Abschied von der Lebenswelt?: Zur Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungsansätze 9783495808160, 9783495487556


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Tobias Müller / Thomas M. Schmidt: Einleitung
Stephan Grätzel: Naturalismus als Glaube
Einleitung
1. Der Naturalismus als Glaubensform
2. Die grundsätzlichen Glaubensformen
3. Der naive Seinsglaube des Naturalismus
4. Die Gründe für den naturalistischen Glauben
5. Gültigkeit und Versprechen des naiven Seinsglaubens
Literatur
Tobias Müller: Naturwissenschaftliche Perspektive und menschliches Selbstverständnis
1. Zur Spannung von Lebenswelt und naturwissenschaftlicher Perspektive
2. Die naturwissenschaftliche Erkenntnis als abstrahierende und idealisierende Perspektive
2.1 Die pragmatische Festlegung der Fragestellung in den Naturwissenschaften
2.2 Die Ceteris-Paribus-Klauseln der naturwissenschaftlichen Gesetze
2.3 Zur Verwendung von Modellen in den Naturwissenschaften
3. Zu Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit einer lebensweltlichen Perspektive
3.1 Die experimentelle Handlung als Voraussetzung der Forschungspraxis
3.2 Wissenschaftspraxis und lebensweltliche Subjektkonzeption
Literatur
Uwe Meixner: Die Widerlegung des Naturalismus aus lebensweltlicher Vernunft
Literatur
Wolf-Jürgen Cramm: Intentionalität als natürliche Eigenschaft versus Intentionalität als verantwortliche Stellungnahme
I.
II.
III.
Literatur
Matthias Jung: Lebenserfahrung – Wissenschaft – Weltanschauung
Literatur
Anton Friedrich Koch: Die Unhintergehbarkeit der Lebenswelt, die Abstraktheit der Physik und die Unfundiertheit der Einbildungskraft
Literatur
Stefan Bauberger: Das scheinbar unschuldige Projekt der formalisierten Sprache in der Philosophie
1. Vorbemerkungen
2. Erster Schritt: Kant und das transzendentale Subjekt
3. Zwischenbemerkung: Objektivierung und Lebenswelt
4. Zweiter Schritt: Frege und die Russell-Antinomie
5. Schwarze Raben
6. Dritter Schritt: Das Gödel-Theorem
7. Schlussfolgerung
Literatur
Thomas Fuchs: Hirnwelt oder Lebenswelt?
1. Einleitung: Naturalisierung und Virtualisierung
2. Leibliches In-der-Welt-Sein: Die Koextension von Leib und Körper
3. Der Ort des Schmerzes
4. Resümee: Lebenswelt und Neurowissenschaften
Literatur
Hans-Dieter Mutschler: Lebensweltliche und physikalische Kausalität
Literatur
Gregor Schiemann: Persistenz der Lebenswelt?
1. Verwissenschaftlichung und ihre Gegentendenzen
a) Verwissenschaftlichung der Lebenswelt
b) Lebensweltliche Gegentendenzen
c) Gleichrangigkeit der beiden Tendenzen
2. Lebenswelt als begrenzter Erfahrungsbereich
a) Wahrnehmung
b) Aufschichtungen
c) Kontingenz
3. Persistenz der Lebenswelt
a) Abstand zur Wissenschaft
b) Verhältnis zur Technik
4. Schluss
Literatur
Michael Hampe: Wissenschaft, Philosophie und die Geschichte des Wissens
Zusammenfassung
1. Einleitung
2. Galileische Wissenschaft, Lebenswelt, manifestes und wissenschaftliches Weltbild
3. Zeitverhältnisse
4. Probleme der Wissensgeschichte
5. Vier kritische Bemerkungen
Literatur
Autoren und Herausgeber
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Abschied von der Lebenswelt?: Zur Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungsansätze
 9783495808160, 9783495487556

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Tobias Müller Thomas M. Schmidt (Hg.)

Abschied von der Lebenswelt? Zur Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungsansätze

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495808160

.

B

Tobias Müller / Thomas M. Schmidt (Hg.) Abschied von der Lebenswelt?

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Die Herausgeber: Tobias Müller, geb. 1976, ist Dozent für Natur- und Religionsphilosophie an der Hochschule für Philosophie München. Thomas M. Schmidt, geb. 1960, ist Professor für Religionsphilosophie am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Frankfurt.

https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Tobias Müller Thomas M. Schmidt (Hg.)

Abschied von der Lebenswelt? Zur Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungsansätze

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Mit freundlicher Unterstützung des Instituts für Religionsphilosophische Forschung der Goethe Universität Frankfurt und der NoMaNi-Stiftung

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48755-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80816-0

https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Tobias Müller / Thomas M. Schmidt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Stephan Grätzel Naturalismus als Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Tobias Müller Naturwissenschaftliche Perspektive und menschliches Selbstverständnis. Eine wissenschaftsphilosophische Analyse zur Unverzichtbarkeit lebensweltlicher Qualitäten. . . . . . . . . .

31

Uwe Meixner Die Widerlegung des Naturalismus aus lebensweltlicher Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Wolf-Jürgen Cramm Intentionalität als natürliche Eigenschaft versus Intentionalität als verantwortliche Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . .

68

Matthias Jung Lebenserfahrung – Wissenschaft – Weltanschauung. Eine pragmatistische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Anton Friedrich Koch Die Unhintergehbarkeit der Lebenswelt, die Abstraktheit der Physik und die Unfundiertheit der Einbildungskraft . . . . . . .

111

5 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Inhalt

Stefan Bauberger Das scheinbar unschuldige Projekt der formalisierten Sprache in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136

Thomas Fuchs Hirnwelt oder Lebenswelt? Zur Kritik des Neurokonstruktivismus . . . . . . . . . . . . .

147

Hans-Dieter Mutschler Lebensweltliche und physikalische Kausalität . . . . . . . . . .

165

Gregor Schiemann Persistenz der Lebenswelt? Das Verhältnis von Lebenswelt und Wissenschaft in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

Michael Hampe Wissenschaft, Philosophie und die Geschichte des Wissens. Husserls Konzept der Lebenswelt und Sellars’ Idee der synoptischen Vision von manifestem und wissenschaftlichem Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

6 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Vorwort

Der enorme Erfolg der Naturwissenschaften führte in der philosophischen und gesellschaftlichen Diskussion zu der vorherrschenden Auffassung, dass alles Wesentliche in der Welt naturwissenschaftlich erfasst werden könne. Das mit der naturwissenschaftlichen Perspektive einhergehende Naturverständnis lässt sich wesentlich dadurch charakterisieren, dass Natur nun nur noch als bloße Abfolge eines physischen Geschehens aufgefasst wird, das rein kausal beschrieben werden kann. Dieser reduktive Naturalismus steht in Spannung mit dem lebensweltlichen Selbstverständnis des Menschen, in dem der Mensch als Subjekt aufgefasst wird, das nicht allein von rein kausalen Faktoren bestimmt ist, sondern zumindest prinzipiell dazu fähig ist, seine Handlungen an rationalen Gründen zu orientieren. Dieser Band setzt sich daher das Ziel, die aktuelle Diskussion um die Bedeutung und Stellung der Lebenswelt angesichts der Verabsolutierung des naturwissenschaftlichen Erklärungsanspruchs unter verschiedenen Perspektiven neu zu beleuchten und systematisch weiterzuführen. Als Inspiration für diese Aufgabe diente eine Konferenz, die im Rahmen einer Veranstaltungsreihe des Instituts für Religionsphilosophische Forschung (IRF) der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt stattgefunden hat. Ausgehend von den anregenden Eindrücken der Konferenz wurde das Konzept für diesen Sammelband so erweitert, dass klassische Positionen und die Herausforderungen der aktuellen Debatte fruchtbar aufeinander bezogen werden. Für die finanzielle Unterstützung sind wir dem IRF und der NoMaNi-Stiftung zu Dank verpflichtet. Dem Verlag Karl Alber danken wir für die Aufnahme des Bandes in das Verlagsprogramm. Die Herausgeber

Frankfurt, im Mai 2015 7 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Einleitung Tobias Müller / Thomas M. Schmidt

Nichts scheint uns selbstverständlicher als unser Eingebettetsein in lebensweltliche Strukturen. Diese dienen auch als Basis für ein Selbstverständnis, das für unser »klassisches« Menschenbild konstitutiv ist: In selbstverständlicher Weise erfahren wir uns in Sinnstrukturen eingebettet, die unseren Umgang mit Mitmenschen, Natur und Welt anhand von Zielen, Werten und Zwecken prägen. Diese Einbettung menschlicher Subjektivität erscheint als unbefragte Grundlage aller lebensweltlichen Bezüge und bleibt so letztlich unhintergehbar für unser gesamtes menschliches Handeln. Mögen wir auch als psychophysische Wesen in kausal-funktionale Lebensvollzüge eingebettet sein, so setzen doch viele lebensweltliche Handlungspraxen eine Normativität voraus, die es erfordert, dass wir uns in unseren Handlungen an rationalen Zwecken und Gründen orientieren, so dass wir uns hier nicht als rein wirkursächlich bestimmt verstehen können. Das skizzierte Selbstverständnis ist mit dem enormen Erfolg der Naturwissenschaften immer mehr in Frage gestellt worden, weil sich gemäß dem dort vorherrschenden reduktionistischen Wissenschaftsparadigma letztlich alle Wirklichkeit und damit auch alle lebensweltlichen Bezüge als Produkt rein kausaler Interaktion physikalischer oder physiologischer Strukturen darstellen lassen. Dadurch kommen als Ursachen generell nur noch physikalisch erfassbare Strukturen in Betracht, die allein durch die entsprechenden Naturgesetze vollständig beschrieben werden können. Ausgangspunkt für diese Überzeugung war die seit dem 19. und vor allem 20. Jahrhundert immer detaillierter und präziser werdende kausal-funktionale Beschreibung der quantifizierbaren Aspekte der Natur, die zugleich auch die Grundlage für eine erfolgreiche technische Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse bildete. Beide Aspekte führten zu der vor allem in öffentlichen Diskus9 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Tobias Müller / Thomas M. Schmidt

sionen vorherrschenden Auffassung, dass alles Wesentliche in der Welt naturwissenschaftlich erfasst werden könne. Umgekehrt wird dasjenige, was sich einer naturwissenschaftlichen Analyse entzieht, als etwas Unwesentliches oder als Erscheinung charakterisiert, die nicht nur in irgendeiner Form von naturwissenschaftlich erfassten Strukturen abhängt, sondern die sich vollständig auf diese Strukturen zurückführen lässt. Damit tendiert die heutige Diskussion zu der Annahme, dass es sich bei der naturwissenschaftlichen Beschreibung der Welt nicht nur um eine wichtige funktionale Analyse handelt, sondern dass es sich dabei auch um die wesentlichen Beschreibungen handelt, mit denen alle Phänomene der Welt, insbesondere auch diejenigen unserer Subjektivität, restlos erklärt werden können. Der aus dieser Verabsolutierung des naturwissenschaftlichen Wirklichkeitszugangs resultierende reduktionistische Naturbegriff birgt für das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen daher eine enorme Brisanz. Denn es ist ein charakteristisches Merkmal naturwissenschaftlicher Beschreibung, Natur als bloße Abfolge eines Geschehens aufzufassen, das rein kausal beschrieben werden kann. Somit ist von diesem reduktionistischen Totalitätsanspruch auch der Mensch mit seinen Fähigkeiten betroffen, da für genuine Qualitäten der Lebenswelt kein Platz in der funktional-kausalen Beschreibung bleibt. Dimensionen des Mensch- und Personseins erscheinen in diesem Licht nur noch als kausales Produkt der zugrundeliegenden materiellen Konstellationen. Somit tritt an die Stelle des Menschen mit seinen geistigen Fähigkeiten und seelischen Dispositionen als eines handelnden Subjekts ein materielles Substrat, das vollständig von physikalischen oder physiologischen Gesetzen bestimmt ist. Nicht zuletzt an der neurowissenschaftlichen Debatte um Willensfreiheit und über die Notwendigkeit eines neuen Menschenbildes wird die gesellschaftliche Relevanz des szientistischen Naturbegriffs hinsichtlich der menschlichen Lebenswelt besonders deutlich. Denn in den letzten Jahren förderten die Neurowissenschaften Erkenntnisse zutage, die für das Selbstverständnis des Menschen von großer Tragweite zu sein scheinen. Allerdings ist die entscheidende und aktuell sehr unterschiedlich beantwortete Frage, wie weit die Konsequenzen neurobiologischer Ergebnisse auch für die Konzeption einer Bewusstseinstheorie und damit gleichzeitig für das Selbstverständnis des Menschen reichen. In reduktionistischer Perspektive 10 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Einleitung

herrschen die Gesetze und Annahmen der physikalischen und neurophysiologischen Ebene vor, so dass »klassische« Konzepte der Lebenswelt wie Bewusstsein und Willensfreiheit angesichts des mit den empirischen Neurowissenschaften einhergehenden Determinismus und des Primats einer physikalistischen Ontologie als epiphänomenal oder gar gänzlich obsolet erscheinen. In dieser Perspektive müssen lebensweltliche Phänomene – sollen sie überhaupt eine Relevanz besitzen – in einer reduktionistischen Ontologie formulierbar sein, so dass die Lebenswelt in eine vermeintlich allein ausschlaggebende wissenschaftliche Perspektive gerückt ist. An der Aufforderung einiger Hirnforscher, wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, wird die gesellschaftliche Brisanz der Thematik offenkundig, da es politisch, juristisch und sozial offensichtlich folgenreich ist, ob man sein Gegenüber als determinierte Biomaschine oder – zumindest prinzipiell – als frei handelndes Subjekt ansieht. Letztlich hängt der Umgang der Menschen miteinander eben wesentlich auch von den theoretischen Hintergrundkonzepten ab. Dies zeigt sich beispielsweise an dem Vorstoß einiger Strafrechtler, unter Berufung auf bestimmte Interpretationen neurowissenschaftlicher Ergebnisse die grundlegenden Konzepte der Verantwortung und der Schuld abschaffen zu wollen, oder in der Tendenz der Psychiatrie, als Auslöser seelischer Erkrankungen nur noch physiologische Ursachen anzuerkennen und sie somit ausschließlich pharmakologisch zu behandeln. Allerdings wird in der bisherigen Reduktionismusdebatte übersehen, dass sich ein solcher Reduktionismus nicht aus der naturwissenschaftlichen Forschung selbst ergibt. Vielmehr stellt er eine darüber hinausgehende, totalisierende Interpretation dar, die sich bei genauerer Analyse schon aus methodischen Gründen als nicht haltbar erweist. Während sich Vertreter dieser reduktionistischen Sicht meist darauf berufen, dass die Ergebnisse der Naturwissenschaften gar keine andere vernünftige Schlussfolgerung als die der Reduktion zuließen, muss wissenschaftsphilosophisch demgegenüber darauf hingewiesen werden, dass sich die Stärke der naturwissenschaftlichen Perspektive ihren methodischen Voraussetzungen verdankt, die zugleich ihre Reichweite begrenzen. Da das reduktionistische Paradigma im Zuge der großen Erfolge der Naturwissenschaften oft unkritisch übernommen wurde, verwundert es nicht, dass in der aktuellen philosophischen und gesell11 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Tobias Müller / Thomas M. Schmidt

schaftlichen Debatte eine grundlegende Auseinandersetzung mit den weitreichenden Ansprüchen des reduktionistischen Programms weitgehend ausblieb. Zwar wurden einzelne Aspekte der naturwissenschaftlichen Forschung hinsichtlich des Menschenbildes diskutiert, aber nach wie vor fehlt eine fundamentale und umfassende Verhältnisbestimmung von Lebenswelt und naturwissenschaftlicher Perspektive, in der auch die methodischen Voraussetzungen der Naturwissenschaften samt ihrer Forschungspraxis mitbedacht werden. Nur eine solche könnte die Reichweite, aber auch die prinzipiellen Grenzen der naturwissenschaftlichen Perspektive methodisch fundiert aufzeigen. Durch eine solche Analyse lässt sich zeigen, dass Naturwissenschaften Wirklichkeit aus methodischen Gründen immer unter einer bestimmten Perspektive und unter bestimmten Bedingungen beschreiben. Die methodische Verfasstheit naturwissenschaftlicher Forschung garantiert so, dass nur diejenigen Aspekte der Natur thematisiert werden, die für die jeweilige Fragestellung relevant sind. Somit erweist sich die Frage nach den methodischen Voraussetzungen als zentraler Dreh- und Angelpunkt der Diskussion um eine reduktionistische bzw. nicht-reduktionistische Deutung in Bezug auf die Lebenswelt: 1. Durch eine Analyse dieser methodischen Voraussetzungen wird zum einen deutlich, dass die naturwissenschaftliche Perspektive prinzipiell von bestimmten Qualitäten absehen muss, um zu funktional-kausalen Aussagen zu kommen. Die methodischen Voraussetzungen garantieren somit zwar einerseits durch die pragmatische Festlegung der Fragestellung und der zu ihrer Beantwortung eingesetzten Methode Exaktheit und hohe intersubjektive Überprüfbarkeit, legen die naturwissenschaftliche Forschung andererseits aber auf eine bestimmte Perspektive der Wirklichkeitserkenntnis fest. Andere Qualitäten der Wirklichkeit werden dadurch methodisch und systematisch ausgeblendet. Ist diese Ausblendung für bestimmte Beschreibungszwecke auch methodisch notwendig und sinnvoll – beispielsweise um die für technische Umsetzung notwendigen kausal-funktionalen Aspekte der Natur ausfindig zu machen –, so führt ihre methodisch nicht legitimierbare Verabsolutierung in anderen Hinsichten in große Schwierigkeiten. Berücksichtigt man die Konsequenzen dieser methodischen Verfasstheit der Naturwissenschaften nicht hinreichend, führt dies zu einem verabsolutierten Anspruch der 12 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Einleitung

naturwissenschaftlichen Perspektive und mündet schließlich in einen szientistischen Naturbegriff bzw. in ein reduktionistisches Wirklichkeitskonzept, das sich mit zahlreichen erkenntnistheoretischen, naturphilosophischen und ontologischen Schwierigkeiten konfrontiert sieht. 2. Ergeben sich aus diesen Überlegungen schon Gründe für die Nicht-Reduzierbarkeit der Lebenswelt, so lässt sich gerade aufgrund der Analyse der methodischen Voraussetzungen der naturwissenschaftlichen Perspektive ihr Verhältnis zur Lebenswelt noch genauer bestimmen. Dabei zeigt gerade die wissenschaftliche Forschungspraxis als normativer Handlungszusammenhang, dass bestimmte lebensweltliche Qualitäten notwendige Bedingung für das Betreiben von Wissenschaft sind, die nicht auf materiell-kausale Bestimmungen zurückgeführt werden können. Entpuppt sich beispielsweise Experimentieren als notwendige Voraussetzung von empirischer Wissenschaft als ein geplantes Handeln zur Herstellung von Zuständen und Verläufen, die ohne menschliches zweckgerichtetes Handeln gar nicht zustande gekommen wären, so lässt sich Experimentieren nur als normative Handlungspraxis sinnvoll begreifen, deren Teilhandlungen ge- oder misslingen und richtig oder falsch vollzogen werden können. Dieses zweckgerichtete Handeln als Voraussetzung der experimentellen Handlung ist aber nicht mit einem reduktionistischen Ansatz vereinbar, demzufolge alle Phänomene letztlich mit einer physikalischen Mikroerklärung (»fundamentale« Entitäten erklären alle »höheren« Phänomene) erfassbar und somit in kausal-funktionalen Kategorien explizierbar sein sollen: Denn auf der Ebene der bloßen Naturabläufe gibt es keine Normativität, die als Kriterium für das Ge- oder Misslingen wissenschaftlicher Experimenthandlungen fungieren könnte. Wird auch der Wissenschaft treibende Forscher nur noch als Konglomerat von Kausalstrukturen aufgefasst, lassen sich die als normativ vorauszusetzenden Vermögen nicht mehr innerhalb des reduktionistischen Paradigmas angemessen erklären. Beide Aspekte, die Perspektivität naturwissenschaftlicher Erkenntnis und die Normabhängigkeit experimentellen Handelns, machen deutlich, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis auf einer Kulturleistung basiert, in der lebensweltliche Bezüge und Fähigkeiten immer schon vorausgesetzt werden müssen. 13 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Tobias Müller / Thomas M. Schmidt

Schon innerhalb der Wissenschaftspraxis verweisen somit die methodischen Bedingungen von Wissenschaft in der Person des Forschers auf einen lebensweltlichen Subjektbezug: Dies lässt sich beispielsweise daran erkennen, dass die Auswahl der modellierten Aspekte eines Phänomens sich nicht aus der Theorie ergibt, sondern von dem Forschungsinteresse des jeweiligen Forschers bzw. der Forschungscommunity abhängig ist. Somit wird aufgrund des damit verbundenen rationalen Abwägens von Interessen wiederum ein umfassenderes Subjektkonzept vorausgesetzt. Noch deutlicher wird der Bezug der naturwissenschaftlichen Perspektive zur Lebenswelt durch die der Wissenschaftspraxis innewohnende Normativität. Denn ist es gerade das Merkmal des Naturverständnisses der modernen Naturwissenschaften, dass Natur als bloße Abfolge eines Geschehens aufgefasst wird, das rein kausal beschrieben werden kann. Damit setzt die Wissenschaft zur Herstellung dieser Perspektive eine Normativität für die beteiligten Forscher voraus, die als Subjekte entsprechende Vermögen besitzen müssen. Daher verweist die naturwissenschaftliche Forschungspraxis schon von sich aus auf die vorwissenschaftliche, lebensweltliche Erfahrung, die für jene Praxis konstitutiv ist. Diese wissenschaftsphilosophische Skizze deutet schon das komplexe Verhältnis von Lebenswelt und Naturwissenschaft an. Gerade der aus reduktionistischer Perspektive erhobene Totalitätsanspruch des naturwissenschaftlichen Erklärungsansatzes führt also letztlich zu folgenden unumgänglichen Fragen: • Wie verhalten sich Naturwissenschaft und Lebenswelt zueinander? • Welche Reichweite ist der naturwissenschaftlichen Perspektive prinzipiell zuzusprechen? • Was können naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu unserem Weltbild beitragen? • Welche Rolle kommt der Lebenswelt dabei zu? Das Buchprojekt hat zum Ziel, das Verhältnis von Lebenswelt und naturwissenschaftlicher Perspektive und die scheinbar daraus resultierenden reduktionistischen Schlussfolgerungen kritisch und unter Berücksichtigung wissenschaftstheoretischer, erkenntnistheoretischer, phänomenologischer und transzendentalphilosophischer Überlegungen unter verschiedenen Perspektiven zu beleuchten.

14 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Naturalismus als Glaube Stephan Grätzel

Einleitung Der Begriff Naturalismus umfasst eine Vielzahl von Weltanschauungen, die nicht unter ein allgemeines und für alle zutreffendes Konzept gestellt werden können. In der vorliegenden Studie wird eine – allerdings herrschende – Version behandelt, die alle Vorgänge der Natur auf solche Naturgesetze zurückführt, die der klassischen Physik Newtons unterstehen. Der Naturalismus in dieser Form gehört zur Weltanschauung des 19. Jahrhunderts, die erstens glaubte, Natur kausal verstehen zu können, und die zweitens glaubte, dieses kausale Wissen auf das menschliche Selbstverständnis übertragen zu können. Obwohl diese Methode wissenschaftlich überholt ist, findet sie immer noch und immer mehr Zustimmung gerade auf populärwissenschaftlicher Ebene. Der Grund liegt darin, dass dieser Naturalismus zugleich einen anti-religiösen, genauer einen anti-kreationistischen Impetus hat und damit zunächst ein speziell amerikanisches Problem ins Auge fasst. Die Tatsache, dass Autoren wie etwa Daniel C. Dennett, Edward O. Wilson oder der gerade in den USA erfolgreiche Richard Dawkins dort eine breite Zustimmung erfahren, verdankt sich dieser indirekten Zustimmung zu einem evolutionistischen, atheistischen Weltbild. Die Thesen des Naturalismus dienen in diesen Fällen der Befriedigung atheistischer Affekte, hinter denen sich neben der vordergründigen anti-kreationistischen Abwehr allgemeine antiklerikale und mittlerweile auch anti-islamische Ressentiments verbergen.

1.

Der Naturalismus als Glaubensform

Schon vor über 100 Jahren hat sich unter anderen Edmund Husserl mit dem Problem der natürlichen Einstellung und ihrer Glaubens15 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Stephan Grätzel

form oder ihrer »doxischen« Grundhaltung beschäftigt. Die natürliche Einstellung – gerade ihrem auf Husserl zurückgehenden Verständnis nach – nimmt die Dinge so hin, wie sie erscheinen. Sie werden also in ihrer Existenzform nicht bezweifelt. Diese »Zweifellosigkeit« bleibt auch die Grundlage der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. In den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts war es notwendig bzw. nicht anders zu bewerkstelligen, als von jener natürlichen Einstellung ausgehend die Erkenntnis, Handlungs- und Sprachfähigkeit des Menschen zu betrachten. So wurde die natürliche Einstellung auch zur Grundlage für das Erkennen. Dieser Fehlschluss ist der Gegenstand kritischer Philosophie insbesondere der Phänomenologie Husserls gewesen, soweit sie sich damals gegen das Problem eines wachsenden Psychologismus richtete. Diese kritischen Auseinandersetzungen mit naturalistischen Theorien bei Husserl, aber auch bei vielen anderen Denkern jener Zeit und späterer Generationen haben nicht verhindert, dass der Naturalismus immer mehr zu einer herrschenden Lehre geworden ist. Hintergrund dieser Entwicklung ist die steigende Orientiertheit am naturwissenschaftlichen Wissenschaftsbegriff auch in Fragen der Erkenntnis, Handlung und Sprache. Auf diesen Erkenntnisfeldern ist aber eine naturwissenschaftliche Betrachtung – zumal eine des 19. Jahrhunderts – weitgehend unangebracht. Eine naturwissenschaftliche Behandlung etwa von Sprache kann nur hirnphysiologische Erklärungen bringen, nicht aber die geistige und soziale Wirkung und Wirklichkeit der Sprache behandeln. Genauso verhält es sich mit der Bedeutung von Erkenntnis und Handlung. Der Naturalismus ist ein Schluss von der natürlichen Einstellung und dem damit verbundenen Glauben an die Existenz der Dinge auf die inhaltliche Bedeutung der Aussage. Dieser Schluss wird durch den Glauben an einen physikalischen Determinismus, wonach alles kausal in Verbindung steht und deshalb auch kausal nachgewiesen werden kann und muss, ergänzt und weiter gefestigt. Dem Physikalismus kommt dabei zu Hilfe, dass Kant die von Hume bezweifelte Apriorität der Kausalität doch wieder als transzendentale Bedingung nachwies oder nachzuweisen glaubte. Im Unterschied zu Kant gibt es aber für den Physikalismus aufgrund der umfassenden Determinierbarkeit keine Dialektik bei den ultimativen Fragen. Bekanntlich hat Kant in seiner Antinomienlehre in der Kritik der reinen Vernunft die Fragen zum Anfang und zur Erschaffung der 16 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Naturalismus als Glaube

Welt für grundsätzlich unlösbar gehalten, weil unsere Erkenntniskräfte für eine Lösung nicht hinreichen. Ob die Welt einen Anfang und einen Schöpfer hat oder nicht, ist nicht die Frage einer Erkenntnis, sondern einer Entscheidung. Es gibt keine Erkenntnis bei den ultimativen Fragen, weil wir in der Welt sind und sie nicht von außen oder von oben betrachten können. Dazu ist nur ein Gedankenexperiment in der Lage, dass das im Jetzt und Hier Erfahrene mit dem gleichsetzt, was ein Beobachter von außen erfährt. Dieser Glaube an die Invarianz des Objekts ist nicht nur das wissenschaftlich überholte Hauptargument der klassischen Physik. Dieser Glaube bestimmt auch die wissenschaftliche Grundlegung und verwandelt die natürliche zur naturalistischen Einstellung. Wie jeder Glaube trägt er aber auch ein Versprechen oder eine Verheißung in sich. Für das Verständnis des Naturalismus als Glaubenssache ist es nötig, diese Verheißung näher in Augenschein zu nehmen.

2.

Die grundsätzlichen Glaubensformen

Der Glaube ist, wie das lateinische Fremdwort zu erkennen gibt, ein Kredit, der in einem Versprechen, einer Abmachung, einem Vertrag, einer Verheißung oder einem Gelübde zustande kommt oder aus ihnen hervorgeht. Der Glaube ist dabei keine Erkenntnis, sondern die eine Erkenntnis tragende und begleitende Zuversicht, dass dasjenige, was sprachlich geäußert wird, auch künftig so sein wird oder sich erfüllen wird. Er ist damit immer ein Produkt der Sprache und kann nicht ohne oder außerhalb von Sprache vorkommen. Sprache wird hier wohlweislich als Dialog oder dialogische Sprache verstanden – also in einem Gegensatz zu dem in der analytischen Sprachphilosophie herrschenden Paradigma einer monologischen, semantischpragmatischen Sprache. Die unterste Form des Glaubens ist der naive Glaube. Zunächst einmal versteht man darunter den Kinderglauben, der alles für wahr hält, was durch die Autorität der Eltern, Erzieher oder Vorbilder vorgesagt und angesagt wird. Der Kinderglaube verliert sich aber nicht vollständig mit dem Erwachsenwerden, er bleibt in gewissen Formen erhalten. Dazu gehört neben der psychologisch-soziologischen Form von Autoritäts-Hörigkeit auch ein ontologisches Residuum, der naive Seinsglaube. 17 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Stephan Grätzel

Der naive Seinsglaube ist der Glaube, dass die Welt so ist, wie sie uns erscheint. Er ist die ontologische Einstellung eines Kindes und Jugendlichen, aber auch die Einstellung des Wissenschaftlers, soweit er die Welt in ihrem So-Sein untersucht. Der feste und unumstößliche Glaube an diese Realität und an das Sein als So-Sein ist also zugleich Grundlage des erwachenden Bewusstseins und des wissenschaftlichen Denkens, das sich mit den Fakten der Welt auseinandersetzt. Denn dieser infantile oder materialistische Glaube, dieser primäre Glaube ermächtigt den Menschen, seinen Sinnen zu trauen und ihnen Vertrauen zu schenken. In seiner kultivierten Form als wissenschaftlicher Seinsglaube ermächtigt er die Forschung, die Wahrheit durch Experimente in Physik, Chemie und Biologie und die Wahrheit der Geschichte durch Fakten, Quellen und Zeugnisse zu beweisen. Dabei wird aber die wahrgenommene Welt immer wieder in Zweifel gezogen. Nicht erst mit der Quantenphysik ist der Seinsglaube auch immer wieder durch die Wissenschaft erschüttert worden und hat die Wissenschaft weitergeführt. Der naive Seinsglaube wird aber nicht nur durch den wissenschaftlichen Fortschritt, insbesondere durch die Physik des 20. Jahrhunderts, sondern auch auf lebensweltlicher Ebene durch den generellen Zweifel und die alles erschütternde Frage nach dem Sinn des Lebens, also mit dem Einbruch eines ontologischen Skeptizismus erschüttert. Der Zweifel kann den Glauben an das Sein aber nur zerbrechen, weil er seinerseits von einer neuen Verheißung und einem neuen Glauben getragen ist. Das So-Sein verliert seine Glaubwürdigkeit, wenn nach Sinn von Sein gefragt wird. Der Glaube an die grundlegende Funktion von Sinn ermöglicht das Hinterfragen und Infragestellen der Gegebenheit der Welt und des Lebens. Dabei wird die Realität und ihr So-und-nicht-anders-Sein nur noch zur Oberfläche des alles tragenden Sinnes der Realität. Der Glaube an den Sinn ist mächtiger als der Glaube an das Sein, obwohl Sein und Nichtsein bewiesen werden können, während der Sinn nicht mit Beweisen sichergestellt werden kann. Ohne Sinn ist aber das Sein nichtig und ein Nichts, wie die Existenz- bzw. Daseinsphilosophie von Heidegger, Sartre und Camus, aber auch schon Kierkegaard (in seiner meisterhaften Studie über die Verzweiflung in Die Krankheit zum Tode) und Maurice Blondel gezeigt haben. Die Frage: »Hat das menschliche Leben einen Sinn oder nicht?«, mit der Maurice Blondel 1893 seine vom Fach Philosophie bis heute weitgehend

18 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Naturalismus als Glaube

ignorierte Arbeit über L’action beginnt, stellt alles in Frage, vor allem aber das Sein. Der Sinnglaube wechselt von der ontisch-ontologischen Wahrheitsebene zur narrativen. Sinn kann nicht bewiesen oder widerlegt, er kann nur erzählt oder verschwiegen werden. Die Wahrheit entscheidet sich hier nicht mehr am Unterschied zwischen Realität und Fiktion, sie entscheidet sich an dem Sinn der Erzählung. Ob Romeo und Julia wirklich gelebt haben, ist für den Sinn ihrer Geschichte belanglos. Die Wahrheit der Fiktion liegt in der Kraft des Gleichnisses einer Erzählung, sie bedarf keiner Abgleichung mit einer realistisch bestimmten, naiven Wirklichkeit. Die Ereignisse einer Erzählung gelten damit nicht für sich selbst, sie werden nur im Zusammenhang der Geschichte und ihres Gleichnischarakters bedeutsam. Der Sinnglaube spannt das eigene Leben in einen geschichtlichen Zusammenhang ein. Das Leben bekommt einen Sinn, wenn es nicht nur als biologisches, sondern auch als biografisches und geschichtliches begriffen wird. Der Glaube an den Sinn zerbricht den kindlichen und naiven Materialismus und verwandelt das Sein in ein zeitliches Ereignis, das sich in ein biografisches und geschichtliches Leben einfügt. Gerade dadurch aber rücken der Tod und die Endlichkeit ins Blickfeld des Verstehens. Die durch den Sinn ermöglichte Integration der eigenen Erlebnisse in die zeitliche und geschichtliche Dimension gründet auf einem Vertrauen in das eigene Leben, allerdings in ein Leben, das zum Tode bestimmt ist. Die Gewissheit des eigenen Todes untergräbt somit das Vertrauen in das Leben und lässt diesen Glauben in den Sinn der eigenen Lebensgeschichte ebenso scheitern wie den Kinderglauben an das Gegebene. Es zeigt sich sogar, dass die Erschütterung der Sinnerfahrung durch die Verzweiflung noch stärker und vernichtender ist als der ontologische Skeptizismus, denn sie betrifft nicht nur den Zweifel an der Gegebenheit, sondern sie umfasst auch das den Zweifel noch aushaltende und stützende Cogito. Das Denken kann sich zwar vor dem Zweifel, nicht aber vor der Verzweiflung schützen, der Mensch ist im bloßen Denken der Verzweiflung anheimgegeben, wie Kierkegaard in seiner Krankheit zum Tode dargelegt hat. Der Glaube, der auch die Verzweiflung überwindet, indem er sie durchleben und überschreiten kann, ist der Glaube an die Zeitlosigkeit des Lebens, an das alle Zeit überdauernde und sich im Hier und Jetzt offenbarende unmittelbare Leben. Dieser Glaube an das Leben 19 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Stephan Grätzel

ist im engeren Sinn religiös zu nennen. Er verheißt Leben, und zwar weder aus der Materie noch aus dem Sinn, sondern aus der Selbstgegebenheit des Lebens in seinem zeitlosen, affektiven Jetzt heraus. Michel Henry hat diese Selbstoffenbarung des Lebens in seinen Schriften immer wieder von verschiedenen Seiten aus durchleuchtet. Das Zusammenfallen der Zeitformen und Ekstasen in dem gelebten und als Leben verheißenen Jetzt und Hier gibt dem religiösen Glauben eine überlegene Macht, bindet ihn aber gleichzeitig wieder an den Ausgangspunkt des Erlebnisses und dessen Realität. Hier ist auch der Grund zu sehen, warum der naive Seinsglaube zu einem religiösen oder genauer gesagt quasireligiösen Glauben werden kann. Wir werden uns deshalb jetzt insbesondere mit der primären Glaubensform anhand der zuerst von Husserl offengelegten Untersuchungen zur naturalistischen Missdeutung befassen.

3.

Der naive Seinsglaube des Naturalismus

Die naturalistische Glaubensform beruht auf einer Einstellung oder Haltung, die – wie schon gesagt – von Husserl die natürliche Einstellung genannt wird. Die in seinen Logischen Untersuchungen (1900/ 1901) und besonders in den Ideen I (1913) diesbezüglich entwickelte Perspektive soll den Charakter des vorwissenschaftlichen oder naiven Blicks auf die Welt kritisieren. Der naive Blick ist geprägt von dem naiven Seinsbegriff, der den Skeptizismus der Wahrnehmung noch nicht kennt. Husserl konstatiert die naive Einstellung sowohl in der unreflektierten Wahrnehmung und Erfahrung, er findet sie aber auch in der naturwissenschaftlichen Haltung, soweit die naive Wahrnehmung zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Untersuchung genommen wird. Die naive Wahrnehmung wird nicht durch eine bloße Sinnestäuschung erschüttert. Die Vorannahme, dass etwas ist, kann zwar getäuscht werden, sie bleibt aber das grundlegende Element auch in der Täuschung als das »Vermeinte«. Anders ist es mit der Überführung der natürlichen Einstellung zu einer naturalistischen Einstellung. Dabei werden die wissenschaftlichen Parameter grundlegend verändert. Die Veränderung ist darin zu sehen, dass der die wissenschaftliche Einstellung immer begleitende Skeptizismus weggefallen ist. Während nämlich die natürliche Einstellung der – wie man sagen kann – alltäglichen Wahrnehmung des Menschen nicht von 20 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Naturalismus als Glaube

vornherein auch von einem natürlichen Skeptizismus begleitet ist, sondern ihn nur in solchen Fällen entwickelt, in denen die Wahrnehmung getäuscht oder irritiert wird, gehört, wie Husserl ausführt, der Skeptizismus zur wissenschaftlichen Einstellung seit der Antike. Der Skeptizismus ist für Husserl das Grund-merkmal der Europäischen Wissenschaften, das die Naturwissenschaft in seinen Augen »kurzerhand beiseite geschoben hat«. 1 Zwar geben die positiven Wissenschaften »neuen skeptischen Reflexionen Raum« (ebd.), diese skeptischen Reflexionen werden aber nicht mehr auf den Boden der Erfahrung zurückbezogen. Das bedeutet, dass die Erfahrung und ihre Fakten zur selbstverständlichen und nicht weiter hinterfragbaren Grundlage geworden sind. Den Naturwissenschaften sei es deshalb gelungen, den Skeptizismus, der sie seit den Anfängen der Wissenschaften im antiken Griechenland immer begleitete, zu verdrängen, »ohne ihn zu überwinden«. 2 Dieser mangelnde, nur auf das Eidetische, also die Inhalte bezogene, aber bezüglich der Erfahrung selbst verdrängte Skeptizismus wird für Husserl auch zum Grund für die Krisis der Europäischen Wissenschaften (1936). Die Wissenschaften verlieren mit der naturwissenschaftlichen Vorherrschaft, mit ihrem »naturwissenschaftlichen Chauvinismus«, wie Husserl in einer Vorarbeit zu den Ideen die Herrschaft der thetisch-noetischen Annahme des Seins nennt, die Skepsis gegenüber der Gegebenheit der Welt. 3 Die Welt ist aber auch in der naiven und natürlichen Einstellung nicht von sich her gegeben, sondern ist das Produkt einer Einstellung, die die Gültigkeit der realen Welt, den doxisch-thetischen Charakter oder, allgemein gesagt, ihre »Generalthesis« verbürgt. Husserls in diesem Zusammenhang gefundene und entwickelte eidetische Reduktion oder phänomenologische epoché richtet sich gegen die Idealisierung durch die Generalthesis. Sie ist nicht gegen die natürliche Welt selbst gerichtet, denn sie will sich ja mit dem Schlachtruf: »zu den Sachen selbst« dahin bewegen. Die epoché wendet sich also nicht gegen die natürliche Welt, sondern gegen den diese Welt fundierenden Glauben an die Faktizität dieser Welt. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Ideen I), 53. 2 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Ideen I), § 26. 3 Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Ideen I), 528. 1

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Husserl hat diesen Glauben in den Ideen I, insbesondere in den §§ 103–114 behandelt. Die Schwierigkeit seiner Darstellung, die auch von ihm selbst gesehen wird, liegt in der Duplizität der Aufgabenstellung, mit der Husserl sein Ziel einer »Philosophie als strenge Wissenschaft« erreichen möchte: Einerseits die Entwicklung der phänomenologischen Methode – die aber nicht mehr als solche geglaubt wird, also ihren doxisch-thetischen Charakter enthüllt hat – auf der Basis der natürlichen Welt, andererseits eine parallel immer mitlaufende kritische Erkenntnistheorie, die sich gegen alle Spielarten des Psychologismus und Naturalismus zur Wehr setzt. Dieser Spagat zeigt sich schon im 2. Kapitel des 1. Abschnittes der Ideen I der »Naturalistischen Missdeutungen«. Hier stellt Husserl heraus, dass die positiven Wissenschaften eine dogmatische Einstellung brauchen, die zwar von der philosophischen Einstellung in ihrem Dogmatismus erkannt, aber »nicht gehemmt« werden sollte. 4 Die epoché soll durch das Ausschalten der Seinssetzung in der Erfahrung den Glaubensgrund und seinen doxisch-thetischen Charakter durchschauen. Im § 32 der Ideen I hat Husserl dieses Verfahren im Einzelnen beschrieben. In einer Randbemerkung seines Handexemplares, die Walter Biemel so wichtig erschien, dass er sie in seine Ausgabe der Ideen im Rahmen der Husserliana Band 3 von 1950 in den Haupttext übernahm und kommentarlos integrierte, schreibt Husserl: »[…] die mir beständig als seiend vorgegebene Welt nehme ich [in der phänomenologischen epoché] nicht so hin, wie ich es im gesamten natürlichpraktischen Leben tue, direkter aber auch so, wie ich es in den positiven Wissenschaften tue: als eine im Voraus seiende Welt und in letzter Hinsicht nicht als einen universalen Seinsboden für eine in Erfahrung und Denken fortschreitende Erkenntnis. Keine Erfahrung von Realem vollziehe ich hinfort naiv-geradehin. […] Eben dieses im natürlichen Leben aktuell und habituell immerfort mich tragende, mein gesamtes praktisches und theoretisches Leben im Voraus Gelten, bzw. im Voraus Für-mich-sein ›der‹ Welt inhibiere ich, ich nehme ihm die Kraft, die mir bisher den Boden der Erfahrungswelt gab, und doch geht der alte Gang der Erfahrung weiter wie bisher, nur dass diese Erfahrung, in der neuen Einstellung modifiziert, mir eben den ›Boden‹ nicht mehr liefert, auf dem ich bisher stand. So übe ich phänomenologische epoché […].« 5 4 Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Ideen I), 54 f. 5 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Ideen I 1950), 67 f., (Ideen I), 586.

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Das Außerkraftsetzen des doxisch-thetischen Bewusstseins verwandelt die natürliche zu einer phänomenologischen Welt und lässt sie als faktische Welt in ihrer Faktizität nicht mehr zu. Ohne diesen Kraftakt, der die Welt des Seins zu einer Welt der Erscheinung macht, bleibt der naive Seinsglaube aktiv. Er bleibt ein vorausgehendes Gelten, das vor seiner Aufhebung oder Außerkraftsetzung alle Erkenntnis ontologisch trägt und fundiert. Diese vorausgehende Geltung des Seinsglaubens wird aber von Husserl nicht weiter hinterfragt. Husserl gelingt aber immerhin das Herausstellen des naiven Seinsglaubens und eine Distanzierung von diesem, ohne dabei die Arbeit der Naturwissenschaftler zu kritisieren oder auch gar zu hemmen. Genau genommen ging es ihm nur um die Kritik des Naturalismus, der den Seinsglauben ja nicht zugrunde legt, um forschen zu können, sondern der ihn zu einer Weltanschauung macht und ihn damit ideologisch missbraucht. Erst wenn eine Tat-Sache zur NaturSache wird und die doxisch-thetische Setzung zum objektiven Gegebensein der Sache selbst gemacht wird, verkehrt sich die natürliche Einstellung zum Naturalismus. Es ist also keineswegs die zwingende Folge eines rein sachlichen oder positiven Verfahrens, den naiven Seinsglauben zu übernehmen. Auch eine sachliche und auf positive Ergebnisse zielende Wissenschaft kann die doxisch-thetische Haltung aller Erkenntnis und damit die Relativität aller Erkenntnis kritisch im Auge behalten. Für die theoretische Physik ist diese Einstellung längst selbstverständlich geworden. Man braucht beispielsweise nur einen Blick in das Buch von Bernard d’Espagnat On Physics and Philosophy, Kapitel 12 des 2. Teils, zu werfen, um zu sehen, wie weit fortschrittliche Physiker von einem solchen Realismus entfernt sind, der sich auf die natürliche Einstellung und den naiven Seinsglauben stützt. Auch fortschrittliche Entwicklungen in der Biologie gehen längst nicht mehr von einem naiven Seinsbegriff aus, dem ein Kausaldeterminismus übergestreift wird. Es gibt keine grundsätzlichen Differenzen zwischen solchen Wissenschaftlern und Phänomenologen, ein »Kampf der wissenschaftlichen Kulturen« findet auf dieser Ebene nicht statt, er wird ausschließlich dort geführt, wo die ideologische Absicht im Spiel ist, geistes- oder kulturwissenschaftlichen Fragen die Ernsthaftigkeit abzusprechen. Das war auch schon zu Husserls Zeiten so. Für Husserl ist aber der ideologische Hintergrund für die Übernahme des naiven Seinsglaubens in die Wissenschaften zunächst einmal unumgänglich. Er schreibt: 23 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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»Die rechte Stellung in der in einem guten Sinne dogmatischen, das ist vorphilosophischen Forschungssphäre, der alle Erfahrungswissenschaften […] angehören, ist die, dass man vollbewusst allen Skeptizismus mitsamt aller ›Naturphilosophie‹ und ›Erkenntnistheorie‹ beiseite schiebt und Erkenntnisgegenständlichkeit nimmt, wo man sie wirklich vorfindet […].« 6

Diese im »guten Sinne dogmatische Forschungssphäre« ist aber schon zu seiner Zeit fragwürdig, da es keinen triftigen Grund gibt, den Skeptizismus beiseite zu schieben, außer mit der politisch zu nennenden Absicht, die natürliche Einstellung zu einer wissenschaftlichen zu erheben. Schon zu Husserls Zeiten kann nicht mehr von einer natürlich eingestellten, naiven Naturwissenschaft gesprochen werden, die den zugrunde liegenden Seinsbegriff aus der alltäglichen Welt hernimmt. Für heutige Diskussionen gilt dies umso weniger. Deshalb sind die Spielarten des Naturalismus keine wissenschaftlichen, sondern politische Theorien, denen es nicht um Wahrheit, sondern um Macht und Einfluss geht. Der Naturalismus ist also die zur wissenschaftlichen Einstellung gewordene natürliche Einstellung. Diese beansprucht den naiven Seinsglauben, ohne ihn weiter zu hinterfragen. Die wissenschaftliche Einstellung verfährt ebenso: sie stellt sich auf den Boden der natürlichen Einstellung, ohne den wissenschaftlichen Anspruch des Seinsskeptizismus zu erfüllen. Nach der Scholastik, die weitgehend einen dogmatisch-positivistischen Grundzug hatte, hat der Skeptizismus mit Descartes, Hume und Kant die Neuzeitliche Philosophie hervorgebracht und dabei eine weitere Vertiefung bekommen. Dieser das wissenschaftliche Denken begleitende Skeptizismus des Seins wird im Naturalismus wieder verabschiedet. So hat sich seit dem 19. Jahrhundert mit dem Naturalismus eine dogmatisch-scholastische Philosophie zur herrschenden Grundlehre entwickelt, wie es zuletzt im Mittelalter der Fall war.

4.

Die Gründe für den naturalistischen Glauben

Husserl hat den Seinsglauben kritisiert, soweit er in seinem Gelten die von der natürlichen Einstellung übernommene wissenschaftliche E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Ideen I) 54.

6

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Einstellung bestimmt. Seine Leistung liegt darin, dass er Standards gesetzt hat, die in folgender Weise charakterisiert werden können: 1. Die natürliche Einstellung ist ein Wissen aber keine Wissenschaft. 2. Zur Wissenschaft gehört seit ihrer Fundierung in der Antike und der aus ihr hervorgegangenen Europäischen Wissenschaft die skeptische Betrachtung der natürlichen Einstellung und ihres Seinsbegriffes. 3. Die kritiklose Verschmelzung von natürlicher Einstellung und wissenschaftlicher Einstellung, bzw. die Übernahme der natürlichen in die wissenschaftliche Einstellung führt zur naturalistischen Missdeutung. Husserl hat die natürliche Einstellung und ihren Seinsbegriff nicht weiter hinterfragt. Dieser Aufgabe hat sich Heidegger in Sein und Zeit gewidmet, indem er das fraglos erscheinende Jetzt und Hier mit der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt erst fragwürdig machte. Er hat dabei gezeigt, dass Sein schon ein sinnhaftes Verstehen ist, das aus dem Sich-Verstehen des Daseins hervorgeht. Auch wenn Husserl schon ausgiebige Überlegungen zum inneren Zeitbewusstsein angestellt hat, so ist erst mit Heideggers Verlagerung auf die Sinnebene von Sein ein weiterer Schritt zur Erschließung der natürlichen Einstellung und ihres naiven Seinsbegriffes gegeben. In den einleitenden Paragraphen von Sein und Zeit zum ontischen und ontologischen Vorgang der Seinsfrage schreibt Heidegger: »Ontologisches Fragen ist zwar gegenüber dem ontischen Fragen der positiven Wissenschaften ursprünglicher. Es bleibt aber selbst naiv und undurchsichtig, wenn seine Nachforschungen nach dem Sein des Seienden den Sinn von Sein überhaupt unerörtert lassen.« 7

Solange der Sinn von Sein – dass es dem Dasein »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« 8– nicht erörtert wird, verbleibt auch die kritisch eingestellte Philosophie im Banne des naiven Seinsverständnisses. Sein ist als Sein des Daseins immer schon ein Verstehen des Seins. Verstehen ist aber ein sprachlicher Vorgang.

7 8

M. Heidegger, Sein und Zeit. Gesamtausgabe Band 2, 15. M. Heidegger, Sein und Zeit. Gesamtausgabe Band 2, 16.

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Heidegger hat die Bedeutung der Sprache erst in den späteren Arbeiten betont. In Sein und Zeit »hat« das Dasein Sprache 9, später im Brief über den Humanismus ist die Sprache bekanntlich das »Haus des Seins«. 10 Verstehen ist also auf Sprache angewiesen. Mit der Sprache kommt außerdem nicht nur die Sinndimension der natürlichen Einstellung in das Blickfeld, sondern auch das Gelten, die Gültigkeit, durch das Versprechen. Wir wenden uns damit der von Husserl und Heidegger nur aufgeworfenen, aber nicht gelösten Problematik zu, warum der naive Seinsglaube der natürlichen Einstellung durch die Wissenschaften übernommen wird, obwohl er schon an der skeptischen Betrachtung scheitern müsste. Es hängt mit der Sinn- und Geltungsdimension zusammen, die jedem Seinsglauben, auch dem naiven, schon innewohnt. Um dies deutlicher herauszustellen, sei ein Werk von Heinrich Rickert angeführt, das in seinen Auflagen synchron mit Husserls Publikationen erschienen: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Die erste Auflage erschien 1902, also fast gleichzeitig mit Husserls Logischen Untersuchungen, die zweite Auflage 1913 mit Husserls Ideen und die 5. und letzte 1929, dem Jahr der letzten Überarbeitungsversuche der Ideen durch Husserl. Im Unterschied zu Husserl hat sich Rickert in seinem Werk ausschließlich der wissenschaftstheoretischen Fragestellung gewidmet. Es überwindet die auf Dilthey zurückgehende Dichotomie zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, indem die Problematik vermieden wird, die durch die Begriffe des Geistes und der Geisteswissenschaft und ihrer Subjektbezogenheit geschaffen wurde. Unter dem Titel einer Kulturwissenschaft werden für Rickert die Methoden der scheinbar konträren Wissenschaftsbereiche verglichen und angenähert. Rickert gelingt es, die Arbeit und die Forschungsziele der Kulturwissenschaften zu versachlichen und ihre spezifischen Eigenheiten besser gegen die Naturwissenschaften abzugrenzen. Wenn Naturgesetze die allgemeine Gültigkeit und Gesetzlichkeit betrachten, dann geben sie der Wirklichkeit einen hypothetischen Cha-

9 10

Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit. Gesamtausgabe Band 2, 219. M. Heidegger, Wegmarken, 330.

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rakter, welcher die individuelle und einzigartige Seite der Wirklichkeit beseitigt. Rickert zeigt dies daran, dass die Feststellung von Gesetzlichkeit immer nur unter Bedingungen möglich ist: »Das kann man schon daran zu Bewusstsein bringen, dass jedes Naturgesetz sich völlig adäquat in einem sogenannten ›hypothetischen‹ Urteil formulieren lässt: wenn das eine geschieht, dann geschieht auch das andere. […] Sobald es auf das ›wenn – dann‹ im Naturgesetz ankommt, steht das ob überhaupt nicht mehr ausdrücklich in Frage, sondern es wird nur stillschweigend vorausgesetzt, dass es Wirkliches gibt, welches unter die im Gesetzesbegriff verknüpften allgemeinen Begriffe fällt.« 11

Husserls Herausstellung der doxisch-thetischen Haltung der natürlichen und wissenschaftlichen Einstellung bekommt durch die Bemerkung, dass diese Einstellung eine hypothetische sei, noch einen anderen Aspekt, der sich auf den Wirklichkeitscharakter der wissenschaftlichen Einstellung bezieht und ihn allein betrifft. Die natürliche Einstellung – um den Begriff von Husserl hier beizubehalten – ist zwar doxisch-thetisch wie die den naiven Glauben übernehmende wissenschaftliche Einstellung, sie ist aber nicht hypo-thetisch, wie es die wissenschaftliche ist. Die Wissenschaften gehen von der Einstellung »gegeben sei« aus. Ob und wie diese Gegebenheit auch wirklich ist, wird nicht hinterfragt, weil es nicht Aufgabe ist. Diese Hinterfragung der Einmaligkeit und Individualität der Wirklichkeit ist aber Aufgabe einer geschichtlichen Betrachtung der Wirklichkeit. Diese Betrachtung wird von Rickert in dem Kapitel zu den »irrealen Sinngebilden« behandelt. Sie sind der eigentliche Gegenstand kulturwissenschaftlicher Arbeit. Die irrealen Sinngebilde kommen im Rahmen von Geschichten und Geschichte vor. Rickert gibt durch diese Begriffswahl »irreal« zu erkennen, dass er den Realismus des naturwissenschaftlichen Paradigmas nicht widerlegen, sondern um die Werte ergänzen möchte. Werte sind nicht, sie gelten: »Werte sind als Werte nie wirklich, sondern sie gelten, d. h. real dürfen nicht die Werte selbst, sondern erst die Güter genannt werden, in denen sie sich ›verwirklichen‹, und an denen wir sie auffinden. Ebenso gehört der Sinn, den eine Wirklichkeit mit Rücksicht auf einen Wert bekommt, nicht selbst zum wirklichen Sein, sondern besteht nur mit Rücksicht auf einen geltenden Wert und ist insofern unwirklich.« 12

11 12

H. Rickert, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 201 f. H. Rickert, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 536.

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Mit dem Herausstellen von Sinn und Wert durch Rickert werden einerseits die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, andererseits aber die sprachliche und geschichtliche Dimension des Verstehens aufgezeigt. Geschichte wird dabei nicht naturwissenschaftlich von ihren Fakten, sondern kulturwissenschaftlich von ihren Werten her erschlossen. Damit sind wir aber bei dem Problem von Gelten, Gültigkeit und Versprechen angekommen.

5.

Gültigkeit und Versprechen des naiven Seinsglaubens

Jeder Glaube beruht auf einem Versprechen, jedes Credo und jeder Kredit ist die Antwort und Reaktion auf ein Versprechen. Auch der naive Seinsglaube, dass die Welt so ist, wie sie ist, ist bereits eine solche Antwort und Reaktion. Das im naiven Seinsglauben enthaltene Versprechen liegt in der Unwandelbarkeit des Seins. Diese Unwandelbarkeit liegt aller Geschichte zugrunde. Geschichte kann so die Entfaltung der Natur innerhalb oder im Rahmen einer sogenannten Naturgeschichte werden. Dabei wird Geschichte, die es nur im menschlichen Sinnverstehen gibt, auf Natur projiziert. Die einzelnen Phasen der Erdzeitalter werden nach den Parametern der menschlichen Lebensphasen (Geburt, Jugend, Erwachsensein, Alter) gebildet. Jugend oder Alter sind entgegen dem Anschein also keineswegs geologische oder biologische Begriffe oder Vorgänge, sie sind biographische Phasen. Allein die Biographie hat eine geschichtliche Struktur. Sie ist sprachlicher Art, denn sie erzählt die Geschichte einer Person aus dem Verstehenshorizont der eigenen Person heraus. Durch den Bezug von Fremdgeschichte auf die eigene Geschichte werden Anfang und Ende bedeutsam, sie bedeuten etwas oder haben einen Sinn. Heidegger hat im Tod den Sinngeber des Daseins gesehen. In gleicher Weise ist aber auch die Geburt ein Sinngeber, wie Hannah Arendt gezeigt hat, da sie der Lebensgeschichte einen Anfang gibt. Geburt und Tod sind primär nicht biologische, sondern biographische Grenzpunkte. Wir verstehen Anfang und Ende des Lebens, weil wir von Geburt und Tod wissen. Aus diesem biographischen Wissen ergeben sich die menschlichen Lebensalter und ihre Geschichte, die dann wiederum auf die gesamte Natur übertragen werden können. Diese Übertragung und Angleichung der Natur an die Biographie, die hier nur skizziert werden kann, führt nicht nur zur Biographisierung der Natur und der Metapher Naturgeschichte, sie führt 28 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Naturalismus als Glaube

auch umgekehrt zur Biologisierung der Geschichte, also zum monistischen Denken. Dieses Denken wurde im 19. Jahrhundert möglich und hat wesentlich zum Erfolg des Naturalismus beigetragen. Hier hat der biographische Begriff »Naturgeschichte«, den es vor Darwin und Haeckel gab, seinen metaphorischen Zug verloren und ist zum wissenschaftlichen Parameter der Evolution mutiert. Der am Sinngefüge der menschlichen Existenz orientierte Begriff der Geschichte wird dabei zu dem biologischen Prinzip einer sich selbst schaffenden und gestaltenden Ursache: Natur entwickelt sich causa sui, aus sich selbst heraus zu einer Geschichte. Dabei ist nicht mehr erkennbar, dass es Geschichte eigentlich nur im biographischen Verständnis der menschlichen Lebensgeschichte geben kann. Ferner wird ignoriert, dass eine Geschichte als Naturgeschichte absolut, also nicht Teil einer anderen Geschichte ist oder werden kann – eine grundlegende Voraussetzung des Geschichtsbegriffs, wie Wilhelm Schapp ausführlich in seinem Werk In Geschichten verstrickt gezeigt hat. Da Geschichte nicht die Entwicklung einer absoluten Geschichte ist, sondern auch immer einen Rahmen braucht, in den sie sich hinein entwickelt, so ist im Falle der Naturgeschichte die Natur sowohl dasjenige, was sich entwickelt, als auch dasjenige, in das hinein sie sich entwickelt. Natur entwickelt sich aus sich zu sich hin. In diesem Zirkel liegt das Credo der Naturalisten seit dem 19. Jahrhundert. Damit ist der hier beschriebene Naturalismus der Glaube an das sinnlose, zweifelsfreie, vor und außerhalb jeder Sprache und allem Verstehen gegebene Sein, das sich in einer absoluten, nicht mit anderen Geschichten verstrickten Geschichte, vollzieht und entwickelt.

Literatur Blondel, Maurice: L’action (1893), Paris 1950. d’Espagnat, Bernard: On Physics and Philosophy, Princeton 2006. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, neu hg. von Karl Schumann, Den Haag 1976 (zitiert als Ideen I). Dasselbe: hg. von W. Biemel, Den Haag 1950 (zitiert als Ideen I 1950). Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode (1849), Düsseldorf 1954. Husserl, Edmund: Krisis der Europäischen Wissenschaften (1936), Den Haag 1976. Rickert, Heinrich: Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 5. Auflage, Tübingen 1929.

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Stephan Grätzel Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Gesamtausgabe, Band 2, Frankfurt/M. 1977. Heidegger, Martin: Brief über den Humanismus. In derselb.: Wegmarken. Frankfurt/M. 1978. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt (1953), Frankfurt/M. 2004.

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Naturwissenschaftliche Perspektive und menschliches Selbstverständnis Eine wissenschaftsphilosophische Analyse zur Unverzichtbarkeit lebensweltlicher Qualitäten Tobias Müller 1.

Zur Spannung von Lebenswelt und naturwissenschaftlicher Perspektive

Mit dem Begriff der Lebenswelt wird üblicherweise diejenige Perspektive des menschlichen Daseins bezeichnet, in der sich die Menschen in einem vorwissenschaftlichen Selbstverständnis erfahren. Mag es innerhalb der Sphäre der Lebenswelt durch spezifische Erfahrungshorizonte bzw. Teilnahmeperspektiven (wie z. B. die der Arbeitswelt) auch unterschiedliche Ebenen geben, gemeinsam ist diesen, dass sie allesamt ein menschliches Selbstverständnis voraussetzen, in dem Subjekte sich, ihre Interaktion untereinander und den Umgang mit ihrer Umwelt durch Ziele, Werte und Zwecke bestimmen. Eine solchermaßen verfasste Lebenswelt beinhaltet aus diesem Grund sinnvolle Handlungszusammenhänge, mit denen eine Normativität verbunden ist, sofern beispielsweise bestimmte Handlungen, die in ihr vollzogen werden müssen, geboten sind oder ge- bzw. misslingen können. 1 Mit der Normativität solcher Handlungspraxen setzt das Phänomen der Lebenswelt letztlich ein Subjektkonzept voraus, das dieser Normativität entsprechen kann: Menschen mögen zwar als psychophysische Wesen in kausal-funktionale Lebensvollzüge eingebettet sein, die auch ohne bewusste Entscheidung ablaufen, aber das unhintergehbare Eingebettetsein in normative Handlungspraxen setzt zugleich voraus, dass Menschen eben auch das Vermögen besitzen, sich in ihren Handlungen an rationalen Zwecken und Gründen orientieren zu können. Anderenfalls könnten auch die Vollzüge und Ergebnisse dieser normativen Handlungspraxen nicht mehr als rational anVgl. H.-D. Mutschler, Halbierte Wirklichkeit: warum der Materialismus die Welt nicht erklärt, 22.

1

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gesehen werden. Denn sind die Abläufe nur noch als rein kausal bestimmt aufgefasst, dann lässt sich letztlich auch keine Normativität mehr denken. Damit steht nun aber das Konzept der Lebenswelt in Spannung mit dem Naturverständnis der modernen Naturwissenschaften, dessen charakteristisches Merkmal es ist, dass Natur als bloße Abfolge eines Geschehens aufgefasst wird, das rein kausal beschrieben werden kann. Insofern auch der Mensch als Teil dieser Natur aufgefasst wird, erscheinen Dimensionen des Mensch- und Personseins in diesem Licht nur noch als kausales Produkt der zugrundeliegenden materiellen Konstellationen. Somit tritt an die Stelle des Menschen mit seinen geistigen Fähigkeiten und seelischen Dispositionen als handelndes Subjekt nur noch ein materielles Substrat, das vollständig von physikalischen oder physiologischen Gesetzen bestimmt ist. Motiviert wird diese Sichtweise durch die enormen Erfolge der Naturwissenschaften: Seit dem 19. und vor allem 20. Jahrhundert führten immer detaillierter und präziser werdende Modelle der Naturerkenntnis dazu, dass man in der theoretischen Beschreibung der quantifizierbaren Aspekte der Natur unglaubliche Fortschritte machte und diese Erkenntnisse in praktischer Perspektive zudem erfolgreich technisch umgesetzt wurden. In beiden Fällen beruht der Erfolg auf den methodischen Voraussetzungen der Naturwissenschaften. Sie erst garantieren, dass die Wirklichkeit den theoretischen und praktischen Zwecken von Forschung und technischer Nutzung entsprechend erfasst werden kann. Beide Aspekte führten zu der vor allem in öffentlichen Diskussionen vorherrschenden Auffassung, dass alles Wesentliche in der Welt naturwissenschaftlich erfasst werden und somit auf kausalfunktionale Strukturen zurückgeführt werden könne. Umgekehrt wird dasjenige, was sich einer naturwissenschaftlichen Analyse entzieht, als etwas Unwesentliches oder als Erscheinung charakterisiert. Somit hängt es nicht nur von naturwissenschaftlich erfassten Strukturen ab, sondern soll vollständig auf diese zurückgeführt werden können. Damit wird das vorwissenschaftliche Moment der Lebenswelt, besonders die normative Handlungspraxis und die hierfür vorausgesetzten Vermögen, eben nicht als die allen Handlungszusammenhängen vorausliegende Bedingung aufgefasst, die für alle wissenschaftliche Forschungspraxis eine Fundierungsfunktion besitzt. Vielmehr wird der Lebenswelt gewissermaßen der Status einer 32 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Naturwissenschaftliche Perspektive und menschliches Selbstverständnis

Scheinwelt zugesprochen, die letztlich auf basale kausal-funktionale Strukturen der materiellen Welt zurückgeführt werden soll. Allerdings wird in den bisherigen Reduktionismusversuchen meist übersehen, dass sich ein solcher Reduktionismus nicht aus der naturwissenschaftlichen Forschung selbst ergibt. Vielmehr stellt er eine darüber hinausgehende, totalisierende Interpretation dar, die bei genauerer Analyse methodisch nicht haltbar ist. Da der Mainstream in Forschung und Gesellschaft das reduktionistische Paradigma unkritisch übernommen hat, verwundert es nicht, dass in der aktuellen philosophischen und gesellschaftlichen Debatte eine grundlegende Auseinandersetzung mit den weitreichenden Ansprüchen des reduktionistischen Programms gerade hinsichtlich der Unhintergehbarkeit der Lebenswelt ausblieb. Zwar wurde der fundierende Zusammenhang von Lebenswelt und Wissenschaft in wissenschaftsphilosophischer Perspektive beispielsweise von der Erlanger Schule thematisiert, doch wurden diese Einsichten meist nicht explizit im Kontext der Reduktionismusdiskussion rezipiert. 2 Um einen prinzipiellen Rahmen für die Verhältnisbestimmung von Lebenswelt und naturwissenschaftlicher Perspektive abzustecken, werden im Folgenden zwei Argumentationsstränge verfolgt: 1. Zunächst soll anhand wissenschaftsphilosophischer Überlegungen zu einigen methodischen Voraussetzungen die prinzipielle Reichweite der naturwissenschaftlichen Perspektive illustriert werden. Diese konstitutiven Merkmale naturwissenschaftlichen Forschens garantieren einerseits den großen Erfolg der Naturwissenschaften, andererseits begrenzen sie aber aus methodischen Gründen die Reichweite der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Dadurch kann gezeigt werden, dass der totalisierende Anspruch des Reduktionismusprogramms, das auch die lebensweltlichen Konzepte auf basale materielle Strukturen zurückführen will, wissenschaftsphilosophisch schon aus methodischen Gründen nicht legitimiert werden kann. 2. Insofern in diesen Überlegungen konstitutive Elemente der naturwissenschaftlichen Forschung benannt werden, sollen anhand dieser Elemente zugleich unhintergehbare lebensweltliche Bestimmungen aufgezeigt werden, die sich damit notwendigerweise einer Reduktion widersetzen, eben weil sie konstitutive 2 Eine Ausnahme ist Peter Janichs Beitrag zu dieser Debatte. Vgl. P. Janich, Zur Sprache der Hirnforschung. Kein neues Menschenbild.

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Voraussetzungen der Wissenschaftspraxis sind, ohne die eine theoretische Beschreibung der Phänomene in naturwissenschaftlicher Perspektive gar nicht möglich wäre. Damit bilden diese lebensweltlichen Bezüge zugleich die Basis für ein umfassenderes Subjektkonzept.

2.

Die naturwissenschaftliche Erkenntnis als abstrahierende und idealisierende Perspektive

Entgegen der in der aktuellen Reduktionismusdebatte weit verbreiteten Auffassung, die naturwissenschaftliche Perspektive bilde Realität genau so ab, wie sie an sich ist, und sei damit der einzig vernünftige Realitätszugang, lässt sich aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive zunächst darauf hinweisen, dass sich die Stärke des naturwissenschaftlichen Zugangs seiner methodischen Verfasstheit verdankt. Dies bedeutet, dass der Erfolg der Naturwissenschaften hinsichtlich intersubjektiver Überprüfbarkeit und Exaktheit gerade darauf fußt, dass sich die naturwissenschaftlichen Perspektiven auf bestimmte Fragestellungen fokussieren und diesen Fragestellungen gemäß Methoden verwenden, um die in Frage stehenden Phänomene zu thematisieren. Es soll aber nachfolgend an einigen konstitutiven Merkmalen naturwissenschaftlicher Forschung und Beschreibung gezeigt werden, dass diese methodische Verfasstheit der Naturwissenschaften janusköpfig ist. Garantiert sie einerseits den großen Erfolg der Naturwissenschaften, so sind es dieselben methodischen Vorgaben, die die prinzipielle Reichweite der naturwissenschaftlichen Perspektive beschränken. Somit entpuppt sich die naturwissenschaftliche Beschreibung als ein vom jeweiligen Forschungsinteresse geleiteter abstrahierender und idealisierender Zugang zur Wirklichkeit. Dies wird im Folgenden an drei charakteristischen Aspekten der naturwissenschaftlichen Perspektive aufgezeigt: 1. Durch die pragmatische Festlegung der Fragestellung naturwissenschaftlicher Forschung wird gezeigt, dass es aus methodischen Gründen nicht der Anspruch von Naturwissenschaften sein kann, die ganze Wirklichkeit zu erklären, sondern dass die Thematisierung bestimmter Aspekte von bestimmten Fragestel-

34 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Naturwissenschaftliche Perspektive und menschliches Selbstverständnis

2.

3.

lungen abhängt, durch die erst die einzelnen empirischen Disziplinen konstituiert werden. Die von einer bestimmten Fragestellung abhängige methodische Isolierung von bestimmten Kausalfaktoren führt dazu, dass die dort gefundenen Regelmäßigkeiten in einem strikten Sinn nur unter Ceteris-Paribus-Klauseln gelten. Damit ist eine Verabsolutierung von Geltungsansprüchen wie z. B. die Annahme, alles lasse sich auf mikrophysikalische Kausalfaktoren reduzieren, schon aus methodischen Gründen nicht zu legitimieren. Die durchgängige Verwendung von Modellen in der naturwissenschaftlichen Forschung macht deutlich, dass zur naturwissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit Idealisierungen und Abstraktionen wesentlich dazugehören, so dass schon methodisch immer von anderen Qualitäten abgesehen wird, die nichts zur Beantwortung der Ausgangsfrage beitragen.

2.1 Die pragmatische Festlegung der Fragestellung in den Naturwissenschaften In der gegenwärtigen Diskussion ist die totalisierende Annahme weit verbreitet, dass die naturwissenschaftliche Perspektive die Wirklichkeit schlechthin und exklusiv beschreibe. Diese Auffassung übersieht aber, dass bestimmte Fragestellungen für die jeweiligen Wissenschaftszweige konstitutiv sind, ohne die eine wirkliche Unterscheidung der Wissenschaften überhaupt nicht möglich wäre. Das jeweilige Forschungsinteresse und die damit verbundene Fragestellung legen schon die Auswahl der Phänomene und die thematisierten Größen fest, die nicht einfach mit ontologischen Grundgrößen gleichzusetzen sind, sondern durch eine bestimmte Ebene der Wirklichkeitsbeschreibung festgesetzt werden, ohne dass dieser Ebene eine ontologische Priorität in dem Sinne zukommen muss, dass alle Phänomene der Wirklichkeit durch diese Ebene erklärt werden können. So stellt z. B. Nancy Cartwright hinsichtlich eines unberechtigten Totalitätsanspruchs der physikalischen Perspektive fest: »Consider how the domain of properties studied in physics gets set. Here is one caricature: we begin with an interest in motion–deflections, trajectories, orbits. Then we look for the smallest set of properties that is closed (or,

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closed enough) under prediction. That is, we expand the set until we get all factors, and then everything causally relevant to our starting factors, and then every causally relevant to those and so forth. To succeed does not show that we have gotten all properties there are.« 3

Auch wenn diese Darstellung, wie der Bereich der Physik festgesetzt wird, als allzu große Vereinfachung aufgefasst werden darf – und deshalb in diesem Sinne auch zu Recht von ihr als Karikatur bezeichnet wird –, so lässt sich aber doch ein entscheidender Punkt illustrieren: Die Festsetzung von fundamentalen Fragestellungen in der jeweiligen Perspektive ist kontingenterweise von einem Interesse an bestimmten Phänomenen abhängig, wobei die Einbeziehung weiterer Faktoren durch ein pragmatisches Kriterium wie das der Vorhersage bestimmter Größen gebunden ist. Dementsprechend ist die Einbeziehung weiterer Faktoren dann nicht mehr notwendig, wenn genügend Größen für eine Vorhersage eines bestimmten Phänomens vorhanden sind. Die Möglichkeit der Vorhersage bestimmter Größen bedeutet aber nicht die Vollständigkeit der Wirklichkeitsbeschreibung, wie noch einmal Cartwright formuliert: »This is a fact […], that the predictive closure itself only obtains in highly restricted circumstances. The immediate point is that predictive closure among a set of properties does not imply descriptive completeness.« 4

Diese damit einhergehende Beschränkung auf bestimmte Phänomene und bestimmte Größen mag für allgemeine ontologische Ansprüche limitierend wirken, für den großen Erfolg im Verständnis und in der Vorhersage solcher Phänomene ist eine solche Beschränkung auf Grundgrößen und deren kausal relevante Faktoren eine unverzichtbare methodologische Leitidee: Es sollen nur diejenigen Faktoren thematisiert werden, die für das in Frage stehende Phänomen unter einer Ausgangsfragestellung relevant sind. Die Berücksichtigung anderer Faktoren, die für das betrachtete Phänomen nicht relevant sind, würde die theoretische Beschreibung nur unnötig verkomplizieren. Auch wissenschaftsgeschichtlich lässt sich jedenfalls gut belegen, dass es eine solche Entwicklung durch die Konzentration auf bestimmte Phänomene unter einer bestimmten Fragestellung gegeben hat: In der Geschichte der Mechanik als Grundlagendisziplin der Physik standen ebensolche Probleme im Mittelpunkt, in denen die 3 4

N. Cartwright, »Fundamentalism Vs. The Patchwork of Laws«, 290 f. N. Cartwright, »Fundamentalism Vs. The Patchwork of Laws«, 291.

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Naturwissenschaftliche Perspektive und menschliches Selbstverständnis

Bewegung von Körpern mathematisch erfasst werden sollten. Demnach ist die klassische Mechanik an ihren historischen Anfängen – zumindest, wenn man sich die paradigmatischen Fälle wie Pendelbewegung, Planetenbewegung, Teilchenstöße usw. ansieht – vor allem an der Beschreibung des Zweikörperproblems und den damit verbundenen Größen interessiert, denn letztlich lassen sich alle genannten Beispiele auf Arten des Zweikörperproblems reduzieren. 5 Das Interesse an Bewegungsabläufen und den kausalen Faktoren, die darin involviert waren, legte also erstmals die Grundfragen und Grundgrößen und damit auch die Methoden der damaligen Physik fest, wobei man sich, von dort ausgehend, dann ähnlichen Phänomenen und deren kausalen Faktoren zuwandte. Es folgte eine beeindruckende Erweiterung des Phänomenbereichs in der Physik, die aber schon aus methodischen Gründen limitiert ist: Ein Phänomen kommt als potentielles physikalisches Phänomen überhaupt nur als solches in Betracht, wenn es prinzipiell mit einer Methode der Physik untersucht und damit in der Objektsprache der Physik thematisiert werden kann. Für die Rekonstruktion der Reichweite des Erklärungsanspruchs der naturwissenschaftlichen Perspektive muss deshalb berücksichtigt werden, dass schon die Fragestellung, unter der die naturwissenschaftliche Forschung betrieben wird, entscheidet, welche Phänomene und Größen thematisiert werden. Sofern naturwissenschaftliche Forschung aus methodischen Gründen bestimmte kausal-funktionale Aspekte der Wirklichkeit untersucht, bleiben lebensweltliche Bestimmungen, die sich einer solchen Beschreibung entziehen, ausgeklammert.

2.2 Die Ceteris-Paribus-Klauseln der naturwissenschaftlichen Gesetze Es ist ein wesentlicher Bestandteil der lebensweltlichen Beschreibung, dass Menschen als Subjekte aufgefasst werden, die an verschiedenen normativen Handlungspraxen partizipieren und damit auch die entsprechenden Vermögen besitzen müssen. Diese Qualität des freiheitlichen Entscheidens ist durch das Reduktionismusprogramm stark hinterfragt worden, denn diese Dimension des Mensch- und 5

Vgl. W. Pietsch, Der Zeitpfeil. Philosophische und physikalische Grundlagen, 189 f.

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Personseins erscheint dann nur noch als kausales Produkt der zugrundeliegenden materiellen Konstellationen. Somit tritt an die Stelle des Menschen mit seinen geistigen Fähigkeiten und seelischen Dispositionen als eines handelnden Subjekts nur noch ein materielles Substrat, das vollständig von physikalischen oder physiologischen Gesetzen bestimmt ist. Vertreter des Reduktionismus begründen diese Auffassung mit dem Prinzip der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt. Demnach folge aus der naturwissenschaftlichen Forschung, dass die fundamentalen physischen Entitäten schon exklusiv alle kausalen Kräfte besäßen, die hinreichend seien, um alle anderen Phänomene kausal zu determinieren. 6 Die entscheidende Frage ist aus wissenschaftsphilosophischer Sicht, ob sich eine solch starke metaphysische Behauptung aus der naturwissenschaftlichen Forschung heraus begründen lässt oder ob diese für die naturwissenschaftliche Forschung als metaphysisches Prinzip überhaupt notwendig ist. In diesem Kontext wurde in der Wissenschaftstheorie in den letzten Jahren eine empiristische Auffassung bezüglich des Status von Naturgesetzen hinterfragt, nach der die in den Naturgesetzen beschriebenen Phänomene exakt so in der Natur vorkommen bzw. sich exakt so verhalten, wie es durch die Gesetze beschrieben wird. Eine solche empiristische Auffassung von Naturgesetzen geht einher mit der Annahme, dass es eine starke Hierarchie von Naturgesetzen gebe, bei denen die fundamentalen diejenigen sind, die andere, höhere Gesetzmäßigkeiten vollständig bestimmen. Diese Art der Verallgemeinerung von Naturgesetzen, die künstlich unter Laborbedingungen abgeleitet worden sind, ist aber deswegen nicht ohne weiteres möglich, weil die durch die Gesetzmäßigkeiten beschriebenen Systeme dieses gesetzesartige Verhalten nur in kausal isolierten Situationen zeigen. Erst wenn alle anderen kausalen Faktoren ausgeschlossen sind, zeigt das System immer dieselbe Tendenz, sich in einer bestimmten Art zu verhalten. Über die kausale Relevanz anderer Faktoren kann also nichts gesagt werden, weil diese methodisch ausgeblendet werden.

6 Vgl. kritisch dazu beispielsweise B. Falkenburg, Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung?; H.-D. Mutschler, »Weshalb die Welt nicht ganz dicht ist. Zum Problem der kausalen Geschlossenheit und der mentalen Verursachung«; T. Müller, »Ist die Welt kausal geschlossen? Zur These der kausalen Geschlossenheit des Physischen«; »Zu Möglichkeit und Wirklichkeit mentaler Verursachung«.

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Naturwissenschaftliche Perspektive und menschliches Selbstverständnis

Diese als Voraussetzung für die Ableitung gesetzmäßigen Verhaltens beständigen Bedingungen kausaler Isolation hat Nancy Cartwright »nomological machines« genannt und damit eben jenes Set von Bedingungen beschrieben, die notwendig sind, damit die jeweiligen Dispositionen der betrachteten Systeme zur Geltung kommen können. Im Normalfall handelt es sich hierbei um eine künstlich hergestellte Situation, in der dann – von der konkreten Situation in der Welt abstrahierende – Gesetzmäßigkeiten festgestellt werden. Dies führte zu einer alternativen Deutung der Naturgesetze, der sogenannten Dispositionsthese: 7 Naturgesetze schreiben Systemen kontinuierlich manifestierbare Dispositionen bezüglich eines bestimmten Verhaltens zu. Das bedeutet, dass Naturgesetze ein Verhalten von Systemen beschreiben, das nur unter bestimmten Bedingungen, die gar nicht realisiert sind oder sogar gar nicht realisiert werden können, hervortritt oder hervortreten würde. 8 Diese Dispositionen, sich unter bestimmten (in dem Falle der naturgesetzlichen Beschreibung: kausal isolierten) Umständen in gewisser Art zu verhalten, kommen in der dispositionellen Lesart der Naturgesetze den Systemen aber in allen Umständen zu. Ob sie aber überhaupt die einzigen oder letztlich wirksamen kausalen Faktoren sind, lässt sich aus ihrem genetischen Entstehungskontext nicht folgern, weil dieser ja die Isolation einer bestimmten Disposition methodisch voraussetzt. Die idealisierte Darstellung der gesetzesmäßigen Beschreibung der Welt als die ontologische Grundlage für alle anderen Ebenen der Wirklichkeit zu nehmen, heißt, die Laborsituation in universalisierter Perspektive in die reale Welt zu projizieren. 9 Gerade eine notwendige Idealisierung, die in dem Absehen von weiteren Faktoren besteht, macht bei einer Generalisierung der Geltungsansprüche eine Begründung erforderlich, die rein methodologisch nicht einzuholen ist, weil sie selbst erst die Voraussetzung für eine Gesetzmäßigkeit ist: Die kausale Isolierung ermöglicht überhaupt erst die Erforschung des Zusammenhangs zwischen verschiedenen, isolierten Kausalfaktoren. Wie Kausalitätsverhältnisse, in denen andere als die untersuchten Kausalfaktoren eine Rolle spielen, strukturiert sind und ob es weitere

7 Vgl. A. Hüttemann, Idealisierungen und das Ziel der Physik. Eine Untersuchung zum Realismus, Empirismus und Konstruktivismus in der Wissenschaftstheorie, 142. 8 Vgl. A. Hüttemann, Idealisierungen und das Ziel der Physik. Eine Untersuchung zum Realismus, Empirismus und Konstruktivismus in der Wissenschaftstheorie, 149. 9 Vgl. dazu auch H. Tetens, »Das Labor als Grenze der exakten Naturforschung«.

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nicht reduzierbare Kausalfaktoren gibt, lässt sich nicht aufgrund einer erfolgreich hergestellten Laborsituation sagen, da hier – wie dargelegt – nur ganz bestimmte Kausalstränge thematisiert werden können, indem bestimmte Dispositionen isoliert zutage treten und damit ihre kausale Relevanz entfalten. In diesem Sinne ist auch das Prinzip der kausalen Geschlossenheit des Physikalischen zu interpretieren, das oft als Argument für eine starke Fundamentalität der Physik im ontologischen Sinne angeführt wird. Wenn alle Ereignisse, die eine hinreichende Ursache besitzen, ausschließlich eine physikalische Ursache besitzen, weil diese hinreichend ist, um das Ereignis hervorzubringen, dann könnten nicht-physikalische Faktoren keine kausale Rolle mehr innehaben. Alle Kausalität wäre schon mit der physikalischen Beschreibung der Welt gegeben. Allerdings gibt es methodisch keinen Grund, eine solche starke Lesart zu bevorzugen, denn analog zu den Ausführungen zu Naturgesetzen kann das Prinzip der kausalen Geschlossenheit nur unter Ceteris-Paribus-Klauseln gelten. So aufgefasst, beschreibt es eine Tendenz der physikalischen Faktoren, sich kausal zu manifestieren, wenn es keine anderen (z. B. nicht-physikalische) Faktoren gibt. In dieser Lesart würde es die Tendenz des Verlaufs der Welt hinsichtlich ihrer physikalischen Dispositionen insofern beschreiben, als diese Dispositionen bei Abwesenheit anderer Faktoren oder einer geringen Störung durch diese einen bestimmten Verlauf festlegen. 10 Damit ist aber auch klar, dass sich die totalisierenden Ansprüche eines reduktionistischen Programms hinsichtlich der beanspruchten Reduktion lebensweltlicher Qualitäten auf basale Kausalstrukturen methodisch nicht durch ein erfolgreiches Arbeiten der Naturwissenschaften begründen lassen, da dort immer nur kausal isolierte Abläufe betrachtet werden.

2.3 Zur Verwendung von Modellen in den Naturwissenschaften Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Bestimmung der Reichweite der naturwissenschaftlichen Beschreibung stellt die Verwendung von Modellen in der naturwissenschaftlichen Forschung dar. In der DisVgl. dazu R. C. Bishop »The Hidden Premise in the Causal Argument for Physicalism«.

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kussion, wie Theorien auf die Wirklichkeit angewendet werden, hat sich immer mehr die Einsicht durchgesetzt, dass diese Vermittlung nur durch Modelle geleistet werden kann. 11 Wie auch immer man das Verhältnis von Modell und Theorie genauer bestimmen mag, einig sind sich die Modelltheoretiker jedenfalls darin, dass das Modell näher an der Wirklichkeit ist als die Theorie, die in diesem Sinne im Abstraktionsprozess auf einer abstrakteren Stufe steht. Zahlreiche Fallstudien haben gezeigt, dass Modelle nicht nur heuristischen Wert haben, sondern dass ihnen auch eine notwendige erkenntnistheoretische Funktion zukommt. Dies bedeutet aber, dass für die naturwissenschaftliche Beschreibung die Struktur des Modells eine wichtige Rolle spielt, denn von ihr hängt ab, was und in welcher Art und Weise etwas von der empirischen Welt erfasst wird. Neben den metamathematischen Modellbegriffen derjenigen Theorien, die man gewöhnlich dem »semantic view« zurechnet, gibt es in der Diskussion um ein angemesseneres Modell-Konzept die Tendenz, den Modellbegriff unter Einbeziehung der durch Modelle zu leistenden Aufgaben allgemeiner zu fassen. Demnach versteht man unter einem Modell die Interpretation eines empirischen Phänomens, die den intellektuellen Zugang zu diesem Phänomen z. B. durch Analogisieren, Idealisierung und Vereinfachung erleichtert. 12 Dabei ist es ein wesentliches Merkmal von Modellen, dass sie immer nur einen bestimmten Aspekt des empirischen Phänomens modellieren, was dazu führt, dass die Beschreibung notwendig immer partiell ist, während andere Aspekte, die für die jeweilige Fragestellung nicht relevant sind, methodisch ausgeblendet werden. Dabei sind für den vorliegenden Kontext folgende Aspekte besonders wichtig: 1. Die Auswahl der Aspekte, die in der modellhaften Beschreibung thematisiert werden, ist immer vom Forschungsinteresse und der jeweiligen Fragestellung abhängig, wodurch nicht garantiert ist, dass dadurch auch notwendig die ontologisch fundamentalen Eigenschaften thematisiert werden. 13 Vgl. dazu beispielsweise prominente Vertreter wie D. Bailer-Jones, »Naturwissenschaftliche Modelle: Von Epistemologie zu Ontologie«; Scientific Models in Philosophy of Science; N. Cartwright, Nature’s Capacities and Their Measurement; The Dappled World: A Study of the Boundaries of Science; M. Suaréz, »Theories, Models, and Representations«; M. Morgan / M. Morrison (Hg.), Models as Mediators. 12 Vgl. D. Bailer-Jones, »Naturwissenschaftliche Modelle: Von Epistemologie zu Ontologie«, 2. 13 Vgl. D. Bailer-Jones, Scientific Models in Philosophy of Science, 193. 11

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Die thematisierten Aspekte werden in einer idealisierten Form thematisiert, die so in der Wirklichkeit nicht vorkommen, um die Modellierung zu vereinfachen. 14 Und die Modellierung ist wiederum notwendig, um die untersuchten Phänomene mit einer Theorie in Verbindung zu bringen. Klassisches Beispiel hierfür ist die idealisierte Betrachtung eines Pendels im sogenannten mathematischen Pendel. Hier werden Annahmen gemacht, die eine eindeutige Idealisierung darstellen, denn in Wirklichkeit ist der Pendelkörper kein ausdehnungsloser Massepunkt, das Aufhängungsseil ist weder starr noch unausgedehnt und hat zudem auch eine Masse. Dazu kommt, dass innerhalb von bestimmten Wissenschaftszweigen verschiedene, miteinander nicht konsistente Modelle verwendet werden, die für die jeweiligen Teilaspekte dennoch ihren Zweck erfüllen. 15 Da es meist kein innertheoretisches Kriterium gibt, welches vorgeben würde, welches der verwendeten Modelle Priorität genießt, ist die jeweilige Verwendung von dem Forschungsinteresse abhängig. Zudem werden in vielen Modellen oft auch bewusst falsche Annahmen verwendet, wenn dadurch gleichzeitig bestimmte Eigenschaften der Wirklichkeit in dem Modell erfasst werden können. Auch hier gibt es kein theoretisches Kriterium, das die Anzahl dieser falschen Propositionen beschränkt oder verbietet, sondern es kommt auf die Abwägung des Wissenschaftlers an, ob der Nutzen des Gesamtmodells die Verwendung der falschen Propositionen legitimiert. 16

Durch die modelltheoretischen Überlegungen wird deutlich, dass die naturwissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit auf die Verwendung von Modellen angewiesen ist. Dabei stellt sich aber heraus, dass die Verwendung von Modellen es notwendig macht, Wirklichkeit immer unter einer selektiven, idealisierenden und abstrahierenden Perspektive zu beschreiben, wobei sogar sich widersprechende Vgl. N. Cartwright, Nature’s Capacities and Their Measurement, 185. So wird in der Physik bei der Untersuchung von Wasser dieses als einmal als ideale Flüssigkeit, die inkompressibel und kontinuierlich ist, aufgefasst, während man es als aus diskreten Teilchen bestehend auffasst, wenn man beschreiben möchte, wie ein Tropfen Tinte in einem Glas Wasser diffundiert (Vgl. D. Bailer-Jones, »Naturwissenschaftliche Modelle: Von Epistemologie zu Ontologie«, 3). 16 Vgl. D. Bailer-Jones, Scientific Models in Philosophy of Science, 193. 14 15

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Modelle für dieselben Phänomene oder Modelle mit falschen Propositionen gibt. Anzunehmen, die naturwissenschaftliche Perspektive beschreibe die ganze Wirklichkeit übersieht die in der Modellverwendung mit einhergehenden Beschränkungen.

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Zu Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit einer lebensweltlichen Perspektive

Die vorausgegangenen wissenschaftsphilosophischen Überlegungen haben deutlich gemacht, dass die Reduktion lebensweltlicher Phänomene auf materielle Strukturen schon aus methodischen Gründen nicht aus erfolgreich arbeitenden Naturwissenschaften folgt. Dementsprechend handelt sich bei der naturwissenschaftlichen Perspektive um eine abstrahierende und idealisierende Perspektive, die unter einer bestimmten Fragestellung mit Hilfe bestimmter Methoden bestimmte Aspekte der Wirklichkeit thematisiert. Konnte also somit bisher in aller Kürze aufgezeigt werden, dass eine Reduktion der lebensweltlichen Qualitäten auf funktional-kausale Strukturen nicht aus der naturwissenschaftlichen Beschreibung folgt, lässt sich aber gerade anhand der methodischen Vorgaben darüber hinaus aber zeigen, dass bestimmte lebensweltliche Qualitäten für die naturwissenschaftliche Forschungspraxis selbst unverzichtbar sind. Im Folgenden soll dies anhand der experimentellen Handlung als normativer Handlungspraxis beispielhaft demonstriert werden.

3.1 Die experimentelle Handlung als Voraussetzung der Forschungspraxis Wie bereits oben ausgeführt, gelten Naturgesetze im strengen Sinn immer nur mit Ceteris-Paribus-Klauseln, also unter idealisierten Bedingungen. Um die mit diesen Gesetzmäßigkeiten beschriebenen Situationen überprüfbar zu machen, muss eine Situation künstlich herbeigeführt werden, in der die zu untersuchenden Faktoren isoliert werden. Dadurch können erst die Bedingungen erfüllt werden, durch die der Naturvorgang wissenschaftlich beschrieben werden kann: Er darf nicht durch andere kausale Faktoren gestört werden, er muss sich hinreichend genau beobachten und messen lassen, er muss »be43 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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gradigt« ablaufen, so dass er idealerweise durch eine mathematische Gleichung beschrieben werden kann und es müssen immer wieder dieselben Anfangs- und Randbedingungen herrschen. 17 Dies ist, je nach untersuchtem Gegenstand, zwar graduell unterschieden, aber prinzipiell primär nur unter Laborbedingungen möglich, die in einem Experiment verwirklicht sind. Das bedeutet, im Experiment werden durch den Einsatz von Technik künstlich die Ceteris-Paribus-Bedingungen geschaffen, unter denen ein Naturgeschehen kontrolliert ablaufen kann. Die Schaffung von kontrollierten Bedingungen ist somit auch eine wesentliche Voraussetzung für die transsubjektive Geltung von Wissenschaft, denn die Herstellung dieser Ceteris-Paribus-Bedingungen können nur durch die Vorgabe von Methoden als Handlungsanweisungen erreicht werden, so dass die Nachvollziehbarkeit von Bedeutung und Geltung der so thematisierten Naturabläufe prinzipiell durch jedermann muss geleistet werden können. Die Isolation bestimmter Faktoren der untersuchten Wirklichkeitsaspekte ermöglicht durch die Variierung von Parametern, die mit den Faktoren zusammenhängen, eine bestimmte Art von Bewirkungswissen. Aus diesem kann geschlossen werden, welche Faktoren experimentell manipuliert werden müssen, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Dieses Bewirkungswissen ist zunächst technischer Natur und kann dann in einem zweiten Schritt analog auch auf Kausalbeziehungen in der Natur übertragen werden. Zu diesem Zweck ist zu fragen, welche kausalen Dispositionen den untersuchten Gegenständen zugrunde liegen müssen, um die gewünschten Effekte auch technisch umzusetzen. 18 Somit ist diese Untersuchung der experimentellen Voraussetzungen für die Reduktionismusdebatte relevant, denn es wird deutlich, dass für das Betreiben von empirischer Forschung andere Kategorien notwendig sind als diejenigen, die in der jeweiligen Objektsprache vorkommen. Denn für wissenschaftliche Forschung ist Experimentieren unabdingbar, und dieses entpuppt sich in einer wissenschaftsphilosophischen Analyse als ein geplantes Handeln zur Herstellung von Zuständen und Verläufen, die ohne das menschliche

Vgl. H. Tetens, »Das Labor als Grenze der exakten Naturforschung«, 32 f. Vgl. für eine ausführlichere Analyse P. Janich, »Kleine Philosophie der Naturwissenschaften«, 97–104.

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zweckgerichtete Handeln gar nicht zustande gekommen wären. 19 Die gesetzesartige Beschreibung eines Naturablaufs ist also nur dann möglich, wenn dieser unter idealisierten Bedingungen abläuft, was wiederum nur durch eine zweckgerichtete Handlung im Experiment erreicht werden kann. Damit tritt im Zusammenhang des Experimentierens als eines notwendigen Bestandteils naturwissenschaftlicher Praxis ein fundamentaler Unterschied zu Tage: Das Experiment verlangt aufgrund seiner Struktur, zwischen bloßem Verhalten und normativem Handlungszusammenhang zu unterscheiden. Das »bloße Verhalten« charakterisiert die Naturverläufe, die in den naturwissenschaftlichen Disziplinen untersucht werden, denn diese zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie als rein kausal beschreibbare Abläufe thematisiert werden können. Dabei legen sich die Naturwissenschaften schon durch ihre Fragestellung methodisch auf die hierfür relevanten Kausalfaktoren fest: Es sollen diejenigen Dispositionen gefunden werden, die unter einer Isolierung von anderen Faktoren für den regelmäßigen Ablauf des beobachteten Naturverlaufs sorgen. Dies ist für das hieraus resultierende Naturverständnis relevant: »Natur oder Natürliches ist nach diesem Verständnis ein bloßes Geschehen bzw. eine Folge eines bloßen Geschehens. Es gibt keine dem Geschehen zu Grunde liegenden übergreifenden Absichten, keinen Plan, keinen Zweck, kein Ziel.« 20

Eine reduktionistische Perspektive kann notwendigerweise nur einen solchen Naturbegriff für sinnvoll halten und muss darüber hinaus behaupten, dass alle Wirklichkeit letztlich auf eine so konzipierte Natur zurückführbar ist. Die Analyse der Wissenschaftspraxis zeigt nun aber, dass diese Art von Naturbeschreibung überhaupt nur dann möglich ist (und im strengen Sinn überhaupt nur dann gilt), wenn im Experiment die notwendigen Bedingungen zielgerichtet herstellt werden, womit die Kategorie der normativen Handlung als unhintergehbar ausgezeichnet wird und den reduktionistischen Rahmen sprengt. Dies kann anhand der grundlegenden Charakteristika der Hand19 20

Vgl. P. Janich, »Kein neues Menschenbild: Zur Sprache der Hirnforschung«, 152 ff. W.-J. Cramm, »Zur kategorialen Differenz von Vernunft und Natur«, 44.

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lung illustriert werden. Eine Handlung unterscheidet sich vom bloßen Verhalten dadurch, dass in ihr eine Entscheidung involviert ist, in der Handlungsmöglichkeiten erwogen werden und dann ein Zweck gesetzt wird, der durch diese Handlung realisiert werden soll. Handlungen sind also intentional. Nur aufgrund dieser normativen Struktur kann als Handeln dasjenige bezeichnet werden, was uns von anderen als Verdienst oder Verschulden zugerechnet wird. 21 Dies liegt daran, dass wir nur zu Durchführung und Unterlassung von Handlungen aufgefordert werden können, also zu Aktivitäten, die willentlich gesteuert werden können, während bloßes Verhalten wie Niesen, Stolpern usw. immer nur kausal abläuft. Dabei sind Handlungen auf zweifache Weise normativ: Zum einen können sie ge- oder misslingen, das bedeutet, sie können richtig oder falsch vollzogen werden. Zum anderen können sie erfolgreich oder erfolglos sein, je nachdem, ob der jeweilige Handlungszweck erreicht oder verfehlt worden ist. 22 Beide Aspekte sind für die naturwissenschaftliche Forschungspraxis äußerst relevant: 1. Der erste Aspekt lässt sich an dem sogenannten Prinzip der methodischen Ordnung illustrieren: Dieses besagt, dass in der wissenschaftlichen Praxis, vor allem in Experimenten, Teilhandlungen in einer bestimmten, nicht vertauschbaren Reihenfolge vollzogen werden müssen, um zu einem Ergebnis zu kommen: 23 So kann der Induktionsstrom in einer Spule erst dann gemessen werden, wenn die Spule in einer geeigneten Weise hergestellt wurde und ein veränderbares Magnetfeld in geeigneter Weise in die Nähe der Spule gebracht wird. Das Prinzip der methodischen Ordnung ist selbst keine wissenschaftliche Aussage. Es kann weder durch ein Experiment bestätigt werden noch kann es in einem rein kausalen Zusammenhang beschrieben werden, sondern es formuliert vielmehr eine normative Bedingung, ohne die das Experiment nicht gelingen und auch nicht erfolgreich sein kann. Somit zeigt das Prinzip als Vorschrift, dass prinzipiell eben auch eine andere Reihenfolge Vgl. P. Janich, Kein neues Menschenbild: Zur Sprache der Hirnforschung, 130 f. Vgl. P. Janich, Kein neues Menschenbild: Zur Sprache der Hirnforschung, 19. 23 Vgl. dazu beispielsweise P. Janich, Kein neues Menschenbild: Zur Sprache der Hirnforschung, 22–28. 21 22

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von Teilhandlungen möglich wäre, da es anderenfalls gar nicht notwendig wäre, es als Regel für ein gelingendes Experimentieren vorzuschreiben. Selbst wenn die jeweiligen Teilhandlungen richtig vollzogen werden und dabei das Prinzip der methodischen Ordnung berücksichtigt wird, ist es dennoch nicht gesagt, dass eine experimentelle Handlung erfolgreich gewesen ist. Ein mögliches Scheitern der ursprünglichen Experimentabsicht kann verschiedene Gründe haben. So ist z. B. der falsche Faktor für den zu untersuchenden Naturablauf isoliert worden oder – im Zusammenhang der Handlungsnormativität vielleicht interessanter – es wurden für den intendierten Zweck die falschen Mittel eingesetzt. Das Brutverhalten von Vögeln kann durch physikalische Experimente nicht beschrieben werden (auch wenn es physikalische Aspekte des Brutverhaltens geben mag) und es gehört zur Rationalität der wissenschaftlichen Praxis, dass man jemanden, der es dennoch versuchte, darauf hinweisen würde, dass die verwendeten Teilhandlungen zwar in anderen Kontexten sinnvoll genutzt werden können, dass aber die Mittel im konkreten Fall für die zugrundliegende Fragestellung nicht geeignet sind.

Diese Aspekte des experimentellen Handelns illustrieren schon einige wichtige Punkte der Normativität der Forschungspraxis als eines normativen Handlungszusammenhangs. Die hieraus gewonnene wissenschaftliche Rede zeichnet sich von unwissenschaftlicher dadurch aus, dass mit ihr eine Orientierung an Normativität gegeben ist, die durch Regeln kontrollierbar bleibt. 24 Dabei verbürgt die Orientierung an logischen Regeln und Normierungen gerade die intersubjektive Invarianz der naturwissenschaftlichen Forschung, denn nur, wenn diese Vorgaben eingehalten werden, können immer wieder dieselben Ergebnisse hergestellt werden.

Diese Normativität lässt sich aber in einer rein kausal verstandenen Welt nicht denken. Sie setzt voraus, dass die Forscher als handelnde Subjekte sich in ihrer Praxis an einer Normativität orientieren sollen. Dieses Sollen setzt aber – wie Kant schon prominenterweise herausgestellt hat – ein Können voraus, und dieses Können lässt sich nicht als kausale Disposition fassen. Die Analyse des Experiments zeigt also, dass es im Experiment um die zielgerichtete, künstliche Herstellung von AusgangsbedinVgl. P. Stekeler-Weithofer, Denken. Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes, 116 f.

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gungen geht, die dann einen bestimmten Naturablauf produzieren. Damit wird durch die wissenschaftliche Praxis im Experiment als normativem Handlungszusammenhang die Unterscheidung von bloßem Verhalten, das sich rein kausal beschreiben lässt, und Handlung als planmäßigem und zielgerichtetem Herbeiführen von Zuständen zwingend. In diesem Sinne lassen sich dann auch die schon oben erwähnten verschiedenen Ebenen im Experiment unterscheiden: Als zweckmäßige Anordnung ist es eine menschliche zielgerichtete Handlung, die auf einen Naturablauf abzielt, der ohne die zweckmäßige und zielgerichtete Handlung nicht eingetreten wäre. Insofern Handlungen gelingen oder misslingen können, indem der Zweck der Handlung (hier das künstliche Herstellen von bestimmten Zuständen, die dann »von selbst« ablaufen) erreicht oder verfehlt werden kann, können auch Experimente als Handlungen ge- oder misslingen, je nachdem, ob es z. B. gelungen ist, die richtigen technischen Mittel für den Zweck einzusetzen. Das Kriterium für das Gelingen wäre dann die Frage, ob die geeigneten Mittel in einer geeigneten Weise so arrangiert worden sind, dass die gewünschten Naturprozesse ablaufen können, aus deren Verlauf dann später eine Gesetzmäßigkeit abgeleitet werden kann. Auf einer anderen Ebene ist aber dann der Naturprozess zu verorten, dessen Ausgangsbedingungen durch das Experiment hergestellt werden. Dieser läuft nach den erfolgreich hergestellten Ausgangsbedingungen »von selbst« ab. Insofern ist das Experiment erfolgreich, wenn sich herausstellt, dass die in ihm evozierten Naturabläufe in einer gewissen Gesetzmäßigkeit ablaufen. Die Aufgabe einer kausalen Naturbeschreibung lässt sich somit nur dann leisten, wenn durch Methoden als Handlungsanweisungen vorgeschrieben wird, was zu der Erreichung der jeweiligen Ziele gemacht werden muss. Es geht also um eine methodisch angeleitete Handlungsanweisung zur Herstellung bestimmter Experimentsituationen, die intersubjektive Erfahrungen als Widerfahrnisse im Handeln produzieren sollen. 25 Dieses zweckgerichtete Handeln, das die Voraussetzung der experimentellen Handlung ist, wäre aber selbst nicht mit einem reduktionistischen Ansatzes vereinbar, demzufolge alle Phänomene letztlich mit einer physikalischen Mikroerklärung (»fundamentalen« 25

Vgl. P. Janich, Kein neues Menschenbild: Zur Sprache der Hirnforschung, 149.

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Entitäten erklären alle »höheren« Phänomene) erfassbar und somit in physikalischen Kategorien explizierbar sein sollen: Denn auf der Ebene der bloßen Naturabläufe gibt es weder eine Normativität, die als Kriterium für das Ge- oder Misslingen wissenschaftlicher Experimente fungieren könnte, noch gibt es so etwas wie Zielgerichtetheit, denn die rein kausalen physischen Abläufe haben ja schon eine hinreichend bestimmte kausale Wirksamkeit, die ja gerade so stark gedacht wird, dass sie nicht von anderen als den physischen Faktoren gelenkt werden kann. 26 Dass in den Naturwissenschaften – wenn überhaupt – dann aus methodischen Gründen nur Kausalerklärungen benutzt werden und andere Erklärungsformen, die wir in der Lebenswelt und in der Forschungspraxis notwendig und mit großem Erfolg anwenden, ausgeblendet werden, sollte nicht verwundern. Diese Ausblendung besagt aber natürlich nicht, dass es nicht auch andere Formen von Erklärung gäbe oder deren Verwendung in den jeweiligen Kontexten nicht sinnvoll wäre. Sie besagt lediglich, dass für die Zwecke der Beschreibung von kausalen Naturabläufen innerhalb der Beschreibungsebene keine anderen Erklärungsansätze erforderlich sind. Dies sollte nicht verwundern, wenn das Ziel der Physik und auch der entsprechenden Neurowissenschaften darin besteht, kausale Dispositionen von physischen Systemen zu beschreiben. Daran ist für das Vorgehen und die Forschungspraxis der jeweiligen Wissenschaft nichts auszusetzen, denn zu ihrer Konzeption gehört es, dass nur bestimmte Erklärungstypen, nämlich diejenigen, die mit Kausalwirkungen zu tun haben, modelliert werden. 27 Thematisiert man aber durch eine Analyse der Wissenschaftspraxis auch die Bedingungen des wissenschaftlichen Forschens, so stellt sich das wissenschaftliche Handeln beispielsweise im Experimentieren als normative Handlungspraxis heraus, die in Form des Wissenschaft betreibenden Forschers ein Subjekt voraussetzt, das bestimmte geistige Vermögen besitzt, die sich reduktionistisch nicht fassen lassen.

Vgl. beispielsweise W.-J. Cramm, »Zur kategorialen Differenz von Vernunft und Natur«, 44. 27 Vgl. B. Falkenburg, »Was heißt es, determiniert zu sein? Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung«, 47. 26

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3.2 Wissenschaftspraxis und lebensweltliche Subjektkonzeption Schon die bereits angeführten methodischen Bedingungen von Wissenschaft verweisen innerhalb der Wissenschaftspraxis in der Person des Forschers auf einen starken Subjektbezug. So ergibt sich beispielsweise die Auswahl der modellierten Aspekte nicht aus der Theorie, sondern ist von dem Forschungsinteresse des jeweiligen Forschers bzw. der Forschungscommunity abhängig und setzt aufgrund des damit verbundenen rationalen Abwägens von Interessen damit wiederum ein umfassenderes Subjektkonzept voraus. Denn der Forscher als Subjekt bzw. die Forschungscommunity als Gemeinschaft von vielen Subjekten setzt die jeweiligen Forschungsabsichten und Forschungszwecke fest, wobei dieser Prozess – jedenfalls als Leitidee – prinzipiell von vernünftigen Gründen geleitet werden soll. Die der Wissenschaftspraxis innewohnende Normativität entpuppt sich damit als Ausgangsbasis für ein nicht reduktionistisches Subjektkonzept. Denn war es gerade das Merkmal des Naturverständnisses der modernen Naturwissenschaften, dass Natur als bloße Abfolge eines Geschehens aufgefasst wurde, das rein kausal beschrieben werden kann, so setzt die Wissenschaft eine Normativität für die beteiligten Forscher voraus, die als Subjekte entsprechende Vermögen besitzen müssen. Somit stellt sich das wissenschaftliche Handeln beispielsweise im Experimentieren als normative Handlungspraxis heraus, die in Form des wissenschaftstreibenden Forschers ein lebensweltliches Subjektkonzept voraussetzt, in dem das Subjekt bestimmte geistige Vermögen besitzt, die für die normative Handlungspraxis konstitutiv sind und die sich daher reduktionistisch nicht fassen lassen.

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Die Widerlegung des Naturalismus aus lebensweltlicher Vernunft Uwe Meixner

In seinem Buch Miracles von 1947 und in verbesserter Gestalt in der 2. Auflage von 1960 (von der hier ausgegangen wird) gibt C. S. Lewis eine Reihe von gegen den Naturalismus gerichteten Argumenten an. Diese Argumente sind von großem philosophischem Interesse, sind es doch – bei wohlwollend interpretierender Rekonstruktion – einigermaßen starke, rein philosophische Argumente (ohne irgendwelche theologischen Voraussetzungen expliziter oder impliziter Natur). Ich stelle diese Argumente im Folgenden in von mir rekonstruierter Gestalt dar, ohne auf den Originaltext von Lewis näher einzugehen. Dieser Text ist unter der glatten rhetorischen Oberfläche oftmals gedanklich verwickelt, gedanklich nicht vollständig oder nicht klar, so dass der Rekonstruktionsbedarf ein erheblicher ist. Hier aber soll nicht C. S. Lewis und das Interpretatorische und Historische im Mittelpunkt stehen, sondern eben die Argumente in ihrem Sachgehalt und ihrer Logik. Was aber ist Naturalismus? – Die naturalistische These, lässt sich den Ausführungen von Lewis entnehmen, ist die folgende: Das raumzeitliche System – die Natur – existiert ursachlos, und alles, was existiert, ist das raumzeitliche System selbst oder ein Teil davon. Wenn dies die naturalistische These – also der Naturalismus – ist, so besteht ein erfolgreiches Argument dagegen darin, dass man die Verneinung der naturalistischen These etabliert oder zumindest zeigt, dass die Verneinung der naturalistischen These rational wahrscheinlicher ist als diese These selbst. Wir werden sehen, ob bzw. inwieweit Lewis’ Argumente dies tatsächlich leisten. Einstweilen ist festzuhalten, dass die angegebene Bestimmung des Naturalismus eine rein ontologische, dabei aber zweifelsohne adäquate Bestimmung ist; denn der ontologische Aspekt des naturalistischen Gesamtprojekts – es hat 53 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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auch erkenntnistheoretische und ethische Seiten – ist ja gewiss der Kern dieses Projekts; ohne ihn fällt es in sich zusammen. Die exakte Verneinung der naturalistischen These – die antinaturalistische These – ist dann die folgende Aussage: Das raumzeitliche System – die Natur – existiert nicht ursachlos, oder aber manches, was existiert, ist weder das raumzeitliche System selbst noch ein Teil davon. Da es sich bei der antinaturalistischen These um eine Oder-Aussage handelt, kann man für sie (und damit eo ipso gegen die naturalistische These) argumentieren, indem man für eine ihrer (in ihr alternativ gesetzten) Teilthesen argumentiert. Lewis macht von dieser Möglichkeit aber keinen Gebrauch. Er wählt den Weg der reductio ad absurdum. Bei diesem Verfahren wird die These, gegen die argumentiert werden soll (hier die These des Naturalismus), probeweise vorausgesetzt und versucht, sie dadurch zu entkräften, dass aus ihr für jedermann unakzeptable weitere Thesen hinreichend stringent gefolgert werden. Das erste Argument von Lewis gegen den Naturalismus sieht nun wie folgt aus (Lewis’ Aussagen dazu finden sich im 3. Kapitel von Miracles). Ich präsentiere das Argument in vier Portionen. Auf die Lewis-exegetischen Details, auf die Begründung meiner rekonstruktiv-interpretierenden Schritte gehe ich, wie schon angekündigt, nicht ein: (1) Der Naturalismus ist wahr. [Annahme zur Widerlegung; Prämisse] (2) Das raumzeitliche System – die Natur – existiert ursachlos, und alles, was existiert, ist das raumzeitliche System selbst oder ein Teil davon. [analytisch äquivalent mit (1)] (3) Alle Ereignisse sind rein natürlich erklärbar. [Folgerung aus (2)] Der erste der Folgerungsübergänge – von (1) zu (2) – kann als logisch einwandfrei gelten, der zweite – von (2) zu (3) – aber nicht. Denn auch wenn das raumzeitliche System ursachlos existiert und alles, was existiert, das raumzeitliche System selbst oder ein Teil davon ist, so ist doch dadurch noch nicht ausgeschlossen, dass es Ereignisse gibt, die absolut unerklärbar sind (ist nicht das raumzeitliche System selbst – wenn der Naturalismus wahr ist – ein solches Ereignis?); 54 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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wenn es aber absolut unerklärbare Ereignisse gibt, so gibt es auch Ereignisse, die nicht rein natürlich erklärbar sind (denn was absolut unerklärbar ist, ist selbstverständlich auch nicht rein natürlich erklärbar). Es wird zu überlegen sein, wie schwerwiegend dieses non sequitur für Lewis’ antinaturalistisches Projekt letztlich ist. Zunächst ist jedoch der Gedankengang von Lewis in seinem ersten Argument gegen den Naturalismus weiter zu verfolgen: (4) Alle Ereignisse sind Kausalwirkungen vorausgehender Ereignisse. [Folgerung aus (3)] (5) Alle unsere Denkakte sind Ereignisse. [Prämisse] (6) Alle unsere Denkakte sind Kausalwirkungen vorausgehender Ereignisse. [Folgerung aus (4) und (5)] Die Prämisse in diesem zweiten Tripel von argumentativen Schritten – d. h.: (5) – ist korrekt (und zumal ein Naturalist wird ihr zustimmen); das Wort »Denkakt« sei dabei in einem sehr weiten Sinn verstanden, so dass vor allem auch die (aktuale) Überzeugung – d. h.: das aktuale (nicht bloß dispositionelle) Akzeptieren einer Aussage oder Proposition als richtig (und nicht etwa nur das Ziehen von Folgerungen oder das Erwägen von Möglichkeiten) – ein Denkakt ist. (Mit Denkakten sind im Folgenden in erster Linie Überzeugungen gemeint.) Der Übergang dann von (4) und (5) zu (6) ist logisch einwandfrei und offensichtlich. Die Aussage (4) wiederum stellt keine weitere Prämisse dar, sondern ist, wie bei dieser Aussage vermerkt, eine Folgerung aus (3) – und zwar eine unter den gegebenen Voraussetzungen einwandfreie Folgerung. Denn es ist ja vollständig im Sinne des – im Argument zur Widerlegung vorausgesetzten – Naturalismus (gerade auch des modernen), dass die rein natürliche Erklärbarkeit eines Ereignisses als seine rein ereigniskausale Erklärbarkeit gedeutet wird, und die rein ereigniskausale Erklärbarkeit eines Ereignisses verlangt nun eben (per se und selbstverständlich), dass es eine Kausalwirkung vorausgehender Ereignisse ist. – Fahren wir fort: (7) Manche unserer Denkakte sind valide, m. a. W.: sie stellen echte Einsichten dar. [Prämisse] (8) Für das Zustandekommen aller unserer Denkakte sind Gründe nicht nötig. [Folgerung aus (6)] (9) Alle unsere Denkakte sind unbegründet. [Folgerung aus (8)]

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Wenn man kein Anhänger des Skeptizismus ist, so muss man die Prämisse in diesem dritten Tripel von argumentativen Schritten – d. h.: (7) – für korrekt erachten. Es wäre zudem ein merkwürdiger Naturalist, der den Naturalismus zwar für wahr hält, aber nicht davon ausgeht, dass der Denkakt, in dem er die naturalistische These für wahr hält, valide ist und eine echte Einsicht darstellt. Was nun den Übergang von (6) zu (8) angeht, so geht Lewis zu Recht – im Sinne der lebensweltlichen Vernunft – davon aus, dass Gründe für das Zustandekommen von Denkakten unterschieden werden müssen von Ereignissen, die Ursachen von Denkakten sind, obwohl ja mit »warum [why]« sowohl nach Ursachen als auch nach Gründen gefragt werden kann und mit »weil [because]« sowohl auf die Frage nach Ursachen als auch auf die Frage nach Gründen geantwortet werden kann. Lewis geht insbesondere zu Recht – im Sinne der lebensweltlichen Vernunft – davon aus, dass zwischen Gründen und Ursachen von Denkakten in solcher Weise unterschieden werden muss, dass, wenn ein Ereignis einen Denkakt verursacht, ein Grund für dessen Zustandekommen keine Rolle mehr spielt, also dafür nicht nötig ist (mag ein Grund auch existieren). Die Begründung hierfür ist, dass bei einem Denkakt ein Grund für sein Zustandekommen nur in Beziehung auf ein rationales Agens-Subjekt des Denkens eine Rolle spielen kann, und zwar die Rolle, den Vollzug des Denkakts für dieses Agens-Subjekt zu rechtfertigen, ohne welche Rechtfertigung das Agens-Subjekt, als rationales, den Denkakt nicht vollzogen hätte, er also nicht zustande gekommen wäre; spielt also ein rationales AgensSubjekt für das Zustandekommen eines Denkakts selbst keine Rolle – wie es der Fall ist, wenn der Denkakt schon anderweitig durch ein Ereignis verursacht ist –, so spielt für das Zustandekommen des Denkakts auch ein Grund keine Rolle. Verteidiger des Naturalismus dürften gerade gegen diese Überlegungen größte Bemühungen der Diskreditierung richten; sie sind das Herz des ersten Argumentes von Lewis gegen den Naturalismus. Wie plausibel solche Diskreditierungsbemühungen sind, ist eine andere Frage. Was den Übergang von (8) zu (9) betrifft, so setzt dessen analytische Korrektheit die Adäquatheit einer bestimmten Deutung von »unbegründet« voraus, nämlich derjenigen, wonach ein Denkakt nicht bloß dann unbegründet ist, wenn er keinen Grund hat, sondern auch dann unbegründet ist, wenn für sein Zustandekommen ein Grund nicht nötig ist, ein solcher dafür keine Rolle spielt (mag er auch einen Grund haben). Die Adäquatheit der von Lewis verwende56 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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ten Deutung von »unbegründet [groundless]« lässt sich mit dem Hinweis verteidigen, dass ein Denkakt mit Grund, der aber auch ohne Grund genauso, wie er nun eben ist, zustande gekommen wäre, gleichzusetzen ist mit einem Denkakt, der keinen Grund hat. Wir kommen nun zu dem entscheidenden letzten Schritt des Arguments: (10) Alle unsere Denkakte sind nicht valide, m. a. W.: sie stellen keine echten Einsichten dar. [Folgerung aus (9)] Der Übergang von (9) zu (10) ist analytisch korrekt, wie man sich leicht überzeugt. Denn angenommen, ein gewisser Denkakt ist valide, m. a. W.: er stellt eine echte Einsicht dar. Es ergibt sich aus dieser Annahme rein logisch gemäß (9) – gemäß dieser Allaussage über Denkakte –, dass der fragliche Denkakt zudem auch unbegründet ist. Ein Denkakt jedoch, der unbegründet ist, kann – aus begrifflichen Gründen – nun gerade keine echte Einsicht darstellen. Folglich: Alle unsere Denkakte sind nicht valide, m. a. W.: sie stellen keine echten Einsichten dar (denn die Annahme des Gegenteils hiervon führt, wie wir gerade gesehen haben, logisch-analytisch zu einem Widerspruch). Im Übrigen (es mag hilfreich sein, auch hierauf einzugehen): Die in (10) (und in (7)) verwendete Gleichsetzung von »valide sein« und »eine echte Einsicht darstellen« für Denkakte lässt sich als eine bloße Fixierung des Sprachgebrauchs verteidigen; man muss nicht so sprechen, dass »valide sein« und »eine echte Einsicht darstellen« in der Anwendung auf Denkakte synonym sind, aber man darf – mit Lewis – so sprechen, wenn man will. Mit (10) ist eine Aussage erreicht, die offensichtlich die Verneinung von (7) ist. Damit ist das Argument abgeschlossen. Da (1) die einzige Aussage in der Sequenz von (1) zu (10) ist, die zur Disposition steht, wird sie durch die Herleitung eines logischen Widerspruchs – nämlich der Konjunktion von (7) und (10) – widerlegt: Ihr Gegenteil ist richtig, m. a. W.: Der Naturalismus ist nicht wahr. Voraussetzung für die Korrektheit dieses Ergebnisses ist, dass alle Prämissen, die außer (1) verwendet wurden, nämlich (5) und (7), tatsächlich sicherer wahr sind als (1) – und daran kann, selbst für Naturalisten, kaum ein Zweifel bestehen – und dass alle Folgerungsschritte einwandfrei sind. Auch daran kann kaum ein Zweifel bestehen – mit der einen, schon vermerkten Ausnahme, die den Übergang von (2) zu (3) betrifft. Doch das (schon oben näher beschriebene) Problem lässt sich 57 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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ausräumen, indem man von dem ersten Argument von Lewis gegen den Naturalismus zu einem Argument übergeht, das mit jenem Argument sehr nahe verwandt ist (und das sich wohl als das erste Argument von Lewis gegen den Naturalismus erwiesen hätte, wenn Lewis den absoluten Zufall ontologisch ernstgenommen hätte, was er, immer noch dem Determinismus der Newton’schen Physik verhaftet, nicht tat): (1*) Der Naturalismus ist wahr. [Annahme zur Widerlegung; 1. Prämisse] (2*) Das raumzeitliche System – die Natur – existiert ursachlos, und alles, was existiert, ist das raumzeitliche System selbst oder ein Teil davon. [analytisch äquivalent mit (1*)] (3*) Alle Ereignisse sind rein natürlich erklärbar *oder absolut unerklärbar*. [Folgerung aus (2*)] (4*) Alle Ereignisse sind Kausalwirkungen vorausgehender Ereignisse *oder geschehen ohne jede Art von herbeiführender Ursache*. [Folgerung aus (3*)] (5*) Alle unsere Denkakte sind Ereignisse. [2. Prämisse] (6*) Alle unsere Denkakte sind Kausalwirkungen vorausgehender Ereignisse *oder geschehen ohne jede Art von herbeiführender Ursache*. [Folgerung aus (4*) und (5*)] (7*) Manche unserer Denkakte sind valide, m. a. W.: sie stellen echte Einsichten dar. [3. Prämisse] (8*) Für das Zustandekommen aller unserer Denkakte sind Gründe nicht nötig. [Folgerung aus (6*)] (9*) Alle unsere Denkakte sind unbegründet. [Folgerung aus (8*)] (10*) Alle unsere Denkakte sind nicht valide, m. a. W.: sie stellen keine echten Einsichten dar. [Folgerung aus (9*)] In dieser reformierten Argumentation weicht (3*) von (3) durch den mit Asterisken und Kursivdruck markierten Zusatz ab. Durch einen anderen mit Asterisken und Kursivdruck markierten Zusatz weicht (4*) von (4) ab, und (6*) weicht durch diesen selben Zusatz von (6) ab. Alle übrigen Schritte – (1) und (1*), (2) und (2*), (5) und (5*) usw. – sind bei der ursprünglichen und bei der reformierten Argumentation identisch. Die reformierte Argumentation hat gegenüber der ursprünglichen Argumentation den Vorteil, dass sie deren Geist bewahrt, aber das non sequitur in ihr vermeidet: (3*) ergibt sich ja tatsächlich ana58 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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lytisch aus (2*) [= (2)], während das für (3) und (2) gerade nicht der Fall war. Die Folgerung von (6*) aus (4*) und (5*) ist zudem ebenso unproblematisch wie die Folgerung von (6) aus (4) und (5). Was nun die Folgerung von (4*) aus (3*) angeht, so muss man eine Fallunterscheidung treffen. Gemäß (3*) gibt es nur zwei Fälle für ein beliebiges Ereignis X: Der erste Fall ist, dass X rein natürlich erklärbar ist; dann ergibt sich, dass X eine Kausalwirkung vorausgehender Ereignisse ist (siehe die oben gegebene Rechtfertigung der analytischen Folgerbarkeit von (4) aus (3)). Der zweite Fall ist, dass X absolut unerklärbar ist; dann muss aber auch gelten, dass X ohne jede Art von herbeiführender Ursache geschieht (hätte sein Eintreten nämlich eine Art von herbeiführender Ursache, so wäre es gerade nicht absolut unerklärbar). In beiden Fällen ergibt sich mithin die folgende Disjunktion: X ist eine Kausalwirkung vorausgehender Ereignisse, oder X geschieht ohne jede Art von herbeiführender Ursache. Mithin erhält man aus (3*) (4*). Was schließlich die Folgerung von (8*) aus (6*) angeht – also die letzte Folgerung, die durch die Veränderungen betroffen ist, in denen die reformierte Argumentation von der ursprünglichen abweicht –, so ist auch da eine Fallunterscheidung zu treffen: Gemäß (6*) gilt für einen beliebigen menschlichen Denkakt X: X ist eine Kausalwirkung vorausgehender Ereignisse, oder X geschieht ohne jede Art von herbeiführender Ursache. Im ersten Fall ergibt sich, dass für das Zustandekommen von X Gründe nicht nötig sind (zur Rechtfertigung siehe die oben schon gegebenen Erläuterungen zum Übergang von (6) zu (8)). Im zweiten Fall ergibt sich aber ebenfalls, dass für das Zustandekommen von X Gründe nicht nötig sind; denn wenn X ohne jede Art von herbeiführender Ursache geschieht, dann spielt ein rationales Agens-Subjekt für das Zustandekommen von X offensichtlich keine Rolle (würde es eine Rolle spielen, dann würde X ja gerade nicht ohne jede Art von herbeiführender Ursache geschehen); mithin spielen auch Gründe für das Zustandekommen von X keine Rolle, sind also nicht nötig dafür; denn sie können eine Rolle für das Zustandekommen von X ja nur dadurch spielen, dass für das Zustandekommen von X ein rationales Agens-Subjekt eine (kausale, herbeiführende) Rolle spielt (und sie den Vollzug von X für dieses AgensSubjekt rechtfertigen; vgl. die oben angestellten Überlegungen zum Übergang von (6) zu (8)). Nach der Präsentation des ersten Arguments von Lewis in seiner ursprünglichen und in seiner (bei Lewis nicht gegebenen) reformier59 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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ten Fassung komme ich nun zum zweiten Argument von Lewis gegen den Naturalismus (seine Aussagen hierzu finden sich ebenfalls im 3. Kapitel von Miracles). Es geht wie folgt: (1’)

Der Naturalismus ist wahr. [Annahme zur Widerlegung; 1. Prämisse] (2’) Das raumzeitliche System – die Natur – existiert ursachlos, und alles, was existiert, ist das raumzeitliche System selbst oder ein Teil davon. [analytisch äquivalent mit (1’)] (3’) Naturwissenschaftliche menschliche Erkenntnis gibt es nur dann, wenn die menschliche Praxis des Schlussfolgerns rational gerechtfertigt ist. [2. Prämisse] (4’) Es gibt naturwissenschaftliche menschliche Erkenntnis. [3. Prämisse] (5’) Die menschliche Praxis des Schlussfolgerns ist rational gerechtfertigt. [Folgerung aus (3’) und (4’)] (6’) Wenn die menschliche Praxis des Schlussfolgerns rational gerechtfertigt ist, dann lässt sich einsichtig machen, dass sie rational gerechtfertigt ist. [4. Prämisse] (7’) Es lässt sich einsichtig machen, dass die menschliche Praxis des Schlussfolgerns rational gerechtfertigt ist. [Folgerung aus (5’) und (6’)] (8’) Die menschliche Praxis des Schlussfolgerns ist ausschließlich im Rahmen der (darwinistisch aufgefassten) biologischen Evolution zu erklären. [Folgerung aus (2’)] (9’) Wenn die menschliche Praxis des Schlussfolgerns ausschließlich im Rahmen der biologischen Evolution zu erklären ist, dann lässt sich nicht einsichtig machen, dass sie rational gerechtfertigt ist. [5. Prämisse] (10’) Es lässt sich nicht einsichtig machen, dass die menschliche Praxis des Schlussfolgerns rational gerechtfertigt ist. [Folgerung aus (8’) und (9’)] Eine Widerlegung des Naturalismus liegt mit dieser zehnschrittigen Argumentation vom Typus reductio ad absurdum dann vor, wenn alle Folgerungsschritte in ihr korrekt sind und von den verwendeten Prämissen die erste Prämisse – also (1’): die Behauptung der Wahrheit des Naturalismus – die einzige ist, die zur Disposition steht (wie intendiert: (1’) ist ja die Annahme zur Widerlegung in der Argumentation). 60 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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Die Korrektheit der Folgerungsschritte ist gegeben: Der Übergang von (1’) zu (2’) am Argumentationsanfang, der identisch ist mit dem Übergang von (1) zu (2) im ersten Argument von Lewis, ist schlicht die Ersetzung einer Behauptung in kompakter Gestalt durch ihre adäquat ausgelegte Fassung. Im Inneren der Argumentation kommt dann bei den Übergängen von (3’) und (4’) zu (5’), von (5’) und (6’) zu (7’) und von (8’) und (9’) zu (10’) schlicht der modus ponens zur Anwendung. Und der Übergang von (2’) zu (8’) ist nun zwar nicht gerade ein analytisch notwendiger; denn eine Evolution der Natur, eine Entwicklung von ihr, welcher Art auch immer, im Gegensatz zu ihrem Bleiben-wie-sie-war ist nicht schon ipso facto mitgegeben, wenn der Naturalismus (so wie ihn (2’) ausbuchstabiert) wahr ist; aber jener Übergang ist als faktisch korrekt doch durch unsere faktisch gegebene naturwissenschaftliche Erkenntnis für Naturalisten gerechtfertigt (kein moderner Naturalist würde dem widersprechen; man beachte hier, dass ein konsequenter Naturalist – und konsequent ist ein Naturalist, oder er ist nicht – die sog. kulturelle Evolution als auf die biologische Evolution reduzierbar ansehen muss). Die zweite und dritte Prämisse nun – also die Schritte (3’) und (4’) in der Argumentation – wird niemand in Frage stellen wollen, und zumal ein Naturalist wird das nicht wollen. Geht doch ein Naturalist von der Existenz naturwissenschaftlicher Erkenntnis aus, wenn er, wie es alle Naturalisten tun, den Naturalismus als die einzig vernünftige »Verlängerung« der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ansieht, und er wird (zunächst) nicht zögern anzuerkennen, dass es naturwissenschaftliche Erkenntnis nur dann gibt, wenn die menschliche Praxis des Schlussfolgerns rational gerechtfertigt ist. Denn ohne eine rationale Rechtfertigung für diese Praxis kann doch von einer Wissenschaftlichkeit jener Erkenntnis keine Rede sein. Was nun die vierte Prämisse – also (6’) – angeht, so ist sie offensichtlich richtig. Es kann offensichtlich nicht sein, dass die menschliche Praxis des Schlussfolgerns zwar rational gerechtfertigt ist – d. h.: eine rationale Rechtfertigung, eine vernunftgemäße Begründung für sie angegeben ist –, aber sich nicht einsichtig machen lässt, dass sie rational gerechtfertigt ist ebenso wie es offensichtlich nicht sein kann, dass ein Satz zwar bewiesen ist – d. h.: ein Beweis für ihn angegeben ist –, aber sich nicht einsichtig machen lässt, dass er bewiesen ist. Sowohl der Begriff der rationalen Rechtfertigung als auch der des Beweises sind nämlich epistemisch transparente Begriffe: Sie 61 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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treffen nur dann auf etwas zu, wenn es einsichtig ist, dass sie darauf zutreffen. Das Schicksal des zweiten Arguments von Lewis gegen den Naturalismus entscheidet sich also an seiner fünften Prämisse: an (9’); jeder Naturalist wird vehement bestreiten, dass diese Prämisse richtig ist. Lewis bringt zur Begründung von (9’) vor, dass, auch wenn die menschliche Praxis des Schlussfolgerns ausschließlich im Rahmen der biologischen Evolution zu erklären ist, die Beantwortung der Frage nach dem rationalen Gerechtfertigtsein dieser Praxis – d. h.: nach dem Vorliegen einer vernunftgemäßen Begründung ihres Wertes für die Erkenntnis der Wahrheit, insbesondere der naturwissenschaftlichen Wahrheit – offen und dringlich ist, dass aber alles, was ein Naturalist diesbezüglich vorbringen kann, der Verweis auf die biologische Nützlichkeit der menschlichen Praxis des Schlussfolgerns ist, eine Nützlichkeit, die doch schon allein durch die Entstehung und Konsolidierung jener Praxis im Laufe der biologischen Evolution erwiesen sei (so der Naturalist). Lewis kritisiert, dass der Schluss von der biologischen Nützlichkeit jener Praxis auf die Vernunftbegründetheit ihres Wertes für die Erkenntnis der Wahrheit ein Schluss ist, den zu vollziehen wir nicht rational berechtigt sind; denn dieser Schluss ist ja selbst ein Fall der menschlichen Praxis des Schlussfolgerns, deren rationales Gerechtfertigtsein insgesamt – und damit auch, so unterstellt Lewis (gewiss nicht unproblematisch), in jedem ihrer Einzelfälle – entgegen der Behauptung (9’), aber unter Wahrung der Behauptung (8’), erst einsichtig gemacht werden müsste (und nicht schon einsichtig ist). Lewis hätte auch einfach sagen können, dass der fragliche Schluss ungültig ist, nämlich dass die biologische Nützlichkeit der menschlichen Praxis des Schlussfolgerns, mag sie auch gegeben sein, nicht die Vernunftbegründetheit des Wertes jener Praxis für die Erkenntnis der Wahrheit – und schon gar nicht der naturwissenschaftlichen Wahrheit – erweist, weil diese Vernunftbegründetheit schlicht nicht aus jener Nützlichkeit folgt. Plakativ und am Beispiel gesagt: Um zu überleben, brauchen die Menschen keine Atomphysik (ja es sieht sogar so aus, als ob es für ihr Überleben besser wäre, wenn sie nichts davon wüssten); wenn sich also zeigen lässt, dass eine gewisse kognitive Praxis – hier das Schlussfolgern – für das menschliche Überleben nützlich ist (und das ist alles, was aus evolutionsbiologischer und, soweit wir sehen, naturalistischer Sicht geleistet werden kann), so ist das weit davon entfernt zu beinhalten, geschweige denn einsichtig zu machen, dass diese selbe kognitive Pra62 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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xis in rational gerechtfertigter Weise hilfreich dafür ist, zu atomphysikalischen Wahrheiten vorzudringen. »Nun, es ist eben einfach so, dass sie dafür hilfreich ist. Ob sich, oder ob sich nun gerade nicht einsehen lässt, dass sie dies in rational gerechtfertigter Weise ist, spielt keine Rolle«, mag der Naturalist darauf antworten und mag am Ende sogar die Wahrheit von (9’) einräumen (in der Tat sehe ich, wie Lewis, keine Möglichkeit für den Naturalisten, dem auszuweichen), aber gleichzeitig signalisieren, dass ihn dieses Resultat ganz kalt lässt. Doch kann eine solche Haltung der Nonchalance gegenüber der Wahrheit von (9’) für den Naturalisten, will er Naturalist bleiben, nicht ohne Folgen bleiben, wie eben das zweite Argument von Lewis gegen den Naturalismus zeigt: Das Opfer, das er bringen muss, kann, wenn ein Hauch an Plausibilität gewahrt bleiben soll, nur die zweite Prämisse – also (3’) – sein. Naturwissenschaftliche Erkenntnis, wird der Naturalist sagen, gibt es – factum brutum! –, obwohl die menschliche Praxis des Schlussfolgerns nicht rational gerechtfertigt ist (und wenn dem so ist, so lässt sich (5’) nicht mehr folgern, und dann geht das zweite Argument von Lewis gegen den Naturalismus nicht mehr durch). Eine solche Haltung ist aber kaum nachvollziehbar. Auf jeden Fall wird der Naturalist sich auf seine angeblich gegenüber allen Nichtnaturalisten überlegene Vernünftigkeit nichts mehr zugutehalten können. Ich komme schließlich zum dritten Argument von Lewis gegen den Naturalismus (seine Aussagen hierzu finden sich im 5. Kapitel von Miracles): (1’’) Der Naturalismus ist wahr. [Annahme zur Widerlegung; 1. Prämisse] (2’’) Das raumzeitliche System – die Natur – existiert ursachlos, und alles, was existiert, ist das raumzeitliche System selbst oder ein Teil davon. [analytisch äquivalent mit (1’’)] (3’’) Wir fällen mit Überzeugung moralische Urteile. [2. Prämisse] (4’’) Die Tatsache, dass wir mit Überzeugung moralische Urteile fällen, kann vollständig und korrekt naturalistisch erklärt werden. [Folgerung aus (1’’)/(2’’) und (3’’)] (5’’) Wenn die Tatsache, dass wir mit Überzeugung moralische Urteile fällen, vollständig und korrekt naturalistisch erklärt werden kann, dann ist der Wahrheitsgehalt unserer moralischen Überzeugungen (so wie sie von uns gemeint sind) immer illusionär. [3. Prämisse] 63 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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(6’’) Der Wahrheitsgehalt unserer moralischen Überzeugungen ist (so wie sie von uns gemeint sind) immer illusionär. [Folgerung aus (4’’) und (5’’)] (7’’) Wenn wir mit Überzeugung moralische Urteile fällen, dann glauben wir, dass der Wahrheitsgehalt unserer moralischen Überzeugungen (so wie sie von uns gemeint sind) nicht immer illusionär ist. [4. Prämisse] (8’’) Wir glauben, dass der Wahrheitsgehalt unserer moralischen Überzeugungen (so wie sie von uns gemeint sind) nicht immer illusionär ist. [Folgerung aus (3’’) und (7’’)] An dieser Argumentation ist bemerkenswert, dass sie als reductio ad absurdum auf keinen logischen Widerspruch zwischen (8’’) und (6’’) führt (denn natürlich ist es logisch möglich, dass wir glauben, dass der Wahrheitsgehalt unserer moralischen Überzeugungen nicht immer illusionär ist, er es aber dennoch ist), sondern nur auf einen doxastischen Widerspruch. Entgegen dem, worauf das dritte Argument von Lewis gegen den Naturalismus hinausläuft (also die Behauptung von (8’’) neben (6’’)), können wir (inklusive aller Naturalisten) nicht vernünftigerweise das Folgende tun: glauben, dass der Wahrheitsgehalt unserer moralischen Überzeugungen nicht immer illusionär ist, und zugleich es für wahr halten, dass der Wahrheitsgehalt unserer moralischen Überzeugungen immer illusionär ist. Ansonsten bietet die Logik des dritten Arguments von Lewis gegen den Naturalismus keine Besonderheiten – und keine Probleme. 1 Damit aber dieses Argument als reductio ad absurdum des Naturalismus wirklich funktioniert, muss seine erste Prämisse – die Annahme zur Widerlegung – die einzige seiner Prämissen sein, die – rational erwogen – zur Disposition steht. An seiner zweiten und vierten Prämisse – also (3’’) und (7’’) – kann in der Tat nicht gezweifelt werden. Wie aber steht es mit seiner dritten Prämisse, also mit (5’’)? Wie Lewis zu Recht bemerkt, wird die Konsequenz (6’’), die diese Prämisse zusammen mit (4’’) hat (und von (4’’) geht jeder Naturalist aus), von vielen Naturalisten freudig akzeptiert. Aber andererseits gilt auch – und ich zitiere Lewis –: 1 Der Übergang von (1’’)/(2’’) – d. h.: von (1’’) oder (2’’), wobei aber eben (1’’) und (2’’) analytisch äquivalent sind – und (3’’) zu (4’’) ist zwar kein analytisch notwendiger, wohl aber ein für Naturalisten im Lichte der Evolutionsbiologie faktisch gerechtfertigter.

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Die Widerlegung des Naturalismus aus lebensweltlicher Vernunft

»But then they [those Naturalists] must stick to it; and fortunately (though inconsistently) most real Naturalists do not. A moment after they have admitted that good and evil are illusions, you will find them exhorting us to work for posterity, to educate, revolutionise, liquidate, live and die for the good of the human race […]« 2 Also: Die Mehrheit der Naturalisten (so Lewis, und er hat wohl recht) akzeptiert zwar klarerweise (4’’), leugnet aber durch ihr Verhalten (6’’) und damit, logischerweise, auch (5’’). Verhält sich diese Mehrheit, wie Lewis sagt, inkonsistent? – Sie verhält sich jedenfalls nicht wahrheitskonsistent, wenn (5’’) wahr ist. Für die Wahrheit von (5’’) argumentiert Lewis nun damit, dass die – als vollständig und korrekt – angebotene naturalistische Erklärung der Tatsache, dass wir mit Überzeugung moralische Urteile fällen, nämlich die evolutionsbiologische Erklärung, den von uns gemeinten moralischen Sinn dieser Urteile fiktionalisiert, nämlich deren lebensweltlich gegebenen eigentlichen Sinn durch einen ganz anderen, naturalistischen Sinn ersetzt (der dann natürlich als der wahre Sinn ausgegeben wird), jenen ursprünglichen Sinn aber ins Fiktive, Illusionäre, gar nicht Wahrheitsfähig abdrängt; nur auf diese Weise kann sie die naturalistisch geforderte Vollständigkeit erreichen. Was Lewis hier für die angebotene Erklärung der fraglichen Tatsache zu Recht konstatiert, muss aber wohl für jede mögliche naturalistische Erklärung dieser Tatsache gelten: Ohne ein Zur-IllusionErklären gerade des wesentlichsten Aspekts jener Tatsache (nämlich des lebensweltlichen Sinns moralischer Überzeugungen) und ein Ersetzen dieses Aspekts durch etwas anderes kommt die Erklärung nicht aus; nur so kann sie die reduktive Vollständigkeit erreichen, die zur naturalistischen Erklärung naturgemäß dazugehört. Dasselbe Muster sieht man übrigens auch auf einem anderen Gebiet naturalistischer Erklärungsversuche: in der Philosophie des Geistes. Deshalb lässt sich Lewis’ drittes Argument gegen den Naturalismus auch mit anderer »Ladung« als der moralischen vorbringen: Dazu möge man anstelle des Wortes »moralisch (-e, -en)« in der Argumentation (1’’) – (8’’) das Wort »innenpsychologisch (-e, -en)« oder das Wort »bewusstseinsphänomenologisch (-e, -en)« setzen. Es gibt Aussagen von Lewis im 13. Kapitel von Miracles, die sich als ein viertes Argument von Lewis gegen den Naturalismus rekonstruktiv zusammenschließen lassen, auf welches Argument ich aber 2

C. S. Lewis, Miracles. A Preliminary Study, 57.

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Uwe Meixner

hier nicht eingehen werde. Die drei nun vorgestellten Lewis’schen Argumente gegen den Naturalismus – vier, wenn man das reformierte erste Argument als eigenes Argument zählt – beziehen ihre Stärke daraus, dass sie eine Botschaft über die menschliche Vernunft – wenn man so will: den menschlichen Geist – enthalten, die ein Naturalist qua vernünftiger Mensch nicht gut abweisen kann, so leicht es ihm auch fällt, Gott und die Seele zu leugnen (das kostet ihn, sozusagen, nicht mehr als ein Achselzucken). Diese Botschaft kommt zum Ausdruck in den drei argumentspezifischen Konjunktionen der Prämissen (abzüglich der ersten – in allen drei Argumenten gleichen – Prämisse, der Annahme zur Widerlegung): Prämissenkonjunktion des ersten Arguments: Alle unsere Denkakte sind Ereignisse, und manche unserer Denkakte sind valide, m. a. W.: sie stellen echte (also begründete) 3 Einsichten dar. Prämissenkonjunktion des zweiten Arguments: Naturwissenschaftliche menschliche Erkenntnis gibt es nur dann, wenn die menschliche Praxis des Schlussfolgerns rational gerechtfertigt ist, und es gibt naturwissenschaftliche menschliche Erkenntnis. Zudem gilt: Wenn die menschliche Praxis des Schlussfolgerns rational gerechtfertigt ist, dann lässt sich einsichtig machen, dass sie rational gerechtfertigt ist. Wenn aber die menschliche Praxis des Schlussfolgerns ausschließlich im Rahmen der biologischen Evolution zu erklären ist, dann lässt sich nicht einsichtig machen, dass sie rational gerechtfertigt ist. Prämissenkonjunktion des dritten Arguments: Wir fällen mit Überzeugung moralische Urteile. Wenn aber die Tatsache, dass wir mit Überzeugung moralische Urteile fällen, vollständig und korrekt naturalistisch erklärt werden kann, dann ist der Wahrheitsgehalt unserer moralischen Überzeugungen (so wie sie von uns gemeint sind) immer illusionär. Wenn wir mit Überzeugung moralische Urteile fällen, dann glauben wir freilich, dass der Wahrheitsgehalt unserer moralischen Überzeugungen (so wie sie von uns gemeint sind) nicht immer illusionär ist.

Was dies heißt: begründet, ist aus den Ausführungen zum Übergang von (6) zu (8) und von (8) zu (9) im ersten Argument ersichtlich.

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Die Widerlegung des Naturalismus aus lebensweltlicher Vernunft

Diese drei Aussageketten sind keine naturwissenschaftlichen und schon gar keine naturalistischen Annahmenverbände; sie sind auch keine solchen des schlichten Common Sense. Sie sind Annahmenverbände einer lebensweltlichen, menschenweltlichen Vernunft, einer philosophischen Vernunft, die uns, den in der Welt lebenden Menschen, naturgemäß und natürlich, gleichsam lebensnotwendig ist – was uns freilich durch den fortgesetzten Druck, die lastende Haube zur Macht gelangter metaphysischer Positionen (nicht aber durch naturwissenschaftliche Theorien, solange sie wirklich naturwissenschaftliche, empirische sind) verdunkelt werden kann und wird. Doch auch der Naturalist – er mag es wahrhaben wollen oder nicht – kann diese Annahmenverbände nicht vernünftigerweise ganz oder teilweise »absägen«, denn sie sind insgesamt notwendig dafür, den »Ast« zu bilden, auf dem er als vernünftiger Mensch selbst sitzt. Zu dieser Vernünftigkeit gehört eben auch, die Konsequenzen nicht zu leugnen, die der Naturalismus haben würde, wenn er wahr wäre, etwa diejenige Konsequenz, die im letzten Satz der zweiten Prämissenkonjunktion als eine solche Konsequenz indirekt angesprochen wird, und diejenige Konsequenz, die im zweiten Satz der dritten Prämissenkonjunktion fast direkt zum Ausdruck kommt. Das weitergehende Problem für den Naturalisten ist dann aber dieses: dass jene Annahmenverbände, die wir, ob Nichtnaturalist oder Naturalist, im Sinne der lebensweltlichen, menschenweltlichen Vernunft nicht umhin kommen, als Ganze gelten zu lassen, sich als nicht gut vereinbar mit der metaphysischen Position des Naturalisten – mit dem Naturalismus – erweisen. 4 Man mag den Naturalismus dennoch durchsetzen wollen. Das bedeutet dann aber gleichsam die intellektuelle Selbstabschaffung des Menschen.

Literatur Lewis, Cleve S.: Miracles. A Preliminary Study, San Francisco 2001. (Das Buch gibt den Text der 2. Auflage von 1960 wieder.) Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hg. von Walter Biemel (Hua VI), Den Haag 1976. Die Fundamentalität der Lebenswelt und ihrer Vernunft für die Naturwissenschaften und gegen den Naturalismus – gegen die Verabsolutierung der Natur – ist bereits eine Zentralaussage jener Schrift, von der aus überhaupt der Begriff der Lebenswelt seinen Weg in die Welt nahm: Husserls Krisisschrift.

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Intentionalität als natürliche Eigenschaft versus Intentionalität als verantwortliche Stellungnahme Wolf-Jürgen Cramm

Ist Geistiges etwas Natürliches, etwas, das sich in einem Vokabular beschreiben lässt, welches für Formen der naturwissenschaftlichen Erklärung geeignet ist? Unter Geistigem möchte ich hier Intentionales oder Propositionales – kurz: Intentionalität – verstehen, das heißt all das, was mindestens eine Subjekt-Prädikat-Struktur hat und sich sprachlich artikulieren lässt. Dazu gehören etwa Gedachtes, Gesagtes, Gemeintes, Aussagen oder Ausgesagtes, Überzeugungen, Wünsche, Absichten und ähnliches. Naturalistische Theorien des Geistes gehen davon aus, dass Intentionalität etwas Natürliches ist und prinzipiell vollständig in den Bereich naturwissenschaftlicher, nur auf physische, kausale oder quantifizierbare Begriffe zurückgreifender Beschreibungs- und Erklärungsmöglichkeiten fällt. Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass dies nicht der Fall ist, dass die Annahme, intentionaler Geist sei etwas Natürliches, etwas, das einer naturalistischen Erklärung zumindest im Prinzip zugänglich ist, keine plausible Grundlage hat. Dabei wird meine Kritik grundsätzlicher ansetzen, als die innerhalb der analytischen Philosophie des Geistes – insbesondere gegen den Reduktiven Materialismus als die gleichsam prototypische Form des Naturalismus – vorgetragenen Einwände. Gemäss dem Reduktiven Materialismus sind geistige Eigenschaften auf physische Eigenschaften zurückführbar, das heißt, sie sind in irgendeinem Sinne mit physischen Eigenschaften identisch oder durch diese erklärbar. 1 Es wird häufig übersehen, dass auch Kritiker eines Reduktiven Materialismus wie etwa Donald Davidson oder Daniel Dennett noch bestimmte naturalistische Grundannahmen tei-

Genauer gesagt kann man zwischen zwei Formen eines Reduktiven Materialismus unterscheiden: 1.) Intentionale Eigenschaften sind mit physischen Eigenschaften unmittelbar identisch; und 2.) intentionale Eigenschaften sind mit funktionalen Eigenschaften identisch, die durch unterschiedliche physische Eigenschaften realisiert sein können. Darauf werde ich noch zurückkommen.

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Intentionalität als natürliche Eigenschaft

len. Dazu gehört insbesondere die Annahme, Reden über Geistiges diene im Kern der Erklärung oder Prognose von individuellem Verhalten im Rahmen einer empirischen Theorie über bestimmte Formen kausaler Zusammenhänge. Bereits diese Unterstellung scheint mir jedoch verfehlt. Denn nach der hier vertretenen Auffassung sind unsere intentionalen oder semantischen Begriffe nicht geeignet, kausale Eigenschaften oder Zusammenhänge zu beschreiben (mit der wichtigen Ausnahme der Handlungsfolgen). Nun möchte ich keineswegs bestreiten, dass eine bestimmte Form von naturalistischer Erklärungsmöglichkeit des Geistigen durchaus naheliegt. Dabei kann es meines Erachtens allerdings nur um eine Art »plausibilisierender Erklärung« der Möglichkeit der Entstehung kognitiver Fähigkeiten (wie etwa der Fähigkeit zur Klassifikation von Gegenständen oder Situationen) im Rahmen allgemeiner Erklärungsmuster von Theorien der biologischen Evolution gehen. Mir geht es hier um die Frage, ob begrifflich-propositionale Inhalte oder semantische Eigenschaften sich als etwas Natürliches verstehen lassen, etwas, das prinzipiell in den Bereich naturwissenschaftlicher Erklärungen fällt. Wie wir noch sehen werden, ist dabei der entscheidende Punkt, ob sich die Identitäts- bzw. Unterscheidungskriterien von begrifflichen Inhalten (also dasjenige, wofür das »p« in Formen wie »überzeugt sein, dass p« steht) zunächst in einem Vokabular ausbuchstabieren lassen, das einer reduktiven oder im weitesten Sinne materialistischen Erklärbarkeit des Geistigen überhaupt erst zugänglich ist. Mit anderen Worten: Wenn man nicht in naturwissenschaftskompatiblen Begriffen sagen kann, was begrifflicher Gehalt eigentlich ist, worin er jeweils besteht, erübrigt sich die weitergehende Frage danach, worin materialistische Theorie der Intentionalität bestehen müsste, einer Theorie, die irgendwie den Anschluss an neuronale Beschreibungen des Gehirns oder Zentralnervensystems herstellen würde. Denn dann gibt es keine Beschreibung solcher Gehalte, die an die Begrifflichkeit einer möglichen einzelwissenschaftlichen Reduktionsbasis anschlussfähig wäre. Das möchte ich im Folgenden näher erläutern. Zunächst werde ich anhand von Jaegwon Kims Modell reduktiver Erklärungen die Frage diskutieren, was man unter einer materialistischen Reduktion geistiger Eigenschaften überhaupt verstehen kann. Im Anschluss daran werde ich mich kritisch mit dem Funktionalismus als der heute üblicherweise vertretenen Form einer reduktiv-materialistischen Theorie des Geistes auseinandersetzen. Im letzten Teil werde ich schließlich noch einige grundlegende Argu69 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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mente gegen die Möglichkeit einer naturalistischen Erklärung bzw. Naturalisierbarkeit intentionalen Geistes vortragen.

I. Zu einer der zentralen Vorannahmen naturalistischer Theorien der Intentionalität gehört die Annahme, der zentrale Sinn unserer Verwendung intentionaler bzw. semantischer Begriffe sei es, etwas zu beschreiben, was, wie andere natürliche Dinge oder Vorgänge auch, Teil des kausalen Gefüges der natürlichen Welt ist und sich anhand seiner kausalen Eigenschaften klassifizieren oder identifizieren lässt. Dabei wird zunächst angenommen, die Rede über Intentionales diene, im Rahmen der »Alltagspsychologie« (»folk psychology«), im Wesentlichen der Erklärung oder Prognose von Verhalten. Dementsprechend sollen sich etwa Überzeugungszuschreibungen der Form »X glaubt, dass p« auf innere Ereignisse oder Zustände beziehen, die, jedenfalls nach der heute einflussreichsten Theorie des Geistes, dem Funktionalismus, eine bestimmte Funktion in der Steuerung unseres Verhalten haben. Eine Funktion zu haben kann dabei allerdings in unterschiedlicher Weise verstanden werden: Nach der kausalen Variante des Funktionalismus bedeutet es, eine bestimmte kausale Rolle in der Vermittlung zwischen sensorischen Inputs, anderen intentionalen Ereignissen oder Zuständen und motorischen Outputs (Körperbewegungen, die wir als Handlungen beschreiben können) einzunehmen. Nach der teleologischen Variante des Funktionalismus bedeutet es dagegen, einen bestimmten, evolutionstheoretisch erklärbaren Zweck für den Organismus (bzw. sein Überleben und seine Reproduktionsfähigkeit) zu haben. Naturlisten gehen meist davon aus, dass eine wissenschaftliche Psychologie zukünftig die »Alltagspsychologie«, welche die Funktion der Verhaltenserklärung und -prognose nur mangelhaft erfülle, wesentlich verbessern oder sogar partiell ersetzen kann. Wäre der Sinn unserer Rede über Geistiges tatsächlich im Kern der einer Beschreibung verhaltensrelevanter Zustände oder Ereignisse und ließe sich zudem plausibel machen, dass sich solche Zustände oder Ereignisse in funktionalen Begriffen charakterisieren lassen, läge eine materialistische Theorie des Geistes offenbar in Reichweite. Denn dann sollte es im Prinzip auch möglich sein, ähnlich wie bei anderen Körperfunktionen auch einen systematischen, also explanativ relevanten Zusam70 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Intentionalität als natürliche Eigenschaft

menhang zwischen den Funktionen intentionaler Zustände oder Ereignisse und bestimmten physischen Korrelaten (etwa neuronalen Erregungsmustern) herzustellen, die ihre kausale Rolle physisch realisieren. So ließe sich am Ende etwa der Wunsch, zu einem guten Essen einen guten Wein zu bekommen, oder die Überzeugung, dass der Kangchendzönga der dritthöchste Berg der Erde ist, in einem ähnlichen Sinne erklären, wie sich die kausalen Eigenschaften von Wasser durch seine atomare Mikrostruktur oder wie sich bestimmte phänotypische Ähnlichkeiten zwischen Organismen auf der Grundlage genetischer Ähnlichkeiten erklären lassen. Allerdings ist Antwort auf die Frage, worin eine materialistische Theorie der Intentionalität eigentlich bestehen müsste, auch unter Naturalisten strittig. Die schwächste Form des Materialismus ist die globale Supervenienzthese, nach der es, vereinfacht gesagt, keine Unterschiede auf der Ebene des Geistigen geben kann, wenn es nicht irgendeinen Unterschied auf der Ebene des Physischen gibt (aber nicht umgekehrt). Allerdings liefert uns globale Supervenienz nicht das, was man von einer materialistischen Theorie des Geistes erwarten sollte. Denn sie beansprucht in keiner Weise, einen reduktiven oder explanativ interessanten Zusammenhang zwischen dem Bereich des Geistigen und dem Bereich des Physischen herzustellen. 2 So viel Materialismus kann man zugeben, ohne zum Naturalist zu werden. Eine etwas stärkere Behauptung macht die Tokenidentitätsthese, nach der jedes mentale Ereignis und jeder mentale Zustand mit einem physischen Ereignis bzw. Zustand identisch ist. 3 Die Identitätsbeziehung besteht also nicht auf der Ebene der Eigenschaften, sondern auf der Ebene ihrer einzelnen raum-zeitlichen Instanziierungen. Allerdings ist meines Erachtens nicht ganz klar, inwiefern das, trotz der grossen Popularität dieser These, überhaupt eine gut verständliche Position ist. Denn damit diese Redeweise einen Sinn hat, braucht man ein übergreifendes oder unabhängiges Kriterium dafür, wann intentionale und physische Beschreibungen von denselIn diesem Sinne argumentiert auch Jaegwon Kim (vgl. J. Kim, Mind in a Physical World). Nach Kim sagt uns die Behauptung einer globalen Supervenienz nichts darüber, warum eine bestimmte intentionale Eigenschaft auf eine bestimmte physische Eigenschaft superveniert (und nicht auf irgendeine andere) bzw. warum eine bestimmte physische Eigenschaft eine bestimmte intentionale Eigenschaft mikrodeterminiert (und nicht irgendeine andere). 3 Diese Position geht bekanntermaßen auf Donald Davidson zurück (vgl. D. Davidson, »Mentale Ereignisse«). 2

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ben Ereignissen handeln. Ich habe starke Zweifel, ob es ein solches Kriterium geben kann. Das Problem verschärft sich, wenn man, wie Davidson, davon ausgeht, dass Ereignisse unabhängig von ihren Beschreibungen individuiert sind. Man müsste dann nämlich ein Kriterium zur Verfügung haben, das von Beschreibungen unabhängig ist. Und ein solches Kriterium kann ja nicht, wie im Fall der Identität zweier physischer Dinge (Abendstern = Morgenstern), in physischen oder raum-zeitlichen Begriffen formuliert sein, da es ja gerade um die Frage der (Token-) Identität von etwas physisch (oder raum-zeitlich) und etwas prima facie nicht-physisch (bzw. nicht raum-zeitlich) Identifiziertem oder Beschriebenem geht. Davidson hat vorgeschlagen, dass die kausalen Beziehungen, in denen Ereignisse untereinander stehen, die sind, die ihre Identität ausmachen. Was man auch immer von diesem Vorschlag halten mag, es scheint klar, dass die Identitätsbehauptung hier eigentlich nichts weiter als eine metaphysische Stipulation ist, die wir nicht überprüfen können. Denn wir können ja nicht physische Ereignisse und intentionale Ereignisse – falls man überhaupt von »intentionalen Ereignissen« reden sollte – gleichsam vom »epistemischen Mantel« ihrer jeweiligen Beschreibungen befreien und dann gegebenenfalls feststellen, dass sie identisch sind. Wir haben keinen Zugriff auf Entitäten ohne Beschreibungen, und es ist zweifelhaft, ob wir von Entitäten »an sich« überhaupt sinnvoll sprechen können. 4 Was also wäre für eine Naturalisierung von Intentionalität bzw. für eine materialistische Theorie des Geistes erforderlich, die diesen Namen verdient? Ich möchte mich bei der Beantwortung dieser Frage vor allem an den Überlegungen Jaegwon Kims orientieren. 5 Kim argumentiert, dass, selbst wenn es gelänge Gesetze zu finden, die geistige Eigenschaften mit physischen Eigenschaften korrelierten, auch damit noch nicht erklärt wäre, warum die zu reduzierenden Eigenschaften mit den reduzierenden Eigenschaften korrelieren. Es wäre nichts darüber gesagt, was beispielsweise ein bestimmtes neuronales Unabhängig davon werden auch mit einer Tokenidentitätsthese keinerlei explanatorische Ansprüche erhoben. Denn eine solche Form von Identität sagte uns ja noch nichts über die Beziehung zwischen Geistigem und Physischem – genauso wenig, wie uns die Aussage, dass jedes Objekt, das eine Farbe hat, auch ein Objekt ist, das eine Form hat, etwas über die Beziehung zwischen Farben und Formen sagt (vgl. J. Kim, Mind in a Physical World, 5). 5 Vgl. J. Kim, Mind in a Physical World, sowie ders., »Reduction and Reductive Explanation: Is One Possible Without the Other?«. 4

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Intentionalität als natürliche Eigenschaft

Erregungsmuster zu einer bestimmten Überzeugung macht. Der genaue Zusammenhang bliebe mysteriös. Dagegen entstünde keine Erklärungslücke, wenn intentionale Eigenschaften (oder »Typen«) mit physischen Eigenschaften (oder »Typen«) identisch wären. Denn in diesem Fall hätte sich die Frage erledigt, was einen bestimmten neuronalen Zustand zu einem bestimmten intentionalen Zustand macht. Es bliebe kein logischer Raum mehr für eine solche Frage. Identisch sollen Eigenschaften dann sein, wenn sie in allen ihren Kausaleigenschaften übereinstimmen und diese Beziehung keine kontingente, sondern eine notwendige ist. Im Falle von Eigenschafts- oder Typenidentität hätten wir es also nach Kim mit einer echten Reduktion von Geistigem auf Physisches zu tun, wenn auch nicht mit einer reduktiven Erklärung. Nun sind Typenidentitätstheorien, die eine Identität von geistigen und physischen Eigenschaften annehmen, bekanntermaßen dem Einwand ausgesetzt, dass es ziemlich unplausibel ist anzunehmen, alle Wesen, denen wir eine bestimmte mentale Eigenschaft zuschreiben, müssten sich im gleichen physischen Zustand befinden. Für die Wahrheit etwa einer Zuschreibung der Form »X glaubt, dass p« kommt es doch offenbar, wie schon häufiger argumentiert wurde, nicht auf die Art ihrer physischen Realisierung an. 6 Geistiges ist vielmehr, wie man auch sagt, in multipler Weise realisierbar. Die Annahme der multiplen Realisierbarkeit geistiger Eigenschaften gehört heute zum Mainstream in der analytischen Philosophie des Geistes. Kim ist sich dieses Einwandes natürlich bewusst. Und er verwirft auch einen Lösungsversuch, der darin besteht, einzuräumen, dass mentale Eigenschaften zwar nicht mit einzelnen physischen Eigenschaften identisch seien, aber möglicherweise mit disjunktiven physischen Eigenschaften (wobei wir disjunktive Eigenschaften von einer Disjunktion von Eigenschaften unterscheiden müssen). Eine mentale Eigenschaft M wäre nach diesem Vorschlag nicht nur koextensiv, sondern identisch mit derjenigen disjunktiven Eigenschaft P1 v P2 v P3 usw., die mögliche physische »Realisierer« von M umfasst. Kim hält diesem Vorschlag zu Recht entgegen, dass es alles andere als klar ist,

Zuerst findet sich dieses Argument wohl bei Hilary Putnam in: »Minds and Machines«. Übrigens ist das Argument der multiplen Realisierbarkeit eines, das, wie Jerry Fodor bereits früh deutlich gemacht hat, für alle so genannten »Spezialwissenschaften« gilt, also eigentlich für alle Wissenschaften »oberhalb« der Physik und Chemie (vgl. J. Fodor, »Special Sciences«).

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ob eine solche Liste eine begründete Beschränkung hätte. Hat man erst mal eingeräumt, dass eine Eigenschaft unterschiedliche Realisierer haben kann, ist nicht zu sehen, warum sie nicht potentiell unendlich viele Realisierer haben kann. Es scheint jedoch, vorsichtig ausgedrückt, fraglich, ob man von einer Identität zwischen einer zu reduzierenden Eigenschaft mit einer disjunktiven reduzierenden Eigenschaft reden kann, wenn man keine eingrenzbare Menge von realisierenden physischen Zuständen vorweisen kann. 7 Nach Kim lässt sich der Anspruch auf eine explanativ anspruchsvolle materialistische Theorie des Geistes nur aufrechterhalten, wenn man von einem gegenüber klassischen psycho-physischen Typenidentitätstheorien weniger restriktiven Modell reduktiver Erklärung ausgeht. Kims Vorschlag schließt an kausal-funktionalistische Theorien des Geistes an. Eine intentionale Eigenschaft (wie etwa: »glauben, dass p«) zu funktionalisieren, ihr eine funktionale Charakterisierung zu geben, hieße demnach, vereinfacht gesagt, sie relational, in Begriffen ihrer kausalen Rolle als Vermittler zwischen sensorischen Inputs und behavioralen Outputs zu beschreiben, wobei eine solche Rolle auch kausale Beziehungen zu anderen intentionalen Einstellungen umfasst. Entscheidend ist, dass die kausalen Rollen – gemäß der materialistischen Annahme – physische Realisierer haben müssen, um kausal wirksam zu sein. Dabei ist nach Kims Modell ein physischer Realisierer allerdings nur relativ auf ein bestimmtes System identisch mit der funktionalen Eigenschaft, die er realisiert. In anderen Systemen kann die gleiche Eigenschaft gegebenenfalls – im Rahmen des naturgesetzlich Möglichen – anders realisiert sein. So ist etwa die Eigenschaft, ein Gen zu sein, durch seine kausale Rolle spezifizierbar, und diese kausale Rolle wird, soweit wir wissen, jeweils durch ein DNS-Molekül realisiert. Zumindest relativ auf Organis-

Eine weitere Schwierigkeit des Vorschlags einer Identifizierung von mentalen Eigenschaften mit disjunktiven physischen Eigenschaften besteht darin, dass disjunktive Eigenschaften keine nomologisch homogenen Arten von Ereignissen individuieren, also nicht projizierbar sind. Sie taugen daher nicht für kausale Erklärungen. So können wir ein einzelnes Ereignis vom Typ E1 nicht dadurch erklären, dass (1. Prämisse) entweder ein Ereignis vom Typ E2 oder ein Ereignis vom Typ E3 stattgefunden hat, und außerdem (2. Prämisse) gilt, dass sowohl Ereignisse vom Typ E2 als auch Ereignisse vom Typ E3 Ereignisse vom Typ E1 bewirken. Denn ein solcher Erklärungsversuch lieferte keine »disjunktive Erklärung«, sondern eine Disjunktion von zwei Erklärungen, die uns als solche nicht sagt, welche der beiden die richtige ist (vgl. J. Kim, Mind in a Physical World, 106 f.). 7

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men von der Art, die uns bekannt sind, können wir sagen, dass die (funktional charakterisierte) Eigenschaft, ein Gen zu sein, mit der Eigenschaft, ein bestimmtes DNA-Molekül zu sein, identisch ist. Der entscheidende Punkt ist also, dass Identität nicht mehr unmittelbar zwischen mentalen und physischen Eigenschaften behauptet wird, sondern zwischen entsprechenden kausalen Rollen und ihren Realisierern; und auch dies, nach Kim, nur relativ für die Art von System, welche Gegenstand der Erklärung ist. Übertragen auf den Fall intentionaler Eigenschaften würde beispielsweise die Überzeugung, dass es regnet, durch ihre »Funktionalisierung« zu einer Eigenschaft zweiter Ordnung, also einer Eigenschaft, die im Haben bestimmter physischer Eigenschaften besteht, welche die kausale Rolle dieser Überzeugung realisieren. Ob eine bestimmte physische Eigenschaft P ein Realisierer einer bestimmten intentionalen Eigenschaft I ist, hängt dabei von der Natur des Systems ab, in das P eingebettet ist. Mit anderen Worten: Ein bestimmter physischer Zustands- oder Ereignistyp mag bei dem einen Überzeugungsträger die Überzeugung realisieren, dass es regnet, bei dem anderen (mit einer unterschiedlichen physischen Konstitution) dagegen nicht. Für eine physische Reduktion von intentionalen Eigenschaften kommt es nach diesem Modell also nur darauf an, diejenige physische Eigenschaft P zu identifizieren, die in dem jeweils in Frage stehenden System die kausale Rolle der intentionalen Eigenschaft I realisiert. Nach Kim kann von einer physischen Reduktion von Intentionalität aber auch dann die Rede sein, wenn es keine Identität von mentalen und physischen Eigenschaften im engeren Sinne gibt. Ließen sich intentionale (bzw. propositionale) Einstellungen funktional im Sinne kausaler Rollen charakterisieren und ließen sich physische Typen identifizieren, die in bestimmten Systemen diese Rollen jeweils übernehmen, so hätten wir, relativ auf das jeweilige System, eine materialistische Erklärung dieser Einstellungen. Dieses Modell für eine reduktiv-materialistische Erklärung intentionalen Geistes hätte den Vorzug, einerseits dem Einwand der multiplen Realisierbarkeit Rechnung tragen zu können, andererseits aber zugleich erklären zu können, was einen bestimmten physischen Zustand oder ein bestimmtes physisches Ereignis zu einem Realisierer eines intentionalen Zustands oder Ereignisses macht: Es ist die Identität der kausalen Rollen relativ auf ein bestimmtes System. Die Korrelation zwischen Funktionen und möglichen Realisierern ist eine kontingente, eine Typenidentität muss nur zwischen der Funktion 75 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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und dem tatsächlichen physischen Realisierer des konkreten System, welches Gegenstand unserer Erklärung ist, bestehen. Kims Vorschlag kann damit scheinbar einige der bekannten Einwände gegen einen Reduktiven Materialismus umgehen, ohne dabei, wie die globale Supervenienzthese, den Anspruch auf eine materialistische Theorie des Geistes am Ende aufgeben zu müssen. Doch auch hier bleiben noch einige Fragen offen. Dazu gehört insbesondere die Frage, ob man die Relativierung nicht nur auf Arten von Systemen, sondern konsequenterweise auch auf Individuen (einzelne Systeme) oder sogar auf deren unterschiedliche Zustände in der Zeit ausdehnen müsste. 8 Doch in diesem Falle wäre wiederum fraglich, in welchem Sinne man noch von einer Erklärung sprechen könnte. Zu Erklärungen gehört doch offenbar eine gewisse Verallgemeinerbarkeit. Und von einer solchen könnte im genannten Extremfall ja keine Rede mehr sein. Im Folgenden möchte ich aber auf Kims Modell reduktiver Erklärungen von Geistigem nicht weiter eingehen. Dieses Modell soll hier nur als Grundlage für meine eigentliche Kritik an naturalistischen Theorien begrifflichen Gehaltes dienen. Diese Kritik betrifft eine wesentliche, von Kim stillschweigend unterstellte Voraussetzung seines Modells einer reduktiven Erklärung von Intentionalem. Das heißt, dass die Kritik auch dann ihre Gültigkeit behält, wenn Kims Vorschlag als allgemeines Modell reduktiver Erklärung im Hinblick auf funktionalistische Erklärungen in anderen Bereichen akzeptabel wäre. Die eigentlich entscheidenden Probleme ergeben sich nämlich, wie ich im Folgenden zeigen will, schon mit der Annahme der »Funktionalisierbarkeit« begrifflichen Gehaltes, also mit der Annahme, die Inhalte oder die Bedeutung von Aussagen, Überzeugungen oder sprachlichen Äusserungen und Ähnlichem ließen sich in Begriffen von kausalen Eigenschaften, kausalen Rollen oder naturalistisch erklärbaren teleologischen Funktionen erklären. Die dieser Kritik zugrundeliegende allgemeine These lautet, dass Intentionales in einem primären, also humanen Geist und humane Sprachen betreffenden Sinne, nichts ist, was sich mit den begrifflichen und meKims Beispiel ist die Funktion von Genen, die bei den uns bekannten biologischen Systemen durch ein DNS-Molekül realisiert wird. Doch es ist ja keineswegs ausgemacht, dass es einen ähnlich allgemeinen Zusammenhang zwischen einer funktionalisierten Überzeugung – mal unterstellt, dass sich Überzeugungen überhaupt funktionalisieren lassen – und einem bestimmten neuronalen Ereignis- oder Zustandstyp gibt.

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thodischen Mitteln einer empirischen Wissenschaft der Natur erklären lässt, da es als solches gar nicht Teil der Natur ist. 9

II. Zunächst müssen wir noch etwas genauer klären, was unter funktionalistischen Theorien intentionalen Geistes zu verstehen ist. Beginnen wir mit dem kausalen Funktionalismus: Um die Idee einer kausal-funktionalen Charakterisierbarkeit intentionaler Einstellungen im Sinne verhaltensrelevanter »innerer« Zustände plausibel zu machen, werden in einschlägigen Texten oft vereinfachende Beispiele wie etwa die funktionale Beschreibung eines Getränkeautomaten herangezogen, dessen Verhaltenssteuerung sich darauf beschränkt, zwischen zwei möglichen Inputzuständen und zwei möglichen Outputzuständen zu vermitteln. Die einzelnen verhaltensrelevanten Zustände einer solchen Maschine können dann vollständig durch mögliche verursachende Inputzustände, mögliche von ihnen verursachte Outputzustände und die kausalen Zusammenhänge mit anderen inneren Maschinenzuständen – bzw. durch die kausalen Transformationsmöglichkeiten zwischen allen diesen Zuständen – definiert werden. 10 Nun ist es auch unter Naturalisten durchaus strittig, ob Maschinen (auch komplexeren Maschinen, wie Hochleistungscomputern) überhaupt in einem uneingeschränkten, originären Sinne Intentionalität zugesprochen werden kann. Damit ist gemeint, dass die Zuschreibung von Intentionalität nicht abhängig von anderer Intentionalität ist, wie etwa den Gebrauchsabsichten der Hersteller solcher Maschinen. Auf diese Debatte möchte ich aber nicht weiter eingehen. Zum Verständnis meiner eher grundlegenden Argumente gegen die Möglichkeit einer kausal-funktionalen Charakterisierung oder DeDas soll – um einer unter Naturalisten üblichen, aber hier nicht gemeinten Kontrastierung entgegenzutreten – nicht heissen, dass ich Intentionales als etwas Übernatürliches in dem Sinne verstehe, dass ihm wissenschaftlich nicht erklärbare Kausalkräfte zukommen (was etwa für Hexen, Engel oder Wunderheiler gilt). »Nicht natürlich« heisst hier vielmehr (unter anderem): nicht im begrifflichen Raum der Rede über kausale Zusammenhänge. 10 Wobei ich hier von dem von Dennett betonten Problem der Relativität der Funktion auf den Standort des Automaten bzw. des Intentionalen Systems absehe (Vgl. D. Dennett, The Intentional Stance, 290 f.). 9

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finition intentionaler Einstellungen können wir außerdem auch auf die Feinheiten und technischen Details der unterschiedlichen, von David Lewis, Brian Loar und anderen ausgearbeiteten Vorschläge zu einer solchen Charakterisierung oder Definition (etwa in Form von so genannten »Ramsey-Sätzen«) verzichten; sie sind für meine kritischen Einwände nicht wesentlich. 11 Allen Vorschlägen gemeinsam ist jedenfalls die Idee, dass sich eine kausal-funktionale Charakterisierung oder Definition von intentionalen Einstellungen an den inferenziellen Beziehungen orientieren muss, in denen solche Einstellungen stehen. Dazu können nicht nur formal-logisch gültige Schlüsse gehören, sondern auch material-logische Schlüsse, also solche, die auf Grund der Bedeutung der in den Aussagen vorkommenden Begriffe von (Elementen von) Aussagen gelten (wie etwa: »Wenn London nördlich von Paris liegt, dann liegt Paris südlich von London«). Der Grundgedanke ist, dass den logischen oder begrifflichen Beziehungen reale kausale Beziehungen zwischen mentalen Ereignissen oder Eigenschaften untereinander und zwischen diesen und Sinneswahrnehmungen oder Handlungen entsprechen. So schließen wir etwa aus Wahrnehmungen (als dem Input eines »intentionalen Systems«) und bestehenden Überzeugungen auf andere Aussagen. Auf der »Outputseite« folgen aus bestimmten Überzeugungen und Wünschen rational bestimmte Handlungen. Ausgehend von der Annahme, dass diese logischen oder rationalen Beziehungen kausalen Beziehungen entsprechen, sollen sich intentionale Einstellungen dann funktional durch eine bestimmte Menge an gesetzesartigen kausalen Zusammenhängen mit anderen behavioral relevanten oder behavioralen Zuständen oder Ereignissen, eben durch ihre kausale Rolle, charakterisieren oder definieren lassen. Eine erste Schwierigkeit kausal funktionalistischer Theorien zeigt sich, wenn man fragt, wie die Inputs und Outputs intentionaler Systeme angemessen zu beschreiben wären. So müssen ja etwa die Inputs als extern in dem Sinne beschrieben werden können, dass sie nicht allein von den internen Zuständen des Systems abhängen. Sonst hätten wir überhaupt keinen empirischen Anhaltspunkt, der es ermöglichte, eine Theorie über die verhaltensrelevanten internen

Vgl. D. Lewis, Philosophical Papers Vol. 1; B. Loar, Mind and Meaning. S. hierzu ausführlich: W.-J. Cramm, Geist, Bedeutung, Natur – Eine Kritik naturalistischer Theorien begrifflichen Gehaltes, Kap. 4.

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Kausalbeziehungen bzw. Funktionen aufzustellen. Denn laut Voraussetzungen sind uns ja zunächst nur die Ursache-Wirkbeziehungen des Systems mit seiner Umgebung zugänglich. Die verhaltensrelevanten inneren Zustände bzw. Zusammenhänge müssen ja, auf der Grundlage der »Alltagspsychologie«, im Rahmen einer funktionalen Theorie des Systems im Einzelnen erst erschlossen werden. Doch damit entsteht ein Dilemma: Denn wenn Wahrnehmungen überhaupt als Ursachen für bestimmte Überzeugungen oder Überzeugungen und Wünsche als Ursachen für bestimmte Handlungen verstanden werden können, dann nur in dem Sinne, wie dem System die Welt erscheint. Doch dann sind sie wiederum keine für das System externe Ursachen, Ursachen, die wir unabhängig von den internen Bedingungen des Systems beschreiben oder identifizieren könnten (Ähnliches gilt für den Output intentionaler Systeme, also Handlungen bzw. Verhalten). Doch wenn man aus diesem Grund auf eine intentionale Beschreibung verzichten wollte, um stattdessen von »objektiven« Sinnesreizungen und Körperbewegungen als Inputs bzw. Outputs des Systems zu sprechen, verliert man wiederum den Zusammenhang mit der Rede von inferenziellen Beziehungen. Denn diese Beziehungen bestehen ja nicht zwischen peripheren (sinnlichen) und eher zentralen neuronalen Aktivitätsmustern oder zwischen eher zentralen neuronalen Aktivitäten und motorischen Ereignissen. Sie bestehen zwischen einer Wahrnehmung, dass p, und einer Überzeugung, dass q (»Ich sehe, dass die Straßen nass sind, also hat es geregnet«), oder zwischen einem Wunsch, dass q, einer Überzeugung, dass p, und einer Handlung H (»Ich möchte ein Eis, an der Ecke gibt es Eis, also gehe ich an die Ecke«). Ein weiterer Einwand gegen den Vorschlag, die Inputs oder Outputs in Begriffen von Sinnesreizungen und motorischen Reaktionen zu beschreiben, lautet, dass damit die Reichweite funktionaler Definitionen intentionaler Einstellungen auf Wesen mit unseren Sinnesorganen und motorischen Reaktionsmöglichkeiten beschränkt werden müsste. Daraufhin könnte der Kausalfunktionalist einräumen, dass diese Einschränkung eben hinzunehmen wäre und die Reichweite der Theorie entsprechend begrenzt ist. Ein noch schwerwiegenderes Problem ist aber, dass ziemlich unklar bleibt, wie man mit subtileren Einstellungen fertigwerden soll, insbesondere solchen, die durch kulturabhängige Begriffe beschrieben werden, wenn die Inputs und Outputs unter Verzicht auf ein intentionales, semantisches oder epistemisches Vokabular beschrieben werden sollen. 79 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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Ohnehin scheint es unplausibel, dass sich selbst für die intentionalen Einstellungen der Spezies homo sapiens oder auch nur für eine signifikante Untergruppe dieser Spezies (etwa erwachsene Angehörige eines bestimmen Kulturkreises) funktionale Generalisierungen der gesuchten Art formulieren lassen. Vielmehr dürften sich kaum zwei Individuen mit dem genau gleichen Einstellungsprofil finden lassen, wenn wir als Kriterium für die Feststellung von Einstellungen etwa annehmen, dass sie entsprechenden Behauptungssätzen bzw. Folgerungssätzen zustimmen. Und wenn wir zudem noch die zum Teil schleichenden Veränderungen in den Überzeugungen und Wünschen innerhalb individueller Biographien berücksichtigen, erscheint es sogar fragwürdig, ob man selbst in Bezug auf einzelne Individuen zu Einstellung individuierenden funktionalen Generalisierungen kommen kann, die über eine gewisse Zeit stabil bleiben. Doch dann stehen funktionale Charakterisierungen am Ende nicht besser da als klassische, nicht-funktionale Typenidentitätstheorien. Nun ist es ohnehin eine recht merkwürdige Vorstellung, dass sich die internen Beziehungen zwischen Überzeugungen und Wünschen, Wahrnehmungsinput und Handlungs- oder Verhaltensoutput als eine der Verursachungen verstehen lassen, über die wir empirische Generalisierungen aufstellen können. Welche Überzeugungen verursachen in mir zum Beispiel regelmäßig oder typischerweise die Überzeugung, dass Käfer Insekten sind, und welche anderen Überzeugungen werden von dieser regelmäßig oder typischerweise verursacht? Mir fällt da nichts ein. Oder durch welche Überzeugung wird typischerweise die Überzeugung, dass 22 die Summe aus 17 und 5 ist, bewirkt? Welche anderen Überzeugungen könnte sie wiederum typischerweise bewirken? Nun, alle möglichen oder keine, so scheint mir. Und selbst bei wahrnehmungsnahen Beispielen ist nicht so klar, ob wir tatsächlich sagen können, dass bestimmte sensorische Reize oder bestimmte Wahrnehmungen typischerweise eine bestimmte Überzeugung hervorrufen. Verursacht die Wahrnehmung eines roten Balls in meinem Gesichtsfeld typischerweise die Überzeugung: »Da ist ein roter Ball.«? Nach welchem Maßstab wäre es beispielsweise untypisch, wenn ich sehe, wie ein Ball plötzlich auf die Fahrbahn rollt, und dann denke: »Verdammt, ein Ball.«? Ein weiterer Einwand gegen den Funktionalismus lautet, dass es in gewissem Sinne potentiell unendlich viele Überzeugungen gibt, die wir jemandem zuschreiben könnten, aber nur begrenzt viele physi80 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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sche Zustände. 12 Darauf kann der Funktionalist reagieren, indem er nicht darauf besteht, jede einzelne Einstellung funktional zu charakterisieren. Eine Alternative könnte darin bestehen, intentionale Einstellungen als relationale Beziehungen zwischen intentionalen Subjekten und Propositionen zu verstehen. Doch wie ließe sich diese Beziehung naturalistisch unproblematisch fassen? David Lewis und andere haben dazu vorgeschlagen, nur allgemeine Geisteszustände im Sinne von Modi wie Wünschen oder Glauben funktional, also durch typische Ursachen und Wirkungen zu charakterisieren und die Zuordnung von Propositionen zu intentionalen Zuständen ähnlich dem Messen von physischen Eigenschaften durch Zahlenwerte im Rahmen einer Maßeinheit (etwa das Gewicht eines Gegenstandes in Kilogramm) aufzufassen. 13 Dieser Vorschlag wirkt kühn, bleibt aber leider ziemlich rätselhaft. Ganz offensichtlich haben doch Zahlen, im Unterschied zu Propositionen, keinen semantischen Gehalt, keinen Weltbezug, sie sind durch rein formale Eigenschaften bestimmt. Andererseits gibt es zwischen Propositionen keine quantitativen Beziehungen. Zudem gibt uns dieser Vorschlag auch keinen Hinweis darauf, wie Propositionen naturalistisch zu charakterisieren wären (das Beispiel der Zahlen ist hier ja nicht besonders hilfreich). Neben den hier genannten haben kausal-funktionalistische Theorien noch mit anderen, teils vieldiskutierten Einwänden zu kämpfen, von denen ich hier nur die zwei wichtigsten erwähnen möchte. Dazu gehört insbesondere der »externalistische« Einwand, dass die Inhalte der Überzeugungen oder die Bedeutung der Äußerungen einer Person nicht allein von deren inneren Zuständen abhängen, sondern auch von ihrer natürlichen oder sozialen Umgebung oder/und ihrer Entwicklungsgeschichte. 14 Ich halte diesen Einwand für zwingend. Und Funktionalisten können ihm auch nicht dadurch entgehen, indem sie entsprechende externe Faktoren in die funktionalen Charakterisierungen von Überzeugungen aufzunehmen versuchen. Denn dann wäre überhaupt nicht mehr zu sehen, wie eine Reduktion von geistigen auf physische Eigenschaften etwa im Sinne Kims möglich sein soll. Funktionale Eigenschaften, deren Identität

Vgl. H.-D. Heckmann: Mentales Leben und materielle Welt – Eine philosophische Studie zum Leib-Seele-Problem. 13 D. Lewis, »Psychophysical and Theoretical Identification«; R. Stalnaker, Inquiry. 14 S. insbes. T. Burge, »Individualism and the Mental«; sowie H. Putnam, Die Bedeutung von »Bedeutung«. 12

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wesentlich von individuenexternen Faktoren abhängt, können nicht mit physischen Eigenschaften identisch sein, deren Identität lediglich durch individueninterne Faktoren bestimmt ist. Der andere Einwand betrifft die für eine angemessene Konzeption von Intentionalität notwendige Bedingung der Möglichkeit von Fehlern bzw. des Irrtums. Jede Theorie, die sich nicht den Vorwurf gefallen lassen will, schlichtweg das Thema gewechselt zu haben, muss diese Möglichkeit berücksichtigen oder plausibel erklären können. Ein rein kausales Verständnis der inferenziellen Beziehungen, die für kognitive Zustände oder Ereignisse maßgeblich sein sollen, scheint eine solche Möglichkeit aber logisch nicht zuzulassen. Das scheint ein Problem zu sein, mit dem kausalfunktionalistische Ansätze einfach nicht fertig werden können. 15 Eben aus diesem Grund haben in den letzten Jahren teleologische Varianten des Funktionalismus zusehends die Oberhand gewonnen. Solche Theorien haben den Vorteil, die Möglichkeit von kognitiven Fehlern durch den Begriff der Fehlfunktion berücksichtigen zu können. Wenn wir uns hier der Einfachheit halber wieder auf den Fall der Überzeugungen beschränken, lässt sich das, vereinfacht gesprochen, so verstehen, dass sich ein kognitives System dann irrt, wenn der entsprechende Funktionsträger nicht das tut, was er tun sollte, nämlich die Welt so zu repräsentieren, wie sie ist. Nun müssen Teleo-Funktionalisten natürlich eine naturalistische Antwort auf die Frage geben können, wie ein Funktionsträger (etwa ein bestimmtes neuronales Erregungsmuster) eine Funktion erhält. Wie kommt es, dass ein neuronaler Zustand die Welt auf bestimmte Weise repräsentieren soll? Hier gibt es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Entweder wird die Funktion durch eine individuelle, kausal-behavioristisch beschreibbare Lerngeschichte erworben, oder sie geht auf eine stammesgeschichtliche, biologisch-evolutionäre »Lerngeschichte« bzw. Entwicklung zurück. Auf beide Varianten kann ich hier nur exemplarisch und in aller Kürze eingehen, wobei ich mich jeweils auf die Kerngedanken und deren, aus meiner Sicht, wesentliche Schwierigkeiten konzentrieren werde. Die erstere Variante ist insbesondere von Fred Dretske ausgearbeitet worden. 16 In der individuellen Lernphase, so Dretskes Grund15 Vgl. W.-J. Cramm, Geist, Bedeutung, Natur – Eine Kritik naturalistischer Theorien begrifflichen Gehaltes, Kap. II/5. 16 F. Dretske, Explaining Behavior – Reasons in a World of Causes.

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idee, wird diejenige kausale Rolle eines bestimmten neuronalen Zustands- oder Ereignistyps etabliert, die in der Folge seiner Funktion entspricht (Dretske redet dabei von »›strukturellen Ursachen‹ mentaler Zustände, im Unterschied zu möglichen ›auslösenden Ursachen‹«). Wird der Zustand bzw. das Ereignis dann durch etwas verursacht, was nicht zu den in der Lernphase etablierten »richtigen« Verursachern gehört, liegt eine Fehlfunktion vor – ähnlich wie wenn beispielsweise eine Tanknadel nicht richtig funktioniert, wenn sie nicht das anzeigt, was sie nach der Absicht des Konstrukteurs anzeigen soll, also einen vollen Benzintank (etwa weil Wasser im Tank ist). Nun besteht eine der Hauptschwierigkeiten solcher Versuche meines Erachtens darin, dass der Begriff der Lernphase selbst ein untilgbar normativer Begriff ist. Es lässt sich nicht allein in kausalen Begriffen bestimmen, was eine Lernphase ist, wann sie beginnt und wann sie endet. Ob eine bestimmte Entwicklung wirklich als eine Lernphase gelten kann, in der ein Subjekt eine bestimmte kognitive Fähigkeit erwirbt, lässt sich nur wieder vom positiven Ergebnis her, also etwa durch die wiederholte richtige Reaktion auf bestimmte Umweltreize bestimmen. Etwas wurde gelernt, wenn danach eine bestimmte Fähigkeit besteht. Wir bewegen uns hier gleichsam in einem »normativen Zirkel«. Wann ein kognitiver Zustand seine Funktion erfüllt, indem er die Welt richtig repräsentiert, lässt sich nicht durch eine individuelle Lerngeschichte erklären, die ihrerseits in nicht-normativen Begriffen charakterisiert werden kann. Wenn wir etwas als erlernt beurteilen, meinen wir, dass es mehr oder minder gut gekonnt wird, es wird etwas (mehr oder minder) richtig gemacht. Und wenn wir sagen, dass jemand gelernt hat, »richtige Überzeugungen« zu bilden, fällen wir zugleich ein Urteil darüber, was richtig bzw. wahr ist. Und ein solches Urteil unsererseits beruht nicht wiederum auf der Beobachtung einer Lerngeschichte – auch nicht der eigenen. Wenn ich etwa davon überzeugt bin oder behaupte, dass es keine Gespenster gibt, fälle ich ein Urteil, lege mich fest. Aber dieses Urteil kann ich nicht durch kausale Einwirkungen der Welt auf meinen Geist oder die Entwicklungsgeschichte bestimmter reizverstärkter Verursachungsbeziehungen zwischen mir und der Welt begründen. Wenn man nach Gründen fragt, dann fragt man nicht nach den Ursachen dieses Urteils, weder nach den lerngeschichtlichen oder »strukturellen« (im Sinne Dretskes) noch nach den auslösenden. Und was man tut, wenn man urteilt, entspricht einer (impliziten) Stellungnahme dazu, wie gedacht werden muss. 83 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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Wie steht es nun mit der zweiten Variante, also einem durch eine stammesgeschichtliche, biologisch-evolutionär erklärbare »Lerngeschichte« begründeten teleologischen Funktionsbegriff? Eine prominente Vertreterin dieser Variante ist Ruth Millikan. Nach Millikan werden, vereinfacht ausgedrückt, Mechanismen der Repräsentation vererbt, weil sie die Welt richtig repräsentieren. 17 Dass ein Wesen so denkt, wie es denkt, erklärt sich dadurch, dass so zu denken die Reproduktion seiner biologischen Vorgänger – und damit deren genetisch bedingter kognitiver Fähigkeiten – ermöglicht hat. Die »eigentliche« (»proper«) Funktion einer Überzeugung besteht darin, die Welt so zu repräsentieren wie die reproduktiven Vorgänger dieser Überzeugung. Genauer gesagt: Es ist die eigentliche Funktion von Mechanismen zur Erzeugung von Repräsentationen, nur solche Repräsentationen hervorzubringen, wie sie die reproduktiven Vorgänger dieser Mechanismen in vergleichbaren Situationen hervorgebracht haben. Die plausible Grundidee dahinter ist nicht neu: Nur weil die Welt in gewisser Weise richtig repräsentiert wird, also die Repräsentationen zumindest in struktureller Hinsicht mit der Welt übereinstimmen, können Wesen mit entsprechenden Repräsentationen überleben und sich erfolgreich reproduzieren. Millikans prominentes Beispiel ist der Bienentanz, bei dem etwa die Ausrichtung der Achsen der Tanzfiguren in einer eindeutigen Beziehung zur Richtung der Nektarquelle und das Tempo des Tanzes in einer eindeutigen Beziehung zu deren Entfernung steht. Millikans phylogenetisch ansetzende Theorie der Intentionalität scheint gegenüber Dretskes ontogenetischem Ansatz auf den ersten Blick den Nachteil zu haben, nicht die Vielzahl kulturell und theoretisch geprägter Begriffe (wie etwa »Demokratie« oder »Proton«) erklären zu können. Zwar überträgt Millikan ihren mit biologischen Kategorien operierenden Erklärungsansatz auch auf die soziale Reproduktion sprachlicher Symbole durch Kommunikation. Dennoch bleibt die Schwierigkeit, dass es einfach unplausibel ist, entsprechend hochstufige, abstrakte oder kulturell geprägte Repräsentationen unmittelbar mit einem biologischen Reproduktionserfolg erklären zu

Vgl. R. G. Millikan, Language, Thought and Other Biological Categories, sowie dies., Varieties of Meaning – The 2002 Jean Nicod Lectures. Millikans Theorie ist recht komplex. Zu einer detaillierteren Diskussion und Kritik s. W.-J. Cramm, Geist, Bedeutung, Natur – Eine Kritik naturalistischer Theorien begrifflichen Gehaltes, II/ 5.3–5.4.

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wollen. Allerdings ist es auch wichtig zu sehen, dass Millikan gar nicht den Anspruch erhebt, einzelne begriffliche Gehalte naturalistisch zu erklären. Es geht ihr um eine naturalistische Erklärung von Mechanismen zur Produktion (und »Konsumption«) von Gehalten. Trotz dieses eingeschränkten naturalistischen Erklärungsanspruchs ist Millikans Theorie nach meiner Auffassung aber einem ebenso grundlegenden wie schwerwiegenden Einwand ausgesetzt, der naturalistische Theorien der Intentionalität ganz allgemein betrifft. Dieser Einwand richtet sich gegen den von naturalistischen Theorien unterstellten – und von Millikan sogar offensiv vertretenen – intentionalen oder semantischen Objektivismus (oder »Bedeutungsdeterminismus«). 18 Damit ist die Auffassung gemeint, dass Bedeutungen oder Begriffe objektive, natürliche Eigenschaften sind, Eigenschaften, die den Subjekten nicht notwendig zugänglich und von ihren Urteilen unabhängig sind. Nach dieser Auffassung wäre es demnach möglich, dass wir uns über den Inhalt unserer Überzeugungen oder die Bedeutung unserer Worte täuschen, zumal wenn wir die entsprechende kausale Geschichte nicht kennen. Und dies würde nicht nur im Einzelfall gelten, sondern ganz generell. Doch diese Annahme scheint mir aus vielerlei Gründen verfehlt. Einer dieser Gründe ist, dass wir eigentlich gar nicht sinnvoll sagen können, dass wir uns bezüglich des Inhalts aller unserer Überzeugungen oder bezüglich der Bedeutung aller unserer Worte irren könnten. Kurz gesagt: Irrtum setzt Wissen voraus. 19 Und es gibt keinen Punkt von quasi »außerhalb« des Sinns oder der Bedeutung, von dem aus man fragen kann, ob er bzw. sie uns generell zugänglich ist. Ein weiterer Grund, aus dem ich einen intentionalen Objektivismus für verfehlt halte, beruht auf dem Primat des Verstehens gegenüber der Erklärung. Robert Cummins hat darauf hingewiesen, dass die Grundlage für unsere Charakterisierung von Überzeugungen oder Repräsentationen im beobachtbaren Verhalten liegt, nicht in einer Kenntnis adaptiver bzw. evolutionär erworbener Eigenschaften. 20 Wir könnten die adaptive Rolle einer kognitiven Funktion gar nicht verstehen, bevor wir nicht schon auf andere Weise verstanden 18 Vgl. »Epilogue« in: R. G. Millikan, Language, Thought and Other Biological Categories. Vgl. hierzu auch M. Kusch, Knowledge by Agreement, Kap. 15 (›Meaning Finitism‹). 19 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Über Gewissheit. 20 Robert Cummins, Meaning and Mental Representation, 85 f.; sowie ders., »Reply to Millikan«.

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haben, worin sie besteht, was sie repräsentiert oder worin ihr propositionaler Gehalt besteht. So bestimmen wir auch den »Sinn« des Bienentanzes durch eine Kovarianz zwischen Verhaltensmustern und der Umgebung. Erst auf dieser Grundlage können wir dann nach der Adaptions- und Selektionsgeschichte der Kovarianz fragen. Ganz generell scheinen wir Funktionen schon irgendwie anders verstanden haben zu müssen, bevor wir nach einer Erklärung im Sinne ihrer Evolutionsgeschichte fragen können. Das Beispiel des Bienentanzes führt ohnehin in die Irre, schon weil es sich hier um eine rein behavioristisch analysierbare Signalsprache handelt. Auf der Ebene begrifflichen, propositionalen Denkens oder Redens gibt es dagegen keine quantifizierbar variierenden oder strukturellen Beziehungen zwischen grammatischen oder semantischen Eigenschaften und irgendwelchen Verhältnissen in der Welt. Vor allem aber – und dieser Punkt scheint mir entscheidend – geht die Vorstellung von Bedeutungen oder Begriffen als objektiven, quasi in der empirischen Welt vorkommenden Eigenschaften an den realen Konstitutions- und Reproduktionsbedingungen von Sinn und Bedeutung vorbei. Wesen wie wir, die sich an Normen des Richtigen orientieren können, die propositionalsprachlich kommunizieren und den Inhalt oder die Bedeutung dessen, was sie denken bzw. sagen, reflexiv zum Gegenstand ihres Denkens und Kommunizierens machen können, sind nicht einfach Objekte, denen intentionale Eigenschaften zukommen. Wir sind immer auch Subjekte ihrer Erzeugung, Reproduktion und Interpretation. Das heißt zugleich, dass wir uns zu propositionaler Intentionalität nicht rein beobachtend verhalten können. Auch eine Beschreibung oder Zuschreibung von intentionalem Gehalt hat in gewisser Weise einen Anteil daran zu bestimmen, worin dieser Gehalt besteht. Denn eine solche Beschreibung oder Zuschreibung kann in einer gegebenen Situation als mehr oder weniger angemessen bzw. berechtigt beurteilt werden und vom Adressaten der Zuschreibung oder von Dritten als angemessen oder berechtigt akzeptiert werden oder nicht. Insofern hat auch eine Beschreibung oder Zuschreibung eines Gehaltes bzw. einer propositionalen Einstellung durch einen als kompetent anerkannten Sprecher potentiell Anteil an der Beantwortung der Frage, worin der Gehalt besteht. Ebenso ist jede Verwendung eines Wortes im Rahmen einer sprachlichen Handlung eine kritisierbare Stellungnahme dazu, worin seine Bedeutung besteht, wie es richtig zu verwenden, wie sprachlich richtig zu handeln ist (etwa um einen Gehalt angemessen zu beschreiben oder zu86 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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zuschreiben). Wird eine Äußerung von anderen als richtig akzeptiert, kommt man sprachlich durch, dann hat man Anteil an der sozialen Konstitution der Bedeutung der in ihr enthaltenen Ausdrücke. Etwa so, wie man mit jeder individuellen Bewertung eines bestimmten Gutes seinen Wert mitbestimmt. Auch dieser liegt ja nicht unabhängig von den Bewertungen oder »an sich« fest. Dies kann man sich vielleicht auch durch folgende Überlegung klarmachen: Auch Millikan muss Worte verwenden, um intentionale Eigenschaften zu beschreiben. Doch worauf beruht die Bedeutung der Worte, worin besteht sie? Hat sie den Charakter einer in der Welt vorfindlichen Eigenschaft? Ich denke, wir sollten uns bei der Antwort auf diese Frage an Wittgensteins Bemerkung orientieren, wonach die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks in dem besteht, was die Erklärung der Bedeutung erklärt. 21 Eine zentrale Rolle bei Klärung oder Erklärung sprachlicher Bedeutung spielen paradigmatische Beispiele. Wir zeigen etwa auf eine reife Zitrone und sagen: »Das ist (typisch) gelb«. Wittgenstein hat aber auch die Vorstellung kritisiert, solche Beispiele legten für alle zukünftigen Fälle eindeutig fest, was es heißt, dem Beispiel zu folgen, also sprachlich in relevanter Hinsicht das Gleiche zu tun. Vielmehr müssen wir potentiell in jeder neuen Situation ein Urteil darüber fällen, was dem Beispiel gemäß bzw. als Anwendung der entsprechenden Norm gilt. Auch was als paradigmatisches Beispiel gilt, kann sich ändern. Dies bedeutet nicht Beliebigkeit, wir können individuell nicht willkürlich entscheiden, was richtig, was die Bedeutung eines Ausdrucks ist. Aber es zeigt, dass Begrifflichkeit und Bedeutung nicht als natürliche Eigenschaften verstanden werden können, die dem, was wir sagen oder denken, zukommen kann, ohne uns zugänglich zu sein. Bedeutung ist vor allem ein Produkt der sozialen Übereinstimmung im sprachlichen Handeln und, insbesondere wenn Bedeutung reflexiv bzw. thematisch wird, der kritisierbaren normativen Entscheidungen sprachlicher Autoritäten. 22

L. Wittgenstein, Philosophische Grammatik, § 23. Das gilt meines Erachtens auch für wissenschaftliche Terme. Allerdings hat Bedeutung natürlich auch einen entdeckbaren Aspekt. Dazu gehört insbesondere der Bezug von Ausdrücken für natürliche Arten sowie die inferenziellen Konsequenzen von komplexen Begriffen.

21 22

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III. Es spricht nun meines Erachtens einiges dafür, dass die hier vorgetragenen Schwierigkeiten naturalistischer Theorien eigentlich nur Symptome eines ganz grundlegenden Missverständnisses des Sinns intentionaler Begriffe und Redeweisen sind. Dieses Missverständnis besteht, so meine These, in einer kategorialen Fehldeutung unserer Rede über Intentionales, insbesondere von Einstellungszuschreibungen. Naturalisten deuten solche Einstellungszuschreibungen nämlich als empirische Aussagen über ein natürliches Geschehen, das sich aus einer Beobachterperspektive beschreiben lässt. Nach der hier vertretenen Auffassung haben solche Zuschreibungen dagegen immer auch den Charakter der Zuordnung einer Positionierung zu Fragen des Richtigen. Wir können auch sagen: Man ordnet dem Adressaten der Zuschreibung eine verantwortliche Stellungnahme im Hinblick darauf zu, was (unter den entsprechenden Umständen) getan oder wie gedacht werden sollte. Eine solche Zuordnung hat selbst den Charakter einer Stellungnahme zu Fragen des Richtigen, wenn man jedes Urteilen oder Handeln als ein normorientiertes, und daher auch kritisierbares, Tun versteht, als etwas, das man richtig oder falsch machen kann. Entscheidend ist dabei, dass eine intentionale Zuschreibung voraussetzt, dass der Zuschreibende sich und den Adressaten der Zuschreibung als in einem gemeinsamen normativen Raum verantwortbaren Handelns und Denkens agierend versteht. Das möchte ich im Folgenden genauer erläutern. Zunächst sollte unstrittig sein, dass die richtige Antwort auf Frage, wie zu beschreiben ist, was jemand wahrnimmt, glaubt oder tut, in vielen Fällen vom soziokulturellen Kontext abhängt, in dem er/sie sich bewegt. So kann eine bestimmte Armbewegung nur dort als Abstimmungsverhalten gelten (bzw. nur dort als Abstimmungsverhalten wahrgenommen werden), wo es eine Institution des Abstimmens gibt, die regelt, was man richtigerweise tun muss, um abzustimmen, was also als Abstimmen gilt. Der Armbewegung selbst sieht man das nicht an. Es bedarf der Kenntnis der relevanten Konventionen oder Normen, um sagen zu können, was eine bestimmte Körperbewegung bedeutet, welche Handlung sie aktualisiert. Körperbewegungen liegen gewissermaßen auf der falschen Beschreibungsebene für intentionale Outputgeneralisierungen. Und nicht-intentional beschriebene Körperbewegungen stehen ja auch nicht in (praktisch-) inferenziellen Beziehung zu intentionalen Einstellungen. 88 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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Wenn dies richtig ist, bedarf es für eine angemessene Beschreibung von Handlungen und handlungserklärenden Gründen (bzw. Einstellungen) offenbar einer gewissen normativen Kompetenz hinsichtlich derjenigen Maßstäbe des Richtigen, denen der Adressat der Zuschreibung in seinem Urteilen (in seinen Überzeugungsbildungen) oder Handeln unterliegt. Nun nimmt aber ein Interpret, der eine solche Kompetenz erwirbt oder ausübt, die Perspektive eines Teilnehmenden ein, der normativ Stellung nehmen muss zu der Frage, was man (also auch der Adressat der Zuschreibung) unter den gegebenen Umständen glauben oder tun sollte. Er nimmt mit seiner Zuschreibung gleichsam normativ Stellung zu der Antwort, die der zu interpretierende Handelnde bzw. der Adressat seiner Zuschreibung durch sein Urteilen oder Handeln seinerseits auf diese Frage gibt. Um das zu tun, muss der Interpret beurteilen, ob die Überzeugungsbildung oder das Tun des Zuschreibungsadressaten denjenigen Normen genügt, auf die dieser durch sein Tun qua Teilnahme an einer bestimmten normativ geregelten Praxis festgelegt ist. Das heißt, der Interpret fällt ein Richtigkeitsurteil im Hinblick darauf, ob der Adressat seiner Zuschreibungen den für ihn verbindlichen Normen genügt. So kann sich ein Akteur ja etwa hinsichtlich der richtigen Aktualisierung einer bestimmten Handlung irren (z. B. könnte er, um beim Abstimmungsbeispiel zu bleiben, die rote Karte für »Zustimmung« heben, wo er eigentlich die grüne hätte nehmen müssen). Und ein Urteil, das besagt, dass ein Akteur sich gemäß den für ihn geltenden Normen geirrt hat, hat natürlich einen Einfluss darauf, wie die Handlung angemessen zu erklären ist. Und Ähnliches gilt auch für Wahrnehmungen, also für die Inputseite. Wenn es uns um die Erklärung von (sprachlichen oder nichtsprachlichen) Handlungen geht, können wir uns also, wenn dies zutrifft, nicht als Beobachter eines Geschehens verstehen. Wir sind in der Perspektive eines Teilnehmers an einer (zumindest potentiell) geteilten Praxis, in der man die Normorientierung des anderen zu seiner eigenen machen muss – wenn auch ggf. unter Vorbehalt bezüglich der Gültigkeit der Norm – und Stellung dazu nimmt, ob der Handelnde es richtig macht. Kurz und bündig: Wir müssen zu normativen Stellungnahmen normativ Stellung nehmen. Aus der Perspektive eines Teilnehmers müssen wir zudem damit rechnen, dass derjenige, dessen Handlungen wir verstehen oder erklären wollen, unsere Interpretation oder unsere Beschreibung seiner Einstellungen oder Handlungen als falsch oder begrifflich inadäquat kritisiert. Je89 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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mandem im vollwertigen Sinne intentionale Einstellungen zuzuschreiben heißt, ihn seinerseits als einen potentiellen Zuschreiber von Einstellungen anzuerkennen und sich damit auf ein Verhältnis wechselseitiger Beurteilung und möglicher Kritik einzulassen. Doch muss man tatsächlich, wie ich hier behaupte, die normativen Bindungen oder Selbstbindungen des Handelnden berücksichtigen, um Handlungen angemessen erklären zu können? Können wir Handlungen nicht allein mit dem entlarvenden Blick eines Beobachters erklären, der, was ein Akteur tut, durch diesem möglicherweise verborgene oder in ihrer Beschreibung fremde Motive oder Mechanismen erklärt? – Nein, denn um eine Handlung überhaupt identifizieren und verstehen zu können, darf sich derjenige, der ein Handeln erklären und verstehen will, begrifflich nicht zu weit von den Selbstbeschreibungen der Akteure hinsichtlich ihrer Handlungen und Handlungsgründe entfernen. Zu erklären bzw. verstehen, was jemand tut oder denkt, ist daher immer auch eine Frage der richtigen Vermittlung von Außenbeschreibung und Selbstbeschreibung. Wer beispielsweise auf eine sakrale Begrifflichkeit verzichten wollte, würde Handlungen im Rahmen eines religiösen Rituals schlicht fehldeuten bzw. nicht durch die richtige Art von Handlungsgründen erklären. Auch dann, wenn man Handlungsmotive partiell durch zugrunde liegende soziale oder psychologische Mechanismen erklären will, muss man die Handlungen erst mal in der richtigen Weise beschreiben. Dazu muss man die für sie relevanten Handlungsnormen und die entsprechenden begrifflichen Normen der Selbstbeschreibung gewissermaßen von innerhalb der betreffenden Praxis her kennen, also wissen, was es heißt, solchen Normen zu folgen. 23 Deshalb impliziert die Zuschreibung einer Handlung oder einer handlungserklärenden Überzeugung eine Stellungnahme dazu, ob gemäß den relevanten Normen gehandelt oder geurteilt wurde oder nicht. Als Zuschreibender oder Interpret von Handlungen oder handlungserklärenden Einstellungen oder Gründen beschreiben wir also Um über ein hinreichendes Verständnis der Begriffe zu verfügen, derer es bedarf, um zu einer angemessenen Interpretation fremder Einstellungen und Praktiken, die nicht mit den eigenen übereinstimmen, zu gelangen, müssen zumindest Residuen solcher Einstellungen oder Praktiken oder Erinnerungen an eigene (z. B. kindliche) Erfahrungen mit entsprechenden Einstellungen oder Praktiken vorhanden sein. Die Bedeutsamkeit und den besonderen Sinn sakraler Riten beispielsweise kann man dann auch verstehen, wenn man die zugrunde liegenden Überzeugungen oder Praktiken nicht (bzw. nicht mehr) teilt.

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nicht einfach einen Zustand oder ein Ereignis in der Welt. Wir machen im Falle einer Überzeugungszuschreibung in gewisser Weise eine Aussage über eine Aussage über die Welt. Diese Aussage, über die wir eine Aussage machen, ist eine Stellungnahme, die sich unseren eigenen Aussagen über die Welt in Form von Widerspruch entgegenstellen kann, uns sozusagen dazu »herausfordert«, mit »ja« oder »nein«, »wahr« oder »falsch«, »richtig« oder »unrichtig« Stellung zu nehmen. Das ist nichts, was für Dinge, Zustände oder Ereignisse gelten kann, die sich vollständig in physischen oder kausalen Begriffen bestimmen lassen.

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Wolf-Jürgen Cramm Stalnaker, Robert: Inquiry, Cambridge/MA/London 1984. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Grammatik, Frankfurt/M. 1984. Wittgenstein, Ludwig: Über Gewissheit, Frankfurt/M. 1986.

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Lebenserfahrung – Wissenschaft – Weltanschauung Eine pragmatistische Perspektive Matthias Jung

Wie verhält sich alltägliche, gewöhnliche Erfahrung zu den Erkenntnisformen der Wissenschaft? Und wie bezieht sich beides auf jene übergreifenden Deutungen, für die sich in der englischen Sprache seit John Rawls der Begriff der »comprehensive world-views« eingebürgert hat? Im Deutschen ist häufig von Weltanschauung die Rede, und nicht selten verbindet sich das dann mit einem ironischen oder sogar abschätzigen Gebrauch. Bekannt ist etwa das Bonmot des Wiener Originals Peter Altenberg, der sein Leben im Wesentlichen im Kaffeehaus verbrachte: »das Kaffeehaus ist eine Weltanschauung, deren Wesen darin besteht, die Welt nicht anzuschauen«. Hier wird die Innerlichkeit des Künstlers selbstironisch ad absurdum geführt. Einen explizit abschätzigen Unterton gewinnt der Begriff dann fast unvermeidlich, wenn er als Vorwurf an Wissenschaftler gerichtet wird. »Weltanschaulich« zu werden bedeutet hier so viel wie: methodische Strenge und empirische Analyse mit metaphysischem Leichtsinn vertauscht, falsifizierbare Theorien mit persönlichen Überzeugungen konfundiert zu haben. Zu dieser schlechten Presse des Begriffs steht es allerdings in einem seltsamen Kontrast, dass häufig ganz unbefangen von einem wissenschaftlichen Weltbild (angelsächsisch: scientific world-view) die Rede ist – ein Ausdruck, von dem es gar nicht mehr sehr weit ist bis zur sog. Wissenschaftlichen Weltanschauung. Autoren wie Daniel Dennett und Richard Dawkins tragen dieses Wissenschaftspathos mit Selbstbewusstsein und Stolz vor sich her und wollen damit insinuieren, ihre Gesamtdeutung der Wirklichkeit ergebe sich logisch zwingend aus den einzelwissenschaftlichen Befunden und Generalisierungen, auf die sie sich stützt. Hier sind mindestens zwei problematische Aspekte zu unterscheiden: Einmal der in diesen Positionen implizierte starke metaphysische Realismus. Gemeint ist die These, »that there is a way the world is ›in itself‹, independently of perceptions, conceptualization, language-use, or theories; thus, at least in principle, it is possible to 93 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Matthias Jung

describe the world by means of a single ›absolute‹ theory which corresponds to the way the world is« 1. Pragmatistische Ansätze, aber auch der späte Wittgenstein, betonen demgegenüber, dass wir die Wirklichkeit immer nur im Kontext einer Vielzahl von Lebensformen, Erfahrungsweisen und Theorieansätzen erschließen können, dabei aber (dieser Aspekt dominiert etwa Putnams internen Realismus) mit dem konfrontiert werden, was von uns unabhängig ist – diese Position hält also zu radikalkonstruktivistischen Ansätzen denselben Sicherheitsabstand ein wie zum metaphysischen Realismus. Der zweite, noch problematischere Aspekt der Rede von einer wissenschaftlichen Weltanschauung besteht darin, dass sie die volitionalen und affektiven Komponenten von comprehensive worldviews aus dem kognitiven Setting einer hypothetischen Gesamtund Einheitswissenschaft (im Sinne des starken metaphysischen Realismus) einfach ableiten zu können glaubt. Das aber halte ich für eine metaphysische Naivität größten Formats. Wer meint, Wissenschaft sei als Wissenschaft bereits Weltanschauung, sprich: eine integrative Gesamtdeutung der Wirklichkeit, der geht genauso in die Irre wie der Fundamentalist, den die Zumutungen wissenschaftlicher Kritik überfordern und der sich deshalb entschließt, ein Korpus geoffenbarter Texte an die Stelle lebendiger Erfahrung zu setzen. Fundamentalisten und szientifische Naturalisten sind, ohne es zugeben zu können, Schwestern und Brüder im Geiste einer weltanschaulichen Borniertheit, die den hermeneutischen Charakter des menschlichen Weltverhältnisses unterschlägt. Ihr gemeinsamer Irrtum besteht darin, an einen epistemisch privilegierten Zugang zur Wirklichkeit zu glauben, der uns das risikoreiche und kulturabhängige Geschäft des Auslegens, der Interpretation von Fakten auf ihre Lebensbedeutsamkeit hin erspart. Wir Menschen sind symbolgebrauchende Organismen, die in einer für sie bedeutsamen Umwelt leben, mit der sie bei Strafe des Untergangs interagieren und die auf ihren humanen Sinn hin auszulegen sie gar nicht umhin können. Der umfassendere Begriff ist dementsprechend nicht Wahrheit, sondern Sinn. Niemand hat dies prägnanter formuliert als John Dewey: »Meaning is wider in scope as well as more precious in value than truth […] truths are but one class of meanings, namely, those in which a claim to verifiability by their consequences is an intrinsic part of their meaning. 1

S. Pihlström, »A Pragmatic Critique of Three Kinds of Religious Naturalism«, 187.

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Beyond this island of meanings which in their own nature are true or false lies the ocean of meanings to which truth or falsity are irrelevant.« 2

Im qualitativen Erleben sind Menschen Bedeutsamkeiten erschlossen, die sie dann durch symbolische Deutungsprozesse explizieren können und müssen. Aus diesem Horizont lebensweltlicher Bedeutsamkeit hat sich nun im Laufe der letzten ungefähr 3000 Jahre, zuerst bei den alten Griechen, eine spezielle Form des Wirklichkeitszugangs entwickelt, die sich darauf spezialisiert hat, die Dinge so darzustellen, wie sie, abstrahiert von ihrer primären Lebensbedeutsamkeit, also aus der Perspektive der dritten, nicht der ersten Person, verstanden werden können: die empirischen Wissenschaften. Das zentrale Motiv in diesem anthropologischen Geschehen war allerdings keineswegs zweckfreies Staunen, sondern ein vitales Interesse an praktischer wie theoretischer Naturbeherrschung in einer von Kontingenz geprägten Welt. Die Natur, so formuliert es später Francis Bacon mit seinem berühmten natura parendo vincitur, können wir umso besser beherrschen, je mehr wir um ihre Eigengesetzlichkeit wissen und diese auch respektieren. Es liegt dementsprechend in der Natur der so gewonnenen Erkenntnisse, dass sie relativ zu Methoden sind, in denen die Fragen nach dem Gesamtzusammenhang und nach der Bedeutung gar nicht gestellt werden. Und das wiederum hat zur Folge, dass der Weg von der Wissenschaft zur Weltanschauung nur über Interpretation führt, über eine integrierende und verallgemeinernde Auslegung wissenschaftlicher Befunde, die unvermeidlich eben nicht von Wissenschaft, sondern vom qualitativen Weltverhältnis der gewöhnlichen Erfahrung geleitet ist. Zu diesem Thema des Qualitativen werde ich bald noch mehr sagen. Hier kommt es mir zunächst auf zweierlei an: Erstens ergibt sich aus dem Gesagten ohne weiteres, dass Wissenschaft keine Lebensfragen beantworten kann: ihr Konstitutionsprinzip ist nämlich die Sinnaskese. Wer die Sinnfrage wieder stellt – und ich behaupte: Menschen können gar nicht umhin, dies zu tun, sei es nun explizit oder implizit –, der verlässt das Terrain des Wissenschaftlichen. Zweitens aber gilt in einer Welt, die praktisch wie theoretisch tiefgreifend von epistemischen Wissensformen geprägt ist, dass Weltanschauungen das wissenschaftliche Denken nur um den Preis fundamentalistischer Ignoranz übergehen können. Natürlich bleibt wahr, dass Wissenschaft als 2

J. Dewey, Philosophy and Civilisation, 4 f.

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Wissenschaft keine Weltanschauung werden kann und weltanschaulich verallgemeinernden Wissenschaftlern wie Richard Dawkins deshalb die Autorität der hard science abgesprochen werden muss. Aber das darf nicht mit der absurden fundamentalistischen These verwechselt werden, Wissenschaft sei weltanschaulich irrelevant. Hier hilft nur die Denkfigur der unterscheidenden In-Beziehung-Setzung weiter: Das Eine ist nicht das Andere, doch so fatal es ist, Wissenschaft und Weltanschauung zu identifizieren, so wenig können die beiden getrennt werden. Weltanschauungen sind riskante, also dem Irrtum ausgesetzte Totalisierungen von lebensweltlichen Erfahrungen, die in einer Welt entwickelt werden, deren gesetzförmige Strukturen unabhängig von solchen Erfahrungen sind. Daher sind Weltanschauungen nicht ontologisch neutral, und es wäre borniert, das Wissen von diesen Strukturen zu ignorieren. Sie gehen über das empirische Wissen totalisierend hinaus, aber nicht an ihm vorbei. Was wir demnach brauchen, ist eine Konzeption, die den Erkenntnis- und Ernüchterungsfortschritt der Wissenschaften vorbehaltlos bejaht, gleichzeitig aber seine Totalisierung zurückweist, indem sie die wissenschaftliche Praxis als eine von vielen Formen des menschlichen Weltverhältnisses herausarbeitet, die bei der Suche nach einer weltanschaulichen Gesamtdeutung ebenfalls Mitspracherecht haben. An dieser Stelle zeigt sich nun die Modernität der Autoren des klassischen Pragmatismus: In den Schriften von Charles Peirce, William James, George Herbert Mead und John Dewey ist nämlich eine solche Konzeption entwickelt worden und damit eine überzeugende Alternative zu denjenigen Konzeptionen der Moderne entstanden, die den Wissenschaften ein ontologisches Monopol zusprechen und lebensweltliche Bedeutungen nur noch als dünnen Firnis auf einem an sich sinnfreien Universum zulassen können. Ein auch sprachlich eindrucksvolles Dokument dieser verbreiteten Position, die Paul Ricoeur treffend unter das Stichwort der »Hermeneutiken des Verdachts« gestellt hat, findet sich zu Beginn des zweiten Teils von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung: »Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwa ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: – dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt.« 3 3

A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 9.

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Lebenserfahrung – Wissenschaft – Weltanschauung

Was die Wissenschaften uns lehren – so will Schopenhauer seinen Lesern deutlich machen – ist die radikale Bedeutungslosigkeit des Menschlichen angesichts der naturwissenschaftlichen Kosmologie. Nur entspringt die Suggestivität dieser Botschaft natürlich nicht dem geschilderten kosmologischen Sachverhalt, der immensen Größe des Weltraums und dessen Zentrumslosigkeit als solcher, sondern erst der metaphorischen Aufladung seiner Beschreibung, in der ein Schimmelüberzug an die Stelle des Schöpfers getreten ist. Solche Metaphern leben davon, dass sie ein Lebensverhältnis heranziehen, in diesem Fall den Ekel, den wir vor Schimmel als einem sichtbaren und abstoßenden Merkmal verdorbener Lebensmittel empfinden, um mit seiner Hilfe wissenschaftliche Fakten zu interpretieren. Das ist völlig legitim und ganz unvermeidlich, wenn es um weltanschauliche Totalisierungen geht, aber es ist definitiv keine harte Wissenschaft, sondern Auslegung, will sagen: Deutung mithilfe von möglichen, aber keineswegs zwingenden Metaphern. John Dewey geht hier sogar noch einen kritischen Schritt weiter und stellt heraus, dass wir humane Bedeutungen und physische Existenz gar nicht vergleichen können, weil eben jedes Wissen von der physischen Welt Wissen nach Menschenart ist. Ich zitiere eine längere Passage aus seinem Text über »Philosophie und Zivilisation«. Er lässt sich wie eine Replik auf Schopenhauers Pathos der Kälte und Desillusionierung lesen, eine Replik allerdings, die sich gerade nicht regressiv in eine vormoderne Welt zurücksehnt, die nur für den Menschen gemacht ist. Dewey weist hier den starken metaphysischen Realismus ebenso zurück wie den radikalen Konstruktivismus: »It is a commonplace«, so schreibt Dewey 1931, »that physically and existentially man can but make a superficial and transient scratch upon the outermost rind of the world. It has become a cheap intellectual pastime to contrast the infinitesimal pettiness of man with the vastness of the stellar universes. Yet all such comparisons are illicit. We cannot compare existence and meaning; they are disparate. The characteristic life of man is itself the meaning of vast stretches of existences, and without it the latter have no value or significance. There is no common measure of physical existence and conscious experience because the latter is the only measure there is for the former. The significance of being, though not its existence, is the emotion it stirs, the thought it sustains.« 4

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J. Dewey, Philosophy and Civilisation, 5.

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Menschliche Bedeutungen, so lässt sich dieses Argument weiterführen, sind nicht nur Ausgangspunkt physikalischer Erkenntnis, sie kommen auch in der physischen Wirklichkeit vor und sind nicht minder real als Steine oder Planeten, von den abenteuerlichen spekulativen Entitäten wie dem Higgs-Boson, die uns die moderne Physik zumutet, einmal ganz abgesehen. Der Schlüssel zu dieser pragmatistischen Deutung von Erfahrung, die Lebensführung und Wissenschaft in einer neuen und originellen Weise in Beziehung bringt, ist das Konzept des qualitativen Denkens. Es stellt eine bedeutende, vielleicht die originäre Leistung des klassischen Pragmatismus dar und ermöglicht es ihm, Wissenschaftsfreundlichkeit und Lebensbezug zu verbinden, was gleichzeitig dann auch die modernitätsspezifischen Prozesse von Rationalisierung und Individualisierung in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt. Ihm wende ich mich nun zu. Am Beginn der modernen Naturwissenschaft steht bekanntlich die Abwertung des Qualitativen. Es ist kein Geringerer als Galileo Galilei, der in seinem Saggiatore 1623 den quantifizierbaren primären Eigenschaften der Dinge wie Zahl, Bewegung und Form die sekundären, qualitativen Eigenschaften wie etwa Farbe, Geschmack oder taktile Impressionen gegenüberstellt, die allein auf der Seite des wahrnehmenden Subjektes lokalisiert werden können. Die Differenz quantitativ/qualitativ wird so mit zwei weiteren folgenschweren Dualismen überblendet: objektiv/subjektiv und ontologisch/phänomenal. Damit wird das Erleben subjektiviert, aus dem wissenschaftlichen Weltzugang verbannt und in eine Sonderwelt abgeschoben. Deren aktuelle Innenarchitektur wird durch die diffizilen Debatten der analytischen Philosophie um das sogenannte Qualia-Problem bestimmt. Erleben wird hier eingeengt auf sogenannte subjektive phänomenale Zustände. Deshalb ist die Debatte weithin von so merkwürdigen Dingen wie philosophischen Zombies, tanzenden und invertierten Qualia und Gedankenexperimenten über verrückte Wissenschaftler geprägt, während die natürlichen Funktionen des Erlebens in seinem Zusammenhang mit dem Umweltverhältnis des Organismus weitgehend ausgeklammert werden. 5 Der originelle Neuansatz der Pragmatisten besteht nun darin, den Fallibilismus und die empirische Orientierung der neuzeitlichen Für einen programmatischen Versuch, Erleben wieder als Teil der natürlichen Welt zu verstehen, vgl. M. Jung / J.-C. Heilinger (Hg.), Funktionen des Erlebens. Neue Perspektiven des qualitativen Bewusstseins.

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Wissenschaft emphatisch zu bejahen, gleichzeitig aber darauf hinzuweisen, dass der menschliche Weltzugang unhintergehbar qualitativ geprägt ist. Die Dichotomie subjektiv/objektiv, so argumentiert etwa Dewey, bestimmt dessen Funktionsweise schlicht falsch, wenn sie Qualitäten auf die subjektive Seite bringt und ihnen eine quantitative Welt von Objekten gegenüberstellt. Wohlgemerkt: die letztgenannte Unterscheidung ist legitim und unumgänglich, wenn es um die Isolierung und experimentelle Manipulation von Ausschnitten unserer Welterfahrung geht, aber sie hat eben keinen ontologischen Rang und ruht immer auf einer primären Interaktionseinheit von Organismus und Umwelt auf, die vor der Subjekt-Objekt-Unterscheidung liegt. Ich will diesen gedanklichen Komplex nun in Anlehnung an John Dewey und seine Überlegungen zum qualitativen Denken weiterentwickeln. Dewey beginnt sie mit dem Hinweis auf die Ubiquität des Qualitativen: »The world, in which we immediately live, that in which we strive, succeed and are defeated, is preeminently a qualitative world. What we act for, suffer, and enjoy are things in their qualitative determinations.« 6

Das Qualitative wird demnach in einer falschen Weise beschrieben, wenn es als bloß subjektive Qualität dargestellt wird. In der analytischen Debatte hat eben das, wie schon angedeutet, zu fatalen Verkürzungen geführt. Die Rotimpression, ein bestimmtes Geschmackserlebnis beim Biss in einen Schokoriegel, Thomas Nagels berühmte Frage danach, wie es ist, eine Fledermaus zu sein – das sind kanonische Beispiele, denen gemeinsam ist, dass sie sich ganz auf das Subjektive konzentrieren. Für Pragmatisten hingegen ist diese Form von Subjektivität sekundär. Sie tritt erst dann auf, wenn die Funktion, die das Qualitative in der Interaktionseinheit mit der Umwelt hat, zugunsten einer introspektiven Betrachtung des isolierten Erlebens selbst zurücktritt. Hierzu ein Beispiel: Ich sitze lesend in der U-Bahn und werde plötzlich der Präsenz von Randalierern gewahr. Damit befinde ich mich in einer bedrohlichen Situation, die sich aber gerade nicht dualistisch charakterisieren lässt. Man kann hier eben nicht sagen: Auf der einen Seite gibt es bestimmte objektive Fakten, z. B. betrunkene Personen, gegrölte Parolen oder pöbelndes Verhalten, und auf der anderen Seite subjektive Erlebnisqualitäten wie Bauch6

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grimmen, Herzrasen, Schweißausbruch etc. Vielmehr ist es die Situation selbst, die eine qualitativ erlebte, von einem zentralen Aspekt – in diesem Fall dem der Bedrohlichkeit – dominierte Einheit bildet. Was ich erlebe, ist kein Quale, sondern ein Ausschnitt meiner mit mir interagierenden Umwelt in ihrer Bedeutsamkeit. Das Qualitative erschließt eine bedeutsame Realität, in die das erlebende Selbst verstrickt ist. 7 Dass diese primäre Einheit in eine subjektive und eine objektive Komponente zerlegt werden kann, ist im Erleben zunächst gar nicht enthalten, zeigt sich aber immer dann, wenn die Situation sich als klärungsbedürftig erweist. Das ist immer dann der Fall, wenn gehandelt werden muss, ob in der Alltagspraxis oder in der Wissenschaft. Um eine vage, aber bedeutungsvolle Situation zu klären, hebe ich bestimmte ihrer Aspekte heraus und teile sie entlang der Unterscheidung von subjektiv und objektiv auf. In meinem Beispiel könnte das dadurch geschehen, dass ich das Verhalten der mutmaßlichen Randalierer genauer beobachte und mir zum Beispiel ein Urteil darüber bilde, ob es sich objektiv eher um ausgelassenen oder um aggressiven Übermut handelt. Auf der subjektiven Seite könnte ich mein Unwohlsein mit den Ängsten abgleichen, die sich bei mir durch einschlägige Zeitungsmeldungen aus jüngster Zeit eingeschlichen haben könnten. So wird ein realitycheck möglich, eine genauere Situationsbestimmung entlang der Konfinien subjektiver und objektiver Anteile. Geleitet wird dieser Prozess aber immer von der qualitativen Einheit einer Situation, die eine Subjekt-Objekt-Spaltung und damit die Unterscheidung in sinnfreie Naturprozesse einer- und humanes Erleben andererseits ursprünglich gar nicht enthält. Damit ist ein erster wichtiger Argumentationsschritt geleistet, der den Dualismus von lebensweltlichem Sinn und objektiven Tatsachen bereits unterminiert – und zwar gerade nicht dadurch, dass er ihn pauschal zurückweist (das würde nämlich den Rückfall in ein anthropozentrisches Weltbild bedeuten), sondern durch den Nachweis seines sekundären Charakters und seiner funktionalen Bezogenheit auf eine vorgängige qualitative Erfahrung. Die Erfahrungen unseres Lebens konfrontieren uns mit qualitativ bedeutsamen Situationen, in denen etwas getan werden muss. Solche Situationen sind manchmal unmittelbar handlungsleitend. Wenn zum Beispiel ein Bergsteiger In die deutschsprachige Philosophie hat dieser Gedanke etwa zeitgleich mit den Arbeiten Deweys durch Heideggers Sein und Zeit Eingang gefunden.

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beim Aufstieg von Grindelwald zur Schreckhornhütte das Berghaus Bäregg erreicht, öffnet sich ihm ein wirklich überwältigender Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau nebst dem Grindelwaldgletscher. Hier bedarf es keiner langen Reflexion, um stehen zu bleiben und der Situation durch betrachtendes Verweilen zu entsprechen. Solange es sich bei dem Bergsteiger nicht um einen Vertreter der analytischen Qualia-Debatte handelt, wird er aber sicher nicht auf die Idee kommen, die visuellen und emotionalen Qualitäten seines ästhetischen Erlebens dualistisch vom sinnfreien Hochragen des Gebirgszuges abzutrennen. Häufig ist jedoch die erlebte Situation, wie Dewey betont, problematisch. Wir empfinden etwas in Form einer gestalthaften Qualität unserer Umweltbeziehung als bedeutsam, aber wir wissen nicht genau, wohin die Reise geht. Ist der Schemen im dunklen Wald nun ein Baumstumpf oder ein potentieller Angreifer? Ist das Unwohlsein, das ich in Gegenwart einer bestimmten Person empfinde, eine hilfreiche Warnung vor deren Verhalten oder bloß Ausdruck eines unbegründeten Vorurteils? Hat der Schatten, den ich auf diesem Gehirnscan erkennen kann, pathologische Relevanz, oder steht er bloß für eine Variation des anatomisch noch Normalen? Hier spielt nun das Erleben eine zentrale Rolle für den Klärungsprozess. Es liefert uns nämlich den Hintergrund und den einheitsstiftenden Faktor, von denen aus dann zunehmend genauer bestimmt werden kann, um was es eigentlich geht. Mit den Worten Deweys: »[…] quality enables us to keep thinking about one problem without our having constantly to stop to ask ourselves what it is after all that we are thinking about. We are aware of it not by itself but as the background, the thread, and the directive clue in what we do expressly think of. For the latter things are its distinctions and relations.« 8

Diese Einsicht in die kognitive Bedeutung von Qualitäten führt Dewey nun in einem zweiten Schritt noch weiter, indem er sie explizit auf den Prozess der wissenschaftlichen Forschung (inquiry) bezieht, der Gegenstand seines letzten Hauptwerks ist, der Logik von 1938. Ein naheliegender Einwand gegen das Konzept des qualitativen Denkens könnte ungefähr so lauten: »Das ist ja alles schön und gut, solange es sich um gewöhnliche, alltägliche Erfahrung handelt, die an ein Lebensverhältnis zu den Dingen gebunden ist. Sobald man aber zu wis8

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senschaftlichen Methoden übergeht, spielt das doch gar keine Rolle mehr, denn dann zählt alleine noch die Logik der Forschung.« Dem könnte man mit Dewey vehement widersprechen, indem man auf zwei höchst originelle seiner Argumente hinweist: Das eine stellt die Kontinuität (nicht die Identität) zwischen gewöhnlichen und epistemischen Erfahrungen heraus, das andere betont die Bedeutung des Qualitativen gerade im wissenschaftlichen Forschungsprozess selbst. Ich beginne mit dem letzten Punkt. Die qualitative Sensibilität für Situationen hat nach Dewey in der (natur-)wissenschaftlichen Praxis eine zwar vom Alltag verschiedene, aber nicht minder konstitutive Rolle. Auch Experimente sind nämlich Situationen, wenn auch geplante, und zwar solche von problematischer Uneindeutigkeit. Nun ist der Gewinn weiterführender Erkenntnisse durch zwei komplementäre Gefahren bedroht: Man kann einerseits eine Menge von empirischen Daten aufhäufen, sie aber nicht zum Sprechen bringen. Andererseits kann man einen begrifflichen Rahmen wählen, der durch seinen rigiden Charakter von vornherein die Gewinnung interessanter und die Kategorien möglicherweise falsifizierender Daten verhindert. Für beide Gefahren ließen sich vermutlich leicht überzeugende Beispiele aus aktuellen Drittmittelanträgen anführen. Deweys Pointe: diese beiden Gefahren können nur auf eine einzige Art vermieden werden, nämlich dadurch, dass die Forscher eine qualitative Sensibilität für die Möglichkeiten entwickeln, die in einer Situation stecken. »If the unique quality of the situation«, so heißt es in der späten Logik, »is had immediately, then there is something that regulates the selection and weighing of observed facts and their conceptual ordering.« 9 Wissenschaftler kommen genauso wenig ohne qualitative Gestaltantizipationen von Richtungen der Sinnbestimmung aus wie wir alle in unserer Alltagserfahrung. Diese Einsicht vertieft Dewey, und das ist nun sein erstes Argument, mithilfe eines von Charles Sanders Peirce entlehnten Begriffs, nämlich dem des Forschungskontinuums. Wissenschaftliche Forschung hat nach Dewey den Charakter einer Transformation unbestimmter in bestimmte Situationen, und diese Struktureigenschaft teilt sie mit ganz gewöhnlicher Erfahrung. Den unleugbaren Unterschied zwischen Lebenserfahrung und Wissenschaft sieht Dewey denn auch gerade nicht in der Bedeutung bzw. Bedeutungslosigkeit des qualitativen Erlebens, sondern darin, dass im einen Fall ein direk9

J. Dewey, Logic: The Theory of Inquiry, 76. Hervorhebung im Original.

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ter Bezug zur Praxis gegeben ist, während im anderen Fall die internen systematischen Beziehungen innerhalb des jeweiligen Forschungsgegenstandes dominieren. Das hat, weil die Wirklichkeit nicht anthropomorph ist, zur Folge, dass sich Konflikte zwischen den prima-facie Überzeugungen der Alltagserfahrung und den methodisch gewonnenen Einsichten der Wissenschaften ergeben können. In solchen Fällen ist gewöhnliche Erfahrung wissenschaftlich aufzuklären: Die Sonne geht nun einmal nicht auf, sondern die Erde dreht sich um sie; das bewusste Ich ist nicht der allmächtige Befehlshaber über sein Gehirn, sondern von dessen unbewussten Leistungen in vielfältigen Hinsichten getragen und ermöglicht; heilige Schriften sind nicht direkt vom Heiligen Geist verfasst, sondern durch die Artikulations- und Redaktionsleistungen zahlreicher Menschen mit einem endlichen Wahrnehmungshorizont hervorgebracht worden usw. Es sind solche, ja in der Tat zunächst desillusionierenden Einsichten, die von den Vertretern der Verdachtshermeneutiken gegen die Wahrheitsfähigkeit der Alltagserfahrung vorgebracht werden, die sich an Bedeutungen orientiert. Wenn man aber realisiert, dass die möglichen Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis Teilbestimmungen qualitativ gegebener Lebenssituationen darstellen, auf die sie unvermeidlich wieder bezogen werden müssen, erhält die vom Pragmatismus gar nicht geleugnete Ernüchterungswirkung der Wissenschaft einen prinzipiell anderen Status: sie ist dann keine generelle Einsprache gegen die Vertrauenswürdigkeit unserer Lebenserfahrung mehr, sondern deren punktuelle Korrektur, die wieder in das Gesamt einer Lebensführung integriert werden kann. Ich erläutere diesen zentralen Punkt mithilfe eines längeren Zitats aus Deweys Logik, das seine Schlussfolgerungen zusammenfasst: »(1) Scientific subject-matter and procedures grow out of the direct problems and methods of common sense, of practical uses and enjoyments, and (2) react into the latter in a way that enormously refines, expands and liberates the contents and the agencies at the disposal of common sense. The separation and opposition of scientific subject-matter to that of common sense, when it is taken to be final, generates those controversial problems of epistemology and metaphysics that still dog the course of philosophy. When scientific subject-matter is seen to bear genetic and functional relations to the subject-matter of common sense, these problems disappear. Scientific subject-matter is intermediate, not final and complete in itself.« 10 10

J. Dewey, Logic: The Theory of Inquiry, 71 f.

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Diese Überlegungen Deweys lassen sich als eine originelle Kritik an jenem szientifischen Naturalismus verstehen, der heute energisch nach Deutungsmacht und auch bereits nach politischem Einfluss strebt und dessen Auswirkungen etwa in der neurowissenschaftlichen Freiheitsdebatte 11 zu besichtigen waren. Originell ist Deweys Position aber u. a. deshalb, weil sie selbst keineswegs supranaturalistisch argumentiert, wie die Gegner der neurowissenschaftlichen Positionen das oft getan haben. Dewey stellt gerade nicht einer szientifisch verstandenen sinnfreien Natur eine transzendente Sonderwelt des Sinnhaften gegenüber, er besteht vielmehr darauf, dass der sinnhafte, alltägliche Wirklichkeitszugang der Ersten Person ontologisch und epistemisch nicht zweitklassig ist, dass im Gegenteil eine Lebensaufgabe jeder aufgeklärten Zivilisation darin besteht, das naturwissenschaftliche Wissen von gesetzförmigen Strukturen wieder an jene Werte und Bedeutungen zurückzubinden, die uns nur die Lebenserfahrung verschaffen kann. Auch dafür ist die Freiheitsdebatte im Spannungsfeld von Rechtsphilosophie und Neurowissenschaften ein ausgezeichnetes Beispiel. Ich habe an anderer Stelle 12 ausführlich versucht zu zeigen, wie es pragmatistisch inspirierte kognitionswissenschaftliche Ansätze möglich machen, unser zunehmendes Wissen von den neuronalen und entwicklungspsychologischen Bedingungen des Handelns – beides greift infolge der Plastizität und Selbstprogrammierung des Gehirns eng ineinander – im Sinne einer Ermöglichung von situierter Freiheit und nicht als deren reductio ad absurdum zu verstehen. Selbst ursprünglich höchst reduktionistisch gesonnene Neurowissenschaftler wie Gerhard Roth haben sich in jüngster Zeit zumindest in diese Richtung entwickelt. 13 Gleiches gilt m. E. für das zunehmende kognitionswissenschaftliche Interesse an Religion. Gegenwärtig kommt es in Form der schlecht weltanschaulichen Schriften etwa von Richard Dawkins und Christopher Hitchins 14 zwar platt redukDeren erste, noch einigermaßen übersichtliche Phase ist dokumentiert in: C. Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. 12 Vgl. M. Jung, »Freiheit in Hirnforschung und Alltagserfahrung – von der Handlung zur Artikulation und zurück«; ders., »Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus, in: Naturgeschichte der Freiheit«. 13 Vgl. G. Roth / M. Pauen, Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit. 14 Vgl. R. Dawkins, The God Delusion; C. Hitchins, God Is Not Great. How Religion Poisons Everything. 11

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tionistisch daher, aber das hat auf die Dauer wenig zu bedeuten. Bei diesen Autoren werden Wissenschaft und Weltanschauung nicht unterscheidend in Beziehung gesetzt, sondern diese als direkter Ausfluss von jener apostrophiert. Daraus entsteht in meinen Augen dann sowohl bad science als auch langweilige, nämlich auf dem Diskussionsstand des 19. Jahrhunderts stehen gebliebene Weltanschauung. Wenn evolutionspsychologisches Wissen über die anthropologischen Invarianten des Religiösen mit weltanschaulichen und religiösen Daseinsoptionen wirklich unterscheidend in Beziehung gesetzt würde, ergäbe sich ein ganz anderes Bild, nämlich eines, das die Rationalität religiöser Lebensformen jedenfalls nicht pauschal unterhalb derjenigen agnostischer oder atheistischer Optionen ansiedeln würde. Die Spannbreite pragmatistischer Positionen im religiösen Feld ist hier wiederum aufschlussreich: Peirce und James eint bei allen Unterschieden ein genuin religiöses Selbstverständnis ihres Denkens, während Mead und Dewey sich eher naturalistisch verstanden haben. Die gemeinsamen Gegner aller vier Pragmatisten aber waren szientifische Naturalismen, in denen die Naturwissenschaft ontologisch verabsolutiert und die Bedeutung qualitativer Lebenserfahrung übersehen wird. Das bisher Erarbeitete lässt sich nun auf das Problem der Weltanschauung anwenden: Weltanschaulich in einem pejorativen Sinn, das wollte ich zeigen, sind alle Positionen, die entweder Wissenschaft oder Lebenserfahrung als solche schon zur Weltanschauung erheben wollen. Es kommt daher darauf an, beides als Pole eines – von Dewey so genannten – Forschungskontinuums zu verstehen, innerhalb dessen sich Menschen auf eine immer schon bedeutungsvolle Wirklichkeit beziehen, was wiederum ein Wissen um die internen Gesetzmäßigkeiten dieser Wirklichkeit erforderlich machen kann. Ein sehr schlichtes Beispiel mag das verdeutlichen: Wasser hat für den kochenden Hausmann u. a. die Bedeutung, Mittel für den Zweck des Nudelkochens zu sein. Diesen Zweck kann er aber nur dadurch erreichen, dass er die einschlägigen Naturprozesse kennt und respektiert. Sie bestehen, in theoretischer Sprache formuliert, darin, dass der Aggregatzustand der H2O-Moleküle sich bei 100 Grad von flüssig zu gasförmig verändert, das Wasser also zu kochen beginnt. Wenn ich meine Spaghetti in lauwarmes Wasser werfe, werden sie nicht gar. Es ist also, das sollte das Beispiel zeigen, die Orientierung an Lebensbedeutungen selbst, die mich dazu nötigt, die Eigengesetzlichkeit des Wirklichen anzuerkennen. Vornehmer formuliert: die Perspektive der 105 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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Dritten Person, des Beobachters objektiver Verhältnisse, ist eine interne Ausdifferenzierung der Erste-Person-Perspektive, derjenigen des Teilnehmers am Spiel des Lebens. Offenkundig sind nun nicht alle Lebensprobleme so überschaubar wie das Nudelkochen. Der rote Faden des Qualitativen, der den Pragmatisten zufolge die Alltagspraxis mit der wissenschaftlichen Forschungspraxis verbindet, kann länger oder kürzer ausfallen. Und immer dann, so behaupte ich, wenn es nicht um dieses oder jenes geht, sondern um das Ganze, braucht es eine zusätzliche Dimension der In-Beziehung-Setzung zwischen humanen Bedeutungen und Werten auf der einen, unserem Wissen um gesetzmäßige Verknüpfungen auf der anderen Seite, kurz: eine Weltanschauung. Nun sind wir Menschen eben Wesen, die über eine symbolische Sprache verfügen. Das erlaubt es uns nicht nur, über Dinge zu sprechen, die zeitlich und räumlich weit von unserer Gegenwart entfernt liegen, sondern sogar im wahrsten Sinn des Wortes alles Mögliche zur Sprache zu bringen, unter anderem unser Verhältnis nicht mehr zu diesem und jenem, sondern zur Wirklichkeit als solcher. Ein Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und der eigenen Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen ist insoweit eine anthropologische Konstante, die mit dem Sprung von lokal gebundenen Zeichenformen zur indirekten Referenz der Symbolsprachen in die Welt gekommen ist. Kraft dieser anthropologischen Macht der Sprache haben Menschen immer schon ihre lokale Situation in Richtung auf einen umgreifenden Horizont überschritten – und zwar ganz unabhängig davon, ob dieser Horizont nun theistisch, pantheistisch oder atheistisch gedeutet wird. Symbolwesen sind zwangsläufig interpretierende Wesen und damit rastlose Produzenten von Weltanschauungen. Der pragmatistischen Auffassung zufolge haben wir dementsprechend gar nicht die Wahl, weltanschauungsfrei zu leben – wir können nur versuchen, eine implizite Deutung des Ganzen, die wir immer schon mitbringen, mehr oder minder rational zu explizieren. William James hat dies deutlicher gesehen als John Dewey. Am Anfang seiner Vorlesungen zur Einführung in den Pragmatismus spricht er von der Philosophie, die jeder Mensch hat: »I know that you, ladies and gentlemen, have a philosophy, each and all of you, and that the most interesting and important thing about you is the way in which it determines the perspective in your several worlds. […] the philosophy which is so important in each of us is not a technical matter; it is

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Lebenserfahrung – Wissenschaft – Weltanschauung

our more or less dumb sense of what life honestly and deeply means. It is only partly got from books; it is our individual way of just seeing and feeling the total push and pressure of the cosmos.« 15

Wenn wir versuchen, diese Philosophie oder Weltanschauung zu explizieren, werden wir sie mit dem wissenschaftlichen Wissen vom Kosmos in Beziehung setzen, wir werden rationale Argumente entwickeln, die innere Konsistenz und Kohärenz unserer intuitiven Überzeugungen überprüfen, im Idealfall auch Irrationales ausschalten, aber wir werden nie bei so etwas wie einer rationalen Weltanschauung landen. Das hängt eben damit zusammen, dass Weltanschauungen, wie schon die alltäglichsten Vollzüge menschlicher Erfahrung, immer von qualitativen Ganzheiten, von der gestalthaften und emotionalen Präsenz einer Einheit ausgehen, die dann zwar alle Prozesse der Explikation und Rationalisierung leitet, aber selbst niemals vollständig expliziert werden kann. Es gibt also so etwas wie einen Erlebnis- und praktischen Erfahrungsüberschuss in jeder Weltanschauung, der nicht objektiviert werden kann, aber seinerseits die Voraussetzung jeder Objektivierung darstellt. Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn wir uns vor Augen halten, dass Weltanschauungen immer vor die Aufgabe gestellt sind, unser Wissen von dem, was der Fall ist, mit unseren Vorstellungen von dem zu verbinden, was wir als wertvoll erfahren und was dementsprechend der Fall sein soll. Hans Joas hat in seinem Buch Die Entstehung der Werte eine überzeugende Analyse der Werterfahrung im pragmatistischen Geist entwickelt, die eines ganz deutlich macht: Werte entstehen nicht durch rationale Erwägungen. Sie erwachsen in qualitativen Situationen des Hingezogenseins zu etwas, das das eigene Selbst transzendiert. Das Erleben von Schönheit, von religiöser oder erotischer Hingabe, der moralische Anspruch, den die Begegnung mit anderen erzeugt, sind hierfür gute Beispiele. Solche Erfahrungen sind notwendig partikular, individuell und hochgradig biographisch geprägt. Das birgt die Gefahr in sich, dass sie sich partikularistisch und individualistisch verengen. Rationale Kritik, Bezug auf eine universalistische Moral, Konfrontation mit dem aktuellen Stand der Wissenschaften sind deshalb probate Mittel, Weltanschauungen offen zu halten und Irrationalität auszuschließen. In einem schwachen Sinn könnte

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W. James, Pragmatism, 7.

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man daher Weltanschauungen, die sich diesem Prüfungsverfahren aussetzen, als rational oder vielleicht besser, nämlich komparativ, als rationaler bezeichnen. Und am Gegenpol, dort, wo diese Prüfung unter dogmatischem Verweis auf eine privilegierte Quelle der Wahrheit verweigert wird, sprechen wir mit guten Gründen pejorativ von Fundamentalismus. In dem starken Sinn einer das Ganze unseres Weltverhältnisses ausdrückenden Lebenseinstellung aber kann es keine rationalen und schon gar keine wissenschaftlichen Weltanschauungen geben. Humane Bedeutungen und zumal Wertüberzeugungen erwachsen aus der Artikulation von Lebenserfahrungen, nicht aus der Extrapolation des Wissens um gesetzförmige Zusammenhänge. Beides ist aber, wie ich oben angedeutet habe, intern verknüpft, denn Werte sind nach pragmatistischem Verständnis keine platonischen Ideen, sondern Handlungsorientierungen in dieser Welt, die mit unserem Wissen um deren gesetzförmigen Zusammenhang verbunden werden müssen, wenn sie eine Chance auf Realisierung haben sollen. In abgewandelter Form gilt dies auch von religiösen Werten: Sie zielen zwar nicht auf praktische Intervention in den Lauf der Natur, wohl aber auf ein bestimmtes praktisches Anerkennungsverhältnis mit Blick auf die Wirklichkeit im Ganzen und ihr Wovonher. Die Einsicht, dass unser Weltverhältnis primär qualitativ ist und rationale Argumente selektive Artikulationen dieser erlebten Beziehungen darstellen, erlaubt daher auch eine neue Bestimmung der möglichen Rationalität von Weltanschauungen. Ich nenne sie schwach normativ, weil sie zwar Ausschlusskriterien benennt – wer etwa mit der Bibel gegen die Evolutionstheorie argumentiert, fällt heraus – und eine in sich differenzierte Struktureinheit beschreibt, aber keine inhaltlichen Aussagen macht. Sie bewegt sich zwischen zwei Straßengräben, zwei komplementären Formen, das Phänomen zu verfehlen. Der erste Fehler liegt in der Vorstellung, das Erleben genüge sich selbst und sei nicht innerlich auf intersubjektiven Ausdruck und rationale Prüfung bezogen. Man könnte hier von Erlebnisfundamentalismus sprechen: Viele Formen esoterischer Religiosität können so verstanden werden, aber auch säkulare Lebensformen, in denen die Suche nach Erlebnissen um ihrer selbst willen im Zentrum steht. Komplementär dazu verhält sich die Vorstellung, ein rationales Weltverhältnis komme ohne qualitative Totalisierungen aus und wir seien mit einem sogenannten wissenschaftlichen Weltbild, wie es der szientifische Naturalismus vertritt, besser bedient. Hier wird das Qualitative als irrational und obskurantistisch denunziert, was frei108 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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lich nach pragmatistischer Auffassung seinerseits ein hochgradig irrationales Verhalten darstellt und etwas provokant vielleicht als szientifischer Fundamentalismus bezeichnet werden könnte. Rational verhält sich schließlich nicht derjenige, der ein rationalistisches Zerrbild der menschlichen Weltbeziehung zeichnet, sondern derjenige, der realistisch ist, d. h. alle tatsächlich wirksamen Faktoren unbefangen in ihrer jeweiligen Rolle gelten lässt. 16 Der Versuch, ohne Weltanschauung zu leben, ist demnach letztlich mit dem Bestreben identisch, die menschliche Lebensform loszuwerden. Dieses aporetische Unterfangen kann durchaus sehr respektable Motive haben, etwa die Resignation vor dem Abstand, der sich zwischen Lebenserfahrung und Wissenschaft in der Moderne aufgetan hat. Die pragmatistischen Autoren aber ermöglichen eine andere Deutung: Die Kluft ist zwar tief, aber nicht deshalb, weil Werterfahrungen und Gesetzeswissen unvermeidlich irreversibel auseinander driften, sondern aufgrund einer verfehlten Auffassung von der Natur des menschlichen Weltverhältnisses, die das Qualitative verdrängt und ins Irrationale abgeschoben hat, ohne es doch loswerden zu können. Die Modernität des Pragmatismus – damit möchte ich schließen – besteht also nicht zuletzt darin, die Moderne mit ihrer Unaufgeklärtheit in dieser zentralen Hinsicht zu konfrontieren. So betrachtet sind wir, um es mit Bruno Latour 17 auf den Punkt zu bringen, nie modern gewesen.

Diese Einsicht findet sich bereits bei Wilhelm Dilthey, dessen lebensphilosophische Grundlegung der Hermeneutik eine ausgeprägte Nähe zum pragmatistischen Denken aufweist. Vgl. ders., Einleitung in die Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften Bd. I), XVIII: »[…] die bisherige Erkenntnistheorie [hat] […] die Erfahrung und die Erkenntnis aus einem dem bloßen Vorstellen angehörigen Tatbestand erklärt. In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe […] zugrunde zu legen …« 17 Vgl. B. Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. 16

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Die Unhintergehbarkeit der Lebenswelt, die Abstraktheit der Physik und die Unfundiertheit der Einbildungskraft Anton Friedrich Koch

Die Lebenswelt, das Korrelat unseres natürlichen Weltbildes, ist epistemisch zugänglich in verschiedener Weise, erstens direkt und nichtinferentiell in der sinnlichen Wahrnehmung, die wir mit anderen Spezies teilen. Zweitens erkennen wir ihre grundlegende kategoriale Struktur – etwa, dass die basalen lebensweltlichen Entitäten substantielle räumliche Einzeldinge sind, die sich nach Kausalgesetzen in der Zeit verändern –, schlicht, indem wir miteinander reden und im Reden unwillkürlich diejenigen kategorialen Bestimmungen ins Reale projizieren, die ihm objektiv notwendigerweise zukommen, die aber nicht rezeptiv, in der Wahrnehmung, sondern eben nur durch spontane diskursive Synthesis »sichtbar« gemacht werden können. Dass und wie diese spontane und doch konservative Projektion möglich ist, hat Kant in der Deduktion der Kategorien – zu meiner unmaßgeblichen Zufriedenheit – gezeigt; hier mag eine Illustration anhand eines nachgeordneten Sonderfalls genügen. Ein Leser und ein Nichtleser, die eine Inschrift betrachten, befinden sich in einem sehr ähnlichen Wahrnehmungsszenarium (sofern wir neuronale Verschaltungen vernachlässigen, die der Prozess des Lesenlernens im Gehirn des Lesers mag haben entstehen lassen und die nun vielleicht auf seine Sinnesphysiologie zurückwirken). Beide könnten etwa, wenn sie gebeten werden zu zeichnen, was sie sehen, ganz ähnliche Zeichnungen verfertigen. Die lesende Person jedoch erkennt mehr als die nicht lesende; denn indem sie die Inschrift unwillkürlich liest, projiziert sie Sinn in die Schriftzeichen, und dies, sofern sie richtig liest, in konservativer Weise: Sie erfindet nicht, sondern findet durch spontane Projektion den Sinn, der objektiv in der Inschrift liegt, weil ihr Urheber ihn, indem er die Zeichen so und so anordnete, in sie gelegt hat. Der Sonderfall beleuchtet das Außergewöhnliche des grundlegenden Falles und lässt ermessen, wie schwer der Beweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien zu führen ist, da am Ursprung kategorialer Bestimmungen kein intelligenter Urheber mehr helfen kann, der sie 111 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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implementiert hätte; sollen sie doch dem Realen mit Notwendigkeit zukommen, nicht aus freier Urheberschaft. Kant schultert also enorme Beweislasten, wenn er zu zeigen unternimmt, dass der Diskurs von sich aus – a priori – die kategoriale Struktur nur freisetzt, die in der raumzeitlichen Realität gebunden und unwahrnehmbar schon notwendigerweise vorhanden ist. (Was den Beweis allen Schwierigkeiten zum Trotz zu einem guten Ende kommen lässt – im zweiten Beweisschritt der B-Deduktion –, ist die a priori erkennbare Natur von Raum und Zeit.) Drittens versetzt uns die Rede, der Diskurs, in die Lage, nicht nur kategoriale, sondern auch empirische Begriffe zu bilden und auf die wahrnehmbare Szenerie anzuwenden. Die folgerungstheoretische Semantik (Carnap, Sellars, Brandom) lehrt uns, dass wir, indem wir empirische Begriffe entwickeln, spezifische Naturnotwendigkeiten entdecken – und umgekehrt –, die wir in Faustregeln (»Wenn es blitzt, dann donnert es«) für inhaltliche Schlüsse (von Blitz auf Donner) fassen können und die, nicht zuletzt wegen der Anomalien, die wir gleichfalls beobachten (einen Blitz, dem einmal kein Donner folgt), zu Nachfragen Anlass geben, die schließlich – um eine verwickelte Geschichte auf ihre gröbste Grobstruktur zu reduzieren – zu wissenschaftlicher Theoriebildung im engen Sinn, d. h. zum Postulieren unbeobachtbarer Entitäten führen, aus deren streng gesetzmäßigem Verhalten das faustregelgemäße Verhalten beobachtbarer Entitäten abgeleitet und erklärt werden kann. Damit aber wird die konkrete Lebenswelt tendenziell als Erscheinung einer ihr innerlichen oder ihr zugrundeliegenden wesentlichen Sphäre begriffen, die nur indirekt und inferentiell, durch die Voraussetzung von theoretischen Entitäten mit bestimmten Grundeigenschaften, erkannt werden kann. Hegel hat diese Dualität von Wesen und Erscheinung, an-sich-seiender und erscheinender Welt, Innerem und Äußerem ganz in abstracto in der Wesenslogik untersucht, und Wilfrid Sellars hat sie, näher an der naturwissenschaftlichen Praxis, mit den begrifflichen Mitteln der Wissenschaftstheorie analysiert und die Ergebnisse seiner Analysen in zahlreichen Publikationen zugänglich gemacht. 1 1 Vgl. z. B. in W. Sellars, Philosophical Perspectives, 1959 u 1967, die Aufsätze XIII und XIV (»Theoretical Explanation«, und »Scientific Realism or Irenic Instrumentalism«), die Aufsätze XVI und XVIII (»Induction as Vindication« und »Theoretical Explanantion«), sowie den Aufsatz »Philosophy and the Scientific Image of Man«.

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Die Unhintergehbarkeit der Lebenswelt

Dabei hat Sellars die Sitte, wissenschaftliche Identifikationen wie »Wasser ist H2O« für bare Münze zu nehmen, als die Unsitte gebrandmarkt, die sie ist, und gezeigt, dass solche Gleichsetzungen, wörtlich verstanden, Kategorienfehler sind. Das lebensweltliche Wasser oder, in Sellars’ Diktion, das Wasser des manifesten Weltbildes (das Sellars nicht das natürliche nennen mag, weil er glaubt, es stehe zur Disposition) ist flüssig und kontinuierlich und wird, wenn man es mit rosa Farbstoff versetzt und in einer Würfelform gefrieren lässt, zu einem jener rosaroten Eiswürfel, die Sellars als Beispiele liebt und die ebenfalls kontinuierlich und dabei durch und durch rosa sind. Aggregate von H2O- (und einigen Farbstoff-) Molekülen aber können weder Kontinua noch im phänomenal-qualitativen Sinn farbig sein. 2 Man gewahrt hier, nebenbei gesprochen, das Brüchige der Legitimation psychophysischer Gleichsetzungen (»Schmerz ist das Feuern der C-Fasern«) aus der Praxis wissenschaftlicher Gleichsetzungen (»Wasser ist H2O«), die eben ihrerseits schon auf einem Kategorienfehler beruhen. Natürlich hat die Identifikation von Wasser mit H2O ein gewichtiges Wahrheitsmoment, das man mit Sellars wie folgt zu würdigen versucht sein könnte: In einem künftigen wissenschaftlichen Weltbild wird an die Stelle des lebensweltlichen Begriffes Wasser ein wissenschaftlicher Nachfolgerbegriff, Nwasser, getreten sein, und für Nwasser wird die Identifikation mit H2O uneingeschränkt gelten. An diesem Punkt aber kündige ich Sellars die Gefolgschaft auf und behaupte, dass das manifeste das natürliche und gleichsam das neutrale Null-Weltbild ist, welches nicht durch ein anderes, etwa wissenschaftliches Weltbild, ersetzt werden kann. Gegenwärtig, so Sellars, dem ich insoweit noch zustimme, sind unsere wissenschaftlichen Theorien einerseits periphere und unselbständige Erweiterungen unseres manifesten (bzw. natürlichen) Weltbildes, zu dem sie andererseits in begrifflicher Spannung stehen, weil ihre Entitäten nicht ins manifeste Weltbild und die lebensweltlichen Entitäten nicht in die wissenschaftlichen Theorien passen. Langfristig aber soll sich, und hier endet meine Zustimmung, die erwähnte Spannung zugunsten der wissenschaftlichen Theorien lösen, indem diese zu einem neuen, wissenschaftlichen Weltbild aus- und zusammenwachsen, so dass unVgl. z. B. W. Sellars, »Foundations for a Metaphysics of Pure Process. The Carus Lectures for 1977–78«, 73, und W. Sellars, »Sensa or Sensings: Reflections on the Ontology of Perception«, 89.

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sere fernen Nachfahren ihr Leben unmittelbar in Begriffen von Partikelschwärmen planen und beschreiben können. Die phänomenalen Qualitäten, häufig auch »Qualia« genannt, werden im wissenschaftlichen Weltbild dann eine ganz andere kategoriale Schublade füllen als heute im manifesten Weltbild, nämlich nicht an beliebigen Partikelschwärmen, d. h. nicht an den Nachfolgern von Eiswürfeln, Tischen, Stühlen usw., sondern nur in den Nachfolgern von zentralen Nervensystemen solcher Organismen vorkommen, die sinnlich wahrnehmen können. Im wissenschaftlichen Weltbild werden unsere Nachfahren also, was wir als Rosarot des Eiswürfels konzipieren, ganz unmittelbar als sensorische Prozesse im je eigenen Nervensystem und den Eiswürfel selber ebenso unmittelbar als eine farblose, diskrete Ansammlung von H2O- und Farbstoffmolekülen begreifen. Diese Prognose ist zu bizarr, um glaubhaft zu sein, und entsprechend gering veranschlage ich meine Beweislasten, indem ich ihr widerspreche. Desungeachtet gebührt Sellars das Verdienst, auf die begrifflichen Schwierigkeiten aufmerksam gemacht zu haben, die mit wissenschaftlichen Gleichsetzungen nicht erst in der Philosophie des Geistes, sondern schon in der Philosophie der Natur verbunden sind: Die manifeste, lebensweltliche Natur, das konkret Physische, ist nicht so und kann nicht so sein, wie es in der mathematisch-physikalischen Theoriebildung begriffen wird. Ein kategorialer Abgrund trennt das Physische vom Physikalischen, ein Abgrund, den wir erahnten, als wir in der Mittelstufe erstmals Physikunterricht erhielten und verdutzt entdeckten, dass die Natur ein Verhältnis mit der Mathematik hat. Aber wir vergaßen unsere Verblüffung wieder, weil wir ein Verhältnis des Physiklehrers mit der Mathematiklehrerin lustiger gefunden hätten und auch sonst ganz andere Sorgen und Freuden kultivierten. So konnte es dahin kommen, dass einige von uns sich später dem Materialismus in der Philosophie des Geistes zuwandten und nun im Kryptodualismus feststecken: als sei die exakte physikalische Erfassung der Natur nur ein technisches und die des Geistes ein begriffliches Problem, wenn auch ein lösbares. Wir anderen, die wir Monisten blieben, müssen dagegenhalten: Die Physik scheitert schon an der Erfassung der Natur (was indes keineswegs gegen sie spricht, sondern nur gegen schlechte Wissenschaftsphilosophie). Angesichts dieser Wendung mögen meine Beweislasten nun doch ein wenig drückender erscheinen, obgleich die dem Common sense verpflichtete Leugnung der Möglichkeit eines künftigen wissenschaftlichen Weltbildes und die monistische Breitseite gegen den 114 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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Materialismus, wenn man sie als philosophische Thesen aufbereitet, im Wesentlichen äquivalent sein dürften. Ich habe für diese These(n) aber schon so oft und ausführlich argumentiert, dass ich hier, um nicht zu langweilen, nur die Argumentationsidee und das Gegenbild skizzieren will, das aus der ausgeführten Argumentation hervorgegangen ist. 3 Damit das logische Prinzip der identitas indiscernibilium nicht durch raumzeitliche Einzelne widerlegt werden kann, müssen von ihnen indexikalische Wahrheiten (»X befindet sich jetzt hier rechts von mir«) gelten, was wiederum voraussetzt, dass es in Raum und Zeit mindestens ein Subjekt gibt, das sich indexikalisch auf seine Umgebung bezieht. Also ist Subjektivität notwendigerweise endlich und leiblich, und leibliche Subjektivität ist notwendig. Diese Behauptung nenne ich die (schwache) Subjektivitätsthese. In ihrer stärkeren Version besagt sie: Das Reale ist notwendig auf je mich als leibliches Subjekt in seiner Mitte bezogen. Der wesentliche Subjektbezug des Realen manifestiert sich unter anderem in seinen phänomenalen Qualitäten, die es an ihm selber und dennoch wesentlich im Verhältnis zu wahrnehmender Subjektivität hat – die Farbwahrnehmung erzeugt nicht, sondern vollendet die Farbigkeit der Dinge und macht, »daß in höherem Rot die Rosen leuchten vor« –, und ferner auch im Fluss der Zeit, der vollkommen real und intersubjektiv, aber physikalisch nicht erfassbar oder jedenfalls nicht erklärbar ist. Die Physik hat, indem sie eine Liaison mit der Mathematik einging, sich der indexikalischen Ausdrucksmittel und damit der innerweltlichen Perspektivität begeben, die aber zum Realen selbst gehört als dessen ureigene Weise, in die Erscheinung zu treten, sich zu zeigen, unverborgen zu sein. Mit dem Seziermesser der deindexikalisierten mathematischen Sprache versuchen wir, die Unverborgenheit des Seienden von seinem Sein abzulösen und Letzteres dem großen Topf der res extensa (oder des Physikalischen), erstere dem Kropf der res cogitans (oder des Mentalen) zuzuordnen. Aber keine der beiden Seiten ist substantiell, beide sind Abstrakta, die nicht für sich, sondern nur durchdrungen von der je anderen konkrete Wirklichkeit gewinnen können. Das »divide et impera« der theoretischen Wissenschaft ist gleichwohl völlig in Ordnung, man darf nur nachher in der Philosophie nicht vergessen, dass beim wissenschaftlichen Teilen Abstrakta herausgekommen sind, die Vgl. z. B. A. F. Koch, Versuch über Wahrheit und Zeit, Teil II, Kapitel 1 (»Die Subjektivitätsthese«), 313–375.

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man so nirgends antreffen kann: das Physikalische (statt des Physischen) und das Mentale (statt des Personalen). Die Deindexikalisierung der Physik betrifft aber nicht nur ihre Formulierung, sondern auch ihre Belege, die bekanntlich nicht durch einfache Erfahrung (die stets die eines endlichen Subjektes auf einem individuellen raumzeitlichen und epistemischen Standpunkt ist), sondern durch allgemeine, beliebig realisierbare Verfahren experimenteller Überprüfung gewonnen werden sollen, was in der Fülle der Zeit auf die mathematische Formulierung zurückwirken musste, als Frege, Hilbert, Russell und andere sich anschickten, eine mathematische Logik mit korrekten und vollständigen Beweisverfahren zu entwickeln, die am Ende als Rechenprogramme »mechanisch« (bzw. elektronisch) ausgeführt werden können. Von den beiden Residuen der frühneuzeitlichen Abstraktion, dem Physikalischen und dem Mentalen, ist Ersteres das theoretisch besser verstandene. Es liegt in zwei Versionen, als Gegenstand zweier Abstraktionsweisen vor, die bisher in der physikalischen Theoriebildung nicht zusammengeführt werden konnten: der makrophysikalischen in der Relativitätstheorie und der mikrophysikalischen in der Quantenmechanik. Die Makrophysik ist gegenstandsneutral; sie führt keine neuen, theoretischen Entitäten als Objekte sui generis ein, sondern betrachtet die gewöhnlichen Objekte in dem kontrafaktischen und sogar kontrapossiblen Grenzfall, in dem sie sich in Massepunkte (Newton) oder, bei vierdimensionaler Betrachtung, in punktförmige »Ereignisse« (Einstein) verflüchtigt hätten. Massepunkte und punktförmige Ereignisse sind zwar Objekte in einem schwachen, rein formalen Sinn, aber an ihnen ist nicht versteckt, sondern offenbar, dass sie nicht in concreto vorkommen können. Allen beteiligten Theoretikern ist klar, dass die Grundgleichungen der Makrophysik für den kontrapossiblen Grenzfall gelten und für konkrete Objekte nur näherungsweise und mit der Maßgabe, dass sie umso zuverlässiger und genauer gelten, je näher die Objekte in ihren Ausmaßen Massepunkten bzw. punktförmigen Ereignissen kommen. Die Mikrophysik dagegen tritt im Postulieren ihres Teilchenzoos prima facie gegenstandparteiisch auf und in ontologische Konkurrenz zum natürlichen Weltbild. Aber sie selbst untergräbt, mit Quine zu reden, auch wieder »die Partikularität des Partikels«, d. h. den ontologischen Status ihrer Teilchen, Einzeldinge zu sein. 4 Quine bezieht 4

W. V. Quine, Pursuit of Truth, § 8, 20.

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sich auf Ergebnisse der Quantenstatistik, näher der Bose-Einsteinund der Fermi-Dirac-Statistik, die darauf hindeuten, dass für Elementarteilchen das logische Prinzip der identitas indiscernibilium nicht mehr gilt, und resümiert, da er es (sehr zu Recht) für unangemessen hält, um physikalischer Probleme willen die Logik und damit auch die Biologie, Psychologie, Soziologie usw. zu revidieren, und für angemessen, wenn jeder vor seiner eigenen Haustür kehrt: »Nicht nur scheint es daher so, als seien Elementarteilchen ganz verschieden von Körpern, sondern anscheinend gibt es solche Bewohner der Raumzeit gar nicht, und wir sollten von den Raumzeitstellen a und b lieber nur sagen, sie seien in bestimmten Zuständen, statt, sie seien von zwei Dingen besetzt.« 5 Die Konkurrenz zum natürlichen Weltbild verschöbe sich damit auf die Frage möglicher Zustände von Raumzeitstellen, also von der Ontologie (dem Gegenstandsbereich) in die Ideologie, wie Quine – »to give a good sense to a bad word« 6 – den Schatz der Prädikate einer Theoriesprache nennt. Auf der Seite der Ontologie blieben wiederum, wie schon im Fall der Makrophysik, nur formale, mathematische Objekte übrig: Raumzeitstellen, die man als Quadrupel von reellen Zahlen relativ zu einem beliebig gewählten Koordinatensystem auffassen kann. 7 Hans-Peter Falk hat daraus den Schluss gezogen, dass es nicht nötig ist, »die Objektivität theoretischer Aussagen durch Sachverhalte [zu interpretieren], in die spezifisch theoretische Entitäten involviert sind« – was dann eine wissenschaftstheoretische Position ermöglicht, die »alle Vorteile eines Instrumentalismus in der Interpretation von naturwissenschaftlichen Theorien« besitzt, »ohne jedoch ein Instrumentalismus zu sein«. Sein Fazit: »Theoretische Objekte sind also nur im technischen Sinn bzw. im Rahmen des Quine’schen [deflationären, relativistischen] Verständnisses von Ontologie als Objekte zu bezeichnen.« 8 Die theoretische Wissenschaft erforscht demzufolge die Substanz der Lebenswelt, ohne sich im Ernst auf unbeobachtbare Objekte »hinter« oder »in« den erscheinenden lebensweltlichen Dingen festzulegen. Man muss aber doch noch einen entscheidenden Schritt über Falk hinausgehen. Sellars, Quine, Falk – sie alle nehmen die Fiktion einer vollständigen Weltbeschreibung, z. B. in Gestalt einer Car5 6 7 8

Ebd. § 13, 35. W. V. Quine, »Notes on the Theory of Reference«, 131. Vgl. W. V. Quine, »Things and Their Place in Theories«, 17. Alle Zitate aus: H.-P. Falk, Wahrheit und Subjektivität, 253.

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nap’schen Zustandsbeschreibung oder einer Sellars’schen Welt-Geschichte, für bare Münze, nämlich für ein kohärentes Ideal, wenn auch natürlich ein faktisch unerreichbares. Aus der Subjektivitätsthese aber folgt ein ontologischer, nicht erst epistemologischer Perspektivismus, der mit der Kohärenz des Ideals einer vollständigen Weltbeschreibung gänzlich unvereinbar ist. Das Reale selber, und an ihm selber, ist nicht so, dass es einen vollständigen Überblick über sich gewähren könnte (und wenn es zehnmal wollte, sozusagen); es ist reicher, dunkler, überraschender als alles, was gewusst und gedacht werden kann, und sei es auch von einem – per impossibile – allwissenden und vollkommen rationalen Subjekt. Wo nichts ist, hat der Kaiser dem Sprichwort zufolge sein Recht verloren, und wo etwas an ihm selber dunkel ist, die Allwissenheit und Allvernunft das ihre. So gelangen wir zu der dann nicht mehr deflationär interpretierbaren heraklitischen Einsicht, dass physis kryptesthai philei – die Natur es liebt, sich zu verbergen (und zwar im Sich-Zeigen sich ebenso sehr stets auch zu verbergen). Die Behauptung epistemischer Unergründlichkeit wegen ontischer Abgründigkeit des Realen ist eine philosophische, keine physikalische Lehre, aber sie manifestiert sich indirekt in der Physik als der endlose Fortgang der physikalischen Theoriebildung, in dem keine Grundlagentheorie die letzte ist, sondern jede früher oder später an Anomalien Schiffbruch leidet und von einer Nachfolgertheorie überboten und eingebettet werden muss. Dieser Progress ins Unendliche der physikalischen Theoriebildung steht andererseits aber auch dualistischen Hoffnungen im Wege, einen wohlumrissenen Bereich des Realen für eine hyper- oder metaphysische oder sonstwie außerphysikalische Theoriebildung abtrennen und reservieren zu können. Kein Aspekt des Realen ist der Physik unzugänglich, aber alle zusammen kann sie nicht oder könnte sie nur am kontrapossiblen, transfiniten Ende des Prozesses der physikalischen Theoriebildung in Übersicht bringen, weil erst dann, an jenem logischen Sankt Nimmerleinstag, das Versprechen des Atomismus eingelöst wäre, es werde sich eine allgemeine Supervenienzbasis als Generalschlüssel für wissenschaftliche Reduktionen zur Verfügung stellen lassen. Eine Anomalie, die gegen eine physikalische Fundamentaltheorie angeführt werden kann, legitimiert nicht den Sprung in eine außerphysikalische Fundamentaltheorie, sondern erfordert das Entwickeln einer physikalischen Nachfolgertheorie. Da der Progress der physikalischen Nachfolgertheorien aber ins potentiell Unendliche geht (irgendwann, 118 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Die Unhintergehbarkeit der Lebenswelt

wenn der letzte Physiker stirbt, wird er de facto abbrechen), kann aus prinzipiellen Gründen keine physikalische Supervenienzbasis je zur Verfügung stehen, über der das Reale, die konkrete Physis einschließlich des menschlichen Geistes, supervenieren könnte. Das andere Residuum der frühneuzeitlichen Abstraktion, das Mentale, ist die Subjektivität unter Absehung von ihrer wesentlichen Leiblichkeit, ein Absehen, in dessen Folge dann ebenfalls die kognitive von der praktischen und von der affektiven Subjektivität trennbar erscheinen konnte, so dass man sich seitdem etwa auch der Zukunftsfiktion einer künstlichen Intelligenz hingeben mag, die nur wahrnähme und erkennte, nicht auch fühlte und handelte. (Aber es gibt keine mögliche Welt, in der rein erkennende Wesen vorkommen, und im Übrigen auch keine, in der künstliche Intelligenz im nichtmetaphorischen Wortsinn realisiert ist. Die Technik ist auf Supervenienzbasen für ihre Artefakte angewiesen; doch die allfällige Supervenienzbasis für Intelligenz entzieht sich ins Unbestimmte wie die für das Physische überhaupt.) Hier ist nun allerdings auf einen seltsamen und bemerkenswerten Sachverhalt hinzuweisen, der unseren dualistischen Theorieneigungen ewig Nahrung liefern dürfte: Die Abtrennung der Subjektivität von ihrer wesentlichen Leiblichkeit vollzieht sich nicht erst in der Theorie, nicht erst im diskursiven Denken, sondern gleichsam als Realabstraktion schon vortheoretisch, alltäglich, quasianschaulich: in der erinnernden, planenden oder tagträumenden Imagination. Die Einbildungskraft ist der unverbesserliche Dualist in uns oder jedenfalls der perfekte Kronzeuge der Verteidigung im Verfahren gegen den Dualismus. Vermutlich ist sie auch das, was die Kluft zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz unüberbrückbar macht, und der Grund dafür, dass weder diskursives Denken (bloße Intentionalität) noch sinnliches Wahrnehmen (epistemischer Realitätskontakt) anders als im metaphorischen Sinn von Apparaten geleistet werden kann. Der phänomenal-qualitative Charakter der Inhalte sinnlicher Wahrnehmung wird zwar weithin als Schwierigkeit für eine materialistische Theorie des Mentalen anerkannt, so etwa von Sellars und von David Chalmers; doch für das Denken, die Intentionalität oder Kognition, glaubt man an den verschiedenen Funktionalismen (dem automatentheoretischen des frühen Putnam, dem Lewis’schen Kausale-Rollen-Funktionalismus, dem Sellars’schen semantischen Funktionalismus) eine üppige Palette verheißungsvoller materialistischer 119 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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Optionen zur Verfügung zu haben – eine Einschätzung, die angesichts der von Quine aufgewiesenen Unbestimmtheit der (naturalistisch verstandenen) Bedeutung und Bezugnahme und der von Davidson herausgearbeiteten Anomalie des Mentalen sowie erst recht des Paradoxons des Regelfolgens, das Kripke anhand von Wittgensteins »Philosophischen Untersuchungen« entwickelt hat, zwar als verstiegenes Wunschdenken erscheinen muss, sich aber nichtsdestoweniger einer breiten Befürwortung erfreut. Was die Befürworter in aussichtsloser Lage optimistisch macht, ist wohl der Sachverhalt, dass diskursives Denken in Schallwellen, Druckerschwärze, leuchtenden Farbpunkten und in Stein gemeißelt, kurz: in Form von natürlichen Sprachobjekten (Sellars’ Terminus) objektiv vorkommt und öffentlicher Beobachtung zugänglich ist. Allerdings sollten sie bedenken (manche tun es), dass auch das Sensorische objektiv und öffentlich vorkommt, das phänomenale Grün etwa am Gras der Wiese und das phänomenale Blau am wolkenlosen Tageshimmel. »Qualia ain’t in the head«, titeln Alex Byrne und Michael Tye, 9 aber die Botschaft wird nicht überall vernommen, weil uns Fehlwahrnehmungen, Träume, Halluzinationen nicht nur bisweilen auf der ersten Stufe des Erkennens in die Irre führen, sondern gewöhnlich mehr noch auf der zweiten Stufe, in der philosophischen Theoriebildung; denn wenn wir in der nächtlichen Dunkelheit unseres Schlafzimmers von grünen Wiesen unter blauem Himmel träumen, dann, so scheint es uns in der nachträglichen Reflexion, muss doch etwas in irgendeinem Sinn Grünes und Blaues dagewesen sein als Inhalt unseres Traumbewusstseins. Aber vermutlich waren wir im Schlaf einfach nur unkritisch genug, um unsere Gehirnzustände, die tagsüber dienstbar und unauffällig im Hintergrund unseres Wahrnehmens wirken, die sich aber bei nachtschlafendem Wahrnehmungsleerlauf in den Vordergrund sensorischer Zugänglichkeit schieben, mit Fällen von Wiesengrün oder Himmelsblau zu verwechseln. Träume und Halluzinationen angehend, trifft sicher der von McDowell so genannte Disjunktivismus zu, dem zufolge ein Wiesesehen und ein Wiesentraum keine qualitativ identischen Bewusstseinszustände sein können und ihr Gemeinsames, das sie – aber nur für die unkritische Haltung der Träumenden – verwechselbar macht, als eine Disjunktion zweier qualitativ verschiedener Zustände genommen werden muss. Ganz anders die Imagination. Ihre Schreibtafel zwar ist einer9

A. Byrne / M. Tye, »Qualia ain’t in the head«.

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seits so objektiv und öffentlich, wie man nur wünschen kann: der Raum und die Zeit als leer vorgestellte, somit reine und formale, dabei unendlich in alle Richtungen von je hier und jetzt ausgedehnte Anschauungsinhalte – also Kants reine Anschauungen unter den Bedingungen der Subjektivitätsthese, die es verlangt, dass Raum und Zeit auch dann noch ego- bzw. nunkzentrisch vorgestellt werden, wenn meine empirischen Eigenschaften und die des gegenwärtigen Augenblicks, weil rein vorgestellt werden soll, keine Rolle mehr spielen dürfen. Andererseits aber sind Raum und Zeit, rein vorgestellt, ideell, wie Kant in der metaphysischen und der transzendentalen Erörterung dieser Begriffe zeigt. Von der metaphysischen Erörterung will ich die These hier nicht abhängig machen, sondern unten eine Argumentationslinie aus der Subjektivitätsthese nachziehen, zuvor aber noch den Grundgedanken der transzendentalen Erörterung bekräftigen und so stark machen, dass er gegen den Buchstaben (wenn auch gewiss nicht gegen den Geist) von Kants transzendentaler Ästhetik gekehrt werden kann. In der transzendentalen Erörterung argumentiert Kant aus dem Faktum der euklidischen Geometrie, dass wir deren Gegenstand, den Raum (und per Analogie dann auch die Zeit) in einer reinen Anschauung kennen müssen. Dass es in der Mathematik mehr Geometrien als die euklidische gibt, tut nichts zur Sache und kann nicht gegen Kant verwendet werden, denn ihm ist es nicht um abstrakte mathematische Theorien, sondern um angewandte Mathematik, nämlich um die Theorie des wirklichen, physischen Raumes zu tun, und er folgt einfach den Physikern seiner Zeit in der felsenfesten Überzeugung, dass die euklidische Geometrie einschließlich des Parallelenaxioms die zutreffende Theorie des physischen Raumes ist, und zwar, wie Kant als Pointe hervorhebt, die notwendige und apriorische Theorie des physischen Raumes. Darin freilich sind die damaligen Physiker und ist mit ihnen dem Buchstaben nach auch Kant von der neueren physikalischen Theoriebildung widerlegt worden, die den Raum als durch in ihm vorkommende Materie bzw. Masse in systematischer Weise gekrümmt, d. h. aus seiner euklidischen Grund- oder Nullstellung gebracht erkannt hat. Für die Art, wie wir den Raum imaginieren, aber gilt Kants Überlegung nach wie vor. »Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen«, lesen wir in der transzendentalen Deduktion der B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft (§ 24, B 151). Bei Abwesenheit der Gegenstände aber fehlt den Inhalten der Imaginati121 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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on dann die Materialität oder Masse, die ihren Raum aus der euklidischen Grundstellung bringen und ihn krümmen (oder quanteln oder mit parasitären Miniaturzusatzdimensionen anreichern) könnte. Die Schreibtafel der Einbildungskraft ist der dreidimensionale, kontinuierliche, flache, d. h. nicht gekrümmte, also euklidische Raum im Verbund mit der eindimensionalen, kontinuierlichen, flachen, also ebenfalls euklidischen Zeit. Deswegen lassen wir uns wider besseres relativitätstheoretisches Wissen nach wie vor im Schulunterricht ad oculos demonstrieren, dass die Summe der Innenwinkel eines Dreiecks gleich zwei rechten ist und sein muss. Die Behauptung dieser Gleichheit ist ihrer Modalität nach notwendig zu nennen, zwar nicht logisch, wohl aber imaginativ notwendig. Man möchte nachgerade sagen, dass sie in allen imaginativ erreichbaren Welten gilt, was aber deswegen nicht besonders hilfreich wäre, weil zuvor noch geklärt werden müsste, welche Welten als imaginativ erreichbar gelten sollen. Lassen wir diesen Gedankenfaden vorerst fallen und wenden wir uns der angekündigten Argumentationslinie zu, die uns von der Subjektivitätsthese zu der These führen soll, dass Raum und Zeit, rein vorgestellt, ideell sind. Die Subjektivität und das materielle RaumZeit-System stehen in einem Wechselverhältnis, d. h. einem Verhältnis wechselseitiger wesentlicher Abhängigkeit: Subjektivität ist selber notwendig in Raum und Zeit verkörpert, und ein Raum-Zeit-System kann es nur geben, wenn irgendwo und irgendwann in ihm Subjektivität vorkommt, in endlicher, leiblicher Form, versteht sich, d. h. als potentielle Pluralität von Personen. Aristoteles pflegt Substantialität an Artefakten – Schuhen, Tischen usw. – zu erläutern, wohl wissend, dass Artefakte keine wirklichen Substanzen sind. So kann man auch die wechselseitige Wesensabhängigkeit an bestimmten Artefakten, regelkonstituierten Systemen von der Art der Spiele etwa, erläutern, obwohl Spiele keine wirklichen Wechselverhältnisse sind. Im Schach ist eine beliebige Figur, was sie ist, hat also ihren Wert und ihr Wesen, nur weil jede andere Figur jeweils das ist, was sie ist. Würden die Regeln für das Ziehen mit der Dame geändert, so wäre davon unmittelbar auch der Wert der Türme und aller übrigen Figuren betroffen. Ein Wechselverhältnis ist, was Hume für unmöglich hielt: ein System notwendiger Beziehungen zwischen (vergleichsweise) distinkten Entitäten, und dies näher so, dass sich die Seite der notwendigen Bezogenheit nicht präzise von der Seite der Distinktheit trennen lässt. Eben deswegen sind Spiele keine wirk122 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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lichen Wechselverhältnisse, denn die Seite der Distinktheit etwa der Schachfiguren ist die ihrer Materialität: Man kann in einem Spielsatz die schwarze Holzfigur, die als König diente, wenn sie verlorenging, durch einen braunen Hosenknopf ersetzen. Die Seite der notwendigen Bezogenheit ist demgegenüber die Seite der abstrakten Spielrollen, die durch die Regeln des Schachspiels festgelegt werden. In einem wirklichen Wechselverhältnis gibt es hingegen keine Dualität von abstrakter Rolle und physischer (oder gar physikalischer) Realisierung – weswegen Wechselverhältnisse ebenso immun sind gegen physikalistische Reduktionsversuche wie das Mentale (und wie das konkrete Physische überhaupt). In einem Wechselverhältnis spielen Rolle und Realisierung unentwirrbar ineinander; die Glieder des Wechselverhältnisses sind sozusagen einerseits durch und durch partiell aufeinander wesensbezogen und andererseits durch und durch partiell distinkt – beide Male »all the way down«, wie die Engländer sagen würden. In einem solchen Verhältnis also steht der Subjektivitätsthese zufolge die Subjektivität zum materiellen Raum-Zeit-System, was dualistische Theoriebestrebungen ab ovo zum Scheitern verurteilt. Subjektivität ist der Ort bzw. die Instanz des Wissens (und zugleich des Fühlens und Wollens). Was sie vom materiellen Raum-Zeit-System einschließlich ihrer selbst nach der Seite von dessen Wesensbezogenheit auf sie als Ort des Wissens weiß, weiß sie schlicht, indem sie sich selber kennt, also a priori. Was sie vom Raum-Zeit-System nach der Seite von dessen Distinktheit (von ihr) weiß, weiß sie a posteriori. Plötzlich zeigt sich die höhere Weisheit in Quines Kritik der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen, womit er zugleich die Unterscheidung zwischen Erkenntnis a priori und Erkenntnis a posteriori treffen wollte: Wenn in einem Wechselverhältnis die Seite des Wesensbezugs der Glieder von der Seite ihrer Distinktheit nicht scharf zu trennen ist, sondern eine Seite die andere unentwirrbar durchdringt, so ist mit Blick auf das Wechselverhältnis der Subjektivität und des Raum-Zeit-Systems das Wissen a priori vom Wissen a posteriori nicht scharf zu trennen, sondern eines durchdringt das andere unentwirrbar. Was immer wir über das reale Raum-Zeit-System einschließlich unser selbst als körperlicher Wesen wissen, ist nicht schwarz (a posteriori) oder weiß (a priori) sondern grau in vielerlei verschiedenen Helligkeitsgraden. Wenn es aber so etwas wie eine Realabstraktion gäbe, in welcher die Subjektivität sich selbst aus ihrem Wechselverhältnis zum Raum123 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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Zeit-System herausdächte oder herausimaginierte, so wäre für das Wissen über das so gewonnene Realabstraktum, d. h. die Subjektivität in Isolation vom materiellen Raum-Zeit-System betrachtet, ein Grau von so großer Helle anzunehmen, dass es einem Weiß für alle praktischen Belange und nur deswegen nicht vollkommen gleichkäme, weil die schiere Zweiwertigkeit der Aussage die Möglichkeit der Falschheit auch dann noch vorgesehen sein lässt, wenn in einem gegebenen Fall die Wahrscheinlichkeit der Falschheit gegen Null geht. De facto finden wir das Realabstraktum der Subjektivität vor an der (3 + 1)-dimensionalen, ego- und nunkzentrischen »Schreibtafel« der Einbildungskraft, d. h. dem euklidischen Raum-Zeit-System, das den Inhalt der reinen Anschauung bildet. Die Subjektivität ist aber real gerade dank ihrer eigenen Leiblichkeit, d. h. dank ihrem Stehen im Wechselverhältnis zum materiellen Raum-Zeit-System. Quelle der Idealität und selbst ideell ist sie, sofern sie in Isolation vom Wechselverhältnis erwogen wird. So aber wird sie nicht bloß diskursiv erwogen, sondern auch anschaulich imaginiert, wenn wir uns Raum und Zeit leer und auch dann noch, weil es anders nicht möglich ist, egound nunkzentrisch vorstellen: das imaginativ leergeräumte RaumZeit-System mit leergeräumter Jemeinigkeit und leergeräumter Augenblicklichkeit in seiner Mitte als die neutrale »Schreibtafel« für das Einzeichnen beliebiger imaginativer Gehalte. »Stell Dir vor, du bist Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig«, bittet mich mein Gegenüber, und ich fange an, die leergeräumte Jemeinigkeit, so gut ich kann, napoleonisch auszustaffieren und den Augenblick mit Versatzstücken des frühen 19. Jahrhunderts, dazu rings Soldaten in altertümlichen Uniformen, Wald und Wiesen, alles vielleicht, aber nicht notwendigerweise, begleitet von der Wortvorstellung: »Das sollte bei Leipzig sein«, usw. Wann immer wir uns ein zum realen alternatives Szenarium vorstellen, lösen wir in reiner Einbildungskraft vom physischen, ego- und nunkzentrisch mit mir als Leib in der Mitte angeschauten Raum-Zeit-System das reine, nur noch von leerer Egound Nunkzentrizität geprägte Raum-Zeit-System ab und besetzen es in reproduktiver Einbildungskraft neu mit Abzügen sensorischer Gehalte aus dem Schatz unserer Erinnerung. Doch das neu besetzte Raum-Zeit-Szenarium wird durch die Neubesetzung nicht real, sondern bleibt imaginär und ideell, bis wir, freilich nur in manchen Fällen, daran gehen, es handelnd zu verwirklichen (wir stellen uns etwa vor, Kaffee zu kochen, und dann gehen wir in die Küche und tun es); aber die Realisierung im Handeln ist 124 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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wieder ein leibliches Eingreifen in die Verteilung der Materie in Raum und Zeit, mit dem die imaginative Realabstraktion rückgängig gemacht wird. Nach allem übrigens, was gesagt wurde, ist »Realabstraktion« hier allerdings ein eher unpassendes Wort; denn das leere EgoNunc-Raum-Zeit-Gerüst ist eben nicht mehr real, gemessen an der Realität des Wechselverhältnisses von materieller Raum-Zeit und Subjektivität, sondern als ein obschon anschaulicher, nicht diskursiver Gehalt dennoch ideell; und Signum seiner Idealität ist seine kontinuierliche und flache Natur, d. h. seine ungebrochene Euklidizität. In ein flaches, und sei es auch mehrdimensionales, Kontinuum passt nichts Reales, Massives, Materielles (sonst wäre dieses abstrakte Imaginat der reinen Einbildungskraft real, nicht imaginär). Deswegen ist keine mögliche raumzeitliche Welt – und da es nur raumzeitliche gibt, keine mögliche Welt simpliciter – euklidisch verfasst. Mit anderen Worten, Euklidizität ist metaphysisch unmöglich; und dennoch, wie man sagen möchte, imaginativ notwendig, was immer das genau heißen mag. Was es heißen mag, kann man sich klarmachen, wenn man bedenkt, dass der Grad der Euklidizität jeder möglichen Raum-Zeit zunimmt, erstens, wo und wenn die Dichte der Masse abnimmt, so dass schließlich im Vakuum Euklidizität herrscht, und zweitens, wenn immer kleinere Regionen der Raum-Zeit in Betracht gezogen werden, so dass schließlich im Lokalen des Massepunktes oder des punktförmigen Ereignisses ebenfalls Euklidizität herrscht. In doppelter Hinsicht also ist die euklidische Raum-Zeit jeweils der kontrapossible Grenzfall jeder möglichen Welt, erstens der Grenzfall, in dem die Raum-Zeit leer wäre, und zweitens der, in dem ein beliebiges punktförmiges Ereignis betrachtet wird. Wir interessieren uns hier für den erstgenannten als den imaginationsrelevanten Fall und können ihn mit Kant den transzendentalen Grenzfall nennen, da Kant unter transzendentalen Vorstellungsgehalten reine, nichtempirische Gehalte versteht und der kontrapossible Grenzfall einer Welt, in der sie leer wäre, als Vorstellungsgehalt offenkundig ein solcher reiner Gehalt wäre. Wenn wir nun transzendental notwendig dasjenige nennen, was für den kontrapossiblen reinen Grenzfall jeder Welt gilt, so lässt sich sagen, dass die euklidische Verfassung der Welt, obzwar metaphysisch unmöglich, gleichwohl transzendental notwendig ist. Die transzendentale Notwendigkeit also ist das, was oben mit der Wendung »imaginativ notwendig« erfasst werden sollte. 125 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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Warum aber fristet das transzendental Notwendige nicht nur das Dasein eines notwendigerweise unselbständigen Aspektes alles möglicherweise Realen, sondern führt darüber hinaus, uns ewig zum Dualismus oder zum Idealismus reizend, noch ein quasianschauliches und quasikonkretes Eigenleben in der Imagination? Und wie ist ein solches Eigenleben überhaupt möglich? Sein Eigenleben führt das Transzendentale, so müssen wir sagen, als ein Imaginäres und Ideelles, womit der Weg zum Dualismus bereits abgeschnitten wäre und auch der Weg zum Idealismus bezüglich des wirklich wahrgenommenen Raum-Zeit-Systems. Aber wie kann ein nur Imaginäres und Ideelles ein quasikonkretes Eigenleben führen? Dies hat mit der Eigennatur der Subjektivität zu tun, mit ihrer Mitgift sozusagen, die sie in ihr Wechselverhältnis zum materiellen Raum-Zeit-System einbringt und die als Eigenleben der reinen Imagination, als welche die Subjektivität ganz bei sich und dennoch nicht privat, sondern öffentlich ist, am augenfälligsten zutage tritt. Die Eigennatur der Subjektivität aber ist ihre Unfundiertheit, womit es näher Folgendes auf sich hat. Subjektivität ist unentwirrbar leiblich, aber in der Imagination und als Imagination löst sie sich aus ihrem Wechselverhältnis, wenn auch nur für die Imagination, nicht realiter. Reine, aus dem Wechselverhältnis und der Leiblichkeit gelöste Subjektivität ist metaphysisch unmöglich, aber transzendental – als kontrapossibler Grenzfall – notwendig, und sie existiert nur für sich, als Inhalt der reinen Imagination. Letztere selbst existiert nur für sich, als ihr eigener Gehalt. Diese paradox anmutende, zirkuläre Struktur des imaginativen Kerns der Subjektivität ist der philosophischen Tradition, insbesondere der neuplatonischen, wohl nicht verborgen geblieben, aber erst Fichte hat sie zur zentralen Pointe gemacht, gleich zu Beginn seines öffentlichen Wirkens in der Rezension der Kritik, die Schulze/Aenesidemus an Reinholds Elementarphilosophie geübt hatte. Der Skeptiker Aenesidemus, so lesen wir in der Rezension, »wirft die Frage auf, wie denn wohl die Elementar-Philosophie zu der überschwenglichen Kenntniss der objektiven Existenz eines solchen Etwas, wie das V.V. [= Vorstellungsvermögen] seyn solle, kommen möge; und kann sich nicht satt verwundern über die […] Folgerung: ›Wer eine Vorstellung zugebe, gebe zugleich ein Vorstellungs-Vermögen zu.‹ Rec. […] würde sich nicht weniger über den Skeptiker verwundern, […] der jetzt, sowie das Wort: ›Vorstellungs-Vermögen‹ sein Ohr trifft, sich dabei nichts Anderes denken kann, als irgend ein (rundes oder vierecktes?) Ding, das unabhängig

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von seinem Vorstellen als Ding an sich, und zwar als vorstellendes Ding existirt. […] Das V.V. existirt für das V.V. und durch das V.V.; diess ist der nothwendige Zirkel, in welchem jeder endliche, und das heisst, jeder uns denkbare, Verstand eingeschlossen ist.« 10

Was hier vom Vorstellungsvermögen allgemein gesagt ist, gilt a fortiori – und vielleicht überhaupt erst – für die Einbildungskraft als den reinen Kern der Subjektivität: Die Einbildungskraft existiert für die Einbildungskraft und durch die Einbildungskraft, als eine imaginäre causa sui, nicht aber als irgendeine (grob- oder feinstoffliche?) Komponente der leiblichen Subjektivität. Wir haben es hier mit einem lokalen Idealismus zu tun, der sowohl dem Dualismus als auch dem generellen Idealismus das Wasser abgräbt; dem Dualismus, weil die Einbildungskraft keine res cogitans oder imaginans, sondern selbst nur »eingebildet« ist; dem generellen Idealismus, weil die Einbildungskraft auf ein Reales – leibliche Subjektivität im Wechselverhältnis – angewiesen ist, an dem sie sich in ihrem »notwendigen Zirkel« als eine ontologisch parasitäre, seinsohnmächtige causa sui vollziehen kann. 11 Sie gleicht darin einem Virus, das zwar eine DNS, aber keinen eigenen Stoffwechsel besitzt und sich daher nur in einer Wirtszelle vervielfältigen kann. Freilich hat diese Analogie ihre – erfreuliche – Grenze darin, dass Wirtszellen der Viren nicht bedürfen, während die Einbildungskraft dem Realen die kontrapossible euklidische Grundstellung gewährt, von welcher systematisch abweichend und sie zugleich verformend und realisierend es als Reales erst ins Sein und in die Unverborgenheit hervorgehen kann. Es ist dieser Sachverhalt, der Kant die transzendentale Deduktion der Kategorien ermöglicht hat. Der Zirkel der Einbildungskraft aber lässt sich begreifen als Unfundiertheit, deren mengentheoretische Variante präzise formulierbar ist. Da also ein »Kannitverstan« von bemüht analytischer Seite hier nur den Effekt hätte, seine Urheber als formal ungebildet zu diskreditieren, ergeht Einladung, Folgendes zu verstehen. Eine Menge ist unfundiert, wenn sie mindestens eine unendliche absteigende EleJ. G. Fichte: Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, 11. Mike Stange habe ich zu danken für den berechtigten Hinweis, dass Fichte dies wohl als eine dogmatische Behauptung zurückweisen und seinerseits fordern würde, die Abhängigkeit der imaginativen causa sui aus ihr selbst, aus einem aufzuweisenden Selbstwiderspruch in ihrer Konzeption, einsichtig zu machen. Sie selbst muss über sich hinausweisen, denn wir kommen (nach Fichte) nicht epistemisch außerhalb ihrer zu stehen.

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mentschaftskette besitzt, wenn sie also ein Element hat, das ein Element hat, das ein Element hat, … – usf. ins Unendliche. Dem Zermelo-Fraenkelschen Axiomensystem der Mengenlehre zufolge sind nun zwar, wenn, wie üblich, das Fundierungsaxiom hinzugefügt wird, alle Mengen fundiert und alle absteigenden Elementschaftsketten endlich. Doch wenn man das Fundierungsaxiom einmal durch ein geeignetes Antifundierungsaxiom ersetzt, erhält man eine Mengenlehre, in der unendliche absteigende Elementschaftsketten und damit unfundierte Mengen zugelassen sind. Peter Aczel hat ein Antifundierungsaxiom, AFA, motiviert und einen Beweis seiner relativen Widerspruchsfreiheit geführt, das die Existenz genau einer Menge, Ω, zur Folge hat, die ihre eigene Einermenge ist, für die demnach gilt: Ω = {Ω}. 12 Wenn man diese Gleichung als Rezept für die Entwicklung ihrer rechten Seite nimmt, erhält man eine Folge von immer längeren Ausdrücken, an deren fiktivem, transfinitem Ende eine unendliche Anzahl von Paaren ineinander verschachtelter geschweifter Klammern stünde: Ω = {Ω} = {{Ω}} = … = {{{…}}} Unfundiert hatten wir Mengen genannt, die mindestens eine unendliche absteigende Elementschaftskette besitzen. Demnach ist die Menge Ω unfundiert; denn sie hat ein Element, das ein Element hat, das ein Element hat, … – usf. ins Unendliche. Wenn eine Menge nur unendlich absteigende Elementschaftsketten besitzt, mag sie vollkommen unfundiert heißen. Ω hat eine einzige absteigende Elementschaftskette, und diese ist unendlich. Also ist Ω vollkommen unfundiert und ferner nach AFA die einzige – also die – vollkommen unfundierte Einermenge (und ferner die vollkommen unfundierte Menge überhaupt). In strenger Analogie zu Ω denken wir nun die reine Einbildungskraft. Da Ω eine Einermenge ist, brauchen wir für die Analogie nur Einermengen zu berücksichtigen. An ihre Stelle lassen wir kognitive Akte (mentale Ereignisse) treten, an die Stelle von Elementen kognitive Gehalte. Dann tritt an die Stelle der Einermenge ihrer selbst, Ω, derjenige Akt, der ausschließlich sich selbst zum Gehalt hat, an dem daher übrigens auch der Gehaltsexternalismus eine signifikante Ausnahme erleidet und der ungefähr Fichtes »Tathand-

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P. Aczel, Non-Well-Founded Sets.

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lung« entspricht, in welcher das absolute Ich sich selber setzt. Es ist wohl müßig, diesen Akt/Gehalt diskursiv oder intuitiv zu nennen; im Grenzfall vollkommen unfundierter Kognitivität dürfte die Differenz des Diskursiven und Intuitiven kollabieren und Kants Vermutung sich bewahrheiten, dass die Einbildungskraft die gemeinsame Wurzel des Denkens und Anschauens ist. Aber das mag hier dahingestellt bleiben. Man kann wie Hegel in der »Wissenschaft der Logik« versuchen, die unfundierte Kognitivität (er nennt sie den »Begriff«) als die entwickelte Form der Selbstbeziehung aus primitiveren Vorformen unfundierter, selbstbezüglicher, antinomischer Negation (dem Anderen seiner selbst, dem absoluten Schein) hervorgehen zu lassen, also aus einem Sachverhalt, ν, dessen Bestehen sein eigenes Nichtbestehen, bzw. aus einer Aussage, die (wie der Lügner: »Was ich gerade sage, ist nicht wahr«) ihrer eigenen Negation logisch äquivalent ist: ν $ ~(ν) $ ~(~(ν)) $ … $ ~(~(~(…))) Aber auch das mag hier dahingestellt bleiben. Wichtig für den gegenwärtigen Kontext ist Folgendes. Das unfundierte imaginative Abstraktum, das den Kern der Subjektivität bildet, ist die (3 + 1)-dimensionale, euklidische, um einen subjektivaugenblicklichen Punkt (je mich hier jetzt) zentrierte, leere, potentiell öffentliche Raum-Zeit. Als solche kommt sie nirgends realiter, sondern nur »in sich selbst« als Gehalt der reinen Imagination vor, die sie selber ist. (Deswegen war es eine Pointe, keine Nachlässigkeit, dass Kant nicht streng zwischen dem euklidischen Raum und der reinen Anschauung des Raumes unterschied.) Realiter kommt sie vor in der Deformation durch materielle Dinge, die der Preis ihrer Realisierung ist; aber dann ist sie schon nicht mehr sie selber, sondern eingegangen in das Wechselverhältnis der endlichen Subjektivität und des materiellen Raum-Zeit-Systems. Die Transzendentalphilosophie – zu der Kant konsequenterweise die Kritik der praktischen Vernunft wegen deren wesentlicher, wenn auch nur negativer Beziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust und aus ihm entsprungener empirischer Neigungen nicht zählen mochte – ist die reine Theorie der reinen, unfundierten Kognitivität. Fällt sie also selber, wie man es von ihrem Gegenstand annehmen muss, in den Operator der imaginativen Entrealisierung? Ist sie die theoretische Artikulation, eine diskursive Vertiefung und Erweiterung der reinen Einbildungskraft selber? Wenn ja, so kann sie den129 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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noch nicht umhin, sich in der gewöhnlichen, reifizierenden Sprache zu artikulieren, denn eine andere gibt es nicht; nur können ihre Reifikationen, etwa das reine zentrierte Raum-Zeit-System selber, nicht völlig ernstgemeint sein, sondern sind eher formale Objekte nach Art der mathematischen. 13 Die transzendentalen Schemata hat Kant als (formale) Objekte der Transzendentalphilosophie zugelassen und sonst keine weiteren, außer in kritischer Absicht die durch nachträgliche Entschematisierung der Kategorien, also in negativer, sich zurücknehmender Imagination zu konzipierenden, bloß denkbaren, prinzipiell nicht epistemisch zugänglichen »Verstandesdinge« oder Noumena. Alle formal-transzendentalen Objekte aber sind letztlich Artefakte unseres Redens über sie auf dem Boden der bodenlosen (d. h. unfundierten) Einbildungskraft. Die substantiellere Philosophie ist die Theorie der Wechselverhältnisse (von Raum und Zeit, von Materie und Raum-Zeit, von Subjektivität und materieller Raum-Zeit usw.) im Ausgang vom Begriff und Faktum der Wahrheit, d. h. dem Faktum, dass wir Wahrheitsansprüche erheben. Ihr Apriorismus ist nicht abstrakt formal, sondern inhaltlich bestimmt: Wir wissen a priori, was wir wissen müssen, um an der Praxis der Wahrheitsansprüche teilnehmen zu können. Das ist immerhin eine erkleckliche Menge, die sich in philosophischer Theoriebildung noch erweitern, vertiefen, verfeinern und bis zu dem Punkt fortentwickeln lässt, an dem die Praxis der Wahrheitsansprüche als gegen skeptische Einreden gerechtfertigt erscheint. Gleichwohl gilt für diese substantiellere Philosophie, dass ihre Lehren nur vergleichsweise, nicht absolut a priori eingesehen werden; im Wechselverhältnis geht es nicht anders. Es gilt für sie ferner, dass sie keine theoretische Wissenschaft nach Art der Aristotelischen Trias der Lehre vom Sein (Metaphysik), vom Werden (Physik) und von abstrakten, formalen Zügen des Seienden (Mathematik) sein kann. Das erste Glied der Trias, die Metaphysik, steht schon seit langem in Verruf, hält sich aber mit ruiniertem Ruf und wird sich weiter halten als das ewig reizende Unternehmen einer theoretischen Wissenschaft a priori des Realen im Ganzen neben der mathematiSimone Neuber habe ich zu danken, die, eine analoge Problematik in Beziehung auf die Husserl’sche Phänomenologie erwägend, mir die Möglichkeit vor Augen gerückt hat, dass eine philosophische Theorie über »Gegenstände« in Anführungszeichen, d. h. Gegenstände im Bereich eines depotenzierenden Operators, ihrerseits eine »Theorie« in Anführungszeichen ist, d. h. selbst in den Bereich jenes depotenzierenden Operators fällt.

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schen Physik (und der reinen Mathematik als formaler Wissenschaft). Für die theoretische Wissenschaft, wie der Ausdruck hier verwendet wird, ist es definitorisch, dass sie von indexikalischen Ausdrucksmitteln einschließlich des Tempus verbi keinen wesentlichen Gebrauch macht. Darin aber liegt, wie anfangs gesagt wurde, eine Generalabstraktion von wesentlichen Zügen des Realen, ein Realitätsverlust, den die Physik im unendlichen Progress ihrer Nachfolgertheorien erfährt, durch den sie ihn zugleich zu kompensieren versucht und den die Metaphysik kompensieren möchte durch die Verdinglichung auffälliger Leerstellen, so als könnte es neben dem Zuständigkeitsbereich der Physik noch Universalien, denkende Substanzen, Sinne, mögliche Welten oder was auch immer geben. Die Transzendentalphilosophie ist wie die Mathematik eine Theorie formaler Aspekte des Realen und ergeht sich als der verlängerte, theoretische Arm der reinen, unfundierten Einbildungskraft und als Theorie der reinen Subjektivität in lokalem Idealismus, was legitim ist, solange die Beschränkung aufs Lokale und Imaginative bewusst bleibt. Die Philosophie als substantielle Theorie der Wahrheit und der Wechselverhältnisse schließlich ist der Versuch, den Realitätsverlust der theoretischen Wissenschaften gar nicht erst zu erleiden, sondern wesentlichen Gebrauch von indexikalischen Ausdrucksmitteln zu machen und sich als eine perspektivische und, da Standpunkte unhintergehbarer Jemeinigkeit Standpunkte unhintergehbarer Alterität füreinander sind, die nicht durch Transformationsgleichungen ineinander überführt, sondern nur durch eine unter jeweils mehreren möglichen Deutungen unvollkommen aufeinander bezogen werden können, hermeneutische Wissenschaft zu konstituieren, freilich im Unterschied zu den Geschichts-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften als eine hermeneutische Wissenschaft a priori. Heideggers »Sein und Zeit« dürfte der erste großangelegte Versuch in dieser Richtung gewesen sein; aber die hermeneutische Philosophie ist nicht an die spezifische, durch Dilthey und andererseits (nicht hermeneutisch, sondern phänomenologisch) durch Husserl bestimmte Tradition gebunden, in der Heidegger stand, sondern kann sich ebenso in der von Frege, Russell und Wittgenstein begründeten Tradition zur Geltung bringen. Ihr Apriorismus ist wesentlich ein angefochtener, ein Ideal, unter das sie sich stellen, kein Verfahren, das sie mechanisch anwenden kann – was im Nachhinein die berechtigte Kritik wieder relativiert, die in beiden erwähnten Traditionen, von Frege und von Husserl, am sogenannten Psychologismus geübt worden ist. Diese 131 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Anton Friedrich Koch

Kritik ist unverzichtbar, damit die Philosophie sich selbstbewusst als Disziplin eigenen Rechtes konstituieren und profilieren kann, aber das Beharren auf einer scharfen Trennung von philosophischen und psychischen (wie auch physischen) Sachverhalten führt tendenziell wieder in die Nähe eines Kryptodualismus, der etwa die Form einer Unterscheidung zwischen abstrakten (normativen, kausalen, …) Rollen und deren physischen oder physikalischen Realisierungen annehmen kann, die in ihrer Abstraktheit der Natur der Wechselverhältnisse nicht gerecht wird. Wie die Physik wesentlich physica militans, nie triumphans ist, so ist auch die Philosophie – ihr Name deutet es an – wesentlich unterwegs zum besseren Verständnis dessen, was mit dem Faktum der Wahrheit zusammenhängt. So sehr sie sich auch bemüht und bemühen muss, die Schlacken der Empirie abzustreifen, wird ihr das immer nur näherungsweise gelingen können. Kehren wir zum Schluss noch einmal zu unserer Ausgangsproblematik, der des Verhältnisses von Lebenswelt und Wissenschaft, zurück. Die unangefochtene theoretische Fundamentalwissenschaft des Realen ist die mathematische Physik. Sie beantwortet, wie Sellars zu sagen beliebt, Fragen, die im manifesten Weltbild aufgeworfen, aber nicht beantwortet werden können, sei es, weil das manifeste Weltbild in kontingenter menschheitsgeschichtlicher Entwicklung sich so defizitär entwickelt hat, wie es sich eben entwickelt hat, sei es, wie ich mit Falk glaube, weil die manifeste oder vielmehr die lebensweltlich-natürliche Ontologie einzelner Objekte im Raum, die sich in der Zeit verändern, zwar notwendig, gleichwohl aber von Inkonsistenz bedroht ist. (Die Blume, die gestern noch blühte, ist heute welk. Wie kann sie dann dieselbe wie gestern sein?) Es gibt verschiedene Strategien, mit dieser Inkonsistenz umzugehen. (1) Man kann alternative, revisionäre Ontologien entwerfen, etwa mit Quine eine Ontologie vierdimensionaler physikalischer Objekte (oder ihnen entsprechender Raum-Zeit-Regionen) oder mit David Lewis eine Ontologie zeitlicher Teile; doch die neue Ontologie mag zwar als eine aufschlussreiche Variation die alte neu beleuchten, kann sie aber nicht überflüssig machen (wie sich aus der Subjektivitätsthese ableiten lässt). (2) Eine andere Strategie ist die des Essentialismus, d. h. der Auszeichnung gewisser Bestimmungen eines Objektes als für seine Identität konstitutiv. Aber gerade hier stößt das manifeste bzw. natürliche Weltbild an seine Grenzen, und wenn es so etwas wie ein wohlumrissenes Wesen der jeweiligen Dinge zu entdecken gibt, dann in physikalischer Theoriebildung. Wasser ist seinem fixen Wesen nach 132 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Die Unhintergehbarkeit der Lebenswelt

H2O – und kann doch andererseits nicht im strengen Sinne damit identisch sein. (3) Oder man schließt mit Falk wie folgt: »Offenbar kann die Wirklichkeit [Substantialität] des wahrnehmbaren Einzelnen wegen der durch seine zeitliche Verfassung heraufbeschworenen Inkohärenz nicht in der Begrifflichkeit gedacht werden, die seine Wahrnehmbarkeit betrifft (m. a. W. als Träger sekundärer Qualitäten). Das natürliche Weltbild ist somit in einem radikalen Sinn nicht theoriefähig […]. […] Andererseits ist seine Wirklichkeit (seine Substantialität) eben als seine Wirklichkeit zu denken (es geht weder darum, eine Ontologie durch eine andere abzulösen noch darum, zu einer ›hinter‹ den wahrnehmbaren Erscheinungen liegenden Realität vorzudringen). Dies nun kann sich nur darin artikulieren, daß […] die Tatsche, daß dasjenige, was ihm jeweils zukommt, zu seiner Wirklichkeit gehört, zum Ausdruck kommt, was wiederum, da es ja wegen der Inkohärenz nicht durch deskriptive Mittel möglich ist, durch (Beziehung auf) die Notwendigkeit geschehen muß, kraft deren ihm das zukommt, was ihm zukommt.« 14

Hier haben wir in nuce Falks transzendentale Deduktion der Kategorie der Kausalität. Es ist eine notwendige, identitätslogische Wahrheit, dass jedes Ding die Bestimmungen hat, die es hat; andernfalls wäre es nicht das Ding, das es ist. De facto aber wechseln die Bestimmungen eines Dinges in der Zeit. Dies ist die Inkohärenz des natürlichen Weltbildes, die zwar nicht deskriptiv, wohl aber modal aufgefangen werden kann, darin nämlich, dass die ursprünglich identitätslogische Notwendigkeit sich als kausale Notwendigkeit manifestiert, aufgrund deren wandelbare Dinge eben doch noch jeweils mit Notwendigkeit das sind (und sein können), was sie eben sind. Der theoretischen Wissenschaft bleibt es dabei vorbehalten, die Naturgesetze zu ergründen, die der kausalen Notwendigkeit zugrunde liegen. So gilt es in der fundamentalen Betrachtung des Realen zweigleisig zu verfahren: Die Physik beschreibt als theoretische Wissenschaft die Substanz der Lebenswelt in revisionärer Begrifflichkeit und um den Preis einer Generalabstraktion, die in einem unendlichen Theorieprogress nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, und die Philosophie untersucht und begründet als hermeneutische Wissenschaft a priori, die aber ihrem äußeren Erscheinungsbild nach durchaus analytisch auftreten mag, das Faktum der Wahrheit und das System der Wechselverhältnisse vom unhintergehbaren Standpunkt endlicher Jemeinigkeit aus. Dabei wird sie versuchen, auch die 14

H.-P. Falk, Wahrheit und Subjektivität, 248 f.

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Anton Friedrich Koch

Ergebnisse der abstrahierenden, formalen Transzendentalphilosophie zu berücksichtigen und einzubetten. Denn die unfundierte Einbildungskraft oder, allgemeiner gesprochen, die unfundierte Kognitivität und Subjektivität, die sich in der Transzendentalphilosophie artikuliert, dürfte dasjenige Ingrediens im allgemeinen Wechselverhältnis der Menschen und der Dinge sein, das die Rolle und Aufgabe innehat, die Platon der Idee des Guten zudachte: das Reale ins Sein und in einem damit in die – nach Heraklit nie ungetrübte – Unverborgenheit hervorgehen zu lassen, deren beide, das Sein und die Unverborgenheit, wir aus dem natürlichen Weltbild kennen. Das Reale andererseits, wie es in der theoretischen Physik beschrieben wird, leidet erheblichen Mangel an Sein und Unverborgenheit, einen Mangel, in dem sich die ontologische Differenz – zwischen dem (hier: physikalisch konzipierten) Seienden und seinem Sein – bekundet, die Heidegger ins allgemeine philosophische Bewusstsein gehoben hat. Der ideell-imaginäre Gegenstand der Transzendentalphilosophie, die unfundierte Subjektivität, ist nicht zuletzt deswegen von größter Wichtigkeit für die Philosophie, weil ohne sie das Reale nicht ins Sein und Sich-Zeigen hervorgehen könnte. Es scheint zunächst trivial, dass dem Realen oder Seienden Sein zukommt. Daher tut die theoretische Physik ein gutes Werk an uns, wenn sie uns vor Augen führt, dass Seiendes unter Umständen recht seinsarm und in sich verschlossen sein kann.

Literatur Aczel, Peter: Non-Well-Founded Sets, CSLI Lecture Notes 14, Stanford 1988. Byrne, Alex / Michael Tye: »Qualia ain’t in the head«, in: Noûs 40, 2006, 241– 255. Falk, Hans-Peter: Wahrheit und Subjektivität, Freiburg und München 2011. Fichte, Johann G.: Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, Bd. I, hg. von Immanuel H. Fichte, 8 Bände, Berlin 1845/1846. Koch, Anton F.: Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006. Quine, Willard V.: »Notes on the Theory of Reference«, in: W. V. Quine: From a Logical Point of View. Nine Logico-Philosophical Essays, Cambridge (Mass.) 1953, 130–137. Quine, Willard V.: »Things and Their Place in Theories«, in: W. V. Quine: Theories and Things, Cambridge (Mass.) und London 1981, 1–23. Quine, Willard V.: Pursuit of Truth, Cambridge (Mass.) und London 21992. Sellars, Wilfrid: »Theoretical Explanation«, in: W. Sellars: Philosophical Perspectives, Springfield (Illinois) 1959 und 1967, 321–336.

134 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Die Unhintergehbarkeit der Lebenswelt Sellars, Wilfrid: »Scientific Realism or Irenic Instrumentalism«, in: W. Sellars: Philosophical Perspectives, Springfield (Illinois) 1959 und 1967, 337–369. Sellars, Wilfrid: »Philosophy and the Scientific Image of Man«, in: W. Sellars: Science, Perception and Reality, London 1963, 1–40. Sellars, Wilfrid: »Induction as Vindication«, in: W. Sellars: Essays in Philosophy and its History, Dordrecht 1974, 367–416. Sellars, Wilfrid: »Theoretical Explanation«, in: W. Sellars: Essays in Philosophy and its History, Dordrecht 1974, 439–454. Sellars, Wilfrid: »Foundations for a Metaphysics of Pure Process. The Carus Lectures for 1977–78«, in: The Monist 64, 1981, 3–90. Sellars, Wilfrid: »Sensa or Sensings: Reflections on the Ontology of Per-ception«, in: Philosophical Studies (Essays in Honor of James Cornman) 41, 1982, 83–111.

135 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Das scheinbar unschuldige Projekt der formalisierten Sprache in der Philosophie Stefan Bauberger

1.

Vorbemerkungen

In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft stellt Immanuel Kant der Philosophie die Erfolge der Mathematik und der Naturwissenschaft vor Augen: »Der Metaphysik […] ist das Schicksal bisher noch so günstig nicht gewesen, dass sie den sichern Gang einer Wissenschaft einzuschlagen vermocht hätte; ob sie gleich älter ist, als alles übrige […]. Denn in ihr gerät die Vernunft kontinuierlich in Stecken, selbst wenn sie diejenigen Gesetze, welche die gemeinste Erfahrung bestätigt (wie sie sich anmaßt), a priori einsehen will. In ihr muss man unzählige mal den Weg zurück tun, weil man findet, daß er dahin nicht führt, wo man hin will, und was die Einhelligkeit ihrer Anhänger in Behauptungen betrifft, so ist sie noch so weit davon entfernt, dass sie vielmehr ein Kampfplatz ist, der ganz eigentlich dazu bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte zu üben, auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können. Es ist also kein Zweifel, dass ihr Verfahren bisher ein bloßes Herumtappen, und, was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen, gewesen sei.« 1

Das Anliegen der analytischen Philosophie kann man als Weiterführung des Anliegens Kants verstehen. Philosophie soll mit derselben Stringenz wie Mathematik und Naturwissenschaft betrieben werden. Die Wahl der Mittel ist aber völlig anders als bei Kant. Während Kant mit seiner transzendentalen Methode der Philosophie eine eigenständige Methode zuweist (wobei er mit der naturwissenschaftlichen Methode gut vertraut war), übernimmt die analytische Philosophie die Begründungsmethode und Sprache der Mathematik. Das ist kulturell durch den ungeheuren Druck des immer erfolgreicheren naturwissenschaftlichen Paradigmas zu verstehen – und durch das Scheitern 1

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, BXIV–BXV.

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Das scheinbar unschuldige Projekt der formalisierten Sprache in der Philosophie

des Anliegens von Kant, denn auch nach ihm ging das »Herumtappen« weiter. Dieser Beitrag kritisiert einen universalen Geltungsanspruch der Methode der analytischen Philosophie, der vielfach erhoben wird. Ich will prinzipielle Grenzen der Formalisierung der philosophischen Sprache aufweisen. Es gibt selbstverständlich auch inhaltliche Probleme in der analytischen Philosophie, die sich teilweise als Folge der prinzipiellen Grenzen aufweisen lassen. Die inhaltlichen Probleme werden z. B. in der aktuellen Diskussion von christlichen Philosophen über Konzepte von Unsterblichkeit deutlich. 2 Manche der dort vertretenen Autoren (nicht alle!) nehmen einen Gottesbegriff zum Ausgangspunkt, der naiver ist als fast alles, was in 2000 Jahren christlicher theologischer Tradition gedacht wurde. Dieser intellektuelle Rückschritt versteckt sich hinter der scheinbaren Überzeugungskraft formaler Argumente und Sprache. Und dem Liebhaber von mathematischer Literatur mutet es seltsam an, wenn die Formalisierung von logischen Formen wie Modus Tollens schon als Kriterium für exakte Argumentation gilt. In guter mathematischer Literatur werden solche logische Figuren meist sprachlich ausformuliert. Die Formalisierung bleibt dem vorbehalten, was nur formalisiert verständlich ist. Das ergibt viel leichter verständliche Texte als die komplette Formalisierung aller Gedankengänge. Polemisch könnte man sagen: Mathematiker können mit Formalisierung so gut umgehen, dass sie diese als Hilfsmittel gebrauchen, aber keinen Selbstzweck daraus machen müssen. Die Grenzen der formalisierten Sprache sollen nun in drei Schritten aufgezeigt werden, wobei ich sehr bekannte Problemstellungen aufgreife. Ich werde die Details dieser Problemstellungen nicht diskutieren, sondern sie direkt auf das Thema, den Aufweis der Grenzen formalisierter Sprache, beziehen.

2.

Erster Schritt: Kant und das transzendentale Subjekt

Ein zentraler Begriff der »kritischen« Philosophie Kants ist der des transzendentalen Subjekts. Diese Intuition ist grundlegend für die

G. Brüntrup / M. Schwartz / M. Rugel (Hg.), Auferstehung des Leibes – Unsterblichkeit der Seele.

2

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Stefan Bauberger

ganz folgende Analyse. Kant spricht über die »transzendentale Seelenlehre«: »[…], welche fälschlich für eine Wissenschaft der reinen Vernunft, von der Natur unseres denkenden Wesens gehalten wird. Zum Grunde derselben können wir aber nichts anderes legen, als die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich, von der man nicht einmal sagen kann, dass sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen; eine Unbequemlichkeit, die davon nicht zu trennen ist, weil das Bewusstsein an sich nicht sowohl eine Vorstellung ist, die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern eine Form derselben überhaupt, so fern sie Erkenntnis genannt werden soll; denn von der allein kann ich sagen, dass ich dadurch irgend etwas denke.« 3

Das »Ich« als Erkenntnissubjekt kann niemals als Objekt erfasst werden, das ist Kants richtige Intuition. Insofern ist schon der Begriff »das Ich« in sich widersprüchlich. Das transzendentale Subjekt ist eine Struktur, eine Perspektive, die jeder Wahrnehmung, jedem Bewusstsein, jedem Denken zugrunde liegt, ohne dass es jemals als Objekt von Wahrnehmung, Bewusstsein oder Denken erfasst werden kann. Denn das Erfasste ist niemals mit dem zugrunde Liegenden identisch. Wenn es erfasst wird, ist es schon das objektivierte Ich. Damit ist eine Grenze der exakten Sprache überhaupt bezeichnet. Gleichzeitig klammert die Philosophie eine elementare Wirklichkeit aus, wenn sie – mit dem Anspruch, nur exakte Sprache zulassen zu dürfen – nicht über das Subjekt, auch im Sinn des transzendentalen Subjekts, nachdenkt. Oben wurde der Gottesbegriff mancher analytischer Denker kritisiert. Das zugrunde liegende Problem ist ähnlich und im Kern sogar identisch, und es ist in der christlichen philosophischen Tradition immer wieder reflektiert worden: Schon der Begriff »Gott« ist in sich widersprüchlich, weil er etwas zum Objekt macht, was kein Objekt ist.

3

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B403–B404.

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Das scheinbar unschuldige Projekt der formalisierten Sprache in der Philosophie

3.

Zwischenbemerkung: Objektivierung und Lebenswelt

Das Problem, das sich in dieser Grenze der formalen Sprache zeigt, ist ein Aspekt der Objektivierung 4. Die objektive Wahrheit ist ein Grenzfall der Erkenntnis und zeigt sich als eine Perspektive der Erkenntnis der Wirklichkeit, die immer auf den größeren Horizont des Erkennens angewiesen ist, der das Subjekt als Subjekt mit einschließt. Pragmatisch gesehen ist der Ausgangspunkt des Erkennens immer die lebensweltliche Erkenntnis. Die Naturwissenschaft beruht auf dem Ideal der objektiven Erkenntnis, die von dieser lebensweltlichen Erkenntnis abstrahiert. Die Analyse der Grenzen dieser Erkenntnisform 5 zeigt, dass diese objektive Erkenntnis notwendig eingebettet bleibt in den größeren Horizont des Erkennens. Damit ist die lebensweltliche Erkenntnis nicht nur der pragmatische Ausgangspunkt des Erkennens, sondern sie bleibt ein notwendiger Bezugspunkt.

4.

Zweiter Schritt: Frege und die Russell-Antinomie

Der historische Hintergrund ist bekannt und gut dokumentiert 6: Russell entdeckte eine Antinomie in der naiven Mengenlehre und wies Frege darauf hin, dass durch diese Antinomie sein System der axiomatischen Logik als widersprüchlich gezeigt wurde. Frege musste das letztendlich zugestehen. Die Antinomie hat eine formale Entsprechung zum obigen Thema: Das transzendentale Subjekt lässt sich nicht sprachlich oder denkerisch exakt erfassen, weil im Sprechen und Denken darüber ein Selbstbezug gegeben ist, indem das Subjekt zum Objekt gemacht wird. Auch in der Russell-Antinomie (oder Russell-Zermelo-Antinomie) findet sich eine selbstbezügliche Struktur: • Es gibt Mengen, die sich selbst als Element enthalten. • In der naiven Mengenlehre lässt sich die Menge definieren, die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst als Element enthalten.

Vgl. S. Bauberger, »Wahrheit ist nicht Objektivität: Naturwissenschaftliche Wahrheit und religiöse Wahrheit«. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. G. Gabriel (Hg.), Gottlob Freges Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell, sowie ausgewählte Einzelbriefe Freges. 4

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Enthält sich diese Menge selbst als Element? Wenn ja, dann enthält sie sich gemäß ihrer Definition nicht selbst als Element. Wenn nein, dann enthält sie sich gemäß ihrer Definition selbst als Element. – Eine Antinomie. In der Diskussion zwischen Frege und Russell zeigt sich das Ringen darum, wie Prädikate zu verstehen sind, ob sie selbst zum Objekte der Prädikation gemacht werden können – also genau das Problem der Selbstbezüglichkeit. 7 Der heute in der Mathematik akzeptierte Ausweg aus dieser Antinomie ist die Zermelo-Fraenkel-Axiomatisierung der Mengenlehre, und dieser Ausweg ist lehrreich, wenn es um die Grenzen der Reichweite der formalen Sprache geht: Zermelo umgeht das Problem in gewisser Weise durch das Axiom der »Aussonderung«. Dieses legt als Eigenschaft von Mengen fest, dass jedem Prädikat, das über eine beliebige Menge gebildet werden kann, immer eine Untermenge dieser Menge entspricht, die aus den Elementen besteht, auf die angewandt, das Prädikat eine wahre Aussage ergibt. In der Weiterentwicklung zur Zermelo-Fraenkel-Axiomatik der Mengenlehre wird dieses Axiom durch das »Aussonderungsaxiom« ersetzt, das genau genommen ein Axiomenschema ist, weil es nicht auf die jeweilige Menge, sondern auf jedes Prädikat bezogen wird, das auf die Menge angewandt werden kann. Der Unterschied zwischen beiden Schemata ist im Zusammenhang nicht relevant, die philosophischen Konsequenzen sind dieselben. In klassischer philosophischer Sprache (seit der Logik von PortRoyal) ausgedrückt, bedeutet das, dass man die Voraussetzung macht, dass alle Intensionalität auf Extensionalität abgebildet werden kann. In der Sprache von Frege wäre das, dass Sinn immer auf Bedeutung reduziert werden kann. Dabei bezieht sich Freges Bedeutungsbegriff auf die Extension, was nicht dem alltagssprachlichen Gebrauch entspricht, der eher dem »Sinn« bei Frege nahesteht. Genau diese Reduktion von Intensionalität auf Extensionalität bezeichnet wieder eine Grenze von formaler Sprache. Die Intensionalität steht auf der Seite des Subjekts, seinem Bezug auf die Welt, die Extensionalität auf der Seite der Objekte. Die Subjektseite wird also eliminiert. Um Freges berühmtes Beispiel aufzunehmen: Wer erkennt, dass sich die Begriffe »Morgenstern« und »Abendstern« (die • •

7 Vgl. G. Gabriel (Hg.), Gottlob Freges Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell, sowie ausgewählte Einzelbriefe Freges, 47–100.

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Das scheinbar unschuldige Projekt der formalisierten Sprache in der Philosophie

intensional verschieden sind) auf dasselbe Objekt beziehen (also dieselbe Extensionalität haben), hat wirklich etwas erkannt. In der Welt der Extensionalität entspricht dem nur die Erkenntnis, dass beide Begriffe identisch sind – das schöpft aber nicht die Qualität des subjektiven Erkenntnisvorgangs aus. Für das erkennende Subjekt ist diese Erkenntnis eine Erkenntnis über die Welt, nicht nur über seine Begriffe. Die Qualität dieser Erkenntnis ist eher die einer Identität von zwei Objekten, nicht die einer Identität von zwei Begriffen. Und auch nach dieser Erkenntnis, dass Morgenstern und Abendstern sich auf die Venus beziehen, bleiben beide Begriffe bestehen, weil sie eben keineswegs nur die Referenz auf die Venus bezeichnen, sondern ganze Erlebnisqualitäten, die mit dem Betrachten von Morgenstern und Abendstern verbunden sind. Möglicherweise lässt sich der Umfang all dieser Erlebnisqualitäten auch in einer extensionalen Sprache rekonstruieren. Aber näher am Erlebnis sind die beiden Begriffe selbst, nicht die Rekonstruktion. Die Formalisierung erzwingt also in jedem Fall eine Distanz zum gegebenen Phänomen, so wie es gegeben ist. Dazu kommt das fundamentalere Problem, dass eine rein extensionale Sprache das transzendentale Subjekt im Sinne Kants prinzipiell aus der Sprache eliminieren muss. Dieses »Ich« ist ein »Singular […], der nicht in eine Vielheit der Subjekte aufgelöset werden kann«. 8 Es wird von keiner Extension erfasst, sondern es liegt in gewisser Weise jeder Extension zugrunde.

5.

Schwarze Raben

Ergänzend zu diesem zweiten Punkt wird eine moderne Fragestellung der Wissenschaftstheorie betrachtet, die letztlich auch auf das Problem führt, ob Eigenschaften auf Extensionen reduzierbar sind. Dazu muss erst einmal eine Lanze für das induktive Verfahren in den empirischen Wissenschaften gebrochen werden, gegen Poppers Analyse des Problems der Induktion. Popper bestreitet, dass die Wissenschaft auf Induktion gegründet ist, und löst das Hume’sche Problem der logischen Unzulässigkeit von induktiven Schlüssen, indem er die empirische Wissenschaft auf Deduktion und das Verfahren der Falsifikation gründet. Das ist logisch korrekt, ist aber letztendlich nicht streng durchführbar, und es verfehlt vor allem die Praxis der Wissenschaft. 8

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B407.

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Wenn sich die empirischen Wissenschaften streng an die Vorgaben von Popper gehalten hätten, dann gäbe es sie nicht in der jetzigen Form, es gäbe nur rudimentäres Wissen. In der Praxis, das hat zum Beispiel A. Chalmers in Anschluss an Popper aufgezeigt, sind Falsifikation und Bewährung (also auch Induktion) heuristische Verfahren der Wissenschaft und tragen in je eigener Weise zum Erkenntnisfortschritt bei. 9 Ein alltägliches Beispiel für induktive Erkenntnis ist das Folgende: Man beobachtet Raben und es fällt auf, dass diese alle schwarz sind. Nun folgert man, dass wahrscheinlich die folgende Aussage gilt: »Alle Raben sind schwarz.« Dieser Satz wird durch jede Beobachtung eines weiteren schwarzen Raben bestätigt, also wahrscheinlicher. Nun ist damit ein Paradox verbunden, das Hempel ins Spiel gebracht hat 10: Der oben zitierte Satz ist logisch äquivalent zum Satz: »Alles, was nicht schwarz ist, ist kein Rabe.« Dieser Satz wird nun – rein logisch betrachtet – in derselben Weise bestätigt, wenn man irgendetwas beobachtet, was nicht schwarz ist und was kein Rabe ist: eine gelbe Hausmauer, den blauen Himmel, eine grüne Pflanze, ein rotes Auto, … Alle diese Beobachtungen machen also die Aussage wahrscheinlicher, dass alles, was nicht schwarz ist, kein Rabe ist, und damit auch die Aussage, dass alle Raben schwarz sind. Das widerspricht aber dem intuitiven Verständnis der Bestätigung einer Aussage durch Beobachtung. Irving Good hat diese Paradoxien noch weiter geführt und gezeigt, dass in gewissen Konstellationen des Vorwissens die Beobachtung eines schwarzen Raben die Wahrscheinlichkeit mindert, dass alle Raben schwarz sind 11. Er hat weiter gezeigt, dass diese Konstellationen nicht einfach nur absurde Konstruktionen sind. Das widerspricht vollständig dem intuitiven und in der Wissenschaft bewährten Verständnis von Beobachtung. In der Analyse zeigt sich, dass die betrachteten Wahrscheinlichkeiten aus einer Mengenbetrachtung abgeleitet werden: Man betrachtet zunächst die Menge aller in der Welt vorhandenen Objekte. Die Menge alle Raben und die Menge der schwarzen Objekte sind

Vgl. A. F. Chalmers, Wege der Wissenschaft, 53–61, besonders 57. Zuerst erwähnt wurde es allerdings von J. Hosiasson-Lindenbaum, »On Confirmation«. 11 Vgl. I. J. Good, »The White Shoe Is a Red Herring«; I. J. Good, »The White Shoe qua Red Herring is Pink«. 9

10

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Das scheinbar unschuldige Projekt der formalisierten Sprache in der Philosophie

Teilmengen der ersten Menge. Die Eigenschaften »schwarz«, »nichtschwarz«, »ist ein Rabe« und »ist kein Rabe« werden also extensional verstanden. In gewisser Weise muss diese extensionale Auffassung durch Elemente des Platonismus ergänzt werden. Die extensionale Auffassung, die der modernen Logik zugrunde liegt, nimmt die Objekte als grundlegende Elemente der Wirklichkeit an und reduziert Eigenschaften auf Klassenbildung innerhalb dieser Elemente. Das platonische Verständnis sieht die Eigenschaften als grundlegend an, vorgängig zu den Objekten. Durch die Paradoxien wird deutlich, dass Eigenschaften mindestens als eigenständige Aspekte der Wirklichkeit betrachtet werden müssen und nicht auf Klassenbildung reduziert werden können. Diese Reduktion widerspricht nicht nur dem intuitiven Verständnis, sondern sie läuft auch den grundlegenden Verfahrensweisen der empirischen Wissenschaften entgegen, die durch Beobachtung induktiv Erkenntnis gewinnen. Das ist logisch nicht korrekt, das sei Popper zugestanden, aber es funktioniert.

6.

Dritter Schritt: Das Gödel-Theorem

Der Bezug auf das Gödel-Theorem ist schon etwas abgeschmackt, v. a. weil es oft sehr verkürzt als pauschale Kritik an aller Geltung von Mathematik oder Logik zitiert wird. In unserem Zusammenhang gibt es aber einen klaren inhaltlichen Bezug. Dabei geht es um das erste Gödel-Theorem, dessen Beweis viel leichter verständlich ist als der des zweiten 12. Gödel hat – ausgehend von der Formalisierung der Arithmetik durch den oben schon angeführten Bertrand Russell – gezeigt, dass es innerhalb dieses Systems formal unentscheidbare Sätze gibt. Dabei lässt sich dieses Theorem auch über Russells Formalisierung hinaus ausweiten, es betrifft alle Standardarithmetik. Gödel gelingt es, den Begriff der Beweisbarkeit zu formalisieren, wobei dieser auf Prädikatenlogik erster Stufe und das Beweisschema der vollständigen Induktion reduziert wird. Und er erkennt, dass sich dieser Begriff selbst als Funktion auf die Sprache der Arithmetik ab-

K. Gödel, »Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I«.

12

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bilden lässt, indem alle Sätze der Arithmetik formal durch Zahlen repräsentiert werden, die in die arithmetische Funktion »Beweisbarkeit« eingesetzt werden können. Damit lässt sich dann ein Satz formulieren, der von sich selbst behauptet, dass er nicht beweisbar ist. Gödel folgert richtig, dass dieser Satz im System der Arithmetik nicht beweisbar sein kann, weil er sonst falsch wäre, womit dieses System als widersprüchlich erwiesen wäre. Die Nicht-Widersprüchlichkeit der Arithmetik wird dabei vorausgesetzt, wobei Gödel in einem weiteren Theorem bewiesen hat, dass diese Nicht-Widersprüchlichkeit selbst zu den unentscheidbaren Sätzen gehört. Im Zusammenhang des vorgetragenen Arguments sind drei Punkte wichtig: • Die Unvollständigkeit der arithmetischen Sprache lässt sich nicht durch eine »Vervollständigung« umgehen, weil jede Ausweitung prinzipiell wieder vom Gödel-Theorem betroffen ist. Das hat Gödel selbst gezeigt. • Insofern jede einigermaßen vollständige formale Sprache die Arithmetik umfasst, ist sie vom Gödel-Theorem betroffen. • Und das Wichtigste: Genau von dem Satz, den das Gödel-Theorem als prinzipiell nicht-beweisbar aufzeigt, lässt sich einsehen, dass er wahr ist. Damit erweist sich der Begriff der Wahrheit als weiter als der Begriff der formalen Beweisbarkeit und der Begriff der Einsicht als weiter als der des Beweises. Diese Einsicht in die Wahrheit des Gödel-Satzes ist sogar ganz einfach. Sie setzt voraus, dass man an die Nicht-Widersprüchlichkeit der Arithmetik glaubt. Dieser Glaube ist vernünftig, weil das formale System der Arithmetik das normale Rechnen mit Zahlen verallgemeinert. Wenn also dieses System gültig ist, und wenn der GödelSatz innerhalb dieses Systems seine eigene Unbeweisbarkeit aussagt, dann kann er nicht falsch sein, sonst wäre er gleichzeitig beweisbar und falsch, womit das System der Arithmetik widersprüchlich wäre. Der Gödel-Beweis beinhaltet also so etwas wie eine Vernunfterkenntnis, die über das formale System der Beweisbarkeit hinausgeht. Der innere Zusammenhang mit den beiden obigen Argumenten zur Grenze der formalisierten Sprache ist die Selbstbezüglichkeit des Gödel-Satzes.

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Das scheinbar unschuldige Projekt der formalisierten Sprache in der Philosophie

7.

Schlussfolgerung

Die Grenzen der formalen Sprache wurden in drei Schritten nachgewiesen. Alle drei haben damit zu tun, dass selbstbezügliche Aussagen nicht immer korrekt formalisierbar sind. Formalisierung bleibt dabei selbstverständlich ein unverzichtbares Mittel der Wissenschaftssprache, auch der Sprache der Philosophie. Die oben aufgezeigten Argumente bezeichnen Grenzen dieses Projekts. Die formale Sprache versagt erstens in der Analyse des Subjekts, soweit dieses nicht selbst zum Gegenstand der Objektivierung gemacht und damit auf ein Objekt reduziert wird. Wenn sich Philosophie auf die ganze Wirklichkeit beziehen will, dann kann aber das Subjekt als transzendentales Subjekt nicht sinnvoll ausgeklammert werden. Die formale Sprache reduziert zweitens Eigenschaften auf Extensionen und beraubt sie damit ihres qualitativen Charakters. Auch darin zeigt sich ein Bezug auf Subjekthaftigkeit, da die Qualitäten nicht objektiv vorliegen, sondern sie zeigen sich dem jeweiligen Subjekt der Wahrnehmung. Das obige Argument zeigt, dass diese Reduktion des Verständnisses von Eigenschaften auch in Probleme mit dem Verfahren der Induktion führt, das mindestens heuristisch in der Wissenschaft unverzichtbar ist. Drittens wurde gezeigt, dass die formale Schlussweise nicht den gesamten Umfang des menschlichen Verstehens umfassen kann. Auch darin ist ein Bezug auf das Subjekt gegeben, dessen Verstehen über das formal Aufweisbare hinausgeht. Wenn hier von formaler Sprache die Rede ist, dann muss beachtet werden, dass in gewisser Weise jede sprachliche Formulierung mitgemeint ist, da Sprache immer eine objektivierende Funktion hat. Es ist aber wichtig zu sehen, dass diese objektivierende Qualität von Sprache umso bestimmender wird, je exakter die »Sachverhalte« formuliert werden. Insofern ist es bezeichnend, dass im religiösen Kontext erzählende und dichterische Sprachformen eine wesentliche Rolle spielen. Das deutlichste Beispiel dafür ist der Zen-Buddhismus, der Anekdoten und Gedichte in den Mittelpunkt der Lehrüberlieferung stellt, in bewusstem Gegensatz zu systematischen Lehrschriften. Aus dieser Perspektive betrachtet, hat die Philosophie eine Wahlmöglichkeit: Sie kann sich für eine objektivierende Sprache entscheiden und wesentliche Aspekte der Wirklichkeit ausklammern, oder sie kann sich dem Anspruch stellen, die ganze Wirklichkeit zu 145 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Stefan Bauberger

betrachten, und muss dann akzeptieren, dass sie unscharf bleibt, dass sie nie endgültig dem »Herumtappen« entkommen wird, das Kant beklagt hat. Wenn sich die Philosophie auf die ganze Wirklichkeit einlässt, wird sie dieses Herumtappen positiv sehen, als Ausdruck einer immer wieder neuen Annäherung an eine Wahrheit, die sich jeder endgültigen Ausdrucksform verschließt.

Literatur Bauberger, Stefan: »Wahrheit ist nicht Objektivität: Naturwissenschaftliche Wahrheit und religiöse Wahrheit«, in: T. Müller / S. Schüler / K. Schmidt (Hg.): Religion im Dialog: Interdisziplinäre Perspektiven – Probleme – Lösungsansätze, Göttingen 2009, 227–247. Brüntrup, Godehard / Maria Schwartz / Matthias Rugel (Hg.): Auferstehung des Leibes – Unsterblichkeit der Seele, Stuttgart 2010. Chalmers, Alen F.: Wege der Wissenschaft, Berlin 1999. Gödel, Kurt: »Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I«, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 38, 1931, 173–198. Good, Irving J.: »The White Shoe Is a Red Herring«, in: British Journal for the Philosophy of Science 17, 1967, 322. Good, Irving J.: »The White Shoe qua Red Herring is Pink«, in: British Journal for the Philosophy of Science 19 (2), 1968, 156–157. Gottfried, Gabriel (Hg.): Gottlob Freges Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell, sowie ausgewählte Einzelbriefe Freges, Hamburg 1980. Hosiasson-Lindenbaum, Janina: »On Confirmation«, in: The Journal of Symbolic Logic, Vol. 5, No. 4, 1940, 133–148. Kant, Immanuel: Werkausgabe: in 12 Bänden/ Immanuel Kant, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1995.

146 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Hirnwelt oder Lebenswelt? Zur Kritik des Neurokonstruktivismus 1 Thomas Fuchs

1.

Einleitung: Naturalisierung und Virtualisierung

Dass alles, was Menschen erleben, in Wahrheit eine Konstruktion und Vorspiegelung ihrer Gehirne sei, gehört heute zu den gängigen Überzeugungen von Neurowissenschaftlern und Neurophilosophen. Von Schmerz oder Ärger über Farben oder Musik bis hin zu Liebe oder Glauben gibt es kaum noch ein Phänomen, das nicht irgendwo im Gehirn untergebracht wird. Der Kosmos entsteht im Kopf, und die Wahrnehmung wird gewissermaßen zu einer physiologischen Illusion. Typische Beschreibungen lauten dann etwa folgendermaßen: »Was Sie sehen, ist nicht, was wirklich da ist; es ist das, wovon Ihr Gehirn glaubt, es sei da.« 2 »Die geistige Multimedia-Show ereignet sich, während das Gehirn externe und interne Sinnesreize verarbeitet […]« 3 »[…] wir (befinden) uns immer schon in einem biologisch erzeugten »Phenospace« […]: Innerhalb einer durch mentale Simulation erzeugten virtuellen Realität.« 4 »Unsere Wahrnehmung ist […] eine Online-Simulation der Wirklichkeit, die unser Gehirn so schnell und unmittelbar aktiviert, dass wir diese fortwährend für echt halten.« 5

Nach dieser neurokonstruktivistischen Konzeption ist die reale Welt also in dramatischer Weise verschieden von der, die wir erleben. Was wir wahrnehmen, sind nicht die Dinge selbst, sondern nur die Bilder, Wiederabdruck von T. Fuchs, »Hirnwelt oder Lebenswelt«, erschienen in der DZPhil 59/2012, 347–358. 2 F. Crick, Was die Seele wirklich ist, 30. 3 A. Damasio, »Wie das Gehirn Geist erzeugt«. 4 T. Metzinger, Subjekt und Selbstmodell, 243. 5 W. Siefer / C. Weber, Ich – Wie wir uns selbst erfinden, 259. 1

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die sie im Gehirn hervorrufen. Die tatsächliche Welt ist ein eher trostloser Ort von Energiefeldern und Teilchenbewegungen, bar jeder Qualitäten. Der Baum vor mir ist eigentlich nicht grün, seine Blüten duften nicht, der Vogel in seinen Zweigen singt nicht melodisch: Das alles sind nur zweckmäßige Scheinwelten, die das Gehirn anstelle nackter, materiell-kinematischer Prozesse erzeugt. Das milliardenfache Flimmern neuronaler Erregungen erzeugt meine Illusion einer Außenwelt, während ich in Wahrheit eingesperrt bleibe in der Höhle meines Schädels. Nun ist das neurobiologische Unternehmen der Naturalisierung des Geistes nur der letzte Schritt in einem auf die Neuzeit zurückgehenden Prozess der Entanthropomorphisierung, der Spaltung von Lebenswelt und Wissenschaft. Bereits für Galilei, Descartes und andere Protagonisten des Naturalisierungsprojekts ist die Welt nicht das, als was sie uns in alltäglicher Erfahrung erscheint. Ihre eigentliche Natur ist der Wahrnehmung nicht zugänglich; sie muss mit mathematischen Begriffen erst aufgedeckt werden. Damit erhält die Lebenswelt einen virtuellen oder illusionären Status: Wir glauben nur, so Descartes, »[…] wir sähen die Fackel selbst und hörten die Glocke selbst, während wir nur die Bewegungen empfinden, die von ihnen ausgehen.« 6 Die Wahrnehmung vermittelt nur Scheinbilder, zweckmäßig für uns erzeugt durch unsere natürliche Sinnesorganisation; erst die Wissenschaft kann uns darüber Auskunft geben, in welcher Welt wir tatsächlich leben. Freilich ist Descartes’ dualistische Ontologie heute längst auf dem Rückzug. Der Materialismus löst das Problem, das durch die Spaltung zwischen der sinnlich wahrgenommenen Welt und dem wissenschaftlich konzipierten Universum entsteht, indem er nur noch letzterem ontologische Realität zuspricht. In einem Punkt jedoch knüpfen die Verfechter des modernen Naturalismus noch immer an Descartes und den nachfolgenden Idealismus an: Auch für sie ist die wahrgenommene Welt nur subjektive Erscheinung, nämlich eine Reihe von »Vorstellungen« oder »Repräsentationen« als inneren Stellvertretern der äußeren Welt. Diese idealistische Konzeption der Wahrnehmung übernimmt die Neurobiologie, so heftig sie ansonsten den Dualismus bekämpft. Es genügt ihr, den Begriff der Repräsentation materialistisch umzudeuten, nämlich zur Bezeichnung derjenigen neuronalen Prozesse, die den subjektiven Bildern 6

R. Descartes, Die Leidenschaften der Seele, 41.

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Hirnwelt oder Lebenswelt?

der Außenwelt zugrunde liegen sollen. Durch spezifische Erregungsmuster oder Datenstrukturen spiegelt das Gehirn die Strukturen der Außenwelt wider. Wie sich zeigt, passen die idealistische Innenwelt des Bewusstseins und die neurobiologische Innenwelt des Gehirns überraschend gut zueinander: Denn sowohl aus idealistischer wie aus materialistischer Sicht hat das Subjekt keinen wirklichen Anteil an der Welt. Die Verknüpfung beider Traditionen wird durch die Erkenntnistheorie des Neurokonstruktivismus hergestellt. Nun gibt es einen Bereich der Welt, der sich der Verbannung in die mentale Innenwelt in besonderer Weise widersetzt: Es ist der eigene Leib, den wir bewohnen, jedoch nicht wie der Kapitän sein Schiff oder der Fahrer sein Auto, sondern in der Weise, dass wir selbst dieser Leib sind – in der räumlichen Ausdehnung und Meinhaftigkeit der leiblichen Empfindungen, in der Selbstbeweglichkeit der Glieder und in allen leiblichen Fähigkeiten, die sich mit den zuhandenen Dingen und Aufgaben der Umwelt in habitueller Weise verbinden. Der Leib ist das primäre Medium des In-der-Welt-Seins, und damit auch das Zentrum unserer Lebenswelt. Das Programm der Naturalisierung lässt sich daher nur konsequent durchführen, wenn es gelingt, diesen subjektiven Leib als Illusion oder Projektion zu erweisen und den physikalisch definierten Körper an seine Stelle zu setzen. Nicht umsonst wandte bereits Descartes beträchtliche Mühe auf, um die primäre Erfahrung der Räumlichkeit und Meinhaftigkeit des erlebten Leibes zu unterminieren. Vor allem Phänomene wie das Phantomglied, das Amputierte an der Stelle des fehlenden Gliedes empfinden, aber auch die beliebige Teilbarkeit des Körpers im Gegensatz zum Geist sollten seine Zeitgenossen davon überzeugen, dass die alte, aristotelisch-thomistische Konzeption der Koextension von Seele und Körper aufzugeben sei. 7 Die enge Verbindung, ja Vermischung beider, die Descartes gleichwohl noch zugestand 8, sollte doch nichts daran ändern, dass der Geist des Körperkonglomerats nicht bedürfe und von ihm radikal verschieden sei. Der gleichen Problematik begegnen wir im Neurokonstruktivismus wieder, wenn auch unter materialistischem Vorzeichen. Im Interesse des Naturalisierungsprogramms muss die leibliche Subjektivität als Konstrukt erwiesen werden. Das Phantomglied und verwandte

7 8

R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, Kap. VI, § 21 f., 155 ff. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, Kap. VI, 13.

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Erfahrungen bei Gesunden, in denen eigenleibliche Empfindungen außerhalb der Körpergrenzen lokalisiert werden, ja selbst die sogenannten außerkörperlichen Erfahrungen scheinen hinreichend zu belegen, dass unser subjektiver Leib nichts anderes ist als ein gewohnheitsmäßiger Phantomkörper, eine Simulation oder Konstruktion des Gehirns, die unter bestimmten Umständen an nahezu beliebiger Raumstelle erzeugt werden kann. So gibt der Hirnforscher Ramachandran zwei von jedem leicht durchführbare Experimente zu räumlichen Verlagerungen des Leiberlebens außerhalb des Körpers an, die belegen sollen: »Ihr eigener [subjektiver] Körper ist ein Phantom, ein Phantom, das Ihr Gehirn aus rein praktischen Gründen vorübergehend konstruiert hat.« 9 Das räumliche Körperschema, die Propriozeption, die Kinästhese – all das wird demnach an bestimmten Arealen vor allem des Parietalhirns erzeugt und in den vom Gehirn konstruierten, virtuellen Raum hineinprojiziert. Die grundlegende Spaltung zwischen der sinnlich wahrgenommenen Welt und dem naturwissenschaftlich konzipierten Universum kehrt somit wieder in der Spaltung zwischen dem subjektiven Leib und dem physiologischen Körper, so als ob diese zwei unterschiedlichen Welten angehörten – der eine der vom Gehirn konstruierten »Innenwelt« des Bewusstseins, der andere der objektiv-physikalischen Welt. Die oben genannten Dissoziationen von leibräumlicher und körperräumlicher Erfahrung sollen unsere lebensweltliche Intuition, im verletzten Fuß auch den Schmerz zu empfinden, als neuronal erzeugte Illusion erweisen. Um diese gesamte Konzeption noch einmal zusammenfassen und zugleich die zentrale lebensweltliche Bedeutung des Leiberlebens zu verdeutlichen, zitiere ich aus einem Buch Gerhard Roths mit dem bezeichnenden Titel »Aus Sicht des Gehirns«:

9 V. S. Ramachandran / S. Blakeslee, Die blinde Frau, die sehen kann, 114. – Eines der bekanntesten Experimente dieser Art ist die »Gummihand-Illusion«: Wird eine sichtbare Gummihand auf dem Tisch synchron mit der unter dem Tisch verborgenen eigenen Hand rhythmisch berührt, so nimmt die Versuchsperson die Gummihand nach einiger Zeit als eigene Hand mit Berührungsempfindungen wahr. (M. Botvinick / J. Cohen: »Rubber hands ›feel‹ touch that eyes see«). – Metzinger und Blanke haben dieses Prinzip auf eine Ganzkörper-Illusion ausgeweitet: Wird bei einer Versuchsperson mittels Videobrille die Wahrnehmung eines Scheinkörpers erzeugt, der gleichzeitig mit ihrem eigenen Körper am Rücken gestreichelt wird, so kommt es zu einer Verlagerung der Selbstwahrnehmung in den Scheinkörper (vgl. O. Blanke / T. Metzinger, »Full-body illusions and minimal phenomenal selfhood«).

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Hirnwelt oder Lebenswelt?

»Die Feststellung, dass die von mir erlebte Welt des Ich, meines Körpers und des Raumes um mich herum ein Konstrukt des Gehirns ist, führt zu der vieldiskutierten Frage: Wie kommt die Welt wieder nach draußen? Die Antwort hierauf lautet: Sie kommt nicht nach draußen, sie verlässt das Gehirn gar nicht. Das Arbeitszimmer, in dem ich mich gerade befinde, der Schreibtisch und die Kaffeetasse vor mir werden ja nur als ›draußen‹ in Bezug auf meinen Körper und mein Ich erlebt. Diese beiden sind aber ebenfalls Konstrukte, nur ist es so, dass mit der Konstruktion meines Körpers auch der zwingende Eindruck erzeugt wird, dieser Körper sei von der Welt umgeben und stehe in deren Mittelpunkt. Und schließlich wird […] ein Ich erzeugt, das das Gefühl hat, in diesem Körper zu stecken, und dadurch wird es erlebnismäßig zum Zentrum der Welt.« 10

Der subjektive Leib stellt demnach ein ganz besonderes Konstrukt des Gehirns dar, das uns nämlich die Illusion vermittelt, tatsächlich in der Welt zu leben und mit ihr in Beziehung zu stehen. Der »Kosmos im Kopf«, also die behauptete Virtualität der erlebten Welt ebenso wie des Ich, beruht wesentlich auf der Annahme, auch das Leiberleben sei nur virtueller Natur, oder mit anderen Worten: das Subjekt sei nicht verkörpert, nicht im Leib zuhause, sondern es entspringe allein dem Gehirn, wie Athene dem Haupt des Zeus. Das Programm der Naturalisierung lässt sich daher nur konsequent durchführen, wenn es gelingt, diesen subjektiven Leib als Illusion oder Projektion zu erweisen und den physikalisch definierten Körper an seine Stelle zu setzen. Soll die Wahrnehmung mehr als eine virtuelle Welt vermitteln, und soll die Lebenswelt gegenüber dem neurowissenschaftlichen Dominanzanspruch wieder in ihr Recht gesetzt werden, so muss vor allem die behauptete Virtualität des Leiberlebens widerlegt werden. Dazu werde ich im Folgenden eine Argumentation entwickeln, die auf der impliziten Intersubjektivität der Wahrnehmung beruht. Wie sich zeigen wird, vermag sie die Erfahrung des leiblichen In-der-Welt-Seins zu beglaubigen und trägt so dazu bei, die Vorstellung einer monadischen Innenwelt des Subjekts im Gehirn zu überwinden.

10

G. Roth, Aus Sicht des Gehirns, 48.

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2.

Leibliches In-der-Welt-Sein: Die Koextension von Leib und Körper

Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Tatsache, dass wir den subjektiven Leib und den organischen Körper normalerweise durchaus als koextensiv erfahren: Dort, wo wir beim Atmen ein Weit- und Engwerden spüren, hebt und senkt sich auch der sichtbare Brustkorb. Der empfundene Schmerz sitzt dort, wo der Nagel auch den physischen Fuß gestochen hat. Und zeigt der Patient dem Arzt seinen schmerzenden Fuß, so wird dieser auch dort nach der Ursache suchen. Wäre die subjektive Leiberfahrung nur eine Illusion, könnte er die Aussage des Patienten als bedeutungslos ignorieren. Es gibt also eine räumliche Übereinstimmung oder Syntopie von Leiblichem und Körperlichem, auf die bereits Husserl hingewiesen hat: In der »Kompräsenz« des in der subjektiven und in der objektiven Einstellung Gegebenen konstituiere sich der Leib als »physisch-aesthesiologische Einheit.« 11 Das Phänomen der Phantomschmerzen zeigt uns zwar, dass der Organismus im Ausnahmefall auch ohne das betreffende Glied eine entsprechende Schmerzempfindung erzeugen kann, macht aber den Normalfall nicht weniger erstaunlich: Wie ist es eigentlich möglich, dass wir den Schmerz tatsächlich da empfinden, wo sich auch der dazu passende verletzte Körperteil befindet – und nicht z. B. im Gehirn? Der naheliegende Begriff der »Projektion« von Leibempfindungen in den Raum des Körpers führt nicht weiter, denn in einer virtuellen Welt käme dieser objektive Körperraum gar nicht vor. Eine Projektion »nach außen« kann es nicht geben, wenn diese Außenwelt doch nach der Voraussetzung nur eine vom Gehirn konstruierte Innenwelt sein soll – es gäbe gar kein »wohin« der Projektion. Die früher noch üblichen Projektionskonzepte sind daher in den kognitiven Neurowissenschaften weitgehend zugunsten eines einheitlichen phänomenalen, gleichwohl aber virtuellen Raums aufgegeben worden, eines »Phenospace«. 12 Der empfundene Schmerz in meinem Fuß ist demzufolge ebenso ein Hirnkonstrukt wie der gesehene Fuß und mit ihm die gesamte Umgebung, die ich wahrnehme. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II, 161. – Vgl. zur Koextension von Leib und Körper auch T. Fuchs, Leib, Raum, Person, 135 ff. 12 T. Metzinger, Subjekt und Selbstmodell, 243. 11

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Hirnwelt oder Lebenswelt?

Sobald wir nun aber in eine intersubjektive Situation eintreten wie der erwähnte Patient beim Arztbesuch, wird rasch deutlich, dass subjektives Erleben und objektive Situation keineswegs zwei strikt voneinander getrennten Welten angehören. Die »Syntopie« oder das Zusammenfallen des Ortes von Schmerz und Verletzung betrifft nämlich jetzt den von Arzt und Patient gemeinsam wahrgenommenen Körper: Wo der Patient den Schmerz empfindet und wohin er deutet, eben dort sucht und findet der Arzt auch dessen Ursache. Beide sehen den gleichen Fuß, der schmerzt und verletzt ist. Der Verweis auf den jeweiligen »Phenospace« von Arzt und Patient hilft nun nicht mehr weiter. Wenn die Rede von einer Realität des Körpers überhaupt irgendeinen Sinn haben soll, dann in der intersubjektiven Situation. Denn hier kommen die subjektiven Räumlichkeiten beider Personen in einer Weise zur Deckung, die ihre bloße Subjektivität aufhebt. Der von beiden Personen übereinstimmend gemeinte Körper kann kein subjektives Scheingebilde mehr sein. Er befindet sich im gemeinsamen, intersubjektiven und insofern objektiven Raum. Ich will diesen Punkt der Argumentation noch weiter verdeutlichen: Nach der neurokonstruktivistischen Voraussetzung produziert jedes Gehirn nur seinen eigenen virtuellen Raum; es kann somit keinen »gemeinsamen Phenospace« von Arzt und Patient geben. Daraus folgt aber: Wenn sich Wahrnehmung restlos als ein physikalischer Prozess beschreiben und erklären ließe, der sich jeweils zwischen einem Gegenstand und einem Gehirn abspielt, dann könnten zwei Menschen gar nicht gemeinsam ein- und denselben Gegenstand betrachten. Die zwei Prozesse liefen, vom betrachteten Objekt ausgehend, in verschiedene Richtungen und streng getrennt voneinander ab, und die beiden Personen blieben in ihre jeweilige Welt eingeschlossen. Sie könnten zwar versuchen, sich über ihre Innenwelten zu verständigen, hätten dafür aber keine gemeinsamen Referenzobjekte mehr. Jedes Zeigen-auf-etwas verbliebe nur im eigenen Illusionsraum, und daher gäbe es auch für die sprachlichen Indexwörter (»dieses«, »hier«, »ich«) keine gemeinsamen Richtungen und Ankerpunkte. Damit aber entfiele auch die Grundlage sprachlicher Verständigung. Die neurokonstruktivistische Illusionsthese führt also in letzter Konsequenz zu einem »Neuro-Solipsismus«. Doch schon der einfache Vorgang, dass der Arzt z. B. ein Rezept für ein Schmerzmittel schreibt und das Papier dem Patienten übergibt, beruht darauf, dass beide denselben Gegenstand sehen, ihn als solchen intendieren, und nicht nur mit ihren internen Konstrukten 153 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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oder mentalen Bildern umgehen. Beide haben Anteil am intersubjektiv konstituierten und insofern objektiven Raum gemeinsamer Gegenständlichkeit. Ihre subjektive Sicht ist also zwar eine je individuelle und perspektivische Sicht, jedoch nicht etwa virtuell oder subjektiv in dem Sinne, als wäre das Gesehene »nur im Subjekt«. Sehend befinden wir uns immer schon in einem gemeinsamen Raum mit anderen Sehenden (seien sie nun anwesend oder abwesend), deren Perspektiven wir als gleichermaßen gültig voraussetzen. Es ist ihr Sehen (Hören, Tasten …), das unsere eigene Wahrnehmung beglaubigt. Die Intentionalität der Wahrnehmung hebt somit die Gebundenheit an eine rein subjektive Perspektive auf; sie enthält eine implizite Intersubjektivität. 13 Arzt und Patient nehmen also den gleichen, objektiven Körper wahr. Nun fällt aber die subjektive Stelle des Schmerzes mit dem objektiven, zeigbaren Ort des betreffenden Körperteils zusammen. Der subjektiv-leibliche und der objektive Raum kommen also tatsächlich zur Deckung, und wir müssen die Frage wiederholen: Wie ist es möglich, dass der Patient den Schmerz gerade dort empfindet und nicht im Gehirn? Schon die Richtung dieser Frage zeigt freilich, dass wir in cartesianischer Tradition noch immer gewohnt sind, Subjektivität kategorial vom lebendigen Organismus zu trennen. Evolutionär verhält es sich gerade umgekehrt: Ursprünglich ist der ganze Körper gewissermaßen ein Sinnes- und Fühlorgan. Gerade an seinen Grenzflächen mit der Umgebung ist der Organismus reizbar, sensibel und responsiv. Die elementare Sensibilität beginnt an der Peripherie des Körpers. Die Ausbildung eines nervösen Zentralorgans hebt diese periphere Sensibilität nicht auf, sondern integriert sie. Dass das leibliche Bewusstsein dennoch mit dem Organismus koextensiv bleibt, zeigt, dass es von Anfang an ein verkörpertes Bewusstsein ist. Es stellt das »In-

Nach Husserl bezeugt gerade die horizonthafte Gegebenheit der Objekte, dass sie auch für andere zugänglich sind: Der Erfahrungsgegenstand, etwa ein Tisch, erschöpft sich nicht in den mir gegebenen Aspekten, sondern verfügt über einen Horizont gleichzeitiger Aspekte (etwa die Rückseite des Tisches), die mir nicht zugänglich sind, die aber prinzipiell von anderen wahrgenommen werden können. Aufgrund seiner Aspektivität existiert also der Gegenstand nicht nur für mich allein, sondern verweist immer zugleich auf andere (E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, 468). Somit ist auch mein schmerzender Fuß ein implizit immer schon von anderen »mitgesehener« Fuß.

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tegral« über dem lebendigen Organismus insgesamt dar, nicht ein im Gehirn produziertes Phantom oder Modell. 14 So gesehen ist die Koextension von subjektivem Leib und organischem Körper nicht mehr verwunderlich. Sie ist aber auch funktionell sinnvoll: Das Bewusstsein ist dort, wo die entscheidenden Interaktionen mit der Umwelt stattfinden – in der Peripherie, nicht im Gehirn. Schließlich ist der Körper der eigentliche »Spieler im Feld«; daher ist es sinnvoll, dass seine Grenzen, Stellungen und Bewegungen in der Umwelt leibräumlich erlebt und nicht nur kognitiv registriert werden. Theoretisch wäre es zwar auch denkbar, dass Schmerzen uns ebenso ortlos zu Bewusstsein kämen wie Gedanken oder Erinnerungen. Doch ohne die Koinzidenz der beiden Räume hätten wir unseren Körper nur als ein äußerlich zu hantierendes Werkzeug und wären nicht in ihm »inkarniert«. Nur weil das Bewusstsein in der schmerzenden Hand ist, zieht man sie unwillkürlich vor der Nadel zurück. 15 Nur weil die Empfindung des Töpfers in seiner tastenden Hand sitzt, und er dort den Widerstand und die Struktur des Tones spürt, kann er ihn auch geschickt formen. Eine bloße »zentrale VerDer Begriff des Modells oder auch des »Selbstmodells« impliziert, dass dem subjektiven Erleben nur ein abgeleiteter oder sekundärer Status zukomme: Die materielle Substanz des Körpers ist die eigentliche Realität, das subjektive Leiberleben nur deren mehr oder minder zutreffende Modellierung oder Repräsentation. Ohne hier in eine umfassende Kritik der Selbstmodell-Theorie Metzingers (1999) eintreten zu wollen, sei doch soviel gesagt, dass ein Modell nur für jemanden ein Modell ist, also eine andere Wirklichkeit repräsentiert. Soll das personale Subjekt aber der Voraussetzung nach selbst nur ein Modell (bzw. ein »Selbstmodell«) sein, so bleibt nur übrig, dem neuronalen oder organismischen System einen Quasi-Subjekt-Status zuzuschreiben: Das Gehirn erschafft sich mit dem subjektiven Leib ein Modell des Organismus. Doch weder Gehirne noch ihre Subzentren sind Subjekte, für welche das Modell als solches fungieren könnte; und fasst man die Organismen als maschinen-analoge Biosysteme ohne Selbstsein auf, dann gibt es für sie Modelle ebenso wenig wie für ein mit Zielsuchsystem ausgestattetes Torpedo. Der Begriff des Modells beruht also auf dem, was durch ihn erklärt werden soll, nämlich auf Subjektivität. Vgl. dazu ausführlicher T. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, 59 ff. 15 Dies hat selbst Descartes klar gesehen: Die Reizung der Schmerzfasern im Fuß lasse uns den Schmerz zwar nur so empfinden, »als ob« er im Fuß wäre, was aber dennoch sinnvoll sei: »Zwar hätte Gott die Natur des Menschen auch so einrichten können, dass dieselbe Bewegung im Gehirn dem Denken irgend etwas anderes darstellte, etwa sich selbst, sofern sie sich im Gehirn oder im Fuß oder an einer der dazwischenliegenden Stellen befindet […]; aber nichts anderes hätte zur Erhaltung des Körpers gleich gut beigetragen« (R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, VI, 23; 157 ff.; Hvhbg. v. Vf.). Nur zieht Descartes daraus nicht den notwendigen Schluss, das Subjekt der Schmerzen als (leib-)räumlich zu denken. 14

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rechnung« im Gehirn könnte niemals leisten, was die unmittelbare Präsenz des Subjekts in seiner Hand ermöglicht, nämlich die Verknüpfung von Leib, Wahrnehmung, Bewegung und Objekt in einem sensomotorischen Aktionsraum: »Mein Leib ist da, wo er etwas zu tun hat.« 16 Wenn ich also nach etwas taste, so bewege und spüre ich keine virtuelle, sondern meine wirkliche Hand, die ihrerseits einen wirklichen Gegenstand berührt. Das wird dadurch möglich, dass der subjektive leibliche Raum in den objektiven Raum des Organismus in seiner Umwelt eingebettet ist. Mit anderen Worten: Der Leib ist die Weise, wie wir uns als Organismen in Beziehung zur Umwelt erfahren. Wir sind leibhaftig in der Welt – und nicht Wesen, die nur »das Gefühl haben, in ihrem Körper zu stecken«, wie Roth meint. Freilich ist die Ausdehnung des subjektiven Leibs flexibel – nämlich entsprechend den jeweiligen funktionellen Erfordernissen. Sie stimmt keineswegs immer mit den Grenzen des Körpers überein. So können auch Instrumente in das subjektive Körperschema integriert werden: »Der Stock des Blinden«, so schreibt Merleau-Ponty, »ist für ihn kein Gegenstand mehr, er ist für sich selbst nicht mehr wahrgenommen, sein Ende ist zu einer Sinneszone geworden.« 17 Ebenso spürt der geübte Autofahrer die Qualität des Straßenbelags unter den Reifen seines Wagens. Ein Amputierter vermag durch allmähliche Gewöhnung seine Prothese zu »inkorporieren«, so dass sie für ihn buchstäblich zu einem neuen Leibglied wird. Statt nur zentrales Konstrukt zu sein, modifiziert sich also der subjektive Leibraum in Abhängigkeit von der jeweiligen Zone, in der die tatsächliche Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfindet. Dies ist wiederum funktionell sinnvoll: Der physische Kontakt mit dem eigentlichen Widerstand der Umgebung muss in das subjektive Erleben eingehen, damit ein adäquater Umgang mit Objekten und Werkzeugen möglich wird. Die angeblichen »Illusionen«, die dabei entstehen, sind in Wahrheit höchst sinnvolle Verschiebungen unseres Leibbewusstseins im Kontakt mit der Umwelt. Wiederum folgt: Der objektive Raum des physischen Organismus und der subjektive Raum des leiblichen Erlebens sind ineinander verschränkt und modifizieren sich ständig wechselseitig. 18 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 291. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 173. 18 Dies gilt z. B. auch für physiologische Veränderungen, wie sie beim Autogenen Training auftreten: Die autosuggestiv hervorgerufene Wärmeempfindung in einem 16 17

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Eine Einschränkung freilich gilt: Phänomene wie die Phantomglieder oder andere Leib-Körper-Dissoziationen zeigen, dass die Diskrepanz zwischen dem objektiv-körperlichen und dem subjektivleiblichen Raum ausnahmsweise erhebliche bzw. dysfunktionale Ausmaße annehmen kann. 19 Solche Ausnahmen sprechen aber ebenso wenig wie die Verschiebungsphänomene beim Instrumentengebrauch gegen die grundsätzliche Syntopie, also gegen die prinzipiell koextensive Räumlichkeit von Leiblichem und OrganischKörperlichem – im Gegenteil, sie bestätigen sie sogar. Wären nämlich Leib und Körper nicht normalerweise koextensiv, so wäre für den Amputierten sein Phantomglied nicht so irritierend; denn es gäbe dann auch keine mögliche Diskrepanz beider Räumlichkeiten. 20 Freilich sind die Formen und Grenzen des gespürten Leibes auch im Normalfall unscharf und fließend; schon deshalb können sie nicht mit den Körperformen exakt übereinstimmen. Die prinzipielle Syntopie von Leib und Körper genügt jedoch, um die Illusionsthese zu widerlegen. Ebenso wenig wie das Vorkommen von optischen Täuschungen oder Doppelbildern unsere visuellen Wahrnehmungen sämtlich als Illusionen erweist, lassen Phantomglieder oder außerkörperliche Erfahrungen den Schluss auf eine generelle Virtualität unseres Leiberlebens zu.

3.

Der Ort des Schmerzes

Fragen wir nun nach diesen Überlegungen noch einmal: Wo ist der Schmerz, wenn mir der Fuß wehtut? – Nach gängiger neurowissen-

Leibglied geht mit einer messbar erhöhten Durchblutung des entsprechenden Körperteils einher. Ähnlich sind die meisten der in der psychosomatischen Medizin thematisierten Phänomene in dieser wechselseitigen Verschränkung von Leiblichkeit und Körperlichkeit begründet. 19 Hierbei spielt offenbar eine Reorganisation des somatosensorischen Kortex nach Ausfall des peripheren Signalinputs vom amputierten Glied eine zentrale Rolle. Vgl. V. Ramachandran / S. Blakeslee, Die blinde Frau, die sehen kann, 57 ff. 20 So kann ein Armamputierter seinen Stumpf auf eine Wand zubewegen und dabei zu seiner Bestürzung feststellen, wie das Phantom mühelos die Wand durchdringt und nun mit ihr »denselben« Raum einnimmt (vgl. D. Katz, Zur Psychologie des Amputierten und seiner Prothese). Doch keiner der beiden erlebten Räume ist an sich illusionär – sie sind vielmehr koextensive, sich überlagernde Modalitäten des einheitlichen Erfahrungsraums.

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schaftlicher Überzeugung dort, wo er angeblich erzeugt wird, also im Gehirn. Selbst Searle, sonst ein Kritiker des neurobiologischen Reduktionismus, ist dieser Auffassung: »Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass unsere Schmerzen sich im physikalischen Raum innerhalb unseres Körpers befinden […] Doch wissen wir nun, dass dies falsch ist. Das Hirn bildet ein Körperbild, und Schmerzen – wie alle körperlichen Empfindungen – gehören zum Körperbild. Der Schmerz-im-Fuß ist buchstäblich im physikalischen Raum des Hirns.« 21 – Doch das Gehirn empfindet weder Schmerzen noch enthält es sie. Es produziert auch kein »Körperbild«, denn der erlebte Leib ist kein »Bild« von einem Körper, sondern es ist der Körper selbst als empfundener. Alles was sich im Gehirn findet, wenn jemand Schmerz empfindet, sind bestimmte neuronale Aktivierungen (besonders im somatosensorischen Kortex und im Gyrus cinguli), die zwar notwendige Bedingungen des Schmerzerlebens darstellen, aber sicher keine Schmerzen sind. Der Schmerz-im-Fuß ist somit weder im physikalischen Raum des Fußes noch im physikalischen Raum des Gehirns, denn Schmerzen sind nun einmal weder anatomische Dinge wie Sehnen oder Knochen, noch physiologische Prozesse wie Ladungsverschiebungen an neuronalen Zellmembranen. Wo ist der Schmerz dann? Er ist im »Fuß-als-Teil-des-lebendigen-Körpers«, denn dieser einheitliche lebendige Körper bringt – nicht zuletzt vermittels des Gehirns – auch eine leibliche, räumlich ausgedehnte Subjektivität hervor. Dass ich sinnvoll aussagen kann: »Ich habe Schmerzen im Fuß«, und denselben Fuß auch meinem Arzt zeigen kann, setzt voraus, dass der subjektive Raum meines Schmerzes und der objektive Raum meines Fußes nicht zwei getrennten Welten angehören, sondern syntopisch zur Deckung kommen. Das ist für ein physikalistisch geprägtes Denken schwer akzeptabel – wird hier nicht das »Gespenst in der Maschine« 22 wieder zum Leben erweckt? Soll der Seele insgeheim wieder Einlass in die physikalisch gereinigte Welt verschafft werden? – Tatsächlich war es ein selbstverständlicher Bestandteil aristotelischer und vorneuzeitlicher Überzeugungen, dass die Seele unteilbar und dennoch mit dem orga-

J. R. Searle, Die Wiederentdeckung des Geistes, 81. So die bekannte Formulierung von G. Ryle in seiner Kritik des Leib-Seele-Dualismus (G. Ryle, The Concept of Mind).

21 22

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nischen Körper koextensiv sei. 23 Noch Kant schreibt in seiner vorkritischen Periode: »Ich würde mich also an der gemeinen Erfahrung halten und vorläufig sagen: wo ich empfinde, da bin ich. Ich bin ebenso unmittelbar in der Fingerspitze wie in dem Kopfe. Ich fühle den schmerzhaften Eindruck nicht an einer Gehirnnerve, wenn mich ein Leichdorn peinigt, sondern am Ende meiner Zehen. Keine Erfahrung lehrt mich, […] mein unteilbares Ich in ein mikroskopisch kleines Plätzchen im Gehirn zu versperren, um von da aus den Hebezug meiner Körpermaschine in Bewegung zu setzen, oder dadurch selbst getroffen zu werden […] Meine Seele ist ganz im ganzen Körper und in jedem seiner Teile.« 24

Erklärt man nun die subjektive Erfahrung leiblicher Räumlichkeit nicht zum Schein, sondern setzt sie syntopisch in Bezug zum intersubjektiven und damit objektiven Raum, so knüpft dies in gewissem Sinn tatsächlich an die Lehren von einer Koextensivität von »Seele« und »Körper« an, allerdings mit einer ganz anderen, nicht-dualistischen Begrifflichkeit. An die Stelle der außerweltlichen cartesischen Seele oder res cogitans tritt der subjektive, räumlich ausgedehnte Leib. Und an die Stelle des physikalistisch als bloße res extensa verstandenen Körpers tritt der lebendige Organismus: Er stellt ein einheitliches Funktionsganzes dar, das unteilbar und gleichwohl im physikalischen Raum ausgedehnt ist – in Parallele zum subjektiven Leib und dessen unteilbarer Ausdehnung. 25 Ein adäquater Begriff des Lebendigen muss daher den organismisch-körperlichen ebenso wie den subjektiv-leiblichen Aspekt umfassen. Beide hängen nicht nur äußerVgl. Aristoteles, De Anima, 411 b 24 (»in jedem der Teile sind alle Teile der Seele vorhanden«); später dann Meister Eckhart: »Die Seele ist ganz und ungeteilt vollständig im Fuße und vollständig im Auge und in jedem Gliede« (Eckhart, Predigten, 161 ff.) oder Thomas von Aquin: »Anima hominis est tota in toto corpore et tota in qualibet parte ipsius« (T. v. Aquin, Summa Theologiae, I q 93 a 3). 24 So Kant in den »Träumen eines Geistersehers« von 1794 (324 f.). 25 Die von Descartes behauptete beliebige Teilbarkeit des organischen Körpers ist also ebenso wenig aufrechtzuerhalten wie die Unausgedehntheit des Subjekterlebens (vgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, VI, 17, 19; 151 ff.). Auch die leibliche Subjektivität ist unteilbar ausgedehnt, insofern ihr alle räumlich verteilten Leibempfindungen gleichermaßen zugehören und in der einheitlichen »Meinhaftigkeit« des Leibes vereinigt sind. Man kann dies beim eigenleiblichen Spüren mit geschlossenen Augen leicht nachprüfen. Räumlich ist auch die am ganzen Leib empfundene Frische oder Müdigkeit, das Missbefinden oder das Krankheitsgefühl (vgl. dazu H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 117 ff., sowie T. Fuchs, Leib, Raum, Person, 97 ff.). 23

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lich im Gehirn miteinander zusammen, sondern das Lebewesen als ganzes erscheint einmal als lebendiger, empfindender und zugleich expressiver Leib 26, das andere Mal als lebendiger Organismus. Dass dieser lebendige Organismus zum Träger einer gleichfalls räumlich ausgedehnten Subjektivität werden kann, fügt der rein physikalisch beschreibbaren Welt keine neue Entität, keine Seelensubstanz hinzu, widerspricht also auch keinen physikalischen Gesetzen. Allerdings bedeutet es für uns selbst als lebendige Wesen eine fundamentale Veränderung: Wir sind keine im Gehirn eingeschlossenen Monaden mehr, denen ein Bild der Welt vorgespiegelt wird, sondern wir bewohnen unseren Leib und durch ihn die Welt. Die Phänomenologie kann damit unsere primäre Erfahrung wieder in ihr Recht setzen, als inkarnierte Wesen in der Welt zu sein.

4.

Resümee: Lebenswelt und Neurowissenschaften

Der Leib ist das Zentrum und die Grundlage der Lebenswelt. Durch seine ausgedehnte Räumlichkeit, Beweglichkeit und Geschicklichkeit sind wir in die Welt eingebettet und in ihr zuhause. Durch seine Erscheinung, seine Bewegungen und seinen Ausdruck werden wir aber auch als Personen für andere wahrnehmbar und verständlich. Es ist die von Husserl so genannte personalistische oder lebensweltliche Einstellung, in der wir einander als leibliche Wesen, als verkörperte Subjekte erfahren, verstehen und miteinander kommunizieren. In der Lebenswelt begegnen wir einander nicht wie Körpervehikel, in deren Gehirnen wir die Gedanken und Gefühle des anderen lokalisieren, sondern als Personen, die ihren gesamten Leib bewohnen, in ihm erscheinen und sich ausdrücken. Schon der Dualismus bei Descartes, aber auch der neurobiologische Konstruktivismus beruht nun auf einer doppelten »Entleiblichung«. Zum einen nämlich wird der lebendige Leib objektiviert zu einem bloßen Körperding; zum anderen wird das leibliche Subjekt zu einem Bewusstseins-Ich hypostasiert und in eine mentale Innenwelt eingesperrt. Der Körper lässt sich dann aus der Beobachterperspektive In der Wahrnehmung eines schmerzverzerrten Gesichts wird der Schmerz auch der Perspektive der 2. Person zugänglich, erweist sich also auch in dieser Hinsicht als ein Phänomen, das nicht einer virtuellen Innenwelt angehört, sondern dem lebendigen und sichtbaren Leib als ganzem.

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oder 3. Person-Perspektive erforschen; dem Bewusstseinssubjekt bleibt nur noch die zwar unbestreitbare, aber doch unzugängliche 1. Person-Perspektive. Was damit wegfällt, ist zum einen die lebensweltliche oder Teilnehmer-Perspektive, die Perspektive der 2. Person; zum anderen das Prinzip des Lebens, das dem Organismus als ganzem zukäme. Der neurobiologische Reduktionismus ergibt sich dann aus einem Kurzschluss zwischen 1. und 3. Person-Perspektive, nämlich zwischen dem abstrahierten Bewusstsein und dem objektivierten Körper bzw. dem Gehirn als seiner pars pro toto. Doch es ist nicht das Gehirn, das fühlt, denkt, wahrnimmt oder sich bewegt, sondern nur das Lebewesen, der lebendige Organismus als ganzer. Wie sich zeigt, ist die Leiblichkeit die Schlüsselstelle und zugleich die Achillesferse des neurobiologischen Reduktionismus. Um die physikalische Welt von allem Erlebten und Lebendigen zu reinigen, muss der subjektive Leib zum internen Konstrukt des Gehirns erklärt werden; seine räumliche Ausgedehntheit darf nur eine Illusion sein. Demgegenüber habe ich zu zeigen versucht, dass Leib und Körper eine »physisch-ästhesiologische Einheit« darstellen, wie Husserl es ausdrückt; dass also der subjektiv erlebte Leib und der intersubjektiv wahrgenommene, physische Körper syntopisch zur Deckung kommen. Dieser Körper ist freilich nicht mehr der teilbare Maschinenkörper der mechanistischen Physiologie und Medizin: Der Einheit des subjektiven Leibes entspricht vielmehr die unteilbare Einheit des lebendigen Organismus. Eine Neubegründung des Lebensbegriffs auf der Basis der leiblichen Selbsterfahrung ebenso wie einer systemischen Biologie ist insofern die zentrale Voraussetzung dafür, die naturalistische Aufspaltung der Person in Physisches und Mentales zu überwinden. 27 Das Subjekt ist ausgedehnt über den leiblichen Raum, und dies nicht in Form eines Phantomgebildes, eines Hirnkonstrukts, sondern als die in einen lebendigen Körper eingebettete und mit ihm koextensive verkörperte Subjektivität. Die somatosensorischen und motorischen Strukturen im Gehirn sind freilich notwendige Bedingungen dieses Subjekterlebens. Doch bedeutet dies nicht, dass das Leibsubjekt im Gehirn zu lokalisieren wäre wie Descartes’ Seele in der Zirbeldrüse. Wir gehören der Welt an, mit Haut und Haaren – wir sind

Dazu habe ich in meinem Buch Das Gehirn – ein Beziehungsorgan einen Ansatz entwickelt (insbes. Kap. 3).

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leibliche, lebendige und damit »organischere« Wesen als es der neurowissenschaftliche Zerebrozentrismus suggeriert. Die Neurobiologie unterschlägt den Primat der lebensweltlichen oder Teilnehmer-Perspektive, in der alleine sich Lebendiges und Leibliches wahrnehmen lässt. Stattdessen vertritt sie letztlich einen metaphysischen Realismus, der das »Gehirn an sich« erkennen zu können glaubt und der Lebenswelten als bloße Konstrukte betrachtet. Die Verfeinerungen neurobiologischer Messverfahren, so schreibt etwa Singer, »[…] machen oft als psychisch bezeichnete Phänomene zu objektivierbaren Verhaltensleistungen […] Darunter fallen Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Vergessen, Bewerten, Planen und Entscheiden, und schließlich die Fähigkeit, Emotionen zu haben. All diese Verhaltensmanifestationen lassen sich operationalisieren, aus der Dritten-Person-Perspektive heraus objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen.« 28 Wie man aus der 3.-Person-Perspektive (d. h. ohne mit der betreffenden Person zu sprechen) Wahrnehmungen oder Emotionen feststellt, bleibt freilich Singers Geheimnis. Die Teilnehmerperspektive ist im Unterschied zur Beobachter-Perspektive die soziale Perspektive, in der Menschen einander als Personen wahrnehmen und miteinander kommunizieren. Das Erleben, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln von Personen ist überhaupt nur aus dieser Perspektive zu erfassen und dann unter gewissen Einschränkungen auch mit neurowissenschaftlichen Befunden korrelierbar. Wer nicht weiß, was »Sehen« ist und sich mit anderen Sehenden darüber verständigen kann, kann auch keine Neurophysiologie der optischen Wahrnehmung treiben. Schon die Gegenstandskonstitution erfordert vom Neurowissenschaftler also das Einnehmen der Teilnehmerperpektive. »Ohne Intersubjektivität des Verstehens keine Objektivität des Wissens.« 29 In der 2.-Person-Perspektive begegnen wir einander als verkörperte Subjekte, als Lebewesen mit einem Leib, der weder in InnenW. Singer, »Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung«, 238. J. Habermas, »Freiheit und Determinismus«, 885. – »Die Objektivität der Welt konstituiert sich für einen Beobachter nur zugleich mit der Intersubjektivität der möglichen Verständigung über das, was er vom innerweltlichen Geschehen kognitiv erfasst. Erst die intersubjektive Prüfung subjektiver Evidenzen ermöglicht die fortschreitende Objektivierung der Natur. Darum können die Verständigungsprozesse selbst nicht im Ganzen auf die Objektseite gebracht, also nicht vollständig als innerweltlich determiniertes Geschehen beschrieben und auf diese Weise objektivierend ›eingeholt‹ werden« (J. Habermas, »Freiheit und Determinismus«, 883).

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noch in Außenperspektive ein Hirnkonstrukt darstellt, sondern eine physisch-ästhesiologische Einheit. Und so wie es keinen Körper im Kopf gibt, so auch keine Hirnwelten, keinen Kosmos im Kopf. Denn der Kosmos ist nicht der ídios, sondern der koinós kósmos, die Welt, die wir mit den anderen teilen. Indem sie in ihrer Leiblichkeit für uns wirklich werden, werden wir auch uns selbst wirklich, als leibhaftige und in ihrem Leib erscheinende Wesen. Leiblichkeit und Lebenswelt begründen einander wechselseitig.

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Thomas Fuchs Ramachandran, Vilaynur S. / Sandra Blakeslee: Die blinde Frau, die sehen kann. Rätselhafte Phänomene unseres Bewusstseins, Reinbek 2001. Roth, Gerhard: Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt/M. 2003. Ryle, Gilbert: The Concept of Mind, London 1949. Searle, John R.: Die Wiederentdeckung des Geistes, München 1993. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1995. Siefer, Werner/ Christian Weber: Ich – Wie wir uns selbst erfinden, Frankfurt/ M. 2006. Singer, Wolf: »Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52, 2004, 235–255.

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Lebensweltliche und physikalische Kausalität Hans-Dieter Mutschler

Unter »Kausalität« verstehen wir gerne etwas Objektives, das nicht von unserer Interpretation abhängig ist. Wenn ein böser Junge meine Fensterscheibe mit einem Stein einwirft, dann hat er sie eingeworfen, da gibt es nichts zu deuteln. Dass wir für die Kausalitätskategorie Objektivität beanspruchen, hängt damit zusammen, dass ansonsten unser soziales Leben und unser lebensweltliches Naturverhältnis empfindlich gestört wären. Unser Handeln würde ins Leere gehen. Landläufig hält man die Physik für die objektivste Wissenschaft, die es gibt. Das hieße, dass wir erwarten dürften, dass gerade diese Wissenschaft uns über die Kausalzusammenhänge in der Natur am besten aufklärt. Es würde bedeuten, dass unsere lebensweltliche Gewissheit, mit der wir uns auf Ursache-Wirkung-Zusammenhänge verlassen, oberflächlich ist und besser durch ein wissenschaftliches Verständnis ersetzt würde. Solche Überzeugungen liegen den meisten Überlegungen zum Gehirn-Geist-Verhältnis, zum Problem der mentalen Verursachung usw. zugrunde. Sie führen nahezu zwangsläufig zu materialistischen Schlussfolgerungen. Ich möchte hier die Gegenthese vertreten, dass nämlich der Ursprung der Kausalitätskategorie in der praktischen Lebenswelt liegt und dass sie von hier aus nur analogisch auf die Physik übertragen wird. Ich mache also einen Unterschied zwischen »physisch« und »physikalisch«. 1 Der Ursprung der Kausalitätskategorie liegt im Physischen und nicht im Physikalischen. Dies wäre dann ein Sonderfall des Primats der Lebenswelt vor der Wissenschaft, den ich ganz allgemein vertrete. Hieße das also, dass die Physik nicht objektiv ist? Vielleicht sollte man zwei Bedeutungen von »objektiv« unterscheiden. Unter »objektiv« könnten wir einmal das An-sich-Existierende meinen, also das, was in seinem Existieren nicht von uns und unserem kognitiven Zugriff abhängt, wie z. B. Menschen, Berge oder 1

Ich habe das näher ausgeführt in: H.-D. Mutschler, Naturphilosophie.

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Autos. Die lebensweltliche Evidenz, die uns der Existenz solcher Gegenstände versichert, kann schwerlich in Frage gestellt werden, und von daher auch nicht die Realität der Kausalwirkungen zwischen solchen Gegenständen. Davon zu unterscheiden ist eine zweite Bedeutung von »objektiv«, die auf Intersubjektivität abhebt. In diesem Sinn ist die Physik die objektivste Wissenschaft, die es gibt, denn ihre theoretischen Modelle werden (mit guten Gründen) auf der ganzen Welt akzeptiert. 2 Die beiden Begriffe von »objektiv« sind nicht logisch äquivalent. Die Implikation funktioniert nämlich nur in einer Richtung, von der Lebenswelt zur Wissenschaft, nicht aber umgekehrt. Weil dies gewöhnlich so nicht gesehen wird, möchte ich zunächst einige Beispiele machen, die das verdeutlichen. Als Newton seine Gravitationstheorie entwickelt hatte, war er durch die Tatsache irritiert, dass seine Theorie eine actio in distans einschloss. Die Sonne zieht die Erde durch den leeren Raum an. Sie wirkt dort, wo sie nicht ist. Newton glaubte, dass dahinter ein bisher unbekannter kausaler Mechanismus stecken müsse, da uns die Intuition zu lehren scheint, dass Kraftwirkungen Berührung durch Druck und Stoß voraussetzen. Im 19. Jahrhundert verschärfte sich die Situation im Rahmen der Lehren von Magnetismus und Elektrizität. Man erfand also eine neue Entität, genannt »Feld«, und behauptete seine Existenz. Wenn es aber nun zwei Physiker gäbe, von denen der eine von der Existenz von Feldern überzeugt wäre, während der andere sie nur für Rechengrößen hielte, dann gäbe es keine empirische Entscheidungsmöglichkeit zwischen beiden. Sie bedienen sich derselben Physik. Fragen der Existenz sind also in der Physik auf weite Strecken eine Frage der Konvention. Der Physiker Jürgen Audretsch hat dies detailliert aufgezeigt bei solchen Übergängen wie gerade bei dem zwischen der Newtonschen Gravitationstheorie zur Elektrodynamik oder von dort zur Quantentheorie. 3 In der Geschichte der Physik ist deshalb ein ständiges Schwanken bezüglich Existenzaussagen zu beobachten. Rudolf Clausius betrachtete die von ihm entdeckte Entropie als eine reine Rechengröße. Später hielt man sie für etwas Reales. In der Elektrodynamik führte Dieser Sachverhalt macht sich in Kants Philosophie so bemerkbar, dass er Objektivität1 ablehnt, Objektivität2 = Intersubjektivität aber festhält. Er orientierte sich in seiner Erkenntnistheorie ganz an der Physik. 3 Vgl. J. Audretsch, Die sonderbare Welt der Quanten. 2

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Lebensweltliche und physikalische Kausalität

man das sogenannte »Vektorpotential« ein, weil es in der Relativitätstheorie im Rahmen eines sogenannten »Viererpotentials« die Schreibweise vereinfacht. Es handelte sich also um eine reine Rechengröße. Später haben Yahir Aharanov und David Bohm einen quantenmechanischen Effekt beschrieben, der eine realistische Deutung des Vektorpotentials nahelegt. Im Grunde geht es in all diesen Fällen um das philosophische Problem der theoretischen Terme. Da sie sich der direkten Beobachtbarkeit entziehen, sind wir niemals sicher, ob wir die Natur beschreiben oder nur unsere Auffassung von ihr. Dass wir die theoretischen Terme den Beobachtungstermen entgegensetzen, zeigt einmal mehr, dass es unsere sinnliche Beobachtung ist, die uns der Realität versichert und nicht die Wissenschaft. Diese ist eine abgeleitete Größe, und das gilt im Übrigen nicht nur für die Physik. Ohne lebensweltlich-praktischen Zugang zu unseren mentalen Zuständen, wie sie in der Betroffenenperspektive beschrieben werden, wüssten z. B. die Neurowissenschaftler nicht, was sie untersuchen sollten, oder ohne Verhaltensforschung wüssten die Genetiker nicht, wie sie bestimmte Gene identifizieren sollten. Die Lebenswelt ist ein unhintergehbares Apriori der Wissenschaft. Um auf die Physik zurückzukommen: Wir haben also Gründe, Naturwissenschaft im Sinn der zweiten Bedeutung für objektiv zu halten, nicht aber im Sinn der ersten, wo es um Existenzfragen geht, und wenn die Begriffe von »Ursache« und »Wirkung« als etwas angesehen werden sollten, was an sich existiert, dann wäre die Physik sicher nicht der Ort, wo wir sie zu suchen hätten. Betrand Russell bemerkte vor langer Zeit, dass der Begriff der »Kausalität« in keiner physikalischen Theorie vorkommt. Er schloss daraus, dass es so etwas wie »Verursachung« in dieser Welt überhaupt nicht gibt. Es sei »wünschenswert«, das Wort »Ursache« »aus dem Wortschatz der Philosophie zu entfernen.« 4 So weit muss man nur gehen, wenn man Philosophie = Physik setzt. Aber dass der Begriff der »Ursache« in keiner physikalischen Theorie vorkommt, sollte zu denken geben. Hinzu kommt, dass Autoren, die Kausalität in der Physik suchen, sich in ihren jeweiligen Ergebnissen radikal unterscheiden. Wenn die Physik objektiv wäre im Sinn von intersubjektiv, dann könnte dieses Phänomen nicht auftreten, und diejenigen, die behaupten, die Physik sei der Ort, wo wir uns im eigentlichen Sinne über Kausalität aufklären sollten, hätten die Beweislast auf ihrer Sei4

B. Russell, Mystik und Logik, 181.

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te, denn wenn auch in der Physik Existenzfragen strittig sein sollten, über ihre intersubjektiven Qualitäten herrscht Einigkeit, und wenn der Kausalitätsbegriff aus ihr ableitbar wäre, müssten wir auch dort Einigkeit finden. Ich möchte nun im Folgenden einige Ansätze von Autoren diskutieren, die ihren Ursache-Wirkungs-Begriff aus der Physik ableiten, um zu zeigen, dass diese Ableitungen misslingen, und zweitens, um zu zeigen, dass die Aporien, die dabei zutage treten, im Rahmen einer praktisch-lebensweltlichen Kausalitätsauffassung gelöst werden können. Dabei kann Vollständigkeit nicht das Ziel sein, weil die Literatur zum Thema unübersehbar geworden ist. Aber es genügen vielleicht einige exemplarische Beispiele, um das Prinzip deutlich zu machen. Während die Verwurzelung unserer Kausalitätsauffassung im praktischen Umgang mit der Welt in der Vierursachenlehre des Aristoteles überdeutlich ist 5, bildet sich durch das Entstehen der Naturwissenschaft in der Neuzeit eine radikal andere Auffassung heraus. Verbreitet war lange Zeit die Auffassung, die mindestens auf Kant zurückgeht, wonach Kausalität = Determination ist. Diese Auffassung vertrat noch im Wiener Kreis der Physiker und Philosoph Philipp Frank. 6 Aber Determination und Kausalität können schwerlich dasselbe sein. Erstens ist im Begriff der »Determination« keine zeitliche Sukzession enthalten. Standardbeispiel ist das Pendel, bei dem die Fadenlänge die Schwingfrequenz determiniert, doch sind beide gleichzeitig. Wir hätten es aber gerne, wenn die Ursache der Wirkung vorausginge. Wir hätten es weiter gerne, wenn die Ursache wirkend, also aktiv wäre, was man auch so ausdrückt, dass Ursachen Kraft oder Energie übertragen sollten. Weil wir das in einem Schema von Aktivität – Passivität, Bestimmendes – Bestimmbares denken, ist die Kausalrelation asymmetrisch, was für Determinationsverhältnisse gewöhnlich nicht gilt, werden sie doch in mathematischen Gleichungen ausgedrückt, die symmetrisch sind. 7 Des Weiteren kommen in der Physik oft deterministische Fälle von Wechselwirkung vor, wie z. B. beim Pendel oder bei elektromagnetischen Schwingungen, wo

Seine vier Ursachen sind sichtlich aus dem technisch-poietischen Umgang des Menschen mit der Natur abgeleitet. 6 Vgl. P. Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen. 7 Man denke auch an die prominente Rolle, die Symmetrieprinzipien in der Physik spielen und die zu Erhaltungssätzen äquivalent sind. 5

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sich Lage- und Bewegungsenergie, bzw. elektrische und magnetische Feldenergie beständig ineinander umwandeln. Ist hier die elektrische Energie Ursache der magnetischen oder umgekehrt? Müssen wir nicht immer fordern, dass die Kausalrelation asymmetrisch ist, was in den Fällen von Wechselwirkung verletzt wird? Es wäre deshalb angemessen, wenn wir Determination und Kausalität nicht einfach identifizieren würden. Russell ging also davon aus, dass der Begriff von »Ursache« und »Wirkung« in der Physik nicht vorkommt. Solche Vorstellungen hängen nach ihm mit unseren Erfahrungen von Eingreifen, Muskelanspannung usw. zusammen und würden von dort her illegitimerweise auf die Physik übertragen, was in schlechte Metaphysik hineinführe. 8 Obwohl er sich in seinen eigenen Schriften zur praktischen Philosophie selbst nicht an diesen Rat hielt, hatte er dennoch Erfolg in der Wissenschaftstheorie, und so verschwand dort der Begriff der »Kausalität« über einige Jahrzehnte. Er verschwand aber nicht in der Praxis der Forschung. Um dem dann doch Rechnung zu tragen, fing man in der Analytischen Wissenschaftstheorie wieder an, von »Kausalität« zu reden: Danach wären Ursachen Anfangsbedingungen nomologisch beschreibbarer Prozesse, deren Endzustand die Wirkung wäre. Dieses Konzept zieht sich durch bis in die 80er Jahre, so z. B. bei Wolfgang Stegmüller. Diesem Autor ist Kausalität immer noch etwas verdächtig, denn er vertritt den prinzipiell »nichtkausalen Charakter der modernen Physik.« 9 Die Auffassung, Ursachen seien Anfangsbedingungen nomologisch beschreibbarer Prozesse, deren Endzustand dann die Wirkung wäre, hört sich zunächst einmal sehr plausibel an. Wenn man z. B. einen Satelliten ins All schießt, dann muss man ihm einen bestimmten Anfangsimpuls als Ursache mitteilen, der dann als Wirkung eine bestimmte Umlaufbahn zur Folge hat, die wir aus den physikalischen Gesetzen berechnen können. Es ergeben sich aber hier mehrere Probleme: Anfangsbedingungen im Sinn der Physik sind einfach nur Zahlenwerte. Sie haben mit der Vorstellung von energetischer Power nichts zu tun, die wir heute allgemein mit wirkenden Ursachen verbinden. 10 Sodann könnte man sich fragen, ob denn Zustände überhaupt Ursachen sein können. Sie Vgl. B. Russell, Das ABC der Relativitätstheorie, 155. W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, 526. 10 Das ist dasselbe Argument, das ich gegen Frank vorgebracht habe. 8 9

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haben ja nichts Dynamisches an sich. Außerdem: Antecedensbedingungen sind nur im Labor eindeutig, wo man die störenden Parameter konstant hält, aber in der Natur hängt alles mit allem zusammen, und so meinte schon Russell, dass man, um eine Wirkung zwingend aus der Ursache hervorgehen zu lassen, das ganze Weltall berücksichtigen müsse. 11 Des Weiteren ergibt sich in dieser Kausalitätsvorstellung ein merkwürdiger regressus in infinitum der Ursachen und Wirkungen: Derselbe Endzustand des Satelliten könnte ja durch unendlich viele Anfangszustände erreicht werden, nämlich alle, die die Rakete nach dem Erlöschen des Treibstoffs durchfliegt. Wir hätten also unendlich viele Ursachen für eine einzige Wirkung oder vielmehr, wir könnten auch alle dem Erreichen des Orbits folgenden Impulszustände des Satelliten als Wirkungen ansehen, weil sie ja zur selben Bahnkurve gehören. Wir hätten also bezüglich ein und desselben Prozesses unendlich viele Ursachen und Wirkungen, und das widerspricht eklatant unserer Intuition von Ursache und Wirkung, unter denen wir uns etwas Bestimmtes vorstellen. 12 Von ganz anderer Art ist das Kausalitätskonzept von Mario Bunge (immerhin, wie Frank, ebenfalls Physiker vom Fach). Aus den genannten, aber auch aus anderen Gründen unterscheidet er Kausalität und Determinismus. Dass im Begriff des Determinismus kein Energie-übertrag mitgedacht werden muss, ist dabei ein entscheidendes Argument. Also geht er davon aus, dass die Natur im Prinzip determiniert sei (wobei er den quantenphysikalischen Indeterminismus bagatellisiert). Innerhalb der determinierten Prozesse wird dann eine Teilklasse »kausal« genannt, nämlich die, bei der ein Energieübertrag stattfindet. 13 Ich hatte oben bei der Kritik an Philipp Frank darauf hingewiesen, dass eine deterministische Auffassung von Kausalität der Gerichtetheit des Ursache-Wirkungs-Verhältnisses keinen Ort geben kann. Dieses Argument kann analog auf Bunge übertragen werden, Vgl. B. Russell, Die Analyse des Geistes, 114. Das hätte zur Folge, dass das Theorem von der kausalen Geschlossenheit der Welt eine regulative Idee ist, kein empirisch gestütztes Resultat. 12 Das Problem entspricht dem materialistischen Versuch, Begriffsinhalte nichtsemantisch zu bestimmen über Kausalwirkungen der Objekte. Man müsste dann von der Sinnesreizung bis zum Urknall alle hinreichenden Ursachen berücksichtigen. Das ist das Problem der »kausalen Tiefe«. 13 Vgl. M. Bunge, Kausalität, Geschichte und Probleme. 11

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Lebensweltliche und physikalische Kausalität

denn eine Richtung des Kausalverhältnisses ist im Begriff des Energieübertrags nicht enthalten. Deshalb sind z. B. das Pendel oder elektromagnetische Schwingungen auch hier Gegenbeispiele, weil in diesen Systemen Energie in beide Richtungen übertragen wird, und solche Systeme gibt es ja sehr viele in der Physik. Bunge ist einer der härtesten Materialisten und Physikalisten, die es gibt. Trotzdem ist nach seinem Konzept die Welt nicht kausal geschlossen. Dies gilt es zu bedenken, denn im materialistischen Flügel der Analytischen Leib-Seele-Debatte wird gewöhnlich unterstellt, dass ein szientifischer Materialist an die kausale Geschlossenheit der Welt glauben müsse. Das ist aber allein deshalb nicht der Fall, weil der Begriff der »Kausalität« notorisch unklar ist. Man kann mit Bunge sehr wohl den Szientismus und den Materialismus halten, die kausale Geschlossenheit der Welt aber ablehnen. 14 Ich möchte nun im Folgenden möglichst verschiedene Konzepte bezüglich Kausalität in der Physik vorstellen. Einmal, um zu zeigen, wie wenig intersubjektive Übereinstimmung es hier gibt, zum anderen, um dann in einem zweiten Schritt zu nachzuweisen, wie sich die Aporien dieser sehr unterschiedlichen Konzepte in einem Ansatz bei der Lebenswelt auflösen. Radikal verschieden von allen bisherigen Konzepten ist das von Geert Keil. Er vertritt eine Auffassung singulärer Kausalität, beruhend auf Russells Grundsatz: »Je nomologischer, desto weniger kausal.« Jedes echte Ereignis störe reguläre oder träge Verläufe. Ereignisse seien für die Änderung von Bewegungszuständen verantwortlich, während z. B. die ungestörte Fortsetzung einer Inertialbewegung kein Ereignis sei und keiner Ursache bedürfe. 15 Das hieße z. B., dass man nicht mehr behaupten dürfte, die Ursache, weshalb sich ein Körper kräftefrei mit gleichbleibender Geschwindigkeit durchs Weltall bewege, liege in seiner Trägheit. Wir dürften hier nicht mehr von »Ursache« sprechen. Das dürften wir erst, wenn die Trägheitsbewegung im Schwerefeld eines anderen Körpers gestört würde. Das Problem ist aber: Wenn ich den ursprünglichen und den störenden Körper als Gesamtsystem sehe, dann könnte ich das Gesamtgeschehen rein nomologisch beschreiben. Von Vgl. meine Arbeit über kausale Geschlossenheit in H.-D. Mutschler, »Weshalb die Welt nicht ganz dicht ist. Zum Problem der kausalen Geschlossenheit und der mentalen Verursachung«, auf die ich hier zurückgreife. 15 Vgl. G. Keil, Handeln und Verursachen, 247; 405. 14

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»Störung« wäre dann keine Rede mehr. In der Physik bezeichnet dieser Begriff ein rein subjektives Verhältnis. Z. B. stört Pluto die Bahnen von Uranus und Neptun und wurde aufgrund dessen erst 1930 entdeckt. Beschreibt man aber diese Planeten plus die Sonne als Gesamtsystem, dann gibt es keine Störung mehr. Nur im Bereich des Lebendigen, wo es Teleologie gibt, hat der Begriff der »Störung« einen objektiven Gehalt, so dass nach Keil die Evolution sich 10 Milliarden Jahre kausalfrei entwickelt haben müsste, so dass es Ursache-Wirkungs-Verhältnisse nur im Bereich des Lebendigen geben könnte. Eine Katze oder einen Hund kann ich stören, einen Planeten oder einen Stein nicht. 16 Ein Konzept, das dem von mir vertretenen nahe zu kommen scheint, stammt von James Woodward, der dabei auf John Mackie und Georg H. von Wright zurückgreift. 17 Woodward vertritt einen »interventionalistischen« Begriff von Kausalität. Wenn man etwa die Frage stellte, ob Y von X kausal abhängig sei, dann müsse man X systematisch ändern und prüfen, ob und wie sich Y in Abhängigkeit davon veränderte. Diese Prüfung kann auch rein gedanklich sein, man muss das Experiment nicht konkret durchführen können. Woodward begreift das Interventionistische im Sinn eines »Als ob« und spricht er von »hypothetical experiments«. Wenn ich X verändern würde und Y änderte sich in Abhängigkeit davon auf bestimmte Weise, dann hätte ich Gründe, X als Ursache für Y anzusehen, auch dann, wenn diese Veränderungen niemals von einem Menschen durchgeführt werden könnten, sondern rein natürlich oder nur gedanklich abliefen. Auf diese Art will Woodward die Objektivität des Kausalverhältnisses gewährleisten und dies auch im Bereich der Physik. Die Schwierigkeit wird auch hier sein, dass wir physikalische Zusammenhänge in mathematischen Gleichungen beschreiben, die symmetrisch sind, während die Kausalrelation asymmetrisch ist. Woodward wählt deshalb zur Verdeutlichung solche Fälle, in denen wir aus praktischen Gründen nur die Möglichkeit haben, Y mit Hilfe von X zu verändern und nicht etwa umgekehrt, und wählt sehr suggestive Beispiele: Auf einer schiefen Ebene, auf der ein Gewicht liegt,

Aus diesem Grunde wäre Keils Konzept nur dann auf die Physik anwendbar, wenn wir die überholte Lehre des Aristoteles vom »natürlichen Ort« verteidigen würden. 17 Vgl. J. Woodward, Making Things Happen. A Theory of Causal Explanation, J. L. Mackie, The Cement of the Universe. A Study of Causation, G. H. v. Wright, Causality and Determinism. 16

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Lebensweltliche und physikalische Kausalität

das auf der Unterlage reibt, ändern wir den Neigungswinkel. Dann ist die Beschleunigung eine Wirkung des veränderten Neigungswinkels, nicht aber umgekehrt. So ist es auch bei der Federwaage, wo die Auslenkung eine Wirkung des angehängten Gewichtes ist, oder bei der Abhängigkeit der elektrischen Feldstärke von der Ladung per Längeneinheit eines dünnen Drahtes in einer bestimmten Entfernung. Oder wenn wir die Temperatur eines idealen Gases in einem Behälter mit konstantem Volumen verändern wollen, müssen wir den Druck verändern, anders geht es nicht. 18 Solche Beispiele scheinen gewichtig, aber man hat den Eindruck, sie seien selektiv, weil es rein praktische Gründe hat, weshalb wir hier nur einen Parameter ändern können und weil es genügend andere Beispiele gibt, wo wir sowohl X als auch Y verändern können. Zudem stimmen noch nicht einmal die ausgewählten Beispiele. Da es bei Woodward nur um Gedankenexperimente geht, könnten wir einen Dämon imaginieren, der in dem erwähnten Gas sitzt und den Molekülen kurz vor dem Aufprall auf die Gefäßwände einen zusätzlichen Impuls verleiht. Dadurch würde sich der Druck des Gases erhöhen, weil er als mittlerer Kraftstoß auf die Gefäßwände definiert ist, aber die Temperatur würde sich erst nach und nach und in Abhängigkeit davon ändern, weil sie als mittlere kinetische Energie definiert ist, die sich nur nach und nach einstellt, während der Kraftstoß sofort gegeben ist, d. h. die Eindeutigkeit der Abhängigkeit ist Schein. Ich möchte nun in einem zweiten Schritt zeigen, dass sämtliche Aporien, die ich erwähnt habe, aufgelöst werden können, wenn man zu einem Praxisbegriff von Kausalität übergeht, wie er in unserer Lebenswelt verwurzelt ist. In diesem Bereich hat der Begriff von Ursache und Wirkung seinen eigentlichen Ursprung, und das gilt nicht nur historisch und genetisch, sondern auch systematisch. Historisch hängt der Begriff von »Ursache« mit Handlungskontexten zusammen. »Aitia« (griechisch) heißt so viel wie »Schuld«, und »causa« (lateinisch) ist das, was vor Gericht verhandelt wird, nämlich ebenfalls die Schuldfrage. Überdies hat die Entwicklungspsychologie gezeigt, dass kleine Kinder erst sich selbst und andere als kausale Agenten verstehen und dieses Muster erst sekundär auf das Nichtmenschliche beziehen.

18 Vgl. J. Woodward, Making Things Happen. A Theory of Causal Explanation, 13; 39; 187; 221.

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Wenn Philipp Frank Kausalität = Determination setzt, dann muss er, wie beim Pendel, zulassen, dass Ursachen mit Wirkungen gleichzeitig sind. Im Praxiskontext verändern wir aber zuerst die Länge des Pendels und in Abhängigkeit davon seine Frequenz. 19 Hier ist die zeitliche Ordnung gewährleistet. Frank kann Ursachen nicht als aktiv bewirkend denken, aber das ist, wie das Beispiel zeigt, bei Eingriffen der Fall. Auch das Argument gegen ihn, dass bei physikalischer Wechselwirkung die eindeutige Richtung fehlt, verliert in der Praxisinterpretation seine Plausibilität, denn dort kommt der Symmetriebruch durch unser eingreifendes Handeln ins Spiel. Die Bemerkungen über Russell bestätigen ebenfalls diese Deutung. Russell hat völlig recht damit, dass in der Physik der Begriff der »Kausalität« nirgends vorkommt, aber dass er ihn selbst in seinen Schriften zur praktischen Philosophie entgegen seinem eigenen Ratschlag weiter gebrauchte, liegt eben daran, dass er dort seinen eigentlichen Ursprung hat und nicht eliminiert werden kann. Es ist auch nicht weiter erstaunlich, dass zwar die Wissenschaftstheoretiker seinen Rat befolgten, nicht aber die Wissenschaftler vor Ort, denn diese beziehen die Ergebnisse ihrer Wissenschaft immer auf ihren Ursprung in der Praxis. 20 Ich hatte die Auffassung kritisiert, wonach Ursachen Anfangsbedingungen von nomologisch beschreibbaren Prozessen sind, deren Endzustand als »Wirkung« bezeichnet wird, weil dies in einen regressus von Ursachen und Wirkungen hineinführt. Dieser regressus kommt sofort zum Stillstand, wenn man das Setzen von Anfangsbedingungen als Akt sieht und den Endzustand als Ziel dieses Aktes. 21 Dann bringen beide den regressus zum Stillstand, und das ist es wohl auch, was die Analytischen Wissenschaftstheoretiker stillschweigend immer mitgedacht, aber niemals reflektiert hatten: sich selbst als kausale Agenten. Diese Wissenschaftstheoretiker mussten unterstellen, Keil schlägt genau dies vor, um das Pendelgesetz in ein kausales zu verwandeln, aber er schließt daraus nicht, dass Kausalität der Physik äußerlich ist und dort nicht mit Objektivitätsanspruch auftreten kann (vgl. G. Keil, Handeln und verursachen, 169). 20 Es versteht sich, dass ich nur von der Analytischen Wissenschaftstheorie spreche, die das experimentelle Handeln niemals ernst genommen hat, und nicht von der Erlanger Schule, den Pragmatisten usw. 21 Holm Tetens interpretiert richtig die Anfangsbedingungen physikalischer Prozesse nur insofern als Ursachen, als sie im Experiment von uns gesetzt werden (vgl. H. Tetens, Experimentelle Erfahrung, 19). 19

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Lebensweltliche und physikalische Kausalität

dass Anfangsbedingungen in der Welt vorkommen, so wie es Autos oder Wolken gibt. Aber ohne Menschen würde es auch keine Anfangsbedingungen geben, während es doch laut Voraussetzung Kausalität auch dann geben müsste, wenn es uns nicht gäbe. Das völlig andere Konzept singulärer Kausalität von Keil führte in die Aporie, dass die anorganische Sphäre, wie sie die Physik beschreibt, als kausalitätsfreie Zone gedacht werden müsste, weil der Begriff der »Störung« rein subjektiv ist. Man könnte aber Keils Konzept, gegen die Intention des Verfassers, so retten, dass der Begriff der »Störung« eine anthropomorphe Interpretation eines physikalischen Sachverhaltes ist, den wir nur um diesen Preis kausal deuten können, und dann wird auch verständlich, weshalb wir die Trägheitsbewegung gegen Keil dennoch kausal beschreiben: Wir stellen uns vor, wie in unserer Lebenswelt ein Körper durch die ständig vorkommende Reibung zum Stillstand kommt, wenn wir keine Bewegungsenergie zuführen. Man kann natürlich sagen, dass dies eine überholte aristotelische Vorstellung ist, aber kausale Interpretationen der Physik sind immer von der Lebenswelt abhängig, auch dann, wenn sie sich irrt. 22 Schließlich zu Woodward: Seine »interventionalistische« Form von Kausalität setzt sich den von mir vorgebrachten Einwänden nur dann aus, wenn sie als objektiv vorgestellt wird, wenn wir also glauben, das virtuell eingreifende Subjekt hinterher vom Prozess wieder abziehen zu können, damit das rein Objektive übrig bleibt. Bindet man hingegen die Intervention als reales Geschehen an das eingreifende Subjekt, dann sind die Überlegungen von Woodward überzeugend, aber sie stützen dann nicht mehr seinen objektivistischen Ansatz, sondern eher das Konzept einer Fundierung der Kausalität in der lebensweltlichen Praxis. Die Beispiele, die ich erwähnt habe, stammen meist aus der klassischen Physik, und man könnte denken, dass die Verhältnisse in der Quantentheorie ganz anders seien. Die Leseerfahrung zeigt aber, dass dem nicht so ist. Wenn in der Quantentheorie von »Kausalität« die Rede ist, dann meist im Zusammenhang mit dem Experiment, d. h. mit unserem praktisch-poietischen Eingreifen, und Autoren, die die

Mein Konzept stimmt mit dem der »Erlanger« weitgehend überein (vgl. z. B. P. Janich, Kleine Philosophie der Naturwissenschaften, 102), jedoch mit dem Unterschied, dass ich die Ontologie nicht einfach aus den theoretischen Termen der Physik herausziehen würde und dass der Begriff des »lebensweltlich-Praktischen« weiter ist als der des experimentellen Handelns.

22

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Quantentheorie heranziehen, um ein rein objektives Kausalitätskonzept zu begründen, haben deshalb große Mühe. Dazu gehört z. B. Michael Esfeld. 23 Esfeld muss zunächst einmal die »ontologische Relativität« aus der Welt schaffen, die der Physik (und nicht nur ihr) anhaftet. Zu diesem Zweck entfaltet er eine sehr abstrakte Metaphysik, wonach das Zugrundeliegende des physikalischen Weltzugriffs bloße Raum-Zeit-Punkte ohne intrinsische Qualitäten sein sollen. Diese Raum-Zeit-Punkte sollen dann die Relate der Relationen – die er auch »Strukturen« nennt – sein, welche den Inhalt der Theoretischen Physik ausmachen und die uns allein erkennbar sind. Er fasst aber die physikalischen Gesetze nicht im Sinn von David Armstrong als an sich existierend auf, sondern mit Nancy Cartwright als Dispositionen oder »Kräfte«. 24 Diese mikrophysikalischen »Kräfte« sollen dann in einem kausalen Prozess die mesound makrokosmischen Objekte hervorbringen. Ich lasse es dahingestellt sein, ob Punkte etwas Reales sein können. Schwer zu sehen ist auf jeden Fall, wie sie als nicht intrinsisch und qualitativ bestimmte Entitäten Relationsträger sein können. Esfeld vergleicht sein Konzept mit dem Kantischen. Aber Kant war hier konsequenter, wenn er das An-sich aus dem Lichtkegel der Erkenntnis herausnahm und sich einer metaphysischen Ontologie verweigerte. 25 Wenn der Kausalzusammenhang der Welt allein durch die Mikrophysik gewährleistet sein soll und wenn weiter der Übergang von dort zum Mesokosmos rein objektiv, d. h. ohne experimentellen Zugriff zustande kommen soll (um ein subjektives Element zu vermeiden), dann muss die Natur permanent diesen Übergang vollziehen. Dies setzt eine anspruchsvolle Theorie des Messprozesses voraus, die bis heute in allgemein anerkannter Form nicht vorliegt. Esfeld greift deshalb auf die spezielle Lösung von Gian Ghirardi, Alberto Rimini und Tullio Weber zurück. Diese Autoren schlagen die Ergänzung der Vgl. M. Esfeld, Holismus. In der Philosophie des Geistes und in der Philosophie der Physik; M. Esfeld, Einführung in die Naturphilosophie; M. Esfeld, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur; M. Esfeld / C. Sachse, Kausale Strukturen. Einheit und Vielfalt in der Natur und den Naturwissenschaften. 24 Vgl. D. Armstrong, Was ist ein Naturgesetz? 25 Esfelds Ansatz belastet sich weiter mit kaum einlösbaren Hypotheken. Er muss z. B. im Rahmen seiner reduktionistischen Ontologie behaupten, dass Personen und Organismen nichts sind als Zusammenballungen dieser ursprünglichen Relationen, die die Physik beschreibt. 23

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Schrödinger-Gleichung um einen stochastischen Term vor, »so dass diese Gleichung Wahrscheinlichkeiten für Zustandsreduktionen in Form spontaner Lokalisationen von Quantenobjekten enthält. Je mehr Quantenobjekte eine Struktur der Zustandsverschränkung umfasst, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Zustandsreduktion durch spontane Lokalisation eintritt.« 26 Stutzig macht, dass eine Philosophie der Physik sich bezüglich des ungelösten Messproblems in der Quantentheorie auf eine Außenseiterposition berufen muss, um einen objektivistischen Kausalitätsbegriff zu retten, denn dann lädt sie sich Beweislasten auf, von denen nicht leicht zu sehen ist, wie sie zu tragen wären. 27 Das Konzept von Esfeld ist in seiner Radikalität lehrreich. Er setzt es selbst der »Humeschen Supervenienz« im Sinn von David Lewis entgegen. 28 Lewis nimmt an, dass es letzte intrinsisch bestimmte mikrologische Realitätsträger gibt, auf denen alles mereologisch superveniert. Die Welt fällt atomistisch auseinander, und ihre Gesetze sind nichts als empirische Regularitäten ohne Eigenbedeutung. So sieht der gesunde Menschenverstand seit Demokrit den Aufbau der Welt, wenn er sich zum Materialismus entschlossen hat. Dagegen wendet Esfeld mit Recht ein, dass dieses Bild nicht mit der Quantentheorie übereinstimmt. Nach dieser müssen wir wegen der verschränkten Systeme holistisch denken, und das Supervenienzprinzip gilt nur global. Die Idee separierbarer, in sich stehender Realitätsträger ist unwissenschaftlich nach den Standards heutiger Physik. Diese Kritik ist einsichtig. Aber weil Esfeld die Lebenswelt als eigenständige Größe ablehnt, muss er nun seine vorgeblich objektive Ontologie allein aus der Physik gewinnen, und das führt dann in diese aporetische Konstruktion von Relationen hinein, die zwar Relationsträger benötigen, aber solche, die intrinsisch durch nichts bestimmt sind 29, die auch keine räumliche Ausdehnung haben, und in M. Esfeld / C. Sachse, Kausale Strukturen. Einheit und Vielfalt in der Natur und den Naturwissenschaften, 79. 27 Man könnte z. B. auch fragen, ob nicht gemäß diesem Konzept eine mesokosmische, klassisch beschreibbare Welt immer schon existiert haben müsste, im Widerspruch zur allgemein akzeptierten Kosmologie. Oder: Kann man denn, wenn die Richtung des Zeitpfeils erst durch den Kollaps der Wellenfunktion ins Spiel kommt, die Kausalkategorie überhaupt auf den Mikrokosmos anwenden, vor allem, wenn Esfeld von einem zeitlosen Blockuniversum ausgeht (vgl. M. Esfeld, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, 48)? 28 Vgl. M. Esfeld, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, 138. 29 In dem von Müller und Watzka 2011 herausgegebenen Sammelband zum Panpsy26

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diese verwegene Ontologie muss er dann durch eine etwas weit hergeholte Interpretation des Messprozesses Kausalität als eine objektive Größe einführen. Das heißt also in der Summe: Es scheint, dass Kausalurteile in der Physik in Analogie zu Handlungskontexten konstruiert werden müssen und dass sie deshalb nur mehr oder weniger plausibel sind, jedenfalls nicht objektiv, weder im ersten noch im zweiten Sinne. Ich spreche selbstredend nicht von Kausalität im Allgemeinen. Es gibt keine vernünftigen Zweifel an der Realität unseres poietisch-praktischen Eingreifens in die Welt. Aber die Physik profitiert nicht davon. Sie hat von ihrer Eigenbedeutung her ein stark konstruktives Moment in sich, das mit der robusten Intuition von der Realität des Kausalverhältnisses kollidiert. 30 Die hier vertretene Position entspricht der von Peter Strawson, dessen Philosophie als eine sprachanalytisch reformulierte Transzendentalphilosophie angesehen werden kann, die als Ausgangspunkt nicht wie bei Kant die Physik, sondern die praktische Lebenswelt nimmt. Aus dieser leitet Strawson die Kausalkategorie ab: »Wir stoßen oder ziehen, oder werden gestoßen oder gezogen und wir spüren den Druck oder den Zug, die Kraft, den Zwang oder die Macht, die wir ausüben oder die auf uns ausgeübt werden.« 31 Grundlegend für den Kausalitätsbegriff sind also mechanische Prozesse, wie sie im Alltag ständig vorkommen. Diese Prozesse enthalten nicht den Begriff des Naturgesetzes, sondern sind Formen singulärer Kausalität. Wir können zwar auch allgemeine Regelmäßigkeiten kausal interpretieren, aber solche Interpretationen sind jederzeit abkünftig. Strawson verweist auf die Entwicklung des Kausalitätsbegriffs als Interpretament für die Physik. Attraktion und Repulsion seien noch klar anthropologisch zu verstehen, weil an Druck und Stoß angelehnt, ähnlich noch Vieles in der Elektrizitätslehre, z. B. »elektrische Spannung«, aber: »In den feinstgesponnenen Bereichen chismus zeigen mehrere doppelt qualifizierte Physiker und Philosophen, wie sehr Physik ontologisch auf intrinsische Qualitäten verwiesen ist und wie Bewusstsein am ehesten dafür in Frage kommt. 30 Interessant ist in diesem Zusammenhang das Kausalitätskonzept von U. Meixner, Theorie der Kausalität. Ein Leitfaden zum Kausalbegriff in zwei Teilen. Meixner entwickelt einen realistischen Kausalitätsbegriff, der für alles zutreffen soll, und erwähnt in seinem monumentalen Werk zwar sehr viele Beispiele, aber niemals eines aus der Physik! 31 P. F. Strawson, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, 157.

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Lebensweltliche und physikalische Kausalität

physikalischer Theorie haben diese Modelle anscheinend allesamt ausgedient. Gleichungen ersetzen nun Bilder. Und Verursachung wird von Mathematik aufgesogen.« 32 Dies hieße, dass »Kausalität« nur so weit reicht, wie die Analogie zu poietischer Kausalität trägt. Das Ergebnis dieser Überlegungen muss für einen Physikalisten desolat sein, denn es läuft auf eine Subjektivierung der Kausalkategorie im Rahmen der Physik hinaus, die der Physikalist gerade nicht wünscht. Er möchte gerne sein zentrales Theorem von der kausalen Geschlossenheit der Welt mit dieser Wissenschaft legitimieren. Aber die erwähnte Alternative ist zwingend: Entweder, man hält die kausale Geschlossenheit der Welt, dann verliert man mit Lewis (und vielen anderen) die Physik aus dem Blick. Oder man nimmt die Physik ganz ernst, dann regrediert die Ontologie, wie bei Esfeld, zu einem substanzlosen »Ding an sich«, das nichts mehr erklärt. Die Konzepte von Autoren wie Woodward, Mackie, von Wright usw. führen genau deshalb in die Ausweglosgkeit, weil sie diese Alternative nicht als zwingend ansehen. Eine ganz andere Möglichkeit wäre, Wissenschaft auf den Sockel eines lebensweltlichen Apriori zu stellen. Dann würden diese falschen Alternativen verschwinden und Praxis erschiene als der Ort, wo sich der eigentliche Realitätskontakt kausal bemerkbar macht. Wir können nicht ontologische Sicherheit und theoretische Präzision zugleich haben. 33

Literatur Armstrong, David: Was ist ein Naturgesetz? Berlin 1983. Audretsch, Jürgen: Die sonderbare Welt der Quanten, München 2008. Bunge, Mario: Kausalität, Geschichte und Probleme, Tübingen 1987. Cartwright, Nancy: How the laws of physics lie, Oxford, 1990. Esfeld, Michael: Holismus in der Philosophie des Geistes und in der Philosophie der Physik, Frankfurt 2002. Esfeld, Michael: Einführung in die Naturphilosophie, Darmstadt 2002. Esfeld, Michael: Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, Frankfurt 2008.

P. F. Strawson, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, 161. Das entspricht dem Gegensatz zwischen Objektivität1 und Objektivität2 und erinnert nicht ohne Grund an Nancy Cartwrights Gegenläufigkeit zwischen empirischer Wahrheit und extensional bestimmter Erklärungskraft (vgl. N. Cartwright, How the laws of physics lie).

32 33

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Hans-Dieter Mutschler Esfeld, Michael/ Christian Sachse: Kausale Strukturen. Einheit und Vielfalt in der Natur und den Naturwissenschaften, Frankfurt 2010. Frank, Philipp: Das Kausalgesetz und seine Grenzen, Frankfurt 1988 (= 11932). Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften, München 1997. Keil, Geert: Handeln und Verursachen, Frankfurt 2000. Mackie, John L.: The Cement of the Universe. A Study of Causation, Oxford 1974. Meixner, Uwe: Theorie der Kausalität. Ein Leitfaden zum Kausalbegriff in zwei Teilen, Paderborn 2001. Müller, Tobias / Heinrich Watzka (Hg.): Ein Universum voller Geiststaub? Der Panpsychismus in der aktuellen Gehirn-Geist-Debatte, Paderborn 2011. Mutschler, Hans-Dieter: Naturphilosophie, Stuttgart 2002. Mutschler, Hans-Dieter: »Weshalb die Welt nicht ganz dicht ist. Zum Problem der kausalen Geschlossenheit und der mentalen Verursachung«, in: T. Müller/ T. M. Schmidt (Hg.): Ich denke, also bin ich?, Göttingen 2011, 145–159. Russell, Bertrand: Unser Wissen von der Außenwelt, Hamburg 2004 (= 11914). Russell, Bertrand: Die Analyse des Geistes, Hamburg 2006 (= 11921). Russell, Bertrand: Mystik und Logik, Stuttgart 1952. Russell, Bertrand: Das ABC der Relativitätstheorie, Frankfurt 1993 (= 11958). Stegmüller, Wolfgang: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Band I: Erklärung, Begründung, Kausalität, Berlin 21983. Strawson, Peter F.: Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, München 1994. Tetens, Holm: Experimentelle Erfahrung, Hamburg 1987. Woodward, James: Making Things Happen. A Theory of Causal Explanation, Oxford 2003. Wright, Georg H. von: Causality and Determinism, New York 1974.

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Persistenz der Lebenswelt? Das Verhältnis von Lebenswelt und Wissenschaft in der Moderne Gregor Schiemann

Das Verhältnis von Lebenswelt und Wissenschaft ist notorisch uneindeutig. Beide Ausdrücke haben zahlreiche Bedeutungen, die jeweils zu unterschiedlichen Relationen führen. Aber auch innerhalb eines begrifflichen Rahmens ergeben sich divergierende Beziehungen zwischen den beiden Erfahrungsformen. Lebenswelt kann man etwa in der Nachfolge Edmund Husserls, des wirkungsmächtigsten Lebenswelttheoretikers, als Kontrastbegriff zur Wissenschaft auffassen. Setzt man für »Wissenschaft« die Praxen und Theorien der akademischen Disziplinen, bezeichnet »Lebenswelt« den Inbegriff der vorwissenschaftlichen oder außerwissenschaftlichen Erfahrung, die sich in einer Engführung des Begriffes auf vertraute Sozialbeziehungen, selbstverständlich vollzogene Handlungsabläufe und fehlende Professionalität beschränken lässt. Demgegenüber erfordert die wissenschaftliche Arbeit, die in eine Vielzahl von Disziplinen zerfällt, eine hochentwickelte Spezialisierung. Zwar kennt die Wissenschaft ebenfalls vertraute Sozialbeziehungen, aber die Geltung ihrer Erkenntnisse darf gerade nicht von der Persönlichkeit der handelnden Personen abhängen. Auch die Handlungsroutinen der Wissenschaft stehen im Gegensatz zur Lebenswelt, da sie immer hinterfragbar bleiben. Dass zwischen diesen beiden begrifflich soweit nur vage umrissenen Erfahrungsweisen divergierende Verhältnisbestimmungen möglich sind, werde ich im ersten Teil exemplarisch an Prozessen der Verwissenschaftlichung der Lebenswelt und ihren Gegentendenzen verdeutlichen. Die kontroversen Einschätzungen reichen von Argumenten für die Nichtexistenz bzw. Beseitigung der Lebenswelt bis zu Begründungen für die Notwendigkeit ihrer Beibehaltung bzw. Wiederherstellung. Die gegensätzlichen Beurteilungen werte ich als Ausdruck einer historischen Konstellation, in der sich die Beseitigung der Lebenswelt vollziehen könnte. Um diese Situation zu erfassen und zu beurteilen, muss der Lebensweltbegriff geeignet definiert werden. Im zweiten Teil werde ich einen Ansatz für einen entsprechen181 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Gregor Schiemann

den Begriff entwickeln. Er schränkt Husserls Verständnis der Lebenswelt als Wahrnehmungswelt auf einen Erfahrungsbereich ein, dessen Grenzen ich im Rekurs auf sozialphänomenologische Kriterien von Alfred Schütz und Thomas Luckmann festlege. Im Resultat ergibt sich ein Kontext, der durch wissenschaftliche Problematisierungen seiner Welteinstellung und Handlungsvollzüge sowie durch Technisierung von Wahrnehmungsprozessen aufgehoben werden könnte. Dass man von diesem denkbaren Ende der Lebenswelt allerdings noch einigermaßen weit entfernt ist, möchte ich abschließend im dritten Teil zeigen, indem ich ihren Abstand zur Wissenschaft sowie ihr Verhältnis zur Technik diskutiere.

1.

Verwissenschaftlichung und ihre Gegentendenzen

a)

Verwissenschaftlichung der Lebenswelt

Verwissenschaftlichung meint, dass nichtwissenschaftliche durch wissenschaftliche Erfahrung verdrängt wird. Dazu kann es kommen, wenn die Wissenschaft der nichtwissenschaftlichen Erfahrung Kompetenzen entzieht oder sie zunehmend durchdringt. 1 Auf die Lebenswelt angewandt, finden sich für beide Fälle zahlreiche Beispiele. Kompetenzentziehungen haben im vergangenen Jahrhundert etwa im Bereich von Ernährung und Krankheit stattgefunden. So ist die Güte der über Handelsketten verteilten Nahrungsmittel in der Regel nicht mehr lebensweltlich, sondern nur noch mit wissenschaftlichem Sachverstand, auf den sich die VerbraucherInnen verlassen müssen, beurteilbar. Was früher noch von bäuerlichen Lebensmittelbetrieben bezogen wurde, ist heute industriell hergestellt, mit synthetischen Stoffen versetzt und mit Verpackungen überregional versandfähig gemacht. Weniger anonym ist die Kompetenzentziehung im Bereich der Krankheiten, deren Feststellung und Behandlung mehr und mehr zum Gegenstand der wissenschaftlich gestützten Medizin geworden ist. Die Schulmedizin verfügt über technische Apparate zur Analyse von Körperveränderungen (z. B. radiologische Geräte), die sich der lebensweltlichen Wahrnehmung entziehen. Die therapeutischen 1 Ich übernehme diese Unterscheidung von Mahlmann (vgl. R. Mahlmann, Psychologisierung des ›Alltagsbewußtseins‹. Die Verwissenschaftlichung des Diskurses über Ehe, 7).

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Persistenz der Lebenswelt?

Maßnahmen können meist ohne wissenschaftlichen, etwa pharmakologischen Sachverstand nicht durchgeführt werden. Der lebensweltlich verbliebene Umgang mit Krankheiten ist zugleich ein Fall von Durchdringung der Erfahrung mit wissenschaftlichem Wissen. Die Schulmedizin nimmt der Lebenswelt nicht nur die Zuständigkeit, sondern verbreitet über Krankheiten auch Erkenntnisse, die in das lebensweltliche Verständnis eingehen. Ein weiteres Beispiel für eine infiltrierende Verwissenschaftlichung ist die »Psychologisierung des Alltagsbewusstseins«, wie sie sich etwa für den Wandel der lebensweltlichen Auffassung der Ehe nachweisen lässt. 2 Mit dem 20. Jahrhundert beginnt tiefenpsychologisches Wissen über Ratgeberliteratur, die eheliche Erotik zu enttabuisieren. Ab der Mitte des vergangenen Jahrhunderts werden dann die traditionellen Rollen der Geschlechter verstärkt auch psychologisch hinterfragt, wobei die Popularisierung des Diskurses dazu beiträgt, dass Argumente auch lebensweltlich nachvollzogen werden können. Handelt es sich bei diesen Fällen der Verwissenschaftlichung um den Ausdruck einer allgemeinen Tendenz, die bereits jetzt schon zur Schwächung der Unabhängigkeit der Lebenswelt geführt hat und zukünftig vielleicht ihre Auflösung bewirken wird? Eine solche Sichtweise legt die Konzeption der Wissensgesellschaft nahe, der zufolge »wissenschaftliches und technisches Wissen […] eine größere Bedeutung als jemals zuvor« erhalten haben: 3 »Wann immer sich ein Problem stellt – Ist Fasten ungesund? Macht zuviel Fernsehen dumm? Vererbt sich schlechter Charakter? – verlassen wir uns bei dessen Lösung nicht mehr auf das Alltagswissen. Vielmehr werden Experten zu Rate gezogen, und wenn diese auch nichts wissen, wird ein Forschungsprojekt aufgelegt. Mehr noch: Eine Vielzahl von Problemen, mit denen sich die Menschen in modernen Gesellschaften beschäftigen – die Veränderung des Klimas, der Abbau der Ozonschicht, die Strahlenbelastung durch Mobiltelefone und Hochspannungsleitungen, die Übertragbarkeit der Vogelgrippe auf den Menschen – sind erst durch die Wissenschaft aufgedeckt worden.« 4

Keine lebensweltrelevante Frage wird demnach mehr ohne Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse behandelt. Von einer nichtwis2 Vgl. R. Mahlmann, Psychologisierung des »Alltagsbewußtseins«. Die Verwissenschaftlichung des Diskurses über Ehe. 3 Verlagsankündigung von Carrier et al. 2007. 4 Ebd.

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senschaftlichen Erfahrung, wie es der Begriff der Lebenswelt behauptet, kann deshalb strenggenommen gar nicht mehr gesprochen werden. Der moderne Alltag findet zudem angeblich in einer Welt statt, deren Probleme sich der sinnlichen Wahrnehmung entziehen und sich nur mit wissenschaftlichen Verfahren erkennen lassen. 5 Richtig an dieser Einschätzung ist die Feststellung des zunehmenden Einflusses der Wissenschaft auf die Lebensbedingungen und das Lebensverständnis in modernen Gesellschaften. Die Lebensbedingungen hängen fast durchgehend von einer technischen Infrastruktur ab, deren Konstruktion und Aufrechterhaltung sich entscheidend der Anwendung von wissenschaftlicher Erkenntnis verdankt. Bei Störungen dieser Technosphäre (im Verkehrswesen, in der Stromversorgung etc.) drohen die Lebensbedingungen zusammenzubrechen. Solange die Infrastruktur intakt ist, beschränkt sich allerdings der Verwissenschaftlichungseffekt im Wesentlichen auf Kompetenzentziehungen, da nur die Gebrauchsseite der technischen Einrichtungen lebensweltlich verfügbar ist und man von den Funktionsweisen der Strukturen nichts verstehen muss, um sie zu benutzen. Anders verhält es sich mit dem Lebensverständnis, das der Durchdringung durch wissenschaftliche Erfahrung ausgesetzt ist. Man kann die von der Konzeption der Wissensgesellschaft vorgebrachten Argumente zur Auflösung der Lebenswelt noch verschärfen, in dem man die explizite Kritik der Wissenschaft an der lebensweltlichen Erfahrung hinzunimmt. Die Wissenschaft bietet nicht nur Lösungen zu lebensweltlichen Fragestellungen, sie erkennt nicht nur Probleme, die sich der sinnlichen Wahrnehmung entziehen: Sie kritisiert zudem und vor allem den Geltungsanspruch des lebensweltlichen Wissens. Theorien verschiedener Disziplinen behaupten die Falschheit von in der Lebenswelt vorherrschenden Auffassungen. In der Philosophie vertritt etwa der »eliminative Materialismus« die Ansicht, dass alle (mentalistischen) Vorstellungen, die ein unabhängiges Bewusstsein voraussetzen, der Wirklichkeit nicht entsprechen und deshalb auf die Dauer nicht aufrechtzuerhalten sind. 6 Diese Ansicht trifft sich mit neurowissenschaftlichen Beschreibungen, die die lebensweltliche Selbstwahrnehmung des Handelns, insbesondere die Vgl. G. Schiemann, »Die Sprache der Natur. Über das Schicksal einer Metapher und ihre Relevanz in der Umweltdebatte«. 6 Diese Position vertritt u. a. P. Churchland, »Eliminative Materialism and the Propositional Attitudes«. 5

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Persistenz der Lebenswelt?

Vorstellung eines freien Willens für falsch und beseitigungswürdig hält. Zu einer angemessenen Beurteilung von (strafbaren) Handlungen gelange man nur, wenn man von einer Determination menschlichen Verhaltens ausgehe. 7 In der Physik behaupten Theorien, die an Albert Einsteins spezieller und allgemeiner Relativitätstheorie anknüpfen, dass das Zeiterleben, das auch für die Lebenswelt konstitutiv ist, eine Illusion darstelle. Die reale Welt kenne kein Werden, der beobachtbare Zeitfluss von der Vergangenheit in die Zukunft und der darauf bezogene Wandel sei eine subjektive Konstruktion. 8 Der wissenschaftlichen Kritik an der lebensweltlichen Erfahrung ist gemeinsam, dass sie diesen Erfahrungstypus für kontingent hält. Als der wissenschaftlich-technischen Zivilisation nicht mehr angemessen wird di e Überwindung der Lebenswelt für den künftigen kulturellen Fortschritt für notwendig gehalten.

b)

Lebensweltliche Gegentendenzen

Bevor ich auf Argumente gegen die Unvermeidlichkeit der Verwissenschaftlichung zu sprechen komme, möchte ich exemplarisch auf Gegentendenzen zur Verwissenschaftlichung hinweisen, die von der Wissensgesellschaftskonzeption nicht hinreichend gewürdigt werden, aber das eigentlich erstaunliche Phänomen einer modernen Alltagspraxis ausmachen. Bereits im Hinblick auf die erwähnten Beispiele lassen sich Einstellungen in der lebensweltlichen Praxis nachweisen, die einer nur noch über Wissenschaft und ihre Technik zugänglichen Welt zuwiderlaufen. Im Bereich der Ernährung hat das Interesse an Lebensmitteln, deren Herstellung und Verteilung für lebensweltliche Dimensionen nachvollziehbar bleiben, schon marktrelevante Ausmaße angenommen. 9 Zu denken ist hierbei an ökologisch angebaute Nahrungsmittel, bei denen lokale Erzeugungsund Vertriebsbedingungen eine Aufwertung erfahren und sinnliche Fähigkeiten zur Beurteilung vermehrt zum Einsatz kommen. Im leVgl. etwa W. Singer: »Die Nachtseite der Vernunft: Philosophische Implikationen der Hirnforschung«. 8 Vgl. M. Carrier, Raum-Zeit, 58 ff., und G. Schiemann »Physikalische und lebensweltliche Zeiterfahrung«. 9 Der Umsatzanteil von Bioprodukten an allen Lebensmitteln lag 2011 bei 3,7 Prozent. Vgl. unter: http://arbeitsweltdergeographie.com/2012/05/07/branchenuber blick-bio-lebensmittel-handel-und-konsum (aufgerufen am 22. 9. 2012). 7

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bensweltlichen Umgang mit Krankheiten hat sich trotz des wachsenden Einflusses der Schulmedizin unverkennbar eine Distanz zur objektivierenden Einstellung gehalten bzw. auf neue Weise etabliert. Davon zeugt die Verbreitung alternativer Diagnose- und Heilverfahren, 10 von denen teilweise umstritten ist, ob sie wissenschaftlichen Standards genügen, oder der sich entwickelnde Gebrauch von Patientenverfügungen, 11 mit denen der Einsatz von Apparaten und sonstigen wissenschaftlich-technischen Mitteln zur Lebensverlängerung begrenzt, wenn nicht gänzlich unterbunden werden soll. Die Macht des medizinischen Wissens hat als Gegenimpuls auch zur Aufwertung des Rechtes auf Nichtwissen in der Lebenswelt geführt. Ein Beispiel hierfür ist die präventive Gendiagnostik, mit der sich für eine Person die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von bestimmten Krankheiten berechnen lässt. Weil allein schon das Wissen um diese Angaben das Wohlbefinden im Alltag zu tangieren vermag, finden Gründe, die Lebenswelt davon frei zu halten, Anerkennung. 12 Die Psychologisierung des Alltagsbewusstseins, um zum dritten Beispiel zu kommen, hat zwar das lebensweltliche Lebensverständnis nachhaltig beeinflusst, bildet aber keinesfalls die alleinige Ressource zur Einschätzung sozialer Beziehungen und Konflikte. Gegentendenzen zur Verwissenschaftlichung sind, wie schon diese wenigen Beispiele andeuten, reichlich unterschiedlich motiviert. Wo die Lebenswelt von der in ihren Erfahrungsbereich einbrechenden Wissenschaftlichkeit in beachtlichem Maß unbeeindruckt bleibt, kann sie sich auf ihre historisch weit zurückliegenden, mitunter bis in die Antike reichenden Ursprünge stützen. Bereits in den Schriften des Aristoteles finden sich Begrifflichkeiten, die noch heute zur Beschreibung der Lebensweltstrukturen verwendet werden können. 13 Wo bestimmte Formen der Verwissenschaftlichung auf Kritik stoßen, kann es – gleichsam der Verwissenschaftlichung zum Trotz – um die Verteidigung des Herkömmlichen, aber auch um die Einsicht in die Über die Verbreitung alternativer Diagnose- und Heilverfahren unterrichtet G. Marstedt, »Alternative Medizin: Eine Bilanz aus Patientensicht«. 11 Vergleiche die Statistik des Zentralen Vorsorgeregisters der Bundesnotarkammer auf: http://www.vorsorgeregister.de/Presse/Statistik/index.php (aufgerufen am 22. 9. 2014). 12 Vgl. P. Wehling, Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens, 313 ff. 13 Vgl. G. Schiemann, Natur, Technik, Geist. Kontexte der Natur nach Aristoteles und Descartes in lebensweltlicher und subjektiver Erfahrung,. 153 f. 10

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Notwendigkeit eines Wandels gehen. Im lebensweltlichen Interesse an ökologischen Nahrungsmitteln mag sich etwa ebenso der Wunsch nach Wiederherstellung traditioneller Herstellungs- und Verteilungsformen reflektieren wie auch das Bestreben ausdrücken, unter den Bedingungen des Lebens in technischen Umwelten eine Versorgung zu schaffen, die an den Erfahrungshorizont der Lebenswelt anschließbar bleibt, ohne dabei generell auf den Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse verzichten zu müssen. Kann man die Gegentendenzen trotz der Vielfalt ihrer Beweggründe als Teil einer übergreifenden Strömung auffassen, die der Verwissenschaftlichung der Lebenswelt zuwiderläuft? Einige Argumente von Hans Blumenbergs postum veröffentlichter Theorie der Lebenswelt sprechen für Strukturen der Lebenswelt, durch die sie ihre Distanz zur Wissenschaft auch unter den Bedingungen einer zunehmenden Verwissenschaftlichung aufrechterhält. Blumenberg entwickelt seinen Lebensweltbegriff in der Tradition von Husserls Phänomenologie als einer nichtwissenschaftlichen, das heißt »einer theoretischen Verarbeitung von Erfahrung nicht benötigenden Sphäre«. 14 Lebenswelt bezeichne einen von Ungewissheit und Zweifel freien Bereich, »in [dem] es sich leben läßt« 15 und auf deren Herstellung kulturelle Systeme »tendieren«. 16 Die notwendige »Abschirmung« 17 dieses theoriefreien Bereiches nicht nur gegen die wissenschaftliche Erkenntnis, sondern gegen jede Problematisierung des selbstverständlichen Weltverhaltens beschreibt Blumenberg allerdings als gegenläufigen Prozess. Jede Störung an den Grenzen der Lebenswelt aktiviere innerhalb der Lebenswelt eine latent vorhandene Neugierde, die über die Grenzen heraustreibe, zur Auflösung der Lebenswelt beitrage und in wissenschaftlicher Erkenntnis Erfüllung finde. 18 Zugleich arbeite die Wissenschaft umgekehrt daran, die Lebenswelt von Störungen freizuhalten, da sie für die Sicherheit der Lebensbedingungen sorge. 19 Dass hierbei der Tendenz zur Auflösung der Lebenswelt entgegengewirkt wird, führt Blumenberg auf die lebensweltliche Strategie der Delegation zurück. 20 Indem die Aufklärung der Ursachen von 14 15 16 17 18 19 20

H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 55. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 49. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 59. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 103. Vgl. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt,103 f. Vgl. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 56 ff. Vgl. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 139, 151 ff.

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Störungen außerhalb der Lebenswelt stattfinde, werde ihre Thematisierung lebensweltangemessen reduziert. In einer von Wissenschaft dominierten Kultur hat die Lebenswelt in Blumenbergs Theorie einen Inselcharakter, da sie eine begrenzte, gegen andere Erfahrung abgeschottete Welt ist. 21 Blumenberg bestreitet nicht die zunehmende Verwissenschaftlichung der modernen Gesellschaft und die dadurch bewirkte Bedrohung der Lebenswelt. Aber er macht in diesem Prozess auf Strukturen aufmerksam, die der Gefährdung der Lebenswelt entgegengerichtet sind, oder, wo schon ihr »Verlust« eingetreten ist, ihre »Wiederherstellung« begünstigen. 22 Indem sein Vokabular von »Verlust« und »Wiederherstellung« die Lebenswelt als historisch kontingente Erfahrungsweise unterstellt, berührt sich seine Theorie mit der wissenschaftlichen Kritik der Lebenswelterfahrung. Blumenbergs Lebensweltbegriff ist jedoch uneindeutig, da er den Ausdruck »Lebenswelt« auch für einen »transzendentalen Begriff« hält, der »nie […] etwas in der Zeit Datierbares und etwa im Raum bestimmter Kulturen Lokalisierbares« bezeichne. 23

c)

Gleichrangigkeit der beiden Tendenzen

Unabhängig von diesen begrifflichen Unstimmigkeiten kann man Blumenbergs Theorie als eine Gegenposition zur wissenschaftlichen Kritik der Lebenswelt auffassen. Beide bestimmen die Lebenswelt als eine nichtwissenschaftliche Erfahrung, die über keine andere spezielle Sachkompetenz verfügt. Während die Verwissenschaftlichungsbefürworter die Lebenswelt tendenziell als eine überholte und, wenn überhaupt noch vorhandene, dann zu beseitigende Lebensform ansehen, finden sich bei Blumenberg Argumente für die Möglichkeit ihrer Beibehaltung beziehungsweise Wiederherstellung. Während jene eine an Wissenschaft orientierte Veränderungsdynamik verfechten, steht dieser für eine der Lebenswelttradition verpflichtete »konservative« Position. 24 Wenn allerdings die Lebensweltinsel in der Wissensgesellschaft bestehen will, muss sie – vor allem durch Ausbau 21 22 23 24

Vgl. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 50 f. Vgl. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 59. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 79. Vgl. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 64.

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Persistenz der Lebenswelt?

ihres delegativen Verfahrens – ihre Strukturen als Antwort auf die veränderten Verhältnisse modifizieren. Auch Blumenbergs Position spricht für die Notwendigkeit der Transformation der Lebensweltstrukturen. Schon der Wandel einer Erfahrungsweise, die sich – mit Blumenberg zu sprechen – »über Jahrzehntausende hindurch weitgehend konstant gehalten« hat, 25 könnte von einschneidender Bedeutung sein. Von diesen Veränderungen müssen kategorial die möglichen Folgen eines Verlustes der Lebenswelt abgehoben werden. Lässt es sich heute noch gut leben, ohne ein näheres Verständnis für die Resultate der Wissenschaften zu haben, würde in einer Welt ohne Lebenswelt jede Lebensentscheidung, und sei sie auch noch so alltäglich, auf dieses Wissen angewiesen sein. Die divergierenden Bestimmungsmöglichkeiten des heutigen und zukünftigen Verhältnisses von Lebenswelt und Wissenschaft werte ich als Ausdruck eines kulturellen Umwälzungsprozesses, bei dem die Existenz der Lebenswelt auf dem Spiel steht. Sowohl ihre Beseitigung als auch ihre Transformation stellen ernstzunehmende Zukunftsszenarien dar. Stützen sich die Kritiker der Lebenswelt auf den bereits erreichten Grad der Verwissenschaftlichung, so können sich ihre Verteidiger auf die zugleich bestehenden Gegentendenzen berufen. In dieser Situation kommt der Bestimmung des Lebensweltbegriffes besondere Bedeutung zu. Sollte die Lebenswelt an ein Ende kommen, wäre dieser tiefgreifende kulturelle Einschnitt nur unter der Voraussetzung einer hinreichend präzisen Begrifflichkeit zu beobachten und zu beurteilen. Um ein Maß für den Wandel zu haben, muss sich der Begriff am Ausgangspunkt des Prozesses, das heißt an den bisherigen Formen der Lebenswelt, orientieren. Ihre Definition sollte kontingente Welteinstellungen und Handlungsweisen umfassen, deren Beseitigung heute bereits vorstellbar ist. Ich möchte im Folgenden einen Ansatz für einen Lebensweltbegriff entwickeln, der dieser Bedingung genügt, indem er hinreichend weit ist, um die Pluralität der existierenden Lebenswelten zu erfassen, und hinreichend eng ist, um ihre Gemeinsamkeiten gegen andere Erfahrungstypen abgrenzen zu können. Er nimmt traditionelle, auf die Antike zurückweisende Bestimmungen auf, präsentiert sich aber bereits als Resultat des modernen Ausdifferenzierungsprozesses der Erfahrung.

25

H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 125.

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2.

Lebenswelt als begrenzter Erfahrungsbereich

Der von mir vorausgesetzte Lebensweltbegriff grenzt sich gegen die Wissenschaft unter anderem durch Sinnlichkeit, Unmittelbarkeit und Selbstverständlichkeit der Erfahrung ab. Für eine Bestimmung dieser Eigenschaften stütze ich mich auf Husserls Begriff der Lebenswelt als Wahrnehmungswelt. Beschränkte man die Definition der Lebenswelt jedoch allein auf ihre Differenz zur Wissenschaft, liefe man Gefahr, mit dem Begriff uneinlösbare Fundierungsansprüche zu verbinden. Lebenswelt war für Husserl nicht nur das »vergessene Sinnfundament der Naturwissenschaften« 26, sondern »die alles Seiende und alle Allheiten wie all ihre Zwecke und bezweckenden Menschen und Menschenleben« umspannende Welt. 27 In diesem umfassenden Sinn weitet sich der Begriff auf eine Pluralität von Erfahrungen aus, die Fachwissen oder spezielle Praktiken innerhalb und jenseits der Wissenschaften umfassen. Um eine hinreichende Engführung zu erreichen, hatte ich schon die Bedingungen der vertrauten Sozialbeziehungen und fehlenden Professionalität genannt. Ihre Charakterisierung entnehme ich der Sozialphänomenologie von Alfred Schütz. Mit ihrer Schichtenlehre der Alltagserfahrung bietet sie die Möglichkeit, die Lebenswelt auf einen beschränkten sozialen Kontext festzulegen, der durch zunehmende Verwissenschaftlichung und Technisierung beseitigt werden könnte. Allerdings erhebt auch Schütz einen Fundierungsanspruch, wenn er die Lebenswelt als »oberste oder ausgezeichnete Wirklichkeit«, »Archetyp unserer Erfahrung der Wirklichkeit […, aus der] alle anderen Sinnbereiche […] als von ihr abgeleitet angesehen werden« dürfen, bezeichnet. 28 Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, lässt sich Schütz’ Konzeption korrigieren, so dass das Element der Vielfalt gestärkt und die Sonderstellung der Lebenswelt beseitigt wird. Die Lebenswelt bezeichnet dann keine kultur- oder naturumfassende Kategorie mehr, sondern referiert nur auf einen Wirklichkeitsausschnitt, der von anderen, geltungstheoretisch gleichrangigen Erfahrungsbereichen unterschieden ist. 29 E. Husserl, Gesammelte Werke (Husserliana), Bd. VI, 48. E. Husserl, Gesammelte Werke (Husserliana), Bd. VI, 460. 28 A. Schütz / T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt. Bd. 1, 264 und 267. 29 Vgl. G. Schiemann, »Rationalität und Erfahrung. Ansatz einer Neubeschreibung von Alfred Schütz’ Konzeption der ›Erkenntnisstile‹«, und »One cognitive style among others. Towards a phenomenology of the lifeworld and of other experiences«. 26 27

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a)

Wahrnehmung

Ich erläutere zunächst den an Husserl angelehnten Begriff der Wahrnehmung. Nach Husserl ist die Lebenswelt »Wahrnehmungswelt«, weil sie in ihrem Sein selbstverständlich hingenommene Welt ist. 30 Wo Reflexion über Erfahrung oder Erkenntnis nicht statt hat, dominiert das Zeugnis der Wahrnehmung. »Wahrnehmung« meint ausschließlich den »Modus der Selbstgegenwart« eines Erscheinenden, im Unterschied zur erinnernden oder antizipierenden Anschauung des aktuell Abwesenden. 31 Diese »originär gebend[e]« Erfahrung richtet sich »auf bloße Körperlichkeit«. 32 »Durch Sehen, Tasten, Hören usw., in den verschiedenen Weisen sinnlicher Wahrnehmung sind körperliche Dinge in irgendeiner räumlichen Verteilung für mich einfach da«. 33 Damit umfasst die Lebenswelt die im sichtbaren Umkreis eines Subjektes gegenwärtigen und als Zeichen auf Anderes verweisenden Dinge. Im erweiterten Sinn erstreckt sie sich auch auf gerade nicht sichtbare, verdeckte oder abwesende Körper, die aber »bewusstseinsmäßig« präsent sind. 34 Husserl wendet seine Konzeption nicht nur auf die »Sachenwelt« an. Dieselbe Welt sei »in derselben Unmittelbarkeit als Wertewelt, Güterwelt, praktische Welt« vorhanden. 35 Lebensweltlich erscheinen die Körper nicht unabhängig von ihren kulturellen, sozialen und praktischen Bewertungen, denen umgekehrt aber dort auch keine selbständige Existenz zukommt: »Damit etwas als brauchbar schön, furchtbar, abschreckend, anziehend oder was immer gegeben sein kann, muß es irgendwie sinnlich erfaßbar anwesend sein«. 36 Auch die Wahrnehmung von Bedeutungen setzt die Wahrnehmung des Körperlichen voraus, 37 weshalb Lebenswelt auch als soziokulturell verfasste primär Wahrnehmungswelt bleibt. 30 Vgl. E. Husserl, Gesammelte Werke (Husserliana), Band VI, 49 f., 171, und Bd. IX, 58 u. ö. 31 Vgl. E. Husserl, Gesammelte Werke (Husserliana), Band VI, 107 – im Orig. teilw. hervorgeh. 32 E. Husserl, Erfahrung und Urteil, 54 f. 33 E. Husserl, Gesammelte Werke (Husserliana), Band III, 57 – im Orig. teilw. hervorgeh. 34 E. Husserl, Gesammelte Werke (Husserliana), Band III, 57 f. 35 E. Husserl, Gesammelte Werke (Husserliana), Band III, 59 – im Orig. teilw. hervorgeh. 36 E. Husserl, Erfahrung und Urteil, 53. 37 E. Husserl, Erfahrung und Urteil, 55.

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b)

Aufschichtungen

Ich verstehe die Lebenswelt als eine auf die Leistungen der äußeren Wahrnehmung gegründete Erfahrungsweise. Ihre Strukturen haben Schütz und Luckmann als »Aufschichtungen« konzeptualisiert. Diese Modellvorstellung verwende ich, um die Reichweite des Geltungsanspruches der von Husserl, Schütz und Luckmann übernommenen Bestimmungen der Lebenswelt zu limitieren und damit Raum für die Berücksichtigung erfahrungsdifferenter Kontexte zu schaffen. Die räumliche Aufschichtung präzisiert die in der Lebenswelt vorherrschende Spontaneität des direkten Handelns, dem in einer Wahrnehmungswelt oberste Bedeutung zukommt. Im Zentrum steht der Ort der leiblichen Anwesenheit der lebensweltlich eingestellten Personen. Die Reichweite ihrer direkten Handlungen spannt die »primäre Wirkzone« auf. In ihr befinden sich alle Dinge und Personen, auf die sie (in der ein gewisses Zeitintervall umfassenden Gegenwart) allein durch die Bewegung ihres Leibes körperlich einwirken können. Dazu gehört auch die Bedienung von technischem Gerät (Werkzeuge, Fortbewegungsmittel usw.). Ein »sekundärer« Bereich der Wirkzone berücksichtigt die durch technische Hilfsmittel zustande gebrachten Veränderungen an Körpern, die sich nicht in der primären Zone befinden. Die primäre Wirkzone fällt ganz und die sekundäre teilweise in die Sphäre der wahrnehmbaren Dinge, die »Welt der aktuellen Reichweite«. Nach außen grenzt sich die Lebenswelt von der »Welt in potentieller Reichweite« ab, die ihre vergangenen und zukünftigen, das heißt nicht anwesenden Gegenstände umfasst. 38 Äußerst komplex sind die von Schütz und Luckmann untersuchten zeitlichen Strukturen der Lebenswelt, die sie gegenüber anderen geschlossenen Sinnbereichen durch das Zusammenfließen ansonsten getrennter Zeitformen auszeichnen. 39 In ihren Grundzügen impliziert die räumliche aber bereits die zeitliche Aufschichtung: Die Gegenwart spielt sich hauptsächlich in der Welt der aktuellen Reichweite ab; vergangene und zukünftige Ereignisse sowie (gemeinsame) Erlebnisse machen die Welt in potentieller Reichweite aus. Schließlich thematisiert die

A. Schütz / T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt. Bd. 1, 63 ff. Vgl. G. Schiemann, »Zweierlei Raum. Über die Differenz von lebensweltlichen und physikalischen Vorstellungen«. 39 A. Schütz / T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, 73 ff. Vgl. G. Schiemann, »Physikalische und lebensweltliche Zeiterfahrung«. 38

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soziale Aufschichtung eine nach Graden der Anonymität vorgenommene Differenzierung der Sozialerfahrung. Anonymität verhält sich umgekehrt proportional zur Unmittelbarkeit der Erfahrung, wobei keine Sozialerfahrung so unmittelbar ist, dass sie ohne die Anwendung anonymer Bestimmungen auskäme. Indem Anonymität die Bildung und Benutzung von Typen zur Identifikation von Personen (»unser Briefträger Herr Martin«, »ein Volksfeind« usw.) bezeichnet, betrifft sie Handlungsaspekte weniger in der primären Wirkzone als in der potentiellen Reichweite. Sie liefert Bestimmungen, nach denen man, jedenfalls näherungsweise, Menschen, die man zu seiner, mit ihnen geteilten Lebenswelt rechnet, von denen unterscheidet, die nicht dazugehören, aber dennoch in ihr auftreten. 40 Als Wahrnehmungswelt von gemeinsam handelnden Personen hat die Lebenswelt in sozialphänomenologischer Hinsicht lokalen Charakter. Die Mitglieder der Lebenswelt können ihren vertrauten Sozialraum, in dem sie sich mehr oder weniger aufmerksam aufhalten, verlassen, aber auch wieder betreten. Man kennt die Objekte und Personen seiner Lebenswelt in ihren individuellen Ausprägungen. Sie halten sich als solche in der Erinnerung, wenn sie abwesend sind oder man sich selbst außerhalb der Lebenswelt befindet (Traum, Phantasie, Öffentlichkeit, Berufswelt usw.). In abgestuften Graden der Bekanntheit lagern sich andere Erfahrungsräume um die Lebenswelt und überschneiden sich teilweise mit ihr. Personen, die aus diesen Räumen kommend in der Lebenswelt auftreten, bleiben von ihr zunächst unterschieden. Da alles, was zur Lebenswelt gehört, wahrnehmbar sein muss, ist ihr zeitlicher Modus wesentlich die Gegenwart; aus vergangener Erfahrung stammt das die gegenwärtigen Wahrnehmungsleistungen mitermöglichende und Handlungen orientierende Hintergrundwissen; in die Zukunft reichen die Wünsche, Erwartungen, Handlungsplanungen.

c) Kontingenz Menschliches Leben ist nicht konstitutiv auf die Lebenswelt im hier definierten Sinn angewiesen. Wahrnehmungsvollzüge könnten etwa nach dem Muster der ästhetischen Erfahrung einer fortgesetzten Vgl. G. Schiemann: Natur, Technik, Geist. Kontexte der Natur nach Aristoteles und Descartes in lebensweltlicher und subjektiver Erfahrung, 116 ff.

40

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Thematisierung und Problematisierung unterzogen werden. 41 Oder sie könnten Gegenstand einer durchgreifenden Technisierung sein, wie es sich ansatzweise bei elektronischen Kommunikationsformen, die nicht auf leibliche Anwesenheit angewiesen sind, beobachten lässt. Die Technik des Telefonierens erlaubt etwa die Kommunikation über die Grenzen einer gegenwärtig wahrnehmbaren Welt hinweg. Wo sich vertraute soziale Beziehungen hauptsächlich auf derartig entgrenzte Kommunikationsformen gründen, können sie nicht mehr als lebensweltlich bezeichnet werden. Seit jeher haben freilich Mittel zur Verfügung gestanden, um direktes Handeln in der Lebenswelt jenseits ihres Horizontes wirksam werden zu lassen. Ein Beispiel hierfür wäre ein über weite Entfernungen und lange Zeiträume geführter Briefwechsel, der die Beteiligten in eine lebensweltähnliche Beziehung bringt. Wenn aber kommunikative Überschreitungen und Aufhebungen der Lebensweltgrenzen zur gesellschaftlichen Normalität werden, bedrohen sie die Existenz der Lebenswelt.

3.

Persistenz der Lebenswelt

Die begriffliche Bestimmung der Lebenswelt als begrenzter Erfahrungsraum erlaubt nicht nur, Konkretisierungen ihrer historischen Kontingenz vorzunehmen. Sie bietet auch Erklärungen für ihre erstaunliche Beständigkeit in zunehmend verwissenschaftlichten und technisierten Umwelten, wofür ich abschließend einige Belege anführen möchte.

a)

Abstand zur Wissenschaft

Ihr nichtprofessioneller und unthematischer Charakter bringt die Lebenswelt in einen allenfalls partiell überbrückbaren Abstand zur Wissenschaft. Steht Wissenschaft schon als institutionalisierte Problematisierung aller Selbstverständlichkeit im Gegensatz zur Lebenswelt, so verschärft sich die Differenz noch durch den fortgesetzten Ausbau ihrer Spezifität. Wissenschaftliche Ausbildung und For-

Zur Ästhetisierung der Lebenswelt siehe R. Bubner, »Ästhetisierung der Lebenswelt«.

41

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schung finden ausschließlich noch in besonderen Institutionen statt. Die Ausbildung erfordert eine jahrelange Konzentration auf ein Spezialgebiet, womit eine Kompetenz erworben wird, die schon für Mitglieder anderer Disziplinen und erst recht für nicht akademisch gebildete Personen uneinholbar ist. Die Differenz von Spezialwissen und einer von jedermann erwart- oder erlernbaren Alltagskompetenz ist durch die Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus und die Verbreitung der wissenschaftlichen Ausbildung kaum relativiert worden. 42 Zwar verfügen wissenschaftliche Erkenntnisse über eine hohe gesellschaftliche Anerkennung und finden verstärkt Eingang in das lebensweltliche Selbst – und Weltverständnis – nicht zuletzt weil sie die lebensweltliche Erfahrung praxisbezogen durchdringen, wie am Beispiel der Medizin und Psychologie gezeigt. Zugleich ist aber auf den kulturellen Bedeutungsverlust hinzuweisen, den die Geltung wissenschaftlicher Erkenntnisansprüche seit dem 19. Jahrhundert erlitten hat. Die wissenschaftlichen Theorien haben – wie Hermann Lübbe überzeugend dargelegt hat – in den aufgeklärten Öffentlichkeiten des 20. Jahrhunderts ihren ehemals weltanschaulich aufgeladenen Sensationswert verloren. 43 Zu den letzten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die noch zur Erschütterung weltanschaulicher Orientierungsmuster geführt haben, gehört die Darwin’sche Evolutionstheorie und gehören vielleicht auch die Revolutionen der modernen Physik. Was heute jedoch die Neurowissenschaften über den freien Willen, die Biologie und die Verhaltenswissenschaften über den genetischen Code oder die Physik über die unerforschten Weiten des Universums berichten, nimmt die Lebenswelt mit Respekt, aber distanziertem Interesse zur Kenntnis. Die wissenschaftliche Erkenntnis hat neben ihrem Bildungs- vor allem Unterhaltungswert erhalten und muss sich im Spektrum des allgemeinen Medienangebotes bewähren.

Die Relativierung der Differenz halten Nowotny, Gibbons und Scott für ein Kennzeichen von modernen Wissensgesellschaften in dem von ihnen sogenannten »Mode2«. Vgl. H. Nowotny / P. Scott / M. Gibbons, Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewissheit. 43 H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung. 42

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b) Verhältnis zur Technik Ich hatte bereits Blumenbergs These von der lebensweltlichen Strategie der Delegation erwähnt. Die zur wissenschaftlichen Erkenntnis führende Neugierde wird demnach an Institutionen außerhalb der Lebenswelt delegiert, um Störungen der selbstverständlichen Handlungs- und Wahrnehmungsabläufe innerhalb der Lebenswelt zu vermeiden. Dass theoretisches Wissen dennoch in die Lebenswelt vordringt, führt Blumenberg mit auf Technisierungen zurück, die naturwissenschaftliches Wissen anwenden. Technisierung nennt er »die ständige Vermehrung und Verdichtung« einer Dingwelt aus Apparaten, Instrumenten, Schaltern, Signalen etc. 44 Sie gilt neben der Verwissenschaftlichung als wesentliche Quelle für die Präsenz der Wissenschaften in der Lebenswelt. 45 Auch für Technisierungen kann Blumenberg zeigen, dass die Verbreitung des ihnen zugrunde liegenden Wissens begrenzt bleibt. Sein Paradigma ist die Ersetzung der mechanischen durch elektrische Türklingeln. Während bei den mechanischen Vorrichtungen (Zug- und Drehklingeln) die Betätigung in einem sinnlich nachvollziehbaren Zusammenhang mit dem Effekt stehe, werde die Wirkung durch das Drücken des Knopfes der elektrischen Klingel nur noch ausgelöst. »In einer Welt, die immer mehr durch Auslösefunktionen gekennzeichnet ist« oder, wie ich es formulieren möchte, zur Knopfdruckwelt mutiert, verbergen sich die Funktionsweisen hinter den Gehäusen, wird das Technische und mit ihm seine wissenschaftlichen Voraussetzungen unsichtbar. 46 Indem die stets schon fertige Welt des Technischen alle Fragen abweist, ermöglicht sie »die Umkleidung des künstlichen Produktes mit Selbstverständlichkeit«. 47 Selbstverständliche Handlungsvollzüge im Bereich des Wahrnehmbaren sind es aber gerade, durch die sich die Lebenswelt gegenüber anderen Erfahrungsweisen auszeichnet. Bei Blumenberg bleibt unberücksichtigt, dass die Herausbildung der Knopfdruckwelt auch ganz dem lebensweltlichen Gewicht der äußeren Wahrnehmung entspricht, die sich überhaupt nur mit Oberflächen zufrieden gibt. Die Unsichtbarkeit des Technischen, die auch als ihr Blackbox-Charakter bezeichnet wird, trägt dazu bei, den mit Tech44 45 46 47

Vgl. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 185. Vgl. K. Jakob, »Fachsprachliche Phänomene der Alltagskommunikation«. Vgl. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 210 f. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 211.

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nisierungen verbundenen Einfluss auf das menschliche Selbstverständnis in Grenzen zu halten. So wie das Innere der Mitmenschen in aller Regel lebensweltlich unthematisch bleibt, soll auch das Innere der Technik nicht in den Blick kommen. Blumenberg weist aber auch darauf hin, dass Technik lebensweltliche Handlungen uniformiert und sich diese als »eine abhängige Größe zuordnet«. 48 Die wachsende Abhängigkeit von wissenschaftlich-technischen Verfahren, die die Lebenswelt in der Moderne mit nahezu allen anderen Erfahrungsbereichen teilt, ist jedoch nur im Störungsfall thematisch, gegen den keine anderen als delegative Vorkehrungen getroffen werden können. Die in der Lebenswelt zum Einsatz kommenden Geräte können schon bei kleinen Mängeln meist nicht mehr ohne (externen) Sachverstand repariert werden. Um Störungsmöglichkeiten systematisch auszuschalten, sind die Geräte der modernen Technik zunehmend so organisiert, dass die Möglichkeit von fehlerhaften Handhabungen minimiert ist und durch sie kaum ein Schaden entstehen kann. Die »idiotensichere« Technik steht in bezeichnendem Kontrast zur Komplexität ihrer Funktionsweisen. So wenig man von den technischen Funktionsweisen verstehen muss, so wenig muss man sich für die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die den Funktionsweisen zugrunde liegen, interessieren. Weniger als Technisierung der Lebenswelt denn als durch Technik ermöglicht ist der beträchtliche Fernsehkonsum und die wachsende Internetnutzung zu verstehen. Sie unterbrechen die lebensweltliche Erfahrung und zerstören diese bei hinreichender Intensität und Dauer, haben aber den fundierenden Charakter der sinnlichen Unmittelbarkeit bisher nicht soweit aufgehoben, dass der Lebensweltbegriff seinen Gegenstand verloren hätte. So verbringen in Deutschland Kinder im Alter von sechs bis dreizehn Jahren durchschnittlich zwar fast zwei Stunden mit elektronischen Medien, meist sind dabei aber andere Mitglieder der Lebenswelt zugegen. 49 Die Nutzung der elektronischen Medien steht generell in Wechselwirkung mit anderen, immer noch bedeutsamen alltagspraktischen Tätigkeiten, in denen die Mitglieder der Lebenswelt lokale Sozialität praktizieren wie bei der Haushaltsführung, Familienpflege, Wahrnehmung privater Kontakte, sportlichen Betätigung etc. Ebd. Für den begrenzten Einfluss von Fernsehkonsum und Internetnutzung vgl. M. Dornes, Die Modernisierung der Seele, 27.

48 49

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4.

Schluss

Die Tendenzen zur Aufhebung der Lebenswelt und die dagegen gerichteten Tendenzen zu ihrer Beharrung oder Transformation habe ich als gleichrangig eingeführt. Beide bieten Zukunftsszenarien, von denen heute nicht entschieden werden kann, ob sie eintreten werden und, wenn ja, welche von ihnen dominieren wird. Es handelt sich um Hypothesen, die sich als Extreme gegenüberstehen, zwischen denen eine Vielzahl von alternativen Entwicklungsmöglichkeiten besteht und die als Abstraktionen andere Einflussfaktoren auf den historischen Wandel der Lebenswelt unberücksichtigt lassen. Die äußerste Konsequenz der sich beschleunigenden Verwissenschaftlichungsund Technisierungsprozesse ist die Beseitigung der Lebenswelt. Insofern es sich um eine Lebensform handelt, die auf die antike Formierung der europäischen Kultur zurückgeht, wären die Folgen einer solchen Umwälzung nicht absehbar. Das weitreichendste Resultat, das die Beharrungs- und Transformationstendenz erreichen könnte, wäre eine Lebenswelt, die an ihre noch bestehenden Traditionslinien anknüpfen würde. Vermutlich würde dann der Inselcharakter der Lebenswelt gegen eine zunehmend technische Umwelt hervortreten. 50 Ich habe den Argumenten für die Existenz der Lebenswelt mehr Raum gelassen als denen für ihre Auflösung, da die ersteren als das eigentlich erstaunliche Phänomen der Moderne nach Erklärung verlangen. Zudem scheint mir die Dynamik der Verwissenschaftlichung und Technisierung mit einer Armut für Alternativen für die von ihr beseitigten lebensweltlichen Lebensformen versehen zu sein. Gegenüber der ersatzlosen Destruktion des lange Bewährten ist man zunächst gut beraten, für seine Fortexistenz zu argumentieren. Kulturelle Veränderungsprozesse bringen mit neuen Lebensformen auch neue Begrifflichkeiten ihrer Beschreibung hervor. Solange dies aber noch nicht der Fall ist, sollte an den gut erprobten und brauchbaren Begriffen, zu denen die Lebenswelt gewiss noch zu rechnen ist, solange es nur geht, festgehalten werden.

Den beiden Zukunftsszenarien entspricht im Verhältnis von Natur und Technik eine Aufhebung oder eine Aufrechterhaltung der Differenz von Natur und Technik. Vgl. G. Schieman, »Die Relevanz nichttechnischer Natur. Aristoteles’ Natur-TechnikDifferenz in der Moderne«.

50

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Wissenschaft, Philosophie und die Geschichte des Wissens Husserls Konzept der Lebenswelt und Sellars’ Idee der synoptischen Vision von manifestem und wissenschaftlichem Weltbild 1 Michael Hampe Zusammenfassung Sowohl Husserl als auch Sellars verfolgen ein ehrgeiziges philosophisches Programm: Beide betrachten die Philosophie als die wesentliche kulturelle Kraft. Die Philosophie hat für sie einen historischen Auftrag, und dieser Auftrag ist nicht durch ein moralisches oder politisches Ziel definiert, sondern durch eine theoretische oder epistemische Aufgabe. Philosophie hat die Einheit und Transparenz des menschlichen Wissens hervorzubringen. Die epistemischen Ideale von Einheit und Transparenz sind alt und wurden als erstes bei Descartes formuliert. Im Folgenden werde ich erörtern, wie sowohl Husserl als auch Sellars mit Hilfe einer bestimmten Art der Wissensgeschichte diese Ideale verwirklichen wollen. Ihre Auffassungen sind vergleichbar, denn beide arbeiten mit ähnlichen begrifflichen Dichotomien, um den Unterschied zwischen wissenschaftlichem und nichtwissenschaftlichem Wissen zu charakterisieren. Im zweiten Teil meines Aufsatzes werde ich diese Versuche einer Kritik unterziehen, da sie der Komplexität des sozialen und emotionalen Hintergrunds nicht gerecht werden, vor dem sich Wissen entwickelt.

Dieser Text basiert auf einer leicht veränderten Version von Michael Hampe, »Science, Philosophy, and the History of Knowledge: Husserl’s Conception of a Lifeworld and Sellar’s Idea of a Synoptic Vision of a Manifest and a Scientific Image«, in: D. Hyder / H.-J. Rheinberger (Hg.), Science and the Life-World. Essays on Husserl’s Crisis of the European Sciences, 150–164 (übersetzt von Claudia Brede-Konermann).

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Michael Hampe

1.

Einleitung

Die philosophischen Leistungen sowohl Husserls als auch Sellars sind außerordentlich bedeutsam. Husserls philosophisches Werk, die Phänomenologie, wurde zu einer der einflussreichsten intellektuellen Traditionen des 20. Jahrhunderts in der Philosophie, der Soziologie und der Kulturanthropologie und bildete den Ausgangspunkt philosophischer Schulen wie der des Existentialismus. Die Kraft der Sellars’schen Adaption der Philosophie des späten Wittgenstein ist gerade eben erst in der inferentiellen Semantik von Robert Brandom deutlich geworden. Ich werde mich jedoch im Folgenden nicht mit diesen offenkundigen Verdiensten des Denkens von Husserl und Sellars befassen, sondern mit einem Problem, das eher am Rand ihrer Werke zu liegen scheint. Die besondere Leistung von Husserl und Sellars besteht darin, gesehen zu haben, dass Tatsachen und Werte, Objektivität und Subjektivität für eine »vollständige« Weltsicht zusammengeführt werden müssen. Diese Erkenntnis ist heute insbesondere im Neopragmatismus von Putnam gegenwärtig. Husserl und Sellars haben jedoch auch erkannt, dass eine Spannung, ein Konflikt existiert zwischen unserer Suche nach Fakten und Objektivität sowie unserem Wunsch, Werte und subjektive Perspektiven zu verstehen. Sie haben die Seiten kenntlich gemacht, die diese Spannung hervorrufen: »das manifeste Weltbild« und »das wissenschaftliche Weltbild« (Sellars) sowie die »Galileische Wissenschaft« und »die Lebenswelt« (Husserl). Beide waren sich der Konflikte der modernen westlichen Kultur vermutlich deutlicher bewusst als einige Neopragmatisten. Im vorliegenden Aufsatz wird ihre Sichtweise der Schwierigkeit, wissenschaftliches und nicht-wissenschaftliches Wissen aufeinander zu beziehen, nicht nur analysiert, sondern auch als noch zu einfach kritisiert. Diese Kritik soll nicht destruktiv sein. Obgleich Husserls und Sellars Diagnose im allgemeinen richtig ist, muss sie sowohl differenziert als auch mit einer bescheideneren Sichtweise der kulturellen Möglichkeiten von philosophischen Texten verbunden werden, um zu einer Art »Therapie« führen zu können.

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Wissenschaft, Philosophie und die Geschichte des Wissens

2.

Galileische Wissenschaft, Lebenswelt, manifestes und wissenschaftliches Weltbild

Husserl und Sellars konstatieren die fehlende Einheit und die Undurchsichtigkeit im Wissen ihrer jeweiligen Zeit: Fehlende Einheit zwischen einer Wissenschaft, die sich mit Tatsachen befasst, und dem »Anspruch der Vernunft«, wie Husserl es nennt, in dem sich Werte und Bedeutung finden sollen. Nach Husserl ist es die ureigenste Aufgabe der Philosophie, Tatsachen mit Idealen, Werten und Bedeutung zu verbinden (»Sinn«). 2 In ganz ähnlichem Geist schreibt Wilfrid Sellars in seiner »Introduction to the Philosophy of Science« von 1964: »[In der Idee einer einheitlichen Wissenschaft] liegt ein Quentchen Wahrheit […], aber sie übersieht neben anderem eine bestimmte Dimension der Philosophie. In der Philosophie wollen wir nicht nur verstehen, was der Fall ist und wie die Welt der Tatsachen funktioniert, sondern wir wollen ebenso verstehen, wie sich dies zum menschlichen Leben verhält, zu menschlichen Werten und Pflichten, zur Erfahrung der Schönheit und zur religiösen Erfahrung. Selbst wenn sich die Wissenschaften integrieren, haben wir also immer noch die Aufgabe, herauszufinden, wie die Welt der Tatsachen und die Welt der Werte zusammenpassen.« 3

Sellars stellt die Idee einer einheitlichen Wissenschaft nicht in Frage; er ist vielmehr der Auffassung, dass sie die Probleme der fehlenden Einheit nicht lösen wird, wie dies die Fürsprecher einer einheitlichen Wissenschaft glauben. Die fehlende Einheit von Tatsache und Wert oder von Tatsache und Bedeutung resultiert aus der vorausgesetzten Inkompatibilität zweier Bereiche des Wissens, nämlich dem des wissenschaftlichen Wissens und des nicht-wissenschaftlichen Wissens. In Husserls philosophischer Bestimmung hat »Lebenswelt« als Bereich des Sinns oder der Bedeutung eine ähnliche Funktion wie das, was Sellars in seinem Essay »Philosophy and the Scientific Image of Man« von 1960 als »ursprüngliches Weltbild« oder »manifestes Weltbild« bezeichnet. Die Vereinigung des Reichs der Ideale mit dem Reich der Tatsachen wird nach Husserl unter der intellektuellen Führung der Philosophie die europäische Menschheit zu ihrem 2 Vgl. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, 7. 3 W. Sellars, Introduction to the Philosophy of Science, Lectures given at the Summer Institute for the History of Philosophy of Science at The American University, 3.

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höchsten Ziel führen. Deshalb sind Philosophen für Husserl »Funktionäre der Menschheit« 4, die die Verantwortung für das »wahre Sein der Menschheit« tragen, das im Telos eines letzten Seinszustands des Menschen liege, in dem die Dichotomie zwischen Tatsache und Wert aufgelöst und das Wissen gänzlich selbsttransparent geworden sei. Dieses Telos ist als Ideal für die niemals endende phänomenologische Arbeit zu verstehen; diese Arbeit ist nach Husserls Vorstellung einer historischen Rekonstruktion der Bedeutung wissenschaftlicher Begriffe notwendig, wobei all diese Begriffe von etwas abgeleitet sind, was man üblicherweise alltägliche Erfahrung nennt. Im vorliegenden Aufsatz werde ich jene alltäglichen Erfahrungen mit Husserl als »Lebenswelt« bezeichnen. Für Sellars scheint dieser Endzustand der Wissensentwicklung im Sinne einer Fusion oder synoptischen Vision von wissenschaftlichem und manifestem Weltbild eine reale Möglichkeit zu sein. Heutzutage erscheinen jedoch Aussagen zu einem über die Philosophie erreichbaren höchsten Ziel des Wissens als eine gewaltige Überschätzung der kulturellen Rolle der Philosophie und ihres Einflusses; solche Aussagen sind ebenso schwer zu verstehen wie ihr teleologischer Hintergrund. Doch bekanntlich übernahm Martin Heidegger und insbesondere der späte Heidegger nicht nur jene Überschätzung der kulturellen Mission der Philosophie, er verstärkte sie sogar. In seinen Schriften über die Relevanz des Denkens und in jenen über die Idee wird die gesamte Menschheitsgeschichte und insbesondere die Geschichte von Wissenschaft und Technik, sofern sie durch die europäische Tradition beeinflusst wurde, als Ergebnis der Seinsvergessenheit aufgefasst, d. h., er interpretiert Geschichte vor allem als Philosophiegeschichte mit unterschiedlichen Epiphänomenen. So erscheint beispielsweise die Technik in dieser besonderen Geschichte als eine »Gestalt der Metaphysik«. Sellars spricht nicht von der Menschheit. Er sagt jedoch, dass der Mensch sich selbst geschaffen hat. Als der Mensch das manifeste Weltbild hervorbrachte, ermöglichte er die Unterscheidung zwischen Dingen und Personen. Sellars zufolge verschwindet diese Unterscheidung im wissenschaftlichen Weltbild. Insofern ist die Frage, ob das wissenschaftliche und das manifeste Weltbild eine Bindung eingehen könnten, für Sellars mit dem Problem identisch, ob der Mensch weiE. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, 15.

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terhin für seine selbst-erzeugenden Kräfte verantwortlich bleiben wird, mithin für seine Fähigkeit, sich selbst als reflektierendes und verantwortungsbewusstes Geschöpf zu reproduzieren, indem er eine Sicht seiner selbst und der Welt hervorbringt. Indem er den Ursprung der Unterscheidung zwischen Kategorien berücksichtigt, die ausschließlich dem Menschen selbst als rationalem Wesen zukommen, und Kategorien, die ausschließlich auf die Welt applizierbar sind, scheint sich Sellars der Fichte’schen Idee der Selbstsetzung des Menschen anzunähern. Zu jener Zeit, als der Mensch – oder vielleicht sollte man sagen: der sprachlose Homo sapiens – sich nur verhielt, ohne über ein kategorisches Begriffsgefüge zur Beschreibung und Erklärung seines Verhaltens zu verfügen, existierte er nicht wirklich als Mensch. Indem er die Kategorie »Mensch« und die Terminologie über innere Zustände hervorbrachte, gelangte der Mensch, Sellars zufolge, mit einem »Sprung« ins Sein. Sellars schreibt: »Das manifeste Weltbild des Menschen-in-der-Welt […] ist […] das Begriffsgefüge, vermittels dessen der Mensch sich seiner selbst als Menschin-der-Welt bewusst wurde. Es ist das Begriffsgefüge, vermittels dessen der Mensch sich erstmals selbst begegnete – das heißt selbstverständlich, als er sich dessen bewusst wurde, Mensch zu sein. Ich habe dieser quasi-historischen Dimension unserer Darstellung den Ehrenplatz eingeräumt, weil ich von Anfang an das Augenmerk auf das richten will, was das Paradox der Begegnung des Menschen mit sich selbst genannt werden könnte – auf das Paradox nämlich, das in der Tatsache besteht, dass der Mensch nicht Mensch sein konnte, bevor er sich nicht selbst begegnete. […] Die Schlussfolgerung lässt sich kaum von der Hand weisen, dass der Übergang von vorbegrifflichen Verhaltensmustern hin zum begrifflichen Denken ein […] Sprung auf eine irreduzibel neue Bewusstseinsebene war, ein Sprung, der die Entstehung des Menschen darstellte.« 5

Fichte sprach zwar nicht von einem »Sprung«, sondern von einer grundlegenden Tathandlung. Seine Idee war dem, was Sellars sagt, jedoch sehr ähnlich. Das Problem, mit dem wir konfrontiert sind, findet sich in der gesamten Philosophie des Deutschen Idealismus von Fichte bis Hegel. Alle Philosophen dieser »Schule« versuchen zu erklären, wie diese sehr grundlegende menschliche Fähigkeit möglich ist. In dieser Erklärung verwenden sie eine »genetische« Terminologie, die ein nichtdeterministisches Bild von x zeichnet, das entsteht, sich entwickelt oder sich verändert und dabei y und z ans Licht bringt. 5

W. Sellars, Science, Perception and Reality, 6.

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So bringen in Fichtes »Wissenschaftslehre« die Menschen durch eine grundlegende Tathandlung den freien Menschen hervor, und die Natur lässt durch »Evolution« Bewusstsein entstehen. Mit Schellings »System des transzendentalen Idealismus« entwickelt sich Bewusstsein zu Selbstbewusstsein. Der Verstand entfaltet sich in Hegels »Phänomenologie des Geistes« zur Vernunft und zum absoluten Wissen. Sie stimmen darin überein, dass all diese genetischen Darstellungen nicht als Beschreibungen von zeitlichen Prozessen zu verstehen seien, sondern als transzendentale Deduktionen oder dialektische Entfaltungen von Begriffen. Eine solche Deduktion ist jedoch nicht zwingend gleichbedeutend mit einer logischen Folgerung, wie wir sie gemeinhin verstehen. Deshalb bleibt der Leser mit einer Art formaler – allerdings nicht logisch formaler – Genese zurück, mit der philosophischen Geschichte wichtiger menschlicher Fähigkeiten, die der realen Geschichte des Menschen möglicherweise nicht entsprechen. Bei Hegel kann dieser Prozess vielleicht als eine idealisierte Entfaltung des Aufklärungsdenkens interpretiert werden, die dem vergleichbar ist, was Bachelard gemeint haben mag, als er seine Theorie der »Bildung des wissenschaftlichen Geistes« schrieb. Es ist jedoch sehr schwer zu verstehen, was hinter diesen Typen der Genese steht und ob sie von bloßen Vorstellungen unterschieden werden müssen, denn Bezüge zu historischen Quellen sind hier nicht von Belang. Bei Kant kann der Begriff »transzendentale Deduktion« in einem gesetzesförmigen Sinn verstanden werden. Bei Fichte ist dies, denke ich, nicht möglich. Mir scheint, dass sowohl Husserl als auch Sellars mit diesen formalisierten Typen der Genese etwas Ähnliches versuchen; ihre philosophischen Darstellungen sind daher auch ähnlich dunkel.

3.

Zeitverhältnisse

Die Bereiche des wissenschaftlichen und des nicht-wissenschaftlichen Wissens sind in zweierlei Weise aufeinander bezogen, nämlich durch ein diachrones und durch ein synchrones Bindeglied. In einer diachronen Verbindung steht die Lebenswelt historisch am Anfang aller wissenschaftlichen Entwicklungen, doch diese Verbindung kann auf synchroner Ebene mit wissenschaftlichen Auffassungen kollidieren. Betrachten wir beispielsweise einen Gegenstand und glauben, er sei in der Lebenswelt farbig, während die Physik uns sagt, ebendieser Gegenstand sei in Wirklichkeit nicht farbig, dann haben wir einen 206 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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synchronen Konflikt zwischen unserer Erfahrung und dem hypothetischen Resultat der wissenschaftlichen Theorie. Bei Husserl liegt der Typus der Galileischen Wissenschaft historisch später als die lebensweltliche Erfahrung, und bei Sellars sind ursprüngliches und manifestes Weltbild historisch früher anzusetzen als das wissenschaftliche Weltbild. Für beide ist die Lebenswelt sowohl systematisch als auch historisch die Quelle aller Bedeutungen, welche hervorzubringen die naturalistischen Wissenschaften nicht in der Lage sind. Daher hat für Husserl die Lebenswelt systematische und historische Priorität vor jeglicher wissenschaftlichen Theorie oder Weltsicht. Für Sellars entwickelt sich das manifeste Weltbild durch eine »kategorische Differenzierung« aus dem, was er »das ursprüngliche Weltbild« nennt, und das wissenschaftliche Weltbild entwickelt sich wiederum aus dem »manifesten Weltbild«. Sellars weist dem manifesten Weltbild die Priorität vor dem wissenschaftlichen Weltbild zu, und dies ist sowohl eine systematische wie auch eine historische Priorität: Das wissenschaftliche Weltbild ist vor dem Hintergrund des manifesten Weltbildes zu rekonstruieren, und es ist ein historisches Produkt einer bestimmten Entwicklung des manifesten Weltbildes. Das »ursprüngliche Weltbild« war der Mythos. In ihm wird nicht unterschieden zwischen Absichten und Handlungen einerseits und Ursachen und Wirkungen andererseits. Es ist im strengen Sinne kein Bild des Menschen-in-der-Welt, denn – wie wir in der oben zitierten Passage gesehen haben – der Mensch existiert in diesem Weltbild nicht für sich selbst, er verfügt hier über keine Kategorie für sein intentionales und reflektierendes Sein, und besonders nicht für seine regelgeleitete Fähigkeit, etwas in einem »Begriffsschema« zu erklären. Das manifeste Weltbild modifiziert diesen Sachverhalt, indem es theoretische und praktische Begriffe oder Begriffe für »Dinge« einerseits und für »persönliche Kategorien« andererseits einführt: Alles, was durch innere Zustände einer Person erklärt werden muss, gehört zu einem anderen kategorischen Begriffsgefüge als das, was unabhängig von persönlichen Zuständen geschieht. Nach Sellars ist die Erfindung des manifesten Weltbildes gleichbedeutend mit der Erfindung des Menschen als eines unabhängigen, reflektierenden und praktischen Wesens, das Regeln des logischen Denkens befolgen und Handlungsgründe angeben kann. Das wissenschaftliche Weltbild als letzte Entwicklungsstufe in Sellars Genealogie der Bilder vom Menschenin-der-Welt löscht diese Unterscheidung zwischen persönlichen Zu207 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Michael Hampe

ständen und natürlichen Vorgängen aus und versucht, menschliche Angelegenheiten als Spezialfälle der Verkettungen von natürlichen Ursachen und Wirkungen zu begreifen. So führt das wissenschaftliche Weltbild gewissermaßen zurück zum ursprünglichen Weltbild, in dem kein kategorischer Unterschied zwischen Mensch und Welt existierte. Die Homogenität des wissenschaftlichen Weltbildes scheint für Sellars der vorläufige Preis für den enormen Erklärungserfolg der Naturwissenschaften zu sein, ein Erfolg, der beim »ursprünglichen Weltbild« nicht vorkommt, was der Grund für seine historische Instabilität war. Die Instabilität der Konstellation von manifestem und wissenschaftlichem Weltbild, die Sellars diagnostiziert, beruht nicht auf Erklärungsfehlern, sondern auf der Inkompatibilität der beiden begrifflichen Bezugssysteme. Auf der synchronen Ebene sind beide Bereiche durch den Menschen oder – in Husserls Begriffen – durch »das europäische Menschentum« miteinander verknüpft. Wenn sie Wissenschaftler sind, ändern Menschen ihre Welten oder ihr Bewusstsein nicht, wenn sie vom Frühstückstisch aufstehen und in ihre Labore gehen. Am Frühstückstisch müssen sie das, was sie als Wissenschaftler glauben, und das, was sie als Ehefrauen und -männer glauben, irgendwie zusammenbringen. Es sind sowohl die unterstellte Einheit des Bewusstseins und die unterstellte grundlegende Selbstgegebenheit des transzendentalen Ego bei Husserl als auch die unterstellte Einheit unserer Sprache bei Sellars, die uns veranlassen, nach einer Verbindung zwischen Tatsachen und Werten, zwischen der wissenschaftlichen Weltsicht und der Lebenswelt oder dem manifesten Weltbild zu suchen. Die Vorstellung, Menschen könnten in Abteilungen denken oder verschiedene Sprachspiele spielen und sich dabei wenig darum kümmern, wie die Abteilungen und Sprachspiele zusammenhängen, ist für Sellars oder auch für Husserl keine Option, sondern ein relativistischer Albtraum. Sich für einen solchen Relativismus zu entscheiden, würde in ihren jeweiligen Begriffsgefügen als Abkehr von der europäischen Rationalität aufgefasst. Beide Verbindungen – ich werde sie historisch und anthropologisch nennen – haben indes ihre Probleme.

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Wissenschaft, Philosophie und die Geschichte des Wissens

4.

Probleme der Wissensgeschichte

Bevor ich auf diese Probleme eingehe, möchte ich Folgendes festhalten: Es erscheint mir sehr schwierig zu verstehen, in welchem Sinne diese getrennt betrachteten Bereiche einheitliche Entitäten sind und welches denkbare Kriterien für ihre Identität sein könnten. Wie das erste Zitat von Sellars zeigt, streben nach seiner Auffassung die Wissenschaften nach Einheit, haben diese Einheit jedoch noch nicht erreicht. Sellars begreift die Einheit der Wissenschaften als historisches Ziel. Wenn man die Wissenschaften als Theoriensysteme auffasst, wäre die Einheit des wissenschaftlichen Wissens in einem schwachen Sinn die Kompatibilität der wissenschaftlichen Theorien. In einem starken Sinn bestünde die Einheit der Wissenschaften in der Reformulierung des gesamten wissenschaftlichen Wissens in einer einzigen Sprache, in der Integration in eine einzige große Theorie. Die Wissenschaften bestehen jedoch nicht nur aus Theorien, sondern ebenso aus Methoden und Praktiken, die Know-how vermitteln, mit anderen Worten aus nicht-propositionalem Wissen. Im gegenwärtigen historischen Prozess gibt es nicht nur eine Vervielfältigung der wissenschaftlichen Terminologien, sondern auch der Methoden und wissenschaftlichen Praktiken. Für Husserl sind die Methoden und Praktiken der Wissenschaften undurchsichtiges Wissen. Selbst der Gebrauch mathematischer Symbole in der Physik oder in den Ingenieurwissenschaften ist für ihn unwissenschaftlich, insofern sie kein Wissen im Sinne der aristotelischen episteme weitergeben. Die phänomenologische Suche nach Transparenz muss, wie mir scheint, als die unendliche Aufgabe interpretiert werden, alle Elemente unseres Wissens explizit zu machen, so dass wir zumindest die theoretische Möglichkeit gewinnen, eine beliebige Methode, ein beliebiges begriffliches oder mathematisches Symbol zu verstehen, indem wir ihren oder seinen Ursprung historisch rekonstruieren. Doch der wachsende Bestand an stillschweigendem Wissen in den Wissenschaften, der durch die Differenzierung der Praktiken und Methoden entsteht, erschwert die Erkenntnis, inwiefern eine hinter der Entwicklung der Wissenschaften verborgene Tendenz zur Einheit vorhanden sein sollte, wie es Husserl und Sellars zu glauben scheinen. Bei der Unterscheidung zwischen propositionalem und nichtpropositionalem Wissen muss man zudem feststellen, dass die nichtwissenschaftlichen Bereiche des Wissens weitaus mehr nicht-propositionales oder implizites, stillschweigendes Wissen enthalten als 209 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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explizites Wissen. Was entspräche der Einheit eines Bereichs von Praktiken in der Lebenswelt oder im manifesten Weltbild? Es kann nicht die Einheit einer kohärenten Theorie, also die Einheit einer Reihe von Lehrsätzen sein, denn das stillschweigende Wissen und die Praktiken der Lebenswelt oder das manifeste Weltbild sind uns niemals als Theorie gegeben. Wenn es überhaupt einen Ausdruck oder eine Beschreibung für dieses stillschweigende Wissen gibt, so lässt es sich beispielsweise in der Sozialgeschichte bestimmter Epochen und in Romanen finden. Bei Husserl oder Sellars erkenne ich keine theoretischen Kriterien für die Einheit dieser nicht-propositionalen Wissensstrukturen. Ist es vor diesem Hintergrund möglich, sich eine Einheit vorzustellen zwischen einem Wissen, das in Praktiken wie Rudern, Tanzen, Schreiben und Singen implizit vorhanden ist, und den Praktiken, denen in Laboratorien nachgegangen wird, wie dem Lesen eines Röntgenbildes oder eines Abstrichs oder dem Zerschneiden eines Stücks Mäusehirn mit einem Mikrotom? Husserls Begriff der Lebensform oder eines umfassenden Stils, die Welt zu sehen, sie »uns vorstellig« zu machen (»Gesamtstil«) 6, und Sellars’ Bildbegriff scheinen beide nahezulegen, dass die Überzeugungen und Praktiken des nicht-wissenschaftlichen Bereichs in einer Art Vereinigung zusammenfinden, die von den inferentiellen Theoriestrukturen unabhängig ist. Was wären hier die Grundlagen der Einheit, und wie könnten wir eine Lebensform, einen Stil der Weltsicht oder ein manifestes Weltbild spezifizieren? Ich sehe bei Husserl und Sellars keine Antworten auf diese Fragen, und vermutlich ist es kein Zufall, dass die Begriffe »Stil« und »Weltbild« recht vage Bezeichnungen für die hier in Frage stehenden Formen der Einheit sind. Sellars bezeichnet das manifeste und das wissenschaftliche Weltbild als »Idealtypen« im Sinne Max Webers. 7 Diese Aussage verstellt die Vorstellung einer vom ursprünglichen über das manifeste Weltbild ausgehenden, schließlich auf das wissenschaftliche Weltbild hinauslaufenden historischen Entwicklung. Kann es eine historische Entwicklung von einem Idealtyp zum nächsten geben? Idealtypen sind vergleichbar mit Epochenbegriffen wie »Renaissance« oder »Moderne«, es sind systematisierende Begriffe. Diese Begriffe werE. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, 28. 7 Vgl. W. Sellars, Science, Perception and Reality, 5. 6

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den gebildet, um den ausweglos komplexen Situationen, die sich den Historikern in ihren historischen Quellen darbieten, eine vereinfachende Struktur zu verleihen. Die Dinge auf diese historische Art und Weise zu betrachten, führt jedoch fast immer zur Relativierung solcher Systematisierungen, indem vermeintliche Kontinuitäten und Partikularitäten aufgedeckt werden, die nicht in das System passen. Odo Marquard hat einmal auf diese Tatsache aufmerksam gemacht mit der Äußerung, wir lebten in der »Epochenschwellenabschwellungsepoche«. Husserl meint, die Undurchsichtigkeit der Wissenssedimentierungen könne durch eine besondere Art phänomenologisch-historischer Forschung erneut transparent gemacht werden, durch eine Forschung, die keine konzeptionellen Methoden gebraucht, sondern deren Ursprung rekonstruiert. Doch diese Rekonstruktionsarbeit kann ohne historische Methode nicht geleistet werden. Der Historiker des Wissens benötigt ebenso viel Begriffswerkzeug wie jeder andere Forscher, der sein Material organisieren muss. Sobald dieses Begriffswerkzeug der historischen Forschung als eine Realität verstanden wird, gerät der Forscher in die Falle des »Trugschlusses der unzutreffenden Konkretheit«, wie Whitehead es nannte. Es ist ein non-statement oder die Manifestation dieses Trugschlusses, zu sagen, das Mittelalter habe sich zur Renaissance hin und die Renaissance zur Moderne hin entwickelt. Es ist ein Spiel mit den eigenen Systematisierungen, doch historische Einsichten oder Erklärungen gehen daraus nicht hervor. Husserl und Sellars formulieren keine derartigen non-statements. Doch die Spannung zwischen einer historischen Annäherung an das Wissen und einer systematisierenden Annäherung ist ebenso charakteristisch für den Husserl der »Krisisschrift« wie für Sellars in »Philosophy and the Scientific Image of Man«. 8 Beide vertreten einen eigenen und besonderen methodologischen Standpunkt in der Historiographie des Wissens und sehen die historische Aufgabe der Philosophie darin, die Reiche der Lebenswelt und des manifesten Weltbildes einerseits und die wissenschaftliche Weltsicht andererseits zu vereinen. Für beide wird die Geschichte des Wissens angeleitet durch ein Ziel und durch eine Quelle. Die Rolle des Historikers ist für sie, wie für Bachelard, nicht einfach die Rolle eines Beobachters. Nach ihrer Auffassung hat der Historiker an der Zur Darstellung dieser Spannung vgl. E. Achermann, »Existieren Epochen?«, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2009 (49): Epochen, 222–239.

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Entfaltung des Wissens teil, nicht indem er ein Spezialwissen hervorbringt, sondern indem er weiß, woher alles Wissen stammt und wohin es strebt. Der »teleologische Antrieb« in der Geschichte des Wissens kann bei den verschiedenen historischen Projekten, die beteiligt sind, ganz unterschiedlich sein: Es ist die sich beständig differenzierende Pluralität der Wissenschaften, die eine Pluralität der epistemologischen Forschungsweisen notwendig macht: Bei Bachelard muss der Historiker ebendiese epistemologischen Erkundungen für sich selbst vornehmen; und bei Husserl und Sellars muss die geforderte Einheit von Vernunft und Wissenschaften ausgearbeitet werden. Gemäß diesen Auffassungen muss der Historiker des Wissens das Wissen in die richtige Richtung lenken, indem er seine historischen Systematisierungen anwendet. Beide, Husserl und Sellars, haben aufgrund ihrer Sichtweisen von der Geschichte des Wissens eine klare Vorstellung vom Ursprung jener Weltsichten und Weltbilder, und sie scheinen jeweils feste Überzeugungen zu haben, was sowohl den künftigen einheitlichen Status der Wissenschaften als auch die Zukunft des Wissens als solchen anbelangt. Husserl glaubt, dass die »Urstiftung des […] europäischen Menschentums« mit den Idealen von Freiheit und Wissenschaft verknüpft ist. 9 Wissenschaft als Lebensform könne sich nur dort entfalten, wo der Mensch sich seiner selbst als eines freien Wesens bewusst wird, das seine eigene Art des Daseins hervorbringen kann und nicht gezwungen ist, auf eine bestimmte Weise zu leben. Stets nach Gründen zu fragen und nicht an Autoritäten zu glauben, ist ein wesentliches und charakteristisches Merkmal für das, was Husserl als europäischen Lebens- und Wissenschaftsstil ansieht. Weil Wissenschaft und die Lebenswelt mit ihrer personalen Auffassung des freien, selbstverantwortlichen Menschen aus derselben geschichtlichen Wurzel wachsen, müssen sie, so scheint Husserl zu argumentieren, auf irgendeine Weise und zu irgendeiner Zeit kompatibel und vereinbar sein. Ein fundamentaler Ursprung und ein höchstes Ziel der historischen Entwicklung gehören für Husserl zusammen: »Wesensmäßig aber gehört zu jeder Urstiftung eine dem historischen Prozess aufgegebene Endstiftung«. 10 Sellars glaubt, dass das manifeste Weltbild und das E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, 28. 10 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, 73. 9

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wissenschaftliche Weltbild dieselbe Funktion haben: Sie versuchen zu erklären, was in der Welt geschieht und warum Menschen sich so verhalten, wie sie es eben tun. Da beide Weltbilder mit denselben Erklärungsabsichten »hervorgebracht« werden, muss es möglich sein, so scheint Sellars zu argumentieren, sie zu etwas einzuschmelzen, was er »synoptische Vision« nennt. Auf diese Weise dienen ein letzter Ursprung und eine gemeinsame Funktion als Möglichkeitsversprechen für die Herausbildung der Einheit der Lebenswelt oder für die Vereinigung von manifestem und wissenschaftlichem Weltbild. Diese Idee einer Vereinigung von wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Wissen führt zu ganz eigenartigen philosophischen Entwürfen. Mit seinem Entwurf einer transzendentalen Phänomenologie versucht Husserl die Lebenswelt auf eine Weise transparent zu machen, die für alle menschlichen Tätigkeiten die Grundlage bildet und für die Wissenschaft konstitutiv ist. Diese Phänomenologie ist nach Husserl das verborgene Ziel, auf das hin die Geschichte des »europäischen Menschentums« von Beginn an ausgerichtet ist. Sellars hingegen antizipiert einen metaphysischen Prozess als verborgenes Ziel der Wissenschaften: einer Metaphysik, die den Gegensatz zwischen einer Person als Entität mit Absichten und einer Lebensgeschichte einerseits und einem physischen Ding als undurchsichtiger Entität ohne nennenswerte Geschichte andererseits verschwinden lässt. Prozesse haben oder vielleicht sind sie sogar Geschichten; und sie mögen protentionale und retentionale Phasen haben, die es ermöglichen, menschliches Reflexionsvermögen und natürliche Kausalität zu integrieren. Es ist dieser Gegensatz zwischen Personen und Dingen, der Sellars zufolge die wissenschaftliche Weltsicht und das manifeste Weltbild gegenwärtig voneinander trennt. In einer Metaphysik reiner Prozesse, wie sie Sellars in seinen 1981 veröffentlichten Tarner Lectures skizziert, werden die Geschichten mentaler Vorgänge nicht mehr als exotische Entitäten rekonstruiert, die nur im Rahmen einer Ontologie zu erklären sind, welche den Begriff der Person als grundlegend versteht. Reine Prozesse und ihre zeitlichen Strukturen sind die elementaren Entitäten bei der Rekonstruktion von Bewusstseinszuständen, und nach Sellars sind sie auch der Ausgangspunkt der Rekonstruktion eines jeden wissenschaftlichen Gegenstandes. Die Rechtfertigung für eine solche Spekulation kann Sellars zufolge hauptsächlich in der modernen Physik gesehen werden, die dazu 213 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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neigt, Prozesse und Felder für grundlegender zu halten als dauerhafte Objekte wie Atome oder Substanzen. (Hier scheint Sellars die Quantenfeldtheorie gewissermaßen als die grundlegendste Reduktionsbasis aller physikalischen Theorien zu begreifen.) Die Einheit des Wissens wird sich für Sellars aus einer idealen Wissenschaft herausbilden, die unsere Sichtweise von dauerhaften Einzelwesen wie Personen und Dingen in einer einzigen Bewegung revidiert. Demgegenüber geht Husserl einen anderen Weg auf der Suche nach einer vereinheitlichenden Konzeption von Wirklichkeit oder universellem Wissen. Seine Analyse ist nicht auf die Antizipation einer künftigen und grundlegenden wissenschaftlichen Ontologie hin angelegt, sondern auf eine philosophische Analyse der Lebenswelt und auf eine historische Phänomenologie der Wissenschaften. Während Sellars eine Art Heuristik für eine mögliche und zukünftige integrierte wissenschaftliche Sichtweise entwickelt, die dem Selbstverständnis des Menschen, wie es gegenwärtig im manifesten Weltbild gegeben ist, nicht entgegenstünde, glaubt Husserl, dass die Analyse der Lebenswelt die grundlegenden Bedeutungen wieder ans Licht bringen wird, die Wissenschaft ermöglicht haben. Für ihn ist es daher nicht eine heuristische Metaphysik, sondern die Wissenschaftsgeschichte, die uns als das entscheidende Projekt beim Erreichen von Transparenz und Einheit des Wissens unterstützen wird.

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Vier kritische Bemerkungen

Im Folgenden möchte ich vier Kritikpunkte zu den Entwürfen von Sellars und Husserl anführen: 1. Bei der Realisierung des epistemischen Ideals der Transparenz von Wissen wird das stillschweigende Wissen, das durch historische Untersuchung ermittelt werden soll, als eine epistemische Bürde aufgefasst. Warum aber sollten wir dies tun? Warum sollten wir unterstellen, dass jemand, der weiß, was er tut, es jedoch nicht beschreiben kann, sagen wir ein Handwerker oder ein wissenschaftlicher Experimentator, sich in einem epistemisch unvollkommenen Zustand befindet? Gewiss, die Vorstellung, dass explizites, durch Nachdenken gewonnenes, in minutiösen Beschreibungen niedergelegtes Wissen eine höhere Form des Wissens darstellt, existiert seit der Zeit der antiken Aufklärung. Doch teilen wir wirklich immer noch dieses epistemische Ideal 214 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Wissenschaft, Philosophie und die Geschichte des Wissens

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in der Weise, in der sich Husserl ihm verpflichtet zu fühlen schien? Und warum sollten wir diese Sichtweise teilen? Wenn wir sie nicht teilen, entfällt die Begründung dafür, Wissensgeschichte im Geiste von Husserls Krisisschrift zu betreiben. In gewissem Sinne scheint die Lebenswelt für Husserl bereits eine Basis oder ein Fundament für jegliches wissenschaftliche Wissen darzustellen. Doch solange eine phänomenologische Geschichte der Wissenschaften die Bedeutung der wissenschaftlichen Begriffe nicht auf ihre lebensweltlichen Wurzeln zurückgeführt hat, erkennen wir dieses Fundament nicht. Ein Wissensfundament, das nicht als Fundament erkannt wird, ist für Husserl kein epistemisches Fundament. Husserl scheint eine vollkommen andere Sicht der stillschweigenden oder praktischen Dimension des menschlichen Wissens zu haben als beispielsweise Wittgenstein in »Über Gewißheit«. Husserl möchte das unbekannte, intransparente Fundament jeglichen Wissens in einer re-konstruierten Lebenswelt re-konstruieren. Doch was würden wir tatsächlich an Vernünftigkeit gewinnen, wenn der Plan, alles explizit zu machen, realisierbar wäre und tatsächlich durchgeführt würde? Warum sollten wir die unendliche Aufgabe des Strebens nach endgültiger Transparenz für vernünftiger halten als die Zufriedenheit mit der allgemeinen Einsicht, die unser Wissen auf einer praktischen Basis stets und ohne Kenntnis jenes »Fundaments« in seiner Gesamtheit geliefert hat? Selbst-Transparenz des Wissens vermittels einer Geschichte des Wissens wäre nur möglich, wenn die Wissensgeschichte selbst nicht mit implizitem Wissen arbeiten und nur jene Kategorien verwenden würde, die in ihrem historischen Kontext verstanden werden. Ich glaube nicht, dass irgendein Wissenschaftshistoriker Quellen wie Briefe, Arbeitshefte, Aufsatzkonzepte, Urkunden usw. ohne irgendein stillschweigendes Wissen über diese kulturellen Artefakte auswerten kann, ohne jenes stillschweigende Wissen, das der Historiker durch die langandauernde Arbeit mit derartigen Quellen erwirbt. Darüber hinaus ist mir unklar, ob Husserls Begriff einer Lebenswelt, sein Begriff eines Stils und seine Kategorie einer wissenschaftlichen oder naturalistischen Weltsicht nicht selbst als begriffliche Symbole beschrieben werden müssen, als Systematisierungsinstrumente für das historische Material, das, würde es durch solche Mittel nicht strukturiert, nur ins Chaos führen würde. Husserls Idee von der 215 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

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Transparenz des Wissens vermittels einer Geschichte des Wissens scheint eng mit der Überzeugung verbunden zu sein, dass eine Phänomenologie der historischen Tatsachen, das heißt, ein unmittelbares Wissen über historische Daten erreichbar ist. Ich glaube nicht, dass es so etwas gibt. Warum verwendet Sellars den Begriff »Weltbild« für seine Strukturen des Wissens und nicht Wittgensteins Begriff »Sprachspiel«? Tatsächlich ist Sellars mit vielen seiner Argumente Wittgensteinianer. Doch wenn er bei der Beschreibung dessen, was er das manifeste und das wissenschaftliche Weltbild nennt, wie ein Wittgensteinianer gedacht hätte, wäre sein dualistischer Gegensatz als Antriebskraft für die Geschichte des Wissens verlorengegangen. Außerhalb des Reichs der Wissenschaften spielen wir viele verschiedene Sprachspiele. Und wir spielen auch viele verschiedene Sprachspiele innerhalb der Wissenschaften. Es ist sehr einfach, die Verbindung zwischen explizitem und stillschweigendem Wissen im Konzept eines Sprachspiels durchlässig zu machen. Dieser Wittgenstein’sche Begriff war in gewissem Sinne dazu gemacht, jene Verbindung zwischen explizitem und stillschweigendem Wissen oder dem Knowing How und Knowing That zu verstehen. Aber andererseits sind die Beziehungen zwischen verschiedenen Sprachspielen nicht besonders nützlich für historische Entwürfe, wie wir sie bei Husserl und Sellars gesehen haben. Sicherlich, auch Sprachspiele stammen von irgendwo her, und sie entwickeln sich zu etwas. Doch wahrscheinlich würde niemand an eine ursprüngliche Quelle von Sprachspielen zu denken wagen oder an ein höchstes Ziel, an dem sie alle in einem einzigen großen Spiel zusammenkommen. Ebendiese relativistische Tendenz, die man ebenfalls in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen finden kann, würde zu einer gänzlich anderen Sichtweise der Wissensgeschichte führen, einer Sichtweise, die Theorien als eine und nur eine Manifestation des Wissens betrachten würde; auch Handwerke, Romane und Techniken wären weitere Formen des nicht-theoretischen Wissens. Was wir über uns selbst und über unsere Mitmenschen denken, ist nicht so sehr eine Angelegenheit von Theorien und Propositionen, sondern eher von Haltungen und emotionalen Gewohnheiten. Wir empfinden gewisse Gefühle wie Scham und Reue, Stolz und Mitleid für uns selbst und andere Menschen, und zwar

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nicht, weil wir in einer Lebenswelt leben oder einem wissenschaftlichen Weltbild folgen, sondern weil wir in bestimmten Institutionen wie Familie, Schule, Gericht usw. agieren. Selbst wenn das wissenschaftliche Weltbild oder die naturalistische Weltsicht nicht länger durch Diskussionen in Frage gestellt würde, würden wir diese Institutionen vermutlich nicht ändern. Gewiss hat die Wissenschaft einen Einfluss auf Familie, Schule und Gericht. Doch ich wage zu behaupten, dass die Art und Weise, in der wir Menschen sehen, und was wir von ihnen halten, dauerhafter von diesen Institutionen bestimmt wird als davon, was die Wissenschaften über den Menschen aussagen. Zieht man diese sozialen Institutionen in Betracht, dann ist das, was Husserl und Sellars über die Relevanz der wissenschaftlichen Erkenntnis und die Lebenswelt oder das manifeste Weltbild zu sagen haben, sehr vereinfachend. Es wird der komplexen Weise nicht gerecht, in der eine Kultur mittels ihrer Institutionen einen Weg bahnt, um den Menschen zu verstehen und auf ihn zu reagieren. Mir scheinen die Ideen einer Lebenswelt und eines manifesten Weltbildes sogar gefährlich in dem Sinne zu sein, dass sie uns die Illusion vermitteln, wir wüssten in der Philosophie, wie Menschen es erreichen, sich selbst zu verstehen, ohne den institutionellen, emotionalen und kulturellen Details bestimmter Gesellschaften auf den Grund zu gehen. In diesem Sinne könnte die Idee einer Lebenswelt und eines manifesten Weltbildes eine Art anthropologischen Essentialismus und Fundamentalismus begünstigen, der von geringem Nutzen wäre für eine historische Epistemologie, die an historischen Details interessiert ist.

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Autoren und Herausgeber

Michael Hampe, Prof. Dr. phil., Studium der Philosophie, Psychologie, Germanistik und Biologie an den Universitäten in Cambridge und Heidelberg. Professor für Philosophie an der ETH Zürich. Veröffentlichungen (Auswahl): Die Wahrnehmungen der Organismen, Göttingen 1990. Erkenntnis und Praxis, Frankfurt am Main 2006. Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, Frankfurt am Main 2007. Matthias Jung, Prof. Dr. phil., Studium der Philosophie, Germanistik und Katholischen Theologie in Frankfurt. Professor für Philosophische Ethik und Rechtsphilosophie am Institut für Kulturwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau. Veröffentlichungen (Auswahl): Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie, Freiburg 1999. Einheit in Vielheit? Europas kulturelle Identität als Forschungsaufgabe, Berlin 2008. Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, Berlin / New York 2009. Anton Friedrich Koch, Prof. Dr. phil., Studium der Philosophie in Heidelberg. Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen (Auswahl): Subjektivität in Raum und Zeit, Frankfurt am Main 1990. Subjekt und Natur. Zur Rolle des »Ich denke« bei Descartes und Kant, Paderborn 2004. Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006. Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische Theorie, Paderborn 2006. Uwe Meixner, Prof. Dr. phil., Studium der Philosophie, Anglistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Regensburg und Nashville. Professor für Philosophie an der Universität Regensburg. Veröffentlichungen (Auswahl): The Two Sides of Being, Paderborn 2004. Modalität, Frankfurt a. M. 2008. Defending Husserl. A Plea in the Case of Wittgenstein & Company Versus Phenomenology, Berlin / Boston 2014. Tobias Müller, Dr. phil., Studium der Philosophie, Theologie, Pädagogik und Physik in Mainz, Marburg und Frankfurt/M. Dozent für Natur- und Religionsphilosophie an der Hochschule für Philosophie München. Veröffentlichungen (Auswahl): Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A. N. Whitheheads, Paderborn 2009. Post-Physikalismus (gemeinsam hg. mit M. Knaup / P. Spät), Frei220 https://doi.org/10.5771/9783495808160 .

Autoren und Herausgeber

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