Olbermann der falsche Adressat. Man könnte auch noch auf die Ambiguität des Satzes „I am sorry“ hinweisen: Dieser Satz kann eine Entschuldigung im Sinne von „I apologize“ bedeuten, aber auch als affektiv-expressiver Ausdruck des Bedauerns verstanden werden. Als Akt des Bedauerns fehlt ihm der illokutionäre Gehalt, die für eine Entschuldigung charakteristisch sind (2.3). Diese zweite Bedeutung des Wörtchens „sorry“ nimmt überhand, wenn Bush sein Bedauern gegenüber dem Verkennen des „wahren“ Amerikas kundtut. Hier verliert das Wort „sorry“ durch den Kontext seine Ambivalenz und wird zu einem rein expressiven Ausdruck ohne jeden illokutionären Gehalt. In der Anhörung vor dem Senat am 7. Mai nahm der demokratische Abgeordnete Byrd in einer Frage an den Verteidigungsminister Rumsfeld auf die Performanz von Bush Bezug: „Given the catastrophic impact that this scandal has had on the world community, how can the United States ever repair its credibility? How are we supposed to convince not only the Iraqi people, but also the rest of the world that America is indeed a liberator, and not a conqueror, not an arrogant power? Is the presidential apology to the king of Jordan sufficient?“43
Nicht nur Olbermann und Demokraten, sondern auch der – politisch rechts außen zu verortende – Radiomoderator Rush Limbaugh stellte (wenn auch aus anderen Motiven) in Frage, dass es sich bei der besagten Äußerung um eine richtige Entschuldigung gehandelt habe. Formal betrachtet ist sie nicht einmal der Bericht einer Entschuldigung, da die Gleichsetzung („equally sorry“) des bedauerlichen Verkennens mit der Reaktion auf die Missbrauchsfälle eine Interpretation der Äußerung als Entschuldigung ausschließt. Diesen Bedenken zum Trotz wurde Bushs ambivalentes „I am sorry“, das erst auf öffentlichen Druck zustande gekommen war, im amerikanischen Diskurs weithin als öffentliche Entschuldigung rezipiert und akzeptiert. So begrüßte der republikanische Senator John McCain die mutmaßliche Entschuldigung des Präsidenten, wobei er Bush gleichzeitig dafür kritisierte, dass sie erst so spät gekommen sei.44 In Verbindung mit McCains Kritik wirkte die Adelung der Äußerung zur Entschuldigung umso glaubwürdiger. Und auch Colin Powell interpretierte im Vorfeld seiner eigenen Entschuldigung in Jordanien die Äußerung von Bush als eine öffentliche Entschuldigung im Namen der Nation: „The president has 43 „Testimony before Senate Armed Services Committee on Iraqi prison abuse“, CBS News Special Report, 7. Mai 2004. 44 „Prisoner Abuse Scandal Puts McCain in Spotlight Once Again“, The New York Times, 10. Mai 2004.
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expressed an apology on behalf of the nation. I will reinforce that apology“ (zitiert nach Gibney & Steiner 2008: 293). Trotz der sprachlichen Unschärfe und einiger kritischer Stimmen wurde die Entschuldigung des Präsidenten im amerikanischen Diskurs anerkannt und wohlwollend aufgenommen. Noch Jahre später erinnerte man sich an diese Äußerung als einer – in vielerlei Hinsicht merkwürdigen – Entschuldigung des Präsidenten für Abu Ghraib vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Öffentliche Entschuldigungen beschränkten sich indes nicht nur auf Leserbriefe und das politische Führungspersonal. Einen Monat nach dem Ausbruch des Skandals gab es von amerikanischer Seite eine weitere kollektive Entschuldigung für die Missbrauchsfälle. Diese ging von fünf religiösen Führern verschiedener Glaubensrichtungen aus, unter ihnen auch ein muslimischer Geistlicher, und wurde als Werbespot über die arabischen Sender Al Jazeera und Al Arabiya ausgestrahlt.45 Insbesondere die Beteiligung des muslimischen Geistigen ist hier bedeutend, da sie die Dichotomie zwischen christlichem Westen und der muslimischen Welt unterläuft. Auch die Mehrheit der Täter von Abu Ghraib nutzte ihre Verhandlung vor Gericht, um sich öffentlich bei ihren Opfern zu entschuldigen, worüber dann in den Medien berichtet wurde. Diese inflationäre Praxis des öffentlichen Entschuldigens wurde auch zum Gegenstand einer Kulturkritik, überwiegend bei Kommentatoren der Washington Post.46 Dort diagnostizierte man eine „culture of apology“, die öffentliche Entschuldigungen zu einer unverbindlichen Geste verkommen lasse und in ihrem Sinn entleere.47 Einer solchen Kritik, mag sie in vielerlei Hinsicht auch berechtigt erscheinen, kann man entgegenhalten, dass öffentliche Entschuldigungen für politische Akteure offensichtlich mit Kosten und Risiken verbunden sind.48 Der Fall Abu Ghraib zeigt, dass sich Donald Rumsfeld und George W. Bush tagelang gegen eine öffentliche Entschuldigung gesträubt hatten. Erst der steigende öffentliche Druck drängte sie zu einer Entschuldigung – was nicht nötig gewesen wäre, wenn mit einer Entschuldigung keine symbolischen Kosten verbunden gewesen wären. 45 „U.S. Religious Figures Offer Abuse Apology on Arab TV“, The New York Times, 11. Juni 2004; „A Muslim in the Middle Hopes Against Hope“, 23. Juni 2004. 46 „A Sorry State; The Artlessness Of the Apology“, The Washington Post, 9. Mai 2004; „Mea Maxima Culpa“, 18. Mai 2004; „You Call That an Apology?“, 3. Juli 2005. 47 Eine jüngere Publikation führt gar den Titel „Age of Apology“ (Gibney et al. 2008). Sie thematisiert, dass staatliche und nichtstaatliche Akteure gegenüber anderen Nationen oder benachteiligten Gruppen immer häufiger zum Akt der öffentlichen Entschuldigung greifen. Auch wenn diese Entwicklung in den meisten Einzelbeiträgen als moralischer Fortschritt aufgefasst wird, beklagen gerade die Autoren des Beitrags über Entschuldigungen im Krieg gegen den Terror die Instrumentalisierung und Entwertung öffentlicher Entschuldigungen durch die amerikanische Regierung (Gibney & Steiner 2008: 297). 48 Dies zeigt nicht zuletzt auch die Kritik, die Brandt nach seinem Kniefall aus weiten Teilen der deutschen Presse entgegenschlug (vgl. Schneider 2006).
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8.2.3 Rücktrittforderungen an Rumsfeld – „Watergate“ und „Vietnam“ Schon in den ersten Tagen des Skandals wurden Rücktrittsforderungen gegenüber Rumsfeld laut, gegen die er jedoch von Präsident Bush in Schutz genommen wurde. In seiner Anhörung vor dem Senat wurde er nach einem möglichen Rücktritt gefragt, wehrte sich aber gegen solche Forderungen mit der Begründung, dass ein Rücktritt in Anbetracht der Umstände überzogen sei und nur seine politischen Gegner zufrieden stellen würde. Rumsfeld zufolge gehörten die Forderungen nach seinem Rücktritt zum alltäglichen politischen Geschäft, wobei er seinen politischen Gegnern unlautere und damit auch unzivile Motive unterstellte. Mit seiner Performanz vor dem Senat gelang es ihm allerdings, den Eindruck zu vermitteln, dass er einen Rücktritt ernsthaft in Erwägung gezogen habe. Als er während der Anhörung von einem Abgeordneten gefragt wurde, ob sein Rücktritt nicht dazu beitragen könne, zu demonstrieren, dass die Amerikaner die Situation ernst nähmen, wurde dies von ihm nicht abgestritten. Er erklärte sich vielmehr dazu bereit, einen solchen Schritt zu vollziehen, wenn es denn zum Wohle des Landes sei. Bei Rumsfelds öffentlicher Entschuldigung und seiner erklärten Bereitschaft zum Rücktritt handelte es sich um Performanzen von Demut, die man von ihm so nicht erwartet hätte, ihm aber dafür umso höher anrechnete. So kommentiert David Martin von CBS den Auftritt des Ex-Verteidigungsministers mit den folgenden Worten: „In three years as secretary of Defense, Rumsfeld has never been called humble, but he was this time“.49 Die Tatsache, dass es Rumsfeld gelang, sich als demütigen Diener des amerikanischen Volkes in Szene zu setzen, war für den weiteren Verlauf des Skandals von großer Bedeutung. Durch Demut signalisiert ein Individuum, dass es bereit ist, über seinen Schatten zu springen und sich den kollektiv geteilten höheren Werten zu unterwerfen (3.3.1). Eine erfolgreiche Performanz von Demut erzwingt die Zuordnung einer Handlung oder Person zur positiven Seite des zivilgesellschaftlichen Codes. Wer rechtzeitig und überzeugend Demut zeigt, darf die Rolle des kollektiven Repräsentanten weiterspielen. Seinen Kritikern wird hingegen vorgeworfen, dass sie sich am Allgemeinwohl versündigen. Nicht nur die demütige Performanz, sondern auch Rumsfelds Abwehr von Rücktrittsforderungen lässt sich als sozialer Mechanismus der Krisenbewältigung begreifen. Dennoch wäre ein vollzogener Rücktritt als höchste Demutsbezeugung ebenfalls eine Handlungsoption gewesen, deren Folgen sich allerdings kaum abschätzen lassen. Rumsfelds Rücktritt wäre ein angemessenes Opfer zur Besänftigung der kollektiven Gefühle gewesen, das die Debatte um Abu Ghraib möglicherweise beendet und damit einige Konsequenzen des Skandals verhindert hätte. Allerdings hätte eine solche Geste das Ausmaß der Krise auch noch weiter steigern
49 „Donald Rumsfeld testifies before Congress regarding the Iraqi prisoner abuse scandal“, The Saturday Early Show (7:00), CBS, 8. Mai 2004.
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können. So hätte sein Rücktritt nicht zuletzt als ein Zeichen politischer Schwäche gedeutet und den Weg für Kritik am Präsidenten freimachen können. Der amtierende Verteidigungsminister fungierte als Puffer, der eine etwaige symbolische Ansteckung des Präsidenten durch den Skandal verhindern und gegebenenfalls die Schuld auf sich nehmen konnte. Das mit einem Rücktritt verbundene Risiko wollte die amtierende Regierung im Jahr der Präsidentschaftswahlen sicherlich nicht eingehen. Die öffentliche Meinung, wie sie durch die Umfragen von Medienkonzernen und Meinungsforschungsinstituten abgebildet, oder besser: gebildet wurde, gab der Regierung in diesem Punkt recht. In einer Umfrage der Washington Post und des Senders ABC sprachen sich mehr als zwei Drittel der Befragten gegen einen Rücktritt von Rumsfeld aus, wobei allerdings nur 48% der Befragten mit der Handhabung des Skandals durch den Präsidenten zufrieden waren.50 Zu einem fast identischen Ergebnis kam auch eine Umfrage von CNN und USA Today, wo sich eine Zweidrittelmehrheit gegen und nur ein Drittel für einen Rücktritt von Rumsfeld ausgesprochen hatte.51 Auch eine Studie des National Annenberg Election Survey von der University of Pennsylvania kam bei über tausend Befragten zu demselben Befund.52 Darüber hinaus kam diese Studie zu dem Schluss, dass 47% der Befragten glaubten, dass die beschuldigten Soldaten auf eigene Faust gehandelt hätten, während nur 31% davon überzeugt waren, dass sie bei den Misshandlungen einem Befehl gefolgt seien. Allerdings waren mehr als die Hälfte der Befragten der Überzeugung, dass das Pentagon versucht habe, die Vorfälle zu vertuschen. Wir sehen, dass sich sich in der Rücktrittsfrage ein Konsens etablierte, während andere Fragen, beispielsweise die Handhabung des Skandals durch den Präsidenten oder die Rolle des Pentagon, im öffentlichen Diskurs strittig blieben. Diese diskursiven Gräben verliefen allerdings im Wesentlichen entlang der Parteigrenzen, so dass die öffentliche Auseinandersetzung als politischer Konflikt gerahmt werden konnte und nicht als Wertedebatte gesehen wurde. Allerdings wurden auch weiterhin öffentliche Rücktrittsforderungen an Rumsfeld gerichtet – mit mäßigem Erfolg. Sie verstummten erst im August 2004, als Rumsfeld vom Bericht der unabhängigen Untersuchungskommission entlastet wurde (vgl. Schlesinger 2005/2004). Pikanterweise wurde die Kommission von Rumsfeld selbst einberufen. Sie war aber so hochkarätig besetzt, dass ihre Unparteilichkeit und Autorität nicht in Frage gestellt wurde. Der Vorsitzende der Kommission, der ehemalige Verteidigungsminister James Schlesinger, kreidete Rumsfeld zwar Fehler und Versäumnisse an, nahm ihn aber gegenüber den Rücktrittsforderungen ausdrücklich in Schutz. 50 „Most Want Rumsfeld to Stay, Poll Finds“, The Washington Post, 8. Mai 2004. 51 „Bush Backs Rumsfeld; Will Prisoner Abuse Scandal Affect November Election?“, CNN Wolf Blitzer Reports (17:00), 10. Mai 2004. 52 „President Backs his Defense Chief in Show of Unity“, The New York Times, 11. Mai, 2004.
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Zwei Jahre später, nach Rumsfelds Rücktritt infolge der republikanischen Niederlage bei den Kongresswahlen (9.5), kritisierte die Washington Post die damalige Rücktrittsmöglichkeit als eine verpasste Chance: „The Bush administration could have done far more to neutralize the damage from its abuse of detainees: After the publication of those images from Abu Ghraib, Donald Rumsfeld should have resigned, countering a dramatic disgrace with an equally dramatic demonstration of contrition“.53 Gerade das Opfer eines „unschuldigen“ Verteidigungsministers wäre den Vereinigten Staaten hoch angerechnet worden. Als symbolische Geste, die das Erforderliche übertroffen hätte, wäre sie eine entschlossene und adäquate Reaktion auf den durch die Abu-Ghraib-Bilder hervorgerufenen Imageschaden gewesen. Vermutlich hätte Rumsfeld mit einem dramatischen Abgang seinem Land einen größeren Dienst erwiesen als in den ihm verbleibenden zwei Dienstjahren. Aber die Interessen einer Partei sind nicht immer identisch mit denen des Landes – auch wenn dies in Wahlkämpfen gerne behauptet wird. Bei den öffentlichen Entschuldigungen und Rücktritten handelt es sich um makrosoziale Techniken der Imagepflege und Mechanismen der Bewältigung von Skandalen. In unserem Fall waren sie allerdings nicht die einzigen Handlungsoptionen, die eine Einhegung der Krise und Beilegung des Konflikts in Aussicht stellten. Auch das Versprechen der lückenlosen Aufklärung und Bestrafung der Schuldigen können unter dem Aspekt der Imagepflege betrachtet werden. Vielen ging die politische und symbolische Reaktion auf Abu Ghraib nicht weit genug – selbst im republikanischen Lager. So war McCain der Meinung, dass Abu Ghraib als Geste gegenüber der arabischen Welt geschleift werden sollte. Die Bush-Regierung weigerte sich aber, weitere Konzessionen zu machen. Zwei Jahre vergingen, das Gefängnis der Kontrolle der irakischen Regierung übergeben wurde. Vielen Beobachtern ging der erklärte Wille der Regierung zur Aufklärung der Vorfälle nicht weit genug. Einige Kommentatoren stellten das Verhalten der Regierung als „autoritär“ und „geheimniskrämerisch“ dar, wodurch diese mit der repressiven Seite des Codes der Zivilgesellschaft assoziiert wurde: „No administration since Nixon has been so insistent that it has the right to operate without oversight or accountability, and no administration since Nixon has shown itself to be so little deserving of that trust“.54 Dieses Misstrauen war nicht ganz unberechtigt. So waren den Abgeordneten und Senatoren über 2.000 Seiten aus der vollständigen Version des Taguba-Reports vorenthalten worden.55 Dies stellte nur die erste Parallele zur Präsidentschaft von Nixon dar, der seit der Watergate-Affäre als Prototyp eines repressiven und unreinen amerikanischen Präsidenten gilt (vgl. Alexander 1993). So 53 „Answering the Challenges of Lofty Rhetoric“, The Washington Post, 19. Juni 2006. 54 „Just Trust Us“, New York Times, 11. Mai 2004. 55 „Abu Ghraib, Stonewalled“, The New York Times, 30. Juni 2004; „Abu Ghraib, Whitewashed“, 24. Juli 2004.
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hofften einige liberale Kommentatoren, dass die digitalen Kameras von Abu Ghraib das Schicksal von Bush in derselben Weise besiegeln würden, wie dies der Kassettenrekorder im Fall Nixon getan hatte. Im Rückblick zeigen sich weitere erstaunliche Parallelen zwischen der Watergate-Affäre und dem Abu-Ghraib-Skandal: Beide Präsidenten überstanden den Ausbruch des jeweiligen Skandals und gewannen die anstehende Wiederwahl; in ihrer zweiten Amtszeit wurden sie jedoch beide von den Spätfolgen des jeweiligen Skandals heimgesucht. Dennoch gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die Bänder, die das Schicksal von Bush hätten besiegeln können, tauchten nie auf. Sie waren nämlich bereits im November 2005 zerstört worden. Wenn diese Videobänder, welche das Verhör von zwei Al-Quaida-Mitgliedern durch die CIA zeigten, oder auch deren willentliche Zerstörung frühzeitig ans Licht der Öffentlichkeit gelangt wären, hätte dies zu einem Amtsenthebungsverfahren führen können.56 Die Zerstörung der Aufnahmen durch die CIA und die Regierung lassen darauf schließen, dass in den Verhören Techniken zur Anwendung kamen, die der „gesunde Menschenverstand“ als Folter bezeichnen würde. Ein weiterer Referenzrahmen für den Abu-Ghraib-Skandal stellt der Vietnamkrieg dar (vgl. 6.2). So sprach ein ehemaliger Botschafter der Vereinigten Staaten, Richard Holbrooke, von Abu Ghraib als dem „most serious setback for the American military since Vietnam“.57 Auch auf Seiten der Republikaner wurde diese Verbindung gezogen. Der amerikanische Außenminister Colin Powell auf Parallelen zwischen den Missbrauchsfälle in Abu Ghraib und dem My-Lai-Massaker hin (vgl. 6.2.2). Allerdings gab es auch Stimmen, die sich einen solchen Vergleich mit der Begründung verbaten, dass die Vorfälle in Abu Ghraib – im Gegensatz zu My Lai – nicht auf eine Überforderung von Soldaten in Gefechtssituationen zurückzuführen seien (worüber sich sicherlich streiten ließe), sondern aus der Verachtung der amerikanischen Regierung für Gesetze und Regeln resultierten. Diese Meinung war jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht mehrheitsfähig und konnte sich erst in der mittleren (9.1) und späten Phase des Skandals (10.1) durchsetzen. Senator McCain ermahnte die Regierung zu rücksichtsloser Aufklärung der Vorfälle, da er befürchtete, dass ansonsten die Einstellung der Amerikaner zum Irakkrieg, wie zuvor im Falle Vietnam, ins Negative umschlagen könnte. Die Rolle von Seymour Hersh in der Enthüllung des Skandals legte ebenfalls die Assoziation mit Vietnam nahe. Die Vorfälle von Abu Ghraib wurden vom links-liberalen Flügel vor dem Hintergrund des Tätertraumas des Vietnamkriegs wahrgenommen. Oder, um es mit den unnachahmlichen Worten des Kommentators Frank Rich zu sagen: „JUST when you’ve persuaded yourself yet again that this isn’t Vietnam, you are hit by another acid flashback“.58 56 „Bush Lawyers Discussed Fate Of C.I.A. Tapes“, The New York Times, 19. Dezember 2007. 57 „They’ve Apologized. Now What?“, The New York Times, 9. Mai 2004. 58 „The War‘s Lost Weekend“, The New York Times, 9. Mai 2004.
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8.3 S OZIALE S PALTUNG ? – DISKURSHEGEMONIE UND G EGENDISKURSE Liberalism and Conservatism are anything but monolithic. GEORGE LAKOFF, VARIETIES OF LIBERALS AND CONSERVATIVES (2006: 283)
Wir haben gesehen, dass sich schon in den ersten Tagen des Skandals eine relativ einheitliche öffentliche Meinung zu den Missbrauchsfällen herausbildete. Schon früh kam man darin überein, dass die Vorwürfe, nicht zuletzt wegen ihrer Gefahr für das Image der Vereinigten Staaten, ernst zu nehmen und restlos aufzuklären seien. Des Weiteren bestand ein Konsens darüber, dass es zu symbolischen Ausgleichshandlungen kommen müsse, wenn auch die Art und das Ausmaß dieser Korrektivhandlungen durchaus umstritten blieben. Die öffentlichen Akte des Bedauerns und das Versprechen, die Täter zu bestrafen, machten hier nur den Anfang. Die öffentlichen Entschuldigungen und Anhörungen hochrangiger Militär- und Regierungsmitglieder steigerten den symbolischen Einsatz noch einmal. Allerdings blieb es im Fall Rumsfeld bei Rücktrittsforderungen – erst nach den desaströsen Kongresswahlen von 2006 musste der Verteidigungsminister seinen Platz räumen (9.5). Trotz dieser Übereinstimmung im hegemonialen Diskurs treten, vor allem was die Zuschreibung von Ursachen und Verantwortlichkeiten anbelangt, Differenzen zwischen dem konservativen und dem liberalen Diskurs zu Tage. Die unterschiedliche Rahmung der Abu-Ghraib-Missbrauchsfälle spiegelt im Wesentlichen die kulturellen Prinzipien und Schlüsselmetaphern wieder, die Lakoff (2006) in seinem Buch über moralische Politik in den Vereinigten Staaten herausgearbeitet hat. Die folgende Analyse des Diskurses kann deswegen auch als Validierung seiner Theorie gelesen werden (vgl. 4.3.2). Lakoff zufolge interpretieren Konservative und Liberale den gemeinsamen Code der zivilen Sphäre unterschiedlich, da sie grundverschiedene Familienvorstellungen besitzen, die sie auf das Verhältnis von Staat und Bürger projizieren. Die Unterschiede im sozialen und politischen Imaginären gehen mit unterschiedlichen Moralvorstellungen einher. Im konservativen Diskurs spielen Konzepte wie Charakter oder moralische Verderbtheit („moral corruption“) für die Rahmung und Erklärung abweichenden Verhaltens eine große Rolle, während im liberalen Diskurssozialen Faktoren eine sehr viel größere Rolle zugestanden wird. Trotzdem kann angesichts der allgemeinen Empörung über die Missbrauchsfälle und der einmütigen Forderung nach einer harten Bestrafung der Täter von einem relativ einheitlichen, hegemonialen Diskurs gesprochen werden, der in wesentlichen Punkten mit der Rahmung der Vorfälle durch die Bush-Administration konvergiert. Diese Konvergenz kam erst dadurch zu Stande, dass sich die Bush-Administration, wie an der öffentlichen Performanz von Entschuldigungen ersichtlich wurde (8.2.2),
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dem Druck der Öffentlichkeit beugte. Im Folgenden soll der hegemoniale Diskurs und sein beherrschendes Narrativ in erster Linie an den Äußerungen konservativer politischer Akteure verdeutlicht werden (8.3.1), obwohl im diskursiven Mainstream neben dem konservativen Flügel auch ein liberaler Flügel existierte. Dem hegemonialen Diskurs steht allerdings auch ein links-liberaler (8.3.2) und ein rechtskonservativer Diskurs (8.3.3) gegenüber, die beide in wesentlichen Punkten von der Hegemonie der öffentlichen Meinung abweichen. Konträr zum hegemonialen Diskurs verläuft außerdem das Narrativ der Täter und ihrer Anwälte vor Gericht. Diesem „low-mimesis“-Narrativ zufolge hätten die Soldaten von Abu Ghraib aufgrund von Befehlen gehandelt: „just following orders“ war die von der Verteidigung ausgegebene Devise. Die Täter seien selbst Opfer, „Sündenböcke“, die nun stellvertretend für ihre Befehlsgeber büßen müssten. Das Sündenbock-Argument wurde erstmals von den Anwälten der angeklagten Soldaten verwendet, die argumentierten, dass ihre Mandanten nur Befehle befolgt hätten. General Janis Karpinski, die zur Zeit der Missbrauchsfälle das Oberkommando über alle amerikanischen Gefängnisse im Irak innegehabt hatte, aber von ihrem Posten entbunden wurde, als die Untersuchung der Vorfälle begann, verteidigte sich und ihre Soldaten ebenfalls mit dem Vorwurf, dass man selbst nun als Sündenbock für die Fehler der militärischen und politischen Führung zu büßen habe. Auch der liberale Diskurs sollte sich dieses Arguments bedienen – allerdings mit einem weitreichenden Unterschied: Wenn Liberale im öffentlichen Diskurs von den Soldaten als „Sündenböcken“ sprachen, so implizierten sie damit nicht, dass diese unschuldig seien, sondern nur, dass diese nicht die alleinige Verantwortung für den Gefangenenmissbrauch trügen. Es waren vor allem die Bilder von Abu Ghraib, die das Narrativ der Verteidigung unterliefen. Die ausgelassene und selbstgerechte Selbstdarstellung der Soldaten auf den Fotos ließ die Behauptung der Verteidigung, dass hier lediglich auf Befehl gehandelt worden sei, fragwürdig erscheinen. 8.3.1 Konservativ-hegemonialer Diskurs – Das „bad-apple“-Narrativ Was die Haltung der meisten Konservativen von der Haltung vieler Liberaler unterschied war nicht die moralische Verurteilung der Täter von Abu Ghraib (die von den Liberalen geteilt wurde), sondern ihre Neigung, die moralische Korruption der Täter zur wichtigsten Ursache der Missbrauchsfälle zu erklären. Diese Position wurde insbesondere von der Bush-Regierung und der US-Armee vertreten, aber auch in weiten Teilen des konservativen Mediendiskurses. Als General Kimmitt in jener Show, in der die Fotos erstmals gezeigt worden waren (8.1.2), interviewt wurde, wies er auf die individuelle Verantwortlichkeit der Soldaten und die Immoralität ihrer Akte hin: „I’m not going to stand up here and make excuses for those soldiers, […] if what they did is proven in a court of law, that is incompatible with the values we stand for as a professional military force, and it’s values that we don’t stand for
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as human beings“.59 Die Äußerung des Generals lässt sich in drei Aussagen gliedern: Erstens unterliegen auch die Täter von Abu Ghraib zunächst einmal der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung; zweitens liegt die Schuld, wenn diese einmal erwiesen ist, bei der jeweiligen Einzelperson; drittens geht mit dieser Schuld ein symbolischer Ausschluss aus der amerikanischen Armee einher, die universellen Werten der Menschlichkeit verpflichtet sei. Die Unschuldsvermutung hatte im hegemonialen Diskurs nicht lange Bestand – zu erdrückend war die Beweislast der Bilder, zu einhellig die Empörung über das, was auf ihnen zu sehen war. Nach dem Ausbruch des Skandals forcierten Armee wie auch Regierung eine schnelle und harte Bestrafung der Angeklagten (8.4.1). Die Verortung der Schuld bei dem einzelnen Täter wie auch das Festhalten an der Unschuld der Armee als Institution war eine zentrale Maxime des konservativen Diskurses. Kimmitt rahmte die Vorfälle als schwarzen Tag für die Armee und damit als Tragödie. Die weiße Weste der amerikanischen Armee, dem kollektiven Helden dieses Narrativs, sei durch die Taten einiger weniger befleckt und die Institution als solche ungerechtfertigt in Verruf gebracht worden. Abu Ghraib durfte ihm zufolge auch nicht in eine nationale Identitätskrise führen, sondern musste als vorübergehendes Imageproblem aufgefasst werden. Die symbolische Exklusion der Soldaten und die wiederholte Referenz auf die eigenen Werte dienten dazu, der drohenden Krise aus dem Weg zu gehen und dabei die soziale Einheit auf der symbolischen Ebene wiederherzustellen. Die drohende Verunreinigung der Armee, die Kimmitt hier abzuwehren versuchte, bedrohte auch die amerikanische Nation als Ganzes. So wie der Armee eine symbolische Ansteckung drohte, da die Angeklagten in ihren Reihen tätig waren, repräsentierten die Täter auch das amerikanische Volk. Soldaten haben in ihrer institutionellen Rolle, ähnlich wie politische Amtsinhaber, ein Kollektiv zu repräsentieren und sind darum in letzter Instanz der zivilen Sphäre verpflichtet. Dies gilt in besonderem Maße für die Vereinigten Staaten, wo die Armee ein großes Ansehen und einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert besitzt. Die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib konnten daher nicht als einfache kriminelle Handlungen gerahmt werden – genauso wenig, wie dies nach den Anschlägen vom 11. September 2001 möglich gewesen war (6.4). Gerade aufgrund der „Unreinheit“ der Bilder konnten die Vorfälle in Abu Ghraib ein großes symbolisches Potenzial entwickeln, das alles zu beschmutzen drohte, was mit ihnen in Verbindung stand oder in Berührung kam: die Kameraden, die Armee, die Regierung, ja sogar die Nation als Ganzes. Auf der einen Seite machte dies Korrektivhandlungen wie die öffentlichen Entschuldigungen erforderlich, auf der anderen Seite versuchte man, die symbolische Verschmutzung auf die Täter, die auf den Fotografien zu sehen waren, zu konzentrieren. Die erstmalige Verwendung des Ausdrucks „a few bad apples“ im Kontext der Enthüllungen von Abu Ghraib wurde in einigen Zeitungsartikeln dem Verteidi59 „G.I.’s Are Accused of Abusing Iraqi Captives“, The New York Times, 29. April 2004.
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gungsminister Rumsfeld, in anderen Artikeln seinem Stellvertreter Paul Wolfowitz zugeschrieben. Fakt ist, dass diese Metapher schon unmittelbar nach der Enthüllung des Skandals in einschlägigen Artikeln auftauchte und auch von anderen Diskursteilnehmern verwendet wurde, um die Missbrauchsfälle zu charakterisieren. Lakoff (2006) weist in seiner Studie zu den moralischen Grundlagen der amerikanischen Politik dezidiert auf die Bedeutung des „verfaulten Apfels“ als einer Metapher des konservativen Denkens hin. Diese zielt in erster Linie auf die Gefahr der Ansteckung durch moralische Verderbtheit: „A rotten apple spoils the barrel“ (2006: 92). Diese Metapher ist im Rahmen dieser Studie von zweifacher Bedeutung. Einerseits gibt sie die Rahmung des Skandals durch die Konservativen und das Militär prägnant wieder, so dass im Folgenden auch dort vom Bad-Apple-Narrativ die Rede sein soll, wo die Metapher nicht explizit verwendet wurde. So machte Präsident Bush in einer religiös gestimmten Rede vor einem konservativen Publikum die Charakterfehler einzelner Soldaten („failures of character“) für die Missbrauchsfälle verantwortlich, weswegen der Skandal auch die Ehre („honor“) der amerikanischen Truppen als solche unangetastet lasse und auch ihre Erfolge im Irak nicht zunichtemachen könne.60 Andererseits wurde die Bad-Apple-Metapher in den folgenden Jahren auch immer wieder von liberalen Kritikern verwendet, die sich über die konservative Verharmlosung des Skandals lustig machten. Interessanterweise nahm die kritische Verwendung des Begriffes „bad apple“, der immer stärker mit Donald Rumsfeld assoziiert wurde, in der mittleren und späten Phase des Skandals zu. Im linken Flügel des hegemonialen Diskurses trat der Vorwurf, dass die politische und militärische Befehlskette ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen sei, an die Seite, aber nicht an die Stelle des Bad-Apple-Narratives. Diese Erweiterung entspricht den Konzepten von „care“ und „nurture“, denen Lakoff (2006: 108-140) eine Schlüsselstellung im liberalen Diskurs zuweist. Die Liberalen gingen damit einen Schritt über das Bad-Apple-Narrativ hinaus: Die Soldaten seien als Kinder der Nation von ihren Vorgesetzten nicht ausreichend beaufsichtigt und kontrolliert worden, weswegen auch diese Verantwortung übernehmen müssten. Allerdings wurde hier der Militärführung und der Regierung noch keine ursächliche Rolle zugesprochen – anders als im links-liberalen Gegendiskurs (6.3.2). Das Bad-Apple-Narrativ dominierte den konservativen Diskurs bis zu der Wiederwahl von George W. Bush und dem Beginn seiner zweiten Amtszeit. In der Auseinandersetzung mit den Memoranda der Regierung bekam diese Rahmung der Vorfälle eine ernst zu nehmende Konkurrenz durch das Weak-Leadership-Narrativ, das ebenfalls an grundlegende Prinzipien der konservativen Moral anknüpfte (vgl. Lakoff 2006: 65-107): Soldaten seien gegenüber Armee und Regierung genauso zum Gehorsam verpflichtet wie die Kinder gegenüber ihren Eltern. Dafür stünden 60 „Bush, at a Commencement, Hails ‚Honor‘ of U.S. Troops in Iraq“, The New York Times,15. Mai 2004.
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allerdings der Vater der Familie, die Regierung des Staates und die Führung der Armee in der Pflicht, für klare Regeln zu sorgen. Während sich die bisherige Kritik an der Befehlskette auf eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht beschränkte, gingen die Vertreter des Weak-Leadership-Narratives noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie der regelsetzenden Autorität eine ursächliche Mitschuld zuschrieben. Nach der Wiederwahl von Bush wurden die berüchtigten Memoranda von wertkonservativen Republikanern als ein Versagen der Regierung interpretiert, für klare und eindeutige Regeln im Umgang mit Gefangenen zu sorgen. Der BushAdministration wurde vorgeworfen, durch die Aufweichung des Folterverbotes sowie durch die Nichtanwendung der Genfer Konventionen in Guantanamo und Afghanistan auch in den irakischen Gefängnissen eine Situation der Unsicherheit in Bezug auf die Geltung der Regeln herbeigeführt zu haben. Zunächst wurde dieses Narrativ nur herangezogen, um die Durchsetzung des McCain-Amendments zu begründen (9.2). Nach der Wahl Obamas Ende 2008 wurde der scheidenden Regierung in einem überparteilichen Bericht des Verteidigungsausschusses mit Hilfe des Weak-Leadership-Narratives eine ursächliche Teilschuld an den Missbrauchsfällen zugesprochen (10.1). Damit hatte sich das Bad-Apple-Narrativ zur Rahmung von Abu Ghraib auch auf konservativer Seite erledigt. 8.3.2 Links-liberaler Gegendiskurs – Hersh, Zimbardo und Sontag Im liberalen Gegendiskurs kritisierte man die Rahmung der Vorfälle durch Armee und Regierung als „scapegoating“ – ohne davon auf die Unschuld der vermeintlichen Täter zu schließen. Man hatte schließlich nicht lange nach geeigneten Sündenböcken suchen müssen, da sich die Täter schon durch ihre Fotografien unvorteilhaft präsentiert und moralisch diskreditiert hatten. Der liberale Gegendiskurs wurde in erster Linie von den linken Intellektuellen und Journalisten getragen, denen an einer Ausweitung der Schuldfrage gelegen war. Im Folgenden sollen drei repräsentative Narrative des liberalen Gegendiskurses diskutiert werden: im ersten wurde vor allem auf den institutionellen Kontext, im zweiten auf die soziale Dynamik, und im dritten auf den kulturellen Rahmen der Missbrauchsfälle hingewiesen. Der Journalist Seymour Hersh begann seine Recherchen, als in den amerikanischen Medien die ersten Berichte über die Missbrauchsfälle erschienen. Hersh veröffentlichte mehrere Skandalfotografien und eine Serie einflussreicher Artikel im New Yorker. 61 Hersh arbeitete schon seit längerem an der „story“ und konnte auf vertrauliche Quellen zurückgreifen (8.1.1), die ihm neben den Fotos auch den internen Untersuchungsbericht der Armee von General Taguba (2005/2004), zukommen ließen. Der erste Artikel von Hersh, der am 30. April im Internet und am 10. Mai in 61 Hersh, Seymour M.: „Torture at Abu Ghraib. American soldiers brutalized Iraqis. How far up does the responsibility go?“, The New Yorker, 10. Mai 2004; „Chain of Command“,17. Mai; „Grey Zone“, 24. Mai.
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der Printausgabe des New Yorkers erschien, sparte nicht an harten Worten für General Karpinski. Die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib wurden ihr, der Oberbefehlshaberin aller amerikanischen Gefängnisse im Irak, als persönliches Versagen angelastet. Hersh kritisierte auch den ranghöchsten angeklagten Soldaten, Sergeant Frederick, und dessen Verteidigung, wonach die Täter von Abu Ghraib nur auf Befehl ihrer Vorgesetzen gehandelt hätten, als unglaubwürdig und eigennützig. Entscheidend war, dass Hersh (im Gegensatz zu anderen Kritikern) an der individuellen Schuld der unmittelbar Beteiligten unbeirrt festhielt. Hersh stützte sich in seinem Artikel auf den Taguba-Report, in dem von systematischen Problemen in Abu Ghraib die Rede war und in dem nicht nur Vorwürfe gegen die Führung der Armee, sondern auch gegen Mitarbeiter des Militärgeheimdienstes und die Angestellten von Sicherheitsfirmen, die sich an der Misshandlung von Gefangenen beteiligt haben sollen, erhoben wurden (Taguba 2005/2004: 416-419). Hersh sprach sich, wie Taguba, dafür aus, dass neben den beteiligten Soldaten als auch Offiziere für die Missbrauchsfälle zur Verantwortung zu ziehen seien. Der Bericht von Taguba, der sich in seiner Untersuchung auf die untersten Führungsebenen beschränken musste, legte darüber hinaus nahe, dass die Verantwortung für die Vorfälle bis in die höchste Führungsebene reichte. Diesem Wink folgte Hersh in zwei weiteren Artikeln, in denen auf die zwischenzeitlich durchgesickerten Memoranda zurückgreifen konnte. Dort schildert er die Vorfälle von Abu Ghraib als eine Folge von politischen Entscheidungen, die in der Spitze der Bush-Administration getroffen worden seien. Diese Artikel flossen in Hershs Buch ein, das ursprünglich einmal das Versagen der Geheimdienste im Vorfeld des 11. Septembers thematisieren sollte, aber dann die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib in den Vordergrund rückte: Chain of Command, das noch vor den Präsidentschaftswahlen veröffentlicht (2004a) und auch unmittelbar ins Deutsche übersetzt wurde (2004b), hielt sich über mehrere Wochen in den Top 10 der amerikanischen Bestsellerlisten für Sachbücher. Auch wenn Hersh mit seinem Buch auf große Resonanz stieß, schlug sich dies nicht unmittelbar auf den öffentlichen Diskurs nieder, da die heiße Phase des Skandals bereits vorüber war und seine Intervention angesichts des bevorstehenden Wahlkampfes als parteiisch gerahmt werden konnte. Erst nach einigen Jahren konnte sich ein vergleichbares Narrativ im öffentlichen Diskurs durchsetzen (10.1). Der Psychologe Philip Zimbardo, der durch das Stanford-Prison-Experiment zu einer Wissenschaftsikone geworden war, bot eine zweite Erklärung für die Missbrauchsfälle, welche in erster Linie auf soziale Kräfte und Gruppendynamiken rekurrierte, um das Bad-Apple-Narrativ zu entkräften. Bereits am 6. Mai 2004 wurde in der New York Times ein Artikel publiziert, welcher die Parallelen zwischen Abu Ghraib, der Stanford-Studie und dem Milgram-Experiment aufzeigte. 62 Zimbardo 62 „Simulated Prison in ’71 Showed a Fine Line Between ‚Normal‘ and ‚Monster‘“, The New York Times, 6. Mai 2004. Ein Artikel in der USA Today, der Abu Ghraib mit dem
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erzählte in einem Interview, dass ihn die Vorfälle und die Bilder von Abu Ghraib nicht überrascht hatten, da er fast identische Fotos von Gefangenen mit Tüten über ihren Köpfen aus seiner 1971 durchgeführten Studie habe (zu sehen 2007: 131). Der Verfasser des Artikels, John Schwartz, versuchte in bester liberaler Manier, Abu Ghraib als Resultat von komplexen sozialen Prozessen verstehbar zu machen, die in systematischer Weise ein abweichendes Verhalten begünstigt hätten. Zum Schluss zitiert er noch einmal Zimbardo, wie er der Schlüsselmetapher der Konservativen eine liberale Wende gibt: „It’s not that we put bad apples in a good barrel […]. We put good apples in a bad barrel. The barrel corrupts anything it touches“.63 Das „Fass“ wird zur Metapher für die systemischen Probleme, die Taguba in seiner Untersuchung fand (2005/2004: 448-450), sowie für die situativen Kräfte, die Zimbardo in seinem sozialpsychologischen Ansatz postulierte. Allerdings schoss er mit diesem „low-mimesis“-Narrativ, das die individuelle Autonomie und damit auch die Schuld der mutmaßlichen Täter zu untergraben drohte, weit über den hegemonialen Diskurs hinaus. Seine Schlussfolgerungen waren vielleicht wissenschaftlich fundiert, aber sie widersprachen den moralischen Intuitionen und vorherrschenden Narrativen der amerikanischen Öffentlichkeit. Die sozialpsychologische Exkulpation der Täter war selbst für viele Liberale eine bittere Pille. Dennoch blieb seine Erklärung der Vorfälle nicht ohne Einfluss. In dem abschließenden Bericht, der unter der Leitung des ehemaligen Verteidigungsministers Schlesinger angefertigt wurde, setzte man sich ausdrücklich mit den Implikationen der „landmark Stanford study“ auseinander (2005/2004: 970f.). Allerdings schränkte man ihre Bedeutung auf die Prävention künftiger Fälle ein, während Zimbardo selbst (2007: 380-443) eine Neubewertung der Verantwortlichkeiten von Offizieren und Politikern forderte. Die dritte liberale Position basierte auf einer kulturalistischen Erklärung der Missbrauchsfälle, die Abu Ghraib als ein Produkt der amerikanischen Kultur begriff und damit die Schuldfrage auf die ganze Nation ausweitete. Den wichtigsten Beitrag zu diesem Diskursstrang steuerte die bedeutende Intellektuelle Susan Sontag wenige Monate vor ihrem Tod unter dem Titel „Regarding the Torture of Others“ in der New York Times vom 23. Mai 2004 bei.64 Für sie stellten die Bilder nicht die kollektive Identität Amerikas in Frage, sondern spiegelten den Militarismus, Rassismus und Sexismus in der amerikanischen Kultur wider. So verortete sie die Fotografien im amerikanischen Kontext von Lynching-Fotographien, Erniedrigungsriabweichenden Verhalten von Kindern verglich, bezog sich ebenfalls auf Zimbardos Studie: „Vilified soldier shouldn’t be prejudged; just ask her mom“, 12. Mai 2004. 63 „Simulated Prison in ’71 Showed a Fine Line Between ‚Normal‘ and ‚Monster‘“ 64 Sontag, Susan: „Regarding the Torture of Others“, The New York Times, 23. Mai 2004. Der Titel des Artikels ist eine Anspielung auf das jüngste Buch von Sontag, „Regarding the Pain of Others“, wo sie sich mit der Wirkung von Kriegsfotografien und anderen visuellen Darstellungen menschlichen Leidens auseinandersetzt (2003).
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tualen an Colleges, Pornographie und dem Krieg gegen den Terror. Die Fotografien aus Abu Ghraib waren für Sontag ein Ausdruck von Amerikas hegemonialer Kultur, ein Spiegel der amerikanischen Bürger („the photographs are us“). Sie zeichneten ein Bild von Amerika, das seine Bürger als solche nicht anerkennen wolle. Eine vergleichbare Interpretation der Bilder stammt von Slavoj Žižek, der die Bilder als obszöne Kehrseite der amerikanischen Kultur verstanden wissen will.65 Der Enthüllungsjournalist Hersh, der Sozialpsychologe Zimbardo und die öffentliche Intellektuelle Sontag legen unterschiedliche Diskursstile an den Tag. Hersh deckt, in der Tradition investigativen Journalismus, die Verfehlungen der Mächtigen auf. Von allen drei diskutierten Interventionen hatte er wohl den größten Einfluss auf die amerikanische Öffentlichkeit, in der der investigative Journalismus seit Watergate ein hohes Ansehen besitzt. Er beruft sich in seinen Arbeiten in erster Linie auf vertrauliche Quellen und kann mit seinem vermeintlichen Insiderwissen punkten. Der wissenschaftlichen Argumentation von Philip Zimbardo gereichte es zum Nachteil, dass sie zu kontraintuitiven Schlüssen kommt, die sich nicht so ohne weiteres in erfolgreiche Narrative ummünzen ließen. Susan Sontag repräsentiert hingegen das schlechte Gewissen Amerikas, das allerdings nur für ein eng umrissenes, linksliberales Publikum – vor dem Hintergrund des amerikanischen Tätertraumas von Vietnam (6.2.2) – an Plausibilität gewann. 8.3.3 Rechts-konservativer Gegendiskurs – Inhofe und Limbaugh Während die tragische Rahmung der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib als „schockierend“, „abstoßend“ und „unamerikanisch“ schon in wenigen Tagen die Diskurshoheit erlangte (8.1.2), entstand ein rechter Gegendiskurs, der die öffentliche Empörung über die Bilder in Frage stellte. Anlässlich der zweiten Anhörung vor dem Verteidigungsausschuss des amerikanischen Senats tat der republikanische Senator James Inhofe öffentlich kund, dass er zwar mit den Taten der Soldaten nicht einverstanden sei, dass er und viele andere sich aber mehr über die Empörung empörten als über die Missbrauchsfälle selbst: „I have to say – and I’m probably not the only one up at this table that is more outraged by the outrage than we are by the treatment. The idea that these prisoners, you know, they are not there for traffic violations. If they are in cell block 1-A or 1-B, these prisoners, they’re murderers, they’re terrorists, they’re insurgents. Many of them probably have American blood on their hands. And here we are so concerned about the treatment of those individuals.“66 65 Žižek, Slavoj: „Between Two Deaths, The Culture of Torture“, London Review of Books, 3. Juni 2004. 66 „News from CNN 12:00: Antonio Taguba Appears Before Senate Armed Services Committee“; „Another Deadly day in Iraq; Interview With Senator John Ensign“, CNN, 11.
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Inhofe stellt hier einen wesentlichen Punkt in der Rezeption der Missbrauchsfälle in Frage, nämlich die Perzeption der Gefangenen als unschuldige Opfer amerikanischer Willkürgewalt. Inhofe relativiert die verwerfliche Tat der Soldaten, indem er an den vermeintlichen Status der irakischen Gefangenen als Feinde des amerikanischen Volkes erinnert. Sein Narrativ weist darin eine Ähnlichkeit zur romantischen Dichotomie von heldenhaftem Folterer und gefoltertem Terroristen auf, die durch die Skandalbilder, die sadistische Folterer und unschuldige Opfer zeigen, unterlaufen wurde (7.5). Nicht nur auf Seiten der Demokraten reizte diese Sicht der Dinge zum Widerspruch, wie ein Reporter, der während der Geschehnisse vor Ort gewesen war, dem Nachrichtensprecher von CNN später berichtete: „Wolf, I can tell you that some republicans, such as John McCain, walked out of the room during Inhofe's remarks. Some reporters asked Senator McCain after the – during a break in the action whether he agreed with Senator Inhofe and what he had to say, and McCain said, ‚No way.‘ And basically, Democrats on the panel, such as Hillary Clinton, Evan Bayh, you can see them in the hearing room looking astonished at what Senator Inhofe was saying, suggesting that maybe the abuse was not as bad as the media portrayed it.“ 67
Nach den skandalösen Äußerungen von Inhofe, aber noch während der Rede des Senators, verließen McCain und andere Republikaner den Raum. Diese performative Zurschaustellung von Protest entfaltete ihre ganze theatralische Wirksamkeit nicht zuletzt aufgrund der Berichterstattung durch den Journalisten. Inhofe war der einzige hochrangige Politiker, der es gewagt hatte, den öffentlichen Konsens und die kollektiv zur Schau gestellten Gefühle zu kritisieren, weswegen er daraufhin auch in nahezu allen Medienberichten (mit Ausnahme einiger rechtskonservativer Talkshows auf Fox News) scharf angegriffen wurde. Rush Limbaugh, Radiomoderator und eine Art Hofnarr auf dem äußersten rechten Flügel, ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er die Missbrauchsfälle herunterspielte und – angesichts ihres stressigen Gefängnisalltags – das vermeintliche Recht der Soldaten auf Spaß („having fun“), den diese durchaus auch auf Kosten ihrer Gefangener ausleben dürften, verteidigte. Diese eigentümliche Auslegung der Missbrauchsfälle untermauerte Limbaugh durch einen Vergleich mit den (scheinbar harmlosen) Initiationsritualen in den geheimen Studentenverbindungen der amerikanischen Eliteuniversitäten:
Mai 2004. In Auszügen zitiert und diskutiert in: „For senator, outrage is more outrageous than abuse“, USA Today, 12. Mai 2004; „Till case reminds us of people’s capacity for brutality“, 20. Mai 2004. 67 „News from CNN 12:00: Antonio Taguba Appears Before Senate Armed Services Committee“, CNN, 11. Mai 2004.
386 | A BU G HRAIB UND DIE FOLGEN „Radio commentator Rush Limbaugh responded to the initial photographs from Abu Ghraib prison by joking that this degradation was ‚no different than what happens at the Skulls and Bones initiation,‘ a reference to the secret society at Yale University which both George W. Bush and John Kerry joined as undergraduates. And the latest USA TODAY/CNN/Gallup Poll found that 20% of those surveyed said that the abuse of Iraqi prisoners did not bother them ‚much‘ or ‚at all‘.“68
Etwa 20% der amerikanischen Bevölkerung gaben bei Umfragen an, sich an den Missbrauchsfällen in Abu Ghraib kaum zu stören. Diese vom hegemonialen Diskurs abweichende Minorität stellt also einen nicht unerheblichen Teil der Gesamtbevölkerung dar. Dennoch wurden ihre Repräsentanten, Inhofe und Limbaugh, im zivilgesellschaftlichen Diskurs marginalisiert und als „unzivil“ gebrandmarkt. In dem Maße, wie die Repräsentanten dieser Minderheit durch Journalisten und Politiker mundtot gemacht wurden, setzte der Mechanismus der Schweigespirale ein (4.3.2), der die Abweichler zum Verstummen brachte.
8.4 AUSWEITUNG DER K RISE UND RETARDIERENDE M OMENTE Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben. ROBERT MUSIL, DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN (ERSTES BUCH, 4. KAPITEL)
Bisher haben wir die Entstehung des Skandals (8.1), einige Mechanismen seiner Bewältigung (8.2) sowie seine Differenzierung in einen hegemonialen Diskurs und zwei Gegendiskurse in Augenschein genommen (8.3). Im Vordergrund stehen nun Enthüllungen und Ereignisse, die im ersten Monat des Skandals zu einer Ausweitung der Krise, aber auch zu ihrer vorläufigen Beilegung beigetragen haben. Als historische Prozesse sind soziale Dramen ergebnisoffen und durch kontingente Ereignisse irritierbar, welche die Protagonisten des Dramas in einer ihnen dienlichen Weise zu rahmen versuchen. Die durch die Veröffentlichung der Bilder ausgelöste Krise weitete sich im Zuge weiterer Enthüllungen zunächst noch weiter aus (8.4.1). Dabei lassen sich die Indikatoren der Ausweitung der Krise und die Mechanismen ihrer Bewältigung nicht immer scharf voneinander trennen. So führten die beiden Anhörungen zum Fall Abu Ghraib im amerikanischen Senat vom 7. und 10. Mai 2004 zweifelsohne zu einer Ausweitung des Skandals in die Sphäre der Politik: Der Abu-Ghraib-Skandal rückte für einige Tage in das Zentrum politischer Debatten. 68 „For senator, outrage is more outrageous than abuse“. USA Today, 12. Mai 2004.
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Allerdings forcierten diese öffentlichen Anhörungen, die der Aufklärung und Bewältigung des Skandals dienten, auch eine vorläufige Schließung des Diskurses. Ein kontingentes, gegenläufiges Ereignis war für die Eindämmung der Krise von entscheidender Bedeutung: Die Veröffentlichung eines Videos, das die Enthauptung des Amerikaners Nicholas Berg zeigte, führte zu einem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung, der es den Kritikern der Bush-Administration schwer machte (8.4.2). Auf einmal stießen auch Stimmen aus dem rechtskonservativen Lager, die sich mit ihren Äußerungen zu Abu Ghraib zunächst ins diskursive Abseits laviert hatten, im öffentlichen Diskurs auf Resonanz. Die öffentliche Empörung über die Enthauptung relativierte die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib und hob die Wirkung des Skandals in Teilen auf. 8.4.1 Ausweitung der Krise Schon in den ersten Tagen des Skandals kam es zu Enthüllungen, die den Täterkreis erheblich erweiterten und das Image der Armee zu beschädigen drohten. Der von Hersh zitierte Taguba-Report legte nahe, dass der Missbrauch von Gefangenen in Abu Ghraib weit über den Kreis jener Soldaten, die an der sogenannten „night shift“ teilgenommen hatten und sich damit im Zentrum des Medieninteresses befanden, hinausgehe. Taguba kam in seinem Bericht zu dem Schluss, dass der militärische Nachrichtendienst, private „contractors“, aber auch Mitglieder amerikanischer Geheimdienste in die Missbrauchsfälle verwickelt seien (2005/2004: 416419). Die Armee reagierte auf die Anschuldigungen, indem sie eine Untersuchung der 205th Military Intelligence Brigade anordnete, die den Militärgeheimdienst in den wichtigsten Punkten entlastete (Fay & Jones 2005/2004; 8.5.2). Darüber hinaus standen Militär und Bush-Administration unter dem Verdacht der Vertuschung, da in der dem Kongress vorgelegten Version des Taguba-Reports etwa zweitausend Seiten fehlten. Dies erregte einigen Unmut unter den Mitgliedern des Kongresses und wurde auch öffentlich angeprangert, genügte aber nicht, um einen Skandal zweiter Ordnung auszulösen und den ursprünglichen Skandal zu verschärfen. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass der Zwischenfall zu einer Entfremdung von Parlament und Regierung führte. Möglicherweise bereitete gerade dieser Zwischenfall den Nährboden für den parteiübergreifenden Erfolg des McCainAmendments, das der Regierung eine empfindliche Niederlage zufügte (9.2). In den ersten Tagen des Skandals kam es zu einer Internationalisierung der Missbrauchsvorwürfe, als vergleichbare Beschuldigungen gegen britische Soldaten erhoben wurden. So publizierte die britische Zeitung Daily Mirror am 3. Mai 2004 mehrere Fotografien, die den Missbrauch von irakischen Gefangenen durch britische Soldaten zeigten. Diese Enthüllung drohte nicht nur die übrigen Koalitionskräfte mit in den Skandal hineinzuziehen, sie ließ auch das Bad-Apple-Narrativ, nach dem es sich bei den Misshandlungen in Abu Ghraib um isolierte Einzelfälle
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gehandelt habe, an Glaubwürdigkeit verlieren. Allerdings entpuppten sich diese Fotografien als Fälschungen, was den Kritikern der Streitkräfte eine empfindliche Niederlage zufügte (8.4.2). Darüber hinaus wurden nach den Enthüllungen von Abu Ghraib erstmals ehemalige Inhaftierte von amerikanischen Journalisten nach ihren Haftbedingungen befragt. Viele der Befragten behaupteten, dass sie während ihrer Gefangenschaft in ähnlicher Weise geschlagen, misshandelt und erniedrigt worden seien. Diese Beschuldigungen erregten jedoch verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit – vor allem, weil in diesen Fällen kein Bildmaterial vorlag. So blieb es den Lesern weitestgehend selbst überlassen, diese Erzählungen hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit und Schwere einzustufen. Diese zusätzlichen Anschuldigungen waren somit nicht über jeden Zweifel erhaben, sondern in ihrer Rezeption vom politischen Hintergrund des jeweiligen Rezipienten abhängig. Mehrere Autoren nutzten den Skandal, um auf die miserablen Verhältnisse und die häufigen Missbrauchsfälle auch in den „normalen“ Gefängnissen auf dem amerikanischen Festland hinzuweisen.69 Auch dort seien erzwungene Nacktheit, erniedrigende Gewalt und tolerierte Vergewaltigungen an der Tagesordnung (vgl. auch Brown 2005). Selbst Berichte über Gefangene, die – wie in Abu Ghraib – Frauenunterwäsche oder eine schwarze Kapuze auf dem Kopf tragen mussten, waren keine Seltenheit. Diese Verbindung zwischen Abu Ghraib und dem amerikanischen Gefängnissystem gewann noch mehr Plausibilität, als bekannt wurde, dass Charles Graner, der mutmaßliche Rädelsführer von Abu Ghraib, in seiner Heimat als Vollzugsbeamter gearbeitet und auch schon einmal wegen Beteiligung an einem heimischen Gefangenenmissbrauch auf der Anklagebank gesessen hatte (für den er damals allerdings nicht verurteilt worden war). Diese Enthüllungen ließen nicht nur das amerikanische Gefängnissystem in einem schlechten Licht erscheinen, sondern auch die Auswahlverfahren für militärisches Personal bei der Armee. 70 Auch wenn dieser Argumentationsstrang sich im öffentlichen Diskurs nicht durchsetzen kommt, fand er doch eine nachträgliche Bestätigung und Wirksamkeit in der amerikanischen Populärkultur, nämlich in der Serie Prison Break, in der die kritische
69 „Mistreatment of Prisoners Is Called Routine in U.S.“, The New York Times, 8. Mai 2004; so auch „The Dark Side of America“, 17. Mai 2004. 70 „Guard Left Troubled Life for Duty in Iraq“, The New York Times, 14. Mai 2004; die Sozialpsychologen Thomas Carnahan and Sam McFarland (2007) wiesen in einer Kritik von Zimbardo darauf hin, dass die Ergebnisse des Stanford-Prison-Experiments möglicherweise durch die Selbstselektion der Partizipanden beeinträchtigt gewesen sein könnten. Neben eigenen Experimenten führen die beiden Autoren auch den Fall Abu Ghraib an (Carnahan & McFarland 2007: 612f.): Viele der im Strafvollzug eingesetzten Soldaten besaßen nicht nur einen biografischen Hintergrund im amerikanischen Strafvollzug, sondern seien auch auf eigenem Wunsch in diesem Bereich eingesetzt worden.
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Darstellung des amerikanischen Strafvollzugssystems mit der Ikonographie des Abu-Ghraib-Skandals angereichert wurde (vgl. 10.3). Die Ergebnisse eines Berichtes des Internationalen Roten Kreuzes, die in Auszügen im Wall Street Journal am 10. Mai publiziert wurden,71 legen nahe, dass Missbrauchsfälle in Abu Ghraib und anderen amerikanischen Militärgefängnissen durchaus verbreitet waren. Des Weiteren heißt es im Bericht, dass bei Gefangenen, die eines Vergehens gegen amerikanische Truppen verdächtigt wurden oder unter Verdacht standen, wertvolle Informationen zu besitzen, systematisch Misshandlungen durchgeführt worden seien. Das Rote Kreuz berichtet weiter, dass die Inspektoren Hinweise auf mit Folter vergleichbare Verhörmethoden („tantamount to torture“) gefunden hätten. Damit wurde eine Beziehung zwischen den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib und der Folterdebatte in Amerika hergestellt, die zwar keine unmittelbare, aber dennoch eine verzögerte Wirkung zeitigte. Ferner gibt das Rote Kreuz eine interne Schätzung des Militärs wieder, nach der zwischen 70 und 90% aller Gefangenen in den amerikanischen Gefängnissen im Irak de facto unschuldig seien (ICRC 2005/2004: 388). Die überwiegende Mehrheit der Gefangenen sei aufgrund von Fehlern inhaftiert oder schlichtweg Opfer von Denunziationen geworden. Diese Informationen begünstigten eine Wahrnehmung der Gefangenen als „unschuldige Opfer“, was schon die Ikonographie der Abu-Ghraib-Bilder nahelegte (7.5). Was noch wichtiger war: Das Rote Kreuz hatte das Gefängnis von Abu Ghraib zwischen März und November 2003 mehrere Male besucht und bei der Armeeführung offiziell Beschwerde wegen der Misshandlung von Gefangenen eingereicht – lange bevor die berüchtigtsten Abu-Ghraib-Missbrauchsfälle (wie die „night shift“, 7.2-3) stattfanden. In dem Bericht des Roten Kreuzes wird von unverhältnismäßiger Gewalt gegenüber Gefangenen, aber auch von rituellen Erniedrigungen berichtet, was in verblüffender Weise an die Abu-Ghraib-Bilder erinnert (ICRC 2005/2004: 392). So hätten Gefangene mit Frauenunterwäsche auf ihren Köpfen posieren müssen und seien dabei auch noch von Soldaten fotografiert worden. Von Seiten der amerikanischen Militärführung wurde es offensichtlich versäumt, die angeprangerten Missstände zu beseitigen. Die Überfüllung der Gefängnisse durch größtenteils unschuldige Gefangene hat zu einer weiteren Verschlechterung der Situation in Abu Ghraib geführt. Erschwerend kam hinzu – wie insbesondere General Karpinski nie müde wurde zu betonen –, dass es keine Richtlinien zur Entlassung von Gefangenen gab. Diese Enthüllungen wurden allerdings von retardierenden Momenten überschattet, welche einer Ausweitung der Krise (und damit auch einer endgültigen Bewältigung des Skandals) im Wege standen.
71 „The Abu Ghraib Fallout. Red Cross Cited Detainee Abuse over a Year ago“, Wall Street Journal, 10. Mai 2004.
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8.4.2 Retardierende Momente – „Daily Mirror“ und „Nick Berg“ Trotz der vielversprechenden Struktur des zivilgesellschaftlichen Diskurses und der Hinweise, die auf eine Verwicklung der Regierung in die Missbrauchsfälle hindeuteten, wurde das Drama um Abu Ghraib von einigen retardierenden Ereignissen an seiner Entfaltung gehindert und zeitweilig zurückgeworfen. Diese retardierenden Momente konnten den Skandal zwar nicht vollständig zum Erliegen bringen, aber sie trugen maßgeblich dazu bei, dass die akute Krise beigelegt werden konnte. In der Latenz schwelte der Konflikt um Abu Ghraib allerdings weiter, was sich an den politischen Konsequenzen des Skandals aufzeigen lässt (9.2; 10.1). Ein wichtiges Ereignis war zunächst einmal die Implosion des britischen Missbrauchsskandals, zur der es kam, als die Skandalfotografien zweifelsfrei als Fälschungen identifiziert werden konnten. Die öffentliche Empörung wandte sich nun gegen den Daily Mirror, der die Fotos – ohne sie zuvor ausreichend geprüft zu haben – veröffentlicht hatte. Was als Missbrauchsskandal begann, wurde zu einem Presseskandal. David Barrow, ein Mitglied der Regierungspartei, verdächtigte die Zeitung, aus niederen politischen Motiven heraus gehandelt zu haben und eben nicht, wie es die öffentliche Moral den Massenmedien vorschreibt, im öffentlichen Interesse: „It’s an absolute disgrace that The Daily Mirror, in order to further its own political line and to damage the prime minister, has been prepared to besmirch the name of the Queen’s Lancashire Regiment“.72 Der Daily Mirror verteidigte sich gegen diese Vorwürfe, indem er auf laufende Untersuchungen gegen britische Truppen wegen Missbrauchsfällen im Irak verwies und darüber hinaus argumentierte, dass die Fotografien, selbst wenn es sich dabei um Fälschungen handeln sollte, dennoch ein adäquates Bild von den britischen Misshandlungen im Irak vermittelten. Derlei Spitzfindigkeiten fanden in der britischen Öffentlichkeit wenig Anklang; die Skandalisierung der britischen Missbrauchsfälle schlug in Ermangelung „authentischer“ Bilder fehl und ging im Presseskandal des Daily Mirror unter. Mehrere Versuche, den amerikanischen Skandal auf weitere Missbrauchsfälle auszuweiten (z.B. Guantanamo und Bagram, vgl. 10.2), scheiterten zunächst aus ähnlichen Gründen. Die Skandalfotos von Abu Ghraib, die die Missbrauchsfälle nicht nur zweifelsfrei dokumentierten, sondern deren ikonischer Gehalt auch für das Ausmaß der öffentlichen Empörung verantwortlich war (8.1.2), engten die öffentliche Aufmerksamkeit auf die wenigen abgebildeten Einzeltäter ein, während es von anderen Missbrauchsfällen, von denen beispielsweise das Rote Kreuz oder auch ehemalige Gefangene berichteten, keine fotografischen Beweise gab. Die Ausweitung des Skandals wurde aber nicht nur durch das Fehlen dokumentarischen Beweismaterials verhindert, sondern auch von einem anderen Medienereignis überdeckt, das ebenfalls mit spektakulären Bildern aufwarten konnte: Am 12.
72 „Britain Says Photos Showing Abuse Are Fake“, The New York Times, 14. Mai 2004.
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Mai 2004, zwei Wochen nach dem Ausbruch des Abu-Ghraib-Skandals, gelangte ein Video an die Öffentlichkeit, auf dem die Enthauptung des Amerikaners Nicholas („Nick“) Berg zu sehen ist und das von den Tätern selbst über das Internet verbreitet worden war. Einer der maskierten Männer, die in diesem Video neben ihrem Opfer posieren, rechtfertigt die Enthauptung des Gefangenen mit dem Verweis auf Abu Ghraib. In der englischen Übersetzung seiner arabischen Rede heißt es: „For the mothers and wives of American soldiers, we tell you that we asked the U.S. administration to exchange this hostage with some of the detainees in Abu Ghraib, and they refused. […] So we tell you that the dignity of the Muslim men and women in Abu Ghraib and others is not redeemed except by blood and souls“.73 In dem Maße, wie sich Terroristen zur Rechtfertigung ihrer grausamen Akte auf die AbuGhraib-Vorfälle beriefen, schwand die Solidarität der Amerikaner mit den Opfern von Abu Ghraib. An die Stelle der symbolischen Ausgrenzung der Täter in den eigenen Reihen, die im Abu-Ghraib-Skandal noch dominiert hatte (8.3.1), trat eine klare Innen/Außen-Unterscheidung: Den Amerikanern wurde es wieder möglich, ihre Identität in Abgrenzung zu den barbarischen Aggressoren zu gewinnen. Es wurde auch öffentlich diskutiert, ob dieser Vorfall den Verlauf des Skandals beeinflussen würde: „Some said Mr. Berg’s killing could shift the political dynamic in the prison abuse scandal and slow the inquiry by offering such a sharp contrast with the offenses at the prison. But members of the panel conducting the inquiry said the beheading, while horrific, should not influence their work“. Und in der Tat: Die Hinrichtung von Nick Berg stärkte die rechtskonservative Position im Diskurs, die zuvor marginalisiert worden war (8.3.3). So wurden schnell Stimmen laut – auch wenn nicht viele öffentliche Figuren darunter waren –, die verlangten, dass man die Missbrauchsfälle in Relation zu jenen Grausamkeiten sehen müsse, die die Iraker den Amerikanern angetan hätten. So verwies man auf das öffentliche Lynchen von vier Mitarbeitern des privaten Sicherheitsunternehmens Blackwater, das am 31. März 2004 in Falludscha stattgefunden hatte. Diese Argumentation bekam durch das Hinrichtungsvideo ein neues Gewicht. Insbesondere die Technik des Köpfens legte es nahe, hier die Unterscheidung zwischen „Zivilisierten“ und „Barbaren“ anzuwenden. Rush Limbaugh erklärte in seiner Show: „They are the ones who are subhuman. They are the ones who are human debris, not the United States of America and not our soldiers and not our prison guards.“74 Der kollektive Bezug von Limbaughs Äußerung, der im Gebrauch des Possessivpronomens „our“ deutlich wird, zielte darauf ab, die verletzte amerikanische Identität und das beschädigte nationale Selbstbild wiederherzustellen. John Gibson, ein Sprecher des konservativen Fernsehsender Fox News, beschwerte sich in der New 73 „Iraqi tape shows the decapitation of an American“, New York Times, 12. Mai 2004. 74 Zitiert nach „Grim Images Seem to Deepen Nation’s Polarization on Iraq“, The New York Times, 12. Mai 2004.
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York Times über die angebliche fehlende Empörung angesichts des barbarischen Charakters von Bergs Hinrichtung: „The same people screaming about American abuses at Abu Ghraib are now conspicuously silent about this outrage directed against an American“.75 Ein republikanischer Abgeordneter aus Missouri, Roy Blunt, glaubte bereits am folgenden Tag, dass die Hinrichtung von Berg das öffentliche Meinungsklima nachhaltig verändert habe: „If you had your thumb on the pulse of America, that pulse beat changed when Americans heard about the beheading of Nick Berg“.76 Für Blunt markierte die Hinrichtung nicht nur das Ende der jüngsten Identitätskrise, sondern stellte auch die Legitimität des Irakkrieges, die schon seit einiger Zeit im Schwinden begriffen war (6.5), wieder her: „It jolted everybody’s memory again about why we were there in Iraq and who we’re dealing with“. Die Aufzeichnung der Hinrichtung von Nick Berg stellte für Teile der amerikanischen Öffentlichkeit, zumindest zeitweise, das moralische Gleichwicht zwischen den Kriegsparteien wieder her. So wie Hiroshima vor dem Hintergrund von Pearl Harbor als angemessene symbolische Vergeltung verstanden werden konnte (6.1.1), verringerte die grausame Hinrichtung von Berg die Schmach von Abu Ghraib. Die Enthauptung von Nick Berg sollte nicht die einzige gefilmte Hinrichtung eines Ausländers im Irak bleiben. Es ist bemerkenswert, dass die Täter in der Inszenierung dieser Enthauptungsvideos auf die Ikonographie des amerikanischen Kriegs gegen den Terror zurückgriffen: Die Opfer wurden in orangefarbene Anzüge gekleidet, die an die Bilder der Gefangenen aus Guantanamo und Abu Ghraib erinnerten: „In all the recent beheadings, the victims were wearing orange shirts similar to prison jumpsuits. Some analysts have speculated that the jumpsuits are meant to evoke the humiliations of Muslim men at the Abu Ghraib prison and at Guantanamo Bay, Cuba“.77 Das Video der Hinrichtung von Berg muss als eine ikonische Wende innerhalb des Abu-Ghraib-Skandals verstanden werden, durch die die Entfaltung des Skandals zwar aufgeschoben, aber nicht aufgehoben wurde. Sie hatte zur Folge, dass die zivilgesellschaftliche Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“ wieder einmal in der gewohnten Weise – hier die „guten Amerikaner“, dort die „menschenverachtenden Terroristen“ – gehandhabt werden konnte. Das schockierende Video der Hinrichtung bestätigte damit das nationale Selbstbild der Amerikaner und gab dem Krieg im Irak als „Zivilisierungsprojekt“ eine neue Berechtigung. Das öffentliche Interesse an Abu Ghraib war zum Zeitpunkt der Ausstrahlung des Hinrichtungsvideos an seinem Höhepunkt angelangt und begann daraufhin wieder zu sinken – trotz neuer Enthüllungen. Dennoch wurden die Abu-Ghraib-Bilder zu Symbolen 75 Zitiert nach „Grim Images Seem to Deepen Nation’s Polarization on Iraq“ 76 „Bush Supporters Are Split On How to Pursue Iraq Plan“, The New York Times, 13. Mai 2004. 77 „South Korean Is Killed in Iraq By His Captors“, The New York Times, 23. Juni 2004.
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des Bösen und zu säkularen Ikonen des kollektiven Gedächtnisses, während das Video von Bergs Hinrichtung schnell wieder in Vergessenheit geriet. So besaßen die Abu-Ghraib-Bilder – in der Öffentlichkeit, der Kunst und der Populärkultur – eine weitaus größere Bedeutung als die Hinrichtung Nick Bergs. 78 Mit dem gewaltsamen Tod von Berg schien die moralische Empörung erst einmal wieder versiegt zu sein. Die durch Abu Ghraib ausgelöste Krise war zunächst abgewendet, aber unter der Asche glimmte immer noch die Glut der verletzten kollektiven Gefühle.
8.5 R ECHTLICHE B EWÄLTIGUNG UND POLITISCHE R EINTEGRATION Genau betrachtet dient daher die Feststellung von Ursachen, von Verantwortung und Schuld immer auch der Ausgrenzung von Nichtursachen, der Feststellung von Nichtverantwortung und Unschuld. NIKLAS LUHMANN, URSACHEN UND VERANTWORTUNGEN? (2004: 29)
Im Anschluss an die Enthüllung der Abu-Ghraib-Bilder und die Empörung über die darauf abgebildeten Akte bildete sich ein hegemonialer Diskurs heraus, in dem auf der einen Seite kollektive Entschuldigungen von Seiten der militärischen und politischen Repräsentanten gefordert wurde (8.2.2), man aber auf der anderen Seite den unmittelbar an den Vorfällen beteiligten Soldaten die Schuld zuschrieb (8.3.1). Die Vertreter der Regierung wollten es indes nicht bei symbolischen Akten des Bedauerns und Entschuldigens belassen, sondern versprachen darüber hinaus die Bestrafung der Täter und eine restlose Aufklärung der Vorfälle. Daher auch Luhmanns Verdacht, dass solche „Attributionsverfahren“ ihren „eigentlichen Sinn in der Exkulpation haben“ (2004: 29). Dies ist gerade auch aus einer kultursoziologischen Perspektive zu beherzigen. Aufklärung und Bestrafung dienen nicht nur der kognitiven Feststellung von abweichendem Verhalten und seiner normativen Sanktionierung, sondern müssen zugleich auch als soziale Mechanismen der symbolischen Reinigung verstanden werden. Indem Schuld lokalisiert und gesühnt wird, reinigt sich das Kollektiv von den in seinem Namen begangenen Missetaten. Im Folgenden wollen wir uns unter diesem Gesichtspunkt zunächst einmal die Strafprozesse gegen die mutmaßlichen Täter anschauen, in denen sich allerdings nur einfache Soldaten und keine Offiziere für die Missbrauchsfälle verantworten mussten (8.5.1). Danach wird es um die Schuldzuweisung in den Armeeberichten gehen, die sich bei 78 Ein Zitat dieser Hinrichtung findet sich im türkischen Film Tal der Wölfe – Irak, obgleich sie dort in letzter Minute von einem muslimischen Geistlichen verhindert wird (10.3.2).
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genauerer Betrachtung als unterbestimmt erweisen, weswegen sie mit mehreren Narrativen kompatibel sind (8.5.2). Zum Abschluss kommen wir zum vorläufigen Ende des Skandals, der politischen Reintegration, die mit der Wiederwahl von Bush im Präsidentschaftswahlkampf von 2004 erreicht wurde. 8.5.1 Die Strafprozesse gegen die Täter Selbst wenn es sich bei den Misshandlungen in Abu Ghraib um systemisch bedingte Vorfälle gehandelt haben sollte, stellt die Schuldzuweisung an einzelne Personen ein probates Mittel dar, um den verletzten kollektiven Gefühlen Genüge zu tun. René Girard (2006) hat darauf hingewiesen, dass das rituelle Opfer in archaischen Gesellschaften die Funktion besaß, die Gewalt der Gemeinschaft zu kanalisieren und soziale Konflikte beizulegen. Vergleichbare Mechanismen gibt es auch in modernen Gesellschaften, beispielsweise die symbolische Exklusion im Skandal. Während bei Girard für die Versöhnung der Gemeinschaft noch ein unschuldiges Opfer als einem unbeteiligten Dritten erforderlich ist, wird seine Funktion in den modernen Gesellschaften durch das Recht, die Moral und die Öffentlichkeit übernommen, kurz: durch unparteiische Dritte. Mit Recht und Moral wendet sich die Gewalt der Gemeinschaft nicht mehr gegen unschuldige Opfer, sondern gegen vermeintliche Straf- und Übeltäter. Die Betroffenen werden aus der Gemeinschaft herausgelöst und an den Rande der Gesellschaft gedrängt. Auf sie darf sich der Zorn der Gesellschaft, jedenfalls soweit er durch rechtliche und moralische Normen gedeckt ist, ungestraft entladen. Der Skandal rückt den Straftäter in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, aber exkludiert ihn zugleich symbolisch aus der Gemeinschaft. Eine Variante der Bewältigung von Skandalen ist die Schuldzuweisung nach Maßgabe eines rechtlichen Verfahrens und die rechtlich angemessene Bestrafung der Übeltäter. Im Falle von Abu Ghraib wurde nach der Veröffentlichung der Bilder von Seiten der Politik auf ein schnelles Verfahren gedrängt. Die sieben mutmaßlichen Täter stritten zunächst ihre Schuld an den Vorfällen ab. Lynndie England, Charles Graner und Sergeant Frederick insistierten darauf, dass sie nur auf Befehl von Vorgesetzten gehandelt hätten. Auch Jeremy Sivits, der nicht auf einem der publizierten Fotos zu sehen war, aber als einer der Mittäter auf der Anklagebank saß, stritt zunächst jede Beteiligung an den Missbrauchsfällen ab. Diese Darstellung wurde von ihm jedoch wenige Tage nach Ausbruch des Skandals widerrufen. Er gab daraufhin an, dass er und seine Mittäter alleine für die Misshandlungen verantwortlich seien. Sergeant Frederick bezichtigte Sivits des Lügens und die Anwälte der Angeklagten unterstellten ihm unlautere Motive: Er habe mit dem Gericht einen Deal ausgehandelt um selbst besser wegzukommen. Am 19. Mai 2004 plädierte Sivits vor dem Militärgericht für schuldig und Strafmilderung, aber er wurde zur – in seinem Fall recht milden – Höchststrafe von einem Jahr Gefängnis verurteilt. Deborah Norville berichtete über den Prozess auf MSNBC:
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„The first punishment was handed down today for the mistreatment of Iraqi prisoners at Abu Ghraib. Specialist Jeremy Sivits was court-martialed today in Baghdad. He pled guilty and received the maximum penalty, even though his lawyer asked for leniency. Sivits was sentenced to one year in prison and a reduction in rank and a bad conduct discharge. He broke down in tears as he expressed remorse for taking pictures of naked Iraqi prisoners being humiliated. As part of the plea agreement, Sivits will now testify against others in the prison abuse scandal.“79
Man beachte die Performanz von Authentizität, die in dem Bericht gewürdigt wird. Sivits brach vor Bedauern und Reue in Tränen aus. Damit war drei Wochen nach Ausbruch des Skandals der erste Soldat für die Beteiligung an den Missbrauchsfällen zu einer Höchststrafe verurteilt worden. Dies besänftige die kollektiven Gefühle, die ohnehin schon auf dem Rückzug waren. Chris Matthews von MSNBCs Madball glaubte, hier bereits das Muster für die noch bevorstehenden Verfahren vorliegen zu haben: „My mischievous political nose tells me that this is going to be the pattern of these trials. That the military has found one guy to break. He’s going to testify against the others. He’s going to exonerate the higher ups, according to all the press reports and according to his official statement. He’s not going to say anybody told him, the military guys in Abu Ghraib to do any of that bad stuff. Complete exoneration of the higher ups and a complete blame on the lowers.“80
Matthews politische Intuition sollte in diesem Fall Recht behalten. Auch Sergeant Frederick erklärte sich nach einigen Monaten dazu bereit, auf schuldig zu plädieren und als Zeuge für die anderen Verhandlungen zur Verfügung zu stehen – nicht jedoch ohne seine Vorgesetzten wegen des fehlenden Trainings und der mangelnden Unterstützung zu beschuldigen. Er wurde vom Militärgericht zu acht Jahren Haft verurteilt, aber nach drei Jahren auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen. Am 14. Januar 2005 wurde Charles Graner, der in mehreren Punkten der Anklage auf nicht schuldig plädiert hatte, von den Juroren für schuldig befunden und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Graner, der auf das Erniedrigungsritual der Selbstbezichtigung nicht einging, wurde erst im August 2011 auf Bewährung entlassen. Auch Lynndie England plädierte bald auf schuldig, aber ihr Geständnis wurde vom Gericht aufgrund von internen Widersprüchen als unglaubwürdig zurückgewiesen. Am 27. September 2005 wurde England von einem Militärgericht zu drei Jahren Haft verurteilt. Während den angeklagten Soldaten ein kurzer Prozess gemacht wurde, hielt sich die Armee bei der Bestrafung von Offizieren und Generälen zurück.
79 Deborah Norville Tonight (21:00), MSNBC, 19. Mai 2004. 80 Hardball 19:00, MSNBC, 19. Mai 2004.
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Die Oberbefehlshabende über die irakischen Gefängnisse, General Janis Karpinski, wurde am 24. Mai, wenige Wochen nach dem Bekanntwerden der Vorfälle, ihres Amtes enthoben – wobei die Armeeführung darauf insistierte, dass dies nicht als eine Bestrafung zu verstehen sei. Karpinski setzte sich in der öffentlichen Debatte um Abu Ghraib für die angeklagten Militärpolizisten ein, kritisierte deren Verurteilung als „scapegoating“ und rechtfertigte ihr eigenes Versagen als Oberkommandierende mit dem Hinweis darauf, dass sie nie die faktische Kontrolle über den Gefängnistrakt in Abu Ghraib besessen habe, da der Militärgeheimdienst und andere Geheimdienste vor Ort nicht unter ihrer Kontrolle gestanden hätten. Ihr Nachfolger, General Miller, war bis dato Oberkommandierender von Guantanamo gewesen. Ihm warf Karpinski, dass er – schon zu ihrer Amtszeit – das Abu-Ghraib-Gefängnis nach dem Modell von Guantanamo habe umgestalten wollen. Ihr öffentliches Engagement sollte Karpinski jedoch zum Verhängnis werden. Nachdem alle Offiziere von den Verfehlungen in Abu Ghraib freigesprochen worden waren, wurde General Karpinski, die zu diesem Zeitpunkt auf einer Militärbasis in Deutschland ihren Dienst versah, am 5. Mai 2005 aufgrund von Verstößen degradiert, die in keinem direkten Zusammenhang mit dem Skandal standen. In dem offiziellen Armeebericht heißt es hierzu: „Though Brig. Gen. Karpinski’s performance of duty was found to be seriously lacking, the investigation determined that no action or lack of action on her part contributed specifically to the abuse of detainees at Abu Ghraib“.81 Als Gründe für ihre Degradierung wurde unter anderem ein „Diebstahl von Kosmetikzubehör“ angegeben. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Karpinski für ihre unbequeme Rolle im Abu-Ghraib-Skandal indirekt zur Verantwortung gezogen wurde. Die Tatsache, dass ihre Degradierung nicht mit ihrem Versagen in Abu Ghraib begründet wurde, ermöglichte es der Armee, am Bad-Apple-Narrativ festzuhalten (8.3.1), das eine scharfe Grenze zwischen der Schuld der an den Missbrauchsfällen beteiligten Soldaten und den Versäumnissen der Vorgesetzten zog. 8.5.2 Die offiziellen Untersuchungsberichte zu Abu Ghraib Die öffentliche und politische Reaktion auf die Missbrauchsfälle war im Großen und Ganzen einmütig. Gegenüber den Bildern wurde Abscheu geäußert, die Vorfälle wurden bedauert und die Täter als „unamerikanisch“ bezeichnet. Am 10. Mai verabschiedete der amerikanische Senat einstimmig eine Resolution, in der die Vorfälle verurteilt und eine umfassende Untersuchung gefordert wurden. Zuvor hatten Vertreter der Bush-Administration und des Militärs nicht nur die Bestrafung der Täter, sondern auch eine vollständige Aufklärung der Missbrauchsfälle versprochen. Diesen Zweck erfüllten die Untersuchungsberichte der Armee, die teils auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Der Bericht von Antonio Taguba (2005/2004), der bereits vor dem Ausbruch des Skandals angefertigt worden war, 81 „General Demoted, But Cleared in Abuse Probe“, The Washington Post, 6. Mai 2005.
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wies auf systemische Probleme in Abu Ghraib hin, was Seymour Hersh für seine Interventionen nutzte (vgl. 8.3.2). In seinem Gefolge kam es zu weiteren Untersuchungen, die den Aufklärungswillen der Armee signalisieren und wohl auch die teils heftige Kritik von General Taguba abmildern sollten. Der Verfasser des Mikolashek-Reports versuchte, mithilfe von standardisierten Fragebögen dem Ausmaß der Missbrauchsfälle in Abu Ghraib nachzuspüren. Allerdings muss man der Untersuchung methodische Mängel attestieren: Die Fragebögen waren nicht so konstruiert, dass sie Effekte sozialer Erwünschtheit auszuschließen vermochten (vgl. Mikolashek 2005/2004: 739-807). So kommt der Bericht zu dem wenig überraschenden Ergebnis: „All interviewed and observed commanders, leaders and soldiers treated detainees humanly and emphasized the importance of the humane treatment of detainees“ (2005/2004: 807). Daraus wird gefolgert Bericht, dass es keine systemischen Ursachen für die Missbrauchsfälle gegeben habe, sondern diese auf individuelle Verfehlungen sowie auf das Versagen von Vorgesetzten, die geltenden Regeln durchzusetzen, zurückzuführen seien (2005/2004: 632). Der Bericht schließt mit der Empfehlung, Ausbildung, Organisation und Doktrin der Situation anzupassen, um künftige Missbrauchsfälle zu verhindern. Am 25. Juni 2004 wurden Lieutenant General Jones und Major General Fay von der amerikanischen Militärführung beauftragt, die Rolle des militärischen Sicherheitsdienstes bei den Abu-Ghraib-Missbrauchsfällen zu untersuchen. Gegenstand ihres Berichts war die 205th Military Intelligence Brigade, die zum Zeitpunkt der Vorfälle ihren Dienst in Abu Ghraib versehen hatte. 82 Die beiden Autoren wiesen zunächst einmal einfache Erklärungen für die Missbrauchsfälle zurück: „There is no single, simple explanation for why this abuse at Abu Ghraib happened“ (Fay & Jones 2005/2004: 989). Anthony R. Jones kam zu dem Schluss, dass die Vorgesetzten ihrer Pflicht zur Kontrolle und Überwachung ihrer Untergebenen nicht nachgekommen seien und auch auf die Beschwerden des Roten Kreuzes nicht angemessen reagiert hätten. George R. Fay bestätigte, dass Teile des Militärgeheimdienstes nicht nur den Missbrauch von Gefangenen geduldet und gefördert hatten, ja sogar selbst an Missbrauchsfällen beteiligt gewesen waren: „Some MI personnel encouraged, condoned, participated in, or ignored abuse. In a few instances, MI personnel acted alone in abusing detainees“ (Fay & Jones 2005/2004: 1105). Als Erklärung wurde unter anderem auf die situativen Bedingungen in Abu Ghraib verwiesen, wie beispielsweise auf Unklarheiten bezüglich der Verantwortlichkeiten, der Unterscheidung zwischen erlaubten und verbotenen Techniken und die mangelnde soziale Kohäsion der Truppen vor Ort (7.4). Allerdings vermieden es die beiden Autoren, aus diesen Ergebnissen, die das gängige Bad-Apple-Narrativ durchaus in Frage stellten, weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen. Zwar wiesen Fay und Jones 82 Eine ausgezeichnete soziologische Analyse des Fay-Jones-Reports findet sich bei Stjepan Mestrovic und Ronald Lorenzo (2008: 192-202)
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(2005/2004: 1114-1126) auch Offizieren und Zivilisten ein individuelles Fehlverhalten nach, doch überließen sie die Ahndung dieses Fehlverhaltens den jeweiligen Vorgesetzten, die sich zumeist mit einer Abmahnung begnügten. Sie verzichteten außerdem darauf, einen Zusammenhang zwischen der Politik auf nationaler Ebene und den Entscheidungen der Militärführung herzustellen, was aufgrund des Datenmaterials durchaus möglich gewesen wäre (vgl. Mestrovic & Lorenzo 2008: 193f.). Das sogenannte Independent Panel, das unter der Leitung des ehemaligen Verteidigungsministers James R. Schlesinger stand, war vom amtierenden Verteidigungsminister Donald Rumsfeld eingesetzt worden, um das Versprechen nach vollständiger Aufklärung einzulösen und den Skandal ein für alle Mal zu beenden. Die Besonderheit der eingesetzten Kommission bestand darin, dass hier nicht nur das Fehlverhalten in der Armee, sondern auch ein mögliches Fehlverhalten der Regierung untersucht wurde. Dabei ging es vor allem um die Maßnahmen der Regierung nach dem 11. September 2001 (Schlesinger 2005/2004: 910-912), da sich die Zulassung verschärfter Verhörmethoden in Guantanamo und Afghanistan nach 9/11 (6.4.2), auch auf die Behandlung von Gefangenen im Irak ausgewirkt hätten: „Interrogators and lists of techniques circulated from Guantanamo and Afghanistan to Iraq. […] It is important to note that techniques effective under carefully controlled conditions at Guantanamo became far more problematic when they migrated and were not adequately safeguarded“ (2005/2004: 911). Der Bericht misst der Konfusion von Verhörrichtlinien eine große Bedeutung bei der Entstehung der Missbrauchsfälle bei. Damit wurde eine Grundlage für das Weak-Leader-Narrativ gelegt, das im konservativen Diskurs in der zweiten Hälfte von Bushs Amtszeit eine wichtige Rolle spielte (9.2; 10.1). Die Autoren gestanden der Regierung zwar zu, dass die Anwendung härtester Verhörtechniken auf Guantanamo Bay legal gewesen sei, trotzdem wurden die Memoranda der Regierung als ursächlicher Faktor für die Entstehung der Missbrauchsfälle aufgeführt: „They did contribute to the belief that stronger interrogation techniques were needed und appropriate in their treatment of detainees“ (Schlesinger 2005/2004: 924). Die Überzeugung, dass harte Verhörtechniken vonnöten waren, habe dem Missbrauch von Gefangenen Vorschub geleistet. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib zwar eine indirekte Folge von Beschlüssen und Memoranda der amerikanischen Regierung waren, dieser aber keine Schuld zugesprochen werden könne. So wurde auch Rumsfeld von Schlesinger vor Rücktrittsforderungen in Schutz genommen. Zusammenfasend lässt sich sagen, dass die Untersuchungsberichte der Armee keine eindeutige Rahmung der Vorfälle vorgaben. In den späteren Berichten wurde die systematische Anwendung von Folter bestritten, aber systematische Probleme, die zu dem Gefangenenmissbrauch geführt hätten, bereitwillig eingeräumt. Die Schuld wurde in erster Linie den unmittelbar beteiligten Soldaten angelastet, wenn auch immer wieder auf die Verantwortung der Vorgesetzten, ja sogar auf die Rolle der amerikanischen Regierung hingewiesen wurde. Die Untersuchungsberichte wa-
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ren hinreichend unterbestimmt, um mit allen gängigen Narrativen vereinbar zu sein. Sie wurden von Seiten der Armee und der Regierung zu ihrer Entlastung angeführt, aber auch von Kritikern, denen die Bestrafung der unmittelbaren Täter nicht weit genug ging. Die Untersuchungsberichte der Armee bieten keine Erklärung des diskursiven Wandelns, der für die mittlere und spätere Phase des Skandals charakteristisch ist. Vielmehr änderte erst die Thematisierung von Abu Ghraib im Zuge der Gonzales-Nominierung (9.1) und des McCain-Amendments (9.2) die Art und Weise, in der diese Berichte gelesen wurden. Auch wenn die Untersuchungsberichte inhaltlich unterbestimmt waren, hatten sie doch den symbolischen Effekt, den Aufklärungswillen der Armee und der Regierung zu symbolisieren. Dadurch trugen sie dazu bei, dass eine vorläufige „Schließung“ des Diskurses erreicht werden konnte. 8.5.3 Abu Ghraib im Wahlkampf 2004 und die Wiederwahl von Bush Mit der Veröffentlichung der Post-9/11-Memoranda, der Untersuchungsberichte der Armee und des Berichts des Roten Kreuzes lagen bis Ende August alle wesentlichen Fakten auf dem Tisch – lange vor Bushs Wiederwahl im November 2004. Im Rückblick stellt Mark Danner fest: „By no later than the summer of 2004, the American people had before them the basic narrative of how the elected and appointed officials of their government decided to torture prisoners and how they went about it.“83 Ein solches Narrativ wurde zwar von Teilen des links-liberalen Gegendiskurses propagiert (z.B. Hersh 2004a; Benvenisti 2004), stieß aber in der breiten Öffentlichkeit auf wenig Resonanz. Selbst kritische Beobachter wie die Journalistin Dalia Lithwick, die Jahre später zu einem der entschiedensten Befürworter einer rechtlichen Aufarbeitung von Abu Ghraib werden sollte (10.5), konstatierte noch im August 2004, dass selbst der regierungskritische Bericht der Schlesinger-Kommission keinen schlagenden Beweis („smoking gun“) für eine direkte Verbindung zwischen der Bush-Administration und den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib erbracht habe.84 Es sollte noch mehr als vier Jahre dauern, bis eine solche Verbindung hergestellt und kollektiv anerkannt wurde (10.1). Nach der Wiederwahl von Bush gab es immer noch keinen „Beweis“ für ein Fehlverhalten der Regierung, aber die vorliegenden Fakten wurden zunehmend anders interpretiert (9.1-2).85 Wie lässt sich dieser Beobachtung Rechnung tragen? Weder der Abu-Ghraib-Skandal noch der Krieg gegen den Terror waren für die Präsidentschaftswahl 2004 unmit83 Danner, Mark: „US Torture. Voices from the Black Sites“, The New York Review of Books 56 (6), 9. April 2009. 84 „No Smoking Gun“, The New York Times, 26. August 2004. 85 Zu einem ähnlichen Befund kam Jeffrey C. Alexander in seiner Analyse des WatergateSkandals: Nicht neue Fakten, sondern eine Veränderung der Narrative, die Fakten miteinander verknüpfen und ihnen so eine Bedeutung verleihen, sei ausschlaggebend dafür gewesen, dass die Affäre nach zwei Jahren mit dem Rücktritt Nixons endete (1993: 156).
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telbar wahlentscheidend. In den Vorwahlen der Demokraten setzte sich, schon vor dem Skandal, John Kerry durch, der bezüglich des Irak-Konflikts für eine Fortführung der Politik von Bush stand. In den Monaten vor der Wahl wurde das politische Feld von Parteipolitik dominiert, was wenig Raum für die parteiübergreifende Mobilisierung von zivilgesellschaftlichen Codes bot. Die Republikaner beschuldigten die Demokraten und die liberalen Medien im Vorfeld, die Vorfälle von Abu Ghraib für die kommenden Wahlen missbrauchen zu wollen. Am 11. Mai mutmaßte die USA Today noch, dass der Skandal zu einer Wende in der öffentlichen Meinung führen könne, so wie auch die gescheiterte Tet-Offensive die Amerikaner gegen den Vietnamkrieg mobilisiert habe.86 Doch die Veröffentlichung des Videos von der Enthauptung von Nicholas Berg am folgenden Tag führte zu einer Enttäuschung dieser Erwartung (8.4.2). Die im Auftrag der USA Today durchgeführte Umfrage, die die Wirkung des AbuGhraib-Skandals belegen sollte, erweist sich bei genauerer Betrachtung als ambivalent. So gibt es in der Tat einen zehnprozentigen Anstieg bei jenen Amerikanern, die entweder einen partiellen oder gar einen vollständigen Truppenabzug befürworteten; die Mehrheit der Bevölkerung stand allerdings nach wie vor hinter dem Krieg. Die Umfrage zeigt auch, dass sich zwar eine große Mehrheit der Amerikaner über die Vorfälle empörten, aber nur weniger als ein Drittel die Entlassung von Rumsfeld forderten: „Americans clearly abhor the prison images: 79% say they’re bothered by the abuse, 71% consider the incidents serious offenses, 79% say they violated policy and 73% see no circumstances under which such conduct is justified. More than eight in 10 say U.S. soldiers have higher standards of behavior than soldiers from other countries. Still, most think the abuses were isolated instances of soldiers acting on their own. While 83% say the soldiers who carried out the abuse are most to blame, 42% assign at least some responsibility to President Bush. But only 29% think he should fire Defense Secretary Donald Rumsfeld.“87
Wir sehen, dass eine deutliche Mehrheit über die Parteigrenzen hinweg die öffentliche Empörung über die Bilder, Akte und Täter teilte. Geteilter Meinung war man hingegen über die Zurechnung der Verantwortung für die Missbrauchsfälle. Waren die Soldaten alleine dafür verantwortlich, oder hatten auch Ranghöhere in der Befehlskette, bis hin zum Präsidenten Bush, eine Mitschuld zu tragen? Selbst unter jenen, die die Regierung in der Verantwortung sahen, befürworteten nur zwei Drittel die Entlassung von Verteidigungsminister Rumsfeld – auch wenn sein freiwilliger Rücktritt bei vielen mit Wohlwollen aufgenommen worden wäre. Die Demokraten versuchten im Kongress eine weitergehende Untersuchung der Vorfälle zu errei86 „Poll: War opposition up amid Iraqi abuse scandal“, USA Today, 11. Mai 2004. 87 „Poll: War opposition up amid Iraqi abuse scandal“
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chen, wurden jedoch von den Republikanern geblockt. Wie bereits zu Beginn der Watergate-Affäre (Alexander 1993: 159-163), so wurde auch in der frühen Phase des Abu-Ghraib-Skandals der Streit um die Verantwortung für die Missbrauchsfälle als politischer Konflikt gerahmt – und nicht als eine Angelegenheit, die die geteilten Werte des Landes betraf. Aufgrund des angespannten politischen Klimas, das den bevorstehenden Wahlen geschuldet war, konnte die Abu-Ghraib-Debatte keine große Wirkung entfalten. Es gab zwar eine gemeinsame Empörung über die Bilder und Taten, aber an der Bedeutung der Regierungspolitik für die Missbrauchsfälle schieden sich die Geister. Ein Bericht der New York Times schildert die Polarisierung und Politisierung der Debatte am Beispiel einer Anhörung zu Abu Ghraib, die zwei Monate vor der Wahl stattfand: The House hearing was its first in four months on Abu Ghraib, and it showed that partisan tensions were still running high on the issue. For the most part, Republicans, including Representative Duncan Hunter of California, the panel chairman, sought to minimize the significance of the abuses, saying they reflected misconduct by a tiny minority of American soldiers. By contrast, the Democrats, including Representative Ike Skelton of Missouri, the top Democrat on the panel, said that the Bush administration had been wrong, after the abuses became public in April, to portray them this way.“ 88
Im Kongress hatte es Versuche der Opposition gegeben, das dominante Bad-AppleNarrativ in Frage zu stellen, was aber weder auf die Zustimmung der Republikaner noch auf öffentliche Resonanz stieß. Der Wahlkampf schien die Debatte um Abu Ghraib in den Schatten zu stellen. So gab es zwar auch einige prominente Republikaner, wie die Senatoren McCain und Warner, die schon früh von Fehlern auf der höchsten politischen Ebene sprachen; allerdings verstummten diese Kritiker in den eigenen Reihe, je näher die Wahlen rückten: „ Senator John Warner, chairman of the Senate Armed Services Committee, tried to investigate Abu Ghraib despite White House stonewalling. Mr. Warner lost his nerve as the election approached, but we hope he’ll get it back next year“.89 Bezüglich dieser politischen Polarisierung gibt es Übereinstimmungen mit dem Verlauf der Watergate-Affäre. Alexander stellt in seiner Studie zu Watergate fest: „Zwischen dem Watergate-Einbruch im Juni 1972 und der Wahl zwischen Nixon und McGovern bildete sich der notwendige soziale Konsens nicht“ (1993: 159). Dennoch, so Alexander weiter, blieb die frühe Skandalisierung der Vorfälle nicht ohne Effekt. „Watergate“, der Name des Gebäudekomplexes, in welchem Nixon versucht hatte, den demokratischen Präsidentschaftskandidaten ausspionieren zu lassen, wurde schon in dieser Frühphase zu 88 „Army says C.I.A. hid more Iraqis than it claimed“, The New York Times, 10. September 2004. 89 „Abu Ghraib, Unresolved“, The New York Times, 28. Oktober 2004.
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einen „verschmutzen“ Symbol, das später mit Nixon assoziiert werden konnte. Ähnliche Mechanismen griffen im Fall „Abu Ghraib“, allerdings mit dem Unterschied, dass das irakische Gefängnis kein unbeschriebenes Blatt war, sondern bereits auf eine Vorgeschichte als unreines Symbol zurückblicken konnte (vgl. 6.3; 6.5). Diese negative Besetzung des Gefängnisses entpuppte sich für die Amerikaner als zweischneidiges Schwert. Während „Abu Ghraib“ im Vorfeld der Invasion noch als negatives Symbol für das repressive Regime von Saddam Hussein verwendet werden konnte, wendete sich diese symbolische Waffe mit der Publikation und Skandalisierung der Abu-Ghraib-Fotografien gegen seine ehemaligen Nutznießer. Aus den „Befreiern“ wurden „Besatzer“, die symbolisch an die Stelle von Saddam Hussein traten. Abu Ghraib überdauerte als negatives Symbol die Präsidentschaftswahlen von 2004, so dass der Skandal in der zweiten Amtszeit von Bush wieder aufleben und neue Wirkungen zeitigen konnte. Am 24. Mai 2004 wurde der erste Anti-Bush-Wahlwerbespot gesendet, der von der Ikonographie der Skandalbilder Gebrauch machte, ohne diese selbst zu zeigen. Der Spot trägt den Titel „Fire Rumsfeld“ und zeigt die Freiheitstatue, deren Haupt von einer schwarzen Kapuze bedeckt ist, wie sie von den Abu-Ghraib-Fotos her vertraut ist. 90 Diese Wahlwerbung wurde weder von den Demokraten finanziert noch gestaltet, sondern geht auf eine unabhängige Vereinigung zurück, die nicht in erster Linie für die Demokraten, sondern gegen Bush zu Felde zog. Es fällt auf, dass nur Vereinigungen und Aktivisten am äußersten linken Rand des politischen Spektrums die Abu-Ghraib-Fotografien für kritische Interventionen im Wahlkampf verwendeten (vgl. 9.4). Die offizielle Kampagne der Demokraten verfolgte eine andere Strategie. Senator Kerry legte sehr viel Wert darauf, seine Befähigung als Oberkommandierender der amerikanischen Streitkräfte unter Beweis zu stellen. Er versuchte, wie auch McCain im Wahlkampf von 2008 (vgl. Alexander 2010: 72-81; siehe auch 10.1), sich als „military hero“ in Szene zu setzen, was einen Verzicht auf die politische Instrumentalisierung von Abu Ghraib ratsam erscheinen ließ. Eine Forcierung der Skandalisierung der Vorfälle hätte Kerry möglicherweise die Unterstützung der Streitkräfte gekostet, was die Glaubwürdigkeit seiner ganzen Kampagne infrage gestellt hätte. Folglich war es in Anbetracht der Situation durchaus vernünftig, in der demokratischen Wahlkampagne auf den Gebrauch des Symbols „Abu Ghraib“ zu verzichten. Hier tritt die historische Kontingenz des sozialen Dramas deutlich zu Tage. Wäre ein anderer demokratischer Kandidat mit einem stärkeren zivilgesellschaftlichen Profil und Image gegen Bush angetreten, so hätte dieser weitaus rücksichtsloser von dem Abu-Ghraib-Skandal Gebrauch machen können. Die Zurückhaltung in Sachen Abu Ghraib war für viele Unterstützer der Demokraten nur schwer verständlich. So wurde Kerrys Kandidat für das Vizepräsidentenamt, John Edwards von Bürgern gefragt, warum Bush wegen des Abu-Ghraib-Skandals 90 „Producers decided not to use abuse images in ad“, USA Today, 24. Mai 2004
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nicht schärfer angegangen werde. Obwohl auch Kerry die Bush-Regierung wegen ihrer verspäteten und halbherzigen Reaktion auf den Skandal kritisiert hatte, hielt er sich auffällig zurück ‒ schon in den ersten Tagen des Skandals: „Pressed on whether he believed Mr. Bush should apologize […] Mr. Kerry said: ‚The president of the United States needs to offer the world its explanation, and needs to take appropriate responsibility. And if that includes apologizing for the behavior of those soldiers and what happened, then we ought to do that.‘ Asked whether he believed that Secretary of Defense Donald H. Rumsfeld should resign over the scandal, Mr. Kerry noted that he called for Mr. Rumsfeld’s resignation months ago over what he called the lack of planning for postwar Iraq.“91
Kerry lässt mit seiner Antwort sogar offen, ob sich Bush nun für die Vorfälle entschuldigen solle oder nicht. Des Weiteren zögert er, seine Rücktrittsforderung an Rumsfeld mit dem Abu-Ghraib-Skandal zu begründen, und verweist lediglich darauf, dass er den Rücktritt Rumsfelds ‒ wegen militärischer Inkompetenz, aber nicht wegen der Handhabung des Skandals ‒ schon lange fordere. Trotz dieser Vorsicht auf Seiten der Demokraten gelang es den Teilnehmern der Bush-Kampagne, vor dem Hintergrund des Abu-Ghraib-Skandals ein negatives Bild von Kerry zu zeichnen – ein politischer Kunstgriff, der in den liberalen Medien scharf kritisiert wurde. Frank Rich, der den damaligen Präsidenten Bush in der New York Times als „sissy who used Daddy’s connections to escape Vietnam“ charakterisiert hatte, zeigte sich erstaunt darüber, dass es Bush im Wahlkampf gelungen war, einen „actual war hero“ wie Kerry in einen „girlie-man“ zu verwandeln.92 Eine Schlüsselrolle in dieser Strategie spielten die sogenannten Swift Boat Veterans for Truth – eine Organisation von Kriegsveteranen, die sich im Jahr 2004 eigens zu dem Zweck zusammengeschlossen hatte, Kerrys Präsidentschaft zu verhindern. Was zunächst unglaublich klingen mag, wurde Realität: Die Swift Boat Veterans for Truth erlaubten es der amtierenden Regierung, den Abu-Ghraib-Skandal als symbolische Waffe im Wahlkampf gegen den demokratischen Präsidentschaftskandidaten zu verwenden: „When Marc Racicot, the Bush-Cheney chairman, says (dishonestly) that Mr. Kerry has called American troops ‚universally responsible‘ for Abu Ghraib, his message sounds coordinated with the Swifties’ claim (equally dishonest) that Mr. Kerry once held American troops universally responsible for the atrocities committed in Vietnam.“93
91 „Democrats Seek Louder Voice From Edwards“, The New York Times, 16. September 2004. 92 „How Kerry Became A Girlie-Man“, The New York Times, 5. September 2004. 93 „How Kerry Became A Girlie-Man“
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Während die Opposition unkoordiniert wirkte, haben wir es im Regierungslager mit dem Gleichklang zweier Botschaften zu tun, die sich wechselseitig verstärkten. Des Weiteren wird deutlich, dass der Irakkrieg und der Abu-Ghraib-Skandal vor dem Hintergrund von Vietnam und My Lai wahrgenommen wurden (6.2). Kerry, der als heimgekehrter Veteran in der Antikriegsbewegung tätig gewesen war, wurde fälschlicherweise beschuldigt, die begangenen Grausamkeiten – von damals und heute – den amerikanischen Truppen in ihrer Gesamtheit zugeschrieben zu haben. Die Rahmung der kollektiven Erinnerung an Vietnam als ein kulturelles Tätertrauma war in linken Kreisen verbreitet, war aber im öffentlichen Diskurs nie mehrheitsfähig. Am Ende gewann der amtierende Präsident George W. Bush die Wahl. Die Anfangsphase des Skandals schuf zwar das negative Symbol „Abu Ghraib“, aber ein weiterführender Konsens über die Bedeutung der Missbrauchsfälle, insbesondere aber die Verantwortlichkeit der Bush-Regierung, stellte sich nicht ein. Es setzte sich das tragische Bad-Apple-Narrativ durch, demzufolge eine Handvoll moralisch verkommener Soldaten die Ehre der amerikanischen Armee und das Ansehen des amerikanischen Volkes aufs Spiel gesetzt hätten (8.3.1). Diese tragische Erzählung erlaubte es, die Missbrauchsfälle in einer Weise zu rahmen, dass sie die kollektive Identität der Vereinigten Staaten nicht mehr in Frage stellen konnten. Dies hatte zur Folge, dass jeder Verweis auf Abu Ghraib während des Wahlkampfes als politischer Missbrauch eines tragischen Ereignisses hätte diskreditiert werden können. Für die Vereinigten Staaten gilt, dass die Institution der Armee und die Mehrheit der amerikanischen Soldaten den Skandal unbeschadet überstanden, obwohl es genügend Hinweise auf einen systematischen Missbrauch gab. Die Beteiligung von Angehörigen des Militärgeheimdienstes, von Angestellten privater Sicherheitsfirmen oder von Mitarbeitern staatlicher Geheimdienste warf zwar einen Schatten auf diese Institutionen, war aber letzten Endes zu uneindeutig. Die Schuld wurde in erster Linie den Soldaten zugeschrieben, die auf den Fotos zu sehen waren. Es fällt auf, dass in dieser frühen Phase das Gefangenenlager auf Guantanamo Bay noch als ein reines Gegenstück zu Abu Ghraib erschien. So wurde General Karpinski durch den Oberbefehlshaber von Guantanamo, General Miller, ersetzt – ohne dass dies die Öffentlichkeit beunruhigt hätte. Donald Rumsfeld und Alberto Gonzales waren zwar beide durch den Skandal angeschlagen – der Erstere wegen seines Skandalmanagements, der Letztere wegen seiner Beteiligung an den umstrittenen Memoranda; beide wurden jedoch von Präsident Bush, der den Skandal trotz seiner uneindeutigen und ambivalenten Entschuldigung ebenfalls relativ unbeschadet überstanden hatte, weiterhin unterstützt. Die hegemoniale Deutung der Ereignisse in Abu Ghraib und der politisch Beteiligten sollte sich aber in den nächsten Monaten und Jahren grundlegend ändern.
9. Diskursanalyse II – Politik, Recht und Kunst
Das folgende Kapitel befasst sich mit der mittleren Phase des Abu Ghraib-Skandals, die mit der vorläufigen Schließung des sozialen Dramas anlässlich von Bushs Wiederwahl 2004 einsetzt und mit Rumsfelds Rücktritt nach den Kongress- und Senatswahlen 2006 endet. Dabei stehen vor allem die wechselseitige Beeinflussung und Durchdringung der politischen, rechtlichen und zivilgesellschaftlichen Sphäre im Zentrum. Es soll unter anderem gezeigt werden, dass der bisherige Verlauf des Skandals die politische Debatte um die Memoranda der Regierung (9.1) und die rechtlichen Entscheidungen des Supreme Courts (9.3) nachweislich beeinflusste. Der Einfluss von Abu Ghraib lässt sich nicht nur in den Feldern des Rechts und der Politik nachweisen, auch in der Kunst nahm man sich des Skandals und seiner Bildmotive an (9.4). Zwar reichen die angesprochenen Themenkomplexe bis in die Anfangs- und Schlussphase des Skandals hinein, aber im Zentrum stehen jene zwei Jahre nach Bushs Wiederwahl, innerhalb derer es zu einer Palastrevolte der Republikaner unter der Führung von McCain (9.2) kam und die eine wachsende Distanz der Republikaner zur amtierenden Regierung zur Folge hatten (9.5). Es wird sich zeigen, dass die innerparteiliche Kritik an Bush die Voraussetzung für einen neuen überparteilichen Konsens im zivilgesellschaftlichen Diskurs der Vereinigten Staaten darstellte, der das hegemoniale Bad-Apple-Narrativ diskreditierte (vgl. 8.3.1) und die Regierung für die Exzesse von Abu Ghraib in Verantwortung nahm (10.1). Damit rückte dann auch die Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten im Krieg gegen den Terror, insbesondere aber das Gefangenenlager Guantanamo Bay und die Verhörtechnik des Waterboardings, ins Zentrum der öffentlichen Kritik. Schlussendlich soll noch auf die deutschen Strafanzeigen gegen Verteidigungsminister Rumsfeld und mehrere Angehörige des amerikanischen Militärs eingegangen werden, die auf dem Vorwurf von Folter in Abu Ghraib basierten (9.5). Diese Strafanzeigen unterstreichen zum einen die internationale Bedeutung des Abu-GhraibSkandals und zeigen darüber hinaus, dass politische Erwägungen auch im Bereich der Rechtsprechung eine Rolle spielen können.
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9.1 M EMORANDA , G EHEIMGEFÄNGNISSE , F OLTER Not since the Nazi era have so many lawyers been so clearly involved in international crimes concerning the treatment and interrogation of persons detained during war. JORDAN PAUST, WEHRDISZIPLINARANWALT1
Wie wir gesehen haben, war es in der frühen Phase des Skandals schwierig, eine eindeutige Verbindung zwischen den Misshandlungen von Abu Ghraib und den politischen Entscheidungen der Bush-Regierung herzustellen ‒ auch wenn dies definitiv im Bereich des Möglichen lag. Schon im ersten Skandalmonat gerieten geheime Memoranda des Justizministeriums und des Weißen Hauses in die Hände einiger führender Zeitungen und Magazine, wo sie wenig später auszugsweise veröffentlicht wurden. Laut New York Times berichtete das amerikanische Magazin Newsweek am 20. Mai 2004 auf seiner Webseite als erstes von den geheimen Memoranda.2 Die Times war eigenen Angaben zufolge zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Tage im Besitz der besagten Dokumente, begann allerdings erst infolge der Enthüllungen von Newsweek darüber zu berichten. Die Memoranda müssen als Versuche gelesen werden, nach dem 11. September einen Ausnahmezustand, einen Vorrang des Politischen gegenüber dem Recht zu begründen (6.4.1). So versucht das Memorandum von John C. Yoo und Robert J. Delabunty (2005/2002) die Genfer Konventionen mit rechtlichen Mitteln zu unterlaufen. Die Autoren wurden dabei von dem obersten Juristen des Weißen Hauses, Alberto R. Gonzales, unterstützt, der dem Präsidenten das Memorandum mit folgender Begründung empfahl: „The nature of the new war places a high premium on other factors such as the ability to quickly obtain information from captured terrorists and their sponsors in order to avoid further atrocities against American civilians […]. In my judgment, this new paradigm renders obsolete Geneva’s strict limitations on questioning of enemy prisoners and renders quaint some of its positions.“ (Gonzales 2005/2002: 119)
Der Ausnahmezustand des Krieges gegen den Terror, der insbesondere durch das apokalyptische Ticking-Bomb-Narrativ legitimiert wurde (6.4), hebt nach dieser Auslegung wesentliche Beschränkungen der Genfer Konventionen auf. Der Journalist Carl Bernstein warf Präsident Bush nach diesen Enthüllungen vor, die Verfas1
Zugleich auch Professor für Recht in Houston, zitiert nach Zimbardo (2007: 436).
2
„Justice Memos Explained How to Skip Prisoner Rights“, The New York Times, 21. Mai 2004; die Veröffentlichung wesentlicher Auszüge leisteten vier Tage später die Autoren John Barry, Michael Isikoff, Michael Hirsh in einem gemeinsam verfassten kritischen Artikel in der Printausgabe („The Roots Of Torture“, Newsweek, 24. Mai 2004).
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sung umgehen zu wollen.3 Er rief die „GOP“ dazu auf, Bush zu stoppen, wie sie es bereits in der Watergate-Affäre mit Nixon getan hätten. Die Anrede der Republikaner als Grand Old Party beschwört den „reinen Geist“ der republikanischen Partei, der so von der korrupten Realität der Bush-Administration dissoziiert wurde. Allerdings blieb dieser Aufruf zunächst folgenlos. Diese Zurückhaltung lässt sich im Rekurs auf die politischen Motive der Beteiligten verständlich machen. Ein parteiinterner Aufstand hätte den Erfolg der Republikaner bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen im November 2004 in beträchtlichem Maße gefährdet. Damit wiederholt sich ein Verlaufsmuster, das aus der Watergate-Affäre bekannt ist: Obwohl die Affäre schon im Sommer vor den Präsidentschaftswahlen 1972 seinen Anfang genommen hatte, konnte sich ein parteiübergreifender Widerstand gegen Nixon erst nach den Wahlen formieren (vgl. Alexander 1993). Im Fall von Abu Ghraib kam noch hinzu, dass der Skandal zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Memoranda bereits an Momentum verloren hatte (8.4). Erst mit der Anhörung von Alberto R. Gonzales gelangte die Auseinandersetzung um die Memoranda zu einem Punkt, wo nicht mehr Parteiinteressen, sondern amerikanische Werte entscheidend waren. Die Vorfälle in Abu Ghraib und die Veröffentlichung der sogenannten „torture memos“ warfen Fragen auf, die den Einsatz von Verhörtechniken durch die amerikanischen Streitkräfte und Geheimdienste betrafen. Trotz der relativ offenen Folterdebatte nach dem 11. September 2001 wurde von offizieller Seite bestritten, dass auf amerikanischer Seite „Folter“ zum Einsatz komme. „Folter“ war – trotz der nach 9/11 einsetzenden Folterdebatte – nach wie vor ein überwiegend negativ besetztes Symbol, das der repressiven Seite des zivilgesellschaftlichen Codes zugeordnet wurde. Der Einfluss der öffentlichen Moral lässt sich selbst in den geheimen Memoranda der Regierung nachweisen, die sehr viele Mühe darauf verwandten, den Begriff der „harsh interrogation technique“ von „torture“ abzugrenzen. Einerseits konnte so die negative Konnotation des Begriffes „Folter“ vermieden werden, anderseits versuchte die Regierung, sich damit auch rechtlich abzusichern. Nichtsdestotrotz wurde in einem Memorandum des Regierungsanwaltes Bybee die konstitutionelle Rechtmäßigkeit des Folterverbotes grundsätzlich in Zweifel gezogen, weil sie die Macht des Präsidenten im Kriegsfall auf eine unzulässige Art und Weise einschränke (6.4.1). Vor allem diese Passage erregte Empörung, wie unter anderem an folgendem Leserbrief deutlich wird: „Does the Bush administration have a moral compass, or is its morality a hollow public relations stunt? Most Americans would agree that torture is evil in any circumstances, and I am one of them“.4 Am rechten Rand des politischen Spektrums nahm man die Regierung in Schutz und versuchte, diese Interpretation der Memoranda als parteipolitische Winkelzüge dar3 4
„History lesson: GOP must stop Bush“, USA Today, 24. Mai 2004. „The Torture Memo, and the Outcry. Letters to the Editor“, New York Times, 9. Juni 2004.
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zustellen.5 Dennoch stand die überwiegende Mehrheit der Äußerungen im öffentlichen Diskurs dem Inhalt der Memoranda kritisch gegenüber. Die Regierung wurde verdächtigt, repressive Ziele zu verfolgen, während den Verfassern der Memoranda eine Vernachlässigung ihrer Amtspflichten vorgeworfen wurde: „Still, government lawyers have more complicated obligations than those in private practice do. The government lawyer’s ultimate client, after all, is the public, and government lawyers have not infrequently told their bosses things they did not want to hear“.6 Im Lichte der Öffentlichkeit und im Vergleich zu ihren heroischen Vorgängern erscheinen die Verfasser der Memoranda als abhängig, rechtsbeugend und aus niederen Bewegründen agierend. Sie stehen auf der unzivilen Seite des Codes und nicht auf der Seite der Öffentlichkeit, die sie qua Amt zu vertreten haben. Hier stößt ein positivistisches Rechtsverständnis an seine Grenzen. Die Anwendung und Interpretation des Rechts darf sich nicht an politischen und anderen niederen Bewegründen orientieren, sondern kann letzten Endes nur über zivilgesellschaftliche Moralvorstellungen gerechtfertigt werden (siehe Alexander 2006a: 151-192). Jeder Versuch, das Gesetz oder gar die Verfassung auf eine Weise zu interpretieren, die im Widerspruch zur öffentlichen Moral steht, wird als Rechtsbeugung und als Verletzung zivilgesellschaftliche Normen interpretiert. Aus zivilgesellschaftlicher Perspektive kann es nicht die Aufgabe von Regierungsanwälten sein, rechtliche Schlupflöcher für Politiker zu finden. Stattdessen wird von ihnen erwartet, dass sie die öffentliche Moral vertreten und die Verfassung hochhalten. Die Enthüllung der Memoranda hatte ein langes Nachspiel, insbesondere für den obersten Juristen der Regierung, Alberto R. Gonzales, der schon als zukünftiger Kandidat für den Supreme Court gehandelt wurde. Er wurde im Laufe des AbuGhraib-Skandals symbolisch befleckt – ein Stigma, das noch lange an ihm haften bleiben sollte. Nach Bushs Wiederwahl im November wurde Gonzales von dem Präsidenten als Justizminister vorgeschlagen. In den Vereinigten Staaten muss der Justizminister vom Senat bestätigt werden, was in der Regel kein Problem darstellt. Doch die Nominierung von Gonzales rief bei vielen Journalisten und Politikern die umstrittenen Memoranda und den Abu-Ghraib-Skandal wieder ins Gedächtnis. Der demokratische Abgeordnete Patrick Leahy schrieb anlässlich der bevorstehenden Anhörung im Senat in einem Brief an Gonzales: „You will be asked to describe your role in both the interpretation of the law and the development of policies that led to what I and many others consider to have been a disregard for the rule of law at Abu Ghraib and related to the interrogation and treatment of foreign prisoners“.7
5
„Democrats Interpret Justice Department Memo as Justifying Torture“, Fox Special Report with Brit Hume (18:00), Fox News Network, 23. Juni 2004.
6
„How Far Can a Government Lawyer Go?“ The New York Times, 27. Juni 2004.
7
Countdown (20:00), MSNBC, 16. Dezember 2004.
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Die Anhörung von Gonzales bot einen Anlass, die Debatte um die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib, die strittigen Memoranda und die Legitimität von Folter wieder aufleben zu lassen. Insbesondere die Tatsache, dass er die entwürdigende und erniedrigende Behandlung von Gefangenen als rechtmäßig eingestuft hatte, stieß vielen Kommentatoren unangenehm auf. So konfrontierte der Fernsehmoderator Chris Matthews einen Diskussionspartner, der die Ernennung von Gonzales verteidigte und die Bedeutung der Memoranda herunterspielte, mit den Bildern von Abu Ghraib: „Well, this memo that we’re all talking about does permit cruel, inhuman and degrading treatment of prisoners, according to the – and that’s what we saw with Abu Ghraib. Do you agree with that policy?“8 Abu Ghraib wurde zum Paradebeispiel einer erniedrigenden und entwürdigenden Behandlung stilisiert, wie sie nach den Memoranda zulässig gewesen wäre. Es wurde eine inhaltliche Beziehung zwischen Abu Ghraib und den Memoranda hergestellt, die deren Verfasser, allen voran Gonzales, in ein schlechtes Licht stellten. Hilary Rosen, eine Liberale, die ebenfalls zu Gast in dieser Show war, sah in der Anhörung von Gonzales eine nachträgliche Aufarbeitung und Bewältigung des nach wie vor unabgeschlossenen AbuGhraib-Skandals: „And no one in this administration has yet paid for Abu Ghraib. And that is what the Gonzales hearing is about. […] If the only way to make this administration pay for Abu Ghraib is to defeat him, he should be defeated.“ Diese Rahmung der Anhörung blieb allerdings nicht unangefochten. Die konservative Autorin Laura Ingraham versuchte, Gonzales und Abu Ghraib zu dissoziieren: „To say that this guy is responsible for Abu Ghraib is an insult.“ Rosen beschloss das Thema Abu Ghraib mit den folgenden Worten: „The only reason this is a fight is because this Abu Ghraib issue has not been resolved and everything that comes out about it is more and more disturbing“. Auch in der ultra-konservativen O’Reilly Show wurde die Anhörung von Gonzales heiß debattiert. Allerdings wurde die Anhörung als profane Auseinandersetzung nach Parteilinien dargestellt – womit die zahlreichen Kritiker von Gonzales in den eigenen Reihen unterschlagen wurden. 9 Die öffentliche Debatte um Gonzales und seine Anhörung vor dem Senat darf in ihrer Bedeutung für den Abu-Ghraib-Skandal nicht unterschätzt werden. Nach der Wiederwahl von Bush gab es zunächst wenig Anlass, die Vorfälle von Abu Ghraib noch einmal aufzurollen. Erst die Debatte um die Nominierung von Gonzales schuf eine Bühne, auf welcher nicht nur über dessen Eignung für das Amt des Justizministers, sondern auch über die Verantwortung der Regierung für Abu Ghraib oder Mindeststandards bei der Behandlung von Gefangenen diskutiert werden konnte. Während der Anhörung von Gonzales wurde drei Tage lang über seine Rolle bei der Verfertigung der Memoranda gestritten. Die New York Times nannte ihn einen 8
Hardball (21:00), MSNBC, 5. Januar 2005.
9
So z.B. Senator Lindsey Graham, vgl. „Interview With Linda Chavez and Bob Edgar“, The Big Story with John Gibson (17:12), Fox News Network, 6. Januar 2005.
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„Torture Guy, who blithely threw off 75 years of international law and set the stage for the grotesque abuses at Abu Ghraib and dubious detentions at Guantanamo“.10 Am 3. Februar 2005 wurde seine Nominierung mit einem ungewohnt schwachen Ergebnis bestätigt (60-36), das als Niederlage des Präsidenten interpretiert wurde. Gonzales konnte sich nicht lange auf dem Posten des Justizministers halten. Im Jahr 2007 stolperte er, angeschlagen durch den Abu-Ghraib-Skandal, über das Bespitzelungsprogramm des NSA und die politisch motivierte Entlassung von Juristen im Staatsdienst. Der Senat und der Kongress entzogen ihm daraufhin das Vertrauen. Am 26. August 2007 reichte Alberto R. Gonzales schließlich seinen Rücktritt ein. Eine weitere Debatte, die in den ersten Wochen des Abu-Ghraib-Skandals ihren Anfang nahm, thematisierte die mutmaßliche Beteiligung des militärischen Geheimdienstes und der CIA als „Other US Government Agency“ an mehreren Missbrauchsfällen, wie sie unter anderem der „Taguba-Report“ nahe legte (2005/2004: 417f.).11 Im Herbst 2004 leitete die CIA eine interne Untersuchung ein, die die beteiligten Agenten von allen Anklagepunkten freisprach. Aber damit war die Debatte über die Rolle der CIA in Abu Ghraib und ihre „ghost detainees“ nicht beendet. Infolge der Anhörung von Gonzales und des Streits um das McCain-Amendment, insbesondere aber nach Bushs Äußerung, dass dieses Amendment nicht für die CIA gelte, gerieten auch die verdeckten Operationen der CIA in das Visier von Journalisten und Politikern. Am 2. November 2005 veröffentlichte die Washington Post eine Story über ein geheimes System von Gefängnissen der CIA, das in einigen osteuropäischen Ländern betrieben wurde.12 Diese Enthüllung belebte nicht nur die andauernde Diskussion um die Verhörtechniken der Regierung, sondern zog auch Bemühungen von Seiten der Republikaner nach sich, eine offizielle Untersuchung der vertraulichen Quellen der Washington Post in die Wege zu leiten. Dies stieß wiederum auf Kritik in der Presse, die darin einen repressiven Eingriff in das Recht der Öffentlichkeit auf Information sah. Da der Bericht von den offiziellen Stellen nicht inhaltlich zurückgewiesen wurde, sondern die Suche nach dem Leck im Vordergrund stand, wurde den Anschuldigungen insgeheim Recht gegeben. Eine glaubwürdigere Authentifizierung für eine Berichterstattung ist kaum vorstellbar. Die Enthüllung der geheimen Gefängnisse befeuerte die Diskussion über Pressefreiheit, Informantenschutz und Staatsinteressen, die schon durch den Abu10 „A Moveable Feast of Terrorism“, The New York Times, 11. November 2004. 11 „A Prison on the Brink; Usual Military Checks and Balances Went Missing“, The Washington Post, 9.Mai 2004; „The Pictures; Lynndie England explains why she posed for photos with nude Iraqi prisoners“, 60 Minutes II (20:00), CBS, 12. Mai 2004; „CIA hid many Iraq prisoners, generals say“, USA Today, 10. September 2004. 12 „CIA Holds Terror Suspects in Secret Prisons, Debate Is Growing Within Agency About Legality and Morality of Overseas System Set Up After 9/11“, The Washington Post, 2. November 2005.
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Ghraib-Skandal an Fahrt gewonnen hatte. Diese Debatte lässt sich als Grenzkonflikt zwischen dem politischen System und der Sphäre der Öffentlichkeit analysieren (4.2.2). Die Verpflichtung der Regierung, ihre Handlungsfähigkeit im kollektiven Interesse zu gewährleisten, notfalls auch durch Geheimhaltung, und das legitime Recht der Öffentlichkeit auf Information, die nötig ist, um die Politik unter zivilgesellschaftlicher Kontrolle zu halten, gerieten miteinander in Konflikt. Die Enthüllungen von Abu Ghraib und das Durchsickern der Memoranda wurden von den Befürwortern eines „media shield“ als Vorbilder eines investigativen Journalismus angeführt.13 Die späteren Präsidentschaftskandidaten John McCain und Barack Obama traten in dieser Debatte als Befürworter des „media shield“ auf – allerdings änderte Obama seine Position nach dem Wechsel in das Präsidentenamt grundlegend. Der Abu-Ghraib-Skandal und die Veröffentlichung der Memoranda lösten in den Vereinigten Staaten eine Debatte über Folter und andere Verhörtechniken aus. Als direkte Konsequenz aus dem Skandal verbot die amerikanische Armee die Anwendung des sogenannten „hooding“ zu Verhörzwecken. Die Bush-Administration reagierte auf die öffentliche Kritik an den „Foltermemoranda“ mit der Zusage, von deren Anwendung in Zukunft abzusehen. Die Debatte über die Zulässigkeit von Foltertechniken begann damit erst an Fahrt aufzunehmen: „The issue of what were permissible interrogation techniques has produced a vigorous debate within the government that burst into the open with reports of abuses at Abu Ghraib prison in Baghdad and is now the subject of several investigations“.14 Die Enthüllungen von Abu Ghraib und der Regierungsmemoranda führten zu einer Kehrtwende im Folterdiskurs, in Zuge dessen sich ein neuer Konsens etablieren konnte (10.4). Die Memoranda der Bush-Regierung waren von großer Bedeutung für die spätere republikanische Opposition gegen das Bad-Apple-Narrativ (10.1; vgl. 8.3.1). Militärberichte und Zeitungsartikel gaben zudem Auskunft über die Migration von Verhörtechniken von Guantanamo nach Abu Ghraib, wo die irakischen Gefangenen fast ausnahmslos unter dem Schutz der Genfer Konventionen standen. Dies wurde von vielen Konservativen wie McCain als ein Scheitern der Regierung, klare Richtlinien für die Behandlung von Gefangenen durchzusetzen, und damit als Indikator ihrer Führungsschwäche interpretiert. Hier stellte nicht mehr die liberale Vorstellung von sozialen Kräften eine Verbindung zwischen der obersten Führungsebene und den Soldaten von Abu Ghraib her, sondern der von der Regierung zu verantwortende Mangel an klaren und eindeutigen Regeln, an denen sich die Soldaten hätten orientieren können. Erst mit dieser Deutung stand den Konservativen ein Rahmen zur Verfügung, der das Bad-Apple-Narrativ in Frage stellte und es erlaubte, die 13 „When reporters can’t shield sources, the public loses out“, USA Today, 16. Oktober 2007. 14 „Broad Use of Harsh Tactics Is Described at Cuba Base“, The New York Times, 17. Oktober 2004.
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Bush-Regierung für Abu Ghraib in Verantwortung zu nehmen. Bevor dies geschah (10.1) war man sich einig, dass dem Mangel an Klarheit schnellstens Abhilfe geschaffen werden müsse. Der Senator John McCain und andere führende Republikaner begannen, gemeinsam mit der demokratischen Opposition für ein Gesetz zu kämpfen, das ein Mindestmaß an Rechten für Häftlinge in amerikanischer Gefangenschaft, in Guantanamo Bay und anderswo, sicherstellen sollte.
9.2 E IN NEUER K ONSENS – D AS M C C AIN -AMENDMENT This is not about terrorists. This is about who we are. SENATOR JOHN MCCAIN, SPÄTERER PRÄSIDENTSCHAFTSKANDIDAT DER REPUBLIKANER
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Es ist eine Ironie des Schicksals, dass sich erst mit der Wiederwahl von Bush die politische Situation in einer Weise wandelte, die es der „Grand Old Party“ ermöglichte, Abu Ghraib und verwandte Themen ohne unmittelbare Gefährdung der eigenen Partei anzugehen. Ein Blick auf den Watergate-Skandal legt nahe (Alexander 1993), dass es sich hierbei um einen typischen Skandalverlauf handelt, da die politische Polarisierung während eines demokratischen Wahlkampfes die parteiübergreifende Konsensbildung ungemein erschwert. So hatte der entscheidende politische Impuls für eine parteiübergreifende Initiative gegen die Bush-Regierung aus der republikanischen Partei selbst zu kommen. Und in der Tat, drei republikanische Senatoren begannen bald nach der Wiederwahl von Präsident Bush öffentlich und politisch gegen die Inhaftierungs- und Verhörpolitik der Regierung vorzugehen: „The three Republicans are John McCain of Arizona, Lindsey Graham of South Carolina and John W. Warner of Virginia, the committee chairman. They have complained that the Pentagon has failed to hold senior officials and military officers responsible for the abuses that took place at the Abu Ghraib prison outside of Baghdad, and at other detention centers in Cuba, Iraq and Afghanistan“.16
Schon in der öffentlichen Debatte zu Abu Ghraib waren McCain, Graham und Warner als scharfe Kritiker der Bush-Administration aufgefallen. Auch in der Anhörung von Gonzales traten sie erneut als innerparteiliche Kritiker in Erscheinung. Mit diesem Triumvirat begann eine Rebellion, die John McCain womöglich die republikanische Kandidatur im Präsidentschaftswahlkampf 2008 bescherte. 15 Zitiert nach „Voice of experience“, USA Today, 5. August 2005. 16 „Cheney Working to Block Legislation on Detainees“, The New York Times, 24 Juli 2005.
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Die drei republikanischen Senatoren versuchten zwar nicht, den Fall Abu Ghraib noch einmal aufzurollen, aber sie setzten sich für einen Gesetzeszusatz ein, der später nach der Gallionsfigur der innerparteilichen Rebellion benannt wurde. Das McCain-Amendment verbot jegliche Form von „cruel, inhuman or degrading treatment or punishment of detainees in American custody“. Es sollte vor allem dazu dienen, Vorfällen wie jenen in Abu Ghraib künftig vorzubeugen und das Verhör von Gefangenen im exterritorialen Guantanamo Bay einem humanitären Mindeststandard zu unterwerfen. Auch die Gefangenen in den geheimen Foltergefängnissen der CIA unterlagen dem Amendment, wobei sich McCain die Option offenhielt, grundsätzlich gegen die Auslagerung von Folter („outsourcing“) vorzugehen. Das Weiße Haus versuchte, die Abweichler wieder auf Regierungslinie zu bringen, und drohte, das Amendment notfalls mit einem Veto des Präsidenten zu blockieren. Interessanterweise verschob die Beteiligung von Republikanern den Rahmen der Debatte völlig. Was den Demokraten als politisch motivierter Winkelzug hätte angekreidet werden können, betraf auf einmal die geteilten Werte der Vereinigten Staaten. Deswegen gab es auch eine starke zivilgesellschaftliche Unterstützung für McCains Vorhaben, dem nur die hehrsten Absichten unterstellt wurden. Auch die USA Today verteidigte den republikanischen Vorstoß mit größtmöglicher Emphase: „McCain’s legislation would provide clear standards for the treatment of detainees and prisoners, something that’s been sorely lacking. In a recent exchange about his amendments, McCain answered a senator who questioned whether terrorists should be treated as POWs. Replied McCain: This is not about terrorists. This is about who we are.“ 17
Ähnlich wie in der Debatte um Abu Ghraib wurde das McCain-Amendment zu einer Schicksalsfrage der amerikanischen Identität stilisiert. So ging es nicht um Fragen der technischen Machbarkeit oder etwaiger Sicherheitsrisiken der Neuregelung, sondern um einen Bereich des „Heiligen“ im Zentrum der Gesellschaft, für den eine obligatorische Geltung in Anspruch genommen wurde. Im Gegensatz zum AbuGhraib-Skandal, bei dem die Frage der Identität aufgrund des Bad-Apple-Narrativs mit der Ausgrenzung von Sündenböcken beantwortet werden konnte, wurden hier rechtliche Regeln der Behandlung von Gefangenen erlassen, die auf kollektive Legitimation zielten und einen Gesinnungswandel signalisierten. Mehr noch als die Aberrationen von Abu Ghraib konnte die überparteiliche Erneuerung des Regelwerkes zur Behandlung von Gefangenen als nationale Frage gerahmt werden, die das kollektive Selbstbild und die geteilten Werte der Amerikaner betraf. Das McCain-Amendment wurde aber auch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Schande von Abu Ghraib gesehen und als eine Gelegenheit der symbolischen Wiedergutmachung und endgültigen Bewältigung des Skandals wahrgenommen. 17 „Voice of experience“, USA Today, 5. August 2005.
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Natürlich waren auch die politischen Interessen der Beteiligten für den innerparteilichen Aufstand entscheidend, insbesondere die Absicht von McCain, sich für die kommenden Präsidentschaftswahlen in eine gute Startposition zu bringen. John McCain hatte sich bereits im Jahr 2000 für die amerikanischen Präsidentschaftswahlen beworben, unterlag aber in den parteiinternen Vorwahlen George W. Bush und dessen Schmutzkampagne. Mit einiger Plausibilität könnte man ihm noch ein weiteres Motiv für seinen Vorstoß unterstellen, nämlich die Rache an dem ehemaligen Konkurrenten Bush, der ihm damals übel mitspielte. Es wäre jedoch eine unzulässige Verkürzung, wollte man McCains politischen Feldzug nur auf seine politischen Interessen oder persönlichen Rachegefühle zurückführen. Nicht nur Nutzenkalküle und strategische Erwägungen strukturieren und motivieren das menschliche Handeln, sondern auch in hohem Maße Wertungen und kulturelle Muster. Dass es McCain als Außenseiter überhaupt geschafft hat, für Bush, den damaligen Favoriten des Parteiestablishments, zu einer ernsthaften Bedrohung zu werden, verdankte sich in erster Linie seinem Image als prinzipiengeleitetem Politiker, das er performativ umzusetzen verstand. Eine wertrationale Handlungsmotivation im Sinne Webers sollte hier also nicht von vorherein ausgeschlossen werden, da sie gerade bei McCain einige Plausibilität für sich in Anspruch nehmen kann. 18 Diese Plausibilität beruht auf kultureller Vermittlung. Sie wird im öffentlichen Diskurs in erster Linie durch Narrative generiert. Im Diskurs zu McCain taucht immer wieder ein Heldennarrativ auf, das auf seine Beteiligung am Vietnamkrieg zurückgeht. Der Soldat McCain wurde 1967 in einem Kampfflugzeug über Vietnam abgeschossen. Da sein Vater zu dieser Zeit Oberbefehlshaber der amerikanischen Truppen in Vietnam war, boten ihm die Vietcongs aus propagandistischen Gründen seine Freilassung an, die er jedoch aus Solidarität zu seinen gefangenen Kameraden ablehnte. Die nächsten fünfeinhalb Jahre verbrachte McCain in Kriegsgefangenschaft und wurde während dieser Zeit selbst Opfer von Folter. Aufgrund seiner Verletzungen aus dieser Zeit sei es ihm bis heute nicht möglich, seine Hände über den Kopf zu heben. Diese Erzählung von Heldentum, Demut und Aufopferung zeichnet nicht nur ein starkes Bild seiner Persönlichkeit, sondern unterstreicht auch die Authentizität seiner Revolte aus hehren Motive. Seine Intervention wurde im zivilgesellschaftlichen Diskurs weder als strategische Handlung noch als Racheakt aufgefasst, sondern als eine Artikulation der universellen Werte, für die Amerika als Nation steht. Die Tatsache, dass McCain nicht der einzige rebellierende Republikaner war, half sicherlich, die Universalität und Kollektivität seiner Bestrebungen zu unterstreichen. Er avancierte allerdings bald zur Gallionsfigur der Revolte und zum Namens18 Eine beeindruckende Schilderung der Persönlichkeit McCains als einem „Antikandidaten“ während seines Vorwahlkampfes 2000 gegen Bush findet sich in einem Essay des Schriftstellers David Foster Wallace (2006/2000), der ihn für das Magazin Rolling Stone eine Woche lang begleitete.
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geber des Amendments, was nicht zuletzt seiner persönlichen Leidensgeschichte geschuldet war, die ihn für diese Rolle prädestinierte: „If Bush administration officials want to get past the prisoner-abuse scandals, they should listen to someone who learned those lessons the hard way at the Hanoi Hilton“,19 hieß es in der USA Today. Im Gegensatz zu McCain, der über das politische Spektrum hinweg als Volksheld und kollektiver Repräsentant anerkannt wurde, wurden Bush und Cheney, die gegen das Vorhaben sturmliefen, als dickköpfige und machtbesessene Antagonisten dargestellt – unfähig, dem nachzugeben, was in zivilgesellschaftlicher Perspektive als klare Sache und moralisches Gebot erschien. Am Ende verabschiedete der Senat mit 90 zu 9 Stimmen.20 Einer der neun Republikaner, die gegen das Amendment gestimmt hatten, begründete seine Ablehnung damit, dass das neue Gesetz dem Image der Vereinigten Staaten mehr schade als nütze: „Supporters claim that this amendment was necessary to send a message that the abuse at Abu Ghraib is inconsistent with our laws and values. But those guilty of abuses already knew their conduct violated our laws and our values. [...] As such, they would not have been deterred even if this amendment were in effect at the time. Finally, the amendment gives the false impression that torture and abuse of detainees was the official policy of the United States government.“21
Vor dem Hintergrund des Abu-Ghraib-Skandals und dem lange Zeit vorherrschenden Bad-Apple-Narrativ ist diese Kritik am „impression management“ (Goffman) der Senatoren durchaus verständlich. Allerdings hatte sich schon im Zuge der Gonzales-Anhörung und in der Debatte um das Amendment ein grundlegender Wechsel in der Rahmung der Abu-Ghraib-Missbrauchsfälle angebahnt. Das Repräsentantenhaus folgte der Entscheidung nur wenig später mit 308 zu 122 Stimmen, wodurch das Gesetzesvorhaben mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet wurde, was sie gegen das drohende Veto des Präsidenten immunisierte. Nach dem überraschenden und überwältigenden Erfolg der Gesetzesinitiative blieb der Bush-Administration nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Die im Vorfeld ausgesprochenen Vetodrohungen waren vergessen, das Amendment wurde aus Regierungskreisen plötzlich gutgeheißen und zu guter Letzt traten Bush und McCain sogar gemeinsam auf, um republikanische Geschlossenheit zu demonstrieren. In der Öffentlichkeit zog Bush allerdings Kritik auf sich, da er die Gesetzesvorlage nur unter dem Vorbehalt unterzeichnete, dass das Amendment nur in Übereinstimmung mit der verfassungsmäßigen Autorität des Präsidenten anzuwenden sei („in a manner consistent with the constitutional authority of the president“). Mit dem Verweis 19 „Voice of experience“, USA Today, 5. August 2005. 20 „Binding the Hands of Torturers“, The New York Times, 8. Oktober 2005. 21 „Nine Explain Interrogation Votes“, The Washington Post, 7. Oktober 2005.
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auf die Autorität des Präsidenten, die auch in den Memoranda nach dem 11. September 2001 eine unrühmliche Rolle gespielt hatten, wurde zum einen auf den Ausnahmezustandes im Krieg gegen den Terror verwiesen, zum anderen aber auf die Interpretationsbedürftigkeit der Anwendung des Gesetzes – was zumindest in der liberalen Öffentlichkeit schlimmste Befürchtungen weckte.22 Das amerikanische Militär begrüßte die Gesetzesänderung ohne jeden Vorbehalt und argumentierte – abweichend von der offiziellen Regierungslinie –, dass die strikte Anwendung des McCain-Amendments zu keinem Konflikt zwischen ziviler Moral und militärischer Notwendigkeit führen würde. Im öffentlichen Diskurs versuchten Vertreter der Armee und Journalisten die Memoranda als Indizien für eine unqualifizierte Übernahme des Militärs durch Zivilisten darzustellen – und damit als ein Missbrauch von Amt und Macht: „When the Bush administration rewrote the rules for dealing with prisoners after 9/11, needlessly scrapping the Geneva Conventions and American law, it ignored the objections of lawyers for the armed services. Now, heedless of the lessons of Abu Ghraib, the civilians are once again running over the people in uniform.“23 Es wird der Eindruck erweckt, dass das Militär in diesen Fragen schon immer auf der Seite der Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen gewesen sei. So hieß es denn auch aus militärischen Kreisen, dass es für die Missachtung der Genfer Kriegskonventionen niemals eine militärische Notwendigkeit gegeben habe, sondern diese alleine von der Bush-Regierung forciert worden sei. Im scharfen Gegensatz zur Position der Memoranda gibt es hier keinen Konflikt zwischen den Gefangenenrechten und der militärischen Sicherheit. In diesem Zusammenhang wurde auch an der Anwendbarkeit des Ticking-BombSzenarios gezweifelt, das die Hauptlast der Begründung von eingeschränkten Gefangenenrechten und verschärfter Verhörtechniken trug: „[O]f the more than 100 prisoners sent by the C.I.A. to its ‚black site‘ camps, only 30 are considered major terrorism suspects, and some have presumably been kept so long that their information is out of date“.24 Das Ticking-Bomb-Szenarios wurde zwar nicht grundsätzlich in Frage gestellt, aber zumindest als fiktive Grundlage für die faktische Reglung der Handhabung von Gefangenen vehement zurückgewiesen. Die New York Times befragte einen Verhörspezialisten des Militärs, der selber Hunde zur Einschüchterung von Gefangenen verwendet hatte, zum Amendment: „The McCain amendment, prohibiting ‚cruel, inhuman, or degrading‘ treatment in all instances, is an accurate reflection of the true values of the military and American society. We should adhere to it strictly and in all cases. I know, from personal experience, that any leeway
22 „Tortured Logic“, The New York Times, 28. Februar 2006. 23 „The Prison Puzzle“, The New York Times, 3. November 2005. 24 „The Prison Puzzle“
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given will be used to maximum effect against detainees. No slope is more slippery, I learned in Iraq, than the one that leads to torture.“25
Der Militärangehörige spricht sich hier gegen die erniedrigende und grausame Behandlung von Gefangenen aus, wobei er die Metapher der „slippery slope“, verwendet, die im Folterdiskurs nach Abu Ghraib eine bedeutende Rolle spielte (10.4). Er sieht in dem McCain-Amendment einen Ausdruck und eine Bestätigung zentraler amerikanischer Werte. Sein Urteil über das Amendment und seine Ablehnung von Folter rechtfertigt er mit seinen persönlichen Erfahrungen im Irak. In analoger Weise wurde das McCain-Amendment im amerikanischen Diskurs als kollektive Lehre aus dem Abu-Ghraib-Skandal gerahmt. Gegen die performative Authentizität, wie sie das ehemalige Folteropfer McCain und der interviewte Verhörspezialist aufweisen, ist im öffentlichen Diskurs nur schwer anzukommen. Auch die USA Today unterstützte das Amendment, dass sie als logische Konsequenz des AbuGhraib-Skandals und der durchgesickerten Memoranda bezeichnete.26 John Yoo, ehemaliger Regierungsanwalt und einer der Verfasser der umstrittenen Memoranda, intervenierte angesichts dieses diskursiven Gegenwindes in der USA Today zu Gunsten der Regierung. 27 Er wiederholte das aus den einschlägigen Memoranda bekannte Argument, dass Terroristen keinen Anspruch auf den Schutz von Kriegsgefangenen hätten, da sie keine Kombattanten im regulären Sinne seien. Darüber hinaus beklagte er, dass das McCain-Amendment die geheimdienstliche Arbeit behindere, die nötig sei, um weitere Terrorangriffe zu verhindern. Ebenso hätte das McCain-Amendment nicht die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib verhindert, bei denen es sich um ein „sadistic behavior on a ‚night shift‘“ gehandelt habe, das schon unter den damals geltenden Regeln unzulässig gewesen sei. McCain und andere Befürworter des Amendments argumentierten allerdings nicht, dass Abu Ghraib die Folge fehlender Regeln gewesen sei, sondern vielmehr, dass eine Verwirrung unterschiedlicher Regeln zu anomischen Zuständen geführt habe. Schuld an Abu Ghraib sei „weak leadership“ gewesen – ein Argument, das auch in konservativen Kreisen, in denen bekanntermaßen auf moralische Autonomie und klare Autorität gesetzt wird (vgl. 4.3.2), Anklang fand. Diese Behauptung wurde durch Berichte untermauert, die einen Transfer von Techniken aus Guantanamo Bay, wo die Genfer Konventionen nicht galten, nach Abu Ghraib nachwiesen, wo die Genfer Konventionen hätten Anwendung finden sollen (Schlesinger 2005/2004: 923-926). Das McCain-Amendment sollte einen einheitlichen Standard zur Behandlung von Gefangenen sichern, der im Gegensatz zu den bisherigen Regelungen überall dort galt, wo Amerikaner die faktische Kontrolle über Gefangene besaßen. 25 „Tortured Logic“, The New York Times, 28. Februar 2006. 26 „Abu Ghraib inflamed the debate over abuse“, USA Today, 10. November 2005. 27 „Terrorists are not POWs“, USA Today, 2. November 2005.
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9.3 D IE S UPREME -C OURT -U RTEILE
ZU
G UANTANAMO B AY
Judges are like the rest of us. ROBERT M. COVER, NOMOS AND NARRATIVE (1983: 67)
Bevor wir zu der Analyse des Diskurses über die Urteile des Supreme Courts übergehen, ist es zunächst einmal auf das Verhältnis von Recht, ziviler Sphäre und Gewalt einzugehen. Das Recht ist – wie die öffentliche Moral – eine symbolische, genauer: eine normative Ordnung, die sich an einem binären Code und an Programmen orientiert, welche die Zuweisung von Codewerten regeln (vgl. 1.3.2 und 4.3). In der Ausgestaltung der Programmebene unterscheiden sich die unterschiedlichen Rechtskulturen und -auffassungen. So zeichnet sich das anglo-amerikanische Fallrecht dadurch aus, dass früheren Entscheidungen ein großes Gewicht bei der aktuellen Rechtsprechung zukommt, während im europäisch-kontinentalen Recht den Richtern ein freier Umgang mit dem Rechtstext zugestanden wird, auch wenn sie dazu angehalten werden, Rechtskontinuität zu wahren. Abweichungen von vorangegangenen Entscheidungen sind hingegen im Fallrecht in besonderer Weise begründungspflichtig, da die Richter dazu verpflichtet sind, ihre Urteile im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung zu fällen („stare decisis“). Wie jede symbolische Ordnung, so ist auch das Recht auf ein soziales Imaginäres, auf Narrative und Bilder angewiesen (Cover 1983; Joly et al. 2007). Erst der kulturelle Hintergrund des Rechts stellt vorintentionale Entscheidungsprämissen bereit, aufgrund derer Rechtsprechung möglich wird. Hier berührt sich das staatliche Recht mit der öffentlichen Moral, da beide in weiten Teilen in ihrer Bewertung von Handlungen übereinstimmen. Ein wesentlicher Aspekt unterscheidet das Recht allerdings von der öffentlichen Moral: Das Recht als eine staatliche Institution kann das staatliche Gewaltmonopol legitim nutzen, um Sanktionen zu erzwingen. Der öffentlichen Moral ist der legitime Gebrauch von Gewalt untersagt. Sie muss auf die grundlegenden Mechanismen der Achtung und Missachtung zurückgreifen. Dabei übt der öffentliche Diskurs einen entscheiden Einfluss auf die Rechtsprechung aus, wie im Folgenden an den rechtlichen Nachwirkungen des Abu-Ghraib-Skandals deutlich werden wird. Am 28. April 2004, wenige Stunden bevor die Abu-Ghraib-Bilder das erste Mal öffentlich gezeigt wurden, schloss die Anhörung des Supreme Courts im Fall Hamdi v. Rumsfeld. Bei Yasir Hamdi handelte es sich um einen amerikanischen Bürger, der im Jahr 2001 von amerikanischen Streitkräften in Afghanistan gefangen genommen wurde. Ihm wurde zur Last gelegt, für die Taliban gekämpft zu haben. Zunächst war er Insasse des exterritorialen Gefangenenlagers in Guantanamo Bay, später wurde er in ein Gefängnis auf dem Territorium der Vereinigten Staaten verlegt. Hamdi wurde als feindlicher Kombattant eingestuft, was ihn seines konstitutionellen Rechts, die Inhaftierung anzufechten (habeas corpus), beraubte. Ein Amts-
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gericht urteilte, dass Hamdi aufgrund des fünften Amendments der amerikanischen Verfassung freigelassen werden müsse. Diese Entscheidung wurde jedoch vom nächsthöheren Gericht wieder zurückgenommen, weswegen der Fall schließlich vor das amerikanische Verfassungsgericht gelangte. Einige Tage vorher, am 20. April 2004, hatte die Verhandlung des Falles Rasul v. Bush stattgefunden, in welcher das Recht auf habeas corpus für Internierte ausländischer Nationalität eingefordert wurde. Der Sender CNN berichtete über diese Fälle und befragte hierzu Experten. Einer von ihnen, Kendall Coffey, sagte eine „split decision“ voraus: „I think they’re going to rule for the administration with respect to foreign nationals being detained on foreign soil. But coming up next week, something much closer call, much more challenging to many, and that is the administration’s decision to declare a U.S. citizen an enemy combatant, hold them on U.S. territory, without any of the rights that are in the Bill of Right. No right to a lawyer, no Miranda rights, none of the basic constitutional guarantees. That is a very, very different proposition. And to some extent, I think what you may see is a balance outcome for the Supreme Court, saying we’re going to protect the administration’s right to deal with foreign nationals overseas. But when it comes to our own country, our own citizens, the United States Constitution is alive and well.“ 28
Coffey äußerte die Erwartung, dass Rasul v. Bush für die Regierung entschieden werden würde, während bei Hamdi v. Rumsfeld, die Entscheidung zu Gunsten des inhaftierten Amerikaners ausfallen werde. Zu diesem Zeitpunkt, eine Woche vor der Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Bilder, herrschte noch ein allgemeiner Konsens darüber, dass der Supreme Court, wenn es um die Rechte ausländischer Gefangener gehe, die Regierung mit ihrer bisherigen Praxis gewähren lassen würde. Nach dem Ausbruch des Abu-Ghraib-Skandals legt Alan Dershowitz, der Folterbefürworter (6.4.2), in der Talkshow des konservativen Joe Scarborough sein Verfassungsverständnis dar ‒ und gibt eine Prognose zu den bevorstehenden Urteilen ab: „So, as a liberal, I believe the Constitution has to adapt to changing reality. And, of course, my views changed after September 11. You have to be somebody who is blind, deaf and dumb not to be influenced by the real world that’s out there, just like the Supreme Court is going to be influenced by the pictures at Abu Ghraib. If I had to write a new book about ‚America on Trial‘ five years from now, the trial of the soldiers at Abu Ghraib and the cases which are in my book with the detainees clearly will be influences by the photographs, more than by the argument, more than by the briefs. The photographs will impact the Supreme Court’s decision because justice is a function of real experience.“29 28 „Jail Attack in Iraq Killed More Than 21 Detainees; Lawmakers Look For Answers in Iraq Hearing; Guantanamo Prisoners“, CNN Live Today (10:00), 20. April 2004. 29 Scarborough Country (22:00), MSNBC, 20. Mai, 2004.
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Dershowitz illustriert sein „liberales“ Verfassungsverständnis am Beispiel des 11. Septembers 2001, der ihn selbst dazu brachte, öffentlich für den Einsatz und die Legalisierung von Folter im Kampf gegen den Terror einzutreten (2002: 131-163), aber auch am Beispiel von Abu Ghraib, dem er – hellsichtig – einen Einfluss auf die künftigen Entscheidungen des Supreme Courts zuspricht; genauer: den Skandalfotografien, weniger den Missbrauchsfällen selbst. Aus einer kultursoziologischen Perspektive greift der von ihm beschriebene Mechanismus, welcher die richterliche Entscheidung als „Funktion der realen Erfahrung“ des Richters auffasst, sicherlich zu kurz.30 Erfahrungen finden immer schon vor einem spezifischen kulturellen Hintergrund statt und wirken auf diesen zurück. Im Folgenden ist zu zeigen, dass sich der Einfluss von Abu Ghraib auf die Entscheidungen des obersten amerikanischen Gerichts keineswegs in der rationalen Anwendung realistischer Einsichten erschöpft, sondern durch kulturelle Resonanz zu Stande kam. 9.3.1 Rasul v. Bush – Die rechtliche Einhegung von Guantanamo Am 28. Juni, genau zwei Monate nach Ausbruch des Abu Ghraib Skandals, entschied der Supreme Court über beide Fälle. 31 Den Fall Hamdi v. Rumsfeld entschied der Oberste Gerichtshof mit sechs zu drei Stimmen, dass dieser das Recht besäße, seine Inhaftierung vor einer neutralen Instanz anzufechten. Der Gerichtshof argumentierte, dass die hierfür vorgesehenen militärischen Verfahren den erforderlichen (zivilen) Standards nicht genügten. Am 9. Oktober 2004 wurde Hamdi, nachdem er sich – angeblich aus freien Stücken – dazu bereit erklärt hatte, seine amerikanische Staatbürgerschaft abzulegen, nach Saudi-Arabien entlassen. Im zweiten Fall urteilte der Supreme Court ebenfalls mit sechs zu drei Stimmen, dass Rasul und andere sich in Guantanamo befindliche Gefangene aus dem nichtfeindlichen Ausland das Recht hätten, ihre Klassifikation als „feindliche Kombattanten“ anzufechten. Rasul v. Bush wurde zu einem bedeutenden Präzedenzfall, weil die Entscheidung des höchsten Gerichts implizierte, dass auch das exterritoriale Gefangenenlanger Guantanamo in den Bereich der Rechtsprechung von Bundesgerichten fiel. Das Urteil war juristisch umstritten und kam, nachdem alle niederen Instanzen das Ansinnen der Kläger abschlägig beurteilten, eher unerwartet. Deren Urteile beriefen sich auf den Fall Johnson v. Eisentrager, bei dem einem deutschen Kriegsverbrecher in einem amerikanischen Gefängnis in Deutschland im Jahr 1970 das Recht des habeas 30 Ein kulturwissenschaftlich informierter Zugang zum Rechtsystem, der das Problem der Konstitution rechtlicher Bedeutungen in den Vordergrund stellt, findet sich in Robert Covers Artikel „Nomos and Narrative“ in der Harvard Law Review (1983). Cover verwendet den Begriff des „Nomos“ im Sinne eines welterschließenden Horizonts, der auf vorintentionalen „interpretative commitments“ und „narratives“ beruht (4.3.1). 31 Mehr Informationen zu diesen Fällen sind in dem Artikel von Christiane Wilke (2005), aber auch anderen Beiträgen zu finden (Roosevelt III 2005; Thai 2006; Mahler 2008).
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corpus verweigert worden war. Am 28. Juni entschied das höchste Gericht der Vereinigten Staaten, dass dieses Urteil in wesentlichen Teilen überholt sei. Dabei berief sich das Gericht auf eine obskure abweichende Meinung in einem früheren Fall, die bis dato weitestgehend ignoriert wurde (vgl. Thai 2006). In Anbetracht dieses überraschenden und kontroversen Urteils war der Einfluss des Abu-Ghraib-Skandals auf das Urteil eine heiß debattierte Frage: „While the Supreme Court cases all involved detentions resulting from the war against the Taliban in Afghanistan and had no connection to Iraq, there was much speculation in the intervening weeks about what impact the revelations from Abu Ghraib might have on the court. Not surprisingly, no justice made a direct reference to those events. But it was difficult to read some of the passages in a vacuum.“32
Einer der Richter, O’Connor, schrieb in seiner Urteilsbegründung: „History and common sense teach us that an unchecked system of detention carries the potential to become a means for oppression and abuse of others“. Steven Shapiro, Rechtsexperte der American Civil Liberties Union (kurz: ACLU), sagte gegenüber der USA Today, dass – obwohl das Gericht Abu Ghraib mit keinem Wort erwähnt hatte – es schwer vorstellbar sei, dass der Skandal dieses Urteil samt seiner Begründung, dass unkontrollierte Macht möglichem Missbrauch Tor und Tür öffne („that unchecked power invites abuse“), nicht beeinflusst hätte.33 Am amerikanischen Unabhängigkeitstag veröffentlichte die New York Times einen Artikel, in dem sich mehrere Rechtsexperten zum Einfluss des Abu-Ghraib-Skandals auf die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes äußerten.34 Ein Rechtsprofessor bezeichnete die Urteile als durch Abu Ghraib vorherbestimmt („foreordained“), während ein anderer argumentierte, dass das höchste Gericht auf die Veröffentlichung der Memos reagiert habe. Professor Geoffrey R. Stone resümierte: „The court had to be affected by the realization that these decisions would be acceptable in the current political climate“. Die Begleitumstände des Urteils und die Expertenmeinungen scheinen unserer theoretisch begründete Vermutung recht zu geben (4.3.1), dass rechtliche Entscheidungen niemals vollständig durch geltendes Recht determiniert werden, sondern auch dem Einfluss eines diffusen Hintergrundverständnisses bzw. politischen Klimas unterliegen. Die Urteile des obersten amerikanischen Gerichtes sind zu einem gewissen Teil der öffentlichen Meinung verpflichtet und auch vorintentionalen Einflüssen aus der zivilen Sphäre ausgesetzt. Wir können die bisherigen Befunde als eine Bestätigung und Spezifizierung unserer leitende These auffassen, dass der Abu-Ghraib-Skandal nicht nur Veränderungen im Diskurs zeitigte, sondern auch zu 32 „Access to Courts“, New York Times, 29. Juni 2004. 33 „High Court protected liberties by limiting presidential power“, USA Today, 2. Juli 2004. 34 „One eye on the principle, another on the people’s will“, New York Times, 4. Juli 2004.
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weitreichenden Folgen in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen führte. Trotz allem waren die Urteile des höchsten Gerichts nicht unumstritten. Es gab nicht nur drei richterliche Gegenstimmen, sondern es meldeten sich auch einige konservative Kritiker zu Wort, die darüber klagten, dass sich ungewählte Richter anmaßten, in die Politik einer gewählten Regierung einzugreifen. Diese Kritiker stellten jedoch nur eine Minderheitsmeinung im Diskurs dar. Das Beispiel zeigt, dass die Legitimität der Urteile von Verfassungsrichtern, die über die bloße Legalität des Verfahrens hinausgeht, sich ihrer Anerkennung durch öffentliche Diskurse verdankt. Trotz dieses Rückschlags für die Regierung wirkte sich das Urteil nur begrenzt auf die Situation der Häftlinge in Guantanamo aus. Dies lag unter anderem daran, dass die BushAdministration die Anweisung gab, dass das Urteil des Supreme Court möglichst eng zu interpretieren sei.35 Es scheint, dass die Anwendung dieses Urteils vom höchsten Gericht als eine Kampfansage aufgefasst wurde. In zwei weiteren Urteilen, die im Folgenden zu diskutieren sind, wurde die Regierungspraxis für verfassungswidrig erklärt und den Häftlingen noch umfassendere Rechte zugestanden. 9.3.2 Hamdan v. Rumsfeld – Das „Kriegsverbrechertribunal“ Salid Ahmed Hamdan wurde am 14. November 2001 während der Invasion von Afghanistan festgenommen und in Guantanamo untergebracht. Am 14. Juli 2004, wenige Wochen nach der Urteilsverkündung im Fall Rasul v. Bush, wurde er wegen Verschwörung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. An diesem Fall wird ein Effekt der vorangegangenen Niederlage der Regierung vor dem Verfassungsgericht deutlich. Militär und Regierung standen unter Rechtfertigungsdruck und zeigten sich durchaus bemüht, den rechtsstaatlichen Minimalanforderungen nachzukommen und Verfahren gegen die Häftlinge einzuleiten. Darüber hinaus musste man dem naheliegenden, durch die Bilder von Abu Ghraib geschürten Verdacht entgegenwirken, dass es sich bei den Häftlingen in Guantanamo vorwiegend um die unschuldigen Opfer einer willkürlichen Inhaftierungspraxis gehandelt habe. Hamdan gab in diversen Verhören zu, als persönlicher Chauffeur für Osama bin Laden gearbeitet zu haben, bestritt aber jegliche Beteiligung an den terroristischen Aktivitäten von Al-Quaida. Er und seine Anwälte versuchten, das Recht auf Gewährung von habeas corpus einzuklagen, indem sie argumentierten, dass die für ihn zuständige Militärkommision illegitim sei und ihm Gefangenenrechte nach der Genfer Kriegskonvention zuständen. Die für sein Verfahren eingesetzte Militärkommission wurde von einem höheren Gericht gerügt, da sein möglicher Status als Kriegsgefangener noch nicht zureichend geklärt worden sei und die Kommission zudem nicht den formalen Richtlinien des Militärrechts entspräche.
35 „Detainees Lose Bid For Release; Ruling Keeps 7 in Guantanamo Prison“, The Washington Post, 20. Januar 2005.
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Am 17. Juli 2005 wurde Hamdan von einem Amtsgericht der Status eines Kriegsgefangenen mit der Begründung, dass es sich bei ihm erwiesenermaßen um ein Mitglied der Al-Quaida handele, abgesprochen. Am 29. Juni 2006 wurde diese Entscheidung durch den Supreme Court, der die nach Rasul v. Bush eingesetzten Militärkommissionen für unzulässig befand, widerrufen. Das Gericht entschied, dass der Präsident mit der Einsetzung der Militärkommissionen seine verfassungsmäßigen Befugnisse überschritten habe, da er hierzu die Zustimmung des Kongresses hätte einholen müssen.36 Darüber hinaus stellte der Supreme Court fest, dass die Genfer Kriegskonventionen trotz des Sonderstatus der Gefangenen in Guantanamo in wesentlichen Teilen auf diese anzuwenden seien. Nach der Urteilsverkündung beschloss die Bush-Regierung, den dritten Artikel der Genfer Kriegskonventionen, der schon in weiten Teilen durch das McCain-Amendment abgedeckt wurde, auf die Gefangenen in Guantanamo anzuwenden. Artikel 3 untersagt nämlich die entwürdigende und erniedrigende Behandlung von Kriegsgefangenen, macht darüber hinaus aber auch Gerichtsprozesse erforderlich, die einem gewissen zivilisatorischen Mindeststandard genügen. In einem Bericht der New York Times wurde spekuliert, dass eine universale Geltung der Genfer Konventionen vermutlich jene „Verwirrung“ (confusion) verhindert hätte, die mittlerweile als eine der Hauptursachen der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib galt.37 Obwohl das Urteil im Großen und Ganzen von der Öffentlichkeit begrüßt und auch in seinen politischen Konsequenzen gut geheißen wurde, fanden sich einige kritische Stimmen. 38 Das konservative Editorial des Wall Street Journal titelte beispielsweise am 13. Juli 2006: „How do we get to this Osama in Genevaland world“; hier wurde nicht alleine der Supreme Court, sondern auch die amerikanische Militärführung wegen eines internen Memorandums, das selbst Terroristen unter den Schutz von Artikel 3 der Genfer Konventionen stellt, heftig kritisiert. Das Verfahren gegen Hamdan, das zwei Jahre später stattfinden sollte, wurde in den amerikanischen Medien als das erste amerikanische Kriegsverbrechertribunal seit dem zweiten Weltkrieg angekündigt. Nein, es ging zunächst nicht um mögliches Unrecht, das Hamdan von Seiten der amerikanischen Regierung zugefügt worden war; vielmehr warf man ihm zwei „Kriegsverbrechen“ vor, „Verschwörung“ und „materielle Unterstützung einer terroristischen Organisation“. Zum Erstaunen aller Beteiligten versuchte die Verteidigung den Spieß umzudrehen und warf ihrerseits dem Militär eine unmenschliche Behandlung ihres Mandaten vor: 36 Damit wendete sich das Gericht gegen die konservative Doktrin der „Unitary Executive“ (vgl. Hasian 2007; Calabresi & Lawson 2007). 37 „Terror and Presidential Power, Bush Takes a Step Back“, The New York Times, 12. Juli 2006. 38 Eine Auswahl von Kommentaren zu dem Urteil findet sich in folgendem Zeitungsartikel: „Shift on detainee policy long overdue“, USA Today, 14. Juli 2006.
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Während seiner Haft sei er geschlagen, sexuell gedemütigt und fünfzig Tage in einem Schlafentzugsprogramm gehalten worden39 – Vorwürfe, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Abu Ghraib nicht jeder Plausibilität und vor allem Anschaulichkeit entbehren. Am 28. Juli wurde dann schließlich ein Dokument freigegeben, das von der Verteidigung als Beweis für die sexuelle Demütigung ihres Mandanten durch einen amerikanischen Soldaten interpretiert wurde, was die Anklage vehement bestritt.40 Die Verteidigung von Hamdan, insbesondere aber der Vorwurf der sexuellen Demütigung, stellten eine Nähe zum Abu-Ghraib-Skandal her: Der Angeklagte wurde zum leidenden Opfer, seine Inhaftierung zum Martyrium stilisiert. Auch wenn es in dem Verfahren offiziell immer noch um den „Täter“ Hamdan ging, fand im öffentlichen Diskurs eine Verschiebung statt. So schrieb William Glaberson in der New York Times: „There has been no testimony about shots fired or bombs detonated by Mr. Hamdan. Instead, the case is a mundane tour of terrorism, as seen from the driver’s seat“. 41 Das medial aufgebauschte „Kriegsverbrechertribunal“ erfuhr einen jähen Absturz ins Profane und Alltägliche. Dies wird insbesondere auch durch folgenden Hinweis deutlich: „Mr. Hamdan’s offenses are not enumerated anywhere, but appear to include checking the oil and the tire pressure“. Aufgrund der mangelnden Beweislage fiel es der Anklage schwer, den Angeklagten als Schurken darzustellen und damit das High-Mimesis-Narrativ beizubehalten. Die Anklagepunkte erschienen schließlich als tragische Nebenfolgen eines „ganz normalen Jobs“. Das Verfahren gegen den mutmaßlichen Terroristen verkam zur satirischen Farce. Hamdan hat am Ende einfach nur für den falschen Mann gearbeitet. Glaberson resümiert: „Early in the week, the prosecutors appeared confident that the images of Mr. Hamdan next to the center of the plots would secure a conviction. But by week’s end, they appeared defensive. After years of planning, the first war crimes trial here was focused, not on a terrorism kingpin, but on his driver.“ Die abschließende Frage, die zu entscheiden war, lautete: Handelte es sich bei Hamdan nun um einen „driver“ oder um einen „war criminal“? Eine Verurteilung hätte nicht nur die von den Anklägern geforderten dreißigjährige (unter Nichtanrechnung der bisherigen Inhaftierungszeit), sondern auch eine lebenslange Haftstrafe zur Folge haben können. Am 7. August wurde Hamdan schließlich wegen des „Kriegsverbrechens“ der „materiellen Unterstützung terroristischer Organisationen“ zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Da die Zeit seiner Inhaftierung seit der Eröffnung des Verfahrens auf seine Haftstrafe angerechnet wurde, reduzierte sich die weitere Haftzeit auf fünf Monate. Bei der Urteilsverkündung, die der Gefangene noch einmal nutzte, um sich bei den Opfern des Terrorismus zu entschuldigen, blieb allerdings unklar, ob Hamdan nach dem Absitzen seiner Haftstrafe auch wirklich 39 „Detainee’s Lawyers Make Claim on Sleep Deprivation“, New York Times, 15. Juli 2008. 40 „Lawyers for Detainee Assert Coercion“, New York Times, 31. Juli 2008. 41 „Prosecutors State Case in First Guantánamo Trial“, New York Times, 26. Juli 2008.
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freigelassen werden würde, da die Bush-Regierung ihn aufgrund seiner unveränderten Einstufung als „ungesetzlichen Kombattanten“ prinzipiell unbegrenzt hätte festhalten dürfen. Ein Pentagon-Sprecher deutete nach der Urteilsverkündung an, dass damit allerdings nicht zu rechnen sei. Ein derartiger Missbrauch von Souveränität wäre mit Sicherheit auf zivilgesellschaftlichen Widerstand gestoßen. Im November 2008, nach der Wahl Obamas zum US-Präsidenten, wurde Hamdan in ein Gefängnis nach Jemen verlegt, um dort den letzten Monat seiner Haft zu verbringen. Da die Anklage nur einen Phyrossieg erringen konnte, der gerade einmal ihr Gesicht wahrte, muss ein Scheitern des „Kriegsverbrechertribunals“ konstatiert werden. 9.3.3 Boumediene v. Bush – Die Restauration des habeas corpus Bei dem letzten Fall, der für uns von Interesse ist, handelt es sich um eine Anklage von Lakhdar Boumediene, der in Algerien geboren und später in BosnienHerzegowina eingebürgert wurde. Im Januar 2002 wurde Boumediene aufgrund eines Gesuches der Vereinigten Staaten in Bosnien verhaftet und in Guantanamo inhaftiert. Im Verfahren Boumediene v. Bush entschied der Supreme Court mit fünf zu vier Stimmen, dass auch in Guantanamo den Inhaftierten ohne amerikanische Staatsbürgerschaft das Grundrecht des habeas corpus zustehe. Der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin pries das Urteil in der renommierten New York Review of Books als großen Sieg,42 während konservative Kritiker – unter ihnen diesmal auch Senator McCain – darauf hinwiesen, dass das Urteil die Möglichkeiten der Terrorismusbekämpfung unnötigerweise einschränke. John McCain, nun auf Abgrenzung zu seinem Konkurrenten Obama bedacht (10.1), kritisierte die Entscheidung des Supreme Courts mit der Begründung, dass das Urteil nicht nur die Vereinigten Staaten im Krieg gegen den Terror unnötig behindere, sondern auch die Macht des Volkes in die Hände von Anwälten lege und dabei nicht einmal den Gefangenen selbst zu Gute komme. McCain beschwor, wie schon die Bush-Administration zuvor, die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen „unlawful combatant“ und „prisoner of war“. Barack Obama unterstützte dagegen die Entscheidung des Obersten Gerichtes. Interessanterweise setzte gerade der Charismatiker Obama auf eine demokratische Kontrolle durch Institutionen, während die Republikaner mit dem vermeintlichen Willen der Mehrheit argumentierten. Jonathan Mahler zufolge erhöhte sich die Interventionsbereitschaft des Supreme Courts schrittweise.43 Das erste Urteil im Fall Hamdi v. Rumsfeld gewährte amerikanischen Bürgern, die als feindliche Kombattanten eingestuft wurden, erstmals ei42 Dworkin, Ronald: „Why it Was a Great Victory“, The New York Review of Books 55 (13), 14. August 2008. 43 „Why This Court Keeps Rebuking This President“, The New York Times, 15. Juni 2008. Jonathan Mahler veröffentlichte unter anderem auch eine Monografie über den Fall Hamdan v. Rumsfeld (2008).
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ne realistische Möglichkeit, gegen ihre Gefangenschaft juristisch vorzugehen. Die Urteilsverkündung im Fall Rasul v. Bush, die genau genommen am selben Tag erfolgte wie die Urteilsverkündigung im Fall „Hamdi“, wird von Mahler als der zweite Akt innerhalb seines Narratives von der zunehmenden Einflussnahme des Obersten Gerichts auf die Regierungspolitik dargestellt: „The second ruling, in Rasul v. Bush, came soon after the scandal at Abu Ghraib. Though momentous, it was still limited. The court found, 6-3, that Guantanamo Bay was within United States jurisdiction and subject to its laws, meaning detainees there were entitled to some sort of due process in American courts. It didn’t specify the process, nor suggest that Congress couldn’t amend a law through which detainees could access the courts.“ 44
Im dritten Verfahren, Hamdan v. Rumsfeld, urteilte das Gericht, dass der Präsident mit der Schaffung von Militärkommissionen seine konstitutionelle Autorität überschritten habe und den Gefangenen zumindest einige Rechte der Genfer Kriegskonventionen zuständen. Im Gegenzug gelang es der Bush-Regierung, im Kongress eine Autorisierung ihrer Militärkommissionen zu erwirken, worauf es zur vierten Entscheidung des Supreme Courts kam: „In response, the administration succeeded in getting Congress to authorize the military commissions and stripping the Guantanamo detainees of the right to habeas corpus. Which brings us to last week’s ruling in Boumediene – and the 5-4 decision to restore that ancient right.“ Mahler bietet zwei Erklärungen für die gestiegene Interventions- und Kritikbereitschaft des Gerichtes an. Einerseits wurden die Befugnisse der Exekutive durch den Krieg gegen den Terror als nationalem Ausnahmezustand zunehmend ausgeweitet, was auf lange Sicht eine Gegenreaktion des Obersten Gerichtshofs provozieren musste. Andererseits war nach mehreren Jahren immer noch keine Ende des Krieges gegen den Terror in Sicht, was den Ausnahmezustand zur Normalität und Regel werden ließ, was den Verfassungsrichtern Kopfschmerzen bereitet haben dürfte. Die erste Erklärung verweist auf den Konflikt zwischen der Kontrollfunktion des Verfassungsgerichts und der schrankenlosen Ausweitung von politischer Macht, die zweite auf die Normalisierung eines rechtlichen Ausnahmezustands, welcher der Logik des Rechts zuwiderläuft. Beide Erklärungen, die ansonsten weitestgehend plausibel und zutreffend sind, verleihen den höchstrichterlichen Entscheidungen eine Zwangsläufigkeit, die dem politischen Imaginären der Gewaltenteilung als einem System der „checks and balances“ entspricht, aber die Kontingenz von Ereignissen nicht zureichend berücksichtigt. So wie der 11. September 2001 als traumatischem Ereignis eine Ausweitung der Befugnisse der Exekutive in den Vereinigten Staaten zuallererst möglich machte (6.4), ist anzunehmen, dass die genannten Urteile nur in dem durch den Abu-Ghraib-Skandal geschaffenen politischen 44 „Why This Court Keeps Rebuking This President“.
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Klima fallen konnten. Sowohl die Entwicklung des Skandals als auch die soeben untersuchte Serie von Urteilen zeugen von einer zunehmend kritischen Haltung gegenüber der Bush-Regierung und einer sich ausweitenden Anerkennung der Opfer des Krieges gegen den Terror in der amerikanischen Öffentlichkeit. Es wäre sicherlich zu kurz gegriffen, allein im Abu-Ghraib-Skandal die treibende Kraft hinter all diesen Entscheidungen und diskursiven Verschiebungen zu sehen. Genauso wenig sollte man aber die Bedeutung von Abu Ghraib als einer ikonischen Wendung im öffentlichen Diskurs unterschätzen. Der Skandal leistete einen kontinuierlichen Beitrag zur Diskreditierung der Antiterrorpolitik der Vereinigten Staaten, was auch die Rechtsprechung zu Guantanamo beeinflusste. Der Anwalt Mahler beschließt seinen Artikel mit einem Loblied auf die zivile Kraft des Rechts, das zugleich eine Entgegnung auf seine konservativen Kritiker darstellt: „The justices may represent something of an undemocratic force – unelected, appointed for life, accountable to no one – but a generation before this administration took office, Vietnam and Watergate were already raising calls for a strong judiciary to police the political branches of the government“.45 Interessant sind jedoch die Ereignisse und Symbole, die er in diesem Zusammenhang gebraucht. Seine Verwendung von „Watergate“ als einem negativ besetzten Symbol im amerikanischen Diskurs stellt eine Parallele zwischen Bush und Nixon her, wie sie auch in anderen Kontexten immer wieder auftauchte. Darüber hinaus beschwört er durch den Verweis auf den Vietnamkrieg das Bild des Iraks als zweitem Vietnam. Abschließend soll noch einmal kurz auf das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Rechtstaatlichkeit eingegangen werden. Obwohl in demokratischen und liberalen Gesellschaften die demokratische Wahl geschätzt wird, werden nicht alle Institutionen der zivilen Sphäre durch dieses Prinzip legitimiert und organisiert. Verfassungen sind ein gutes Beispiel dafür, da sie als Ausdruck von normativen Prinzipien, die der zivilen Sphäre zu Grunde liegen, außerhalb des Bereichs des Wählbaren liegen. Gerade aufgrund ihrer Heiligkeit und ihrer Verankerung im Zentrum einer Gesellschaft müssen Verfassungen dem alltäglichen Kampf der politischen Interessen enthoben werden. Diese normative Verpflichtung auf gemeinsame Werte und eine kollektive Identität macht den Unterschied zwischen einer funktionierenden Demokratie und einem populistischen Regime aus. Eine liberale Demokratie bleibt nicht nur ihrem Code, sondern auch ihrem Codex verpflichtet. Allerdings geht mit der Anwendung eines Gesetzes immer eine Interpretation einher, wodurch zivilgesellschaftliche Diskurse und das soziale Imaginäre in die Entscheidungen der Richter einfließen. Dies geschah, als der Abu-Ghraib-Skandal das moralische und politische Klima in den Vereinigten Staaten nachhaltig veränderte und letztlich zu einer Kehrtwende in den Rechtauffassungen und Praktiken führte, die kurz nach dem 11. September 2001 als notwendig erachtet wurden. 45 „Why This Court Keeps Rebuking This President“.
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9.4 P OLITISCHER AKTIVISMUS UND POLITISCHE K UNST ICONS live their own lives. SARAH BOXER, JOURNALISTIN46
Die Bilder von Abu Ghraib verschafften sich eine öffentliche Präsenz und standen für einige Wochen im Zentrum der nationalen, wenn nicht sogar globalen Aufmerksamkeit. Die Verbreitung und Verarbeitung der Abu-Ghraib-Bilder fand aber nicht nur in den klassischen Medien der politischen Öffentlichkeit, sondern bereits nach wenigen Monaten auch im Medium der Kunst statt – wenn auch die Grenzen zwischen Kunst und Politik nicht immer leicht zu ziehen sind. Schon die Produktion der Fotografien in Abu Ghraib kann im Sinne von Walter Benjamin (2006: 381383) als eine „Ästhetisierung des politischen Lebens“ verstanden werden. Der Ästhetisierung der Politik durch den zeitgenössischen Faschismus hält Benjamin die „Politisierung der Kunst“ im Kommunismus entgegen. In ähnlicher Weise erfolgte auf die Ästhetisierung der Folter in Abu Ghraib eine künstlerische Auseinandersetzung mit ihren Bildmotiven in politischer Absicht. Im Folgenden soll dieser „Politisierung der Kunst“ im politischen Aktivismus, aber auch in den bildenden und darstellenden Künsten nachgegangen werden. Schlussendlich folgt eine Reflexion auf die „doppelte Mimesis“ der politischen Kunst. Eine künstlerische Auseinandersetzung mit den Fotografien von Abu Ghraib fand bereits statt, als diese Bilder in Museen ausgestellt wurden. Benjamin unterstellt in seinem Aufsatz zur technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, dass mit der Reproduktion und Ausstellung des Kunstwerks, insbesondere aber mit der Fotografie, dessen Aura und Kultwert schwinde (2006: 160-163). Dies trifft auf die Abu-Ghraib-Fotografien überhaupt nicht zu. Schon im Medienskandal wurden sie zum Gegenstand eines öffentlichen Kultes, zu Trägern kollektiver Emotionen und zu unreinen Repräsentationen des gesellschaftlichen Heiligen. Die Ausstellung der Skandalbilder in einem Kunstmuseum stellt ein ungewöhnlicher Akt dar, der die Bilder erst recht zu Kultobjekten werden ließ. Dort gaben die Bilder noch einmal auf andere Weise zu denken. Vom 17. September bis zum 28. November 2004 wurden im International Center of Photography in New York unter dem Titel „Inconvenient Evidence“ die gedruckten Skandalfotografien ausgestellt.47 Brian Wallis, Direktor und Chefkurator des Centers, schreibt den Bildern eine unmittelbare politische Botschaft zu, da sie die offizielle Bildpolitik der Regierung unterlaufen:
46 „Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal“, The New York Times, 13. Juni 2004. 47 Vollständiger Titel: „Inconvenient Evidence: Iraqi Prison Photographs from Abu Ghraib“; der Katalog im Internethttp://museum.icp.org/museum/exhibitions/abu_ghraib /abu_ghraib_brochure.pdf:, letzter Zugriff am 21. Juni 2011.
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„In this regard, the Abu Ghraib images undercut both of the Bush administration’s highminded visual strategies in selling the Iraqi War: on the one hand, to suppress all unpleasant or unplanned images (of Iraqi civilian deaths or flag-draped coffins of dead U.S. soldiers), and, on the other hand, to promulgate highly theatrical and carefully scripted photographs of good news (Iraqis toppling statues and cheering their ‚liberators‘ or the commander in chief landing on the deck of an aircraft carrier in a flight suit).“ 48
Dass diese Bilder eminent politisch sind, wird wohl kaum ein Betrachter in Frage stellen. Allerdings drängte sich ästhetisch empfindsameren Besucher der Eindruck auf, dass diese Bilder einfach nicht in den Kontext eines Museums gehören – nicht aufgrund des umstrittenen Sujets, sondern wegen der formalen und technischen Mängel der Fotografien.49 Die Ästhetik der Abu-Ghraib-Bilder blieb weit hinter dem zurück, was man von Fotografien in einem Museum erwarten würde. Allerdings sollte nicht unterschlagen werden, dass diese mangelhafte ästhetische Umsetzung den Realitätseffekt der Bilder verstärkt (7.5). Dieses Ereignis knüpfte an eine frühere Ausstellung mit dem Titel „Without Sanctuary. Photographs and Postcards of Lynching in America“ an, die im Jahr 2000 von der New York Historical Society veranstaltet worden war (vgl. Alan et al. 2007). Die gut besuchte Ausstellung stieß damals auf viel Aufmerksamkeit, was möglicherweise einer der Gründe ist, warum das Lynching-Motiv der Abu-Ghraib-Bilder – Täter, die sich lächelnd mit den Opfern rassistischer Gewalt ablichten ließen – eine starke kulturelle Resonanz entfalten konnte. Die Ausstellung der Abu-Ghraib-Bilder unterstreicht diese Verwandtschaft noch einmal. Neben der überwiegend positiven Reaktion auf die Ausstellung gab es allerdings auch Stimmen, die die die Musealisierung der Abu-Ghraib-Bilder als Rückzug des Skandals aus der öffentlichen Sphäre deuteten.50 Öffentliche Diskurse wenden sich meist schon nach wenigen Tagen anderen Geschehnissen zu. Der Abu-Ghraib-Skandal, dessen heiße Phase sich über vier Wochen erstreckte, war neben dem Präsidentschaftswahlkampf das amerikanische Medienereignis des Jahres 2004 – und damit schon eine Ausnahmeerscheinung. Im Gegensatz zur Öffentlichkeit unterliegen Kunst und Wissenschaft anderen temporalen Handlungszwängen. Das „Verdrängen“ der Abu-Ghraib-Bilder in der Öffentlichkeit geht mit ihrer Kanonisierung in der Kunst und ihrer Aufarbeitung durch die Wissenschaft einher, die sie zu einem bleibenden Teil des kulturellen Gedächtnisses transformieren. Wie das hier zusammengetragene Material zeigt, bleibt Abu Ghraib noch nach Jahren im kulturellen Hintergrund wirksam – was im Folgenden an der 48 Brian Wallis: „Remember Abu Ghraib“, Vorwort zum Katalog der Ausstellung, http://museum.icp.org/museum/exhibitions/abu_ghraib/abu_ghraib_brochure.pdf, S.4. 49 Z.B. Benjamin Genocchio, Verfasser von „Through the Blur: Photographs From Abu Ghraib“, The New York Times, 25. September 2005 (vgl. auch 7.5). 50 „Abu Ghraib Photos Return, This Time as Art“, The New York Times, 10. Oktober 2004.
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Produktion und Rezeption von Kunst in all ihren Formen demonstriert werden soll. Manchmal wurden die Fotografien als Requisiten bei Aufführungen oder für die Ausschmückung der Bühne verwendet, wie beispielweise bei Performancekünstlern in New York, welche – im Sinne der Abu-Ghraib-Interpretation von Žižek (vgl. 7.1) – eines der Bilder mit der Aufschrift „This is theater“ versahen.51 Die meisten künstlerischen Darbietungen zeigten allerdings nicht die Fotographien selbst, sondern griffen einzelne Bildelemente auf und stellten sie in einen neuen Kontext. Die Grenzen zwischen einer künstlerischen Verarbeitung der Abu-GhraibBilder, die auf Reflexion abstellt, und ihrer direkten Indienstnahme für politische Zwecke sind fließend. Während Galerien, Museen und Theater einen distanzierten Beobachter favorisieren, eignen sich die Straßen einer Stadt, die auch eine Form von Öffentlichkeit darstellen (4.2.1), in besonderem Maße für politische Aktionen und Poster. Insbesondere die Ikone des Skandals eignete sich aufgrund ihrer visuellen Prägnanz, Bekanntheit und (relativen) Unanstößigkeit als Vorbild für weltweite Plakatierungsaktionen und künstlerische Darstellungen im urbanen Raum: „The image appears in mock advertisements in New York, in paintings in San Francisco, on murals in Tehran and on mannequins in Baghdad“.52 In der iranischen Hauptstadt Teheran wurde der „hooded man“ (7.1) und Lynndie England mit dem Gefangenen an einer Leine (7.3.3) auf meterhohen Wandgemälden nachgebildet (eine Fotografie zweier Bilder samt Passanten findet sich bei Apel 2005). Dass dabei kaum Veränderungen vorgenommen wurden, lässt darauf schließen, dass diese Bilder im iranischen Kontext für sich sprechen. In Bagdad wurde das Motiv des schwarzgewandeten Folteropfers durch den irakischen Künstler Sallah Edine Sallat in ein Wandgemälde umgesetzt (Mitchell 2011: 103f.; Apel 2005: 96). Auf dem Bild ist die Freiheitsstatue zu sehen, deren Gesicht von einer weißen Ku-Klux-Klan-Kapuze verhüllt ist. Mit der linken, erhobenen Hand bedient sie, statt die Fackel der Freiheit zu halten, einen Stromschalter, der mit den Drähten, die auf der Fotografie zu sehen sind (7.1), verbunden ist. Die Verwendung des Ku-Klux-Klan-Motivs, das sich offensichtlich globaler Verbreitung erfreut, legt eine Rassismus-Deutung der Missbrauchsfälle nahe. Eine Fotografie dieses Wandgemäldes erschien erstmals in der New York Times vom 13. Juni 2004 und daraufhin in der weltweiten Presse.53 In den Vereinigten Staaten tauchten die Motive von Abu Ghraib ebenfalls im öffentlichen Raum auf. Am bekanntesten ist wohl die „iRaq“-Serie der Gruppe forkscrew graphics, die sich die damals aktuelle iPod-Werbekampagne von Apple 51 „Performance Art for Sale, Like Elections“, The New York Times, 5. April 2008. 52 „Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal“, The New York Times, 13. Juni 2004. 53 Gerhard Paul (2005a: 154) zufolge erschien dieses Foto in Deutschland zunächst am 21. Juni 2004 in der Süddeutschen Zeitung, ein halbes Jahr später, am 8. Januar 2005, in der Frankfurter Rundschau und schließlich am 19. Mai 2005 in der Zeit. Die großen Zeitabstände deuten darauf hin, dass Abu Ghraib im Diskurs dauerhaft präsent war.
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mit ihrer Popart-Ästhetik zum Vorbild nahmen, wobei sie allerdings Motive aus dem Irakkrieg in ihren Postern verarbeiteten (vgl. Apel 2005: 97). Eines der Bilder zeigt die Ikone des Skandals, deren Drähte dem Kabel der Kopfhörer in der iPodWerbung nachempfunden wurden (7.1). Sarah Boxer, die in einen Zeitungskommentar auf die ikonische Prägnanz des fotografisches Vorbildes hingewiesen hat (7.1), ist voll des Lobes für die künstlerische Umsetzung des Aktivistenkollektivs: „The triangle of the hood silhouettes sharply against the hot pink or chartreuse background of a fake iPod ad. Andy Warhol himself could not have done better“.54 Bemerkenswert ist außerdem, dass die Poster für subversive Plakatierungsaktionen genutzt werden konnten. Die iPod-Werbekampagne war immer noch im Gange, sodass auf den riesigen Plakatwänden, die selber ein Mosaik aus unterschiedlichen Motiven waren, einzelne Bilder überklebt werden konnten. 55 Noch plakativer und zielgerichteter war allerdings eine Grafik des amerikanische Künstlers Richard Serra, der ansonsten keine gegenständliche Kunst anfertigt. Auf Basis der Ikone des Skandals hat Serra eine schwarz-weiße Grafik erstellt und diese in einer kolorierten Version zum kostenlosen Download als Poster bereitgestellt (Apel 2005: 97f.). Durch den auf dem oberen Bildrand angebrachten Schriftzug „STOP BUSH“ vermittelte das Bild im Kontext des Wahlkampfes 2004 eine eindeutige politische Botschaft, die eine direkte Aufforderung an den Wähler darstellte.56 In das Feld des politischen Aktivismus gehören auch Demonstrationen und Proteste, die sich ebenfalls der ikonographischen Motive des Abu-Ghraib-Skandals bedienten. So berichtet die New York Times im Sommer 2005 von einem kleinen Antikriegsprotest, bei dem sich einer der Demonstranten als „hooded prisoner“ verkleidete.57 Besonders beliebt war eine Kombination aus der orangenen Kleidung der Gefangenen von Guantanamo und der schwarzen Kapuze, wie wir sie von den Bildern aus Abu Ghraib kennen. In dieser Staffage verdichteten sich Abu Ghraib und Guantanamo Bay zu einem Symbol, das gegen amerikanische Regierung gewendet wurde. Indem Abu Ghraib und Guantanamo auf diese Weise in einen Topf geworfen wurden, ließ sich die Inhaftierungspolitik der amerikanischen Regierung in Guantanamo zu einem visuellen Symbol verdichten und als repressiv brandmarken.58 54 „Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal“, The New York Times, 13. Juni 2004. 55 Ein Bild einer „verschönerten“ Plakatwand findet sich bei W.J.T. Mitchell, der diese in New York, in der Nähe der U-Bahnstation Bleecker Street, fotografierte (2011: 106). 56 „Red, White and Bleak; At the Whitney Biennial, Grim Reflections on the Dispirit of the Times“, The Washington Post, 2. März 2006. Vgl. auch das in der Zeit erschienene Interview mit Serra, in dem er zu Abu Ghraib, seiner Kunst und zu George W. Bush politisch Stellung bezieht, Die Zeit, Nr. 37, 2. September 2004. 57 „Turning Out to Support a Mother’s Protest“, The New York Times, 18. August 2005. 58 Der performative Einsatz der Ikonographie von Abu Ghraib in politischen Protesten war nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Apel berichtet von einer Londoner De-
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In der Washington Post und in der New York Times, findet sich, insbesondere in den Regionalteilen, eine Fülle von Verweisen auf Bilder, Installationen und Performanzen, welche die Ikonographie des Skandals verwendeten, um damit innerhalb des symbolischen bzw. fiktionalen Rahmens eines Kunstwerkes oder einer Aufführung einen Bezug zu den realen Ereignissen im Irak herzustellen. Dennoch sollte man nicht den Eindruck gewinnen, dass sich die künstlerische Rezeption von Abu Ghraib auf wenige Großstädte der Vereinigten Staaten beschränkte. Auch in der süddeutschen Provinz wurden Versatzstücke der Abu-Ghraib-Bilder bei theatralischen Inszenierungen verwendet.59 Die folgende Auswahl aus dem Material soll lediglich einen Eindruck von den Wirkungen des Abu-Ghraib-Skandals im Feld der Kunst vermitteln und stellt keine Analyse dar. Zunächst geht es um die performativen Darbietungen, bevor zu den Installationen und Bildern übergegangen wird. Unter den Shows und Performanzen, in deren Besprechungen explizit auf Abu Ghraib verwiesen wird, befinden sich aussagekräftige Titel wie „Lynndie England“, „American Blessings“, „Thresholds Crossed“, „Not about Iraq“, „Democracy in America“ und „Love Lessons from Abu Ghraib“. Auf amerikanischen Bühnen fand eine Auseinandersetzung mit dem dunklen Erbe von Abu Ghraib statt, das auf seine Bedeutung für das kollektive Selbstverständnis der Amerikaner hin befragt wurde. Neuere Stücke der österreichischen Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, „Bambiland“ und „Babel“ (Jelinek et al. 2004), setzten sich – unter Anteilnahme der amerikanischen Öffentlichkeit – mit dem Irakkrieg auseinander und griffen dabei auch explizit den Fall Abu Ghraib auf.60 Auch in Sam Shepards Theaterstück „God of Hell“, das auf ein großes Medienecho stieß, wurden die Exzesse von Abu Ghraib in prägnanter Weise thematisiert.61 In dem satirischen Stück wird ein Pärchen aus monstration, auf der ein Teilnehmer mit schwarzer Kapuze und einer Hundeleine um den Hals ein Schild mit der Aufschrift „Bring the troops home now“ hochhielt (2005: 96). Und auch in Deutschland konnte man am 2. Juni 2007 auf einer Großdemonstration in Rostock – anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm – eine Prozession von Demonstranten beobachten, die hölzerne Kreuze emporhielten, über welche schwarze Plastiktüten gestülpt waren. Sie waren auf den ersten Blick als Zitate des „hooded man“ erkennbar, die noch einmal die christomimetische Botschaft des Originals wiederholten. 59 Am Konstanzer Stadttheater bediente sich eine Inszenierung von Schillers Die Räuber der Demütigungsszene mit Lynndie England und dem Gefangenen (vgl. 7.3.3), während eine theatralische Inszenierung von Mozarts Zauberflöte durch eine studentische Theatergruppe das Bild der menschlichen Pyramide von Abu Ghraib evozierte (vgl. 7.2). 60 Vgl. „A Gloom of Her Own“, ein Interview mit der New York Times, 21. November 2004. Zur theatralischen Verarbeitung des Irakkrieges in Elfriede Jelineks Bambiland und Falk Richters Hotel Palestine vgl. den Aufsatz von Mathias Naumann (2007). 61 „That’s No Girl Scout Selling Those Cookies“, The New York Times, 17. November 2004; „Milking America’s Angst; ‚God of Hell‘ Is Sam Shepard’s Cry From the Heart-
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Wisconsin von einem Abu-Ghraib-Gespenst heimgesucht (vgl. 7.1.3). Selbst der mittlere Westen, das periphere Herz der Vereinigten Staaten, so die Botschaft des Gespensterauftritts, ist nicht vor der Heimsuchung durch Abu Ghraib sicher. Ein weiteres Stück namens „Untitled“ persiflierte die (angeblich) passive Rezeption der Abu-Ghraib-Bilder: „In one sequence, a pair of Americans glanced with mild interest at a newspaper as another actor looming behind them assumed one of the emblematic postures of a prisoner at Abu Ghraib“. 62 Aber nicht nur die Produktion neuerer Stücke, auch die Wiederaufführung von Broadway-Klassikern wie „Cabaret“ oder die Neuinszenierung alternativer Schauspiele wie „The Brig“ wurden mit Referenzen auf Abu Ghraib angereichert, ebenso wie Einakter des (amerikakritischen) Nobelpreisträgers Harold Pinter. Nicht einmal Shakespeare blieb von der Heimsuchung durch die Gespenster von Abu Ghraib verschont. So berichtete die New York Times von einer Inszenierung von Macbeth in Edinburgh: „There are hints at current events, like a caged prisoner recalling Abu Ghraib, and the three witches wearing black burqas and white veils“.63 Die Wirkung von Abu Ghraib lässt sich nicht nur in theatralischen Inszenierungen und Performance-Shows nachweisen, auch musikalische Darbietungen griffen das Thema in ihren Lyrics mit politischem Impetus auf. Am bekanntesten ist der Song „Dangerous Beauty“ von den Rolling Stones auf dem Album A Bigger Bang (2005), der Lynndie England, dem inoffiziellen Poster Girl von Abu Ghraib, gewidmet ist. Generell lässt sich festhalten, dass sich – und dies hat sich im Fall der politischen Aktivisten bereits angedeutet – insbesondere das Motiv des „hooded man“ größter Beliebtheit erfreute. Dies trifft auch auf die Künstlerin Julia Mandle zu, in deren Installation „dark clouds“ 375 an der Decke aufgehängte schwarze Kapuzen für die Anzahl der noch in Guantanamo Bay verbliebenen Gefangenen standen.64 Hier kam es zu einer ästhetischen Synthese von Abu Ghraib und Guantanamo Bay, die sich der symbolischen Assoziation der beiden Lager im sozialen Imaginären verdankte. In Kunstausstellungen mit dezidiert politischer Stoßrichtung wie beispielsweise Axis of Evil, the Secret History of Sin und Intimacies of a Distant War nahmen die Bildmotive von Abu Ghraib ebenfalls eine prominente Stellung ein. Aber auch in großen internationalen Ausstellungen setzte man sich mit dem Problemkomplex auseinander. So widmete sich die Documenta 12 (2007) unter anderem land’“, The Washington Post, 17. November 2004; „There’s hell to pay in Sam Shepard’s latest play“, USA Today, 17. November 2004. 62 „Politics Moves From World Stage to a More Intimate Space“, The Washington Post, Met 2 Edition, 17. Januar 2008. 63 „High-Energy Behemoth Devours Edinburgh“, The New York Times, 19. August 2007. 64 Mandle, Julia: „Torture as Inspiration“, Huffington Post, 19. Juli 2007, http://www. huffingtonpost.com/julia-mandle/torture-as-inspiration_b_56914.html; letzter Zugriff am 21. Juni 2011.
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der von Giorgio Agamben aufgeworfenen Frage nach dem „bloßen Leben“ (2007/1995), die durch Guantanamo und Abu Ghraib eine bedrohliche Virulenz gewonnen hatte. Neben Kunstwerken, die sich mit dem Thema Abu Ghraib auseinandersetzten, war auch der Bildtheoretiker Mitchell mit einem Vortrag über die Abu-Ghraib-Bilder und sein damals noch im Entstehen begriffenes Buch Cloning Terror (2011) in Kassel vertreten. Auf der Biennale 2009 war Paul Chans Schattenspiel Sade for Sade’s Sake zu sehen, bei dem mit Wandprojektionen gearbeitet wurde und in dem Pressestimmen eine künstlerische Verarbeitung der Folter in Abu Ghraib zu erkennen glaubten.65 Diese Aufzählung ließe sich noch weiter fortsetzen. Auch wenn die Fotografie das künstlerische Medium der Malerei in mancherlei Hinsicht abgelöst hat, zeigt die malerische Rezeption der Abu-Ghraib-Fotografien, dass die imaginative Freiheit der Malerei neue Bedeutungen schaffen kann, die einen anderen Blick auf die Skandalfotografien ermöglichen. Von allen Gemälden zu Abu Ghraib haben die Bilder des kolumbianischen Künstler Fernandez Botero wohl am meisten Aufmerksamkeit erregt und auch für einige Kontroversen gesorgt. Die Bilder von Botero zeichnen sich durch einen eigentümlichen Stil mit hohem Wiedererkennungswert aus: menschlichen Körper wirken auf seinen Bildern, die meist in Pastelltönen gehalten sind, überdimensioniert und aufgebläht. Er bedient sich oft vertrauter Motive und bekannter Kunstwerke, wie z.B. Leonardo da Vincis Mona Lisa, die durch seinen Stil verfremdet wiedergegeben werden. Kritiker seiner AbuGhraib-Serie hielten ihm vor, dass er in manieristischer Weise seinen altbekannten Stil auf ein neues, ja beliebiges Sujet anwende, während andere die Meinung vertraten, dass der Künstler mit seiner malerischen Darstellung von Abu Ghraib endlich zu seinem Sujet gefunden habe, für das seine Technik objektiv angemessen sei. Arthur C. Danto schreibt in dem amerikanischen Magazin The Nation, dass die Malereien von Botero es sehr viel besser als die Fotografien von Abu Ghraib verstünden, dem Betrachter die Leiden der Gefangenen erfahrbar zu machen: „Botero’s astonishing works make us realize this: We knew that Abu Ghraib’s prisoners were suffering, but we did not feel that suffering as ours. When the photographs were released, the moral indignation of the West was focused on the grinning soldiers, for whom this appalling spectacle was a form of entertainment. But the photographs did not bring us closer to the agonies of the victims.“66
Danto zufolge fördern die Gemälde von Botero bei den Rezipienten eine Identifikation mit den Folteropfern, während die meisten Fotografien aus Abu Ghraib – wieder einmal ist die Ikone des Skandals die Ausnahme (7.1) – die Täter in den Vordergrund rückten. Auch Mitchell argumentiert, dass erst die aufgeblähten Körper 65 „A More Serene Biennale“, The New York Times, 8. Juni 2009. 66 Danto, Arthur C: „The Body in Pain“, The Nation, 9. November 2006.
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von Botero den psychischen Stress und das körperliche Leiden der Opfer überdeutlich („hypervisible“) machten: „What is done to them seems to be done to the painting as well, as if pain and paint had merged. One feels that Botero contemplated the photographs carefully and packed their visceral, embodied essence into his paintings like sausage casings stuffed with suffering.“ (2011: 140) Botero beschäftige sich mehrere Monate mit seinem Abu-Ghraib-Zyklus, der unzählige Zeichnungen und Gemälde umfasst. Ihn trieb – nach eigenen Angaben – nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine politisch-moralische Motivation. Unter anderem hätten ihn die Artikel von Seymour Hersh inspiriert. Der Maler wird mit der Aussage zitiert, dass Kunst das Vermögen besitze, eine permanente Anschuldigung („permanent accusation“) zu schaffen. 67 Über die Qualität seiner Bilder lässt sich streiten, unbestritten ist jedoch, dass sie den Nerv der Zeit trafen. Desgleichen muss die These, dass Botero’s Gemälde die Schwächen der Fotografien von Abu Ghraib kompensierten, aus einer bildhermeneutischen Perspektive ernst genommen werden. Die groteske Aufblähung der dargestellten Körper auf seinen Bildern beseitigt jeglichen Verdacht auf Ästhetisierung oder gar Erotisierung der Folter, dem die Abu-Ghraib-Fotografien teils unterlagen. Stattdessen bringt seine Maltechnik die schiere Körperlichkeit und Verletzlichkeit der Gefangenen bildlich zum Ausdruck. Die Gemälde von Botero, so ein Beobachter treffend, stellen die verletzte Würde der Gefangenen wieder her.68 In dieser Hinsicht sind sie in ihrer Funktion mit den christomimetischen Bildelementen der Ikone des Skandals vergleichbar (7.5), die im Übrigen keine Entsprechung in der Serie des Malers besitzt. 69 Botero, schon vor dem Skandal ein international erfolgreicher Künstler, gab von Anfang an öffentlich bekannt, dass er seine Abu-Ghraib-Serie nicht verkaufen wolle, da es nicht schicklich sei, aus einem solchen schrecklichen Ereignis Profit schlagen zu wollen.70 Allerdings zeigte er sich an einer Ausstellung der Bilder in den Vereinig-
67 „Botero Sees the World’s True Heavies at Abu Ghraib“, The Washington Post, 4. November 2007. „The Permanent Accusation“ ist auch der Titel eines Kurzfilmes über Boteros Abu-Ghraib-Zyklus; zu sehen unter http://www.youtube.com/watch?v=VoleMxsxqQ; letzter Zugriff am 26. März 2012. 68 „Botero Restores the Dignity of Prisoners at Abu Ghraib“, The New York Times, 15. November 2006. 69 Vermutlich, weil die Ikone des Skandals das Leiden des Opfers ins Zentrum stellt und in ihrer ikonischen Prägnanz keines Korrektivs bedarf (7.1). Vgl. auch die Interpretation des Abu-Ghraib-Zyklus bei Herrera-Vega (2011), die im Rückgriff auf Luhmanns Kommunikationstheorie und Warburgs „Pathosformel“ zu ähnlichen Schlüssen gelangt. 70 „‚Great Crime‘ at Abu Ghraib Enrages and Inspires an Artist“, The New York Times, 8. Mai, 2005.
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ten Staaten sehr interessiert. Schließlich wurden seine Gemälde in den USA ausgestellt und der University of California, Berkeley, vermacht.71 Eine Fülle weiterer Kunstwerke wird in W. J. T. Mitchells Buch Cloning Terror (2011) gezeigt und diskutiert. Am interessantesten ist für unseren Zusammenhang (in dem Mitchells Obsession des Klonens außen vor bleibt) die Fotocollage American Innocence (2007) von Lawrence Weschler und Naomi Herskovic, die auf dem Foto The Discovery (1956) von Norman Rockwell basiert (vgl. Mitchell 2011: xvi). Während auf dem ursprünglichen Foto ein erschrockener Junge zu sehen ist, der im Schrank seiner Eltern den Anzug von Santa Claus gefunden hat, quellen in der Neubearbeitung Abu-Ghraib-Bilder aus dem Schrank hervor. Die Botschaft ist eindeutig: Der Glaube der amerikanischen Bevölkerung an die moralische „Sauberkeit“ ihrer Armee und Regierung ist nicht weniger naiv als der Glaube eines Kindes an den Weihnachtsmann. Die Identitätskrise von Abu Ghraib sei nichts anderes als der Verlust einer kollektiven Unschuld und damit ein notwendiger Schritt ins Erwachsenenleben. Einem Gemälde der Künstlerin Dana Schutz, das sowohl Bildelemente der Ikone des Skandals als auch das christomimetische Motive aufgreift (7.1), wurde in der New York Times besondere Aufmerksamkeit gewidmet: „‚Party‘ (2004), painted shortly before the last presidential elections, depicts several members of the Bush White House together on a beach. Vice President Dick Cheney and Secretary of State Condoleezza Rice bear the bloated body of former Attorney General John Ashcroft, in a sort of secular Descent From the Cross. Trailing behind them are electrical cords and a pointed brown hood, which recall the images of torture at Abu Ghraib.“72
Indem dieses Gemälde die Motive des Skandals mit der Darstellung der Führungsriege der republikanischen Partei verquickt, gewinnt es, auch wenn es nicht gerade durch Subtilität glänzt, zumindest eine gewisse politische Brisanz. Keines der Bilder, die auf Abu Ghraib Bezug nehmen, ist ohne politische Implikationen. Manche sind allerdings besonders plakativ, wie beispielsweise Clinton Feins „American flag with the stars and stripes made from the text of the official Abu Ghraib report“.73 Abu Ghraib diente nur als Inspirationsquelle für neue Kunstwerke, sondern beeinflusste auch die Rezeption von Altbekanntem. Dies wurde bereits an der öffent71 Seine Arbeiten wurden erstmals 2005 in New York ausgestellt. Eine weitere Ausstellung folgte 2007 an der American University in Washington D.C., anschließend ging die AbuGhraib-Serie in den Besitz der kalifornischen Universität über. Vgl. „Botero Gives Abu Ghraib Art to Berkeley“, The New York Times, 30. August 2007. 72 „Portrait of the Artist as a Paint-Splattered Googler“, The New York Times, 15. Januar 2006; vgl. auch zum selben Bild: „Dismemberment as Motif in a Study of Mayhem“, The New York Times, 6. Dezember 2004. 73 „Art Guide“, The New York Times, 17. September 2004.
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lichen Rezeption der Ikone des Skandals deutlich, die Vergleiche zu Goya, christlicher Kunst und den Lynching-Fotografien provozierte (7.1.3). In ähnlicher Weise suchten die Bilder von Abu Ghraib den Kunstkritiker Benjamin Genocchio heim, der sich auf der Ausstellung Evidence Revisited, einer Wiederholung der Ausstellung Evidence von 1977 in San Francisco, umsah: „Among these mysterious documentary images is a man with a fireproof plastic bag on his head (reminding you freakishly of the hooded figure in one of the photographs from Abu Ghraib)“.74 Seiner Schlussfolgerung, dass die Bedeutung dieser Bilder in der Vorstellungskraft jedes Einzelnen liege, lässt sich aus soziologischer Perspektive nur noch hinzufügen, dass die Vorstellungskraft selbst gesellschaftlich verfasst ist und damit dem jeweiligen sozialen Imaginären unterliegt (1.3.3). Andere sprachen den Malereien von Philip Guston aus den dreißiger Jahren, die den Ku-Klux-Klan thematisieren, eine „new, sinister resonance for post-Abu Ghraib viewers“ zu,75 wieder andere glaubten Abu Ghraib in den dadaistischen Malereien von George Grosz zu erkennen.76 Nicht nur Künstler und Journalisten, sondern auch ganz normale Besucher und Betrachter teilten dieses soziale Imaginäre. So „entdeckte“ die Künstlerin Leila Kubba erst nachdem eine Besucherin sie darauf hingewiesen hatte, dass eines ihrer Bilder einen Bezug zu Abu Ghraib aufweist: „It was’ nt until a woman asked her if the painting portrayed the prison abuse scandal at Abu Ghraib that Ms. Kubba discovered this dimension in her work. One of the figures seems to be posed like the hooded prisoner of the now infamous prison abuse photos. ,It was an insight into something I hadn ’t planned,‘ she said.“ 77 Hier hält sogar die Künstlerin selbst, die die Bedeutung von Kunst offensichtlich nicht intentionalistisch versteht, ihre Bilder für nachträgliche Deutungen im Lichte von Abu Ghraib offen. Zur künstlerischen Aufarbeitung des Abu-Ghraib-Skandals kam es nicht nur im Westen, sondern auch im Irak. Keine zwei Monate nach Veröffentlichung der AbuGhraib-Fotografien gab es in Bagdad die erste Ausstellung von Künstlern, die sich mit dem Gefangenenmissbrauch auseinandersetzten und darüber hinaus auch die mutmaßliche Vergewaltigung von in Abu Ghraib inhaftierten Frauen zum Thema machten.78 Etwa zwei Jahre später, anlässlich der Eröffnung einer Galerie durch den irakischen Künstler Qasim Sabti, in der Skulpturen und Gemälde zum Abu-GhraibSkandal ausgestellt wurden, äußerte die amerikanische Tageszeitung USA Today 74 „What Do These Pictures Mean? It’s All in Your Imagination“, The New York Times, 24. Oktober 2004. 75 „Philip Guston“, The New York Times, 15. Dezember 2006. 76 „Learning From Dada“, The Washington Post, 7. März 2006. 77 „Artist Looks for Her Native Iraq Behind Women’s Veils“, The New York Times, 22. März 2005. 78 „Artists Express Iraqis’ Anger; Baghdad Exhibit Reflects Belief That Iraqi Women Were Raped in Abu Ghraib“, The Washington Post, 9. Juni 2004.
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die Hoffnung, dass die künstlerische Auseinandersetzung mit Abu Ghraib den „Heilungsprozess“ des Landes („national healing“) einleiten könne. 79 Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im Irak wurde Abu Ghraib als traumatische Erfahrung wahrgenommen, an der sich unter anderem auch die Kunst abarbeitete. Die Aufarbeitung von Abu Ghraib wurde in den Vereinigten Staaten als problematisch empfunden, wenn sie an das Trauma von 9/11 rührte. So stießen die Pläne zur Errichtung eines Kulturhauses am Ground Zero auf heftige Proteste von Seiten konservativer Politiker und Angehörigengruppen der Opfer vom 11. September, da einige der beteiligten Kulturinstitutionen im Vorfeld durch die Ausstellung von Abu-Ghraib-Kunst von sich reden gemacht hatten.80 Aus der Sicht der Kritiker musste die symbolische Verunreinigung der nationalen Gedenkstätte des 11. Septembers 2001 durch liberale Kuratoren und Abu-Ghraib-Fotografien um jeden Preis vermieden werden. Das Opfer- und Heldennarrativ von 9/11 steht den Enthüllungen von Abu Ghraib und ihren politischen Implikationen diametral entgegen. Abschließend ist noch kurz auf die doppelte Mimesis in der politischen Kunst einzugehen. In den letzten Jahren haben sich weite Teile der Kunstszene von der selbstreferenziellen Konzeption einer l’art pour l’art abgewendet. Neue Stile wie etwa der modernisme noir betreiben eine „doppelte Mimesis“, indem sie sich auf die bildlichen Ausdruckformen der modernistischen Kunst des 20. Jahrhunderts beziehen und diese auf politische Inhalte und soziale Konflikte beziehen: Gregor Schneiders Installation „Weiße Folter“ […] ist das Paradebeispiel. Sie bezieht sich im Modus der bereits erwähnten „doppelten Mimesis“ – gleichermaßen auf die Logik der perfektionierten Strafmaschine Guantánamo mit ihren Folterzellen und auf den aseptischen Charakter des White Cube. Schneiders Arbeit ist ein Nachbau der Zellen und Korridore des Gefangenenlagers mit Elementen, die teils als Ready-mades aus dem Strafvollzugs-Fachhandel stammen und zugleich ein abgründiges Remake puristischer Rauminstallation der sechziger Jahre. (Blum & Hartle 2010: 227)
Dass die Abu-Ghraib-Bilder nicht zu einem bevorzugten Gegenstand des modernisme noir wurden, hat vor allem damit zu tun, dass die schmutzigen Abu-GhraibBilder in einem schroffen Gegensatz zu den klaren und aseptischen Formen des Modernismus zu stehen scheinen. Am ehesten kamen dieser Stilrichtung noch die Abu-Ghraib-Fotografien von Richard Ross entgegen, die dieser vor dem Skandal auf dem Gelände des Gefängnisses angefertigt hatte. Das Abu-Ghraib-Gefängnis, das seinem Architekten zufolge als eine moderne und progressive Institution ge79 „Art becomes yet another victim of war“, USA Today, 13. Dezember 2006. 80 „Pataki Warns Cultural Groups For Museum At Ground Zero“, The New York Times, 25. Juni 2005; „Proposal for Two Museums At Ground Zero Is Divisive; Some Victims' Families Fear Political Slant Will Mar Site“, The Washington Post, 4. Juli 2005.
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plant wurde (vgl. 6.3), reflektiert in seiner Architektonik den nüchternen und sachlichen Stil des Modernismus, der von den Vertretern des modernisme noir imitiert und kritisiert wird. Die Fotografien von Ross, die mittlerweile unter dem Titel Architecture and Authority veröffentlicht wurden (Ross & MacArthur 2007), konzentrieren sich auf funktionale und rationale Aspekte des Gefängnisraumes, der nicht weniger beängstigend erscheint als die Folterspiele von Abu Ghraib. In der Washington Post wurde von einer Ausstellung berichtet, in der das Künstlerehepaar Ivan Navarro und Courtney Smith sich im Geiste des modernisme noir an einer Kritik der „dark side of the modernist agenda“ versucht hatte: „In a video screening at the gallery, a man stands atop the back of another man who crouches on hands and knees; both wear bags over their heads, like torture victims. Elsewhere in the show, a sculpture in fluorescent tubes and glass mimics the crouching figure’s shape. Here Navarro uses the signature bulbs of mid-century minimalist Dan Flavin – an apolitical artist if there ever was one – but applies them to contemporary politics (the pose suggests Abu Ghraib).“81
Indem hier die Elemente minimalistischer und moderner Kunst zitiert, aber in einen Bezug zur zeitgenössischen Politik gestellt werden, formuliert der Künstler eine doppelte Kritik: Am nur scheinbar unpolitischen Modernismus und an der Politik im Krieg gegen den Terror. Man sieht also, dass die Stilrichtung des modernisme noir auch in Bezug auf Abu Ghraib zur Anwendung kam. Zusammenfassend kann man sagen, dass der von Gerd Blum und Johan Frederik Hartle verwendete Begriff der „doppelten Mimesis“ (2010; zu diesem Begriff auch Thürlemann 2003) in einem allgemeineren Sinn auf alle hier diskutierten Kunstwerke und Performanzen zutrifft. Sie orientieren sich mimetisch an einem künstlerischen Stil und zugleich an einem realen Ereignis, wenn auch – wie dies für den modernisme noir typisch ist – die politische Kritik nicht immer mit einer Stilkritik einhergeht. Im Jahr 2006 startete ein bekennender „Politikjunkie“ mit einem Faible für Lego den politischen Blog legofesto, für den sie gewalttätige Ereignisse aus der Tagespolitik mit Legofiguren nachstellte.82 Bei den ersten Bildern handelte es sich um Rekonstruktionen der Abu-Ghraib-Bilder.83 Die Künstlerin stellt einerseits „echte“ Fotografien von Abu Ghraib nach, andererseits imaginiert sie auch „fiktive“ Szenen auf Basis der Untersuchungsberichte. Die britische Verfasserin des Blogs gibt an, mit ihrer künstlerischen Aufarbeitung von Missbrauchsfällen und Menschenrechts81 „Standing in the Shadow of the Silhouette Figure; Kara Walker’s Success Inspires Arlington Exhibit“, The Washington Post (Regional Edition), 20. Juni 2008. 82 http://legofesto.blogspot.com/2006_08_01_archive.html; letzter Zugriff am 2. September 2013. Der Blog wurde 2006 begonnen und bis 2009 beständig erweitert. 83 „Visualizing Torture, With Lego“, The New York Times, 5. Mai 2009.
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verletzungen ihrem Unmut über den Verlauf des Krieges gegen den Terror, an dem auch Großbritannien maßgeblich beteiligt sei, Ausdruck verleihen zu wollen. Die Idee, Lego als ein künstlerisches Medium und darüber hinaus auch zur Darstellung von Menschenrechtsverletzungen zu verwenden, ist dabei nicht einmal besonders originell. So hatte bereits im Jahr 2002 das „Lego Concentration Camp Set“ des polnischen Künstlers Zbigniew Libera, das Teil der Ausstellung „Mirroring Evil: Nazi Imagery“ im New Yorker Jewish Museum war, für eine kleinen Skandal gesorgt. Damit besitzt auch der Blog legofesto einen doppelten mimetischen Bezug: Auf der einen Seite werden reale Ereignisse nachgeahmt, auf der anderen Seite zitiert die Künstlerin eine bereits vorhandene Verfremdungstechnik – und damit indirekt den Holocaust. Neben den Szenen aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis stellt die Künstlerin aber auch reale Ereignisse dar, von denen es keinen Fotografien gibt, wie zum Beispiel die Vergewaltigung und Tötung eines 15-jährigen irakischen Mädchens durch amerikanische Soldaten. Damit lenkt die Künstlerin unser Augenmerk auf Ereignisse, denen die Macht des fotografischen Beweises fehlt, und verleiht ihnen im „Medium Lego“ eine verspielt-erschreckende Anschaulichkeit. Der Erfolg künstlerischer Performanzen hängt von ihrer Resonanz im Publikum ab. Alexander hat darauf hingewiesen, dass der Erfolg von Performanzen wegen der Fragmentierung des kulturellen Hintergrundes immer schwieriger werde (2006b; vgl. 2.3.3). In einer Studie zum Holocaust demonstriert er, wie ein zeitgeschichtliches Ereignis zu einer moralischen Universalie und damit Teil eines globalen kulturellen Hintergrundes werden konnte (2003b). Globale Medienereignisse stellen auch einen geteilten Hintergrund bereit, welcher quer zur kulturellen Diversifizierung steht – und genau dies macht sie für die Kunst attraktiv. Die kulturelle Resonanz und politische Relevanz der Abu-Ghraib-Bilder stellten zweifellos Anreize für ihre künstlerische Weiterverarbeitung dar. Dabei konnte man sich unterschiedlicher Techniken und Stile bedienen und so den Anschluss an die künstlerische Tradition wahren oder mit ihr experimentieren. Die stilübergreifende Rückkehr des Realen in der modernen Kunst, die sich im modernisme noir in ihrer eindringlichsten Form zeigt, scheint die Rezeption von Abu Ghraib noch begünstig zu haben. Im Medium der Kunst setzt sich die gesellschaftliche Reflexion über Abu Ghraib fort und wirkt, wie ihre Rezeption in den führenden Tageszeitungen der USA zeigt, auf den öffentlichen Diskurs zurück. Die Bildmotive, die schon in den Fotografien angelegt waren, können durch eine künstlerische Ausgestaltung entfaltet und auf eine politische Botschaft zugespitzt werden. Dabei erfüllt die Kunst zum Teil auch eine kompensatorische Funktion, indem sie Aspekte zur Darstellung bringt, die auf den Fotos unterzugehen drohen, oder aber indem sie Ereignisse beleuchtet, die gar keine fotografische Darstellung fanden. Zu guter Letzt fördert die künstlerische Nachahmung den ikonischen Status der Vorbilder, da sie zu ihrer Kanonisierung beiträgt.
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9.5 I NTERNATIONALES R ECHT
UND NATIONALE
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P OLITIK
Die Strafanzeige richtet sich gegen Folter, die von der Regierung eines Staates veranlasst, organisiert und umgesetzt wurde, der als demokratischer Rechtsstaat verfasst ist. WOLFGANG KALECK, ANWALT, AUS DER STRAFANZEIGE GEGEN RUMSFELD ET AL.
Der Folterskandal von Abu Ghraib berührt zentrale Fragen moderner Gesellschaften, unter anderem die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Funktionssystemen, beispielsweise Politik und Recht. Am Beispiel der Urteile des Supreme Courts wurde gezeigt, wie das Recht die Regierung mit öffentlicher Rückendeckung dazu zwang, die Inhaftierungspraxis in Guantanamo Bay schrittweise zu zivilisieren (9.3). Komplizierter ist dieses Verhältnis, wenn es um Fragen der Durchsetzung von internationaler Rechtsprechung geht. Hier ruhen Öffentlichkeit, Recht und Politik nicht auf einem gemeinsamen Fundament, dem Willen des Volkes, deren Repräsentation sie beanspruchen. Aus diesem Grund steht die internationale Rechtsprechung unter dem Generalverdacht der Einmischung in innere Angelegenheiten. In anderen Fällen steht sie im Widerspruch zu den politischen Interessen eines Landes, wie dies bei der Strafanzeige gegen Donald Rumsfeld in Deutschland der Fall war. Am 30. November 2004, also wenige Wochen nach der Wiederwahl Bush, erstattete der deutsche Rechtsanwalt und ehemalige Bürgerrechtler Wolfgang Kaleck im Namen des Center for Constitutional Rights (kurz: CCR) und vier irakischen Staatsbürgern eine Strafanzeige gegen Verteidigungsminister Rumsfeld und mehrere Angehörige der amerikanischen Armee.84 Rumsfeld wurde vorgeworfen, die systematische Anwendung von Folter veranlasst zu haben, was einen Strafbestand nach dem Völkerstrafgesetzbuch von 2002 erfülle. Dieses enthält ein Weltrechtsprinzip, das die globale Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen in den Zuständigkeitsbereich der deutschen Justiz rückt. Dabei ging es nicht nur um die Verhöre in Guantanamo Bay, sondern auch um die Haftbedingungen und Misshandlungen im Abu-Ghraib-Gefängnis, wie sie durch den Abu-Ghraib-Skandal ans Licht der Öffentlichkeit gelangt sind (vgl. Fischer-Lescano 2005: 691f.). So wurde ein kausaler Zusammenhang zwischen der Antiterrorgesetzgebung und den Vorfällen im Abu-Ghraib-Gefängnis nahe gelegt: „An der Vorgeschichte des Skandals und den Vorfällen von Abu Ghraib lässt sich studieren, mit welchen Methoden der Krieg gegen den Terrorismus seit dem 11. September 2001 geführt wird“. 85 Der 84 Die ursprüngliche Anzeige wurde am 29. Januar 2005 noch einmal ergänzt. 85 Das Zitat ist der Einleitung zur deutschen Version der Anklageschrift entnommen, zu finden unter http://ccrjustice.org/v2/legal/september_11th/docs/complaint_in%20German1 _dienstag1.pdf; letzter Zugriff 25. Juni 2011.
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Anzeige gegen Rumsfeld wurde vom Generalbundesanwalt unter Berufung auf das Prinzip der Subsidiarität nicht stattgegeben. Es hieß, dass sich vorrangig amerikanische Gerichte mit dem Fall zu befassen hätten. Eine Abweichung vom Subsidiaritätsprinzip wäre nur dann legitim gewesen, wenn die Gerichte des Heimatlandes den Vorwürfen nicht nachgegangen wären: „Hier bestehen keine Anhaltspunkte, dass die Behörden und Gerichte der Vereinigten Staaten von Amerika wegen der in der Strafanzeige geschilderten Übergriffe von strafrechtlichen Maßnahmen Abstand genommen hätten oder Abstand nehmen würden. So wurden wegen der Vorgänge von Abu Ghraib bereits mehrere Verfahren gegen Tatbeteiligte, auch gegen Angehörige der 800. Militärpolizeibrigade, durchgeführt. Mit welchen Mitteln und zu welchem Zeitpunkt gegen weitere mögliche Tatverdächtige im Zusammenhang mit den in der Strafanzeige geschilderten Übergriffen ermittelt wird, muss dabei den Justizbehörden der Vereinigten Staaten von Amerika überlassen bleiben.“ 86
Dass der Zeitpunkt der Ankündigung des Generalbundesanwalts genau einen Tag vor der Münchner Sicherheitskonferenz, an der auch Rumsfeld teilnehmen sollte, lag, war alles andere als zufällig. Rumsfeld hatte im Vorfeld angekündigt, sich auf der Konferenz vertreten lassen zu wollen. Nachdem die Strafanzeige zurückgezogen worden war, nahm er doch an der Sicherheitskonferenz teil. Es verwundert kaum, dass in deutschen und amerikanischen Medien ein Zusammenhang zwischen dem unerwarteten Besuch und der Entscheidung des Bundesanwalts gesehen wurde. Das Verdachtsmoment einer politischen Einflussnahme auf die Entscheidung liegt nicht nur nahe, sondern ist sogar institutionalisiert: Der Generalbundesanwalt bekleidet ein politisches Amt, das in seiner Ausübung an die politische Linie der jeweiligen Bundesregierung gebunden ist. Der Generalbundesanwalt gehört zur Exekutive und untersteht direkt dem Justizminister (vgl. Fischer-Lescano 2005: 715f.). Im Wahlkampf für die Kongress- und Senatswahlen 2006, den sogenannten „mid-term elections“, erreichte das Ansehen von Rumsfeld einen neuen Tiefpunkt, sodass selbst einige seiner Parteigenossen mit der Forderung nach seinem Rücktritt Wahlkampf führten.87 Die Ergebnisse der Wahlen am 7. November 2006 waren für die Republikaner ein Desaster. Die Demokraten verschafften sich eine Mehrheit im Repräsentantenhaus und verfehlten die Mehrheit im Senat nur knapp.88 Am darauffolgenden Tag musste Donald Rumsfeld, der Bush nach eigenen Angaben zweimal 86 http://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?newsid=163; letzter Zugriff 27. Juni 2011. 87 „G.O.P. Hopeful Says Rumsfeld Should Resign“, The New York Times, 3. September 2006. 88 Unter den neuen Abgeordneten war Keith Ellison, der fünf Jahre nach 9/11 als erster bekennender Muslim in der Geschichte der Vereinigten Staaten in den Kongress einzog.
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während des Abu-Ghraib-Skandales um seinen Rücktritt ersucht hatte, zurücktreten. Die USA Today schrieb, dass Donald Rumsfeld zuletzt nur noch eine „toxic distraction“ im Pentagon gewesen sei und seine Abdankung schon lange überfällig gewesen wäre.89 Auf der dort veröffentlichten „Fehlerliste“ Rumsfelds wird auch Abu Ghraib aufgeführt: „His negligent guidance on the treatment of prisoners led at least indirectly to the abuses at Iraq’s Abu Ghraib prison, which badly damaged America’s image“. Während Rumsfeld im Mai 2004 nur für sein Krisenmanagement im Feuer der Kritik gestanden hatte (vgl. 8.2.2), wurde ihm schon zwei Jahre später eine indirekte Mitschuld an den Missbrauchsfällen bescheinigt. Der scheidende Verteidigungsminister Rumsfeld konstatierte in einem Interview: „The worst day was Abu Ghraib and seeing that – what went on there and feeling so deeply sorry that that happened“.90 Der Abu-Ghraib-Skandal, währenddessen Rumsfeld – nach eigenen Angaben – dem Präsidenten Bush zweimal seinen Rücktritt angeboten hatte, erscheint ihm auch noch im Rückblick als die dunkelste Stunde seiner Amtszeit. Nach der Ankündigung von Rumsfelds Rücktritt erstattet Kaleck im Namen von insgesamt 44 Organisationen und Einzelpersonen, darunter 11 irakische Staatsbürger und ein Inhaftierter in Guantanamo Bay, am 13. November 2006 erneut Anzeige gegen den scheidenden Verteidigungsminister, die ehemaligen Regierungsanwälte Yoo und Bybee, die für die sogenannten „Foltermemoranda“ verantwortlich waren (vgl. 9.1) und weitere Regierungs- und Militärangehörige. Zwischenzeitlich konnten sich die Kläger auf die Arbeit von Andreas Fischer-Lescano berufen, der die Entscheidung des Generalbundesanwalts und seine Verwendung des Subsidiaritätsprinzips als rechtlich unzulässig kritisiert hatte (2005: 709-717). FischerLescano verfasste mit Michael Brothe für die Anzeige ein Expertengutachten, das sich mit der Auslegung des Subsidiaritätsprinzips beschäftigte. Dort heißt es: „Der Grundsatz der Subsidiarität schließt eine Zuständigkeit nach dem Weltrechtsprinzip nur aus, wenn und soweit gesichert ist, dass ein anderer Staat den fraglichen Täter wirklich effektiv verfolgt. Die Zuständigkeit nach dem Weltrechtsprinzip ist immer dann nicht ausgeschlossen, wenn ein durch Indizien bestätigter Verdacht besteht, dass der primär zuständige Staat (Tatortstaat, Heimatstaat von Täter oder Opfer) seine Strafzuständigkeit nicht oder nicht wirksam ausübt.“91
Die Kläger vertraten die Position, dass ein solcher Verdacht im Fall Abu Ghraib vorlag. Die Tatsache, dass nach über zwei Jahren noch immer kein Offizier oder 89 „Rumsfeld’s exit ushers in hope for Iraq policy shift“, USA Today, 8. November 2006. 90 „Secretary of Defense Donald Rumsfeld leaving post“, CBS Evening News (6:30 PM EST), 8. Dezember 2006. 91 http://www.diefirma.net/download.php?378094347869176359c5dfcb01897252; letzter Zugriff 5. November 2011.
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Regierungsbeamter eine ernst zu nehmende Strafe erhalten hatte, konnte nun erst recht als Indiz für eine Vernachlässigung der Strafausübung der Vereinigten Staaten aufgefasst werden. Neben der rechtlichen Schützenhilfe und der veränderten Beweislage schürte allerdings auch der Rücktritt Rumsfelds die Hoffnungen auf eine erfolgreiche Strafanzeige. Selbst wenn ihm als Verteidigungsminister keine Immunität zugestanden hätte, macht es einen politischen Unterschied, ob man den amtierenden oder einen ehemaligen Minister der Vereinigten Staaten der Kriegsverbrechen bezichtigt. Allerdings wurde auch diese Strafanzeige am 24. April 2007 vom Generalbundesanwalt im Rekurs auf die vormalige Entscheidung abgelehnt, da sich – so der Generalbundesanwalt – seitdem nichts Wesentliches geändert habe. Für Deutschland als Drittland bestehe keine gesetzliche Verpflichtung, die Strafverfolgung aufzunehmen, unter anderem deshalb, weil das Verfahren nur wenig Aussicht auf Erfolg besäße, eine „rein symbolische Ermittlungstätigkeit“ nicht im Sinne des Gesetzgebers sei 92 und die Aufwendung von „personell und finanziell begrenzten Strafverfolgungsressourcen“ zu Lasten von erfolgversprechenderen Strafverfolgungen ginge.93 Die rechtlichen Argumente wurden hier also von pragmatischen Erwägungen sekundiert, um eine mögliche Strafverfolgungsverpflichtung zu relativieren. Auch wenn die Strafanzeigen nicht den gewünschten Erfolg hatten, erzielten sie eine symbolische Wirkung, der nicht zuletzt auch Rumsfeld verunsichert haben muss. Dies trifft auch auf den damaligen Präsidenten George W. Bush zu, der seit dem Ende seiner Amtszeit nicht mehr in Europa war. So musste er im Februar 2011 eine geplante Reise in die Schweiz kurzfristig absagen, wo er am 12. Februar auf der Veranstaltung einer Pro-Israel-NGO sprechen sollte. Offiziell wurde die Absage mit den von Menschenrechtsorganisationen im Vorfeld angekündigten Protesten begründet. Es war allerdings auch eine Sammelklage gegen Bush in Vorbereitung. In einem Interview mit ABC informierte Katherine Gallagher, eine Sprecherin des Center for Constitutional Rights: „Whatever Bush or his hosts say, we have no doubt he cancelled his trip to avoid our case […]. The message from civil society is clear – if you’re a torturer, be careful in your travel plans.“ 94 Auch wenn die Schweizer Behörden vermutlich genauso wenig wie der Generalbundesanwalt ein Verfahren gegen Bush eingeleitet hätte, reichte offensichtlich schon das Bedrohungsszenario aus, um den ehemaligen Präsidenten abzuschrecken.
92 Die „symbolische“ Dimension des transnationalen Rechts, die hier vom Generalbundesanwalt abschätzig beurteilt wird, sollte aus soziologischer Perspektive nicht unterschätzt werden (vgl. Bonacker & Brodocz 2001; Bonacker 2003). 93 http://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?themenid=9&newsid=273;
28.
Juni 2011. 94 http://abcnews.go.com/Politics/george-bush-cancels-swiss-trip-rights-activists-vow/story ?id=12857195; letzter Zugriff am 5. November 2011
10. Diskursanalyse III ‒ Spätfolgen des Skandals
Die Kongresswahlen von 2006 und der Rücktritt von Rumsfeld markierten das Ende der mittleren Phase des Skandals. Daraufhin bildete sich ein neuer zivilgesellschaftlicher Konsens, aber auch ein politischer Konsens zwischen Demokraten und Republikanern heraus. Man kam darin überein, dass die Behandlung von Gefangenen unter der Bush-Regierung in hohem Maße problematisch gewesen sei und einen bleibenden Imageschaden angerichtet habe. Die sogenannten „Folter-Memoranda“ und das Gefangenenlager auf Guantanamo Bay (9.1), die mit Abu Ghraib assoziiert wurden, hatten sich schon fest als Negativsymbole etabliert. Nun wurde auch die Bush-Regierung von der symbolischen Verschmutzung in Mitleidenschaft gezogen. Die späte Phase des Abu-Ghraib-Skandals beginnt mit dem Anfang der Präsidentschaftskampagne des Jahres 2007 (10.1) und endet mit den ambivalenten Bemühungen der Obama-Administration, mit dem unreinen und ansteckenden Erbe der Bush-Regierung aufzuräumen (10.5). Es wurde bereits gezeigt, dass der Einfluss von Abu Ghraib über die politischen Diskurse im engeren Sinne hinausreichte, beispielsweise in die Sphären des Rechts (9.3) und der Kunst (9.4). Der Abu-Ghraib-Skandal schlug sich aber auch in Dokumentarfilmen (10.2), in der amerikanischen Populärkultur (10.3) sowie der Folterdebatte nieder (10.4). Der Abu-Ghraib-Skandal, aber auch die öffentliche Kritik an der exzessiven Folterdarstellung in Fernsehserien wie 24, bot einen Anlass, den Einsatz von Folter und Waterboarding im Krieg gegen den Terror noch einmal grundlegend zu überdenken. Es wird sich allerdings zeigen, dass auch von Abu Ghraib kein Weg hinter das amerikanische Trauma des 11. Septembers 2001 zurückführt. Die meisten Autoren, die nach Abu Ghraib eine Institutionalisierung von Folter ablehnen, räumen ein, dass Folter im Falle eines Ticking-Bomb-Szenarios wenn auch keine rechtliche, so doch eine moralische Rechtfertigung haben (10.4.2).
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10.1 ABU G HRAIB
UND DER
W AHLKAMPF 2008
Das entspricht auch – einem Ausspruch des Agathon gemäß – der Wahrscheinlichkeit; denn es ist wahrscheinlich, dass sich vieles gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt. ARISTOTELES, POETIK, ERSTES BUCH1
Hätte jemand in der Zeit zwischen dem 11. September 2001 und der Enthüllung von Abu Ghraib im April 2004 behauptet, dass der nächste amerikanische Präsident „Barack Hussein Obama“ heißen würde – ein Name, dessen Klang die beiden Feindbilder im Krieg gegen den Terror, Osama bin Laden und Saddam Hussein, in sich vereint (Mitchell 2011: 8) –, so wäre er wohl zum Gespött der Leute geworden. Hätte dieser jemand noch hinzugefügt, dass es sich bei dem künftigen Präsidenten um einen Amerikaner mit afrikanischen Wurzeln handelte, dessen Vater ein gläubiger Muslim gewesen war, hätte man ihn vollends für verrückt erklärt. Es scheint unabweisbar zu sein, dass sich die Stimmung im Land zwischen der Invasion des Irak und der Wahl von Obama zum Präsidenten fundamental geändert hat. Auch wenn kein Ende der terroristischen Bedrohung in Sicht war (und ist), markierte die Weltwirtschaftskrise von 2008 und der unwahrscheinliche Sieg des Barack Hussein Obama das Ende einer kurzen historischen Epoche: das Ende des Krieges gegen den Terror. Das hier zusammengetragene Material legt den Schluss nahe, dass der Abu-Ghraib-Skandal den Anfang vom Ende des Krieges gegen den Terror markiert. Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008 dominierten kritische Töne. Die Probleme der zweiten Amtszeit, die nicht enden wollenden Kriege in Afghanistan und im Irak, die Steigerung des Haushaltdefizits sowie die drohende Finanzkrise überwogen die positiven Erinnerungen an die erste Amtszeit, die Momente der nationalen Solidarität nach dem 11. September und die anfänglichen militärischen Erfolge. Es ist bemerkenswert, dass sich nicht nur die demokratischen Kandidaten in Abgrenzung zur Bush-Regierung inszenierten, sondern mit John McCain auch der schärfste innerparteiliche Kritiker der Bush-Administration zum Präsidentschaftskandidaten aufstieg. Dies zeugt vom Grad der symbolischen Verunreinigung, den die amtierende Regierung in ihren letzten Jahren für viele Amerikaner besaß. Schon während der Kongresswahlen 2006 war die Kritik an der Bush-Regierung nicht mehr an die jeweilige Parteizugehörigkeit gebunden (9.5). Diese diskursive Verschiebung und zunehmende Isolierung der Bush-Administration setzte sich bis zu den Präsidentschaftswahlen von 2008 fort.
1
Aristoteles bezieht sich darauf, wie Tragödien mit der Erwartung der Zuschauer spielen, indem sie diese verletzten (2010: 59). Das Zitat lässt sich allerdings auch anführen, um die Grenzen der Statistik bei der Erklärung von sozialen Prozessen aufzuzeigen.
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Die drei erfolgreichsten Kandidaten – Obama, Clinton und McCain – haben sich während des Wahlkampfes für eine Schließung des umstrittenen Gefangenenlagers in Guantanamo Bay ausgesprochen, das zwischenzeitlich zu einem Symbol der verfehlten Politik der Bush-Regierung geworden war.2 Während sich die demokratischen Kandidaten für eine ersatzlose Schließung des Gefangenenlagers einsetzten, machte sich McCain für seine Verlegung auf amerikanischen Grund und Boden stark, was zumindest den rechtlichen Ausnahmestatus des Lagers aufgehoben hätte. Es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass der Grad der symbolischen Verunreinigung von Guantanamo zu diesem Zeitpunkt niemals so hoch gewesen wäre, wenn es den Abu-Ghraib-Skandal nicht gegeben hätte. Dennoch spielte der Skandal in dem folgenden Präsidentschaftswahlkampf nur eine untergeordnete Rolle. Während den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib im Wahlkampf von 2004 eine unbestreitbare, wenngleich auch paradoxe Bedeutung zukam (8.5.3), lässt sich der Einfluss des Skandals auf das Wahljahr 2008 – zumindest anhand des hier vorliegenden Datenmaterials – nur indirekt nachweisen. Im Folgenden sollen Indizien zusammentragen werden, die eine nachhaltige Wirksamkeit von Abu Ghraib belegen. Die Rolle von Abu Ghraib in den Vorwahlen gestaltet sich von Partei zu Partei unterschiedlich. In der demokratischen Partei bot der Abu-Ghraib-Skandal keinen Anlass für eine politische Kontroverse. So bestand zwischen Parteiführern, Kandidaten und Unterstützern ein Konsens darüber, dass die Politik der Bush-Regierung verfassungsmäßig fragwürdig und zumindest in Teilen für die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib verantwortlich gewesen sei. Abu Ghraib spielte deswegen in den demokratischen Vorwahlen keine Rolle. Stattdessen konzentrierte man sich in der innerparteilichen Auseinandersetzung auf kontroversere Themen wie beispielsweise die geplante Krankenversicherungsreform, die insbesondere Hillary Clinton ins Zentrum ihrer Kampagne stellte. Von größerer Bedeutung als die politischen Inhalte der Wahlprogramme waren das jeweilige Image („change“ vs. „experience“) und die Performanz der Kandidaten. Gerade Clinton leistete sich in der Endphase des demokratischen Vorwahlkampfes einige performative Fehlschläge (vgl. Alexander 2010: 32-38). Hinzu kam, dass Clinton als Teil des Establishments wahrgenommen wurde, während Obama für die demokratischen Wähler den radikaleren Bruch mit dem Erbe von Bush verkörperte (und das, obwohl Clinton politisch weiter links angesiedelt war). Bei den jüngeren Wählern erfreute sich der energische und charismatische Obama größter Beliebtheit, während die älteren Jahrgänge der Demokraten in ihm den fleischgewordenen Traum der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sahen. Im Rückblick überrascht es daher kaum, dass Obama den Vorwahlkampf gegen die vormalige Favoritin für sich entscheidenden konnte. 2
Clinton tat dies am 26. April 2007 in einer Rede im US-Senat, Obama unter anderem in einem Interview in der Welt vom 22. Oktober 2007, und John McCain gegenüber dem Spiegel am 11. Februar 2008.
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Werfen wir einen Blick auf den republikanischen Vorwahlkampf, so finden wir dort eine völlig andere Situation vor. Die Haltung zum Abu-Ghraib-Skandal bildete hier eine Wasserscheide zwischen den schwindenden Unterstützern der alten BushRegierung, die einen „tough War on Terror“ befürworteten, und der wachsenden Fraktion konservativer Kritiker. Der Abu-Ghraib-Skandal und das McCainAmendment führten zu einer Spaltung innerhalb des konservativen Lagers. Dem pragmatischen Neokonservatismus der Bush-Administration, der in erster Linie eine Ausweitung der Regierungsvollmacht im Sinne einer „unitary executive“ verfolgte,3 die sich durch den kompromisslosen Schutz der Nation vor dem Terrorismus legitimieren konnte, stand einem kritischen Wertkonservatismus gegenüber, der sich um das normative Fundament der amerikanischen Gesellschaft und das amerikanische Image im Ausland sorgte. Von allen republikanischen Kandidaten gelang es John McCain am überzeugendsten, sich als authentischer Kritiker der symbolisch befleckten Bush-Regierung zu etablieren. McCain hatte schon als innerparteilicher Rivale von Bush im Präsidentschaftswahlkampf von 2000 einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt, den er als kritische Stimme der Konservativen im Abu-Ghraib-Skandal noch weiter steigern konnte. Im Jahr 2005 wurde er schließlich zur Gallionsfigur des innerparteilichen Aufstandes gegen Bush, dem es gelang, das McCain-Amendment auch gegen den ausdrücklichen Widerstand der amtierenden Regierung durchzusetzen (9.2). Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich Senator McCain in der amerikanischen Öffentlichkeit als innerparteilicher Kritiker der Regierung hatte profilieren können, was ihm auch später im republikanischen Vorwahlkampf einen Vorsprung gegenüber den anderen Kandidaten verschaffte. McCain konnte aufgrund seiner politischen wie auch vorpolitischen Vita (vgl. 9.2) glaubhafter als andere versichern, dass ihm an einer baldigen Schließung von Guantanamo gelegen war, auch wenn andere Kandidaten, z.B. sein schärfster Konkurrent Mike Huckabee, in diesem Punkt mit ihm übereinstimmten. Auch wenn diese Diskursanalyse keinen Aufschluss über die Häufigkeit des Verweises auf Abu Ghraib in den Wahlkampfreden von McCain geben kann, lässt sich anhand des vorliegenden Materials doch zeigen, dass seine Rolle im Abu Ghraib-Skandal von großer Bedeutung für sein politisches Image war. Ein Artikel der New York Times gibt Aufschluss über die Internetkampagnen der unterschiedlichen Kandidaten und macht auf die Bedeutung des Skandals für McCains Kampagne aufmerksam.4 Darin wird über die Verwendung der Internetsuchmaschine Google durch die Präsidentschaftskandidaten berichtet. Diese wendeten ein Teil ihres Wahlkampfbudgets auf, um spezifische Suchbegriffe politisch zu besetzen und mit ihren Kampagnenseiten zu verlinken. McCains Strategie wird in 3
Eine kritische Untersuchung der Genese dieser Doktrin findet sich bei Skowronek (2008), eine engagierte Verteidigung bei Calabresi und Yoo (2008).
4
„Buying Into Web Presence“, The New York Times, 10. Juli, 2007.
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diesem Artikel von Experten als besonders effektiv beurteilt, weil sie auf „issuerelated keywords“ abstellte. Bei den wichtigsten Suchwörtern, die mit der McCainKampagnenseite verlinkt wurden, handelt es sich um „Abu Ghraib“, „tort reform“5 und „bipartisan“. Wir sehen, dass sich zwei der drei Suchbegriffe auf McCains Rolle im Abu-Ghraib-Skandal und bei der Durchsetzung des Amendements beziehen. Nach Einschätzung seiner Wahlkampfberater hat McCain das Unwahrscheinliche möglich gemacht: Er verwandelte das Negativsymbol „Abu Ghraib“ in ein Alleinstellungsmerkmal, das er positiv in seiner Kampagne zur Anwendung bringen konnte. Nichtsdestotrotz mussten McCain und sein Team sehr viel Mühe darauf verwenden, die Balance zwischen einer Kritik der Bush-Regierung und der Herstellung eines möglichst breiten republikanischen Konsensus zu erreichen. Dass dies nicht immer einfach war, zeigt der folgende Artikel aus der USA Today: „Life may seem particularly unfair to McCain these days. During a campaign stop in South Carolina, he tells an audience in Hilton Head that former Defense secretary Donald Rumsfeld ‚will go down in history as one of the worst secretaries of Defense in history.‘ His critique isn’t new. McCain began saying he had ‚no confidence‘ in Rumsfeld’s leadership in 2004, after the Abu Ghraib prison scandal. Even so, the comment triggers attacks from both sides. Within hours, the Democratic National Committee issues a news release headlined ‚why Voters Don’t Trust McCain,‘ accusing him of trying to have it both ways on the war – supporting it while blaming Rumsfeld. The next day, Vice President Cheney curtly dismisses McCain as ‚wrong‘ and suggests the senator apologize.“6
Dieser Aufforderung Cheneys ist McCain nie nachgekommen – und er hatte es auch nicht nötig. Die Abgrenzung zum „unreinen“ Rumsfeld stieß nicht nur in der Öffentlichkeit auf Verständnis, sondern auch bei vielen Republikanern – auch wenn die demokratische Partei diese Kritik als heuchlerisch zu rahmen versuchte. Dass McCain mit seinen Äußerungen zu Rumsfeld punkten konnte, war nach den Kongresswahlen von 2006 und dem Rücktritt von Rumsfeld auch nicht anders zu erwarten (9.5). Dennoch durften McCain und sein Team, die Bush-Getreuen in der Stammwählerschaft der Republikaner keineswegs vergraulen. Wie wir noch sehen werden, kam es im Zuge des Abu-Ghraib-Skandals zu einem Wandel im öffentlichen Diskurs über Folter, der auch institutionelle Konsequenzen hatte. So berichtete der Fernsehsender ABC News im September 2007, dass der US-Geheimdienst CIA seinen Mitarbeitern die Anwendung von „waterboarding“ untersagt habe. Der CIA hatte die Technik des Waterboardings, das die sub5
Bei der sogenannten „tort reform“ handelt es sich nicht etwa um eine Reform der Folter, sondern um eine Reform von Schadensersatzansprüchen gegen Unternehmen.
6
„McCain firm on Iraq war despite cost to candidacy; Maverick from 2000 ties fortunes to Bush“, USA Today, 27. Februar, 2007.
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jektive Erfahrung des Ertrinkens simuliert (10.4.1), nach eigenen Angaben in den Jahren 2002 und 2003 bei der Vernehmung einiger Al-Quaida-Mitglieder eingesetzt. Im republikanischen Vorwahlkampf und im Präsidentschaftswahlkampf spielte die Debatte über die Zulässigkeit des Waterboardings eine wichtige Rolle, weswegen wir an dieser Stelle etwas vorgreifen müssen. So gelangte McCain wegen seines Insistierens auf moralischen Standards bei der Vernehmung von Terrorverdächtigen zu großer Popularität und weltweiter Anerkennung. Noch im Oktober 2007 hatte er sich explizit gegen das Waterboarding als Verhörtechnik ausgesprochen und diese Praxis als einen Verstoß gegen die Genfer Konventionen bezeichnet. Im Vorwahlkampf vertrat er damit als einziger Republikaner eine dezidiert folterkritische Position.7 So wurde sein republikanischer Konkurrent Rudolph Giuliani von McCain dafür gescholten, als dieser bei einem öffentlichen Auftritt vorsichtige Zweifel äußerte, ob es sich bei Waterboarding auch wirklich um eine Form von Folter handele. McCain strafte ihn für diese vorsichtige Äußerung, indem er in einem Telefoninterview auf den Gebrauch dieser Technik durch repressive Regime verwies: „All I can say is that it was used in the Spanish Inquisition, it was used in Pol Pot’s genocide in Cambodia, and there are reports that it is being used against Buddhist monks today“.8 Die Technik des Waterboardings wird hier mit der Inquisition, die wir schon als negativ besetztes Motiv in den Abu-Ghraib-Bildern kennengelernt haben (7.1.3), aber auch mit dem Genozid in Kambodscha und den damals tagesaktuellen staatlichen Übergriffen gegen Mönche in Birma in Verbindung gebracht. Durch diese beschmutzende Assoziation wird der Begriff des „waterboarding“ von McCain negativ aufgeladen und gegen seine innerparteilichen Gegner in Stellung gebracht. Die Authentizität McCains wird in dem Artikel noch durch den biographischen Zusatz unterstrichen, dass er mehr als fünf Jahre in vietnamesischer Kriegsgefangenschaft verbracht habe. Seinen Kritikern hält McCain entgegen: „They should know what it is. It is not a complicated procedure. It is torture.“ Mit seinem scheinbar kompromisslosen Kampf gegen die Folter stilisiert sich McCain zu einem standfesten Wertkonservativen, was ihm im Kampf gegen seine innerparteilichen Konkurrenten ein wertvolles Alleinstellungsmerkmal verschaffte: „With the exception of Mr. McCain, who believes that torture is ineffective because its victims will say anything to make it stop, several leading Republican presidential candidates have suggested that they would use aggressive or coercive interrogation techniques ‒ they say they would stop short of torture ‒ to prevent a terrorist attack.“9 7
„A Question of Torture; Excepting John McCain, Republican candidates for president
8
„McCain Rebukes Giuliani on Waterboarding Remark“, The New York Times, 26. Okto-
seem to favor it“, The Washington Post (Regional Edition), 17. Mai 2007. ber 2007. 9
„McCain Rebukes Giuliani on Waterboarding Remark“
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Dieser Ausschnitt aus einem Artikel der New York Times macht einerseits deutlich, dass McCain eine herausragende Position innerhalb der Folterdebatte innehatte, andererseits kommt auch die Distanzierung seiner Konkurrenten zum Begriff der „Folter“ zum Ausdruck. Die Zeiten, in denen unter dem Eindruck des 11. Septembers noch über die rechtmäßige Anwendung von Folter diskutiert werden konnte, schienen endgültig vorüber. McCains Standfestigkeit sollte sich aber nach seinem Sieg über die innerparteilichen Konkurrenten, als es darauf ankam, sich von dem demokratischen Kandidaten Obama abzugrenzen, als äußerst brüchig erweisen. Abu Ghraib als Ereignis findet in Artikeln, welche vom Vorwahlkampf der Republikaner berichten, nur selten explizit Erwähnung. Aber es gibt, wie wir gesehen haben, gute Gründe dafür anzunehmen, dass der Abu-Ghraib-Skandal und seine Folgen entscheidend zur Nominierung von John McCain beigetragen haben. Nach einem eher verhalten Start schaffte es McCain nach seinem Erfolg beim sogenannten „Super Tuesday“, das republikanische Rennen relativ zügig für sich zu entscheiden. Wie schon im Jahr 2004, so war auch im Wahlkampf zwischen McCain und Obama der Abu-Ghraib-Skandal kein großes Thema – wenn auch aus anderen Gründen. Im Jahr des Skandals wurden die „Fakten“ von Abu Ghraib noch ganz anders gelesen als vier Jahre später. Im Rennen um die Präsidentschaft zwischen Bush und Kerry blieb die schwelende Krise um Abu Ghraib im Hintergrund und manifestierte sich nur selten – und dann meist zu Ungunsten von Kerry. Wie bereits gezeigt wurde (8.5.3), war es dem demokratischen Kandidaten im Rahmen seiner Wahlkampfstrategie kaum möglich, den Abu-Ghraib-Skandal politisch gegen Bush zu verwenden. Kerry wurde sogar wegen angeblicher Äußerungen zum Skandal kritisiert. Damals waren das „Bad-Apple“-Narrativ und Bushs beschwichtigende Reaktion auf den Skandal noch plausibel genug, um eine symbolische Ansteckung der amtierenden Regierung zu verhindern. 2008 war die Situation grundlegend verschieden. Nicht mehr alleine die Demokraten, sondern auch viele Republikaner neigten dazu, in Abu Ghraib das Symptom einer nationalen Identitätskrise und das Ergebnis einer verfehlten Politik zu sehen. Im Jahr der Präsidentschaftswahlen sank Bushs Popularität auf ein Allzeittief, nicht zuletzt wegen des moralischen und militärischen Desasters im Irak, das am Trauma von Vietnam rührte. McCain wurde zum republikanischen Kandidaten, weil er einen politischen Konservatismus repräsentierte, der von den Verfehlungen der Bush-Regierung unberührt zu sein schien. Er versprach nicht nur, das von umstrittenen Inhaftierungen und Verhörtechniken beschmutzte Selbstbild der Amerikaner wiederherzustellen, sondern empfahl sich auch als oberster militärischer Führer, der einen „sauberen“ Krieg und Sieg im Irak in Aussicht stellte. Hingegen versuchte Obama damit zu punkten, dass er sich schon 2003 gegen den – aus seiner Sicht – unnötigen Krieg ausgesprochen hatte.10 10 So konstatierte Obama, dass es sich bei dem Afghanistankrieg um einen „war out of necessity“ gehandelt habe, während der Irakkrieg von Anfang an ein „war of choice“ gewe-
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Allerdings war es McCain als einem republikanischen Kandidaten nicht möglich, hinsichtlich der Abgrenzung von Bush mit seinem demokratischen Rivalen, dessen Slogan „change“ den radikaleren Bruch mit der amtierenden Regierung symbolisierte, gleichzuziehen. Gerade bezüglich des Irakkrieges gingen die Meinungen von McCain und Obama weit auseinander. Obama wollte sich so schnell wie möglich aus dem „Sumpf“ á la Vietnam („quagmire“) zurückziehen, während McCain die Überzeugung vertrat, dass dieser Krieg noch militärisch zu gewinnen sei. Die öffentliche Rahmung des Irakkrieges verschob sich in den letzten Jahren zum Vietnam-Pol des amerikanischen Kollektivgedächtnisses – teils wegen des Abu-GhraibSkandals und weiterer Enthüllungen amerikanischer Gräueltaten in seinem Gefolge, teils wegen des wachsenden Widerstandes auf irakischer Seite und den steigenden Verlusten unter den amerikanischen Truppen. Dies alles gereichte Obama zum Vorteil und McCain zum Nachteil. Die Obama-Kampagne hatte demgegenüber durchaus Erfolg mit ihrer Strategie, McCain als Fortsetzung der Politik der BushRegierung darzustellen. Natürlich stellt die symbolische Verknüpfung von McCain und Bush nicht die einzige Ursache des Wahlausgangs dar. So spielten auch eine Vielzahl von Performanzen und Spins, nicht zuletzt aber die Reaktion der Kandidaten auf die hereinbrechende Wirtschaftskrise, eine entscheidende Rolle (hierzu Alexander 2010: 243-266). Hinzu kam, dass es John McCain im Wahlkampf gegen Obama zunehmend daran gelegen war, sich mit den republikanischen Hardlinern auszusöhnen und seine Bereitschaft für einen „tough war on terror“ zu signalisieren. Als der Supreme Court im Fall Boumediene vs. Bush entschied, dass den Gefangenen in Guantanamo Bay habeas corpus, also ein Recht auf eine Anhörung vor einem ordentlichen Gericht, zusteht (9.3.3), nutzte McCain die Gelegenheit, sich als republikanischer Hardliner zu profilieren. Die Entscheidung des Obersten Gerichts, so McCain, behindere nicht nur die Vereinigten Staaten im Krieg gegen den Terror, darüber hinaus entzöge sie die Entscheidung der Macht des Volkes, das durch die demokratisch gewählte Regierung verkörpert wird, und käme dabei nicht einmal den Gefangenen zu Gute. Im Gegensatz dazu begrüßte der ehemalige Juraprofessor Obama, der auf eine demokratische Kontrolle durch rechtliche Institutionen setzte, die Entscheidung des Obersten Gerichts. Am 13. Februar 2008, keine vier Monate nachdem er seinen republikanischen Konkurrenten wegen dessen unklarer Haltung zu Waterboarding verurteilt hatte, stimmt McCain im Senat gegen eine Gesetzesvorlage, welche unter anderem das Waterboarding verbieten sollte. Das Gesetz wurde mit den Stimmen der Demokraten verabschiedet, doch Präsident Bush legte sein Veto sen sei. Dadurch stellt er die apokalyptische Rahmung des Krieges in Frage, die bereits durch die unauffindbaren „weapons of mass destruction“ gelitten und in den folgenden Kriegsjahren vollends an Plausibilität verloren hatte (6.5). Alles was optional ist, besitzt keine kollektive Verbindlichkeit und hat damit als „profan“ zu gelten.
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gegen diese Entscheidung des Senates ein. In einem amerikanischen Internetforum wurde McCains Inkonsequenz auf den Punkt gebracht: „He was against waterboarding before he was for it“.11 Sein Verhalten bei der Abstimmung stand damit auf einmal in einem performativen Widerspruch zu seinem Image als unabhängigem „Maverick“. Dieses Umschwenken, mag es auch McCain an Glaubwürdigkeit gekostet haben, erscheint aus politisch-strategischen Gründen durchaus verständlich. So war McCain im Präsidentschaftswahlkampf darauf angewiesen, eine breite republikanische Wählerschaft zu mobilisieren, die in Teilen einen „tough war on terror“ befürwortete. Zudem kam es nach den gewonnenen Vorwahlen nun darauf an, die Unterschiede zum demokratischen Konkurrenten hervorzuheben und diesen als ein nationales Sicherheitsrisiko darzustellen. Dennoch drängt sich im Rückblick die Frage auf, wie viele Stimmen ihn dieser Sinneswandel gekostet hat und ob nicht Standhaftigkeit die bessere Strategie gewesen wäre. Im Rahmen dieser Untersuchung lässt sich diese Frage freilich schwerlich beantworten. Der Wahlkampf wurde von Senator Obama nicht nur als eine kritische Auseinandersetzung mit dem Erbe der Bush-Regierung, sondern auch als ein Kampf um die nationale Einheit geführt. Insbesondere der biographische Hintergrund von Obama, seine Herkunft und sein Werdegang, waren von entscheidender Bedeutung für seinen Erfolg, da er als Personifizierung eines multikulturellen American Dream angesehen werden konnte. Seine biographische Erzählung, die durch die eigenen Bücher, aber auch durch Medienberichte verschiedenster Natur, verbreitet und popularisiert wurde, verlieh seiner Persönlichkeit Authentizität – wie auch die Biographie McCains, insbesondere aber seine Erfahrung von Folter am eigenen Leib, diesem Authentizität im Kampf um das McCain-Amendment sicherte (9.2). Aufgrund der erfolgreichen narrativen Konstruktion seiner öffentlichen Person und seiner überragenden medialen Performanz gelang es Obama wie noch keinem vor ihm, den amerikanischen Traum des Aufsteigers und die nationale Einheit einer multikulturellen Einwanderergesellschaft zu verkörpern. Dies zeigt insbesondere seine lang erwartete und vielerorts bewunderte „Speech on Race in America“, die dem Vorwurf des Rassismus gegen Obama und sein Umfeld den Wind aus den Segeln nahm. So versuchte er sich in seinen Büchern und Reden immer wieder an der Überwindung von überkommenen Gegensätzen, insbesondere aber an der Beilegung des latenten Konfliktes zwischen der liberalen Gegenkultur der sechziger Jahre und den politisch Konservativen. Dieser amerikanische Kulturkampf entzündete sich nicht zuletzt an der unterschiedlichen Bewertung des Vietnamkrieges (6.2.2-3) und prägt die politische Landschaft der Vereinigten Staaten bis heute.
11 „Maverick Fails The Test: McCain Votes Against Waterboarding Ban“, ThinkProgress, 13. Februar 2008. http://thinkprogress.org/2008/02/13/mccain-waterboarding-fail/; letzter Zugriff am 30. Juni 2013.
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In seiner Rede vor dem amerikanischen Nationalfeiertag gelang es Obama, den Vorwurf eines mangelnden Patriotismus präventiv zu entkräften und aus dem Wahlkampf auszuschließen – ohne Zweifel ein geschickter Zug, da ohnehin kein Amerikaner auf die Idee gekommen wäre, den Patriotismus des Veteranen McCain in Frage zu stellen. Darüber hinaus landete Obama noch einen weiteren Coup, nämlich eine spezifische Auslegung des Patriotismus-Begriffs, welche das ideelle (bzw. imaginäre) Zentrum Amerikas gegen die degenerierte und korrupte Realität der Vereinigten Staaten – verkörpert durch die Bush-Administration – ausspielte. Der wahre Patriotismus zeige sich eben, so Obama, nicht in einer unkritischen Verteidigung der amerikanischen Regierung, sondern in der Verteidigung der amerikanischen Werte – notfalls auch gegen die amtierende Regierung. Obama führte als negatives Beispiel den von ihm verehrten Präsidenten Abraham Lincoln an, dessen Außerkraftsetzung des habeas corpus im amerikanischen Bürgerkrieg kein patriotischer Akt gewesen sei. Durch die Wahl dieses Beispiels bezog Obama auch implizit Stellung zur Einschränkung der amerikanischen Bürger- und Gefangenenrechte nach dem 11. September 2001 sowie zur jüngst erfolgten Supreme-Court-Entscheidung im Fall Boumediene v. Bush (9.3.3). Darüber hinaus griff er in seiner Rede auch explizit die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib auf. So verteidigte Obama nämlich den „whistle blower“ von Abu Ghraib, Joe Darby (8.1.1), als einen wahren Patrioten und Helden, der durch seine Tat dem wahren Amerika nicht etwa Schaden zugefügt, sondern vielmehr dem ideellen Amerika zu einem Sieg über sein degeneriertes Zerrbild verholfen habe. Obama erzählte den Abu-Ghraib-Skandal weder als eine unglückliche Tragödie, wie dies in konservativen Kreisen geschah (8.3.1), noch als eine kollektive Schuld oder traumatische Wiederkehr des Verdrängten, wie dies vor allem liberale Intellektuelle propagierten (8.3.2). Der Abu-Ghraib-Skandal, so wollte Obama seine Zuhörer glauben machen, müsse aufgrund der Enthüllung der Missbrauchsfälle durch Joe Darby, der Skandalisierung durch die Medien und der Bestrafung der Täter durch die Gerichte als amerikanischer Triumph verstanden werden. Auch in dieser Rede stilisierte sich Obama also zum Überwinder der Gegensätze, zum Hoffnungsträger einer ganzen Nation. So nahm er beispielsweise die Soldaten des Vietnamkrieges und des Irakkrieges vor einer pauschalen linksliberalen Kritik in Schutz. Diese exemplarischen Analysen stellen natürlich keine Erklärung des Wahlausgangs dar,12 sondern sollen lediglich demonstrieren, auf welche spezifische Weise Obamas Kandidatur und die neue Debattenkultur nach Abu Ghraib ineinandergriffen. 12 Eine ausführliche Rekonstruktion der performativen Praktiken, die letztlich entscheidend für den Wahlausgang waren, findet sich bei Jeffrey Alexander (2010), der allerdings in seiner Analyse wesentliche Aspekte, wie beispielsweise die politischen Polarisierung des amerikanischen Diskurses (4.3.2) oder aber den Einfluss der symbolischen Verunreinigung der Republikaner durch die scheidende Bush-Administration, außer Acht lässt.
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Am 4. November 2008 konnten Obama und die Demokraten die Wahl für sich entscheiden. Ausschlaggebend war am Ende wohl das Versagen der Republikaner angesichts der hereinbrechenden Finanzkrise, von der Obama als „civil hero“ weitaus stärker profitieren konnte als der „military hero“ McCain (vgl. Alexander 2010: 7287). In dem Maße, wie die Finanzkrise den Afghanistan- und Irakkrieg als Wahlkampfthema in den Hintergrund drängte, wurde es für McCain, dem die Wähler nur eine geringe wirtschaftliche Kompetenz unterstellten, schwerer und schwerer zu punkten. Die Probleme der Republikaner fingen schon mit der Entscheidung der Bush-Administration an, die Investmentbank Lehman Brothers Pleite gehen zu lassen, was die Krise zuallererst virulent werden ließ. Hinzu kam, dass McCains performative Reaktion auf die Finanzkrise samt seiner Versicherung, „the fundamentals of our economy are strong“, von der Öffentlichkeit als unzureichend wahrgenommen und als finanzpolitisches Desaster („McCain’s Katrina“) gerahmt wurde (Alexander 2010: 246-256). Mit dem Wahlsieg von Obama war die polarisierende Präsidentschaftswahlkampf zu Ende. Mitte Dezember 2008, als die Hitze des politischen Gefechts schon verflogen war, aber noch vor der offiziellen Amtseinführung des neuen Präsidenten, wurde das Bad-Apple-Narrativ (8.3.1) durch einen Bericht des Verteidigungsausschusses des Senats, der von den Vertretern aus beiden Parteien einstimmig angenommen wurde, offiziell widerlegt. Der Bericht nahm die scheidende Bush-Regierung für den Gefangenenmissbrauch in Abu Ghraib in die Verantwortung und sprach ihnen eine Mitschuld an den Vorfällen zu. So berichtete selbst die politisch neutrale USA Today voller Begeisterung: „Now, finally, an authoritative bipartisan report by the Senate Armed Services Committee has concluded, by a 17-0 vote, that Rumsfeld and other top Bush administration officials bear direct responsibility for the abuses that so damaged the American interests. The panel said in a report Thursday that the guards’ tactics were the byproduct of policies spawned by a 2002 memo, signed by President Bush, declaring that the Geneva Conventions for humane treatment of detainees did not apply to enemy fighters in the war on terror. Rumsfeld followed on by approving aggressive interrogation techniques for Guantanamo, including removing prisoners’ clothes and using dogs to threaten them. The military soon adopted similar practices for Afghanistan and Iraq. Not surprisingly, the Abu Ghraib guards used them. No one can forget the photos revealed in 2004, showing grinning U.S. soldiers alongside a pyramid of hooded and naked Iraqi detainees and one detainee collared and leashed like a dog.“ 13
Der Artikel zeugt von der Verankerung der Abu-Ghraib-Bilder im kollektiven Gedächtnis der Vereinigten Staaten – und das auch noch nach über vier Jahren. Zugleich legt er auch ein eindrucksvolles Zeugnis davon ab, dass Vergangenheit immer auch eine Konstruktion der Gegenwart ist. So wird im Rückblick festgestellt, 13 „Blame for Abu Ghraib finally lands at the top“, USA Today, 15. Dezember, 2008.
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dass die Rahmung des Abu-Ghraib-Skandals als eine Tat einzelner Soldaten von Anfang an den Eindruck einer Vertuschung erweckt habe („always looked like a cover up, and not a very creative one“). Eine kollektive Amnesie schien die USA Today befallen zu haben, wo mehrere Artikel in der Frühphase des Skandal publiziert wurden, die den früheren Verteidigungsminister Rumsfeld in Schutz nahmen und in denen man zu dem Schluss kam, dass es nicht genug Hinweise für eine Verantwortlichkeit der Regierung gegeben habe (8.2.3). Nichtsdestotrotz unterstreicht der Artikel die anhaltende Bedeutung des Skandals wie auch die Kanonisierung der Bilder als säkulare Ikonen (2.1.3). Der Autor schließt mit einem optimistischen Resümee, einem romantischen Narrativ des Abu-Ghraib-Skandals: So habe dieser letztendlich nicht nur die moralische Autorität der Vereinigten Staaten wiederhergestellt, sondern sei am Ende auch der Effizienz des Militärs zu Gute gekommen: „The scandal led to changes, and abuse is less likely now. Even so, the report carries important lessons. It underscores that these tactics are both cruel and unproductive: The abuses, the committee found, ‚damaged our ability to collect accurate intelligence that could save lives‘ and ‚strengthened the hand of our enemies.‘ And it places responsibility, finally and unequivocally, where it belongs. But there is another lesson. That is the enduring power of the Big Lie – the ability of those in power to deny what is obvious, pressure anyone attempting to tell the truth and go on as if nothing happened, unless someone like the senators exposes the truth.“14
Das Ergebnis des Skandals wird hier als Sieg der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit über die Macht der Lüge gefeiert. Der rücksichtslose Gebrauch politischer Macht durch die Bush-Regierung wurde im Diskurs als repressiver und undemokratischer Machtmissbrauch gebrandmarkt. Interessanterweise wird das Militär keiner Kritik unterzogen. Die Armee blieb unbefleckt, weil der Bush-Administration die ganze Verantwortung zugeschrieben wurde. Die scheidende Regierung erfüllte dem Volk noch einen letzten Dienst als Sündenbock, der als Außenstehender die Bewältigung der sozialen Krise ermöglichte (vgl. Girard 1992, 2006) und damit den Konflikt zwischen konservativen und liberalen Kräften beilegte. Halten wir fest: Zumindest in Teilen muss der Präsidentschaftswahlkampf 2008 als Resultat des Abu-Ghraib-Skandals begriffen werden. Die (zeitweilige) Übereinstimmung zwischen McCain, Clinton und Obama in vielen Fragen der Sicherheitspolitik reflektiert einen neuen zivilgesellschaftlichen Konsens, der sich in den Jahren nach dem Skandal herausbildete. Konkrete Gestalt nahm dieser Konsens im überparteilichen Senatsbericht an, der von der Öffentlichkeit wohlwollend aufgenommen wurde. Es ist allerdings kein Zufall, dass gerade einer scheidenden Regierung die Schuld an den Vorfällen zugemessen wurde. So hätte vor der Wahl doch 14 „Blame for Abu Ghraib finally lands at the top“
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das Risiko bestanden, dass die offizielle Anerkennung der Schuld der BushRegierung auf den republikanischen Kandidaten hätte übergreifen oder die Stammwähler verärgern können. Erst mit dem Ende des Wahlkampfes traten diese pragmatischen Überlegungen zurück und machten damit den Weg für eine Abrechnung mit der Bush-Regierung frei, die allerdings Züge einer nationalen Exkulpation trägt.
10.2 B ILDKRITIK UND NARRATIVE R EKONSTRUKTION – D IE D OKUMENTATIONEN Aber die kunstvoll ausgeleuchteten, digital aufgemöbelten, von Danny Elfmans Einpeitschermusik begleiteten Filmbilder zähnefletschender Hunde verschnürter Leichen und in Zeitlupe fließender Blutstropfen fügen den Fotografien keine neuen Erkenntnisse hinzu. Sie verwischen nur. Sie machen die Wahrheit zur Fiktion. Etwas Schlimmeres kann man über einen Dokumentarfilm kaum sagen. ANDREAS KILB, WAHRES BLUT FLIESST NICHT IN ZEITLUPE15
Dokumentationen stellen ein Genre innerhalb der audiovisuellen Medienformate dar. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der Dokumentarfilm kein klassisches fiktionales Medium ist, sondern mit dem Anspruch auftritt, die Wirklichkeit „abzubilden“. Von einem Tatsachenbericht oder einer Nachricht unterscheidet er sich dadurch, dass die „Wirklichkeit“ nicht nur eins-zu-eins narrativ oder bildlich wiedergegeben, sondern eine dem alltäglichen Auge verborgene Wirklichkeit gezeigt wird. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Techniken der Visualisierung, z.B. Fotographie und Film. Der Versuch der Visualisierung einer verborgenen Wirklichkeit führt bei Dokumentationen allerdings oft dazu, dass die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen. So konstatiert Bernd Gäbler im Vorwort eines Bandes, der die „Doku-Landschaft“ in Deutschland in den Blick nimmt: „Zur alten Unschuld aber, die ebenso messerscharf wie naiv definierte, dass Fiktion die Konstruktion von Wirklichkeit sei und Dokumentation deren Abbildung, führt kein Weg zurück. Kaum ein Doku-Irgendwas kommt noch aus ohne ‚Re-Enactment‘, ‚szenische Rekonstruktion‘ oder gar ‚dokumentarische Imagination‘.“ (Wolf 2004: 9) Es wird zunehmend von Fiktion und Imagination Gebrauch gemacht, um der Dokumentation einen höheren Grad an Realismus zu verleihen – was auf den ersten Blick paradox erscheinen mag. Allerdings wurde bereits in den theoretischen Erörterungen über das Reale (1.3.4) und das fotografische Bildmedium (2.1.3) heraus15 Eine äußerst kritische Besprechung der Dokumentation Standard Operating Procedure, die in der Frankfurter Allgemeine Zeitung am 29. Mai 2008 erschien.
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gearbeitet, dass Realität nicht nur als materielle Spur, sondern auch als symbolischer Effekt verstanden werden muss. Die durch die Dokumentation erzeugte Wirklichkeit ist somit ein Ergebnis medialer Techniken und theatralischer Performanzen. Gerade audiovisuelle Formate wie das Fernsehen eignen sich in besonderer Weise für Dokumentationen. Das „Doku-Drama“, in dem fiktionale und dokumentarische Anteile verwoben werden, gilt als „fernsehspezifisches Genre“ (Wolf 2004: 98). Auch in den Dokumentationen zu Abu Ghraib und Guantanamo wurden auf unterschiedliche Art und Weise dokumentarische und fiktionale Gehalte zueinander in Beziehung gesetzt. Die Vorfälle von Abu Ghraib wurden schon früh in einer Reihe von kleineren Dokumentation wie The Dark Art of Interrogation und The Torture Question thematisiert, die die Missbrauchsfälle in die Geschichte der Folter einzuordnen und mit Guantanamo in Verbindung zu bringen versuchten. 16 Diese Dokumentationen aus dem Jahr 2005 wurden nicht nur von vielen Zuschauern gesehen, sondern auch in der Qualitätspresse besprochen. Daran wird ersichtlich, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit Abu Ghraib mit dem vorläufigen Ende des Skandals nicht zum Erliegen kam. Einerseits versuchten diese Dokumentationen, politischen Einfluss zu nehmen, andererseits müssen sie auch als Symptome einer veränderten Wahrnehmung von Abu Ghraib gelesen werden. Vor allem der „spill over“-Effekt von Abu Ghraib, seine symbolische Verunreinigung des Gefangenenlagers in Guantanamo Bay, wird hier deutlich. Die Grenzen zwischen bedauerlichen Missbrauchsfällen, regulären Verhörtechniken und staatlicher Folter geraten in diesen Filmen ins Fließen. Insbesondere in Torture Question versuchte man, einen Zusammenhang zwischen den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib und Anweisungen von höchster politischer Ebene, aus dem Weißen Haus und dem Pentagon, herzustellen.17 Der Druck Informationen zu beschaffen, der von oben nach unten weitergegeben wurde, soll letztendlich zu den Missbrauchsfällen geführt haben. Eine weitere Dokumentation, Big Storm: The Lynndie England Story, geht der Rolle der prominentesten Frau auf den Bilder nach und zeichnet, zumindest in den Augen der Times-Kommentatorin Kate Aurthur, ein äußerst negatives Bild von dieser: „Her flat affect and inability to discern right from wrong contrasts with the still-shocking images of the American soldiers’ abuse games“.18 Einige der Dokumentationen wurden auch, mit relativ großem Aufwand, für das Kino und das DVD-Geschäft produziert. Diese Filme erlangten einen internationalen Bekanntheitsgrad und wurden zum Teil mit Preisen ausgezeichnet. Dementsprechend wurde in Presse und Fernsehen viel über diese Filme berichtet (sogar in 16 „Sunday“, The Washington Post, 9. Juli 2005; „What’s on tonight“, The New York Times, 18.Oktober 2005. 17 „The Slow Rise of Abuse That Shocked the Nation“, The New York Times, 18. Oktober 2005. 18 „Television“, The New York Times, 19. März 2006.
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Deutschland). Im Folgenden sollen vier Dokumentationen näher betrachtet werden, von denen die ersten beiden die Inhaftierung von Gefangenen in Guantanamo Bay, Kuba, und in Bagram, Afghanistan, thematisieren, während die letzten beiden unmittelbar die Vorfälle von Abu Ghraib zum Gegenstand haben. Road to Guantanamo und Taxi to the Dark Side handeln nicht von den Abu-GhraibMissbrauchsfällen, sind aber dennoch für die Fragestellung dieser Arbeit relevant. Beide Dokumentationen profitierten von dem Klima, das durch den Abu-GhraibSkandal geschaffen wurde. Einerseits beeinflusste die Vorstellungsbilder von Abu Ghraib die Produktion und Rezeption dieser Filme, andererseits wirkten die Dokumentationen auch auf die Rahmung der Vorfälle von Abu Ghraib zurück. Michael Winterbottoms Film Road to Guantanamo (2006) erzählt die Geschichte von drei jungen Engländern, die während eines Besuches bei Verwandten in Pakistan aus Neugierde einen Kurzbesuch nach Afghanistan unternahmen, wo sie von amerikanischen Streitkräften festgenommen und nach Guantanamo Bay überführt wurden. Der Film problematisiert die Tatsache, dass im Krieg gegen den Terror viele Unschuldige ihrer grundlegenden Rechte beraubt wurden. Die Bezüge zu Abu Ghraib sind vor allem impliziter Natur. Die ikonische Nähe zwischen Guantanamo und Abu Ghraib rührt in erster Linie von den verhüllten Köpfen der Gefangenen her. Die Ikonographie des Abu-Ghraib-Skandals versuchten die Macher aber auch explizit für die Vermarktung des Filmes zu nutzen. So war es geplant, den Film mit dem Foto eines gefesselten Mannes zu bewerben, dessen Kopf von einem Sandsack oder einer Kapuze verhüllt war. Dies wurde den Produzenten jedoch aus ‚Jugendschutzgründen‘ untersagt – eine Entscheidung, die von Filmemachern und Journalisten mit der Intransparenz der Bush-Regierung in Verbindung gebracht wurde.19 Der Film stellt den Leidensweg der Engländer mit Hilfe von Schauspielern nach, lässt aber auch immer wieder die echten Opfer zu Wort kommen. Auf diese Weise verbindet er realistisches Re-Enactment mit der Authentizität von Zeitzeugen. Zu Beginn der Geschichte wird der Zuschauer mit der jugendlichen Naivität der Protagonisten konfrontiert, die sich bei ihrem Ausflug nach Afghanistan nicht viel gedacht haben, aber von den Amerikanern für Dschihadisten gehalten werden. Ihre Erfahrungen bewirken eine innere Wandlung, die einen von ihnen sogar Gott näher bringt. Dennoch lässt sich der Film nur begrenzt als ein Bildungsroman lesen, weil der jugendliche Leichtsinn und das tatsächliche Leiden in keinem Verhältnis zueinander stehen. Darin liegt, trotz des „Happy Ends“ ihrer Freilassung, seine Tragik. Im Zentrum des Films steht letztlich die Kritik an der Gefangenenpolitik und den unmenschlichen Verhörtechniken der Amerikaner. Ähnlich wie im Fall von Abu Ghraib entpuppen sich die vermeintlichen Terroristen als hilflose Opfer, während die amerikanischen Helden als skrupellose Täter desavouiert werden. 19 „MPAA Rates Poster an F; Documentary Ad’s Image of Guantanamo Prisoner Abuse Deemed Inappropriate“, Washington Post, 17. Mai 2006.
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Der Film Taxi to the Dark Side (2007) von Alex Gibney, der unter anderem auch 2008 auf der Berlinale lief, wurde mit dem Oscar für den „besten Dokumentarfilm“ ausgezeichnet. Er widmet sich der Rekonstruktion des Todes von Dilawar, einem afghanischen Taxifahrer. Dieser war von amerikanischen Soldaten aufgegriffen worden, wurde daraufhin im afghanischen Gefängnis Bagram inhaftiert und kam dann dort unter mysteriösen Umständen ums Leben. Ähnlich wie Road to Guantanamo unterläuft auch Taxi to the Dark Side eine wichtige Prämisse der Gefangenenpolitik der Bush-Administration und des amerikanischen Militärs: die Schuld des Inhaftierten. Die Verhaftung von Dilawar wird hier als ein unglücklicher Zufall und Willkürakt dargestellt, der auf eine Denunziation zurückgehe. Die Dokumentation beginnt überraschenderweise mit Aufnahmen der einschlägigen Fotografien aus Abu Ghraib. Einerseits soll dies den Zuschauer wohl auf den doch relativ unbekannten Fall „Dilawar“ einstimmen, der damit in einen vertrauten Kontext gestellt wird. Andererseits erfolgt das Zeigen der Bilder auch in einer kritischen Absicht: Die Bilder von Abu Ghraib lenken, auch wenn sie die öffentliche Debatte über Gefangenenmissbrauch ausgelöst haben, von jenen Ereignissen ab, die nicht dokumentiert worden sind bzw. deren Dokumentation nicht öffentlich gemacht wurde. Zugleich täuschen die meisten Bilder und auch ihre Skandalisierung im öffentlichen Diskurs darüber hinweg, dass in den amerikanischen Gefängnissen im Irak und in Afghanistan immer wieder Gefangene zu Tode kamen. Die rituelle Demütigung und sexuelle Erniedrigung in Abu Ghraib stellte keineswegs die schlimmste Form der Misshandlung von Häftlingen durch amerikanische Soldaten dar, wenn auch vielleicht die fotogenste und skandalträchtigste. Auch im Umfeld der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib kam es zu einem Todesfall, der allerdings rechtlich nicht weiter verfolgt wurde. In diesem Sinne muss Taxi to the Dark Side auch als eine Bildkritik an den Abu-Ghraib-Fotografien verstanden werden. Rory Kennedys Film Ghosts of Abu Ghraib (2007) beginnt mit Szenen aus Stanley Milgrams Dokumentarfilm Obedience (1962), der von seinen berühmten Autoritätsexperimenten handelt (vgl. 6.1.2). Schon im Intro wird deutlich, dass die Missbrauchsfälle im Film gemäß einem low-mimesis-Narrativ mit tragischen Zügen gedeutet werden (2.2.1). So werden die Soldaten in der Dokumentation als ganz normale Amerikaner dargestellt, die in Abu Ghraib aufgefordert wurden, die Gefangenen auf das eigentliche Verhör vorzubereiten. Darüber hinaus werden Bilder aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis, Interviews mit Soldaten, Häftlingen und Experten, aber auch Ausschnitte aus der Berichterstattung über Abu Ghraib gezeigt. Die Vorfälle werden in den breiteren Kontext des Krieges gegen den Terror gestellt, indem beispielsweise Bilder von „Ground Zero“ und Ausschnitte aus Bushs Rede an die Nation gezeigt werden. Ferner erzählen einige der Soldaten in Interviews, dass der 11. September 2001 sie maßgeblich dazu motiviert habe, ihrem Land als Soldaten einen Dienst zu erweisen. Der Film versucht, die Ereignisse in Abu Ghraib aus der Doktrin der Bush-Administration (6.4.1) und den anhaltenden Problemen des ame-
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rikanischen Militärs bei der Aufstandsbekämpfung heraus verständlich zu machen (6.5). Einerseits habe es eine Aufweichung der Richtlinien für Verhöre von Gefangenen, andererseits aber auch starke Anreize gegeben, Informationen durch Verhöre zu gewinnen, die bei der Bekämpfung der Aufständischen hätten behilflich sein können. Dieser äußere Druck, der in dem inneren Drang der Soldaten, das Leben von Kameraden zu retten, seine Ergänzung fand, paarte sich mit der bedrohlichen und anomischen Situation in Abu Ghraib, was letztendlich zu einer systematischen Praxis der Folter geführt habe. Bei den bekannt gewordenen Missbrauchsfällen handelte es sich nur um die Spitze des Eisberges, wovon nicht zuletzt mehrere Interviews mit ehemaligen Häftlingen ein narratives Zeugnis ablegen. Kaum Rechnung getragen wird im Film hingegen der Tatsache, dass es auch zu eigenmächtigen Gefangenenmissbrauch durch amerikanische Soldaten kam, wie beispielsweise während der berüchtigten „night shift“ (7.2-3). Die Misshandlungen auf den Skandalfotografien werden mit Blick auf die Todesfälle in Abu Ghraib relativiert. Die Tatsache, dass wegen des auf einigen Abu-Ghraib-Bildern zu sehenden Toten, der vermutlich an den Folgen eines Verhörs gestorben war, niemand belangt wurde, wird zum eigentlichen Skandal. Pikanterweise berichten einige Soldaten aus Abu Ghraib, dass – nachdem die Fotos in die Hände der Militärführung fielen – die Anweisung ausgegeben worden sei, kompromittierende Daten zu vernichten. Dem Militär wird nicht nur vorgeworfen, das wahre Ausmaß der Missbrauchsfälle verschleiert, sondern auch Beweismittel vernichtet zu haben. Der Film endet, wie er begann: mit Szenen aus dem Film Obedience, die eine strukturelle Analogie zwischen den Vorfällen in Abu Ghraib und Milgrams Studien zur Autorität nahelegt. Schuld trügen am Ende vor allem die staatlichen Behörden, deren Autorität die Soldaten zu Akten gezwungen habe, die ihren moralischen Prinzipien zuwiderliefen. Mike Hale hat dem Film in der Times eine polarisierende Wirkung attestiert: „Depending on your sympathies, you can be irritated by the way the not-quiteopenly polemical film simplifies some of the larger questions about American involvement in Iraq, or you can be outraged by its eyewitness accounts of what went on in the Tier 1 cellblock at Abu Ghraib“.20 Genau genommen wird hier nicht nur die polarisierende Wirkung des Films auf die Zuschauer beschrieben, sondern auch zwischen zwei Ebenen der Glaubwürdigkeit differenziert: Während die von Augenzeugenberichten untermauerten Missbrauchsfälle für Empörung sorgen, wurde das Narrativ über die Verstrickungen der Bush-Administration noch mit Skepsis aufgenommen. Wie wir bereits gesehen haben, wurde im Dezember 2008 im Verteidigungsausschuss des Senates ein Bericht verabschiedet und anschließend öffentlich gefeiert (10.1), dem das Narrativ dieser Dokumentation zu Grunde liegt – ohne damit behaupten zu wollen, dass diese Dokumentation dafür ausschlaggebend war. Dasselbe Narrativ konnten wir bereits in der frühen Phase des Skandals im links20 „Television“, The New York Times, 18. Februar 2007.
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liberalen Diskurs beobachten (6.3.2). Allerdings stieß der Film in politischen Kreisen nachweislich auf Resonanz. So berichtete die Washington Post von einem Eklat während einer öffentlichen Vorführung des Filmes in Washington. Zu diesem war es gekommen, weil Senator Lindsey Graham, Teil des republikanischen Triumvirats, welches das McCain-Amendment gegen den ausdrücklichen Willen der BushRegierung durchgesetzt hatte (9.2), in der anschließenden Podiumsdiskussion sagte, dass auch General Karpinski vor Gericht hätte gestellt werden müssen. Diese war aber selbst im Publikum anwesend und entgegnete, dass man sie nicht vor Gericht hatte haben wollen, weil sie dann die Wahrheit erzählt hätte.21 Eine Studie über den Abu-Ghraib-Skandal kann natürlich nicht den Film Standard Operating Procedure (2008) ausblenden, der 2008 in die Kinos kam. Mit dem bekannten Regisseur Errol Morris, der mit seiner Dokumentation The Fog of War (2003) über den ehemaligen Verteidigungsminister Robert S. McNamara und den Vietnamkrieg bereits den Oscar gewonnen hatte, nahm sich ein ausgewiesener Meister des Abu-Ghraib-Stoffes an, was zu hohen Erwartungen gegenüber dem Film führte. In Zusammenarbeit mit Philip Gourevitch erschien außerdem eine Monographie zum Dokumentarfilm, die auch ins Deutsche übersetzt wurde (2009). Der Dokumentarfilm zeigt die Skandalfotografien, Interviews mit Beteiligten und Experten, Briefe von Sabrina Harman, die dem Publikum vorgelesen werden, sowie fiktiven Szenen, die die Abläufe in dem Gefängnis imaginieren. Der Film geht von der Prämisse aus, dass die Fotos von Abu Ghraib mehr verbergen als sie enthüllen. Einerseits geht es um die narrative Rekonstruktion und Rekontextualisierung der abgebildeten Szenen, andererseits aber auch um jenen toten Gefangenen, dem im Zuge des Skandals nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Dokumentation besticht durch ihre technisch aufwändige und ästhetisierende Vermittlung der Vorfälle.22 Sehr oft wird zu Zwecken der Dramatisierung eine Zeitlupe verwendet, aber es werden auch extrem nahe Detailaufnahmen gezeigt, beispielsweise von der Augenbraue eines Gefangenen, die rasiert wird. Die Dehnung der Zeit und die räumliche Konzentration verfremden die dargestellten Sachverhalte, verstören den Zuschauer und steigern die affektive Wirkung der Szenen. Dadurch, dass aus den Briefen von Sabrina Harman an ihre Ehefrau vorgelesen wird und auch viele private Fotos der Soldaten gezeigt werden, baut die Dokumentation eine Intimität und Nähe zu den Tätern auf, statt einen kritisch-distanzierten Duktus an den Tag zu legen. Auf diese Weise begünstigt sie eine Identifikation des Zuschauers mit den Tätern. 21 „The Reliable Source“, The Washington Post, 13. Februar 2007. 22 Während die Dokumentation in der amerikanischen Presse durchweg positiv rezensiert wurde, äußerte man sich in der deutschen Presse überwiegend kritisch über die Machart des Films. Das einleitende Zitat aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.2) ist in diesem Zusammenhang wohl das drastischste, aber auch anderenorts wurde von „ästhetischem Blendwerk“ (Zeit) und „ethisch-ästhetischen Entgleisungen“ (taz) gesprochen.
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Die Dokumentation reflektiert nicht nur die Missbrauchsfälle, sondern auch das spannungsvolle Verhältnis zwischen linearer Erzählung und fotografischen Bildern. Insbesondere die Interviews mit dem Chefvermittler Brent Pack vermitteln dem Zuschauer einen Eindruck von der Detektivarbeit, die nötig ist, um eine ungeordnete Ansammlung von Bildern in eine lineare Abfolge zu bringen und einzelnen Ereignissen zuzuordnen (vgl. auch Gourevitch & Morris 2009: 277-280). Die Pointe von Standard Operating Procedure besteht darin, dass die Fotografien von Abu Ghraib ein falsches Bild der Missbrauchsfälle zeichnen und gerade nicht die „wahre“ Geschichte erzählen. Bilder sagen zwar, wie es im Volksmund heißt, „mehr als tausend Worte“, aber eben nicht notwendig die Wahrheit – zumindest wenn sie von einem ungeschulten Beobachter befragt werden. Vielmehr sind Bilder auf Worte angewiesen, die sie in den richtigen Kontext zu rücken. Diesem „Defizit“ der Bilder versuchte Morris mit seiner Dokumentation Abhilfe zu schaffen. Trotz dieser bildkritischen Stoßrichtung schließt Standard Operating Procedure mit einer Würdigung der Rolle der Fotografien für den Abu-Ghraib-Skandal. Ohne die Bilder aus dem Gefängnis hätte es keinen Skandal gegeben. Die Skandalfotografien mögen nur ein verzerrtes und selektives Bild der Wirklichkeit darstellen, der Öffentlichkeit boten sie dennoch einen privilegierten Zugang zur „Wirklichkeit“, mit dem eine Erzählung oder ein theatralisches Re-Enactment nur schwer mithalten kann. Die von Morris befragten Soldaten rechtfertigen oder relativieren ihre Taten mit dem Verweis auf die bei ihrer Ankunft bereits etablierte Folterpraxis im Gefängnis: „When we came there, the example was already set“, heißt es bei Lynndie England. Megan Ambuhl behauptete gar, dass die Täter von Abu Ghraib die Gefangenen auf das eigentliche Verhör hätten vorbereiten sollen. Viele der Misshandlungen seien von den beteiligten Soldaten als ein Beitrag verstanden worden, das Leben von amerikanischen Soldaten im Irak zu retten. Auch hier liegt eine strukturelle Ähnlichkeit zum Ticking-Bomb-Szenario vor, die unsere Interpretation der Fotos als einer heroischen Selbststilisierung bestätigt (7.2.3). Die Dokumentation bot den verurteilten Soldaten eine Bühne, auf welcher sie die Gelegenheit bekamen, ihre eigene Geschichte zu erzählen, die in vielerlei Hinsicht die hegemoniale Rahmung der Ereignisse herausfordert. Lynndie England greift beispielsweise zu einem Opfernarrativ: Sie, das junge, unerfahrene Mädchen aus der Provinz, sei Opfer eines älteren Mannes, Charles Graner, geworden. Sie sei seinen Verführungskünsten erlegen und habe nur ihm zuliebe auf den Fotos posiert. Sabrina Harman, deren Briefe an ihre Frau den Eindruck einer kritischen Distanz zu den Ereignissen in Abu Ghraib vermitteln, erzählt eine tragische Geschichte, nach der sie die Fotos nur gemacht habe, um die Bedingungen in Abu Ghraib ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Auf diese Weise inszeniert sich Harman als gescheiterter „whistle blower“, als tragischer Held, der wider Willen zum Mittäter geworden ist. Und auch General Karpinski sieht sich als ein Opfer des Skandals, eine gescheiterte Heldin, die sich schützend vor ihre Soldaten stellte und die Wahrheit ans Tageslicht bringen wollte.
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10.3 ABU G HRAIB IN
DER
P OPULÄRKULTUR
Jack Bauer’s newest nemesis isn’t a terrorist – it’s public opinion. REBECCA DANA, JOURNALISTIN, REINVENTING ‚24’ 23
Bevor die Folterdebatte und die Präsidentschaft von Obama diskutiert werden, soll zunächst einmal ein Blick auf Abu Ghraib in der amerikanischen Populärkultur geworfen werden. Unter „Populärkultur“ sollen hier in erster Linie kulturelle Erzeugnisse wie fiktionale Romane, Filme und Fernsehserien verstanden werden, die den Stoff des sozialen Imaginären in symbolische Formen gießen und – im Gegensatz zu Dokumentationen – in erster Linie der Unterhaltung dienen. Fiktionale Gattungen beziehen sich nicht nur auf etwas Imaginäres, sondern zugleich immer auch auf Reales (Iser 1991). Fiktionen stehen immer in einem doppelten mimetischen Verhältnis, einerseits zur Wirklichkeit, anderseits zu anderen fiktionalen Vorbildern. Eine gewisse Homologie zwischen öffentlichem Diskurs und Populärkultur wird über einen geteilten kulturellen Hintergrund gesichert, aber auch durch Marktmechanismen gestützt. Die Populärkultur ist als ein Produkt der Medienindustrie von den kommerziellen Interessen der Sender und Verlage und dadurch letztlich auch von der Nachfrage der Konsumenten abhängig. Ihr vorrangiges Ziel ist es, das Publikum zu unterhalten, um Profite zu erzielen. Seifenopern und Realityshows zeigen, dass moralisierende Inhalte in populärkulturellen Genres durchaus der Unterhaltung dienen, die Zuschauerzahlen beflügeln und Werbekunden anziehen. Darüber hinaus darf aber nicht vergessen werden, dass Populärkultur nicht nur ein Spiegel der Gesellschaft darstellt, sondern auch eine aktive Rolle in der Formung moralischer Einstellungen und Weltbilder der Zuschauer spielt. Als kulturelles System stellt Populärkultur nicht nur ein Modell von etwas, sondern auch ein Modell für das eigene Handeln dar (vgl. Geertz 1987). Populärkulturelle Gattungen ahmen nicht nur eine Wirklichkeit nach, sondern können selbst zum Gegenstand der Nachahmung oder zu einem Teil des kulturellen Hintergrundes werden. Auch bei dem kulturellen Einfluss des Ticking-Bomb-Narrativs und der Heldentypus des Folterers kann zwischen einem Mechanismus der direkten Nachahmung und einer Resonanz, deren Einfluss zunächst auf den kulturellen Hintergrund beschränkt bleibt, unterschieden werden (1.2.3). Für einige wenige Akteure, insbesondere Soldaten und Geheimdienstler, konnte das Verhalten von Jack Bauer aus 24 durchaus zu einem Vorbild und Maßstab des eigenen Handelns werden. Darüber hinaus begünstigte die Serie die Legitimierung von Folter im öffentlichen Diskurs (6.4.2).
23 „Reinventing ‚24‘. Jack Bauer’s newest nemesis isn’t a terrorist – it’s public opinion“, The Wall Street Journal, 2. Februar 2008.
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Der Einfluss fiktionaler Medien auf gesellschaftliche Moralvorstellungen wird von den meisten Soziologen und Philosophen immer noch unterschätzt. Eine löbliche Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang Jeffrey C. Alexander dar, der die Wechselwirkung zwischen zivilgesellschaftlichen Diskursen und fiktionalen Medien eigens hervorgehoben hat (2006a: 75-80).24 Ein kultursoziologischer Ansatz, wie er hier verfolgt wird, geht davon aus, dass massenmedial vermittelte Bilder, Narrative und Performanzen der rationalen Argumentation in Diskursen vorgelagert sind. So war es in unserem Fall das Ticking-Bomb-Narrativ in Verbindung mit den Bildern des 11. Septembers, welches zu einer Wende in der Folterdebatte führte (6.4), und nicht etwa neue philosophische Einsichten und Argumente. Im Folgenden soll dem Einfluss von Abu Ghraib auf die fiktionalen Medien der Populärkultur nachgegangen werden, nachdem der Bereich der Kunst (9.4) und die einflussreichen Dokumentarfilme (10.2) schon Gegenstand unserer Untersuchung waren. Politische Kunstwerke und Dokumentarfilme zielen auf ein schmales Publikum ab, das im Wesentlichen schon über eine „vernünftige“ politische Einstellung verfügt. Während Kunst eine Reflexion über Form und Inhalt ermöglicht und Dokumentationen vorrangig der Informierung und Mobilisierung der Zuschauer dienen, zielt die Populärkultur zunächst auf ein möglich breites Publikum, das zuallererst unterhalten werden will. Moralische und politische Stellungnahmen werden hier selten explizit gemacht, sind aber nichtsdestotrotz von großer Bedeutung. Die Populärkultur ist für Kultursoziologen ein besonders wichtiger Forschungsgegenstand, weil hier gerade jene sozialen Stereotypen und vorintentionalen Hintergründe unverstellt zu Tage treten, die durch die intentionale Einflussnahme politischer Künstler und kritischer Dokumentationen eher verschleiert werden. Für eine Untersuchung der moralischen Ordnung und des kulturellen Wandels von Gesellschaften stellt die populäre Breitenkultur ein wichtiger Forschungsgegenstand und eine ideale Ergänzung zur herkömmlichen Analyse zivilgesellschaftlicher Diskurse dar. Die Beziehung zwischen öffentlichem Diskurs und Populärkultur lässt sich auf vier zentrale Punkte zuspitzen: Erstens ist jede Produktion von Populärkultur in zivilgesellschaftlichen Moralvorstellungen verwurzelt, da deren Produzenten an der Gesellschaft und ihrem Imaginärem teilhaben. Gäbe es – zweitens – keine prästabilierte kulturelle Übereinstimmung der Produzenten mit der Mehrheitsgesellschaft, so müssten Erstere schon aus rein ökonomischen Erwägungen an die Moralvorstellungen der Mehrheit oder zumindest eines signifikanten Anteils der Bevölkerung zu appellieren versuchen. Drittens ist es schwerlich zu bestreiten, dass Populärkultur hinter dem Rücken der Akteure einen Einfluss auf private und öffentliche Meinungen ausübt – so schwer dies im Einzelfall auch nachzuweisen ist. Viertens und letztens kann die implizite Moral populärkultureller Erzeugnisse auch selbst wieder zu 24 Alexander diskutiert u.a. den Beitrag von Barbara Streisand, Woody Allen und Philip Roth für die Inklusion der Juden in die amerikanische Gesellschaft (2006: 530-543).
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einem Thema und zum Gegenstand der Kritik in zivilgesellschaftlichen Diskursen werden – die Auseinandersetzungen über den antisemitischen Hintergrund von Mel Gibsons The Passion of Christ (2004) oder die unzivilen Auswirkungen der TVShow Big Brother (ab 2000) sind hierfür gute Beispiele, aber auch die öffentliche Kritik an der Show 24, auf die noch ausführlicher einzugehen ist (10.3.1). Populärkultur lässt sich damit also sowohl als passiver Indikator latenter kultureller Muster als auch in ihrer aktiven Rolle als Produzentin des sozialen Imaginären untersuchen. Nach dem 11. September besannen sich die amerikanischen Medienkonzerne auf ihre staatstragende Rolle. Dies schlug sich nicht nur in der regierungsfreundlichen und teils auch bellizistischen Berichterstattung im Vorfeld des Afghanistanund Irakkrieges nieder (die New York Times ist hiervon nicht ausgenommen), sondern auch in der Gestaltung von Serienformaten wie 24. Mit der Unauffindbarkeit jener „weapons of mass destruction“, dem ausbleibenden Ende der Kampfhandlungen und dem moralischen Desaster von Abu Ghraib schlug jedoch die Stimmung um. Die Medienunternehmen wandten sich wieder ihrer kritischen Funktion zu, was sich gerade auch an den fiktionalen Formaten festmachen lässt. Die Auswirkungen des problembeladenen Irakkrieges und des Abu-Ghraib-Skandals auf die Medienlandschaft wurden insbesondere in der New York Times explizit diskutiert: „The networks, which covered the early days of the invasion on tiptoe, worried that their patriotism in the wake of 9/11 would be questioned, have grown more openly skeptical. But news programs are not the only place where viewers are exposed to the conflict in Iraq. Since the invasion, and most particularly in the aftermath of the Abu Ghraib scandal, the war on terror has surfaced as a subplot or subliminal theme, not just on ‚24‘ or ripped-from-the-headline crime series like ‚Law & Order‘ , but even on reality shows and sitcoms. […] Most of the shows echo the public’s disenchantment after Abu Ghraib and the military failures in Iraq.“ 25
Im Krieg gegen den Terror war es der „law-defying hero“, exemplifiziert durch Jack Bauer aus 24, der die kollektiven Ängste und Wünsche der amerikanischen Gesellschaft am besten wiederspiegelte. Nach dem Abu-Ghraib-Skandal kam es aber dann wieder zu einer popkulturellen Renaissance des „unschuldigen Opfers“: „The innocent bystander caught up in a complicated web of ill-doing is a familiar conceit, be it ‚The Count of Monte Cristo,‘ Hitchcock movies like ‚North by Northwest‘ or TV series like ‚The Fugitive‘ and, most recently, ‚Prison Break‘ on Fox. But especially nowadays big bad government seems to have a special resonance, perhaps collateral psychic damage from the war in Iraq and Abu Ghraib.“26 25 „Beyond The News, Reminders Of the War“, The New York Times, 20. März 2007 26 „After a Museum Is Bombed, the Real Trouble Begins“, The New York Times, 10. Mai 2007.
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Das „big bad government“ wurde zu einem „unreinen“ Symbol, das in der PostAbu-Ghraib-Atmosphäre auf große Resonanz stieß. Insbesondere Prison Break (2005) ist außerordentlich interessant in diesem Zusammenhang, da hier in mehrfacher Hinsicht auf Abu Ghraib Bezug genommen wird. Die Serie handelt von einem Mann, der freiwillig eine Straftat begeht, um seinen schuldlos zum Tode verurteilten Bruder durch eine gemeinsame Flucht zu retten. Zunächst einmal zeichnet die Serie ein düsteres Bild des US-Gefängnissystems, das von einigen Stimmen aus der Presse für die Exzesse von Abu Ghraib in Verantwortung genommen wurde, da der mutmaßliche Rädelsführer von Abu Ghraib, Charles Graner, vor seiner Zeit als Reservist für den amerikanischen Strafvollzug tätig gewesen war (8.4.1). Interessanterweise wurde die Serie 2003 von dem amerikanischen Sender Fox zunächst abgelehnt, im Jahr des Abu Ghraib-Skandals dann aber schließlich doch angenommen. Ein Schlüsselmotiv der Serie ist der „elektrische Stuhl“, durch den der geliebte Bruder sterben soll und der als Symbol negativ aufgeladen wird. So kommt es beispielsweise zu einem technischen Defekt bei einer Exekution, welche den Todeskandidaten unnötig leiden lässt, und außerdem wird auf die Notwendigkeit der Benutzung einer Windel für den Delinquenten hingewiesen. Darüber hinaus macht Prison Break an einer Stelle auch ganz explizit Anleihen beim Abu-GhraibSkandal. Die erste Staffel beinhaltet eine rückblickende Episode, „Brother’s Keeper“, welche sich mit der Vorgeschichte der Hauptfiguren beschäftigt. Darin erfährt man, dass ein Mitgefangener des Protagonisten in seinem früheren Leben als amerikanischer Soldat im Irak stationiert war, wo er sich durch Schmuggelei, die von seinen Vorgesetzen toleriert wurde, einen Zuverdienst erwirtschaftete. Durch Zufall wird er Zeuge, wie ein Gefangener mit schwarzer Kapuze auf einem Holzsessel einer elektrischen Folter unterzogen wird. Der Soldat berichtet seinem Vorgesetzten von diesem Vorfall, der ihn aber davon abringen will, einer höheren Instanz Bericht zu erstatten. Der Soldat weigert sich und wird wegen des Vorwurfs der Schmuggelei unehrenhaft aus der Armee entlassen. Zuhause beteiligt er sich allerdings erneut an illegalen Aktivitäten, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu bestreiten, weswegen er dann schließlich im Gefängnis landet. Diese fiktive Folterszene aus einem irakischen Gefängnis stellt nicht nur eine Beziehung zu den Vorfällen von Abu Ghraib her, sondern versinnbildlicht diese in der Kombination von Kapuzenträger und elektrischem Stuhl. Philip Smith, der in einer Arbeit gezeigt hat, wie aus dem humanen Tötungsinstrument des elektrischen Stuhls ein negativ konnotiertes Symbol wurde, argumentiert, dass die Abu-GhraibBilder die unreine Botschaft des elektrischen Stuhls wiederholt haben (2008: 200). Diese Beziehung, die implizit schon bei der Rezeption der Ikone des Skandals zu Tage getreten ist (7.1.3), wird in Prison Break explizit gemacht, indem der elektrische Stuhl auf dramatische Weise mit Folter bzw. Gefangenenmissbrauch und der zu Unrecht verurteilte Bruder der Hauptfigur mit den unschuldigen Gefangenen von Abu Ghraib gleichgesetzt wird. Es ist aber keineswegs so, dass die „dämonische“
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Botschaft des elektrischen Stuhls in Abu Ghraib nur wiederholt wurde, vielmehr überlagern sich die beiden unreinen Symbole und verstärken sich wechselseitig. In der historischen Exposition wurde bereits das Serienremake Battle Star Galactica (2004-2009) erwähnt, das mit seinen „terrorist aliens“, die als Schläfer unter Menschen leben, als symptomatisch für die kulturellen Veränderungen nach dem 11. September 2001 gelten kann (6.4.2). Allerdings findet im Verlauf der ScienceFiction-Serie, nämlich zu Beginn der dritten Staffel, als ein von Menschen bewohnter Planet in die Hände des außerirdischen Feindes fällt, ein radikaler Bruch mit dem bisherigen, eher eindimensionalen, Narrativ statt: „Die Serie reflektiert hier auf recht direkte Weise die Sichtweise von Teilen der irakischen Bevölkerung auf die Besatzer“ (Seiler 2009: 255). Während in den früheren Episoden ausschließlich Außerirdische gefoltert wurden, um Anschläge zu verhindern, steht auf einmal das Foltern von Menschen durch die außerirdischen Besatzer im Vordergrund. Zudem verschwimmen in der Serie zunehmend die Fronten zwischen den „guten Menschen“ und den „bösen Aliens“. Während die Aliens ein menschlichen Antlitz bekommen und auch unter Misshandlungen durch Menschen zu leiden haben, geraten die menschlichen Figuren zunehmend in ein moralisches Zwielicht oder werden gar zu bösartigen Diktatoren oder Unmenschen stilisiert. Am Beispiel von Prison Break und Battle Star Galactica lässt sich eine Verschiebung in der amerikanischen Populärkultur aufzeigen. Allerdings änderte sich die Medienlandschaft nicht von heute auf morgen. Auch nach dem Abu-Ghraib-Skandal erfreute sich die preisgekrönte Erfolgsserie 24 noch großer Beliebtheit. Statt dem veränderten kulturellen Klima seinen Tribut zu zollen, radikalisierte sie ihre Darstellung von Folter. Diesbezüglich ist der Serie ein „pop cultural lag“ zu attestieren, der allerdings nicht von langer Dauer war, da 24 zunehmend ins Kreuzfeuer zivilgesellschaftlicher Kritik geriet. 10.3.1 Fiktive Folter in der Kritik – Die öffentliche Debatte zu 24 Adam Green verfasste im Mai 2005 einen kritischen Artikel über die fünfte Staffel der Serie 24, 27 die er zu Recht als den „leader in television’s post-9/11 genre of national security thriller“ bezeichnet.28 Der neuen Staffel attestiert Green einen Rechtsruck („rightward tilt“), der ihm nach dem Abu-Ghraib-Skandal und dem Bekanntwerden der Versuche der Bush-Regierung, die Richtlinien für militärische Befragungen aufzuweichen, fragwürdig erscheint. Zwar sei, so der Autor, die Folter als dramatisches Instrument seit dem Start der Serie im Jahr 2001 immer wieder verwendet worden, doch sei sie erst in der fünften Staffel zum roten Faden der Erzählung („main thread of the plot“) geworden. In einem Interview von Green mit 27 Aufgrund seiner moralischen und politischen Dimension wurde 24 Gegenstand mehrerer Studien (z.B. Burstein & De Keijzer 2007; Peacock 2007; Weed 2008). 28 „Normalizing Torture, One Rollicking Hour At a Time“, The New York Times, 22. Mai 2005.
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Joel Surnow, einem der Produzenten der Serie, stritt dieser den Einfluss von politischen Erwägungen auf den Plot der Serie ab und insistierte, dass die autonome Logik der Erzählung und die Charakterentwicklung den Plot vorantrieben. Das Publikum zu unterhalten sei das einzige Ziel, das die Serie verfolge. Green beendet seinen Artikel mit einigen offenen Fragen zum kulturellen Einfluss der Serie: „Has ‚24‘ descended down a slippery slope in portraying acts of torture as normal and therefore justifiable? Is its audience, and the public more generally, also reworking the rules of war to the point where the most expedient response to terrorism is to resort to terror? In the world beyond the show, that debate remains heated. How it plays out on ‚24‘ may say a great deal about what sort of society we are in the process of becoming.“
Die nur schwer ins Deutsche übertragbare Metapher des „slippery slope“ (etwa „rutschiger Abhang“), die in diesem Zusammenhang wohl noch am besten mit der Metapher des „Dammbruchs“ wiedergeben werden kann, wird auch gerne im Folterdiskurs verwendet (10.4). Der Gebrauch dieser Metapher wie auch die Thematisierung von 24 in der Folterdebatte machen deutlich, dass die Serie in der Öffentlichkeit immer schon auch auf ihre politischen Implikationen hin gelesen wurde. Am Anfang der mittleren Phase des Skandals, das heißt noch vor dem McCainAmendment und den Kongresswahlen von 2006, konnte der von Green konstatierte Rechtsruck von 24 noch vertretbar erscheinen. Auch die Weigerung des Produzenten, die Serie politisch zu lesen, ließ sich noch als legitime Strategie verkaufen. In der Schlussphase des Skandals war dies jedoch nicht mehr möglich und die Produzenten hatten, wie wir noch sehen werden, dem wachsenden Druck der zivilen Sphäre nachzugeben – auch im Interesse ihres Profits. So fielen die Einschaltquoten in der sechsten Staffel um ein Drittel, was im Wall Street Journal dem Wandel der öffentlichen Meinung zugerechnet wurde.29 Auch in der Washington Post wurde auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der abnehmenden Popularität der Serie während der sechsten Staffel und dem veränderten politischen Klima – „the public’s weariness of the war on terror and the scandals surrounding the abuse of prisoners at Abu Ghraib, Guantanamo Bay and in CIA secret prisons“ – hingewiesen.30 Die öffentliche Auseinandersetzung um 24 hat entscheidende Impulse einem Artikel von Jane Mayer zu verdanken, der am 19. Februar 2007 im einflussreichen Magazin The New Yorker veröffentlicht wurde.31 Sie berichtete darin von einem 29 „Reinventing ‚24‘. Jack Bauer’s newest nemesis isn’t a terrorist – it’s public opinion“, The Wall Street Journal, 2. Februar 2008. 30 „Day of Reckoning; As ‚24‘ Returns to Face Another Dawn, Jack Bauer Is Just as Tortured as Anyone“, The Washington Post, 10. September 2009. 31 Mayer, Jane: „Whatever it takes, The politics of the man behind ‚24‘“, The New Yorker, 19. Februar 2007.
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Treffen, das im November 2006 zwischen dem Rektor von West Point, der berühmten amerikanischen Militärakademie, und der Kreativcrew von 24 stattfand. Das Treffen, bei dem die Verfasserin des Artikels selbst anwesend war, wurde von David Danzig, einem Vertreter der Menschenrechtsorganisation Human Rights First, organisiert. Brig. Gen. Patrick Finnegan, der Rektor von Westpoint, erzählte den Produzenten der Serie, dass es zunehmend schwieriger werde, den Kadetten Achtung vor dem Gesetz und den Rechten des Einzelnen zu vermitteln, weil 24 so populär bei seinen Studenten sei. Er berichtete von Kadetten, die ihn fragen: „If torture is wrong, what about ‚24‘?“. Finnegan bestätigte, was auch schon bei Green vermutet worden war, nämlich dass die Rezeption einer Serie wie 24 einen großen Einfluss auf die moralischen Vorstellungen ihrer Rezipienten haben kann. Tony Lagouranis, der lange Zeit als Verhörspezialist des amerikanischen Militärs im Irak tätig gewesen war und in dieser Funktion auch bei der Dokumentation Ghosts of Abu Ghraib interviewt wurde (10.2), erzählte den Machern der Show, dass DVDs von Serien wie 24 unter den im Irak stationierten Soldaten die Runde machten. In einer privaten Unterredung mit Mayer fügte er hinzu: „People watch the shows, and then walk into the interrogation booths and do the same things they’ve just seen“. Damit stellt er einen direkten Zusammenhang zwischen Medienrezeption und Verhörpraxis her. Weil 24 scheinbar plausible Modelle von Verhörsituationen bietet, können diese als Vorbilder für die Verhörpraxis dienen. Praktische Handlungszwänge treiben nicht naturwüchsig bestimmte Lösungen aus sich hervor, wie bestimmte Formen des Pragmatismus oder der Praxistheorie annehmen (vgl. 1.2.2). Stattdessen kommen oft mediale und fiktionale Vorlagen zur Anwendung – notfalls wird eben die Definition der Situation an das fiktionale Modell angepasst. Bei dem Treffen war auch ein FBI-Experte anwesend, Joe Navarro, der nach eigenen Angaben bereits mehr als 12.000 Verhöre durchgeführt hatte. Dieser entgegnete gegenüber einem der Anwesenden, der auf die Nützlichkeit von Folter verwiesen hatte, dass Folter keine besonders effektive Verhörtechnik sei. Gerade religiöse Fanatiker und politische Terroristen würden in der Regel nicht klein beigeben, wenn man ihnen einen Fingernagel ausreiße. Sie gehen vielmehr davon aus, gefoltert zu werden, und bereiten sich auch darauf vor. 32 Fundamentalistische Terroristen 32 So werden auch amerikanische Spezialeinheiten als Teil ihrer Ausbildung einem „waterboarding“ (vgl. 10.4.1) unterzogen, um sie auf entsprechende Verhöre durch den Feind vorzubereiten. Jack Bauer wird in der zweiten Staffel von 24 ebenfalls bis zur Bewusstlosigkeit gefoltert, ohne seine Informationen den Terroristen preiszugeben. Warum knicken die „Bösen“ angesichts der Folter ein, während die „Guten“ standhaft bleiben? Dies ist nicht der Realität, sondern den Codes des zivilgesellschaftlichen Diskurses und der Logik von populärkulturellen Narrativen geschuldet. Helden, insbesondere amerikanische Helden, müssen ihren Antagonisten nicht nur moralisch, sondern auch physisch überlegen sein, damit die Geschichte ein gutes Ende nimmt.
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gefallen sich in der Rolle des Märtyrers („want to be martyred“), was sie gerade nicht zu vielversprechenden Zielen von Folter macht. Viele Religionen, insbesondere das Christentum und der schiitische Islam, besitzen eine ausgeprägte kulturelle Tradition des Märtyrertums, die Nachahmungswilligen genügend Vorbilder bietet.33 Die Debatte zwischen den Militärangehörigen und dem Produzententeam, dreht sich, zumindest in der Darstellung von Mayer, vor allem um zwei Aspekte: Einerseits geht es um die Wirkmächtigkeit einer fiktionalen Serie wie 24, die von den Machern bestritten wird, zum anderen aber um die Effektivität – und die darauf beruhende Legitimität – von Folter, wie sie durch das Ticking-Bomb-Narrativ suggeriert wird, das in der Serie 24 als dramatisches Mittel zur Anwendung kommt. Im Dezember 2006, so der Artikel von Mayer weiter, hat ein beratendes Gremium der Geheimdienste einen Bericht erstellt, in dem darüber geklagt wurde, dass breite Kreise der Bevölkerung und auch professionelle Kreise von den verzerrenden Darstellungen der Verhörsituation in der Populärkultur in Mitleidenschaft gezogen worden seien. Die Medien lieferten ein spektakuläres und höchst artifizielles Bild von Verhören, das sich in der Regel durch Feindseligkeit und Gewalt auszeichne. Meyer sieht darin einen klaren Vereis auf die Fernsehshow 24. Vom kleinen, aber einflussreichen Magazin The New Yorker ausgehend, schwappte die Debatte in die Mainstream-Medien, wie zum Beispiel die USA Today: „In the hit TV show 24, torture almost always works. As a bomb goes tick-tick-tick, agent Jack Bauer plunges a knife into a terrorist’s shoulder to extract information that will stop the imminent explosion. In real life, ticking-bomb scenarios like this almost never occur, and torture rarely works. Suspects will make up anything to stop the pain or humiliation. And torture often gets out of hand; photos of the Abu Ghraib prison abuses in Iraq caused incalculable damage to America’s image. Now it turns out that some military officials are concerned about U.S. interrogators confusing fiction with reality. In a bizarre testament to the influence of pop culture, the top commander of West Point and three top interrogators met last year with the producers of 24 to try to get them to quit showing torture in such a flattering light. Their argument, according to an account in The New Yorker, was that TV torture was affecting interrogators’ training and attitudes.“34
Der Autor stellt die Bedeutung des Einflusses von Populärkultur in Frage und argumentiert, dass ein anständiges Training, eine lückenlose Überwachung und eine 33 Die Rhetorik des Märtyrertums wurde auch von den Attentätern des 11. Septembers 2001 verwendet, die im sunnitischen Islam beheimatet waren, dem eine solche Tradition von Haus aus fremd ist. Dies macht unter anderem deutlich, dass sich der moderne Fundamentalismus nicht aus der Tradition, sondern aus einem globalen Imaginären speist, zu dessen Fundus eben auch die Figur des Märtyrers gehört. 34 „Ticks and Chicks“, USA Today, 13. Februar 2007.
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angemessene Bestrafung weitaus wichtiger für die Verhinderung von Missbrauchsfällen seien: „The fact no one above the level of staff sergeant was convicted for the Abu Ghraib abuses, for example, sent a much stronger message about tolerance of torture than a TV show“. Er kritisiert, dass nur einfache Soldaten für die Missbrauchsfälle in Abu Ghraib zur Verantwortung gezogen wurden, wodurch auch der Skandal im Hintergrund der Debatte unzweideutig in Erscheinung tritt. Die Debatte über 24 wird zum Anlass genommen, um über die Lehren nachzudenken, die aus Abu Ghraib gezogen oder nicht gezogen wurden beziehungsweise gezogen werden sollten. 35 Bei Jane Mayer heißt es, dass die Militärangehörigen das Treffen mit der Crew von 24 ohne die Hoffnung verließen, dass dieses Treffen zu einer Änderung der Einstellung der Fernsehleute geführt habe, die einen Wandel des Serienkonzeptes zur Folge haben könnte.36 Nichtsdestotrotz nahm sich der Mitarbeiterstab von 24 der Bedenken der Armee an, nicht zuletzt wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit, die dieses Treffen im Nachhinein erfuhr. Es musste allen Mitarbeitern klar sein, dass die nächste Staffel der Serie nicht nur wieder im Interesse der Öffentlichkeit stehen, sondern auch als politisches Statement gelesen werden würde. Der Drehbuchautoren-Streik in Hollywood, der die Produktion der siebten Staffel um mehr als ein Jahr verzögerte, gab dem Team ausreichend Zeit, sich ein neues Konzept für die Show zu überlegen und sich an nichtkommerziellen Aktivitäten zu beteiligen: „Mr. Gordon and his staff also had more time to contemplate the political firestorm that erupted after a February 2007 article in The New Yorker magazine revealed the military’s concern about the show’s effect on soldiers. Mr. Gordon said that too helped the series gain a new focus. It also led Mr. Gordon to participate in ‚Primetime Torture,‘ a short film produced by Human Rights First, a nonprofit organization that helped bring the ‚24‘ producers together with the military advisers. David Danzig, who oversaw the production, created the film for use by military educators. It uses interviews with former military interrogators to emphasize that techniques popularized on shows like ‚24‘ are rarely effective – or legal – in real life.“37
Bei diesem Kurzfilm wirkte auch Kiefer Sutherland mit, der in der Serie die umstrittene Figur des Jack Bauer verkörpert. Sutherland, der sich selbst auf der linken Seite des politischen Spektrums verortet, sagte gegenüber der Presse, dass die Folterszenen in der Serie für ihn als Schauspieler uninteressant seien. Für die geplante siebte Staffel schien es zunächst auch Probleme bei der Besetzung der Rollen gegeben zu haben. So berichtete etwa das Wall Street Journal: „actors disapproved of 35 Zur Debatte über den Einfluss von populärkulturellen Darstellungen in 24 auf die Gesellschaft vgl. auch „‚24‘ As Reality Show“, The New York Times, 31. Juli 2007. 36 Mayer, Jane: „Whatever it takes, The politics of the man behind ‚24‘“, The New Yorker, 19. Februar 2007. 37 „New Era In Politics, New Focus For ‚24‘“, The New York Times, 8. Januar 2009.
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the show’s depiction of torture“.38 Möglicherweise hat es auch Druck von Seiten der Schauspieler gegeben. Als Howard Gordon, einer der Produzenten der Serie, von USA Today nach der kommenden Staffel der Serie gefragt wurde, verwies dieser auf eine neue Realität, die sich nun auch in der Show wiederspiegeln müsse: „‚The show’s changed for many reasons because the country’s changed,‘ Gordon says. ‚The post-9/11 scenario of wish fulfillment that Jack represented was replaced by some of the things that happened in the country, from Gitmo to Abu Ghraib. Our conduct in the world became a bigger issue, and Jack became a darker, more complex character.‘ At the same time, he says, ‚we couldn’t renounce Jack’s behavior; it would discredit the entire series. But the issue comes back time and again, and we give voice to the price that’s paid for the ‚whatever it takes‘ mind-set. I don’t want to over-politicize the show, but we couldn’t ignore it.‘“39
Gordon bietet eine psychoanalytische Lesart von Jack Bauer und der „ticking bomb fantasy“, die hier für uns nicht uninteressant ist. Er erklärt die große Resonanz, auf welche die Serie im Amerika nach dem 11. September 2001 stieß, mit dem freudianischen Konzept der „Wünscherfüllung“ („wish fulfillment“). Dies ist nicht nur eine Anspielung auf das Image von Hollywood als Traumfabrik, sondern benennt auch eine soziale Funktion vieler fiktiver Medien. Der heldenhafte Folterer von 24 war Teil eines sozialen Imaginären, das als Phantasma das kollektive Bewusstsein vor der drohenden Terrorgefahr abschirmt. Die Enthüllungen von Abu Ghraib hier einen Einbruch des Realen dar, der den Schirm des Phantasmas durchlöchert und das beruhigende Narrativ des heldenhaften Folterers in Frage stellt. Das Phantasma der Folter im Krieg gegen den Terror schützte das amerikanische Kollektivbewusstsein nicht nur vor der unausrottbaren Bedrohung des Terrorismus, sondern auch vor den hässlichen Seiten der Folter. Die Abu-Ghraib-Bilder zeigen das hässliche Gesicht der Folter, und die durch sie angestoßene Folterdebatte untergrub die beruhigende Annahme, dass harte Verhörtechniken und staatliche Folter probate Mittel seien, um das amerikanische Volk vor der terroristischen Bedrohung zu schützen (10.4). Alessandra Stanley knüpft in einem Artikel ebenfalls an die Debatte um 24 an, sieht aber das eigentliche Problem der Serie nicht in der Rechtfertigung von Folter, sondern in der Illusion ihrer Effektivität: „The problem with the Fox thriller ‚24‘ is not that it justifies torture but that it fosters the illusion that the American government is good at it. The practices of Abu Ghraib suggest the opposite“.40 Nach der langen Sendepause wurde die siebte Staffel der Serie mit einer Szene eröffnet, in der sich Jack Bauer vor einem Untersuchungsausschuss des Senates 38 „Reinventing ‚24‘. Jack Bauer’s newest nemesis isn’t a terrorist – it’s public opinion“, The Wall Street Journal, 2. Februar 2008. 39 „24: Jack seeks pre-Season 7 ‚Redemption‘“, USA Today, 17. November 2008. 40 „Abu Ghraib And Its Multiple Failures“, The New York Times, 22. Februar 2007.
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wegen des Gebrauchs von Folter in seiner früheren Spezialeinheit verantworten muss.41 Damit wird den Bedenken des Militärs und dem öffentlichen Druck unzweifelhaft Rechnung getragen. Am Ende des Interviews beschwert sich Gordan über die Einseitigkeit, mit der in der Öffentlichkeit über die politische Ausrichtung der Show und ihren mutmaßlichen Einfluss geurteilt wurde. Er verweist auf den fiktionalen afroamerikanischen Präsidenten der ersten Staffeln und beschließt das Interview mit der Forderung nach Fairness: „If we‘re going to take the blame for Guantanamo and Abu Ghraib, I think we should at least get the credit for Obama“. 10.3.2 Folter und Abu Ghraib – Unthinkable und Tal der Wölfe Die Populärkultur spiegelt zu einem gewissen Grade die kollektiven Stimmungen und Sehnsüchte einer Gesellschaft wieder, die ihrerseits wiederum von Medienereignissen und öffentlichen Diskursen abhängig sind. Die Wirkung von Ereignissen wie dem 11. September 2001 und dem Abu-Ghraib-Skandal lässt sich unter anderem auch an ihrem Einfluss auf die Populärkultur bemessen. Sowohl für 9/11 als auch Abu Ghraib wurde dieser Einfluss am Beispiel von einzelnen popkulturellen Zeugnissen und Diskursbeiträgen nachgewiesen. Allerdings müsste sich auch eine quantitative Veränderung der Darstellungen von Folter in der Populärkultur nachweisen lassen. Die folgende Grafik zeigt den Zuwachs an Folterszenen im amerikanischen Fernsehen während der besten Sendezeit: Abbildung 7: Folterszenen im amerikanischen Fernsehen
Harpers Magazine, März 200842
41 „New Era in Politics, New Focus for ‚24‘“, The New York Times, 8. Januar 2009. 42 http://harpers.org/blog/2008/03/how-hollywood-learned-to-stop-worrying-and-love-theticking-bomb/; letzter Zugriff am 17. Februar 2012.
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Die Grafik zeigt einen deutlichen, wenn auch keinen außergewöhnlichen Anstieg von Folterszenen für die Jahre 2000 und 2001. In den beiden darauffolgenden Jahren kommt es allerdings zu einer sprunghaften Steigerung, die sich auf den 11. Septembers 2001 und die aufkommende Folterdebatte zurückführen lässt. Mit 67 Folterszenen in den ersten fünf Staffeln ist 24 zwar für einen substanziellen Anteil dieses Zuwachses verantwortlich;43 auf die Jahre gerechnet ist dies aber nur ein Zehntel der Folterszenen. Selbst unter Ausschluss von 24 bleibt der Zuwachs enorm. Die Abnahme der Folterszenen im Jahr 2004 und 2005 lässt sich nicht mit der gleichen Sicherheit auf den Abu-Ghraib-Skandal zurückführen. Dennoch gibt es für eine solche Wirkung deutliche Hinweise. Zum einen lag der Abu-Ghraib-Skandal noch vor der Sommerpause, sodass er zumindest für einen Teil des Rückgangs im Jahre 2004 verantwortlich gemacht werden kann; zum anderen sind in diesem Diagramm auch die vierte und fünfte Staffel von 24 berücksichtigt, in denen die Häufigkeit von Folterszenen zunahm.44 In Anbetracht der soeben skizzierten Kehrtwende, die 24 vollzogen hat, ist davon auszugehen, dass sich der Abwärtstrend in den folgenden Jahren weiter fortgesetzt hat, auch wenn die Daten darüber hier fehlen. Der Verlauf der Kurve lässt sich – nicht zuletzt mangels alternativer Erklärungen – als Indiz für einen Einfluss des Abu-Ghraib-Skandals auf die Darstellungen von Folter in der Populärkultur interpretieren. Aber nicht nur die Häufigkeit von Folterszenen, sondern auch deren Darstellung änderte sich durch den Abu-Ghraib-Skandal und die Folterdebatte in seinem Gefolge. So schrieb etwa die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights First 2007 einen Preis aus, der für eine kritische und zugleich realistische Darstellung von Folter verliehen werden sollte. 45 In besonders eindrücklicher Weise wird das Ticking-Bomb-Szenario in dem Thriller Unthinkable (2010) auf die Spitze getrieben. Dabei werden die aus Serien wie 24 bekannten popkulturellen Klischees gleich auf mehreren Ebenen unterlaufen. Der Plot ist schnell erzählt: Ein muslimischer Amerikaner begibt sich in die Hände der Regierung, nachdem er nach eigenen Angaben drei mit Zeitzünder versehene Atombomben in verschiedenen amerikanischen Großstädten deponiert hat, um damit den Truppenabzug der Amerikaner aus dem Nahen Osten zu erzwingen. Der erste Auftritt des Gefangenen, den Kopf mit einem schwarzen Sack verhüllt und an seinen Armen in einer christomimetischen Pose aufgehängt, stellt ohne Zweifel eine Hommage an die Ikone des Abu-Ghraib-Skandals dar. Die Folter und 43 Horton, Scott: „How Hollywood Learned to Stop Worrying and Love the (Ticking) Bomb“, Harpers Magazine, März 2008. 44 Vgl. „Normalizing Torture, One Rollicking Hour At a Time“, The New York Times, 22. Mai 2005. 45 Informationen zu dem Preis, den Nominierten und dem Gewinner sind auf folgender Webseite zu finden: http://www.humanrightsfirst.org/our-work/law-and-security/tortureon-tv/excellence-in-tv-award/; letzter Zugriff am 30. Juni 2011.
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Verstümmelung durch einen Verhörspezialisten erweist sich bei dem Islamisten als wirkungslos, da sich dieser auf sein Martyrium vorbereitet hat. Selbst die drohende und schließlich vollzogene Tötung seiner Frau vor seinen eigenen Augen kann ihn nicht zum Einlenken bewegen. Erst angesichts der Drohung, seine Kinder zu foltern und zu töten, scheint er schwach zu werden und gibt den Aufenthaltsort der Bomben preis. Indem also unschuldige Familienangehörige gefoltert und getötet werden sollen, wird hier die utilitaristische Logik des Ticking-Bomb-Szenario auf die Spitze getrieben, ohne jedoch an Plausibilität einzubüßen. Warum sollte man der Unversehrtheit von Kindern einen großen Wert beimessen, wenn das Leben von Millionen von Menschen auf dem Spiel steht?46 Der Verhörspezialist glaubt allerdings bis zum Schluss, dass der Terrorist noch eine weitere Bombe versteckt hat und möchte mit der Folterung der Kinder fortfahren, wovon ihn allerdings eine heldenhafte Psychologin abhält. In der erweiterten Fassung des Endes sieht der Zuschauer, dass tatsächlich noch eine vierte Bombe tickt und in Kürze explodieren wird. Der Film unterläuft das Ticking-Bomb-Narrativ auf dreifache Weise: Erstens wird die Annahme fallen gelassen, dass jeder Terrorist einen Bruchpunkt hat. Die Standhaftigkeit, die traditionell ein Vorrecht des Helden ist, wird hier auf den Terroristen ausgeweitet. Zweitens wird gezeigt, dass die Folter eines verbrecherischen Terroristen keineswegs einen Endpunkt im Ticking-Bomb-Szenarios markiert. Auch die Folterung und Tötung von unschuldigen Kindern – und genau dies ist das „Undenkbare“ – muss in Erwägung gezogen und gegebenenfalls durchgeführt werden. Drittens verwischt der Film die Grenzen zwischen „Gut“ und „Böse“, sodass der nicht unsympathische Terrorist als amerikanisch-islamischer Patriot nicht eindeutig auf der „unreinen“ Seite des zivilgesellschaftlichen Codes verortet werden kann, wie auch der traumatisierte und sadistische Folterer nur mit Einschränkungen auf der „reinen“ Seite steht. Darüber hinaus verwenden Terrorist und Folterer dieselbe utilitaristische Logik, um ihre Taten zu rechtfertigen. Der Film folgt einem tragischen Narrativ, wie es aus der griechischen Tragödie bekannt ist: Alle Hauptfiguren besitzen heldenhafte Züge, es steht Moral gegen Moral und am Ende kommt es zur Katastrophe. Filme wie Unthinkable, die nicht für ein Massenpublikum und das Kino produziert werden, stehen zwischen den Bereichen der Kunst und der Populärkultur. Sie sind nicht nur ein Medium der Unterhaltung, sondern auch ein Medium der Reflexion. Fiktionale Gattungen ermöglichen nicht nur eine phantasmatische Wunscherfüllung, sondern können auch Situationen fingieren, in denen die Grausamkeit des Realen und die Dilemmata unserer moralischen Ordnung sichtbar 46 Eine ähnliche Problematik taucht auch in der zweiten Staffel von 24 auf, wo einem Terroristen die Hinrichtung seiner Söhne vorgespielt wird, um ihn dazu zu bringen, Informationen über eine versteckte Atombombe preiszugeben. Dadurch, dass sich die Hinrichtung in 24 am Ende als bloße Inszenierung entpuppt, verdeckt sie die Schärfe des eigentlichen moralischen Problems, das in Unthinkable bis zur Unerträglichkeit ausgelotet wird.
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und daraufhin zum Gegenstand der Reflexion werden können. Dies unterscheidet Unthinkable vom Mainstream der Populärkultur, in dem klare moralische Unterscheidungsschemata und strahlende Helden domminieren. Im Folgenden soll noch kurz auf den türkischen Actionfilm Tal der Wölfe – Irak (2006) als einem Beispiel für die Rezeption des Abu-Ghraib-Skandals in einer nicht-westlichen Populärkultur eingegangen werden. Den historischen Hintergrund des Filmes bildet die sogenannte „Sackaffäre“, die Festnahme von türkischen Offizieren durch amerikanische Truppen am 4. Juli 2003 im Irak. Die türkischen Soldaten, denen vorgeworfen wurde, einen Anschlag auf den kurdischen Gouverneur geplant zu haben, waren mit „Säcken“, die ihre Köpfe verhüllen sollten, abgeführt und für mehrere Stunden festgehalten worden, bis sie schließlich nach zähen Verhandlungen mit der türkischen Regierung freigelassen wurden. In der Türkei löste dieser Vorfall, der im Rückblick an die Bilder von Abu Ghraib erinnert, eine kollektive Empörung aus. Die Beschämung der Soldaten wurde zu einer Frage der nationalen Ehre, die allerdings realpolitisch nicht wiederherzustellen war. Der Film beginnt mit einer Szene, in der ein an dieser Affäre beteiligter türkischer Soldat einen Abschiedsbrief schreibt und dann aus Scham Selbstmord begeht. Tal der Wölfe leistet mit fiktionalen Mitteln, was dem türkischen Militär und der gekränkten Nation realiter nicht möglich war: die Wiederherstellung der nationalen Ehre des Landes und ihrer Soldaten. Eine fiktive Truppe türkischer Spezialagenten, die dem türkischen Publikum aus einer gleichnamigen Serie allesamt bekannt sind, rächt sich an dem amerikanischen Kommandanten, der diesen Zwischenfall zu verantworten hatte. Natürlich gehört auch ein türkischer Kurde zu der Elitetruppe, wodurch das Bild einer ethnische Differenzen übersteigenden nationalen Einheit imaginiert wird. Bei Tal der Wölfe handelt es sich wie bei 24 um eine popkulturelle Wunscherfüllung. Neben der „Sackaffäre“ werden auch noch andere historische Ereignisse in dem Film verarbeitet, beispielsweise das Massaker an einer Hochzeitsgesellschaft in Haditha, die amerikanischen Soldaten zu verantworten hatten, aber auch die Vorfälle in Abu Ghraib. So werden die Überlebenden des Massakers – was nicht den Tatsachen entspricht – in das Abu-Ghraib-Gefängnis gebracht, wo sie von einer fiktiven Lynndie England zu einer Pyramide gestapelt werden. Hier zeigt sich, dass Abu Ghraib auch in das türkische Imaginäre Eingang gefunden hat. Selbst die Enthauptung eines Amerikaners, die an Nick Berg erinnert (8.4.3), taucht in dem Film auf, wird aber – im Gegensatz zu ihrem historischen Vorbild – durch das furchtlose Einschreiten eines islamischen Geistlichen verhindert. Neben dem Anführer der türkischen Spezialeinheit ist der irakische Geistliche der wahre Held des Films: ein ehrwürdiger alter Mann, der sich bei jeder Gelegenheit gegen Gewalt ausspricht und auch die Braut des getöteten Bräutigams davon abhält, eine Selbstmordattentäterin zu werden. Während der Islam im Film als eine Religion des Friedens gefeiert wird, kommt das Christentum, dessen Gründungsereignis die grausame Kreuzigung von Jesus Christus ist, eher schlecht weg. So wird der sadistische amerikanische
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Kommandant – der wichtigste Gegenspieler der Helden – in einer Szene beim Anbeten eines Kreuzes mit dem gemarterten Christus gezeigt, was einen wahrlich befremdlichen Eindruck von der sozialen Imagination des Christentums in der Türkei vermittelt. Auch an antisemitischen Stereotypen und Feindbildern wird in dem Film nicht gespart. So ist an der Seite des amerikanischen Kommandanten ein jüdischer Arzt tätig, der sich um den körperlichen Zustand der Gefangenen sorgt – allerdings nicht aus Menschenliebe, sondern weil deren Organe in intaktem Zustand nach New York und Tel Aviv verschickt werden sollen. Insbesondere wegen des durchaus berechtigten Antisemitismus-Vorwurfs entfachte der Film in Deutschland eine Kontroverse, in deren Rahmen sich der damalige bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber offen für ein Verbot des Filmes aussprach. Auch in der amerikanischen Presse sorgte man sich angesichts von „Valley of the Wolves: Iraq“ (und der ägyptischen Komödie „The Night Baghdad Fell“) um das nationale Image.47
10.4 ABU G HRAIB UND DIE F OLTERDEBATTE „Torture“ as a term, tends to be a „placeholder,“ an abstract word that is made concrete by the knowledge (and imagination) of the reader.48 SANFORD LEVINSON, RECHTSPROFESSOR
Das einleitende Zitat legt nahe, dass sich die Folterdebatte als ein Diskurs beschreiben lässt, der sich um den leeren Signifikanten „Folter“ dreht (vgl. 1.3.2). In modernen liberalen Diskursen fungierte der Begriff der „Folter“ meist als konstitutives Außen, was sich erst mit dem 11. September 2001 änderte. So wurde es zunehmend als legitim erachtet, in öffentlichen Diskursen – und nicht nur in philosophischen Seminarräumen – für Folter zu argumentieren, was eine Neubesetzung des leeren Signifikanten erforderte. Mit dem Abu-Ghraib-Skandal wurde die Folterdebatte aufs Neue entfacht – wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. Außerordentliche Ereignisse und Krisen öffnen einen Raum für Reflexion, in dem sich eine Gesellschaft mit den für sie zentralen Fragen – und dies sind vor allem Fragen, die ihre kollektive Identität betreffen – auseinandersetzen kann. Schon in den ersten Wochen des Skandals meldeten sich Stimmen zu Wort, die die Missbrauchsfälle zum Anlass nahmen, um die Legitimität und Effektivität von Folter in Frage zu stellen.49
47 „In Egyptian Movies, Curses! We’re the Heavies“, The Washington Post, 20. März 2006. 48 In der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband (2006/2004a: 27). 49 „Torture Is Often a Temptation And Almost Never Works“, The New York Times, 9. Mai 2004.
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Als Seymour Hersh im Oktober 2004 in der Show von O’Reilly zu Gast war, um sein Buch zu Abu Ghraib vorzustellen (2004a), wurde er mit der Ansage angekündigt, dass im Zentrum der neuen Folterdebatte der Abu-Ghraib-Skandal stehe.50 Diese populäre Feststellung lässt sich wissenschaftlich erhärten, wenn man die seit Abu Ghraib erschienenen Bücher, Sammelbände und Artikel heranzieht. So fällt bei ihrer Durchsicht auf, dass nach der Veröffentlichung der Bilder von Abu Ghraib die Zahl kritischer Stellungnahmen zur Folter drastisch in die Höhe schnellte. Autoren, die gegen die rechtliche Zulässigkeit von Folter argumentierten, beriefen sich sogar in vielen Fällen auf Abu Ghraib51 – und das, obwohl die prominenten Missbrauchsfälle gar nicht den Tatbestand der Folter erfüllten (3.3.2), da ihnen vom Militär und der Regierung jegliche Legitimität abgesprochen wurde. Wie lässt sich aber dann die zentrale Bedeutung des Abu-Ghraib-Symbols in dem Folterdiskurs erklären? Diese Frage lässt sich auf zwei unterschiedliche Weisen beantworten, die sich allerdings nicht ausschließen, sondern vielmehr ergänzen: Einerseits stellten die umstrittenen Memoranda eine indirekte Verbindung zwischen den Missbrauchsfällen und der Regierungspolitik her, und zwar lange bevor diese Beziehung durch den Verteidigungsausschuss des Senats offiziell anerkannt wurde (10.1); andererseits zeigten die Abu-Ghraib-Fotografien eine Ikonographie der Folter, die als unreines Gegenbild zu den klinischen Folterbeispielen der Befürworter dienen konnte (6.4.2). Diese kulturelle Bedeutung des Abu-Ghraib-Skandals darf gegenüber seiner Funktion als rationales Argument nicht unterschätzt werden, da das soziale Imaginäre der Rationalität der Diskurse vorausgeht. Die Abu-GhraibBilder besetzten den leeren Signifikanten der Folter und setzten sich so im kulturellen Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft und eines global operierenden akademischen Diskurses fest. In Anlehnung an Philip Smith, der in seiner Untersuchung des Bedeutungswandels der Guillotine von einer grotesken „gothic imagination“ spricht (2008: 133-141), die das fortschrittliche Image der „Tötungsmaschine“ verunreinigte, kann man in unserem Fall von einer grotesken Imagination der Folter nach Abu Ghraib sprechen. Dafür waren vor allem die sadistischen und pornographischen Elemente der Abu-Ghraib-Bilder ausschlaggebend, die die symbolische Ordnung des legitimen, moralisch korrekten Folterns unterliefen (7.5). Vor dem Hintergrund eines solchen Imaginären erschien dann auch die kontrollierte staatli-
50 „Flashback. Interview With Author Seymour Hersh“, The O’Reilly Factor (20:38), Fox News Network, 11. Oktober 2004. 51 Alleine in dem rechtswissenschaftlichen Sammelband „The Torture Debate in America“ (Greenberg 2006) beziehen sich die Einleitung, die vorangestellte Podiumsdiskussion sowie mindestens elf der zwanzig Beiträge in der einen oder anderen Weise auf die Vorfälle in Abu Ghraib (das Sachregister ist unvollständig). Die Memoranda, die im Rahmen des Abu-Ghraib-Skandals enthüllt wurden, werden in nahezu allen Beiträgen erwähnt.
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che Anwendung von Gewalt und Erniedrigung in Verhören als problematisch – zumal diese sich den Blicken der Öffentlichkeit entzog. In Zuge der neuen Folterdebatte gewann das „Dammbruch“-Argument, das einen indirekten Zusammenhang zwischen der Aufweichung des absoluten Folterverbots und den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib postulierte, an Bedeutung. Bei der Metapher des „slippery slope“ handelt es sich um ein tragisches Narrativ, das, wie sein romantischen Gegenstück, die Ticking-Bomb-Erzählung, apokalyptische Züge trägt. Das Bild des „rutschigen Abhangs“ oder der „schiefen Bahn“ steht hier für die nichtintendierten Konsequenzen von Ausnahmen im Folterverbot, die für sich genommen zunächst einmal unproblematisch erscheinen. Rechtliche Ausnahmeregelungen, so die Vertreter dieses Arguments (z.B. Lukes 2006), führten unausweichlich zu einer unkontrollierbaren Aushöhlung des Folterverbots und zu einer Ausweitung von Folterpraktiken, die am Ende das rechtsstaatliche und moralische Fundament liberaler Demokratien zu untergraben drohten. Im Kern handelt es sich dabei um ein wertkonservatives Narrativ, das den moralischen Zerfall der Gesellschaft in Aussicht stellt, sollte vom „rechten Pfad“ einmal abgewichen werden (vgl. 5.1.1). Ohne Zweifel begünstigte die Aufweichung des Folterverbots das Aufkommen illegaler und illegitimer Missbrauchsfälle wie in Abu Ghraib. Trotz des argumentativen Gehalts des „slippery slope“-Arguments darf die symbolische Wirkung von Metapher wie auch die ikonische Macht der Bilder nicht unterschätzt werden. Die Fotografien von Abu Ghraib zeichneten ein hässliches Bild von Folter, das sich in den Köpfen festsetzte und so den Diskurs maßgeblich beeinflusste. Der Einfluss des Skandals soll im Folgenden am Beispiel von Artikeln und Sammelbänden zum Thema „Folter“ diskutiert werden, die nach Abu Ghraib erschienen sind. Am interessantesten ist wohl der von Sanford Levinson (2006/2004) herausgegebene Band, der vor dem Abu-Ghraib-Skandal erschienen ist. In der zwei Jahre später veröffentlichten und erweiterten Neuauflage des Bandes werden die Konsequenzen des Skandals mitreflektiert. Im Vorwort zur zweiten Auflage setzt sich Levinson explizit mit dem Einfluss von Abu Ghraib auf den Diskurs und dem mutmaßlichen Unbehagen einiger seiner Autoren auseinander: „The essays in this book were all written before the May 2004 disclosures of abuses ‒ including allegations of torture ‒ in Iraq and Afghanistan (not to mention the secret CIA prisons around the world). No doubt many of the authors would wish to rewrite some of their remarks“ (2006/2004b: 20). Der Herausgeber ließ es sich nicht nehmen, den Sammelband – auch gegen die Verfasser der Beiträge – in Schutz zu nehmen: „The brutal fact is that far less rewriting would be necessary than some might wish“. In der zweiten Auflage des Buches wurden allerdings auch zwei folterkritische Artikel mit hinzugenommen, die sich mit den Konsequenzen des McCain-Amendments befassen. Alan Dershowitz, der zu diesem Band einen Artikel mit dem Titel „Tortured Reasoning“ beisteuerte (2006/2004), gerät spürbar in die Defensive. Er sei grundsätzlich „opposed to torture as a normative matter“ (257, vgl. auch 266f.),
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was ihn allerdings nicht davon abhält, sich auch weiterhin für eine Legalisierung von Folter stark zu machen, da diese einer unreglementierten und intransparenten Folterpraxis vorzuziehen sei.52 Mit Blick auf Abu Ghraib argumentiert Dershowitz, dass eine juristisch kontrollierte Folter die Gefahr eines möglichen Missbrauchs erheblich reduzieren würde: „Finally, the requirement of securing advanced written approval would reduce the incidence of abuses, since it would be a rare case in which a high ranking official, knowing that the record will eventually be made public, would authorize extraordinary methods ‒ and never methods of the kind shown in the Abu Ghraib photographs“ (276f.). Mit diesem originellen Gebrauch der AbuGhraib-Fotografien als einem Argument für die Legalisierung und Institutionalisierung von Folter beschließt Dershowitz den Artikel – und zog sich aus der Folterdebatte zurück. So kreativ diese Verwendung von Abu Ghraib als Argument für die Legalisierung von Folter auch sein mag, sie ist alles andere als repräsentativ. Die überwiegende Mehrheit der Beiträge sieht in Abu Ghraib das Symptom einer „slippery slope“, auf die sich die Vereinigten Staaten nach 9/11 begeben hätten (z.B. Sullivan 2006/2004). Ein weiterer Sammelband mit dem Titel Torture, der von der amerikanischen NGO Human Rights Watch herausgegeben wurde (Roth et al. 2005), verfolgt mit seinen überwiegend folterkritischen Beiträgen ein explizit normatives Anliegen: Die globale Bekämpfung von Folter. Unter den Autoren ist auch der republikanische Senator und spätere Präsidentschaftskandidat John McCain.53 Auch in diesem Band spielen die Vorfälle von Abu Ghraib eine wichtige Rolle. In den Beiträgen, die sich mit der gegenwärtigen Bedeutung von Folter befassen, ist Abu Ghraib ein zentraler Referenzpunkt. Diese Bezugnahme auf die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib ist indes nicht auf die englischsprachige Folterdebatte beschränkt. Auch der deutschsprachige Sammelband Rückkehr der Folter eröffnet mit folgenden Worten: „Die Bilder aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib haben weltweit Entsetzen und Abscheu ausgelöst“ (Beestermöller & Brunkhorst 2006: 7).
52 Zur Kritik von Dershowitz vgl. die Arbeiten von Uwe Steinhoff, Elaine Scarry und Bob Brecher. In „The Case for Dirty Harry and against Alan Dershowitz“ argumentiert Steinhoff (2006), der Folter in bestimmten Fällen für moralisch legitim hält, gegen eine Institutionalisierung von Folter. Scarry (2006/2004) weist in ihrer Kritik unter anderem darauf hin, dass es absurd und unverhältnismäßig wäre, imaginäre Folterszenarien angesichts tausender tatsächlicher Folterakte zur Rechtfertigung einer Institutionalisierung von Folter zu verwenden. Brecher (2007) argumentiert, dass eine Gesellschaft, in der Folter legalisiert wäre, eine unanständige und groteske Gesellschaft wäre. Alle drei Autoren haben gemeinsam, dass sie anerkennen, dass Folter in bestimmten Fällen moralisch geboten sein kann. Allerdings lehnen sie eine rechtliche Institutionalisierung von Folter ab. 53 Dessen Beitrag wurde ursprünglich im Wallstreet Journal veröffentlicht, 1. Juni 2004.
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Der wohl interessanteste Fall, an dem sich die Wende in der Folterdebatte aufzeigen lässt, ist Michael Ignatieff, Professor für Menschenrechtspraxis an der Harvard University und späterer Oppositionsführer im kanadischen Parlament. Kurz nach der Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Bilder erschien in der New York Times ein kurzer Artikel, in dem er seine kurz zuvor erschienen Monographie zusammenfasste (2004).54 Ignatieff argumentiert sehr differenziert und fordert seine Leser zu einer Auseinandersetzung mit den ethischen Dilemmata der Terrorbekämpfung auf. So spricht er sich für eine offene Debatte zur Folter aus, obwohl er Folter persönlich ablehne. Allerdings sind für ihn beispielsweise Formen des Schlafentzugs, die keinen bleibenden Schaden verursachen, oder Techniken der Desorientierung („like keeping prisoners in hoods“) durchaus vertretbar. Kurz nach Abu Ghraib gab es jedoch nur noch wenig Spielraum für solche Zwischentöne und auch die harmlos erscheinende Verwendung von Kapuzen war durch die Skandalbilder in Verruf geraten. In seinen späteren Artikeln war Ignatieff gezwungen, sich explizit mit Abu Ghraib und seinen Konsequenzen auseinanderzusetzen.55 In seinem Artikel für den oben erwähnten Sammelband Torture wird Bedeutung von Abu Ghraib deutlich: „A position in favour of outright prohibition of both torture and coercive interrogation has gained strength from the abuses at Abu Ghraib, and from the memos of the office of legal counsel and the White House parsing the torture convention into permission for coercive interrogation. It seems clear from the dire experience of Abu Ghraib that outright prohibition of both torture and coercive interrogation is the only way to proceed.“ (Ignatieff 2005: 27)
Einerseits vertritt Ignatieff hier eine konsequente Ablehnung von Folter und Zwang, andererseits weist er auch, wie in seinem früheren Artikel, auf die moralischen und politischen Probleme einer absoluten Prohibition hin. Dennoch stellt dieser Artikel eine deutliche Abkehr von seiner früheren Position dar. Die Prohibition von Folter ist nun keine rein persönliche Präferenz des Autors mehr, die sich im politischen Diskurs erst noch beweisen müsste, sondern folgt als Imperativ aus der politischen Identität von Demokratien: „We cannot torture, in other words, because of who we are“ (Ignatieff 2005: 27). Die Abu-Ghraib-Fotos verliehen der Folter ein unmenschliches Antlitz – ungeachtet der strittigen Frage, ob es sich bei den Missbrauchsfällen selbst um Folter handelte. Dieser Einfluss von Abu Ghraib auf die Folterdebatte wurde auch von Kritikern dieser Wende, wie beispielsweise Mike McConnel, dem nationalen Sicherheitsdirekter der Vereinigten Staaten unter Bush, erkannt: „My personal view is the tragedy of Abu Ghraib, which was out of the bounds of law 54 „Lesser Evils“, The New York Times, 2. Mai 2004. 55 „What Geneva Conventions?“, The New York Times, 17. Oktober 2004; „Wir Auserwählten, nach Abu Ghraib. Amerika muss Bescheidenheit lernen. Die Welt ist nicht bloß dazu da, von uns erlöst zu werden“, Die Zeit, 15. Juli 2004.
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and out of proportion, caused a vision or mind-set that people see that and relate to what I’m talking about when I say enhanced interrogation techniques“.56 Die Tragödie von Abu Ghraib schuf ein „mind-set“, das die Protagonisten der Debatte um Verhör- und Foltertechniken als erstes an die Demütigungen auf den Skandalbildern denken ließ. Die Fotografien aus Abu Ghraib haben der Folter ein hässliches Gesicht gegeben – wie zutreffend dies auch immer sein mag. Die Konsequenzen von Abu Ghraib dürfen nicht alleine auf der institutionellen Ebene verortet werden (9.23), sondern lassen sich auch auf der kulturellen Ebene der öffentlichen Diskurse und des sozialen Imaginären nachweisen. Sie haben, wie zuvor schon 9/11, den kulturellen Hintergrund des Handelns und Erlebens von einigen Intellektuellen und Millionen von Menschen verändert – und das auf der ganzen Welt. Natürlich hat es nach Abu Ghraib auch weiterhin Befürworter staatlich legitimierter Folter gegeben. Im Anschluss an Winfried Brugger, der in Deutschland schon vor dem 11. September mit der Analogie von Folter und finalem Rettungsschuss argumentiert hatte, versuchte Rainer Trapp (2006) die Debatte um die Folter verbal zu entschärfen. Das Buch, das Ende 2005 fertiggestellt wurde, aber wahrscheinlich schon vor dem Abu-Ghraib-Skandal begonnen worden war, meidet den Krieg gegen den Terror und das Ticking-Bomb-Szenario als Referenzrahmen. Stattdessen legt der Autor seiner Analyse das sogenannte „SRB-Szenario“ zu Grunde (eine Abkürzung für „selbstverschuldete Rettungsbefragung“), das sich vor allem auf die Entführungsfälle von Hintze (1997) und Metzler (2002) stützt. Aber auch in der deutschen Debatte zur Folter, die in hohem Grade von der Entführung des Jakob von Metzler und der Anordnung von Folter durch Wolfgang Daschner geprägt war (6.4.2), dominierten nach Abu Ghraib die kritischen Stimmen. Man sprach sich gegen die Analogie zur Rettungsbefragung aus, oder versuchte am Fall Daschner die Schwächen des SRB-Szenarios zu demonstrieren, die sich in weiten Teilen mit den Schwächen des Ticking-Bomb-Szenarios decken. 57
56 „Political Headlines. Fox Special Report with Brit Hume“, Fox News Network, 16. Januar 2008. 57 Versucht man, die idealtypischen Szenarien auf konkrete Fälle anzuwenden, so wird deutlich, dass ihre Kriterien in den seltensten Fällen eindeutig erfüllt werden können. Die Anordnung zur Folter wird in der Regel auf Basis von unvollständigen Informationen getroffen. Dieser Einwand spielte schon in der Urteilsbegründung der Richter zum Fall Daschner eine Rolle. Florian Lamprecht (2009) hat diese Problematik in einer vorzüglichen Arbeit zum Fall Daschner im Detail nachverfolgt. So sei die Wahrscheinlichkeit, das Opfer noch lebend zu finden, außerordentlich gering gewesen, da es mit dem Entführer persönlich bekannt gewesen sei. Außerdem seien zum Zeitpunkt der Anordnung der Folter noch nicht alle zur Verfügung stehenden Mittel ausgeschöpft gewesen.
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10.4.1 Der Diskurs zum Waterboarding – Verhörtechnik oder Folter? Der durch den Abu-Ghraib-Skandal ausgelöste Wandel in der Folterdebatte lässt sich besonders gut an der öffentlichen Debatte zum sogenannten „waterboarding“ aufzeigen. Dabei handelt es sich um eine Verhörtechnik, bei welcher der Mund und die Nase des Opfers mit einem Tuch bedeckt werden, das mit Wasser übergossen wird. Bei einer korrekten Anwendung dieser Technik soll diese keine Gefahr für Leib und Leben des Opfers darstellen und angeblich auch keine bleibenden Schäden hinterlassen. Als Beleg für die Harmlosigkeit dieser Folterpraktik wurde oft angeführt, dass etwa 20.000 amerikanische Soldaten im Rahmen ihrer Ausbildung einem solchen Waterboarding routinemäßig unterzogen werden. Die Bush-Administration stufte Waterboarding als „harsh interrogation technique“ und damit als prinzipiell zulässige Verhörmethode ein, die auch in mehreren Fällen in Guantanamo Bay angewendet wurde. Die Obama-Regierung verbot das Waterboarding bei ihrem Amtsantritt, was bei einigen Konservativen für Unmut sorgte. Vor allem Dick Cheney und John Yoo, die beide unter Präsident Bush tätig waren, sprachen sich auch noch nach dem Regierungswechsel gegen das Verbot des Waterboardings als einer Form von Folter aus. Eine Studie von Studenten der Harvard-Universität zeigt, dass das Waterboarding vor dem 11. September 2001 in der amerikanischen Presse überwiegend als Folter bezeichnet und negativ bewertet wurde. 58 Eine Neubewertung des Waterboarding erfolgte nach 9/11, als die Amerikaner damit begannen, diese Technik im Krieg gegen den Terror selbst zu verwenden. Ins Licht der die Öffentlichkeit rückte das Waterboarding allerdings erst nach dem Abu-GhraibSkandal und der Enthüllung der einschlägigen Memoranda. Danach wurde die Praxis des Waterboardings in den amerikanischen Medien als „harsh“ oder „coercive“ bezeichnet, statt sie ‒ wie in den Jahrzehnten zuvor ‒ „torture“ zu nennen.59 Auf den ersten Blick mag es überraschend und paradox erscheinen, dass der Abu Ghraib-Skandal zu einer verharmlosenden Wahrnehmung von Waterboarding geführt habe soll. Dies scheint der These, dass Abu Ghraib zu einer Ausweitung des Folterbegriffs und zu einer Stärkung des Folterverbots geführt habe, zu widersprechen. Dem ist aber nicht so. Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Regierung erst im Zuge des Abu-Ghraib-Skandals und der veröffentlichten Memoranda dazu genötigt sah, die tatsächliche Anwendung von Waterboarding in einzelnen Verhören öffentlich zuzugeben. Das Field Manual, das nach dem McCain-Amendment von der Armee herausgegeben worden war (9.2), verbot – neben den durch Abu Ghraib dis-
58 Desai, Neil, Andre Pineda, Majken Runquist and Mark Fusunyan: „Torture at Times. Waterboarding in the Media“, Harvard Student Paper, April 2010, http://www.hks. harvard.edu/presspol/publications/papers/torture_at_times_hks_students.pdf; letzter Zugriff, 10. Dezember 2011. 59 „Torture at Times. Waterboarding in the Media“, S. 14f.
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kreditierten Techniken des „hooding“ und der „sexual humiliation“ – ausdrücklich auch die Anwendung von Waterboarding in Verhören durch Armeeangehörige. 60 Dieses Verbot bezog sich allerdings nicht auf die amerikanischen Geheimdienste weswegen die Debatte über das Waterboarding noch lange nicht beigelegt war, sondern immer noch eine Rolle im öffentlichen Diskurs und im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von 2008 spielte (10.1). Am 22. Mai 2009 war es dann so weit: Anlässlich der gescheiterten Performanz eines Kollegen erklärte der liberale Fernsehmoderator Keith Olbermann die Folterdebatte – auch wenn hier vor allem der umstrittene Status des Waterboarding gemeint war – für beendet: „The torture debate ended today. It was at 8:40 a.m. Central Daylight Time, it was in the most unlikely of venues – the radio studio of a Chicago shock-jock named Eric ‚Mancow‘ Muller, folly of the right to the degree that he once claimed on-air that Barack Obama was a secret Muslim, then called then-DNC chairman, Howard Dean, a, quote, ‚traitor‘ and once insisted, with no qualifications, that waterboarding was not torture.“ 61
Der oben genannte rechts-konservative Radiomoderator unterzog sich bei laufender Kamera freiwillig einem professionellen Waterboarding, um zu beweisen, dass es sich dabei nicht um eine Folter handele. Olbermann zeigte die Aufnahme in seiner Sendung und schlachtete sie genüsslich aus, um damit seine These vom Ende der Folterdebatte zu untermauern. Vor dem Waterboarding wurde Mancow noch darüber aufgeklärt, dass ein durchschnittlicher Mensch diese Behandlung etwa 14 Sekunden aushalte. Nach nur sechs Sekunden wurde das Experiment auf Wunsch des Probanden hin abgebrochen. Auf die Frage, ob es sich bei dieser Behandlung denn nun tatsächlich um eine Form von Folter handele, antwortet er wie folgt: „Look. All that’s been done to this country and I heard about water being dropped on someone’s face, and I never considered it torture even when I was laying there, I thought this will be no big deal. I go swimming – it’s going to be like being in the tub. It is such an odd feeling having water being poured down your nose and your mouth with your head back. It was instantaneous. I thought I could hold out, 30 seconds, 60 seconds. It was instantaneous. And I don’t want to say. I do not want to say this. Absolutely torture. Absolutely. I mean, that’s drowning.“
Aus mehreren Gründen ist diese Episode für uns von besonderem Interesse. Zunächst einmal gibt sie Aufschluss über die populäre Imagination des Waterboarding bei seinen Befürwortern – und die Diskrepanz zu seiner Realität, die im Scheitern 60 „New Pentagon rules ban ‚abusive‘ interrogation; Use of dogs, hoods forbidden; psychological“, USA Today, 7. September 2006. 61 „Countdown“, MSNBC, 22. Mai 2009.
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der Demonstration von Mancow überdeutlich wird. Des Weiteren zeigen Olbermann und Mancow, dass die Folterdebatte auch jenseits der nationalen Presse in den amerikanischen Diskursen eine Rolle spielte. So versuchte der lokale Radiomoderator mit dieser spektakulären Inszenierung nicht nur, Zuschauer für seine Sendung zu gewinnen, sondern auch um Zustimmung für eine fortgesetzte Legalisierung des Waterboarding zu erzielen. Diese gescheiterte Performanz, deren Ausgang konträr zur ursprünglichen Intention des Performers stand, wurde von Olbermann genutzt, um auf nationaler Ebene für eine Unterstützung des Verbotes von Waterboarding zu werben. Gegen seinen Willen entlarvte der rechtskonservative Radiomoderator die Einordung des Waterboarding als bloßer Verhörtechnik als Euphemismus und gab zu Protokoll, dass es sich dabei ohne Zweifel um Folter handele. Später fügte er noch hinzu: „I would confess to anything“. Es gab auch weitere öffentliche Demonstrationen des Waterboarding mit ähnlichem Ausgang, beispielsweise von Christopher Hitchens, einem Autor des Magazins Vanity Fair.62 Diese Performanz könnte den Eindruck erwecken, dass es sich bei Waterboarding zwar um Folter, aber dennoch um eine äußerst effektive Befragungstechnik handele. Die Aussage von Mancow, „I would confess to anything“, muss in ihrer Ambivalenz gesehen werden. Folter schützt nicht vor Falschaussagen, sondern setzt vielmehr Anreize, die dazu führen können, dass sich auch unschuldige Opfer mit Falschaussagen belasten und damit auch Verhörspezialisten in die Irre führen. Lässt man diese Einwände beiseite, so bleiben immer noch die Zweifel an der Effektivität der Technik, jedenfalls wenn sie gegen hartgesottene Terroristen eingesetzt wird. Nach offiziellen Angaben wurde der Gefangene Khalid Sheikh Mohamed in Guantanamo Bay insgesamt 183 „Güssen“ unterzogen, verteilt auf eine unbekannte Anzahl von Sitzungen. Auch wenn die Bush-Administration versicherte, dass diese Verhöre zu Informationen geführt hätten, dank derer weitere Anschläge verhindert werden konnten, gab es sowohl berechtigte Zweifel an der Wahrheit dieser Behauptung als auch an der Effektivität des Waterboarding als einer Verhörtechnik. Wenn Waterboarding so effektiv und abschreckend ist, warum waren dann so viele Wiederholungen nötig? Wie dem auch sei, das grundsätzliche Problem jedweder Foltertechnik bleibt bestehen: Es kann nur schwer zwischen Wahrheit und Lüge, Fakten und Fiktion unterschieden werden. Auch eine Falschaussage eines Gefolterten führt zum Abbruch der Prozedur und die Ermittler auf eine falsche Fährte. Oder die Folterer zweifeln an der Aussage und setzen das Verhör auf unbestimmte Zeit fort. Im Jahr 2009 waren es nur noch die Mitglieder der ehemaligen Bush-Regierung und Kommentatoren vom äußersten rechten Rand, die an der sicherheitspolitischen Unverzichtbarkeit des Waterboarding festhielten. In der Debatte setzte sich der Moderator Olbermann nicht nur mit den Experimenten seiner Kollegen auseinan62 Die Aufnahme ist bei YouTube zu sehen: http://www.youtube.com/watch?v=4LPubUCJ v58; letzter Zugriff 22.10.2010.
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der, sondern nahm auch die Beiträge des ehemaligen Vizepräsidenten Dick Cheney auseinander: „As he did yesterday in his speech, defending the Bush administration’s torture program, the former vice president claiming that the rest of us have failed to understand exactly what happened at the Abu Ghraib prison in Iraq, and more importantly, why it happened“. Daraufhin ließ Olbermann eine Aufnahme von Cheney im O-Ton abspielen, der die öffentliche Verquickung der WaterboardingDebatte mit den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib kritisiert: „In public discussion of these matters, there has been a strange and some sometimes willful attempt to conflate what happened at Abu Ghraib with the top-secret program of enhanced interrogations. At Abu Ghraib, a few sadistic prison guards abused inmates in violation of American law, military regulation and simple decency. For the harm they did to Iraqi prisoners and to America’s cause, they deserved and received Army justice.“
Der empirischen Beobachtung von Cheney ist aus einer kultursoziologischen Perspektive zuzustimmen. Die symbolische Assoziation von Folter, Abu Ghraib und Guantanamo macht einen beträchtlichen Teil der Wirkung des Abu-GhraibSkandals aus. Die Assoziation von Guantanamo und Abu Ghraib wird allerdings von den Liberalen nicht als Problem gesehen. General Karpinski, ebenfalls bei Olbermann zu Gast, unterstellte Cheney unlautere Motive: „he is defending himself and his service during the eight years of the administration“. Indem sie seinen Beitrag als eigennützig und unzivil disqualifizierte, stellte sie dessen Authentizität und Legitimität in Frage. Dieser, so Karpinski, spreche nicht im öffentlichen, sondern alleine in seinem eigenen Interesse. Die Überzeugung, dass die BushAdministration und ihre Aufweichung des Folterverbots eine maßgebliche und ursächliche Rolle bei der Entstehung der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib spielte, hatte derweil, wie die Berichterstattung über den Bericht des Verteidigungsausschusses gezeigt hat (10.1), die politische und öffentliche Hegemonie errungen. Die Apologeten der Bush-Administration standen mit ihrer Wahrnehmung des AbuGhraib-Skandals und des Waterboarding im diskursiven Abseits. Die Mehrheit der Republikaner kritisierte die Demokraten nicht wegen ihres „soft war on terror“ vor, sondern wegen der geplanten Reform des Gesundheitssystems. 10.4.2 Die Unabweisbarkeit der Folterfrage Trotz des durch den Abu-Ghraib-Skandal ausgelösten Wandel in der Wahrnehmung von Folter lässt sich keine vollständige Restauration der moralischen Ordnung ‒ im Sinne einer Rückkehr zum Denken vor 9/11 ‒ konstatieren. Auch wenn der Terrorismus an Aufmerksamkeit und Bedeutung verloren hat, ist die terroristische Bedrohung nach wie vor virulent. Die kollektive Überzeugung der Möglichkeit des Eintretens eines Ticking-Bomb-Szenarios ließ sich durch die Subversion von Abu
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Ghraib nicht aus der Welt schaffen. Der hypothetische Fall eines solchen Szenarios wurde im Zuge des 11. September 2001 von einer „toten“ zu einer „lebendigen Hypothese“ – um eine Unterscheidung von William James aufzugreifen (1956/1896). Die (außerhalb eines Kreises von Spezialisten) undenkbare Möglichkeit, dass Atomwaffen in Terroristenhände gelangen könnten, wurde auf einmal zur denkbaren Möglichkeit, der auch in Zukunft Rechnung getragen werden muss. Die „Büchse der Pandora“ wurde durch 9/11 geöffnet. Sind die Dämonen der Vorstellung einmal entfesselt, so lassen sie sich nicht mehr so ohne Weiteres bändigen. Michael Ignatieff (2005) hat in diesem Zusammenhang auf zwei Probleme hingewiesen, die jedem Befürworter eines strikten Folterverbots Kopfschmerzen bereiten dürften. Das erste Problem resultiert daraus, dass das Ticking-Bomb-Szenario eine realistische Möglichkeit bleibt. Ignatieff folgert daraus, dass man am strikten Folterverbot nur festhalten könne, wenn man rechtliche Normen von moralischen Fragen entkoppelt. Folter mag zwar rechtlich verboten, kann aber in manchen Situationen dennoch moralisch geboten sein. Im Gefolge des Abu-Ghraib-Skandals errang diese Position die diskursive Hegemonie. So spricht sich etwa Richard Posner (2006/2004) gegen Dershowitzs „torture warrants“ und für eine Trennung von Legalität und Moralität in Sachen Folter aus. Steven Lukes (2006) plädiert in einem Artikel im British Journal of Political Science dafür, die Anwendung von Folter als individuelle „tragic choice“ zu verstehen. Bei ihm wird das Ticking-Bomb-Szenario zu einem moralischen Dilemma, das sich einer Verrechtlichung prinzipiell entzieht. Während Dershowitz die Position vertritt, dass auch „Demokratien“ tragische Entscheidungen treffen können, und deswegen eine Institutionalisierung der Folter befürwortet (2002: 131-163), überantworten Posner (2006/2004: 298) und Lukes (2006) die alleinige Verantwortung dem Amtsträger als Privatperson. In ähnlicher Weise argumentiert auch Ulrich Steinhoff (2006), der den fiktionalen Helden „Dirty Harry“ als bessere Alternative gegen die von Dershowitz propagierte Verrechtlichung von Folter ins Felde führt. Die Vorzüge einer solche Lösung liegen auf der Hand: Im Rückgriff auf die gesellschaftlich etablierte Unterscheidung von Recht und Moral kann auf einen Eingriff in die Grundfesten des Rechtsstaates und eine Absage an die universelle Erklärung der Menschenrechte verzichtet werden. Was für das Rechtsystems eine Paradoxie darstellen würde, wird in den Bereich der Moral ausgelagert und auf den individuellen Entscheider abgewälzt (vgl. Binder 2013b). Gesellschaft und Staat bewahren sich so ihre Identität und Unschuld, während die Individuen die auftretenden Widersprüche auf dem eigenen Rücken auszutragen haben.63 63 Es verwundert, dass Luhmann in seiner Diskussion des Ticking-Bomb-Szenarios einige für ihn selbst unbefriedigende und auch nicht ganz ernst gemeinte Lösungsvorschläge unterbreitet (2008/1993: 248), doch nicht in Erwägung zieht, die von ihm konstatierte Paradoxie an die Moral auszulagern – was seinem blinden Fleck geschuldet ist (vgl. 4.1).
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Das zweite Problem resultiert daraus, dass sich die Effektivität von Folter als einer Verhörtechnik – auch nach Abu Ghraib – nie ganz von der Hand weisen lässt. Ignatieff (2005: 25f.) zufolge haben wir davon auszugehen, dass jene Agenten, die Sheikh Mohammed im Jahr 2003 einem mehrfachen Waterboarding unterzogen haben, im dem guten Glauben gehandelt haben, durch Anwendung dieser Technik an Informationen zu gelangen, die das Leben ihrer amerikanischen Mitbürger sicherer machen. Ignatieff unterlässt es aber, nach den möglichen Ursachen dieses Glaubens und der Bereitschaft des Publikums, diesen Glauben anzunehmen, zu fragen. Etwas zu voreilig schließt er – vermutlich selbst etwas gutgläubig – vom guten Glauben der Folterer auf die praktische Effektivität des Folterns. Den Glauben an die Effektivität peinlicher Befragungen lässt sich als „nützliche Fiktion“ (Vaihinger 1927) oder als gesellschaftliches Phantasma verstehen (1.3.3). Was dem Verfasser von La Question oder einem fiktionalen Helden wie Jack Bauer gut zu Gesicht steht, nämlich als Held einer Geschichte jeglicher Anwendung von Folter bis zur Bewusstlosigkeit und zum Herzstillstand widerstehen zu können, verwandelt sich in der Imagination des Bösen unversehens in einen Alptraum. Ein standhafter religiöser Fundamentalist und selbsterklärter Märtyrer wäre ein Alptraum für die populäre Imagination, der ihr allerdings – von Unthinkable einmal abgesehen (10.3.2) – bisher erspart blieb. Zweifel an der Effektivität von Folter und anderen Verhörtechniken führen letztendlich zu der unbefriedigenden Einsicht, dass es kein wirksames Mittel gegen die Bedrohung durch terroristische Anschläge gibt. Sie sind ein systemisches Risiko in modernen Gesellschaften, das durch den Ausbau von Infrastruktur, die Konzentration von Populationen in Städten und die Kristallisation von kollektiven Symbolen in immer größerem Maße zunimmt. Die moderne Weltgesellschaft schafft Zentren der Verwundbarkeit und stellt diese zugleich unter mediale Dauerbeobachtung. Dies sind ideale Bedingungen für Terroristen, die durch spektakuläre Gewaltakte in der Bevölkerung Angst und Schrecken verbreiten wollen. Diejenigen Diskursteilnehmer, die Folter unter bestimmten Umständen für moralisch geboten halten, müssen auch am Glauben an die Effektivität von Foltermethoden festhalten. Verteidiger des Folterverbots weisen zwar gerne auf die Effektivität von gewaltfreien und kooperativen Verhörmethoden hin, aber auch diese Techniken bieten keine hundertprozentige Sicherheit. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich der physische Zwang und die Verhängung negativer Sanktionen im konservativen Folterdiskurs wie auch der „zwanglose Zwang“ des besseren Arguments und die Anwendung positiver Sanktionen im liberalen Folterdiskurs, die im Übrigen der von Lakoff (2006) konstatierten Differenz im Erziehungsstil konservativer und liberaler Eltern entspricht (4.3.2), als zwei Seiten ein- und desselben Phantasmas. In beiden Fällen geht es um den verhörtechnisch abgesicherten Durchgriff auf das psychische System des mutmaßlichen Terroristen. Diese Allmachtsphantasien sind ebenso verständlich wie unrealistisch. Terroranschläge sind – ähnlich wie Amokläufe – eine gesellschaftliche Bedrohung, die systemischer Natur ist
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und sich nicht ausschalten lässt. Aus dieser Perspektive erweist sich der Glaube an die Effektivität von Verhörmethoden als ein gesellschaftlicher Umgang mit der unvermeidbaren Verwundbarkeit und fundamentalen Unsicherheit moderner Gesellschaften. Es ist wohl diese gesellschaftliche Affektstruktur, welche die Entstehung und die Reproduktion des Phantasmas der Interrogation ermöglicht. Die Auswirkungen des Abu-Ghraib-Skandals auf den Folterdiskurs lassen sich in drei Punkten zusammenfassen. Abu Ghraib hatte erstens zur Folge, dass die Anwendung von physischer Gewalt und psychischer Erniedrigung zu Verhörzwecken, einschließlich des sogenannten Waterboarding, mit negativen Gefühlen, Bildern und Narrativen aufgeladen wurde. „Folter“ als umkämpfter Platzhalter und leerer Signifikant (Levinson 2006/2004a: 27; 1.3.2) wurde von den Abu-Ghraib-Bildern besetzt, die ein abstoßendes (wenn auch nicht unbedingt zutreffendes) Bild der amerikanischen Verhörpraxis zeichneten. Zweitens wurde die Plausibilität des Ticking-Bomb-Szenarios untergraben, wenn auch nicht vollständig aufgehoben. Im akademischen Folterdiskurs setzte sich die Trennung von moralischen und rechtlichen Fragen durch. Aus der moralischen Tatsache, dass Folter in bestimmten Fällen geboten sein könnte, folgt noch nicht die Notwendigkeit ihrer Legalisierung. Trotz der engen strukturellen Kopplung von Recht und Moral in der modernen Gesellschaft tritt hier ihre Autonomie zu Tage. Moralischen Zwängen kann allerdings in der rechtlichen Bemessung des Strafmaßes Rechnung getragen werden. Drittens lässt sich eine Persistenz des Phantasmas der Interrogation konstatieren. Die stillschweigende Hintergrundannahme, dass das Verhör von Terrorverdächtigen, sei es durch Gewalt, sei es durch Kooperation, effektiv zur Gewinnung von Informationen genutzt werden kann, liegt dem Folterdiskurs zu Grunde und schützt als imaginärer Schirm vor der realen Zumutung des Anschlagsrisikos. Dass dies illusionär ist, zeigen nicht zuletzt die sogenannten „Amokläufe“ – heimische Ausbrüche sinnloser Gewalt, die kaum vorhersagbar, geschweige denn zu verhindern sind.
10.5 D IE O BAMA -P RÄSIDENTSCHAFT – B EWÄLTIGUNG ODER V ERDRÄNGUNG ? Plus ça change, plus c’est la même chose.64 JEAN-BAPTISTE ALPHONS KARR
Als Barack Obama zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, hofften viele seiner Anhänger auf einen radikalen Wandel in den Vereinigten Staaten. Ein Teil dieser Hoffnungen knüpfte sich an die baldige Schließung des Gefangenenlagers in Guantanamo Bay sowie an eine offizielle Untersuchung der Rolle 64 Zu Deutsch: „Je mehr sich ändert, desto mehr bleibt gleich.“
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der früheren Regierung bei den Abu-Ghraib-Missbrauchsfällen. Trotz dieser Erwartungen wählte die Obama-Regierung eine politisch pragmatischere, aber moralisch ambivalentere Strategie. Auf der einen Seite signalisierte die neue Regierung eine Abkehr von der Politik ihrer Vorgängerregierung, auf der anderen Seite forcierte Obama eine schnelle Schließung des Skandals – der nationalen Einheit wegen. Die Position der neuen Regierung lässt sich an drei Punkten aufzeigen: an ihrem erweiterten Folterverbot, das noch über die Beschränkungen des McCain-Amendments hinausreichte; an ihrer Weigerung, strafrechtliche Untersuchungen gegen Offiziere und ehemalige Mitarbeiter der Bush-Regierung wegen der Missbrauchsfälle in Abu Ghraib einzuleiten; schließlich aber an ihrer Entscheidung, kein weiteres Fotomaterial aus Abu Ghraib zu veröffentlichen. Alles in allem ist das Maß der Kontinuität in der amerikanischen Sicherheitspolitik erstaunlich. Dies machte eine symbolische Distanzierung von der symbolisch verunreinigten Vorgängerregierung umso dringlicher. So verbannte Obama die Bezeichnung „Global War on Terrorism“ aus dem offiziellen Sprachgebrauch, wie auch die Bezeichnung „enemy combatant“.65 An der Situation der Gefangenen in dem amerikanischen Gefangenenlager auf Kuba änderte dies allerdings nicht viel. Schon vor dem offiziellen Beginn seiner Präsidentschaft kündigte Obama die Einstufung des Waterboarding als einer Form von Folter an, was gleichbedeutend mit ihrem Verbot war. Bis dato galt Waterboarding als „harsh interrogation technique“, die im Verhör von maßgeblichen Terroristen von Geheimdiensten eingesetzt werden durfte und in den ersten Jahren des Krieges gegen den Terror, also noch vor Abu Ghraib, auch zur Anwendung gekommen war. Obama wurde nach der Wahl bei dem geplanten Verbot von seinem ehemaligen Rivalen John McCain unterstützt – auch wenn dieser im Wahlkampf gegen Obama für kurze Zeit von einem Gegner zu einem Verteidiger des Waterboarding wurde (10.1). Der scheidende Vizepräsident, Dick Cheney, kritisierte dieses Verbot als ein unverantwortliches Sicherheitsrisiko für die Vereinigten Staaten.66 Als eine der ersten Amtshandlungen nach seiner offiziellen Ernennung zum Präsidenten am 22. Januar 2009 verfügte Obama darüber hinaus die Schließung der Geheimgefängnisse der CIA, leitete ein Verfahren zur Schließung von Guantanamo binnen eines Jahres ein und erklärte den Verzicht auf Folter als staatliches Mittel zur Gewinnung von Informationen.67 Die New York Times pries das Folterverbot als ersten Schritt, um das rechtsstaatliche Erbe und moralische Fundament der Vereinigten Staaten wiederzugewinnen, und als effizientes Mittel im Krieg gegen den Terror, da es das wichtigstes Rekrutie65 Vgl. „Geste zu Guantánamo. Häftlinge nicht mehr ‚feindliche Kämpfer‘“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. März 2009. 66 „Turnabout on torture“, USA Today, 12. Januar 2009 67 „An Honor Guard Comes Out for Obama’s Ban on Torture“, The New York Times, 24. Januar 2009.
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rungsthema von Al-Quaida untergrabe: Die Darstellung der Vereinigten Staaten als einer unehrlichen und unmoralischen Supermacht, welche die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib billige („a dishonorable superpower that sanctions the type of abuses so graphically captured in the images from Abu Ghraib“).68 Trotz der Bekräftigung des allgemeinen Folterverbotes und der Einstufung von Waterboarding als Folter erlaubte Präsident Obama auch weiterhin den Gebrauch von „milden“ Formen physischer Gewalt in Verhören. Dies wurde ihm von vielen liberalen Kommentatoren übel genommen, wie z.B. von Diane McWhorter in der USA Today.69 Am Ende scheiterte auch der ambitionierte Plan, Guantanamo binnen eines Jahres zu schließen – nicht zuletzt aufgrund von pragmatischen und rechtlichen Erwägungen. Dies zeigt zugleich, dass Guantanamo als unreines Symbol mit der Wahl von Obama an Bedeutung verlor, da seine geplante Schließung fortan einem profanen Kalkül unterworfen und immer weiter aufgeschoben wurde. Nach dem Machtwechsel im Weißen Haus hegten einige Republikaner die Befürchtung, dass es nun zu einer liberalen Vergeltung und strafrechtlichen Verfolgung von ehemaligen Mitarbeitern der Bush-Administration kommen würde – unter anderem wegen der umstrittenen Memoranda aus der ersten Amtszeit (6.4.1; 9.1). Dahlia Lithwick, eine liberale Kommentatorin, befürchtete das Gegenteil: Gerade die einmütige und überparteiliche Verurteilung der Bush-Administration durch den Verteidigungsausschuss des Senats, die keinerlei rechtliche Konsequenzen hatte, schürte bei ihr den Verdacht, dass es der künftigen Regierung um eine schnelle und oberflächliche Bewältigung des Skandals gehe – und diese gar kein Interesse daran habe, Ermittlungen gegen frühere Regierungsmitglieder einzuleiten. Noch vor Obamas Amtseinführung tat sie ihre Bedenken in der New York Times kund: „Indeed, the almost universal response to the recent bipartisan report issued by the Senate Armed Services Committee – finding former Secretary of Defense Donald H. Rumsfeld and other high-ranking officials directly responsible for detainee abuse that clearly rose to the level of torture – has been a collective agreement that no one need be punished so long as we solemnly vow that such atrocities never happen again.“ 70
Lithwick zufolge erfüllte die „wir-haben-alles-hinter-uns“-Rhetorik („it’s all behind us“) eine doppelte Funktion. Zunächst habe sie eine Bewältigung des Skandals ermöglicht, indem sie die Missetaten der Amtsinhaber anerkannte und ihnen im gleichen Zug vergab. Letztendlich sei es aber darum gegangen, dass sich die amerikani68 „Try a Little Tenderness“, The New York Times, 11. März 2009. 69 „Don’t punt on torture; Obama is uniquely positioned to restore America’s moral standing on this issue. For the victims, and for this nation, he must pursue possible crimes committed on his predecessor’s watch“, USA Today, 11. Februar 2009. 70 „Forgive Not“, The New York Times, 11. Januar 2009.
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sche Öffentlichkeit die Taten selbst zu vergeben hatte („forgiving ourselves“). Oder, um es soziologisch auszudrücken: Der Versuch zur Schließung hat dazu gedient, das beschädigte Selbstbild bzw. die Identität der Vereinigten Staaten wiederherzustellen. Der Abu-Ghraib-Skandal hatte zu einem doppelten Imageproblem geführt (8.2.1). Auf dem internationalen Parkett war Abu Ghraib ein PR-Desaster, das dem Ansehen der Vereinigten Staaten nachhaltig schadete, im nationalen Diskurs wirkte Abu Ghraib als traumatisches Ereignis, das das kollektive Selbstbild der Amerikaner in Frage stellte. Im weiteren Verlauf des Artikels interpretiert Lithwick die Wahl von Obama zum Präsidenten als kollektiven Wunsch der Amerikaner, mit dem Erbe der Bush-Jahre zu brechen. Bei der Wiederwahl von Obama ginge es aber weniger um eine neue Politik oder um eine rechtliche Bewältigung der Vergangenheit, als vielmehr darum, das in der Amtszeit von Bush beschädigte amerikanische Selbstbild wiederherzustellen. Mit Obama habe sich das amerikanische Volk einen Imagewechsel verordnet. Lithwick vertritt die These, dass diese Bewältigung der Identitätskrise in Wirklichkeit die Verdrängung einer traumatischen Erfahrung sei. Anstatt sich in therapeutischer Weise mit den traumatischen Ereignissen auseinanderzusetzen – beispielsweise, indem die Beteiligung der Regierung an den Folterund Missbrauchsfällen gründlich aufgearbeitet würde – hätten Obama und das amerikanische Volk beschlossen, nach vorne und nicht zurück zu schauen. Folgt man Lithwicks Argumentation, so könnte man – im Anschluss an Giesens Arbeiten zum deutschen „Tätertrauma“ (2004a, 2004c) – von Abu Ghraib als einem amerikanischen Trauma sprechen. Abu Ghraib lässt sich vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges sogar als Wiederkehr eines verdrängten und nie ganz verarbeiteten Tätertraumas deuten (6.2.2). Während die Rede vom amerikanischen Tätertrauma von Vietnam durchaus eine Berechtigung besitzt, da es als kulturelles Trauma zwar nicht unumstritten ist, aber dennoch von einer breiten Bevölkerungsschicht gestützt wird, ist die Anwendung des Begriffes auf Abu Ghraib fragwürdig. Die Rede von Abu Ghraib als einem traumatischen Ereignis, das das Selbstverständnis der Amerikaner in Frage stellte, ist allerdings durchaus angemessen (7.5; 8.2). Ob sich, wovon Lithwick auszugehen scheint, Abu Ghraib tatsächlich zu einem kulturellen Tätertrauma entwickeln wird, das sich aufgrund seiner Verdrängung erst nach einer gewissen Latenzphase wieder in der Öffentlichkeit manifestieren wird, bleibt abzuwarten. Genau dies geschah in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg, dem prototypischen Tätertrauma (Giesen 2004a), auch wenn das Ausmaß der jeweiligen Verbrechen nicht wirklich vergleichbar ist. Trotzdem ist es nur folgerichtig, wenn Lithwick ihr Plädoyer für eine Strafverfolgung der Bush-Administration mit einem Zitat des amerikanischen Hauptanklagevertreters bei den Nürnberger Prozessen, Robert Jackson, beschließt: „Law shall not stop with the punishment of petty crimes by little people. It must also reach men who possess themselves of great power“. In derselben Ausgabe der New York Times wendet sich Charles Fried, Professor für Recht in Harvard, gegen diese Argumentation, die die Verfehlungen der Bush-
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Regierung mit den großen Kriegsverbrechen der Menschheitsgeschichte gleichsetze. Er besteht darauf, dass nicht nur ein quantitativer, sondern auch ein qualitativer Unterschied vorliege. Kriegsverbrechen seien etwas anderes als politische Vergehen, die von einer Regierung begangen werden, um das Volk gegen eine Bedrohung von außen zu schützen. Fried argumentiert, dass die Missetaten der Bush-Regierung als politische Fehler angesehen werden sollten. Wer politische Fehler begehe, solle durch demokratische Wahlen abgestraft und nicht mit strafrechtlichen oder gar völkerrechtlichen Verfahren zur Verantwortung gezogen zu werden: „Our veneration of the rule of law makes us believe that courts and procedures and judges can put right every wrong. But we must remember: our leaders, ultimately, were chosen by us; their actions were often ratified by our representatives; we chose them again in 2004. Their repudiation this Nov. 4 [2008] and the public, historical memory of them is the aptest response to what they did.“71
Fried weist darauf hin, dass die Angehörigen der früheren Regierung nur ihren Job gemacht hätten – wofür die Regierung im Jahr 2004 wiedergewählt worden sei. Sie sollten nicht als Kriminelle, sondern als Politiker betrachtet werden, deren Entscheidungen sich im Nachhinein als Fehler herausstellten. Damit spricht er die Politiker der Bush-Administration von moralischer Schuld frei, da es sich nur um handwerkliche Fehler gehandelt habe. Fried grenzt die Fehler bei der Ausübung eines Amtes von dem Vorwurf des Amtsmissbrauchs ab, auch wenn sich über seine Anwendung dieser Unterscheidung auf die Bush-Administration durchaus streiten lässt. Die offensichtlichen Versuche der Täuschung der Öffentlichkeit (TilmanCover-Up, Zerstörung von Aufzeichnungen etc.) könnten auch als kriminelle Tatbestände und als eine klare Missachtung der Amtspflichten gerahmt werden. Im Februar 2009 kündigte Obama anlässlich einer geplanten Untersuchung von möglichen kriminellen Akten der Bush-Regierung an, dass er es vorziehe, „nach vorne statt nach hinten“ zu schauen („get it right moving forward“). 72 Damit konterkarierte er Versuche, im Senat eine „Wahrheitskommision“ zur Aufklärung der letzten beiden Amtsperioden einzurichten. In der New York Times unterzog Joseph Finder die Position der Obama-Regierung einer kritischen Untersuchung. Er wies darauf hin, dass der Justizminister im Obama-Kabinett, Eric Holder, im Laufe seiner Karriere durchaus widersprüchliche Positionen zu kritischen Fragen vertreten habe: Anfänglich unterstützte er den Entzug von elementaren Gefangenenrechten in Guantanamo, später bezeichnete er aber die Existenz des Gefangenenlagers als in71 „History’s Verdict“, The New York Times, 11. Januar 2009. 72 „Don’t punt on torture; Obama is uniquely positioned to restore America’s moral standing on this issue. For the victims, and for this nation, he must pursue possible crimes committed on his predecessor’s watch“, USA Today, 11. Februar 2009.
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ternationale Peinlichkeit („embarrassment“).73 Dabei macht er deutlich, dass Holders Konversion mit einem Wandel des politischen Klimas einherging. Dieser politische Klimawandel muss, so das Ergebnis dieser Untersuchung, als eine Folge des Abu-Ghraib-Skandals aufgefasst werden. Finder verweist auf Abu Ghraib, wenn er dem Justizminister vorwirft, nicht die systematische Folter des CIAs untersuchen zu wollen. Im Ziel der Untersuchung ständen wieder einmal nur individuelle Einzeltäter, die gegen Richtlinien verstoßen hätten – „bad apples“ eben: „This doesn’t look much like justice; it looks like politics. This is scarcely different from what the Bush administration did after the Abu Ghraib prisoner-abuse scandal, scapegoating only low-level military police officers. Nothing will change for the better: President Obama has, fortunately, already renounced torture. We’ll learn nothing from this.“ 74
Finder schließt mit der Feststellung, dass die eigentliche Lehre, die aus Abu Ghraib hätte gezogen werden sollen, nicht gelernt worden sei. So wird die ObamaRegierung als eine Fortsetzung der Bush-Regierung gedeutet und wegen ihrer politischen Konzessionen auf Kosten der Durchsetzung des Rechts scharf kritisiert. Mit der Wahl von Obamas zum Präsidenten spielten die großen Fragen Amerikas bezüglich seiner kollektiver Identität und der gemeinsamen Werte, zumindest im Krieg gegen den Terror, keine Rolle mehr. Es ging nur noch um die politischen Details und Kompromisse – die Zeit fürs Grundsätzliche schien zunächst einmal vorüber zu sein. Zwar waren in der liberalen Presse des Jahres 2009 in erster Linie kritische Kommentare zu Obamas Umgang mit den Themen Abu Ghraib, Guantanamo und Folter vorherrschend, allerdings handelte es sich dabei nur um vereinzelte Artikel. Daran lässt sich die geringe Bedeutung ablesen, die diesen Themen nunmehr in der amerikanischen Öffentlichkeit beigemessen wurde. Die Finanzkrise und ihre Folgen haben den Krieg gegen den Terror von der Tagesordnung der politischen Öffentlichkeit abgelöst. So konnte kein öffentlicher Druck auf die Regierung und die Sphäre der Politik aufgebaut werden. Dass die Debatte um die Untersuchung der Bush-Administration in erster Linie innerhalb des liberalen Lagers stattfand, verdeutlichen die Umfragewerte, die von O’Reilly referiert wurden: „The latest Rasmussen poll asked three simple questions. One, should Congress hold hearings to determine if President Bush and members of his administration committed war crimes? 60 percent said no, 28 percent yes, 12 percent don't know. Two, are President Bush and senior members of the Bush administration guilty of committing war crimes? 54 percent say no, 25 percent yes, 21 percent not sure. And three, if President Bush and his administration are
73 „The C.I.A. in Double Jeopardy“, The New York Times, 30. August 2009. 74 „The C.I.A. in Double Jeopardy“
496 | A BU G HRAIB UND DIE FOLGEN brought to trial for war crimes, would that be good or bad for the United States? A whopping 70 percent say bad. Just 19% say good. 11 percent not sure.“ 75
Wir sehen, dass mehr als die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung gegen eine Untersuchung waren und die Bush-Regierung von dem Vorwurf der Kriegsverbrechen freisprachen. Nur ein Viertel war davon überzeugt, dass die BushAdministration Kriegsverbrechen zu verantworten habe und deswegen zur Verantwortung gezogen werden solle. Am 13. Mai 2009 zog Obama seinen ursprünglichen Plan zurück, das bisher noch zurückgehaltene Fotomaterial aus Abu Ghraib zu veröffentlichen. Er begründete seine Entscheidung mit der Befürchtung, dass eine Veröffentlichung dieser Fotografien antiamerikanische Ressentiments entfachen und dadurch die Sicherheit amerikanischer Truppen gefährden könnte. Kritiker dieser Entscheidung sahen auch hier wieder eine Fortsetzung der Politik der BushÄra.76 Unterstützung fand Obama nicht nur bei John McCain, sondern auch bei dem Autor Philip Gourevitch, der seine kritische Einstellung zur Politik der BushAdministration durch seine Mitarbeit an Standard Operating Procedure (10.2) bereits unter Beweis gestellt hatte: „Releasing additional photographs would not be telling us anything that we don’t already know“.77 Eine mögliche Veröffentlichung des noch unveröffentlichten Materials wurde zwar noch unter Demokraten und Liberalen diskutiert – sie drang aber nicht ins Zentrum der öffentlichen Debatte vor. Dies kann man unter anderem daran ablesen, dass sich kein einziger Artikel der USA Today dieses Themas annahm. Obama, der als Präsidentschaftskandidat für eine größtmögliche Transparenz und – wie im Übrigen auch McCain – für ein „media shield“, d.h. für einen Schutz von Informanten, geworben hatte, vollzog mit seiner Präsidentschaft einen politischen Gesinnungswandel. Die Staatsräson siegte immer wieder über das vermeintliche Recht der Öffentlichkeit auf Information. Dies zeigt sein späteres Verhalten in diversen „whistle-blower“-Affären. Die Analyse der Spätfolgen des Skandals hat gezeigt, dass Abu Ghraib zwar einen nachhaltigen Einfluss auf die politische Landschaft, die Populärkultur und die Folterdebatte in den Vereinigten Staaten hatte, aber unter der Obama-Administration weder zu einer totalen Kehrtwende noch zu einer historischen Aufarbeitung des Vorfälle führte.
75 „Polling Bush Hatred“, O’Reilly Factor, Fox News Network, 27. Januar 2009. 76 „Obama Can’t Turn the Page on Bush“, The New York Times, 17. Mai 2009; siehe auch, ebenfalls in der New York Times: „Photographs and Kangaroo Courts“, 17. Mai 2009, „Who Are We?“, 23. Juni 2009. 77 „The Abu Ghraib We Cannot See“, The New York Times, 24. Mai 2009.
IV. Schlussbetrachtung
Die Behandlung in Moulay Yacoub ist die Rache für Abu Ghraib. OLIVER STOLLE, JOURNALIST, ÜBER DEN BESUCH IN EINER WELLNESS-OASE IN MAROKKO, NEON (DEZEMBER 2010)1
Das vorangestellte Zitat aus einem Reisebericht in einem bekannten deutschen Magazin demonstriert, dass „Abu Ghraib“ als ein Symbol des Missbrauchs und der Folter auch in der deutschen Populärkultur und in deutschsprachigen Diskursen Verbreitung gefunden hat. Abu Ghraib hat sich in unserem kulturellen Hintergrund festgesetzt und ist von dort noch immer nicht verschwunden. Die vereinzelte Erwähnung von „Abu Ghraib“ bedarf im oben zitierten Bericht keiner weiteren Erläuterung, sondern wird von dem Autor als ein allgemein verbreitetes Hintergrundwissen vorausgesetzt – und seine Herausgeber teilten diese Einschätzung offensichtlich. In derselben Weise sind auch die Bilder von Abu Ghraib zu einem Teil unseres kulturellen Bildrepertoires geworden. Gerade die Ikone des Skandals (7.1), aber auch die „menschliche Pyramide“ (7.2) oder Lynndie England mit dem angeleinten Gefangenen (7.3.3) besitzen nach wie vor einen hohen Wiedererkennungswert. Wie im siebten Kapitel gezeigt wurde verdankten die Bilder aus Abu Ghraib ihre öffentliche Resonanz der kulturellen Bedeutung ihrer Bildelemente. Vor dem kulturellen Hintergrund der jeweiligen Rezipienten generierten diese visuellen Elemente sowohl konsonante und vertraute als auch dissonante und befremdliche Bedeutungen, wobei erst ihr Zusammenspiel den unheimlichen und schockierenden Effekt der Bilder erklärt. Die Bilder von Abu Ghraib sind nun ihrerseits wieder zu kulturellen
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„Wellness-Oase. Zu viel Entspannung macht müde. Unser Autor suchte: die härteste Massage der Welt“, in: Neon, Dezember 2010, S.106-115. Die Metapher der Folter wird von dem Autor Oliver Stolle auch in folgendem Vergleich bemüht: „Konnte man Saids Behandlung mit den wirkungsvollen, aber von einer demokratischen Verfassung eingeschränkten Griffen etwa der deutschen Polizei vergleichen, bin ich jetzt in einem jener Foltergefängnisse gelandet, deren Existenz die CIA so lange geleugnet hat“ (S.114).
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Mustern geworden, die wiedererkannt und nachgeahmt werden können. Sie sind in den kulturellen Hintergrund einer Weltgesellschaft eingegangen. Auch wenn davon auszugehen ist, dass die kollektive Erinnerung an die Missbrauchsfälle allmählich verblassen wird, werden die Bilder von Abu Ghraib in der Latenz kultureller Muster überdauern und spätestens anlässlich des nächsten Folterskandals wieder aktualisiert und dem Publikum in Erinnerung gerufen werden. 1. Abu Ghraib als Zäsur In der Einleitung haben wir zwei Hypothesen formuliert, die uns dabei helfen sollten, die Wirkung des Abu-Ghraib-Skandals abzuschätzen. Die Minimalhypothese lautete: Der Abu-Ghraib-Skandal hat zu keinen nennenswerten Veränderungen geführt. Die Maximalhypothese lautete: Bei dem Abu-Ghraib-Skandal handelt es sich um eine Zäsur, die gravierende Umwälzungen zur Folge hatte. Als konkrete Messlatte für die Maximalhypothese bot sich der 11. September 2001 an, dessen Folgen unter dem Etikett „Krieg gegen den Terror“ behandelt wurden (6.4). Hat die Enthüllung der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib zu Effekten geführt, die die durch den Krieg gegen den Terror ausgelösten Veränderungen zurücknahmen? Wird diese Frage bejaht, so ist der Maximalhypothese zuzustimmen. Vor diesem Hintergrund sollen die empirischen Erträge dieser Studie noch einmal rekapituliert werden. Genau genommen stellt schon die Skandalisierung der Vorfälle eine bemerkenswerte Konsequenz der Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Bilder dar. Dass gegen einige amerikanische Soldaten ein Verfahren wegen des Missbrauchs von Gefangenen und unanständiger Akte eingeleitet worden war, war der amerikanischen Öffentlichkeit schon vor der Veröffentlichung der Bilder bekannt. Aber erst die Enthüllung der Skandalfotografien entfachte einen Sturm der Entrüstung, der alle anderen Ereignisse des Irakkrieges in den Schatten stellte. Im achten Kapitel wurde gezeigt, dass der Skandal vier Wochen lang im Zentrum der amerikanischen Öffentlichkeit stand, Leser und Intellektuelle zur öffentlichen Stellungnahme motivierte, amerikanische Politiker zu öffentlichen Entschuldigungen nötigte sowie eine vergleichsweise schnelle und harte Bestrafung der Schuldigen zur Folge hatte. Trotz dieser beachtlichen Effekte muss konstatiert werden, dass der Skandal in seiner frühen Phase im Jahr 2004 die Maximalhypothese nicht bestätigt. So hatte der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld trotz wiederholter Forderungen nicht zurücktreten müssen, und sein direkter Vorgesetzter, George W. Bush, wurde ein halbes Jahr nach Ausbruch des Skandals als Präsident der Vereinigten Staaten wiedergewählt. Die Untersuchung hat gezeigt, dass einer frühen „Vollendung“ des Skandals vor allem zwei Faktoren, ein eher struktureller sowie ein kontingenter, im Wege standen. Bei dem strukturellen Faktor handelte es sich um den bevorstehenden Wahlkampf, der die Öffentlichkeit polarisierte, eine parteiübergreifende Mobilisierung erschwerte und so eine Fortführung des Skandals als profanen politischen Konflikt erscheinen ließ (8.5.3). Als kontingenter Faktor lässt
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sich die Enthauptung des Amerikaners Nick Berg anführen, dessen Henker sich auf die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib beriefen (8.4.2). Die Veröffentlichung des Hinrichtungsvideos führte dazu, dass die Missbrauchsfälle auf dem Höhepunkt des Skandals von einer Gräueltat des Feindes überschattet wurden. Eine Bilanzierung der Konsequenzen des Skandals zum 31. Dezember des Jahres 2004 hätte – gemessen an 9/11 – wohl eher für die Minimalhypothese gesprochen. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich beim Abu-Ghraib-Skandal um das Medienereignis des Jahres 2004 handelte, waren seine institutionellen Konsequenzen in der frühen Phase des Skandals vernachlässigbar – wenn man einmal von dem Verbot des „hooding“ durch die Armee und der Niederlage der Regierung vor dem Supreme Court absieht (9.2). Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht zu ahnen, dass der Skandal einen langen Schatten auf die zweite Amtszeit des Präsidenten werfen sollte. In der mittleren Phase des Skandals, die im neunten Kapitel behandelt wurde und die ersten beiden Jahre von Bushs zweiter Amtszeit umfasst, kam es zu einem unerwarteten Comeback des Themas „Abu Ghraib“. Die geplante Ernennung von Alberto R. Gonzales zum Justizminister, der sich als ein Verfasser umstrittener Memoranda beim Präsidenten verdient und bei der Öffentlichkeit unbeliebt gemacht hatte, erwies sich im Rückblick als folgeschwerer Fehler – auch wenn die Folgen dieser Entscheidung zum damaligen Zeitpunkt kaum abzusehen waren (9.1). Die Anhörung des Kandidaten vor dem amerikanischen Senat zeigt, dass der Skandal als soziales Drama eine öffentliche Bühne braucht und in seinem Verlauf von kontingenten Performanzen und Ereignissen abhängig ist. Das offene und relativ komplexe Modell des Skandals als einem sozialen Drama (5.2-3) erfährt durch den Verlauf des Abu-Ghraib-Skandals eine empirische Bestätigung. Obwohl der Präsident am Ende seinen Wunschkandidaten bekam, entpuppte sich dieser Erfolg bald als Pyrrhussieg. Die Anhörung von Gonzales rückte den unvollendeten Skandal und die umstrittenen Foltermemoranda nach Monaten der Abwesenheit wieder ins Licht der Öffentlichkeit; sie weckte die Geister von Abu Ghraib, die im kulturellen Hintergrund der Vereinigten Staaten überdauert hatten. Die allgemeine Ablehnung von Bushs Kandidaten für den Posten des Justizministers legte den Grundstein für das McCain-Amendment. Dessen parteiübergreifende Verabschiedung – gegen den erklärten Willen des Präsidenten – bescherte Bush wohl die schwerste politische Niederlage seiner Amtszeit (9.2). Die hier durchgeführte Diskursanalyse hat gezeigt, dass Abu Ghraib als Argument, Symbol und Hintergrund dieser Debatten einen entscheidenden Einfluss ausübte. Der AbuGhraib-Skandal muss als wesentliche Ursache, als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung des McCain-Amendments begriffen werden: Ohne den Abu-Ghraib-Skandal (und die Gonzales-Anhörung) hätte es das Amendment nie gegeben. Das McCain-Amendment, das allgemeine Standards der Behandlung von Häftlingen festlegte, markiert eine deutliche Abkehr von der bisherigen Politik. Aufgrund dieser politischen Vermittlung lässt sich der Abu-Ghraib-Skandal als eine
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Zäsur im Krieg gegen den Terror begreifen, weswegen die Maximalhypothese in seiner mittleren Phase wieder an Plausibilität gewinnt. Die institutionellen Konsequenzen von Abu Ghraib blieben nicht auf den politischen und militärischen Bereich beschränkt. So konnte unter anderem die Niederlage der amerikanischen Regierung im Fall Rasul v. Bush, wo es um die Rechte der auf Guantanamo Inhaftierten gegangen war, auf den Einfluss des Skandals zurückgeführt werden (9.3.1). Die Entscheidung des Supreme Courts, mit der vor der Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Bilder niemand gerechnet hatte, wurde unter dem Eindruck der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib gefällt, ohne dass diese für den Fall juristisch relevant gewesen wären. Die Befunde stützen den kultursoziologischen Verdacht, dass auch die Rechtsprechung dem Einfluss des politischen Klimas bzw. des kulturellen Hintergrundes einer Gesellschaft unterliegt. Mehr noch: Rasul vs. Bush bildete den Auftakt einer Serie von Niederlagen der Regierung vor dem höchsten Gericht der Vereinigten Staaten, in deren Folge sich die Rechtsverhältnisse in Guantanamo sukzessive „normalisierten“ – ohne dass bis heute zivilrechtliche Standards erreicht worden wären (9.2-3). Angesichts der rechtlichen Konsequenzen, die der Skandal von Abu Ghraib für die Häftlinge in Guantanamo Bay hatte, muss die Minimalhypothese mit Vehemenz zurückgewiesen werden. Allerdings wird auch die Maximalhypothese verfehlt. Zwar wurde der rechtliche Ausnahmezustand im Krieg gegen den Terror, dessen Ausdruck die Errichtung des Gefangenenlagers auf Kuba war, durch die Urteile des Verfassungsgerichts und die öffentliche Meinung in seine Schranken gewiesen, doch blieb Guantanamo Bay – die Verkörperung dieses Ausnahmezustands – trotz des parteiübergreifenden Willens, dieses Lager zu schließen, bis zum heutigen Tag bestehen. Alles in allem muss dem AbuGhraib-Skandal jedoch eine beachtliche Wirkung auf die Rechtsprechung und die politische Kultur der Vereinigten Staaten attestiert werden. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangten wir auch in unserer Analyse des Folterdiskurses (10.4). Es lässt sich nur schwerlich bestreiten, dass der Abu-GhraibSkandal zu einer Kehrtwende in der neueren Folterdebatte geführt hat, die der 11. September 2001 entfacht hatte. Wie bereits in der Interpretation der Skandalfotografien im siebten Kapitel gezeigt wurde, unterliefen die Bilder von Abu Ghraib die bis dato verbreitete Vorstellung von einer moralisch „sauberen“ Folterpraxis. Der heldenhafte Folterer, der in „Jack Bauer“ aus 24 (2001-2010) seine zeitgemäße popkulturelle Verkörperung besaß, fand in der heldenhaften Pose der Soldaten von Abu Ghraib sein unreines Zerrbild (7.2). Dies zeigt auch der Einfluss des Skandals auf die Populärkultur, der ebenfalls nachgewiesen werden konnte – beispielsweise in Form des öffentlichen Drucks, der die Macher von 24 schließlich zum Einlenken bewegte (10.3). Auch wenn die Foltergegner eine argumentative Brücke zwischen den verschärften Verhörmethoden der Bush-Regierung und den Missbrauchsfällen in dem irakischen Gefängnis zu schlagen versuchten, konnte Abu Ghraib in der Folterdebatte nur eingeschränkt als Argument verwendet werden, da es sich bei den
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abgebildeten Akten nicht um eine staatlich autorisierte Anwendung von Gewalt gehandelt habe. So blieb den Gegnern nur noch das Dammbruchargument, nämlich dass eine Aufweichung des Folterverbortes zu Missbrauchsfällen wie in Abu Ghraib führe – was allerdings nicht die Omnipräsenz von Abu Ghraib in dem kritischen Folterdiskurs zu erklären vermag. Es war vielmehr die Wirkung von Abu Ghraib als einem Symbol – und nicht sein Nutzen als Argument –, die für die Kehrtwende in der Folterdebatte verantwortlich war. Der theoretische Rahmen, der im ersten Kapitel aufgespannt wurde, erlaubte es, die Wirkungen von Abu Ghraib auf den kulturellen Hintergrund, der allem Handeln und Erleben zu Grunde liegt, in den Blick zu bekommen und diese als durchaus folgenreich zu deuten. Die Enthüllungen von Abu Ghraib unterliefen das gängige Ticking-Bomb-Narrativ, indem sie die gesellschaftliche Imagination von Folter veränderten. Diese Kehrtwende in der Folterdebatte führte allerdings nicht zu einer vollständigen Restauration der moralischen Ordnung vor 9/11, für die eine apodiktische Ablehnung der Folter charakteristisch war. Die diskursive Hegemonie, die sich nach Abu Ghraib etablierte, lehnte eine rechtliche Institutionalisierung der Folter ab, hielt aber zugleich an der moralischen Zulässigkeit von Folter in Ausnahmefällen fest (10.1). Das Szenario eines terroristischen Anschlags, der sich durch Foltern verhindern ließe, war vor 9/11 nur eine abstrakte Möglichkeit – danach wurde es zu einer Denknotwendigkeit. Auch wenn der Abu-Ghraib-Skandal die Büchse der Pandora, die am 11. September 2001 geöffnet wurde, wieder schließen konnte – die Vorstellung des Ticking-Bomb-Szenarios war bereits entwichen und ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Sind die Kräfte der gesellschaftlichen Imagination erst einmal entfesselt, kann man sich ihrer nicht mehr so ohne weiteres entledigen. Der Abu-Ghraib-Skandal stellt eine Zäsur und einen Wendepunkt in der Folterdebatte dar – allerdings ohne die Maximalhypothese zu bestätigen. 2. Abu Ghraib als totales soziales Phänomen Auch wenn der Abu-Ghraib-Skandal in der amerikanischen Politik, in der amerikanischen Rechtsprechung und auch im Folterdiskurs beachtliche Wirkungen gezeitigt hat, würde dies wohl kaum rechtfertigen, von Abu Ghraib als einem totalen sozialen Phänomen zu sprechen. Allerdings konnte gezeigt werden, dass der AbuGhraib-Skandal auch jenseits der politischen Öffentlichkeit und der Handlungssphären der Politik und des Rechts in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Teilbereichen thematisiert wurde. Der Abu-Ghraib Skandal, seine Bildmotive und politischen Implikationen stießen nicht nur bei politischen Aktivisten auf große Resonanz, sondern auch in der Theater- und Kunstszenen (9.4). Nicht nur auf der Ebene der sogenannten „Hochkultur“ wurde Abu Ghraib zum Thema gemacht, sondern in der Populärkultur und ihren Unterhaltungsformaten (10.3). So änderte sich unter dem Einfluss des Skandals die Darstellung von Folter in den fiktionalen Medien, was ein weiterer Beleg dafür ist, dass die Bilder von Abu Ghraib die gesellschaftli-
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che Imagination der Folter infizierten. Dies zeigte sich unter anderem darin, dass fiktionale Inszenierungen von Folter auf das Vorbild Abu Ghraib zurückgriffen und einzelne Bildmotive zitierten. Dass das Thema Abu Ghraib in der Popkultur definitiv angekommen ist, wird in zahllosen Details ersichtlich: an den Rolling Stones, die Lynndie England das Lied Dangerous Beauty widmeten, an den Zitaten des Skandals in den Fernsehserien Simpsons und South Park, an seiner Nachstellung mit Legofiguren in der Blogosphäre sowie am eingangs zitierten Reisebericht – wobei sich diese Auflistung noch lange fortführen ließe. Die Bilder aus Abu Ghraib, die durch das Prisma der öffentlichen Diskurse und Massenmedien gebrochen wurden und von dort aus in die anderen Sphären der Gesellschaft hineinstrahlen konnten, manifestierten sich in Bildern, Erzählungen und Performanzen. Der Skandal spielte auch in Wirtschaft, Religion und Erziehung eine gewisse Rolle.2 Ein gesellschaftlicher Bereich, der sich durch das ganze Buch zieht, ist die Rezeption des Skandals in der Wissenschaft, genauer: in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Dutzende von Sammelbandbeiträgen und Artikeln sind zu Abu Ghraib erschienen, wobei die meisten von ihnen auch eine moralische und politische Motivation zu erkennen geben. Während sich Sozialpsychologen und Soziologen fast ausschließlich mit der sozialen Dynamik und institutionellen Rahmung von Gewalt und Erniedrigung in Abu Ghraib beschäftigten, zogen es Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler vor, über die Skandalbilder zu sprechen. Im Vergleich zu der Fülle an Literatur, die es zu den Missbrauchsfällen und den Bildern gibt, gibt es nur wenige Diskursanalysen, die zudem nur wenige Quellen und nur die ersten Wochen des Skandals berücksichtigen. Damit schließt diese Studie eine auffällige Lücke in der anderweitig durchaus beachtlichen Forschungsliteratur zu diesem Thema. Monographien und Sammelbände zu Abu Ghraib sind ebenfalls rar gesät, da sich die Auseinandersetzung mit Abu Ghraib dann doch meist auf eine wissenschaftlich informierte Polemik, auf Nebenprojekte oder die Erprobung bewährter Paradigmen beschränkte. Die vorliegende Studie, die die Missbrauchsfälle, die Skandalbilder und den öffentlichen Diskurs nicht nur in ihrer Bandbreite darzustellen, sondern auch miteinander zu verknüpfen und aufeinander zu beziehen versuchte, stellt eine Ausnahme im wissenschaftlichen Diskurs zu Abu Ghraib dar. Zugleich ist diese Arbeit auch selbst ein Symptom der Wirkung des Skandals, ein Teil jener Resonanz, auf die „Abu Ghraib“ im wissenschaftlichen Diskurs gestoßen ist; diese Untersuchung ist ein Teil, der ein Bild des diskursiven Ganzen zu zeichnen versucht, zu dem sie selbst gehört; sie ist eine soziologische Erzählung, die die Entstehung,
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So war der Skandal für private Sicherheitsdienste aufgrund der Rolle, die private Söldner („contractor“) in Abu Ghraib gespielt hatten, geschäftsschädigend, vgl. „Stock Analysts Often Are Left in the Dark On Firms’ Activities“, The Washington Post, 20. Mai 2004; für das Erziehungssystem siehe „Education after Abu Ghraib“ (Giroux 2004).
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den Verlauf und die Wirkungen des Skandals schildert, eine wissenschaftliche Performanz, die ihrerseits hoffentlich auf Resonanz stoßen wird. Wir haben gesehen, dass es sich bei „Abu Ghraib“ nicht nur um einen exemplarischen soziologischen Untersuchungsgegenstand handelt, sondern auch um ein „totales soziologisches Phänomen“, das heißt um einen Kreuzungspunkt wesentlicher theoretischer Diskurse der letzten Jahre. In Abu Ghraib treffen die disziplinären, aber auch transdisziplinären Debatten zur Zivilgesellschaft und zu öffentlichen Diskursen, zum iconic turn und zum performative turn, zur Gewalt- und Skandalforschung mit den normativ geladenen Debatten über Menschenwürde und Menschenrechte in Zeiten des Krieges gegen den Terror aufeinander. Der Abu-GhraibSkandal als totales soziales Phänomen demonstriert, dass es sich bei öffentlichen Diskursen um sogenannte „Interdiskurse“ handelt, die unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche miteinander verzahnen können – wenn sie über hinreichend starke Symbole, in unserem Fall die Bilder von Abu Ghraib, verfügen.3 Fast sechs Jahre nach dem Ausbruch des Skandals und fünf Jahre nach der oben gezogenen Zwischenbilanz muss dem Skandal nun zum Ende des Untersuchungszeitraumes – dem 31. Dezember 2009 – eine weitaus größere Wirkmächtigkeit zugesprochen werden, als dies die frühe Phase des Skandals und seine unmittelbaren Konsequenzen noch nahegelegt haben. Das soziale Drama kam mit der Wiederwahl von Bush nur zu einem vorläufigen Ende. Der soziale Konflikt um die Deutung der Missbrauchsfälle schwelte im Hintergrund weiter und brach in der Auseinandersetzung um die Nominierung von Gonzales und um die Verabschiedung des McCainAmendments wieder hervor (9.1-2). So hatte sich jenseits der Bush-Administration ein parteiübergreifender Konsens etablieren können, der schließlich in jenem Bericht des Verteidigungsausschuss kulminierte, in dem die scheidende Regierung explizit in die Verantwortung für die Missbrauchsfälle genommen wurde (10.1). Dieser Bericht markiert auch das vorläufige Ende des Abu-Ghraib-Skandals. Ungenutzt blieb hingegen die sich mit dem Regierungswechsel auftuende Chance, den Skandal, vor allem aber die Beteiligung von hochrangigen Militärs und der BushRegierung an den Missbrauchsfällen, noch einmal juristisch aufzurollen (10.5). 3. Abu Ghraib als ikonische Wende im Krieg gegen den Terror Der Abu-Ghraib-Skandal ist in seinen Folgen sicherlich nicht mit dem 11. Septembers 2001 vergleichbar. Diese Studie hat aber zeigen können, dass Abu Ghraib den Krieg gegen den Terror in wesentlichen Punkten korrigierte. Auch wenn der AbuGhraib-Skandal kein epochales Ereignis war, stellt er doch zumindest einen Wen3
Der Begriff des „Interdiskurses“ stammt von Jürgen Link und Ursula Link-Heer (1990; vgl. auch Link 2006). Interdiskurse, die von Literatur und Massenmedien getragen werden, durchdringen alle Bereiche der Gesellschaft und fungieren so als Schnittstelle zwischen verschiedenen „Spezialdiskursen“.
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depunkt innerhalb der kurzen Epoche des Krieges gegen den Terror dar. Wir können Abu Ghraib daher mit Fug und Recht als „Zäsur“, als die ikonische Wende im Krieg gegen den Terror bezeichnen. Die Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Bilder am 28. April 2004 markierte nicht das Ende des Krieges gegen den Terror, aber vielleicht einen Anfang vom Ende. Es sind es vor allem drei Ereignisse, die einen epochalen Einschnitt nach 9/11 markieren: der Crash der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008, mit der die globale Finanzkrise ihren Anfang nahm; die Wahl von Barack Hussein Obama zum Präsidenten der Vereinigten Staaten am 4. November 2008; schließlich der Tod Osama bin Ladens am 2. Mai 2011. Die Präsidentschaftswahl 2008 war aufs Engste mit den Folgen des AbuGhraib-Skandals verknüpft (10.1). John McCain, der sich als innerparteilicher Kritiker von Bush für die republikanische Kandidatur qualifiziert hatte, und Barack Hussein Obama, dessen Name ihn eigentlich schon als Kandidaten hätte disqualifizieren müssen, standen beide für einen Bruch mit der Vorgängerregierung, die durch den Abu-Ghraib-Skandal und das militärische Desaster im Irak zu einem unreinen Symbol geworden war. Mit der Wahl von Obama entschieden sich die Wähler für den radikaleren Bruch mit dem „unreinen Erbe“ der Vorgängerregierung, aber auch für einen Kandidaten, dem noch am ehesten die Bewältigung der Finanzkrise zugetraut wurde. Der Verlauf der Vorwahlen und das Ergebnis der Wahl am 4. November haben gezeigt, dass die Präsidentschaftswahl 2008 als ein Ende des Kriegs gegen den Terror verstanden werden kann, da dieser im Wahlkampf nur eine untergeordnete Rolle spielte und beide Kandidaten der Sicherheitspolitik der BushAdministration eine (mehr oder weniger) klare Absage erteilten. Präsident Bush, der als Repräsentant des amerikanischen Volkes (und der „freien Welt“) dem Terrorismus den Krieg erklärt hatte, verkörperte diese Epoche wie kein zweiter – vielleicht mit Ausnahme von Osama bin Laden. Mit dem Regierungswechsel wurde der Begriff des „Global War on Terrorism“ aus dem offiziellen Sprachgebrauch gestrichen, obgleich er aus dem öffentlichen Diskurs noch nicht völlig verschwunden ist. Weder die Finanzkrise an der „Wall Street“, die das benachbarte „Ground Zero“ überschattete, noch der Amtsantritt Obamas, der den amerikanischen Präsidenten und „Hauptdarsteller“ dieser Epoche, George W. Bush, ablöste, konnten die Erzählung vom Krieg gegen den Terror zu einem befriedigenden Abschluss bringen. Eine narrative Schließung fand die Epoche erst mit der Tötung Osama bin Ladens, dem mutmaßlichen Drahtzieher hinter den Anschlägen vom 11. September 2001. Zwei Tage nach diesem Ereignis stellte die New York Times fest: „The killing of Osama bin Laden provoked a host of reactions from Americans: celebration, triumph, relief, closure and renewed grief“. 4 Wenn man einmal vom erneuten Gedenken an 9/11 absieht, waren die kollektiven Gefühle, die die Amerikaner gegenüber der Tötung von Osama bin Laden hegten – zumindest dem Artikel zufolge – durchweg 4
„The Torture Apologists“, The New York Times, 4. Mai 2011.
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positiver Natur. Der erfolgreiche Militärschlag war für die Amerikaner ein Grund zu feiern – nicht umsonst trafen Glückwünsche aus aller Welt bei den Amerikanern und ihrem Präsidenten ein.5 Mit dem Tod des Antagonisten, der zugleich einen heldenhaften Triumph für die Amerikaner darstellte, fand die Erzählung vom Krieg gegen den Terror dann doch noch ein glückliches und stimmiges Ende. Nach bin Ladens Tod kam es in den Vereinigten Staaten zu einem kurzen Wiederaufflackern der Folterdebatte, was einen zentralen Punkt dieser Untersuchung berührt. War die Wirkung von Abu Ghraib auf den Folterdiskurs doch nicht so tiefgreifend und nachhaltig, wie es zunächst den Anschein hatte? Präsident Obama führte die erfolgreiche Aufspürung von Osama bin Laden auf die Geheimdiensttätigkeit während seiner Administration und die Unterstützung durch Informanten zurück. Unter den Republikanern gab es allerdings Stimmen, die behaupteten, dass entscheidende Informationen, die nach Jahren zum Aufenthaltsort von bin Laden geführt hatten, den „harsh interrogation techniques“ der Bush-Regierung zu verdanken waren. Diese Stimmen stießen allerdings auf wenig Gehör. Ihre Mutmaßungen schienen zum einen auf reiner Spekulation zu beruhen, zum anderen liefen sie dem neuen gesellschaftlichen Konsens nach Abu Ghraib zuwider.6 Das Narrativ war nicht plausibel genug, um sich vor dem Hintergrund von Abu Ghraib behaupten zu können. Der republikanische Abgeordnete Robert T. King, der von der Wirksamkeit der verschärften Verhörmethoden unter Bush überzeugt war, äußerte sich gegenüber dem Wall Street Journal folgendermaßen: „The limits should be relaxed but, unfortunately, I believe it’s a closed chapter“.7 Damit sollte er, bis auf weiteres, Recht behalten. Die Tötung von Osama bin Laden ermöglichte so eine narrative Schließung des Krieges gegen den Terror und führte nicht zu einer Abkehr von dem nach Abu Ghraib beschrittenen Weg in der Folterdebatte. Damit besitzt eine zentrale These dieser Studie, nämlich dass der Abu-Ghraib-Skandal zu einem nachhaltigen und tiefgreifenden Wandel im Folterdiskurs geführt hat, nach wie vor ihre Gültigkeit. Von einer Beendigung des Krieges gegen den Terror durch die ObamaAdministration kann allerdings nur eingeschränkt gesprochen werden: Sowohl die gezielte Tötung von Menschen durch Drohnen als auch das amerikanische Internetüberwachungsprogram werden mit der terroristischen Bedrohung gerechtfertigt.
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Nach Angela Merkels freudiger Reaktion auf die Nachricht wurde in Deutschland debattiert, ob man sich über die (unrechtmäßige) Tötung eines Menschen freuen dürfe.
6
Dass bloße Mutmaßungen in einem anderen politischen Klima durchaus ausreichen können, um öffentliche Zustimmung zu gewinnen, zeigen nicht zuletzt die unauffindbaren „weapons of mass destruction“, die den Irakkrieg von 2003 legitimierten (6.5).
7
„Debate rekindled on Guantanamo“, The Wall Street Journal, 4. Mai 2011.
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4. Theoretische Implikationen – Plädoyer für eine Kultursoziologie In dieser Analyse des Abu-Ghraib-Skandals hat sich der kultursoziologische Zugang als außerordentlich fruchtbar erwiesen. So konnte gezeigt werden, dass nicht nur die Interessen einzelner Akteure für die Entstehung und den Verlauf des Skandals entscheidend waren, sondern das öffentliche Interesse bzw. die kollektiven Emotionen, die sich vor dem kulturellen Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft bilden konnten. Das Handeln einzelner Akteure kann ebenfalls nicht losgelöst von kulturellen Narrativen verstanden werden. Dies gilt für die Politiker und Journalisten, die nach dem 11. September 2001 eine Aufweichung des Folterverbotes befürworteten, aber auch für die Täter von Abu Ghraib, die sich freiwillig zur Armee meldeten und ihre Tätigkeit als individuellen Beitrag zum Krieg gegen den Terror begriffen. Gerade der Wandel vom moralischen Tabu zum ökonomischen Kalkül der Folter, der dem Aufstieg des Ticking-Bomb-Narratives geschuldet ist, zeigt, dass die Rationalität des Handelns immer kulturell eingebettet ist. An einer handlungstheoretischen Mikrofundierung von makrosoziologischen Phänomenen führt auch in der Kultursoziologie kein Weg vorbei – sonst lässt sich die Logik und Wirksamkeit von diskursiven Strukturen und kulturellen Mustern nur schwer verständlich machen. Im Rahmen der hier vorgeschlagenen Konzeption des „kulturellen Hintergrundes“ lässt sich Kultur in den vorbewussten, mentalen Strukturen der Akteure verorten. Der im ersten Kapitel unternommene Versuch einer Rückbindung der Kultursoziologie an eine angemessene Handlungstheorie ist allerdings nicht mehr als ein Anfang: Die handlungstheoretische Fundierung der Kultursoziologie ist weiter voranzureiben; die Kategorie der Kultur muss differenziert, der Begriffsapparat geschärft und die interpretativen Methoden weiterentwickelt werden. Die empirische Fallstudie hat gezeigt, dass die Annahme eines kulturellen Hintergrundes der kausalen Wirksamkeit von Kultur Rechnung zu tragen vermag – obgleich Kausalität hier weder als deterministisches Verhältnis von Ursache und Wirkung noch als deduktiv-nomologischer Zusammenhang gedeutet werden darf. Die Konzeption des kulturellen Hintergrundes als einem komplementären Verhältnis von symbolischer Ordnung und sozialem Imaginären hat sich in der Analyse des Abu-Ghraib-Skandals ebenfalls bewährt. Während die symbolische Ordnung ein „Gerüst“ darstellt, an dem sich das Handeln des Einzelnen orientiert, ist das diffuse soziale Imaginäre die eigentliche „Quelle“ aller Bedeutung. Symbolischen Ordnungen und Zeichensysteme beruhen auf dem Magma des sozialen Imaginären. Die Signifikanten treiben auf dem imaginären Bedeutungssubstrat, wechseln ihre Bedeutungen, bevor sie wieder von jener amorphen Masse verschlungen werden. Das beste Indiz für die Eigenständigkeit des Imaginären ist der Begriff der „Folter“. Dieser erfuhr nach dem 11. September 2001 (6.4) und dann noch einmal infolge des Abu-Ghraib-Skandals einen grundlegenden Bedeutungswandel (10.4). Solange Folter noch mit dem Ticking-Bomb-Narrativ und medizinisch kontrollierten Praktiken assoziiert werden konnte, konnte sie in bestimmten Fällen als „geboten“ erscheinen.
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Die Performanzen und Bilder von Abu Ghraib setzten sich jedoch an die Stelle des fiktiven Ticking-Bomb-Narratives und führten so zu einer grotesken Imagination der Folter (7.5), die den Begriff nachhaltig verunreinigte. Die im zweiten Kapitel diskutierten Formen der kulturellen Repräsentation – Bild, Erzählung und Performanz – sind zunehmend in das Interesse kultursoziologischer Forschungen gerückt. 8 Auch hier ist noch viel zu tun. Die Kultursoziologie kann, wie wir gesehen haben, von der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Disziplinen – mit der Kunstgeschichte und der Bildwissenschaft, mit der Literaturwissenschaft und der Narratologie, mit der Anthropologie und der Theaterwissenschaft – etwa durch die Aneignung neuer Begriffe und Methoden durchaus profitieren. Dies bedeutet nicht zuletzt: Sie muss ihre Fragestellungen und den gewählten theoretischen Rahmen immer wieder aufeinander abstimmen. Zudem würde es sich lohnen, der wechselseitigen Interdependenz von elementaren Formen der kulturellen Repräsentation eine stärkere Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen: Jede Performanz besitzt auch ikonische und narrative Elemente; der Akt des Erzählens ist selbst eine Performanz, die beim Zuhörer oder Leser mentale Bilder evoziert; Bilder können Geschichten erzählen und zeichnen sich ebenfalls durch Performativität aus. Aufgabe einer künftigen Kultursoziologie wäre es, die Vielfalt dieser Formen der Repräsentation zu erfassen und ihren inneren Zusammenhang aufzuzeigen. Die in dieser Untersuchung zu Tage getretene Bedeutung des Visuellen und Emotionalen für zivilgesellschaftliche Diskurse sollte Soziologen zu denken geben. Öffentliche Diskurse sind nicht so „kühl“ und „rational“ wie die „herrschaftsfreien“ Diskurse des Jürgen Habermas, sondern werden von Affekten, Symbolen und polarisierenden Codes getrieben. Erst die Fotografien von Abu Ghraib gaben den abstrakten Anschuldigungen eine konkrete, Anstoß erregende Form, die es vermochte, beim Betrachter Abscheu und Scham zu erregen. Sie waren nicht nur ein Beweis für die Taten der Soldaten, sondern zugleich auch kulturell codiert und mit Bedeutungen aufgeladen. Nur deswegen waren die Bilder in der Lage, einen Skandal auszulösen, der Abu Ghraib zu einem symbolisch verunreinigten Symbol werden ließ, das auch noch nach Jahren wirksam ist. Ohne ein strong program der Kultursoziologie,9 das der Autonomie kultureller Faktoren Rechnung trägt, lassen sich bestimmte Phänomene der Gegenwartsgesellschaft nicht begreifen. Die vorliegenden Ergebnisse stützen den Befund, dass die Risiken gesellschaftlichen Handelns, dessen unintendierten und kaum antizipierbaren Folgen, gegen-
8
Vgl. vor allem die Arbeiten von Bernhard Giesen (2004b, 2010) und die zusammen mit Jeffrey C. Alexander und seinen Schülern herausgegebenen Sammelbände (2006; 2012).
9
Der Begriff des „strong program“ wurde von David Bloor (1976) zur Charakterisierung seines Ansatzes in der Wissens- und Wissenschaftssoziologie verwendet, und später von Jeffrey C. Alexander und Philip Smith (2001) in die Kultursoziologie importiert.
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über scheinbar „objektiven“ Gefahren an Bedeutung gewonnen haben. 10 Für sich genommen stellen terroristische Anschläge – wie jene vom 11. September 2001 – keine Gefahr für moderne Staaten dar. Die verheerende Wirkung des Terrorismus liegt vielmehr darin, Angst und Schrecken zu verbreiten. 9/11 war in erster Linie ein Anschlag auf die kollektive Psyche und das soziale Imaginäre der amerikanischen Gesellschaft. Die kollektive Reaktion auf terroristische Anschläge birgt Risiken, die an Gefährlichkeit deren unmittelbaren Folgen übertreffen. Die Antwort der Vereinigten Staaten auf den 11. September 2001, der Krieg gegen den Terror, barg große Risiken – in militärischer, ökonomischer und rechtlicher Hinsicht. Symptomatisch ist die Behandlung von Gefangenen im Krieg gegen den Terror, die für viele Beobachter das amerikanische Rechts- und Wertesystem zu unterminieren drohten. Aber auch die ökonomischen Kosten für „homeland security“ und die Kriege in Afghanistan und Irak übertrafen den Schaden der Anschläge um ein Vielfaches. Der Krieg gegen den Terror hat einen vorläufigen Abschluss gefunden. Er wurde von den neueren Wirtschaftskrisen abgelöst, die die Bedrohung durch den Terrorismus in den Hintergrund haben treten lassen. Auch die Finanz- und Haushaltskrisen der Gegenwart sind in erster Linie diskursiv erzeugte Phänomene, die reale Wirkungen zeitigen. Der Verlauf ökonomischer und politischer Krisen wird nicht nur von „harten“ Faktoren determiniert, sondern hängt in erheblichem Maße von ihrer kulturellen Rahmung ab. Ein strong program der Kultursoziologie, wie es von Jeffrey C. Alexander und Philip Smith vorgeschlagen wurde, ist – wie nicht zuletzt die vorliegende Arbeit zeigt – für ein angemessenes Verständnis unserer Gegenwartsgesellschaften schlichtweg unverzichtbar. Die Kultursoziologie als soziologisches Paradigma mag, insbesondere in Deutschland, auf eine lange Tradition zurückblicken können, aber die gegenwärtigen Entwicklungen deuten darauf hin, dass ihre Zeit gerade erst begonnen hat. In der postindustriellen Mediengesellschaft gewinnen die „means of symbolic production“ (Alexander) gegenüber den klassischen Produktionsmitteln immer mehr an Bedeutung – und das in allen Bereichen der Gesellschaft. Modernes Marketing ist angewandte Kultursoziologie, ebenso wie der Einsatz von „spin doctors“ in amerikanischen Wahlkämpfen. Die gegenwärtige Gesellschaft bietet ein weites Betätigungsfeld für Kultursoziologen – auch wenn es in der kultursoziologischen Theorie noch einige wichtige Baustellen gibt. Dies sollte uns aber nicht abschrecken, sondern als Ansporn dienen: Cultural sociology is now!
10 Diesen Wandel von Gefahren zu Risiken hat neben Luhmann (2003) vor allem Ulrich Beck (1992, 2008) in seinen Arbeiten zur reflexiven Modernisierung konstatiert. Allerdings wurde Beck von kultursoziologischer Seite vorgeworfen, dass er diese Risiken wiederum in unzulässiger Weise objektiviere, ohne der kulturellen Rahmung von Risiken in ausreichendem Maße Rechnung zu tragen (Alexander & Smith 1996).
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Kultur und soziale Praxis Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung Januar 2014, ca. 250 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2402-1
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Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Urbane Jugendbewegungen Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt März 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2130-3
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Kultur und soziale Praxis Lars Alberth Die Fabrikation europäischer Kultur Zur diskursiven Sichtbarkeit von Herrschaft in Europa November 2013, 260 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2554-7
Sonja Buckel »Welcome to Europe« – Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts Juridische Auseinandersetzungen um das »Staatsprojekt Europa« September 2013, 372 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2486-1
Mario Schmidt Wampum und Biber: Fetischgeld im kolonialen Nordamerika Eine maussche Kritik des Gabeparadigmas Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2526-4
Caroline Schmitt, Asta Vonderau (Hg.) Transnationalität und Öffentlichkeit Interdisziplinäre Perspektiven April 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2154-9
Ayla Güler Saied Rap in Deutschland Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen
Anett Schmitz Transnational leben Bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler zwischen Deutschland und Russland
Januar 2013, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2251-5
Oktober 2013, 294 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2328-4
Ewa Palenga-Möllenbeck Pendelmigration aus Oberschlesien Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas Januar 2014, ca. 390 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2133-4
Simon Reitmeier Warum wir mögen, was wir essen Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung
Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus August 2013, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2089-4
Hannes Schammann Ethnomarketing und Integration Eine kulturwirtschaftliche Perspektive. Fallstudien aus Deutschland, den USA und Großbritannien
Mathias Wagner, Kamila Fialkowska, Maria Piechowska, Wojciech Lukowski Deutsches Waschpulver und polnische Wirtschaft Die Lebenswelt polnischer Saisonarbeiter. Ethnographische Beobachtungen
April 2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2428-1
November 2013, 254 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2333-8
Mai 2013, 392 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2335-2
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