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German Pages 120 Year 2003
Pavel Holländer · Abriß einer Rechtsphilosophie
Schriften zur Rechtstheorie Heft 211
Abriß einer Rechtsphilosophie
Strukturelle Überlegungen
Von Pavel Holländer
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn, und der Deutschen Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit e.V., Bonn.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-10975-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ
Dem Andenken meiner Mutter sowie den anderen Auschwitzhäftlingen
„Eine rationale Herangehensweise erfordert es, alle Möglichkeiten des zu beurteilenden Feldes herauszuarbeiten, zu kombinieren und zu erforschen." Ota Weinberger
Vorwort Sowohl die Rechtsphilosophie als auch die Rechtstheorie befassen sich auf grundlegende Weise mit dem Recht. Zwar behandeln sie überwiegend denselben Fragenkreis, doch ist es sinnvoll, beide Disziplinen voneinander zu unterscheiden. Denn oft ist der Jurist auch im Grundlagenbereich nicht auf der Suche nach einer philosophischen Begründung seiner Konstruktionen, etwa dann, wenn es ihm um die Rechtsquellen, die juristische Argumentation und die Struktur des Rechts oder der Rechtsanwendung geht. Dies sind rechtstheoretische Fragen. Demgegenüber ist eine Darstellung des Verhältnisses zwischen Sein und Sollen, Naturrecht und positivem Recht oder Recht und Gerechtigkeit außerhalb eines philosophischen Kontextes kaum denkbar. In diesem Sinne kann man meines Erachtens über eine von der Rechtstheorie unterschiedene „Rechtsphilosophie" sprechen. In dieser Arbeit versuche ich, einige der grundlegenden Probleme der Rechtsphilosophie zu analysieren. Zu diesen zählen das Verhältnis der Kategorien der Freiheit und der Macht zur Welt der Normen und die Beziehungen zwischen Sein und Sollen, Normen und Prinzipien, positivem Recht und Naturrecht, Recht und Gerechtigkeit. Die Analyse umfaßt ontologische Aspekte (Recht als Verbindung von spezifisch rechtlichen, moralischen und Machtelementen), erkenntnistheoretische Aspekte (Recht als Ergebnis der Spannung zwischen Wissen und Wollen) und zuletzt axiologische Aspekte (Recht im Verhältnis zur Gerechtigkeit). Der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Humesche-Jörgensensche These, der zufolge ein Sollen nicht aus einem Sein abgeleitet werden kann. Methodologisch geht es um die Analyse der Struktur der untersuchten Begriffe. Denn erst der Konsens über die Struktur der Begriffe ermöglicht die Formulierung von analytischen, empirischen und normativen Argumenten zur Lösung der genannten Probleme. Der Zweck des Konsenses liegt nicht in der inhaltlichen Ubereinstimmung, sondern in der Gewinnung eines gemeinsamen einheitlichen Diskursgegenstandes und in der Präzisierung der jeweiligen Standpunkte. Dies dient der Klarheit und zwingt die Diskursteilnehmer dazu, sich des vorgegebenen „Algorithmus" der Begriffsstruktur zu bedienen und auf ein Argument mit angemessenen Gegenargumenten zu reagieren. Zuletzt ist es mein Anliegen, mit dieser Arbeit den engeren Zirkel der Rechtstheorie zu verlassen und Verbindungen zur Arbeit sowohl der praktizierenden Juristen als auch der Philosophen und Geisteswissenschaftler schlechthin herzustellen.
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Vorwort
Die Endfassung dieses Buches wurde geprägt durch einen Forschungsaufenthalt am Juristischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität in Kiel im Rahmen eines Humboldt-Stipendiums. Der Humboldt-Stiftung und der Deutschen Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit bin ich zu besonderem Dank für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses verpflichtet. Den Kollegen Johannes Badenhop, Carsten Bäcker, Kirsten Gudat, Thorsten Kruwinnus, Heike Riegner und Thorsten Thaysen danke ich für die Mühe des Korrekturlesens. Herrn Dr. Carsten Heidemann danke ich herzlichst für die kritische Prüfung und Lektorierung meines Manuskriptes. Brno, im Juni 2002
Pavel Holländer
Inhaltsverzeichnis
Α. Die Rechtsnorm im philosophischen Kontext I. Der Begriff der Rechtsnorm
13 13
1. Kognitivismus und Nonkognitivismus
13
2. Normenontologie: Geltung als das Sein von Rechtsnormen
16
3. Reproduktion von Leben, Freiheit und Macht - begriffliche Ansätze zur Beobachterperspektive
20
II. Merkmale der Rechtsnorm
23
1. Die regulative Funktion
23
2. Allgemeinheit
25
3. Differentia specifica
28
III. Regulativ und Regulativsatz, präskriptiver und deskriptiver Satz
29
IV. Regulativ (Norm) und Imperativ
30
V. Exkurs zur logischen Struktur der Rechtsnorm
31
1. Der Tatbestand
32
2. Die normative Folge
34
3. Das Verhältnis zwischen der Bedingung und der normativen Folge
36
VI. Normative Modalitäten: Gebot, Verbot und Erlaubnis B. Rechtsprinzipien
38 44
I. Der Rechtsformalismus: ein praktischer Grund für die Aktualität von Rechtsprinzipien
44
II. Zur Terminologie: Normen, Regeln, Grundsätze, Maximen, Prinzipien, Werte ..
46
10
Inhaltsverzeichnis III. Die Definition des Rechtsprinzips
48
1. Dworkins Theorie der Rechtsprinzipien als Kritik des Rechtspositivismus ...
48
2. Alexys Kritik und Erweiterung der Konzeption Dworkins
49
3. Offene Fragen
51
IV. Widerspruch oder Kollision?
51
1. Widerspruch von normativen Folgen und Widerspruch von Tatbestandsmerkmalen
51
2. Die Kollision von Prinzipien
55
3. Der „axiomatische" Charakter von Rechtsprinzipien: Prinzipien als notwendiger Bestandteil der Rechtsordnung
56
V. Ungeschriebene Prinzipien im System des geschriebenen Rechts
58
C. Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
60
I. Die Definition des Rechts als Grundlage für die Lösung schwieriger Fälle
60
II. Die Diskussion des Rechtsbegriffs in der jüngsten Zeit
61
1. Die naturrechtliche Auffassung
61
2. Die rechtspositivistische Auffassung
63
3. Der Zeitraum nach Hart
66
III. Die Struktur möglicher Argumente
67
1. Unterscheidungsmerkmale
67
2. Die Humesche-Jörgensensche These
70
3. Die Besonderheit des naturrechtlichen Verständnisses der „Verbindungs-" bzw. „Trennungsthese"
71
IV. Klassifizierung der Fälle inhaltlicher Spannungen zwischen dem Recht und der Moral
74
1. Der Konflikt eines demokratischen mit einem totalitären System
75
a) Die Überwindung des totalitären Systems im Kontext der Beziehung zwischen der Moral und dem Recht
75
b) Ziviler Ungehorsam
76
—
Inhaltsverzeichnis 2. Die Lösung der Spannung zwischen Recht und Moral durch die Akzeptanz ungeschriebenen Rechts und richterlicher Entscheidungen contra bzw. praeter legem
78
V. Die Zuordnung der Normsetzungskompetenz zur Lösung der inhaltlichen Spannung zwischen Recht und Moral
80
D. Das Problem der Gerechtigkeit I. Die Antinomie der Gerechtigkeit
82 82
1. Formelle und materielle Gerechtigkeit
82
2. Gerechtigkeit und Gleichheit
83
3. Gerechtigkeit und Relativität der Moral
85
4. Gesetzliche und übergesetzliche Gerechtigkeit
86
5. Rawls versus Nozick
88
6. Die Spannung zwischen Gerechtigkeit und Effektivität
91
7. Allgemeine und individuelle Gerechtigkeit
92
II. Ein Definitionsversuch - Gerechtigkeit als kontextuelle Bewertung des Gebens und Nehmens von Gütern III. Gleichheit im Gerechtigkeitsurteil
92 95
1. Ein überraschendes Paradigma der Gleichheit
95
2. Gerechtigkeit als kontextuelle Gleichheit und Gleichheit durch Allgemeinheit
97
3. Gerechtigkeit und Angemessenheit der Differenzierung
98
4. Die Hierarchie der Güter und Lasten und ihre Kongruenz IV. Gerechtigkeit als Gegenstand institutioneller Aktivität
101 102
1. Gerechtigkeit, Veränderung und Institution
102
2. Die „institutionelle" Falle der Moderne
104
3. Die Unerreichbarkeit der Pareto-Optimalität
105
a) Die Funktion der Institutionen
105
b) Die Legitimität der Institutionen
107
12
Inhaltsverzeichnis V. Gerechtigkeit als Ergebnis oder Prozeß
108
1. Affirmative action
108
2. Äquivalenz oder Fairness der ökonomischen Beziehungen
108
3. Der Vorrang prozeduraler Gerechtigkeit
109
VI. Die Aufgabe der Wissenschaft
Literaturverzeichnis
110
112
Α. Die Rechtsnorm im philosophischen Kontext I. Der Begriff der Rechtsnorm 1. Kognitivismus und Nonkognitivismus In der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie gibt es zahlreiche Definitionen und Erläuterungen der Begriffe der Norm und der Rechtsnorm. 1 Die entsprechenden Theorien lassen sich auf verschiedene Weisen klassifizieren. Ausgehend von der Voraussetzung, daß die Qualität der Klassifizierung von der Wichtigkeit der verwendeten Kriterien und von ihrer Einfachheit und Verständlichkeit abhängt, wähle ich für die weiteren Überlegungen die Klassifikation von G.H. von Wright. 2 von Wright untergliedert die Theorien der Normen nach einem erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt, nämlich nach ihrer Antwort auf die Frage, ob Normen wahrheitsfähig sind. Diese Frage ergibt sich aus einem Problem, das D. Hume wie folgt formulierte: „In jedem Moralsystem, das mir bisher vorkam, habe ich immer bemerkt, daß der Verfasser eine Zeitlang in der gewöhnlichen Betrachtungsweise vorgeht, das Dasein Gottes feststellt oder Beobachtungen über menschliche Dinge vorbringt. Plötzlich werde ich damit überrascht, daß mir, anstatt der üblichen Verbindungen von Worten mit ,ist' und ,ist nicht' kein Satz mehr begegnet, in dem nicht ein »sollte4 oder »sollte nicht4 sich fände. Dieser Wechsel vollzieht sich unmerklich; aber er ist von größter Wichtigkeit. Dies »sollte' oder »sollte nicht' drückt eine neue Beziehung oder Behauptung aus, muß also notwendigerweise beachtet und erklärt werden. Gleichzeitig muß ein Grund angegeben werden für etwas, was sonst ganz unbegreiflich scheint, nämlich dafür, wie diese neue Beziehung zurückgeführt werden kann auf andere, die von ihr ganz verschieden sind."3 Für die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts hat J. Jörgensen 4 die Humesche These mit logischen Begriffen neu formuliert. 1
Siehe ζ. Β. J. Wróblewski, The Problem of the Meaning of the Legal Norm. Österreichische Zeitung für öffentliches Recht, 3 - 4 , 1964, S. 254-260; T. Mazzarese, Deontic Logic as Logic of Legal Norms: Two Main Sources of Problems. Ratio juris, 4, 1991, S. 379-380. 2 G. H. von Wright, Is and Ought. In: Man, Law and Modern Forms of Life. Ed. E. Bulygin, J. L. Gardies, /. Niiniluoto, Dordrecht-Boston-Lancaster 1985, S. 266-267. Nach denselben Kriterien werden die verschiedenen normativen Theorien auch von A. Peczenik klassifiziert (On Law and Reason. Dordrecht-Boston-London 1989, S. 47). 3 D. Hume, A Treatise of Human Nature. Ed. L. A. Selby-Bigge, Erstausg. Oxford 1888; dt. Ausgabe: Traktat über die menschliche Natur. II., Hamburg 1973, S. 211 f. 4 J. Jörgensen, Imperatives and Logic. Erkenntnis, 7, 1937/1938, S. 288-296. Jörgensen formulierte das Dilemma wie folgt:
14
Α. Die Rechtsnorm im philosophischen Kontext
Nach ihrer Haltung zur Humeschen-Jörgensenschen These unterscheidet von Wright kognitivistische oder deskriptivistische und nonkognitivistische oder präskriptivistische Normtheorien. Für die ersteren sei die Auffassung der Norm als Aussage charakteristisch, die entweder wahr oder falsch sei. Für die Konzeptionen der zweiten Gruppe sei typisch, daß sie eine solche Verbindung von Normen mit Wahrheitswerten ablehnen. von Wright unterteilt die kognitivistischen Theorien weiter danach, wie sie die Wahrheitsfähigkeit der Normen erklären; er unterschiedet dazu naturalistische und nichtnaturalistische Theorien. Nach den Theorien der ersten Gruppe ergibt sich die Wahrheitsfähigkeit der Normen durch ihre Verbindung mit empirischen Fakten, die durch Beobachtung der gesellschaftlichen Realität ermittelt werden. Nach den Theorien der zweiten Gruppe ist sie durch die Möglichkeit ihrer inhaltlichen Richtigkeit ζ. B. durch ihre Ubereinstimmung mit Normen der Moral gegeben. Als Beispiel für nichtnaturalistische Theorien führt von Wright verschiedene Versionen naturrechtlicher Theorien an. Als Beispiele des naturalistischen Kognitivismus lassen sich einige soziologische und psychologische Rechtsnormtheorien nennen. Für die nonkognitivistischen Theorien ist nach von Wright die Zurückführung der Normen auf eine normsetzende Autorität charakteristisch. Diese Autorität kann der institutionalisierte Gesetzgeber sein; es kann sich bei ihr aber auch um eine menschliche Gemeinschaft handeln, die Verhaltensnormen spontan generiert (ζ. B. in Form von Gewohnheiten); schließlich kann die Autorität auch in einer fiktiven mythologischen Gestalt oder einem übernatürlichen Wesen bestehen (ζ. B. Gott, der Moses die Tafel mit den zehn Geboten gab).
a) Er geht von der Prämisse aus, daß die Logik nur solche Schlußfolgerungen behandelt, deren Elemente als wahr oder falsch bezeichnet werden können. b) Im zweiten Schritt seiner Überlegung übernimmt er die These Poincarés, nach der Imperativische Sätze (Normen) nicht von Aussagen abgeleitet werden können. Jörgensen kommt dann zum Schluß, daß „nach solcher Definition der logischen Deduktion der Satz in der Imperativform nicht von den Aussagesätzen abgeleitet werden kann, weil das Verhältnis der Implikation nur für die Sätze gilt, die wahr oder unwahr sein können [ . . . ] Diese Bedingung erfüllen jedoch die Imperativsätze nicht", weil „sie weder wahr oder unwahr in irgendeinem Sinn sein können, in dem diese Worte in der Logik verwendet werden." c) Daraus ergibt sich ein weiterer Aspekt des Dilemmas: „Zwei Gebote können erfüllt oder nicht erfüllt, akzeptiert oder nicht akzeptiert werden, und sie können für begründet oder unbegründet gehalten werden; aber danach zu fragen, ob sie wahr oder unwahr sind, scheint ohne jede Bedeutung zu sein - genauso, wie es unmöglich scheint, die Methode zu bezeichnen, mit der ihre Wahrheit oder Unwahrheit überprüft werden kann." d) Aufgrund dieses Befundes schließt Jörgensen: „Die Imperativsätze können nicht nur keine Schlüsse einer Deduktion mit indikativen Prämissen sein; sie können auch nicht als Element eines logischen Beweises allgemein fungieren." Das „ Jörgensensche Dilemma" (diesen Ausdruck hat A. Ross in dem Aufsatz Imperatives and Logic. Theoria, 7, 1941, S. 32 eingeführt) entsteht durch den Widerspruch dieses Schlusses zur alltäglichen Erfahrung, in der „es offensichtlich erscheint, daß ein Schlußsatz in Imperativform aus zwei Prämissen abgeleitet werden kann, von denen eine oder beide in der Imperativform ausgedrückt sind."
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der Rechtsnorm
15
Die nonkognitivistischen Theorien werden von O. Weinberger weiter in solche unterteilt, die von der Möglichkeit einer logischen Beschreibung des normativen Denkens ausgehen, und solche, die diese Möglichkeit ablehnen. Die zweite Gruppe wird von ihm mit dem Terminus „normenlogischer Skeptizismus" bezeichnet.5 Vertreter des logischen „Optimismus" - der ersten Gruppe - ist Weinberger selbst, Vertreter des Skeptizismus sind insbesondere der späte Kelsen und der späte von Wright 6 Diese grundlegende Klassifizierung von Wrights ergänzt K. Opalek um ein weiteres bedeutendes Kriterium, indem er auf zwei Grundtypen der Definition einer Norm hinweist, nämlich ihre linguistische Bestimmung als Satz im grammatischen Sinn (dies kann kognitivistischen und nonkognitivistischen Konzeptionen gemeinsam sein), und ihre Bestimmung als eine außersprachliche Tatsache.7 Dabei faßt Opalek selbst die Norm als außersprachliche Tatsache auf. 8 Im Rechtsdenken wird eine Norm entweder als nichtsprachliche oder als sprachliche Tatsache aufgefaßt. Ein Beispiel für die erstgenannte Deutung ist die späte Konzeption Kelsens, in der die Norm als Sinn eines Willensaktes bestimmt wird: „Eine Verpflichtung, eine Norm ist Sinn eines Willensaktes; d. h. eines Aktes, der auf das Benehmen eines anderen gerichtet ist, eines Aktes, dessen Sinn darin beruht, daß ein anderer (oder andere) auf eine gewisse Art und Weise sich zu benehmen hat (bzw. haben)."9
Beeinflußt insbesondere von Dubislav, für den es keinen Imperativ ohne einen Befehlsgeber gibt, 10 ergänzt Kelsen dies wie folgt: „Keine Norm ohne einen normsetzenden Willen, d. h. keine Norm ohne eine normsetzende Autorität. Eine Norm gilt nur, wenn sie durch einen Willensakt gesetzt ist, wenn sie der Sinn eines Willensaktes ist." 11
5
O. Weinberger, Der Normenlogische Skeptizismus. Rechtstheorie 17, 1986, S. 13 ff. H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen. Wien 1979; G.H. von Wright, Fn. 2, S. 263-281; G.H. von Wright, Is There a Logic of Norms? Ratio juris, 4, 1991, S. 265-283. 7 K. Opalek , Der Dualismus der Auffassung der Norm in der Rechtswissenschaft. Rechtstheorie, 20, 1989, S. 433. s Siehe K. Opalek, Theorie der Direktiven und Normen. Wien 1986, S. 147 ff.; K. Opalek/J. WoleAski, Is, Ought and Logic. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, LXXIII, 1987, S. 373 ff. 6
9 H. Kelsen, Zum Begriff der Norm. In: Festschrift für Hans Carl Nipperdey. MünchenBerlin 1965, S. 57-70; wiederabgedruckt in: H. Klecatsky, R. Marcie, H. Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross. II. Band, Wien-Frankfurt-Zürich-Salzburg-München 1968, S. 1457; ebenso in H.Kelsen, Fn. 6. 10 W. Dubislav, Zur Unbegründbarkeit der Forderungsätze. Theoria, 3, 1937, S. 330-342. π Η. Kelsen, Recht und Logik. Forum, Wien, XII, 1965, Heft 142, S. 421 -425, Heft 143, S. 495-500; wiederabgedruckt in: H. Klecatsky, R. Marcie, H. Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross. II. Band, Wien-Frankfurt-Zürich-Salzburg-München 1968, S. 1473.
Α. Die Rechtsnorm im philosophischen Kontext
16
Kelsen verbindet die Existenz einer Norm konsequent mit der Äußerung des Willens ihres Schöpfers. Diese These hält Kelsen auch i m Falle einer Norm aufrecht, die „der Sinn keines realen in der Wirklichkeit vorhandenen Willensaktes ist. [ . . . ] Ich kann mir eine Norm denken, die von keiner Autorität tatsächlich gesetzt wurde. [ . . . ] Der Grundsatz, keine Norm ohne eine normsetzende Autorität, bleibt aufrecht, auch wenn der autoritäre Willensakt, dessen Sinn die bloß gedachte Norm ist, fingiert ist. Eine bloß gedachte Norm ist der Sinn eines fingierten Willensaktes, zum Unterschied von einer positiven Norm, die der Sinn eines realen Willensaktes ist. Ganz allgemein formuliert: kein Sollen ohne ein - wenn auch nur fingiertes - Wollen." 12 Ein Beispiel für das Verständnis einer Norm als sprachliche Entität - und zwar i m Sinne der nonkognitivistischen Auffassung - ist die Konzeption Weinbergers. Die semantische und die psychologische (pragmatische) Auffassung der Norm werden von ihm konsequent getrennt: „Nach meiner Konzeption ist nicht jede sprachliche Verwendung eines Normsatzes ein normerzeugender Willensakt; Normen können [ . . . ] ζ. B. zum Zwecke der sprachlich-logischen Analyse gedacht werden oder Gegenstand verschiedener Mitteilungsprozesse sein." 13 Beispiele naturalistischer und nichtnaturalistischer kognitivistischer Theorien wurden bereits erwähnt. 1 4 A n anderer Stelle habe ich versucht, meine eigene Auffassung zu skizzieren, die als nonkognitivistischer Skeptizismus charakterisierbar ist und zwischen der semantischen und der pragmatischen Auffassung der N o r m 1 5 unterscheidet.
2. Normenontologie: Geltung als das Sein von Rechtsnormen Ein weiteres Klassifikationskriterium für Konzeptionen der Rechtsnorm besteht darin, wie die jeweilige Theorie die ontologische Frage nach dem Grund der Existenz bzw. der Geltung der Norm beantwortet. 12 H. Kelsen, Fn. 9, S. 1461. 13
O. Weinberger, Fn. 5, S. 35. Zum semantischen Normbegriff siehe auch C.E. Alchourrón, E. Bulygin, Pragmatic Foundations for a Logic of Norms. Rechtstheorie, 15, 1984, S. 453 ff.; J.'R.Sieckmann, Semantischer Normbegriff und Normbegründung. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 80, 1994, Heft 2, S. 228 ff. 14 Zu einzelnen Normenkonzeptionen nach den genannten Kriterien siehe Ρ Holländer, Rechtsnorm, Logik und Wahrheitswerte (Versuch einer kritischen Lösung des Jörgensenschen Dilemmas). Baden-Baden 1993, S. 16 ff. 15 Ibidem. Siehe auch P. Holländer, Logickâ hodnota „platnosti" noriem ako mozné riesenie Jörgensenovej dilemy? (Der logische Wert der „Geltung" der Normen als mögliche Lösung des Jörgensenschen Dilemmas?) Prâvnik, 1993, Nr. 3, S. 203-228; Mozno norme priradit' hodnotu pravdivosti? (Kann man der Norm den Wert der Wahrheit zuordnen?) Prâvnik, 1989, Nr. 9 - 1 0 , S. 800-816; Logical Models of the Relation Between Duty and Necessity, Permissibility and Possibility. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 2,1992, S. 242-258.
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der Rechtsnorm
17
R. Alexy unterscheidet einen soziologischen, einen ethischen und einen rechtlichen Geltungsbegriff. Eine Norm, so Alexy, „gilt sozial, wenn sie entweder befolgt oder ihre Nichtbefolgung sanktioniert wird". 1 6 Das Ausmaß der Befolgung sei gradierbar, und die Sanktion einer Verletzung der Rechtsnorm umfasse auch die Möglichkeit der Ausübung physischer Zwangsmaßnahmen, die in einem ausgereiften Rechtssystem durch staatlich organisierten Zwang erfolge. Die ethische Geltung einer Norm sei dagegen durch ihre moralische Begründbarkeit gegeben. Bei der rechtlichen Geltung unterscheidet Alexy ein internes und ein externes Problem. Das interne entstehe dadurch, daß die rechtliche Geltung auf der Setzung der Norm durch ein durch eine „höhere" Norm ermächtigtes Organ beruhe. Dies führe zu einem infiniten Regreß und zur Theorie der Grundnorm. Das externe Problem betreffe das Verhältnis des rechtlichen Geltungsbegriffs zu den beiden anderen Geltungsbegriffen; es besteht in der Spannung zwischen dem sozialen, dem ethischen und dem intern-rechtlichen Verständnis der Geltung einer Rechtsnorm. 17 O. Weinberger rien:
unterscheidet in seiner Klassifikation vier Gruppen von Theo-
• Die erste Gruppe bilden die „Stammbaumtheorien", welche die Geltung einer Rechtsnorm über ihre Entstehungsregeln begründen. Beispiele sind Kelsens Stufenbau- und Grundnormtheorie und die Lehre Harts über die „Erkenntnisregeln". • Die zweite Gruppe besteht aus realistischen Theorien, für die die Entscheidungspraxis und die tatsächliche Argumentation des Rechtsstabs das wesentliche Kriterium für geltendes Recht bilden. • Die dritte Gruppe wird von solchen Theorien gebildet, die entweder die Geltung des Rechts naturrechtlich zu begründen suchen oder wenigstens fordern, daß das Recht nur dann gilt, wenn es moralisch gerechtfertigt ist. • Die letzte ist die institutionalistische Konzeption - die eigene Konzeption Weinbergers - , die sowohl die normativ geregelten Entstehungsbedingungen des Rechts als auch die Beziehungen der Normen zu institutionellen Tatsachen berücksichtigt, deren Existenz der soziologischen Erfassung zugänglich ist. Soweit es um die Begründung der Geltung der einzelnen Norm als Bestandteil des geltenden Rechtssystems geht, stimmt diese Auffassung mit den Stammbaumtheorien überein. 18 16
R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts. 2. Auflage, Freiburg-München 1994, S. 139. Eine ähliche Gliederung nimmt J. Wróblewski vor (Verification and Justification in the Legal Sciences. Rechtstheorie, Beiheft 1 (1979), S. 207 ff.), wenn er systematische, faktische und axiologische Geltung unterscheidet, oder A. Aarnio (The Rational as Reasonable. A Treatise on Legal Justification. Dordrecht-Boston-Lancaster-Tokyo 1987, S. 33 ff.), der die Ausdrücke „systematische Geltung", „Wirkung" und „Akzeptierbarkeit" von Rechtsnormen verwendet. 17 R. Alexy, Fn. 16, S. 139-153. Der Begriff der internen und externen Geltung der Rechtsordnung wird ähnlich auch von A. Aarnio bestimmt (Fn. 17, S. 34). is O. Weinberger, Norm und Institution. Wien 1988, S. 122-123. 2 Holländer
18
Α. Die Rechtsnorm im philosophischen Kontext
Wird der ontologische Aspekt der Normgeltung zur Klassifikation von Normentheorien verwendet, lassen sich analytische und synthetische Theorien unterscheiden. Analytische Theorien erklären die Geltung von Normen lediglich auf der Grundlage des Normensystems, nämlich entweder - auf dem Kelsenschen Weg unter Hinweis auf einen gedachten abstrakten Brennpunkt eines Normensystems als letzten Geltungsgrund, oder - auf dem Hartschen Weg - unter Hinweis auf eine Menge sozial akzeptierter Normen, welche die Geltungsbedingungen für die übrigen Normen bestimmen. Synthetische Konzeptionen verweisen demgegenüber auf „exogene" Geltungsgründe, die außerhalb eines rechtlichen Normensystems gegeben sind. Diese Konzeptionen können in zwei Gruppen unterteilt werden. Die erste sieht den Grund der Rechtsgeltung in einem anderen Normensystem (insbesondere in der Moral) oder in einer damit verbundenen Autorität (ζ. B. in Gott), die zweite findet den Geltungsgrund in der faktischen Aktivität öffentlicher Institutionen. Zur erstgenannten Gruppe gehören natur- oder vernunftrechtliche Positionen, zur zweitgenannten der Rechtspositivismus. Für positivistische Theorien ist eine Rechtsnorm entweder ein institutionelles Faktum „a priori", d. h. sie ist gültig, sofern sie vom machthabenden Souverän als Rechtsnorm eingesetzt wurde (Th. Hobbes, J. Austin), oder - nach der soziologischen Jurisprudenz - ein institutionelles Faktum „a posteriori" (d. h. Ergebnis einer induktiven Verallgemeinerung). Es spricht alles dafür, daß es im Rechtsdenken nicht nur einen Geltungsbegriff gibt, sondern mehrere, die von der jeweiligen Perspektive abhängig sind. Zu beachten sind insbesondere der Gesichtspunkt des Gesetzgebers, des Richters und des externen Beobachters. Ferner wirkt sich aus, ob die Herangehensweise präskriptiv oder deskriptiv ist. Während ein äußerer Beobachter, der zum deskriptiven Modell neigt, Geltung eher als eine institutionelle Erscheinung a posteriori verstehen wird, mag einem äußeren Beobachter, der einen präskriptiven Standpunkt einnimmt, das naturrechtliche Modell besser passen. Für einen Richter wiederum ist das analytische Herantreten charakteristisch. Daher muß eine adäquate Geltungskonzeption eine Antwort auf die Frage geben, wie „Kollisionsfälle" gelöst werden, wie also mit unterschiedlichen Ergebnissen der analytischen und synthetischen Bestimmung der Geltung umgegangen werden soll. Die Ermittlung der hierfür ausschlaggebenden Gesichtspunkte ist insbesondere für jene Rechtssubjekte von Bedeutung, die - wie der Gesetzgeber und der Richter - durch ihre gesellschaftliche Rolle gezwungen sind, mögliche Geltungskollisionen autoritativ zu lösen. Ein Beispiel für die Lösung von Geltungskollisionen durch den Gesetzgeber bietet die Restitutionsgesetzgebung nach 1989 in der Tschechoslowakei und nachfolgend in der Tschechischen Republik, durch die die Spannung zwischen der analytischen und der naturrechtlichen Geltung durch rückwirkende Gesetze aufgehoben wurde. Beispiele für die richterliche Lösung von Geltungskollisionen bieten diverse Urteile des Bundesverfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland, die - ausgehend von der „Radbruchschen Formel" -
I. Der Begriff der Rechtsnorm
19
ebenfalls auf die Spannung zwischen der analytischen und der naturrechtlichen Geltung reagieren. Auf die Spannung zwischen dem positiven Recht und dem Naturrecht sowohl aus der Perspektive des Gesetzgebers als auch aus der des Richters soll weiter unten näher eingegangen werden (Kapitel 3). Zu einer anderen Kollision, nämlich der Spannung zwischen dem positiven Recht aus der Perspektive des Gesetzgebers und dem positiven Recht aus der Perspektive eines äußeren Beobachters sei bereits hier das folgende bemerkt: Ein typisches Problem einer solchen Kollision ergibt sich bei Akzeptanz der desuetudo als eines Derogationsgrundes im System des geschriebenen Rechts. Nach O. Weinberger müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, damit eine „Obsolenz" vorliegt (die neben der desuetudo auch das Prinzip cessante ratione legis cessât lex ipsa umfaßt): ,,a) Den anwendenden Organen wird implizit die Kompetenz zugesprochen, Rechtsregeln, die der aktuellen institutionellen Lage und Wertung nicht mehr entsprechen, nicht mehr als geltende Vorschrift zu betrachten [ . . . ] b) Man deutet das Obsoletwerden als ,negatives (oder: derogierendes) Gewohnheitsrecht'. Das heißt: die Gewohnheit der Nichtanwendung zusammen mit der allgemein herrschenden Überzeugung der Unrechtlichkeit der formal gültigen Regel erzeugt eine Gewohnheitsrechtsnorm, die die bisherige Regel aufhebt." 19
Ein praktisches Beispiel ist die Frage der Geltung des Dekrets des Präsidenten der Republik Nr. 108/1945 der Sammlung der Gesetze (im weiteren „SG") in der derzeitigen tschechoslowakischen Rechtsordnung. Das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik hat dazu wie folgt Stellung genommen: „Im Hinblick darauf, daß dieser normative Akt seinen Zweck schon erreicht hat, seit mehr als vier Jahrzehnten keine Rechtsverhältnisse mehr begründet und auch in Zukunft keinen konstitutiven Charakter mehr hat, kann man heute nicht im nachhinein einen etwaigen Widerspruch zu einem Verfassungsgesetz oder zu einem völkerrechtlichen Vertrag gemäß Art. 10 der Verfassung prüfen [ . . . ] , da ein solches Vorgehen keinerlei rechtliche Auswirkungen hätte."
Anders ausgedrückt: das Dekret des Präsidenten der Republik hat seine Geltung durch Obsolenz verloren. Ein möglicher Ansatzpunkt für die Behandlung der Geltungskollisionen insbesondere für Subjekte, die durch ihre gesellschaftliche Rolle gezwungen sind, sie autoritativ (d. h. mit normativen Folgen) zu lösen, ist die These Weinbergers, nach der das Postulat der Widerspruchslosigkeit stärker ist als das Postulat der Hierarchie der Rechtsnormen.20 19 Ibidem, S. 121-122. 20
Diese These formulierte O. Weinberger in seinem Beitrag „Neuer Institutionalismus als Grundlage der Rechtstheorie und der politischen Theorie", den er am 9. April 1999 an der Rechtsfakultät der Karlsuniversität in Prag vortrug. Sein Prinzip der Priorität des Postulats 2*
20
Α. Die Rechtsnorm im philosophischen Kontext
I m folgenden wollen wir jedoch zum eigentlichen Begriff der Rechtsgeltung zurückkehren, wie er vom deskriptiven Standpunkt eines äußeren Beobachters erscheint. Dieser Standpunkt könnte den positivistischen Theorien zugeordnet werden, für die eine Rechtsnorm ein institutionelles Faktum a posteriori darstellt. Er verweist nicht nur auf die soziale Beschaffenheit der (Rechts-)Norm, sondern erklärt hierdurch auch den grundlegenden Begriffsapparat des normativen Denkens, insbesondere die normativen Modalitäten des Gebots, des Verbots und der Erlaubnis und die mit ihnen verbundenen Begriffe des subjektiven Rechts und der Rechtspflicht.
3. Reproduktion von Leben, Freiheit und Macht begriffliche Ansätze zur Beobachterperspektive Der Begriff „ N o r m " kann aus den grundlegenden Kategorien der Geschichtsphilosophie abgeleitet werden. Dies sind die Kategorien Reproduktion, Freiheit und Macht. 2 1 Daher ist es notwendig, das Verhältnis zwischen diesen Kategorien und dem Begriff „ N o r m " zu klären. der Widerspruchslosigkeit vor der Hierarchie eines Normensystems führt zur notwendigen Akzeptanz auch anderer Rechtsquellen als des geschriebenen Rechts, insbesondere des richterlichen Rechts und des Gewohnheitsrechts. Dabei stellt sich die Frage nach der Legitimität einer solchen Erweiterung des Systems von Rechtsquellen. Dazu kann auf ein geschichtliches Beispiel zur Lösung der Kollision zwischen analytischer und soziologischer Geltung hingewiesen werden: „Die ungarischen Gesetze berufen sich oft auf das Gewohnheitsrecht, das sie als verbindlich anerkennen [ ... ]. Über das Verhältnis des Gewohnheitsrechts zum Gesetz führte Tripartitum an, eine Rechtsgewohnheit könne neues Recht bilden, altes Recht ändern und das Gesetz authentisch erklären [ ... ]. Diese Grundsätze haben sich in der ungarischen Rechtsordnung erhalten, und daher ermöglicht das ungarische Recht, daß eine Rechtsgewohnheit die Gesetze ergänzt [ ... ], authentisch auslegt [ ... ], bzw. daß das Gewohnheitsrecht Gesetze aufhebt." (/. Rauscher , Ο obycajovom prave na Slovensku (Über Gewohnheitsrecht in der Slowakei). In: Komentâr k ceskoslovenskému obecnému zâkoniku obcanskému a obcanské pravo platné na Slovensku a Podkarpatské Rusi. Dil prvy. Red.: F. Roucek, J. Sedlàcek, Praha 1935, S. 162.) 21 Die Ansicht, daß der Kategorie der Reproduktion der Ausgangspunkt gesellschaftswissenschaftlicher Theorien liegt, ist in der Philosophie von der stoischen Lehre von der „oikeiosis" über Rousseau bis hin zu Habermas präsent. (M. T. Cicero, Von den Pflichten. Frankfurt a. M.-Leipzig 1991, S. 21: „Von Anfang an ist allen Lebenwesen von Natur das Streben eingegeben, sich, ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit zu erhalten"; J.J. Rousseau, Du contracte social ou principes du droit politique. Dt. Ausgabe: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1994, S. 16-17: „Ich unterstelle, daß die Menschen jenen Punkt erreicht haben, an dem die Hindernisse, die ihrem Fortbestehen im Naturzustand schaden, in ihrem Widerstand den Sieg davontragen über die Kräfte, die jedes Individuum einsetzen kann, um sich in diesem Zustand zu halten. [ . . . ] Da die Menschen nun keine neue Kräfte hervorbringen, sondern nur die vorhandenen vereinen und lenken können, haben sie kein anderes Mittel, sich zu erhalten, als durch Zusammenschluß eine Summe von Kräften zu bilden, stärker als jener Widerstand, und diese aus einem einzigen Antrieb einzusetzen und gemeinsam wirken zu lassen"; J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handels. Frankfurt am Main 1984, S. 479: „Mein theoretischer Ansatz läßt
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Allen Lebewesen sind im Prozeß ihrer natürlichen Entwicklung bestimmte Grundmerkmale eigen. Ich nehme an, daß die entscheidende Eigenschaft, mit der jedes Lebewesen seine Existenz bestätigt, die Reproduktion (bzw. die Reproduktionsfähigkeit) ist. Diejenigen Lebewesen - einschließlich des Menschen - , die nicht reproduktionsfähig waren, sind während der Evolution untergegangen. Auch die menschlichen Gemeinschaften, Nationen oder Kulturen, die nicht reproduktionsfähig waren, sind verschwunden. Unter „Reproduktionsfähigkeit" verstehe ich dabei die Fähigkeit, sich als eine Gattung organischer Natur zu entwickeln und diese zu bewahren, und zwar in der Konfrontation mit der Umgebung, beim Menschen in der Konfrontation mit der natürlichen Umwelt und anderen Menschengruppen, Kulturen oder Nationen. Gehen wir weiter von der Voraussetzung aus, daß der Mensch in der Natur nicht als Robinson Crusoe überleben kann. Der Mensch ist „das gesellschaftliche Wesen". 22 Er lebt und reproduziert sich nur in einer Gruppe. Für die Reproduktion des Individuums ist es daher notwendig, daß sich die Gruppe reproduziert. Das bedeutet, daß die Reproduktion eines einzelnen Menschen für ihn bestimmte Verhaltensweisen in der Gruppe erforderlich macht. Es müssen in einer solchen Gruppe Verhaltensregeln für ihre Mitglieder existieren, die die Reproduktion der Gruppe bezwecken und sichern. Dabei ist zu beachten, daß die Reproduktion der Gruppe nicht gleichzeitig die Reproduktion jedes Mitglieds bedeuten muß. Wir sind hier auf ein interessantes Problem gestoßen: Für den Menschen ist seine Denkfähigkeit charakteristisch, d. h. die Fähigkeit, abstrakt die Welt zu reproduzieren und in ihr die Verhaltensalternativen zu wählen, die zur Befriedigung seiner Bedürfnisse führen. Der Mensch ist also ein denkendes Wesen, das des gewollten Handelns fähig ist. Dies führt zwangsläufig zu einem Konflikt zwischen der Individualität des Menschen, seinen Interessen und Zielen, und der Notwendigkeit, sich einer Gruppe einzufügen. Denn die Gruppenreproduktion ist mit der Existenz eines Leitungssystems in der Gruppe verbunden. Das Verhalten des Individuums muß daher der Notwendigkeit untergeordnet sein, die Reproduktion der Gruppe zu sichern.
sich [ . . . ] von der Absicht leiten, ein in den Formen der gesellschaftlichen Reproduktion selbst eingekapseltes Potential der Vernunft zu reklamieren."). Auf den axiomatischen Charakter der Kategorie der Macht für gesellschaftswissenschaftliche Überlegungen mag B. Russell am treffendsten hingewiesen haben (B. Russell, Macht. Eine sozialkritische Studie. Zürich 1947, S. 10: „In diesem Buch werde ich mich um den Beweis bemühen, daß der Fundamentalbegrif in der Gesellschaftswissenschaft Macht heißt im gleichen Sinne, in dem die Energie deirFundamentalbegriff in der Physik darstellt."). Der axiomatische Charakter der Kategorie der Freiheit zur Bestimmung rechtlicher Begriffe wird nicht nur durch die philosophischen Konzepte von Kant, Bentham, Mill, Hayek , Popper und sonstiger großer liberaler Denker gestützt, sondern auch mittels empirischer Untersuchungen, die einzelne menschliche Gemeinschaften unter dem Gesichtspunkt der in ihnen herrschenden Akzeptanz von Freiheit vergleicht. 22 O. Weinberger, Fn. 18, S. 16.
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Daraus ergibt sich, daß in jeder Menschengruppe notwendig ein Führungssystem, d. h. ein System der Einwirkung auf einzelne besteht, das den Zweck hat, einen bestimmten Zustand und die Reproduktion der Gruppe zu sichern. Dieses Wirkungssystem nennen wir „Macht". Es ist also die Macht, die das notwendige Verbindungsglied zwischen der Reproduktion der Gesellschaft und dem individuellen Verhalten darstellt. Der Begriff der Macht verweist auf zwei andere Elemente: auf die Reproduktion des Lebens und auf die Fähigkeit des Menschen, Verhaltensalternativen zu formulieren - auf die menschliche Freiheit. Die Macht ist nämlich die Einschränkung der Freiheit des einzelnen zwecks Reproduktion der Gruppe (Gemeinschaft). 23 Demnach wird die Freiheit von der Macht beschränkt und gleichzeitig gesichert. So hat die Macht, wie M. Duverger bemerkt, eine Janws-Gestalt: „Macht hat zwei Gesichter zugleich - einerseits ist sie der Unterdrükker und andererseits der Integrator." 24 Dieses ewige Problem der Menschheit - das Verhältnis zwischen der Freiheit des Individuums und der Unmöglichkeit, sich außerhalb der Gruppe zu reproduzieren, und somit der Notwendigkeit, sich dieser unterzuordnen - formulierte schon Kant: „Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einem Willen [ . . . ] . Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv erkannt werden, auch subjektiv notwendig [ . . . ] , mit einem Worte, ist der Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäß (wie es bei Menschen wirklich ist): so sind die Handlungen, die objektiv als notwendig erkannt werden, subjektiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen Willens objektiven Gesetzen gemäß ist Nötigung" 25
Die Macht als eine Fähigkeit, das Verhalten der Menschen zu bestimmen, wird durch die Festlegung der verlangten Verhaltensweise und die Sicherung ihrer Einhaltung realisiert. Durch die Festlegung der geforderten Verhaltensweise entsteht die Norm. Die Norm ist also eine verbindliche Regelung des menschlichen Verhaltens. Damit ist sie ein Element des gesellschaftlichen Lenkungssystems. Dabei bleibt die Frage nach dem Subjekt, das die erforderliche Verhaltensweise formuliert, und damit die Frage nach dem Verhältnis des Machtsubjekts zur Gruppe zunächst offen. Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wird, umfaßt der Bereich des Rechts nicht nur die Rechtsvorschriften und Rechtspräzedenzien, sondern auch die rechtlichen Gewohnheiten oder das von E.Ehrlich so genannte „lebendige Recht". 26 23
Im Zusammenhang mit der Bestimmung der Beziehung zwischen der Freiheit und der Macht steht der folgende Gedanken von Rawls: „Wenn sich mehrere Menschen nach Regeln zu gegenseitig nutzbringender Zusammenarbeit vereinigen", seien sie gezwungen „ihre Freiheit zum Vorteil aller [zu] beschränken". (/. Rawls , A Theory of Justice. Cambridge, Mass. 1971; dt. Ausgabe: Eine Theorie der Gerechtigkeit. 6. Aufl., Frankfurt 1991, S. 133.) 24 M. Duverger, Sociologie politique. Paris 1966, S. 29. 2 5 /. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Stuttgart 1994, S. 56.
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Im Rahmen der inneren Ausdifferenzierung der Gesellschaft entstehen außer dem alles einschließenden gesamtgesellschaftlichen Leitungssystem (dem Staat und dem Recht) weitere regulative Systeme, einerseits bereits durch die Struktur der Gesellschaft - ζ. B. die Moral - und andererseits durch die außerordentliche Erweiterung des Spektrums der menschlichen Tätigkeiten über die Grenzen der unmittelbaren biologischen, ökonomischen und machtausübenden Reproduktion hinaus. Im ersten Fall entstehen normative Gesellschaftssysteme infolge der inneren Struktur der Gesellschaft. So bilden sich verschiedene normative Systeme in den Familien, in Großstädten und auf dem Lande, in Vereinen, politischen Parteien usw. Im zweiten Fall geht es um normative Systeme, die nicht unmittelbar die Reproduktion einer bestimmten gemeinschaftlichen Gruppe sichern. Sie entstehen in der Gesellschaft als Verhaltensmuster, die zur Erreichung eines bestimmten Zieles führen. Da sie solches Verhalten der einzelnen betreffen, das die Reproduktion der Gruppe nicht direkt beeinflußt, werden sie in der Gesellschaft nicht durch Macht erzwungen. Beispiele sind logische Normen, mathematische Normen, Sprachnormen usw. Hier soll nur die erste Gruppe der Normen interessieren, also solche Normen, die außer einem bestimmten Ziel vor allem die Reproduktion einer bestimmten Gruppe oder der ganzen Gesellschaft verfolgen und die von dieser Gruppe zugleich gebildet und gesichert werden. Eines dieser normativen Systeme ist das Recht.
IL Merkmale der Rechtsnorm Unterziehen wir die Definitionsmerkmale der Rechtsnorm einer kurzen Analyse: 27 Für die Rechtsnorm sind wesentlich ihre Regulativität und ihre Allgemeinheit. 1. Die regulative Funktion Das Wesen der Regulativität besteht darin, daß die Norm eine bestimmte Anweisung für eine bestimmte Verhaltensweise darstellt. Die Norm beschränkt also die Wahl der Verhaltensalternativen des einzelnen. Nach der Regelungsform, die von der Struktur der Rechtsnorm und ihrer Modalität abhängt, kann diese Anweisung 26 E. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts. 4. Auflage, Berlin 1989, S. 127 — 136,155 ff. 27 Zu den Definitionsmerkmalen der Rechtsnorm vgl. V Knapp u. Koll., Teoretické problémy tvorby ceskoslovenského prava (Theoretische Probleme der tschechoslowakischen Gesetzgebung). Praha 1983, S. 26 ff.
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ein Gebot, ein Verbot oder eine Erlaubnis sein. Die Regulativität ergibt sich aus der Verbindung der Norm mit der Macht. Macht, die Fähigkeit, das Verhalten von Menschen zu bestimmen, ist die Beschränkung der Freiheit zwecks Reproduktion (s. o.). Sie wird durch die Festsetzung der geforderten Verhaltensweise und durch die Sicherung ihrer Einhaltung realisiert. Durch die Bestimmung des geforderten Verhaltens wird dieses vom Machtsubjekt geregelt. Das Machtsubjekt formuliert also die Norm. Konfrontieren wir die angeführten Thesen mit einem möglichen Einwand. Der Einwand besteht in dem Hinweis, daß das Recht nicht nur aus Verhaltensnormen, sondern auch aus Ermächtigungsnormen besteht; er wurde bereits von Η. Kelsen, F. Weyr und A. Merkl vorgetragen 28 und von H L. A. Hart ausgearbeitet. Hart unterscheidet einerseits Verhaltensnormen und andererseits Erkenntnis-, Anderungsund Entscheidungsnormen (als Metanormen zu den Verhaltensnormen). 29 Nach dieser Konzeption erfaßt das Merkmal der Regulativität nicht alle Rechtsnormen. Eine Erwiderung auf diesen Einwand findet sich bereits bei A. Ross, dem zufolge „jede Kompetenznorm in eine Verhaltensnorm umformuliert werden kann." 30 Dies läßt sich mittels einer Analyse von Harts Erläuterung des jeweiligen Inhalts von Erkenntnis-, Anderungs- und Entscheidungsregeln (Normen) belegen. Die Erkenntnisregeln „setzen allgemeine charakteristische Eigenschaften fest, über die jede primäre Regel verfügen muß" 31 . Zu solchen Normen werden ζ. B. auch Publikationsnormen gerechnet, die die formalen Merkmale der Rechtsquellen bestimmen (Veröffentlichung als Bedingung der Geltung). Die Publikationsnorm ist aber eine Verhaltensnorm: Einerseits legt sie für die normsetzenden Subjekte die Pflicht fest, sich in bestimmter Weise zu verhalten, andererseits legt sie für alle übrigen Subjekte die Pflicht fest, eine Norm, die die in der Publikationsnorm angeführten Merkmale erfüllt, zu respektieren, bzw. - wenn die Norm diese Merkmale nicht erfüllt - die Berechtigung der Adressaten oder die Pflicht des Rechtsstabes, diese Norm nicht zu berücksichtigen. Die Anderungsregeln umfassen die Ermächtigungs- bzw. Kompetenznormen, die die Befugnis geben, die Rechtsnormen zu erlassen und aufzuheben. 32 Diese Normengruppe legt für bestimmte Subjekte die Pflicht und Befugnis zu bestimmtem Verhalten, nämlich zu normenbildender Tätigkeit fest. Schließlich gibt es die Entscheidungsregeln, denen die Begriffe „Richter oder Gericht, Anwendung des Rechts und der Gerichtsentscheidungen"33 zuge-
28 Siehe O. Weinberger, The Role of Rules. Ratio juris, 1, 1988, Nr. 3, S. 228. 29 H. L. A. Hart, Concept of Law. Oxford 1961; dt. Ausgabe: Der Begriff des Rechts. Frankfurt a.M. 1973, S. 134-138. 30
A. Ross, Directives and Norms. London 1968, S. 120; siehe dazu auch Z. Ziembinski, Norms of Competence as Norms of Conduct. Archivum Iuridicum Cracoviense, 3, 1970, S. 21 -31. 3 1 Η L. A. Hart, Fn. 29, S. 136. 3 2 Ibidem, S. 136. 33
Ibidem, S. 138.
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ordnet sind. Diese Gruppe von Metanormen legt ebenfalls einen Kreis von Adressaten (Gerichte, Richter) fest und statuiert Befugnisse und Pflichten für diese Subjekte, sich auf eine bestimmte Weise und mit bestimmten rechtlichen Folgen zu verhalten (Gerichtsverfahren durchzuführen, Entscheidungen zu treffen, usw.). Bei der Analyse dieses Problems stimmt Weinberger mit dem späten Kelsen darin überein, daß die Ermächtigungsnorm zwei normative Elemente enthält: (i) eine hypothetische Norm, welche die Geltungsgrundlage für die Verhaltensnorm bildet, indem sie den diese setzenden Willensakt autorisiert; (ii) eine Norm, die - adressiert an ein Organ oder eine Person - , eine Pflicht oder ein Recht statuiert, Verhaltensnormen zu bilden, falls bestimmte Bedingungen erfüllt sind. 34 Bei (ii) handelt es sich um eine Verhaltensnorm; (i) enthält ein Kriterium für die Geltung (Existenz) von Verhaltensnormen, womit die Norm für bestimmte Subjekte selbst eine Verhaltensnorm darstellt, indem sie eine Pflicht statuiert, die Norm einzuhalten, zu deren Setzung ermächtigt wurde.
2. Allgemeinheit Bei der Bestimmung der Merkmale der Norm stellt sich ferner die Frage, ob nur ein allgemeines oder auch ein individuelles Regulativ als Norm angesehen werden kann. H. Kelsen bestimmt die Norm als „Sollen" ohne Berücksichtigung des Merkmals der Allgemeinheit. In seiner Theorie des Stufenbaus der Rechtsordnung, der mit der Grundnorm anfängt und mit der individuellen Norm endet, unterscheidet er generelle und individuelle Normen. 35 Kelsens Ansicht wird von etlichen Autoren geteilt, etwa von /. Tammelo, U. Klug, Z. Ziembmski oder G.H. von Wright. 36 Eine generelle Norm wird von Kelsen auch als „Sollregel" bezeichnet. Den generellen Charakter als für den Begriff der Norm wesentlich anzusehen, ist für Kelsen jedoch unbegründet. 37 Eine ausführliche Analyse dieses Problems findet sich bei O. Weinberger. Er bestimmt die Allgemeinheit eines Satzes durch die Allquantifikation und führt aus: „Für einen allgemeinen Satz gilt immer die logische Regel de omni et nullo"; d. h.: „Für jedes χ gilt: wenn χ die Eigenschaft F hat, dann ergibt sich, daß auch Xi die Eigenschaft F hat (wobei Xj ein beliebiges Element des x-Universums ist)" 38 . Entscheidend ist dabei, daß man „den Begriff des allgemeinen Satzes überhaupt nicht 34 O. Weinberger, Fn. 28, S. 230. 35 H. Kelsen, Fn. 9, S. 1464. 36 Siehe ζ. B. von G.H. von Wright, Norm and Action. London 1963, S. 104; Ζ Ziembmski, Logika praktyczna. 4. Ausg., Warszawa 1965, S. 103-104; I. Tammelo, Outlines of modern legal logic. Wiesbaden 1969, S. 88. 37 H. Kelsen, Fn. 9, S. 1465-1466. 38 O. Weinberger, Norma, prâvni norma a pravo ν pojeti Jifiho Boguszaka (Norm, Rechtsnorm und Recht in der Auffassung von Jiri Boguszak). Prâvnik, Nr. 9, 1967, S. 866.
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Α. Die Rechtsnorm im philosophischen Kontext
ohne Rekurs auf einen individuellen Satz derselben semantischen Kategorie definieren kann", 39 so daß Generalität Individualität voraussetzt. Ein weiteres Argument, das Weinberger zugunsten der Existenz individueller Normen anführt, ist die Tatsache, daß die individuelle Norm wie die allgemeine Norm zu einer von der der Aussagen verschiedenen semantischen Kategorie gehört. Er stellt dann fest, daß sowohl die allgemeine als auch die individuelle Norm zur selben semantischen Kategorie gehören und die Allgemeinheit folglich kein Begriffsmerkmal der Norm ist40 Weinberger ist sich jedoch der Notwendigkeit bewußt, die Gruppe der Rechtsnormen, für die das Merkmal der Allgemeinheit charakteristisch ist, semantisch abzusondern. Er führt deswegen ähnlich wie Kelsen den Begriff der Rechtsregel ein, die er als „eine Rechtsnorm, die durch einen universell adressierten hypothetischen Normsatz ausgedrückt werden kann," 41 bestimmt. Diese Regel ist „allgemein in dem Sinne, daß sie an jeden adressiert ist und gerade die Subjekte betrifft, die alle Subsumtionsbedingungen erfüllen", wobei „die Menge der subsumierbaren Fälle weder zahlenmäßig noch durch Aufzählung der Individuen bestimmt ist, sondern durch begriffliche Merkmale, die wir Subsumtionskriterien nennen können." 42 Der Bezug der Allgemeinheit jeweils auf die Subjekte oder den Gegenstand der Rechtsnorm zwingt zu einer weiteren terminologischen Unterscheidung: Zum Ausdruck der Allgemeinheit der Subjekte soll der Ausdruck „generelle Norm" (im Gegensatz zur individuellen Norm) verwendet werden, zum Ausdruck der Allgemeinheit eines Gegenstands der Ausdruck „abstrakte" Norm (im Gegensatz zur konkreten Norm) 43 . M. Pavcnik weist dabei auf die Möglichkeit gemischter Normen hin, d. h. auf generelle konkrete Normen und individuelle abstrakte Normen. Als Beispiel der ersten Gruppe können Normen dienen, die die Hilfe für eine generell begrenzte Zahl von Opfern einer konkreten Naturkatastrophe (ζ. B. eines Hochwassers) regeln, als Beispiel der zweiten Gruppe abstrakte Normen, die in einem Vertrag enthalten sind, der durch genau bestimmte Subjekte abgeschlossen wurde. 44 In der Rechtstheorie gibt es aber auch Konzeptionen, die den Normbegriff mit dem Begriff der Allgemeinheit verbinden. Ahnlich wie Z. Ziembinski oder M. Pavcnik unterscheidet V. Knapp zwei Weisen, in denen eine Rechtsnorm notwendig allgemein sei. Die erste betrifft ihren Gegenstand: „Die Rechtsnorm bestimmt ihren Tatbestand allgemein, d. h. daß sie niemals einen bestimmten konkreten Fall 39 Ibidem, S. 866. «ο Ibidem, S. 866. O. Weinberger, 42 O. Weinberger,
Fn. 18, S. 86. Fn. 38, S. 867.
43 Siehe ζ. Β. Ζ Ziembinski, Metodologiczne zagadnienia prawoznawstwa. Warszawa 1974, S. 24; M. Pavcnik, Die Rechtsnorm. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 83, 1997, Heft 4, S. 472-476. 44 M Pavcnik, Fn. 43, S. 475.
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lösen kann" 45 . Die zweite betrifft die Subjekte der Norm und hat zwei Aspekte: „Der erste beruht auf der ,absoluten4 Wirkung der Rechtsnorm, d. h. darauf, daß die Rechtsnorm die universale Pflicht aller Subjekte begründet, sich jeder Handlung zu enthalten, die im Widerspruch zu der Rechtsnorm wäre". Der zweite Aspekt der Allgemeinheit der Rechtsnorm „beruht nicht auf der Zahl ihrer Subjekte, sondern auf der Art ihrer Bestimmung, d. h. darauf, daß sie als die Gesamtzahl der Subjekte, abgegrenzt durch bestimmte allgemeine Merkmale, bestimmt sind". Somit „ist die Allgemeinheit der Rechtsnorm, was ihre Subjekte betrifft, auch dann gegeben, wenn die Gesamtzahl ihrer Subjekte nur ein Element enthält" 4 6 Die Norm ist, ähnlich wie die Aussage, eine Denkform oder - in Carnaps Terminologie - eine Sprachform. Anders als bei der Norm bestreitet bei der Aussage niemand, daß es außer den allgemeinen auch individuelle Aussagen gibt. Die Allgemeinheit ist jedoch ein auf der Individualität aufgebauter Begriff; Allgemeinheit kann es ohne Individualität nicht geben, so wie es die Theorie ohne Empirie, Abstraktion ohne Anschaulichkeit nicht gibt. Allgemeine und individuelle Regulative des menschlichen Verhaltens gehören zur selben semantischen Kategorie; sie sind regulative Bestimmungen des Verhaltens. Aber so, wie man in der menschlichen Erkenntnis über eine Verselbständigung der Theorie gegenüber der Empirie sprechen kann, kann man auch über bestimmte (funktionelle) Verselbständigungen allgemeiner Regulative im System der Machtregulierung der Gesellschaft sprechen. Auch O. Weinberger ist sich - obwohl er überzeugend für die semantische Einheit allgemeiner und individueller Regulative argumentiert - des Bedürfnisses nach einer separaten Bezeichnung der allgemeinen Regulative bewußt, weil sie eine spezifische Funktion im System der Machtlenkung ausüben. Auf gleiche Weise geht Kelsen vor. Nach Weinberger wird ein bestimmtes System von Regulativen im übrigen nur dann institutionalisiert, wenn die Regelung allgemein ist. Die Wahl der Bezeichnung dieser zwei Entitäten (d. h. allgemeiner sowie individueller Regulative und nur allgemeiner Regulative) ist eine Frage der Konvention. In Fällen, in denen die Lösung von einer Konvention abhängt, sollte bei der Wahl der Bezeichnung der Sprachgebrauch respektiert werden. In der juristischen Sprache (im Sinne von B. Wróblewskis Unterscheidung zwischen der Rechtssprache als Objektsprache und der juristischen Sprache als ihrer Metasprache 47) verbindet sich der Ausdruck „Norm" mit der Allgemeinheit der Regulation. Ein Jurist würde normalerweise nicht sagen, daß der Inhalt eines Gerichtsurteils eine Rechtsnorm wäre. Daher sollen die semantischen Ausdrücke, die eine allgemeine oder individuelle Regulation ausdrücken, als „Regulative" bezeichnet werden; ausschließlich allgemeine Regulative sollen als „Normen" bezeichnet werden. Ob eine Norm vorliegt, 45 V. Knapp, Nëkteré otâzky pouzivâni formâlni logiky pri tvorbë prava (Einige Fragen der Anwendung der Formalogik in der Gesetzgebung). Statni sprava, Nr. 2, 1980, S. 35. 46 Ibidem, S. 35-37. 47 B. Wróblewski, Jezyk prawny i prawniczy. Krakow 1948.
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Α. Die Rechtsnorm im philosophischen Kontext
bemißt sich also danach, ob das Regulativ seinen Gegenstand und seine Subjekte als Klassen durch Definitionsmerkmale oder durch Aufzählung bestimmt. Normative Konsequenzen im Bereich des Rechts haben jedoch auch die individuellen Rechtsakte (Gerichts- oder Verwaltungsentscheidungen) sowie die Rechtshandlungen. Es stellt sich damit die Frage, ob sie Rechtsnormen enthalten. Allgemeine Regulative sehen bestimmte allgemeine normative Folgen für die Fälle vor, auf die sie sich beziehen. Daher bewirkt die Realisierung des allgemeinen Regulativs in einem konkreten Fall den Eintritt der allgemein verbindlichen Rechtsfolge. Das bedeutet, daß das, was infolge der Realisierung des Allgemeinen im Einzelfall entsteht, nicht mehr eine Rechtsnorm darstellt, sondern eine normative Konsequenz der Realisierung der Rechtsnorm. Also ist die der Rechtsnorm eigene Allgemeinheit entweder eine primäre Verallgemeinerung oder das Ergebnis des Fortschreitens vom Allgemeinen zum weniger Allgemeinen. Die Allgemeinheit, die mit dem individuellen Regulativ verbunden ist, ist eine bereits vorausgesehene Allgemeinheit, die durch die Realisierung des Allgemeinen im Individuellen entsteht. Als Beispiel kann man die allgemeine Verbindlichkeit der durch Vertrag oder Entscheidung begründeten dinglichen Berechtigung anführen, die eine unbestimmte Zahl aller ihrer zukünftigen Besitzer betrifft. Ein anderes Beispiel ist die allgemeine Pflicht des neminem laedere, die für jede Rechtshandlung besteht.
3. Differentia specifica Zu den spezifischen Merkmalen der Rechtsnorm, durch die sie sich von anderen Normen unterscheidet, gehören das Subjekt ihrer Gestaltung (oder Anerkennung) und Sicherung, ihr Adressat und die Form, in der sie ausgedrückt wird: a) Das Subjekt der Gestaltung (oder Anerkennung) und Sicherung der Rechtsnormen ist der Staat, vertreten durch Staatsorgane oder Organe, die zu solcher Tätigkeit von dem Staat ermächtigt wurden. Allerdings wird in der Rechtsphilosophie auch die Ansicht vertreten, das Recht könne mit jedem System der öffentlichen Gewalt verbunden sein, nicht notwendig mit dem Staat.48 b) Der Adressat der Rechtsnormen ist die ganze im Staat organisierte Gesellschaft, bzw. auch eine andere gesellschaftliche Entität, die über ein eigenes System der öffentlichen Gewalt verfügt. Das bedeutet, daß das System der Rechtsnormen in der Gesellschaft ein jeden einschließendes System ist, die Rechtsnorm ist also ein allgemeines Regulativ der Staatsmacht (bzw. ein mit einem beliebigen System der öffentlichen Gewalt verbundenes Regulativ) mit gesamtgesellschaftlicher Tragweite. c) Die Rechtsnorm hat eine vom Staat (von der öffentlichen Gewalt) festgesetzte oder anerkannte Form; sie ist in einer der Formen der Rechtsquellen ausge48 Siehe R. Alexy, Fn. 16, S. 141.
III. Regulativ und Regulativsatz
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drückt. Die Bestimmung und Anerkennung von Rechtsnormen kann explizit erfolgen; sie kann aber auch durch faktische Aktivität der öffentlichen Gewalt erfolgen, ohne daß deren Ergebnisse nach den Erkenntnisregeln (in Harts Terminologie) ausdrücklich als Rechtsnormen gekennzeichnet sein müßten. Aus diesem Unterschied entsteht dann die bekannte Dichotomie zwischen „law in books" und „law in action".
I I I . Regulativ und Regulativsatz, präskriptiver und deskriptiver Satz Ahnlich wie zwischen Begriff und Benennung oder Aussage und Aussagesatz besteht auch eine Beziehung zwischen dem Regulativ (der Norm) und dem Regulativsatz (Normsatz). Der Regulativsatz (Normsatz) ist der sprachliche Ausdruck der verbindlichen Regelung des Verhaltens, und umgekehrt ist das Regulativ (die Norm) die Bedeutung des Regulativsatzes (Normsatzes). 49 Die Unterscheidung zwischen der Oberflächenebene der Sprache und der Bedeutungsebene (der tiefengrammatischen Ebene) führt dann zu zwei möglichen Interpretationen der Bedeutung des regulativen (normativen) Ausdrucks: a) Die erste ist die normative, d. h. präskriptive Interpretation, nach der die Bedeutung eines solchen Ausdrucks das Regulativ (die Norm) ist; dann ist der Ausdruck ein „präskriptiver Satz". b) Die zweite ist die deskriptive Interpretation, nach der die Bedeutung des regulativen (normativen) Ausdrucks die Aussage der Existenz des Regulativs (der Norm) ist; dann ist der Ausdruck ein „deskriptiver Satz". Diese Interpretationsmöglichkeiten des regulativen (normativen) Ausdrucks wurden erstmals von Ch. Sigwart angeführt. 50 An seinen Gedanken knüpften dann I. Hedenius, A. Ayer, G.H. von Wright , Κ. Englis und andere Autoren 51 an, die mittels dieser Unterscheidung Probleme der logischen Analyse von Urteilen im Bereich der Normen (Regulative) lösten. Bekannt ist von Wrights Beispiel: Jemand parkt sein Auto vor einem Haus, und dessen Besitzer teilt ihm mit: „Sie dürfen das Auto hier parken." Dieser Satz läßt sich auf zwei Weisen verstehen:
49 Siehe ζ. B. G.H. von Wright, Fn. 36, S. 93; W. Segeth, Aufforderung als Denkform. Berlin 1974, S. 35. 50 Ch. Sigwart, Logik. 3. Aufl., Tübingen 1904, S. 17 ff. 51 /. Hedenius, Om rätt och moral. Stockholm 1941, S. 124; Λ. Ayer, Language, truth and logic. 2. ed., London 1958, S. 105-106; H. Kelsen, Reine Rechtslehre. 2. Aufl., Wien 1960, S. 77; G. H. von Wright, Fn. 36, S. 104; K. Englis, Die Norm ist kein Urteil. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, L, 1964, S. 324; U. Klug, Juristische Logik. 4. Aufl., BerlinHeidelberg-New York 1982, S. 204.
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a) In der ersten Bedeutung erteilt der Sprecher selbst eine Erlaubnis; in diesem Fall gibt der Satz keine Information. Er informiert nicht über die Existenz des Regulativs, sondern enthält ein Verhaltensregulativ. Er ist Ausdruck eines Regulati vsetzungsaktes. b) In der zweiten Bedeutung informiert der Sprecher den Fahrer über die Existenz einer Vorschrift, die das Autoparken reguliert und die Erlaubnis enthält, vor dem Haus zu parken. Ein weiteres Beispiel: Es macht einen großen Unterschied, ob eine Norm vom Parlament ausgesprochen wird oder ob einer der Adressaten ihre Existenz feststellt. Die wörtliche Gestaltung kann durchaus gleich sein, etwa „Die Schuld muß ordnungsgemäß und rechtzeitig beglichen werden." Aber nur im ersten Fall handelt es sich um eine Norm. Wenn der Adressat der Norm ihre Existenz feststellt, ist der Inhalt des Ausdrucks, den er ausspricht, nicht die Norm selbst, sondern eine Behauptung über die Existenz der Norm. Es geht um eine Aussage über die Norm, die (wahr oder unwahr) die Existenz einer Norm ausdrückt. Eine andere Auffassung vertreten Κ Opalek und J. Wolerìski. Für sie gibt es nur eine Interpretation des Regulativsatzes: „Die normative Behauptung ist [ . . . ] in jedem Fall wahr oder unwahr, d. h. sie ist eine deontische Behauptung. Daraus ergibt sich, daß das Sollen keine doppelte Interpretation - deskriptiv und präskriptiv - , sondern nur eine deskriptive hat." 52 Diese These kann man allerdings nur unter der Voraussetzung akzeptieren, daß die Norm für Opalek /Wolerìski eine außersprachliche Tatsache ist.
IV. Regulativ (Norm) und Imperativ Die logische Analyse der Urteile im normativen Bereich führte zu einer Vielfalt von Auffassungen über die Termini „Imperativ" und „Regulativ" („Norm"). Der Ausdruck „Imperativ" wird dabei als die sprachliche Anwendung der Imperativs- oder der Befehlsform entweder auf der Oberflächen- 53 oder auf der tiefengrammatischen 54 Ebene der Sprache verstanden. Die Definition des Imperativs als sprachliche Äußerung des Befehls findet sich ζ. B. bei /. Kant. 55 In den angeführten Bedeutungen ist also jedes Regulativ auch ein Imperativ (oder kann dies sein, falls er auf entsprechende Weise auf der Oberflächenebene der Sprache formuliert wird). 52 K. Opalek/J. Wolerìski, 53
Fn. 8, S. 383.
Vgl. G. Kalinowski, Einführung in die Normenlogik. Frankfurt 1973, S. 8; U. Klug, Fn. 51, S. 203. 54 Vgl. R. M. Hare, Some alleged differences between imperatives and indicatives. Mind, LXXVI, 1967, S. 309-326. 55 /. Kant, Fn. 25, S. 32-33.
V. Exkurs zur logischen Struktur der Rechtsnorm
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Eine klare Auffassung des Verhältnisses zwischen Imperativ und Regulativ findet sich in Weinbergers Konzeption des normativen Institutionalismus, indem die Norm dort notwendig mit der Existenz der Institution verbunden ist: „Die Norm [ . . . ] gilt nur dann, wenn ihr [ . . . ] institutionelles Dasein zukommt. [ . . . ] Institutionalisierung ist ein komplexes Phänomen, welches das gesellschaftliche Dasein von sozialen Normen konstituiert. Elemente der Institutionalisierung sind: das Normenbewußtsein; die Anerkennung des Systems in der Gesellschaft [ . . . ] ; die Existenz von gesellschaftlichen Vorgängen, die als Verwirklichung des Sollens verstanden werden können; das Bestehen und Funktionieren von Einrichtungen, die den Normen entsprechen; die Existenz von institutionellen Gegenständen [ . . . ] , die in den durch die Normenordnung geschaffenen Institutionen eine gewisse Funktion zu erfüllen haben".
Kurz, „wesentlich für die Institutionalisierung ist das Entstehen gesellschaftlicher Strukturen mit relativer Konstanz"56. Daran ist richtig, daß nur ein institutionalisierter Imperativ zur Norm (zum Regulativ) wird. Für das Verständnis eines Ausdrucks als Imperativ ist hingegen die tiefengrammatische Sprachebene wesentlich, wobei unter einem Imperativ die Willensbestimmung zu einem bestimmten (autonomen oder heteronomen) Verhalten zu verstehen ist. Jede Norm (jedes Regulativ) ist ein Imperativ, aber nicht jeder Imperativ ist eine Norm (ein Regulativ): Vx(N(x) —• I(x)), d. h. für jeden Satz „x" gilt, wenn er eine Norm (ein Regulativ) ausdrückt („N"), dann drückt er einen Imperativ aus („I"). Dies bedeutet, daß die Norm (das Regulativ) eine hinreichende, nicht aber notwendige Bedingung des Imperativs ist und der Imperativ eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung der Norm (des Regulativs) ist. Daraus ergibt sich, daß ein Imperativ auch außerhalb des regulativen (normativen) Systems, der Institutionalisierung, existieren kann.
V. Exkurs zur logischen Struktur der Rechtsnorm Die logische Struktur der Rechtsnorm läßt sich am besten untersuchen, indem die rechtstheoretische Herangehensweise, welche die Funktion einzelner struktureller Bestandteile der Rechtsnorm analysiert, mit der logischen Herangehensweise verbunden wird, welche die logischen Aspekte dieser Struktur erfaßt. So kann nicht die Logik, sondern nur die Rechtstheorie den Begriff des Tatbestandes einer Rechtsnorm erläutern. Andererseits kann die logische Verbindung von Tatbestand und Rechtsfolge nur die Logik, nicht aber die Rechtstheorie erläutern. Aus dieser Sicht hat das „klassische" Modell der Rechtsnormstruktur Mängel, weil es nicht nur der Praxis nicht gerecht wird (ζ. B. den leges imperfectae), sondern auch deswegen, weil die Rechtsfolge an die Erfüllung des Tatbestandes gebunden wird 56 O. Weinberger,
Rechtslogik. 2. Auflage, Berlin 1989, S. 260.
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Α. Die Rechtsnorm im philosophischen Kontext
(wobei die Sanktion nicht an den Tatbestand, sondern an seine Negation geknüpft ist). Es sei angenommen, daß die Struktur der Rechtsnorm aus einem Kettenschluß besteht, deren grundlegende Elemente Tatbestand und Rechtsfolge sind 57 .
1. Der Tatbestand Der erste Teil des Kettenschlusses besteht aus der Bedingung für das Eintreten des normativen Zwangs (dem Tatbestand der Norm); sie enthält die Bestimmung der Subjekte und der Situation. Als Beispiel: Eine Rechtsnorm statuiert, daß ein Versicherer verpflichtet ist, die Versicherungsprämie teilweise zurückzuzahlen, wenn die Versicherung vorzeitig erlischt. Zu den im Tatbestand genannten Subjekten werden in diesem Fall eine natürliche oder juristische Person und der Versicherer gehören. Die Situation ist die Tatsache des Erlöschens der Versicherung vor Ablauf der Frist, für die die gewöhnliche Versicherungsprämie bezahlt worden ist. Mit dieser Bedingung der normativen Folge beginnt die Rechtsregulierung; sie wird der „Tatbestand" der Rechtsnorm genannt. Wenn der Versicherer den Rest der Versicherungsprämie nicht erstatten würde, wäre dies die Bedingung für weiteren normativen Zwang. Diese Bedingung würde - als Negation der Rechtsfolge - den ersten Teil des zweiten Kettengliedes der rechtsnormativen Regelung bilden. Wenn der Versicherer daraufhin die mittlerweile gerichtlich festgesetzte Pflicht, den Rest der Versicherungsprämie zu erstatten, nicht erfüllen würde, wäre dies wiederum die Bedingung für weiteren normativen Zwang. Diese Bedingung würde dann den ersten Teil des dritten Gliedes der rechtsnormativen Regelung bilden. Wenn in den Bedingungen für den normativen Zwangs mehrere Situationen (oder Situationsmerkmale) angeführt sind, können diese kumulativ (d. h. als Konjunktion) oder alternativ (d. h. als Disjunktion) angeordnet sein. Im ersten Fall ist der Eintritt der Rechtsfolge von der gleichzeitigen Erfüllung bestimmter Situationen oder Merkmale abhängig. Ein Beispiel: Ein Grundstückskaufvertrag soll erst nach Vereinbarung des Vertragsinhalts, nach schriftlicher Formulierung des Vertrages und nach seiner Eintragung ins Grundbuch wirksam werden. Für die Konjunktion gilt das Gesetz der Kommutativität ihrer Glieder. Dieses Gesetz hat jedoch für den kumulativ formulierten Tatbestand der Rechtsnorm (oder 57
Zur zweigliedrigen Struktur der Rechtsnorm siehe Ζ Ziembinski, Logiczne podstawy prawoznawstwa. Warszawa 1966, S. 70-75; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 4. Aufl., Berlin-Heidelberg-New York 1979, S. 234; W. Grahn, Die Rechtsnorm. Leipzig 1979, S. 5; K. Engisch, Einführung in das juristische Denken. 8. Auflage, Stuttgart 1989, S. 12 ff.; M. Pavcnik, Fn. 43, S. 466-467.
V. Exkurs zur logischen Struktur der Rechtsnorm
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allgemeiner für die Bedingung des normativen Zwangs) keine absolute Geltung. Die Erfüllung der ersten der angeführten Bedingungen ist nämlich eine Voraussetzung für die Erfüllung der weiteren Bedingungen. Im Beispielsfall kann der Vertrag erst dann schriftlich fixiert werden, wenn der Vertragsinhalt feststeht, und die Eintragung ins Grundbuch kann erst nach schriftlicher Fixierung des Vertrags erfolgen. Die kumulativen Bedingungen des normativen Zwangs können nicht nur als Konjunktion, sondern auch als Negation der Disjunktion oder in Form der Implikation formuliert werden. Als Beispiel eines kumulativen Tatbestandes in der Form der Negation der Disjunktion kann die folgende zivilrechtliche Norm dienen: „Wenn die Erfüllungszeit nicht vereinbart, durch eine Rechtsvorschrift festgelegt oder in einer Entscheidung bestimmt ist, ist der Schuldner verpflichtet, seine Schuld am ersten Tag, nach dem er von dem Gläubiger zur Erfüllung ersucht wurde, zu begleichen". Der Tatbestand hat drei Bestandteile: • „Die Erfüllungszeit ist vereinbart" (symbolisch „p"), • „die Erfüllungszeit ist durch eine Rechtsvorschrift festgesetzt" (symbolisch
„q"), • „die Erfüllungszeit ist in einer Entscheidung bestimmt" (symbolisch „r"). Der Tatbestand läßt sich formallogisch wie folgt darstellen: ~(p V q V r). Dann folgt aber: 1. ~(p V q V r). 2. (~p & ~(q V r)). ~(p Vq) (~p & ~q), p/p, q/q V r, 1. Ersetzung des Definiens durch das Definiendum. 3. (~p & ~q & ~r). ~(p Vq) (~p & ~q), p/p, q/r, 2. Ersetzung des Definiens durch das Definiendum. Mit einer einfachen Anwendung des zweiten de Morganschen Gesetzes läßt sich die Konjunktion ~p & ~q & ~r und somit ein kumulativ formulierter Tatbestand ableiten. Als Beispiel eines kumulativen Tatbestandes in der Form einer Implikation kann die folgende Rechtsnorm dienen: „Wenn die gesetzlichen Vertreter verpflichtet sind, das Vermögen derjenigen zu verwalten, die sie vertreten, und wenn es nicht um eine Alltagsangelegenheit geht, ist für den Umgang mit diesem Vermögen die Erlaubnis des Gerichts einzuholen". Der Tatbestand hat drei Teile: • „Die gesetzlichen Vertreter sind verpflichtet, das Vermögen derjenigen, die sie vertreten, zu verwalten" (symbolisch „p"), • „es geht nicht um eine Alltagsangelegenheit" (symbolisch „q"), • „die Erlaubnis des Gerichts wurde eingeholt" (symbolisch „r"), 3 Holländer
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Α. Die Rechtsnorm im philosophischen Kontext
wobei die Rechtsfolge lautet: „Sie können mit dem Vermögen umgehen" (symbolisch „Ps"). Die gesamte Norm läßt sich formallogisch wie folgt darstellen: p—Kq—>(r—>Ps)). Daraus folgt: 1. ρ —> (q —• (r —• Ps)). 2. ~p V ~q V ~r V Ps. (p -> q) (~pvq), p/r, q/Ps, p/q, /~r V Ps, p/p, q/~q V ~ r V ~Ps, 1. Ersetzung des Definiens durch das Definiendum. 3. ~(p & q & r) V Ps. (~p V ~q) ~(p & q), p/p, q/q, p/p & q, q/r, 2. Ersetzung des Definiens durch das Definiendum. 4. (p & q & r) —• Ps. (~p V q) (p —> q), p/p & q & r, q/Ps, 3. Ersetzung des Definiens durch das Definiendum. Damit läßt sich beweisen, daß die angefühlte Norm einen als Implikation formulierten kumulativen Tatbestand enthält. Alternative Bedingungen liegen vor, wenn der Tatbestand mit der normativen Folge in der Weise verbunden ist, daß die Folge schon bei Erfüllung einer beliebigen der vom Tatbestand erfaßten Situationen bzw. Merkmale eintritt. Ein alternativer Tatbestand kann nicht nur in Form der Disjunktion, sondern auch in Form der Negation der Konjunktion formuliert werden. Als Beispiel kann eine Rechtsnorm dienen, nach der im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern gilt: „Soweit es um Zinsen oder um sich wiederholende Leistungen geht, tritt keine Verjährung einer Schuld ein." Dieser Tatbestand enthält zwei Bedingungen: • „Es geht um Zinsen" (symbolisch „p"), • „es geht um sich wiederholende Leistungen" (symbolisch „q"). Der Tatbestand läßt sich als ~(p & q) formalisieren. Es handelt sich also um einen alternativen Tatbestand in der Form der Negation der Konjunktion: 1. ~ ( p & q ) ·
2. ~p V ~q. ~(p & q) ~P~s. Daraus ergibt sich - aufgrund der aussagenlogischen Geltung der Formel: (~p