Abrahams Erbe: Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im europäischen Mittelalter 9783110405750, 9783110405675

The cultures of medieval Europe arose in continuous interconnection and conflict between the Abrahamic religions. This v

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German Pages 655 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Abrahams Erben – Einleitende Bemerkungen
Plenarvorträge
Unusquisque in suo sensu abundet (Röm 14,5). Ambiguitätstoleranz in der Texthermeneutik des lateinischen Westens?
Neue Quellen zu Handel und Umgang zwischen Christen und Muslimen im Mittelmeerraum. Die Gesuche an die Pönitentiarie im 15. Jahrhundert
Muss(te) Raimundus Lullus scheitern? Die Möglichkeiten des Religionsdialogs damals und heute
Abrahambilder – Deutungen, Ikonographie und Vorbildfunktion
Abrahambilder in deutschen Texten des christlichen Mittelalters
Abrahamsbilder im geistlichen Drama des deutschen Spätmittelalters
Abrahams Kindheit: hebräisch, jiddisch, deutsch
Abraham aus der Sicht des Islam
Die Gestalt Abrahams in Darstellungen der Opferung Isaaks in der byzantinischen und in der italienischen Bildkunst: Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Versuch einer Interpretation anhand der schriftlichen Quellen
Abrahams Schoß in der mittelalterlichen Bauskulptur
Abraham und Hiob als Kontrastfiguren in der mittelhochdeutschen Literatur
Abraham: Referenz und Autorität für die mittelalterliche irische Identitätsfindung im ‚Lebor Gabála Érenn‘
Medialität des Gotteswortes
Medialitäten des Gotteswortes. Die vokale Performanz sakraler Texte in den Buchreligionen des Mittelalters
Buch und Präsenz im Ritus der lateinischen Kirche
Die Kantillation der Tora – Schlüsselritual im Schnittpunkt von mündlicher und schriftlicher Überlieferung
Die vielen Namen des Koran. „Offenbarung“, „Inlibration“ oder „Herabsendung“ und „Lesung“?
Orientalischer Kirchengesang zwischen jüdischer und islamischer Tradition
Traditionssicherung oder Traditionsbruch: Ambiguitäten des Notierens
Medialität – Architektur und Kirchenraum
Gebautes Miteinander? Mittelalterliche Synagogenarchitektur zwischen Civitas und Eruw
Zeichen des Triumphes: architektonische Aneignungsprozesse auf der Iberischen Halbinsel im 12. Jahrhundert
Christliches Gottesbild und Kirchenbild aus der Jüdischen Bibel. Die Quellen der hochmittelalterlichen Kirchweihliturgie
Zusammenleben – Klöster als Begegnungsräume der Kulturen
Iuxta regulam sancti patris Benedicti atque Basilii. Die Klöster Süditaliens als Begegnungsräume zwischen West und Ost
Zyperns Mendikanten zwischen den Konfessionen
Allerchristlichste Könige und Mindere Brüder. Franziskanische Klöster als Begegnungsräume im angevinischen Königreich Ungarn
Die Netzwerke einer kulturellen Begegnung: byzantinische und lateinische Klöster in Konstantinopel im 13. und 14. Jahrhundert
Zusammenleben – Kontakt und Konflikt
Konfessionelle Polemik und politische Opportunität. Die Konstantinopelpolitik Karls von Valois (1301–1313) im innerlateinischen Diskurs
David und die Andersstämmigen (allophyloi). Byzantinische Perspektiven auf die ‚Lateiner‘ im späten 12. und im 13. Jahrhundert
in medio Turchorum et aliarum infidelium nationum. Die Zaccaria von Chios
Interreligiöse Kommunikation – Geteilte Formeln, Übersetzung und Wissenschaft
...hat ein hebraisch zettel dabey. Der Umgang mit jüdisch-christlichen Geschäftsurkunden im spätmittelalterlichen Österreich
Do hiezen si der Juden mesner ruefen. Jüdisch-christliche Geschäftsurkunden als Quellen zur Alltagsgeschichte
Wissen um das Judenrecht, Konflikt und Konfliktlösung in christlich-jüdischen Stadtgemeinden des Sächsisch-Magdeburgischen Rechtskreises (13./14. Jahrhundert)
Übersetzungskontrolle. Regulierung von Übersetzungsvorgängen im lateinisch/romanisch-arabischen Kontext (9.–15. Jahrhundert)
Christliche Ärzte als Vermittler Galens im arabischen Frühmittelalter – war der graeco-orientalische Wissenstransfer ein Kontinuum?
Bilder vom Anderen und Interaktionen
Christen, Juden, Heiden – Aus- und Eingrenzung des religiös Anderen in Reden des Strickers
Antijüdische Deutungen liturgischer Vollzüge und Gebräuche im Mittelalter. Beobachtungen zu einem Phänomen der Liturgiegeschichte
Wahrnehmung und Darstellung des ‚Anderen‘: Juden und Judentum in den Schriften des Dominikanermönchs Felix Fabri
Jüdisch-christliche Kontinuitäten im Geistlichen Spiel am Beispiel der ‚Hessischen Passionsspielgruppe‘
Simeon am Taufbecken von Beckum-Vellern. Mehrfachlesbarkeit und Intellektualisierung eines liturgischen Artefakts
vor e sü [Ungern] cristen wurdent, do hiessent sü die Hünen. Zur Rolle von Abstammungstheorien im Ungarnbild volkssprachiger Chroniken des Mittelalters
Der Jude im Götzentempel. Christliche Heiligenverehrung aus jüdischer Sicht
Gefangenschaft in der Fremde als inter- und intrakulturelles Herrschaftsund Beziehungsmodell
durch den abrahamischen garten. Interreligiösität in den mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen am Beispiel des ‚Münchener Oswald‘
Anhang
Register
Register der Personen, Gruppen und Institutionen
Register der Orte, politischen und geographischen Einheiten
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Abrahams Erbe: Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im europäischen Mittelalter
 9783110405750, 9783110405675

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Abrahams Erbe

Das Mittelalter Perspektiven mediävistischer Forschung

Beihefte Herausgegeben von Ingrid Baumgärtner, Stephan Conermann und Thomas Honegger

Band 2

Klaus Oschema, Ludger Lieb, Johannes Heil (Hrsg.)

Abrahams Erbe

Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im europäischen Mittelalter

ISBN 978-3-11-040567-5 eISBN (PDF) 978-3-11-040575-0 eISBN (EPUB) 978-3-11-040579-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Klaus Oschema, Ludger Lieb, Johannes Heil (Heidelberg) Abrahams Erben – Einleitende Bemerkungen   XI Plenarvorträge Christel Meier (Münster) Unusquisque in suo sensu abundet (Röm 14,5). Ambiguitätstoleranz in der Texthermeneutik des lateinischen Westens?   3 Arnold Esch (Rom) Neue Quellen zu Handel und Umgang zwischen Christen und Muslimen im Mittelmeerraum. Die Gesuche an die Pönitentiarie im 15. Jahrhundert   34 Peter Walter (Freiburg i. Br.) Muss(te) Raimundus Lullus scheitern? Die Möglichkeiten des Religionsdialogs damals und heute 

 50

Abrahambilder – Deutungen, Ikonographie und Vorbildfunktion Pamela Kalning (Heidelberg) Abrahambilder in deutschen Texten des christlichen Mittelalters 

 71

Elke Ukena-Best (Heidelberg) Abrahamsbilder im geistlichen Drama des deutschen Spätmittelalters  Lydia Miklautsch (Wien) Abrahams Kindheit: hebräisch, jiddisch, deutsch  Susanne Enderwitz (Heidelberg) Abraham aus der Sicht des Islam 

 101

 112

Anna Paranou (Marburg) Die Gestalt Abrahams in Darstellungen der Opferung Isaaks in der byzantinischen und in der italienischen Bildkunst: Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Versuch einer Interpretation anhand der schrift­lichen Quellen  Wilfried E. Keil (Heidelberg) Abrahams Schoß in der mittelalterlichen Bauskulptur 

 140

 122

 84

VI 

 Inhalt

Heiko Ullrich (Heidelberg) Abraham und Hiob als Kontrastfiguren in der mittelhochdeutschen Literatur   158 Axel Harlos (Marburg) Abraham: Referenz und Autorität für die mittelalterliche irische Identitätsfindung im ‚Lebor Gabála Érenn‘   170 Medialität des Gotteswortes Andreas Haug (Würzburg) Medialitäten des Gotteswortes. Die vokale Performanz sakraler Texte in den Buchreligionen des Mittelalters   187 Felix Heinzer (Freiburg i. Br.) Buch und Präsenz im Ritus der lateinischen Kirche 

 197

Heidy Zimmermann (Basel) Die Kantillation der Tora – Schlüsselritual im Schnittpunkt von mündlicher und schriftlicher Überlieferung   209 Angelika Neuwirth (Berlin) Die vielen Namen des Koran. „Offenbarung“, „Inlibration“ oder „Herabsendung“ und „Lesung“? 

 222

Ulrike-Rebekka Nieten (Berlin) Orientalischer Kirchengesang zwischen jüdischer und islamischer Tradition   239 Max Haas (Basel) Traditionssicherung oder Traditionsbruch: Ambiguitäten des Notierens  Medialität – Architektur und Kirchenraum Simon Paulus (Bet Tfila/Braunschweig/Stuttgart) Gebautes Miteinander? Mittelalterliche Synagogenarchitektur zwischen Civitas und Eruw  Sarah Keller (Bern) Zeichen des Triumphes: architektonische Aneignungsprozesse auf der Iberischen Halbinsel im 12. Jahrhundert   277



 263

 251

 VII

Inhalt 

Hanns Peter Neuheuser (Köln) Christliches Gottesbild und Kirchenbild aus der Jüdischen Bibel. Die Quellen der hochmittelalterlichen Kirchweihliturgie   291 Zusammenleben – Klöster als Begegnungsräume der Kulturen Stefan Burkhardt (Heidelberg) Iuxta regulam sancti patris Benedicti atque Basilii. Die Klöster Süditaliens als Begegnungsräume zwischen West und Ost  Margit Mersch (Kassel) Zyperns Mendikanten zwischen den Konfessionen 

 309

 325

Julia Burkhardt (Heidelberg) Allerchristlichste Könige und Mindere Brüder. Franziskanische Klöster als Begegnungsräume im angevinischen Königreich Ungarn   340 Ekaterini Mitsiou (Athen) Die Netzwerke einer kulturellen Begegnung: byzantinische und lateinische Klöster in Konstantinopel im 13. und 14. Jahrhundert   359 Zusammenleben – Kontakt und Konflikt Georg Jostkleigrewe (Münster) Konfessionelle Polemik und politische Opportunität. Die Konstantinopelpolitik Karls von Valois (1301–1313) im innerlateinischen Diskurs   375 Lutz Rickelt (Münster) David und die Andersstämmigen (allophyloi). Byzantinische Perspektiven auf die ‚Lateiner‘ im späten 12. und im 13. Jahrhundert   392 Mike Carr (London) in medio Turchorum et aliarum infidelium nationum. Die Zaccaria von Chios   407



VIII 

 Inhalt

Interreligiöse Kommunikation – Geteilte Formeln, Übersetzung und Wissenschaft Eveline Brugger (St. Pölten) ... hat ein hebraisch zettel dabey. Der Umgang mit jüdisch-christlichen Geschäfts­urkunden im spätmittelalterlichen Österreich   421 Birgit Wiedl (St. Pölten) Do hiezen si der Juden mesner ruefen. Jüdisch-christliche Geschäftsurkunden als Quellen zur Alltagsgeschichte   437 Jana Pacyna (Tübingen) Wissen um das Judenrecht, Konflikt und Konflikt­lösung in christlich-jüdischen Stadtgemeinden des Sächsisch-Magdeburgischen Rechtskreises (13./14. Jahrhundert)   454 Daniel König (Heidelberg) Übersetzungskontrolle. Regulierung von Übersetzungsvorgängen im lateinisch/romanisch-arabischen Kontext (9.–15. Jahrhundert)   470 Christian Schulze (Bochum) Christliche Ärzte als Vermittler Galens im arabischen Frühmittelalter – war der graeco-orientalische Wissenstransfer ein Kontinuum?   486 Bilder vom Anderen und Interaktionen Silvan Wagner (Bayreuth) Christen, Juden, Heiden – Aus- und Eingrenzung des religiös Anderen in Reden des Strickers   497 Jürgen Bärsch (Eichstätt) Antijüdische Deutungen liturgischer Vollzüge und Gebräuche im Mittelalter. Beobachtungen zu einem Phänomen der Liturgiegeschichte   509 Christian Scholl (Münster) Wahrnehmung und Darstellung des ‚Anderen‘: Juden und Judentum in den Schriften des Dominikanermönchs Felix Fabri   522



Inhalt 

 IX

Klaus Vogelgsang (Augsburg) Jüdisch-christliche Kontinuitäten im Geistlichen Spiel am Beispiel der ‚Hessischen Passionsspielgruppe‘   534 Jörg Widmaier (Tübingen) Simeon am Taufbecken von Beckum-Vellern. Mehrfachlesbarkeit und Intellektualisierung eines liturgischen Artefakts   542 Tünde Radek (Budapest) vor e sü [Ungern] cristen wurdent, do hiessent sü die Hünen. Zur Rolle von Abstammungstheorien im Ungarnbild volkssprachiger Chroniken des Mittelalters   558 Lucia Raspe (Frankfurt a. M.) Der Jude im Götzentempel. Christliche Heiligenverehrung aus jüdischer Sicht 

 573

Simone Loleit (Essen) Gefangenschaft in der Fremde als inter- und intrakulturelles Herrschaftsund Beziehungsmodell   585 Rabea Kohnen (Bochum) durch den abrahamischen garten. Interreligiösität in den mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen am Beispiel des ‚Münchener Oswald‘   599 Anhang  613 Register (von Friederike Pfister und Jakob Odenwald)  Register der Personen, Gruppen und Institutionen   613 Register der Orte, politischen und geographischen Einheiten 

 627



So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn, Auf einen Vater endlich von drei Söhnen; Die alle drei ihm gleich gehorsam waren, Die alle drei er folglich gleich zu lieben Sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit Zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald Der dritte, sowie jeder sich mit ihm Allein befand, und sein ergießend Herz Die andern zwei nicht teilten, würdiger Des Ringes; den er denn auch einem jeden Die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen. Das ging nun so, solang es ging. Allein Es kam zum Sterben, und der gute Vater Kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort Verlassen, so zu kränken. Was zu tun? Er sendet in geheim zu einem Künstler, Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes, Zwei andere bestellt, und weder Kosten Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich, Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt, Kann selbst der Vater seinen Musterring Nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft Er seine Söhne, jeden insbesondre; Gibt jedem insbesondre seinen Segen, Und seinen Ring, und stirbt. Du hörst doch, Sultan? Lessing, Nathan der Weise (1783), III 7

Abrahams Erben – Einleitende Bemerkungen Wo das Denken sich ungehindert entfalten kann, erscheint eigentlich alles so einfach: es ist ja alles eines. Lessing hat das 1779 in der oft zitierten Ringparabel seines letzten Hauptwerks, ,Nathan der Weise‘, vorgeführt. Kontrastiert man diese gedankliche Epochenschwelle mit einem anderen Hauptwerk des Orientalismus im Said’schen Sinne, Mozarts 1782 uraufgeführtem Singspiel ,Die Entführung aus dem Serail‘, dann könnte man schlicht folgern, dass dem Abendland viel Gedankenfreiheit und Gelassenheit zugewachsen sei, seitdem „der Türke“ das letzte Mal vor Wien gestanden hatte. Schließlich konnte man die bedrohlichen Szenarien von einst nunmehr als unterhaltsames Singspiel auf die Bühne der Wiener Burg bringen. Die bis heute wirkenden Feinheiten der Wiener Küche ließen sich dann als schmackhafter Beleg für solcherlei Triumphalismus genießen. Doch so aufgeklärt wie auch schon seinerzeit – und bis heute – unbestritten utopisch, so wenig originell war das ausdrucksstarke Bild von dem einen Ring in dreien im 18. Jahrhundert: Lessing hatte es in der dritten Erzählung des Ersten Tages in Boccaccios ,Decamerone‘ gefunden (Melchisedech giudeo con una novella di tre anella cessa un gran pericolo dal Saladino apparecchiatogli),1 auch wenn die Begegnung zwischen Saladin und dem Juden Melchisedek hier noch mehr von einer mittelalterlichen Zwangsdisputation als vom Gespräch in einem aufgeklärten Salon hatte. Die Textforschung hat weitere Vorläufer ausgemacht, vom toskanischen ,Novellino‘ der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, der also bald nach den vorgeblichen Ereignissen an Saladins Hof entstand, bis hinab zu Erzählungen der iberischen Juden im 11. Jahrhundert. Unter den Varianten der Textgeschichte finden sich auch Spielarten, die bereits im hohen Mittelalter durchaus lessingsche Gedankenweite erkennen lassen: Beim Wiener Weltchronisten und Dichter Jansen Enikel († nach 1302) etwa, der das Motiv an Saladins Tisch platziert,2 soll zwar nur einer der Ringe der wahre gewesen sein. Die Identifikation dieses wahren Rings aber bleibt Gottes Allwissenheit vorbehalten. Das war, in seiner Zeit, höchst freizügig gedacht. Im Grunde war es damals Häresie.3 Dass die Gedankenwelt schon im Hochmittelalter mehr Lichträume ausgewiesen hätte, als die Mehrzahl der verbreiteten Stereotype über diese Vergangenheit erwarten lässt, könnte demnach als gefälliger Befund gelesen werden. Tatsächlich wurden einschlägige Beobachtungen ja oft und auch keinesfalls nur in populären Darstellungen in dieser Weise interpretiert, wenn etwa die friedliche Koexistenz von Völkern

1 Giovanni Boccaccio, Decameron. Nuova edizione rivista e aggiornata, 2  Bde., hrsg. v. Vittore ­Branca, Turin 1980, Bd. 1, S. 78–82 (ebd., S. 78, Anm. 2, mit Hinweisen zur Motivgeschichte). 2 Jansen Enikels Werke, hrsg. v. Philipp Strauch (MGH Deutsche Chroniken 3), Hannover, Leipzig 1900, hier S. 518–520, vv. 26550–26676. Für weitere Hinweise zum Autor s. den Beitrag von Heiko Ullrich in diesem Band. 3 Friedrich Niewöhner, Veritas sive Varietas – Lessings Toleranzparabel und das Buch von den drei Betrügern, Heidelberg 1988.

XII 

 Klaus Oschema, Ludger Lieb, Johannes Heil

und Religionen unter der Sonne Andalusiens oder die Freizügigkeit des Denkens und Forschens am sizilianischen Hof Friedrichs  II. gepriesen wurden.4 Bei solchen Deutungen ging und geht es allerdings nicht nur um die spannungsarme Behauptung eines überwältigten Eindrucks von der Erhabenheit mittelalterlicher Bauten, der formvollendeten Bildsprache von Handschriftenminiaturen oder der Feinsinnigkeit von Epen und Liedern ferner Zeiten, die man mit dem beherrschenden Bild von einer archaischen und gewaltgeleiteten Vergangenheit kontrastiert. Stets hat man aus solchen Befunden auch Argumente für jeweils aktuelle Gegenwartsprobleme ge­winnen wollen, und das ganz ungeachtet der Frage, ob es sich nun um gesuchte vormoderne Anbindungen nationaler Selbstkonstruktionen des 19. Jahrhunderts handelte, oder die Nutzbarmachung der vermeintlich signifikanten Akkulturationsfähigkeit der iberischen Juden für den Emanzipationsdiskurs des 19. Jahrhunderts.5 Manches, was da einst geschrieben wurde, ist längst überholt, ja zum Teil auch unsäglich und unsagbar geworden. Dieser ersichtliche Alterungsprozess hat aber bis in die jüngste Zeit nicht davon abgehalten, die Gegenwart vermittels der Vergangenheit positiv bestimmen und belegen zu wollen;6 nur die Blicke sind andere geworden: Da sollen – zumindest solange, wie bis zum Ausbruch der anhaltenden Finanzkrise ein optimistisches Europabild vorherrschte – die Karolinger die Familie gewesen sein, die Europa geschaffen hat,7 und das Idyll unter der Sonne Andalusiens wurde gerne zur Morgenröte der multikulturellen Gesellschaft stilisiert.8

4 Zu den Bildern von Friedrich II. s. ausführlich Marcus Thomsen, „Ein feuriger Herr des Anfangs ...“ Kaiser Friedrich II. in der Auffassung der Nachwelt (Kieler Historische Studien 42), Ostfildern 2005; vgl. knapp die Einleitung in Tanja Brüsch u. Klaus van Eickels, Kaiser Friedrich  II. – Leben und Persönlichkeit in Quellen des Mittelalters, Düsseldorf, Zürich 2000, S.  9–23, hier v.  a. S.  12–21. Zur spanischen Halbinsel vgl. Anm. 8. 5 Vgl. Johannes Heil, Wissenschaft des Judentums 1819–1933 – Wissenschaft, Selbstbild und Trugbilder, in: Markus Hilgert u. Michael Wink (Hgg.), Menschen-Bilder. Darstellungen des Humanen in der Wissenschaft (Heidelberger Jahrbuch 54), Berlin 2012, S. 351–371, hier S. 364–368. 6 Für eine Reihe kritischer Fallstudien zu modernen Mittelalter-Bezügen s. die Beiträge in János M. Bak u. a. (Hgg.), Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.–21. Jahrhundert / Uses and Abuses of the Middle Ages: 19th–21st Century / Usages et Mésusages du Moyen Age du XIXe au XXIe siècle (MittelalterStudien 17), München 2009. 7 Eine knappe, kritische Bestandsaufnahme bietet Klaus Oschema, Ein Karl für alle Fälle – Historiographische Verortungen Karls des Großen zwischen Nation, Europa und der Welt, in: Gregor Feindt u.  a. (Hgg.), Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung. Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation (Formen der Erinnerung 55), Göttingen 2014, S. 39–63. 8 Vgl. im knappen Überblick Mark R. Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittel­alter, München 2005, sowie María Rosa Menocal, Die Palme im Westen. Muslime, Juden und Christen im alten Andalusien, Berlin 2003. Im Gegenzug stilisierte der Romantiker Friedrich von Hardenberg (Novalis) das europäische Mittelalter zu einer Zeit der christlichen Kircheneinheit, vgl. etwa Richard Littlejohns, Everlasting Peace and Medieval Europe: Romantic Myth-Making in Novalis’s „Europa“, in: ders. u. Sara Soncini (Hgg.), Myths of Europe (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 107), Amsterdam, New York 2007, S. 171–181. Zu den vielfälti-





Abrahams Erben – Einleitende Bemerkungen 

 XIII

Wer dabei auch weiterhin Lessings Ring-Parabel einfach nur fortschreiben will, den dürfte Arnold Esch in seinem Vortrag zum Heidelberger Symposium vielleicht enttäuscht haben – und den wird wohl auch dieser Band enttäuschen. Denn wie Esch ernüchternd knapp formulierte: „In der mittelmeerischen Wirklichkeit galt die Ring-Parabel nicht.“9 Diese Feststellung lässt sich unmittelbar auf den Text selbst, seine ­Ge­schichte und die von ihm entwickelten Motive herunterbrechen, hatten doch schon der wirkliche Saladin und seine Lebenswelt mit den an sich natürlich bemerkenswerten mittelalterlichen Idealisierungen des Begründers der AyyubidenDynastie wenig zu tun.10 Freilich ging es beim Heidelberger Symposium zu „Abrahams Erben“ im Umkehrschluss auch keineswegs darum, gegen allzu selbstgefällige und schöngefärbte Vergangenheitsbilder, die in den Dienst der Gegenwartsgestaltung gestellt wurden, nun eine quasi bellizistische Lesart zu bedienen, die das ebenso vertraute gegenteilige Extrem der Stereotype repräsentiert.11 Die Beiträge sollten natürlich nicht die mittelalterlichen Kultur- und Religionsverhältnisse alleine unter dem Aspekt von Beherrschung, Unterdrückung und Verfolgung betrachten und auf diese Weise das allzu simple Konzept vom „clash of cultures“ historisch zurückschreiben. Um es deutlich zu sagen: Eine solche Engführung der Perspektive träfe die Verhältnisse ebenso wenig – und das sei auch deshalb besonders betont, weil dieser Tage vielerorts engagierte „Islamkritiker“ ganz unterschiedlicher Couleur, Neo-Konservative und andere – in der Summe eine überaus merkwürdige und widersprüchliche Allianz – sich einmal mehr unverblümt der Geschichte zur Unterfütterung ihrer ebenso fragwürdigen politischen Ziele bedienen. Da sei die Bemerkung gestattet, dass ihr Zugriff auf die Vergangenheit strukturell, nämlich was die Unbekümmertheit ihres Vorgehens im Dienste eines vorab bezeichneten Ergebnisses anbetrifft, der Gedankenwelt der Kämpfer des „Islamischen Staates“ gar nicht fern steht, die 2014 ein Kalifat begründen wollen. Hier wie dort wird eine vermeintliche Eindeutigkeit in den Dienst einer Ideologie gestellt, die in eine unaufhebbare Frontstellung mündet.

gen und gebrochenen Bezugnahmen auf das Mittelalter s. a. Otto Gerhard Oexle, Die Gegenwart des ­Mittelalters (Das mittelalterliche Jahrtausend 1), Berlin 2013 (mit weiteren Literaturhinweisen). 9 Siehe den Beitrag von Arnold Esch im vorliegenden Band. 10 Vgl. Margaret Jubb, The Legend of Saladin in Western Literature and Historiography, Lewiston 2000, und Hans Möhring, Saladin. Der Sultan und seine Zeit 1138–1193 (C.H. Beck Wissen), München 2 2012, v. a. S. 109–123; s. a. die Beiträge in Heinz Gaube, Bernd Schneidmüller u. Stefan Weinfurter (Hgg.), Konfrontation der Kulturen? Saladin und die Kreuzfahrer, Mainz 2005. 11 Hier ließe sich etwa an den Titel denken von Robert Bartlett, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350, München 1996. Dabei ist allerdings anzumerken, dass diese Formulierung weder dem englischen Original entspricht („The Making of Europe“), noch die Darstellung des Autors adäquat wiedergibt. Zu den polemischen ­Dimensionen von Mittelalter-Begriff und -Konzept s. etwa Peter von Moos, Gefahren des Mittel­ alterbegriffs. Diagnostische und präventive Aspekte, in: Joachim Heinzle (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M., Leipzig 1999, S. 33–63.



XIV 

 Klaus Oschema, Ludger Lieb, Johannes Heil

Was den sogenannten „Islamischen Staat“ anbetrifft, soll unter Einsatz schier unsäglicher Gewalt im Namen religiöser Bezüge ein utopischer, ja irreal-mythischer Ursprungszustand des 8. Jahrhunderts wiedergewonnen werden: Da wird hinter dem Horizont einer weggewischten Geschichte rückwärtsschreitend ein Kalifat ausgemacht, das so nie existiert hat. Hätte man es bei diesen Kämpfern unserer Tage nicht mit einer Armee enthemmter Schulabbrecher und anderer bildungsfeindlicher Fanatiker zu tun, könnte der Auftritt einer interdisziplinär aufgestellten Wissenschafts­ gemeinschaft bei angemessener didaktischer Begleitung vielleicht segensreich wirken und Aufklärung leisten. Freilich wird man kaum hoffen dürfen, dass wissenschaftliche Untersuchungen, Befunde und Debatten unmittelbar auf die unheilvollen Umstände einwirken. Wer möchte damit rechnen, auf diese Weise bei den Kämpfern selbst oder zumindest bei jenen, die ihnen aus Europa zuströmen, Gehör zu finden? Auch die Akteure in den anderen Krisenregionen, die zurzeit von ähnlich gelagerten Konflikten und Bewegungen gebeutelt werden, wird die Wissenschaftsgemeinschaft in den meisten Fällen wohl kaum erreichen. Dennoch: Nach innen hinein, auf die überwältigende Mehrheit der Gesellschaften bezogen, erscheint überall dort, wo die Umstände des Jahres 2013 und erst recht die Bilder des Jahres 2014 zu einfachen, letztlich resignierten Deutungen einladen wollen (die Umstände bei Erscheinen dieses Bandes sind zum Zeitpunkt des Schreibens nicht absehbar, versprechen aber kaum besser zu sein), eine perspektivenreiche und letztlich auch für Widersprüchlichkeiten offene Beschäftigung mit der Vergangenheit notwendig. Wer, wenn nicht eine mit dem ­Mittelalter befasste und im Konzert ganz verschiedener binnenfachlicher Perspektiven antretende Wissenschaftsgemeinschaft könnte den bis vor kurzem überhaupt nicht auf solch extremistische Geschichtsanleihen eingestellten Gesellschaften eine multidisziplinäre Orientierung zum besseren Verständnis des gerade Geschehenden anbieten und Perspektiven für weiter gefasste historische Kohabitations- und Konfliktforschung aufzeigen? Diesem hoch gesteckten Ziel vermag der vorliegende Band alleine natürlich ­keineswegs gerecht zu werden – aber er muss es auch nicht, will er doch nicht mehr als einen Zwischenstand bieten. Denn den Rahmen für eine weiter ausgreifende Gesamtschau, welche die widersprüchlichen Phänomene der mittelalterlichen Kulturen und Gesellschaften umfasst – scheinbare wie wirkliche –, haben Forschungen und Forschergruppen in den vergangenen Jahren abgesteckt. Vielleicht kann man die Arbeit an diesem Rahmen als den eigentlichen mediävistischen Niederschlag des Jahres 1989 ansprechen – und darüber hinaus feststellen, dass die einschlägige Forschung durch den Einschnitt des 11.  September 2001 erst recht vorangetrieben worden ist. Die mit diesen Daten angesprochenen Ereignisse und Prozesse befeuerten nachhaltig das Interesse an Fragestellungen, die kulturelle Kontakte, religiöses Zusammenleben und Konflikte, kulturellen und religiösen Austausch und vieles mehr in den Blick nehmen. Die Ausrichtung der entsprechenden Studien konnte dabei ganz unterschiedlich ausfallen: Während die einen Projekte vor allem die Genese und Dynamik 



Abrahams Erben – Einleitende Bemerkungen 

 XV

der europäischen Kulturen untersuchten, interessierten sich andere ausdrücklich für Kontakte, die den Rahmen des Erdteils überschritten.12 In der Sache, das macht die Mehrzahl der einschlägigen Studien aber wohl klar, spielte die kontinentale Grenze letztlich keine entscheidende Rolle: Die dynamischen Prozesse von Kontakt, Kooperation und Konflikt zwischen den religiösen Gemeinschaften von Christentum (in all seiner Vielfalt), Judentum und Islam konnten sich fern jener Gebiete abspielen, die wir heute als Europa bezeichnen – aber wohlgemerkt auch innerhalb von dessen Grenzen. Wenngleich vor wenigen Jahren die Aussage des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff, der „Islam gehöre zu Deutschland“, für erregte und kontroverse Debatten gesorgt haben mag: dass Juden, Christen und Muslime Teil der europäischen Geschichte des Mittelalters sind und diese durch ihr Mit- und Gegeneinander grundlegend geprägt haben, dürfte unterdessen kaum mehr in Frage gestellt werden.13 Die Vielfalt der Zugriffe und Ergebnisse der bereits vorliegenden, einschlägigen Untersuchungen ist nicht einfach zu resümieren. In einem Aspekt treffen sie sich aber durchweg, weil sich nämlich im Rahmen der intensivierten Forschung immer wieder gezeigt hat, dass es keine Eindeutigkeiten und einfachen Wahrheiten gibt. Die simple Frage nach ‚Integration oder Desintegration‘ der Kulturen im europäischen Mittelalter ginge damit in letzter Konsequenz eigentlich an der Sache vorbei, bestand doch vielmehr stets ein Nebeneinander von ‚Integration und Desintegration‘, von Barrieren und Passagen. Nähe und Distanz, Kohabitation und Konfrontation, waren untrennbar miteinander verwoben, bis hin zum Befund, dass „Gewalt ein zentraler und systemischer Faktor der Koexistenz zwischen Mehrheit und Minderheiten war“ (David Nirenberg).14

12 Aus der Vielzahl der einschlägigen Titel seien hier stellvertretend genannt die reichhaltigen Sammelbände Michael Borgolte u. a. (Hgg.), Integration und Desintegration der Kulturen im Euro­ päischen Mittelalter (Europa im Mittelalter 18), Berlin 2011; ders. u. a. (Hgg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft (Europa im Mittelalter 10), ­Berlin 2008; Alexander Fidora u. Matthias Tischler (Hgg.), Christlicher Norden – muslimischer Süden. Ansprüche und Wirklichkeiten von Christen, Juden und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel im Hoch- und Spätmittelalter (Erudiri Sapientia  7), Münster 2011. Einschlägige Fragen und Probleme ­untersuchen aktuell u.  a. auch das vom European Research Council geförderte Projekt „RelMin“ („The Legal Status of Religious Minorities in the Euro-Mediterranean World (5th–15th  Centuries)“) unter der maßgeblichen Federführung von John Tolan (Nantes), s. http://www.relmin.eu (einges. 09.09.2014), sowie mehrere Teilprojekte des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, s. http://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik ­ (einges. 09.09.2014). 13 Michael Borgolte, Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr. (Siedler Geschichte Europas), München 2006. 14 David Nirenberg, Communities of Violence. Persecutions of Minorities in the Middle Ages, Princeton 1996, S. 245.



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Diese Feststellung mag beunruhigend erscheinen, weil sie keine Eindeutigkeiten bietet und jede verklärende Betrachtung der Vergangenheit – und seien es nur einzelne Phasen in ihr – unterbindet. Sie besitzt damit aber den unbestrittenen Vorteil des verfeinerten Blicks, der nicht vom ohnehin flüchtigen Ergebnis, sondern von den komplexen Voraussetzungen und Prozessen des Zusammenlebens von Mehrheit und Minderheiten ausgeht. Mehr noch: Das starre Schema, das die Ursachen des Handelns, besonders des Gewalthandelns, ausschließlich in der Verfassung der Mehrheit als „Verfolgergesellschaft“ (Richard I. Moore)15 oder in einem jedem Monotheismus innewohnenden kämpferischen Absolutheitsanspruch (Jan Assmann)16 suchen will, wird so durch einen auf soziale Komplexität vorbereiteten Blick ersetzt. Gerade weil dieser Blick nicht auf die Frage nach religiös begründeten Antriebskräften reduziert ist, kann er in der Folge auch erst recht für die Analyse von Fragestellungen und Prozessen moderner Gesellschaften fruchtbar gemacht werden. Machen wir uns also zunächst einmal keine Illusionen: ‚Abrahams Erben‘ haben, auf das Ganze betrachtet, im Mittelalter nur selten versöhnliche Wege beschritten. Die Rückbesinnung auf die gemeinsame Verwurzelung, die sich sinnbildlich in der Figur des biblischen Erzvaters, den im Grunde alleinig gemeinsamen „Fluchtpunkt in der Vergangenheit“ (Ludger Lieb) und der ihm gegebenen Verheißungen fassen lässt, hat unter seiner Nachkommenschaft nur wenige Bindungen entstehen lassen. Die Erben haben sich in den Erbstreitigkeiten eingerichtet und Konkurrenzverhältnisse mit über weite Strecken konflikthaftem Verlauf begründet. Über den Befund, dass Kohabitation und Konflikt sich wechselseitig bedingten, kann auch noch hinausgegangen werden. Wie einige der hier versammelten Beiträge vorführen, haben die mittelalterlichen Gesellschaften aus den Auseinandersetzungen mit dem Gegenüber ihren Nutzen zu ziehen gewusst. Im Kontrast zu den wechselnden Opponenten und Minderheiten im Innern ließ sich der Blick für das jeweils Eigene schärfen und fiel die Definition von Werten, Normen und Grenzen leichter. Gerade hier hat das Mittelalter Dialektiken vorgegeben, die über die Neuzeit bis in die Gegenwart hineinwirken. Wo die Verwandtschaftsbeziehungen nun einmal schwierig waren und sind, kann der Konflikt auch der eigenen Selbstvergewisserung dienstbar gemacht werden. Das demnächst anstehende Reformationsjubiläum verweist auf eine analoge Geschichte mit reichem Anschauungsmaterial, das noch weitgehend nicht der Entdeckung, aber der Bewusstmachung harrt. Denn an der Basis des Erfolgs der Reform stand die Bezeichnung einer ‚Achse des Bösen‘, die von Konstantinopel über den „Bapst zu Rom“ bis in die Frankfurter Judengasse reichte. Hier wie zuvor (und womöglich auch heute) lässt sich ein „Erbe Abrahams“ mit ausgesprochen para-

15 Die Prägung geht zurück auf Robert I. Moore, The Formation of a Persecuting Society. Power and Deviance in Western Europe, 950–1250, Oxford 1987. 16 Vgl. Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus, München, Wien 2003.





Abrahams Erben – Einleitende Bemerkungen 

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doxen Effekten fassen, weil im oft unerbittlichen Streit der Erben die jeweils anderen als Söhne Hagars verstanden wurden, die also zu Recht verstoßen worden sein sollen (Gen 21; Gal 4).17 Gemessen am gegebenen Rahmen der mediävistischen Forschung haben sich das Konzept und die Beiträge der Heidelberger Tagung auf einen Weg der Verbreiterung und Vertiefung der Diskussion begeben. Dabei stehen Zugänge, die sich innerhalb disziplinär gebundener Perspektiven bewegen, neben konsequent fachübergreifenden Ansätzen. In der Summe versammelt der vorliegende Band damit eine Vielzahl aufschlussreicher Untersuchungen, die Beiträge zur Klärung eines ganzen Bündels von Fragen leisten: was Begegnung ermöglicht hat, – welche Er­wartungen die Akteure leiteten, – was Bedingungen und Gegenstände des interkulturellen Austauschs waren, – welche Faktoren wechselseitige Wahrnehmungen und Horizonte bestimmten und welcher Art diese waren, – was Konflikte generierte und was überhaupt jenseits von einfachen Gewissheiten die bestimmenden Kräfte zur Gestaltung von Alltag und Lebenswelten in den Kulturen des europäischen Mittelalters waren. Mit der thematischen Ausrichtung verfolgten die Organisatoren das Ziel einer methodisch fundierten Selbstvergewisserung mit den Mitteln einer akkuraten Introspektion. Archäologie, Geschichte, Islamwissenschaften, Jüdische Studien, Kunstgeschichte, Literatur- und Sprachwissenschaften, Musikwissenschaft, Philosophie, Theologie, Wissenschaftsgeschichte und andere Disziplinen der Mediävistik ver­ fügen hier über je eigene Zugänge. Sie sind in Heidelberg in Austausch miteinander getreten und haben künftige Forschungsperspektiven ausgemessen, die heute erst in vagen Konturen zu erkennen sind, aber an künftigen Ergebnissen ablesbar sein werden. Wichtige Einblicke und Erkenntnisse zeichnen sich aber jetzt bereits ab: Das beginnt schon bei den Blicken auf die ‚Gründerfigur‘ Abraham selbst, deren Bild in unterschiedlichen Medien ausgestaltet werden konnte. Die potentielle Vielzahl der Bezugsweisen erscheint dabei in den untersuchten Text- und Bildzeugnissen eigentümlich gedämpft. Wie nicht anders zu erwarten, begegnet Abraham durchaus manchenorts mehr oder weniger deutlich als identitätsstiftende Figur (Harlos, Kalning, Enderwitz). Er kann als Vergleichs- oder Kontrastfigur angesprochen werden (Ull­ rich, Ukena-Best) und in der bildlichen Darstellung wichtige Symbolgehalte der religiösen Lehre vermitteln (Keil, Paranou). Kaum einmal werden aber entsprechende Verweise zur expliziten Diskussion der Verbindungslinien zwischen den Religions­ gemeinschaften genutzt, die sich auf ihn als Gründerfigur beziehen.

17 Vgl. Martin Luther, Fastenpostille 1525, hrsg.  v. Ernst Thiele u. Georg Buchwald, in: D.  Martin ­Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 17, 2, Weimar 1927, S. 1–247, hier S. 222 (Predigt zu Gal. 4,21–31); ders., Heerpredigt wider den Türken (1529), hrsg. v. Ferdinand Cohrs u. Alfred Goetze, in: ebd., Bd. 30, 2, Weimar 1909, S. 81–197, hier S. 195 u. ö.



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Gleichwohl reizte das spezifische ‚Andere‘ der Mit-Erben über die Jahrhunderte des Mittelalters hinweg immer wieder zur ausdrücklichen Auseinandersetzung in ganz unterschiedlichen Medien und Zusammenhängen: Wie dieser Bezugspol geradezu zwischen Anziehung und Abstoßung oszillieren konnte, zeigen unter anderem festgefügte Motivbestände aus den christlichen Erzähltraditionen. Am Beispiel der Begegnung zwischen Christen und den Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften in den mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen (Kohnen) oder auch in der Darstellung fiktiver Gefangenschaft in der Fremde (Loleit) wird stets aufs Neue das Eigene durch die Auseinandersetzung mit dem Anderen im Medium der Fiktion bestimmt (Wagner). Letzteres kann sich dabei, den Gewohnheiten der Zeit entsprechend, durchaus auf Gattungen erstrecken, die moderne Rezeptionsgewohnheiten davon gerne trennscharf abgrenzen möchte (Radek). In ganz unterschiedlichen Kontexten und Textsorten wird damit auch dem Anderen eine je eigene Bedeutung beigemessen. Solcherlei Verhandlungen im Denkraum des literarischen Schaffens machten zwar breite Motivbestände nutzbar, verweisen aber keineswegs notwendig auf reale Begegnungen oder auch nur auf die Bereitschaft zu solchen. In Analogie zu diesen expliziten Aushandlungen sind auch im weiteren Rahmen motivische oder formale Übereinstimmungen zwischen Texten, die in verschiedenen religiösen Gruppen produziert wurden, nicht unmittelbar als Indizien für Anpassung oder gar intensive soziale Kontakte zu lesen. Tatsächlich sollten sie wohl vielmehr aus den strukturellen Bedingungen der literarischen Produktion bei höchstens punktueller und eng begrenzter Akkulturation erklärt werden (Miklautsch). Gerade der Blick auf die medialen Grundlagen und Formen der performativen Umsetzung in der Glaubenspraxis kann das Bewusstsein dafür schärfen, welche strukturellen Gemeinsamkeiten das Leben der drei Religionsgemeinschaften grundlegend bestimmten, ohne damit historische Varianz auszuschließen. In allen drei Religionen steht das „Buch“ im Sinne einer „Heiligen Schrift“ im Zentrum, die in den jeweiligen Praktiken allerdings auf ganz unterschiedliche Weise wahrgenommen und eingesetzt werden kann. So verweist die Untersuchung der „vokalen Performanz“ auf die sich auseinander entwickelnde Deutung der heiligen Texte im Ritus (Haug, Haas), während bereits die Frage nach der Wahrnehmung des Korans (Neuwirth), der Bibel (Heinzer) oder der Tora (Zimmermann) grundlegende Aspekte der religiösen Vorstellungswelt beleuchtet, indem sie das Spannungsfeld von fixierter Schrift und religiösem Erleben in der Performanz eröffnet. Dabei kam es durchaus zu Momenten gegenseitiger Beeinflussung zwischen den Religionsgemeinschaften, die aber im selben Zug wieder zu sich voneinander abgrenzenden, eigenständigen Entwicklungen führen konnten (Nieten). Verlässt man gar den unmittelbaren Raum der kultischen Praxis, so stößt man immer wieder auf Situationen und Zusammenhänge, die dazu zwingen, den Fundierungswert der religiösen Vorgaben in seinem Absolutheitsanspruch zu hinterfragen. Wo es nötig war – oder den Beteiligten als vorteilhaft erschien – ließen sich 



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Differenzen und Widersprüche eben durchaus pragmatisch überwinden, Brücken zur Verständigung bauen (König) oder Wissensbestände bruchlos übernehmen (Schulze). Eine ganze Reihe von Beiträgen, die hier nicht einzeln angeführt werden sollen, nehmen gerade solche Grenzsituationen in den Blick, deren Entwicklung und Ausgang offensichtlich nicht von radikalen Differenzsetzungen im Namen der religiösen Zuordnung bestimmt wurden, sondern in denen die jeweiligen Akteure auf flexible Weise Wege suchten – und fanden – mit denen zumindest situativ Aushandlungsprozesse und Kooperationsmomente möglich wurden. Aus der Sicht der christlichen Mehrheits­gesellschaft des hohen und späten Mittelalters zieht dabei immer wieder der Blick auf die Lage der Juden das Interesse auf sich, die jenseits wiederholt zu beobachtender Vertreibungen eben auch dazu herausforderten, die Problemstellung der religiösen Differenz regelnd in den Griff zu bekommen – in der Ausprägung eines spezifischen Judenrechts (Pacyna), aber auch im Hinblick auf die Praktiken des gemeinsamen wirtschaftlichen Handelns und damit in der alltäglichen Lebenswelt (Brugger, Wiedl). Die Frontstellungen im Hintergrund, auch das sollte an dieser Stelle nicht vergessen werden, konfrontierten dabei keineswegs nur in homogenisierter Weise Christen mit Juden oder Muslimen. Vielmehr waren gerade im hohen und späten Mittelalter auch quasi interne Konfliktlagen zwischen lateinischen und griechischen Christen (um nur dieses Beispiel hier gesondert zu nennen) von grundlegender Bedeutung. Es wirkt wohl nur auf den ersten Blick überraschend, wenn gerade Klöster als „Be­gegnungsräume“ auszumachen sind, die hier bedeutende Mittlerfunktion ausüben konnten (S.  Burkhardt, Mersch, J.  Burkhardt, Mitsiou): Die Befunde zeigen, wie gelebte Nähe zugleich die religiös-kulturelle Distanz verkürzen konnte (Mitsiou), bis hinein in die Haltung vor Ort verwurzelter Mendikanten, denen doch eigentlich die Mission der nichtlateinischen Christen als Auftrag gegeben war (Mersch). Doch auch im weltlichen Bereich waren entsprechende Konfliktlinien präsent und forderten je nach Kontext mehr oder weniger erfolgreiche Vermittlungsprozesse heraus (Jostkleigrewe, Rickelt, Carr). Solche Befunde sollten aber nicht die Bruchstellen vergessen lassen: Manch vermeintliches Zeugnis für mittelalterliche Kulturenvielfalt entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Ausdruck unbedingter Suprematie einer einzigen Seite (S. Burkhardt). Steingewordenen Niederschlag findet diese Haltung stellenweise dort, wo synkretistische Bauformen keineswegs als Zeichen einer offenen Geisteshaltung oder gar schon im Sinne einer modernen Toleranz zu lesen sind, sondern vielmehr einen ­triumphalistischen Gestus bedeuten, in dem die Architekturformen der „Anderen“ in die Formensprache der christlichen Architektur integriert werden (Keller). Auch im Medium der Architektur, insbesondere beim Bau sakraler Gebäude, lassen sich daher geradezu paradigmatisch Anleihen, Einflüsse und Konkurrenzen ablesen (Neuheuser, Paulus, Widmaier). Wie schon dieser knappe Überblick verdeutlicht, führt der Blick auf das Verhältnis von ‚Abrahams Erben‘ im historischen Verlauf immer wieder auf die im Titel genann

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ten Pole von „Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz“ zurück. Dass die stets aufs Neue aufbrechenden Konflikte dabei radikale Formen annehmen konnten, dürfte wohl in nicht geringem Maße der gemeinsamen Abstammung zu verdanken sein, die den Religionsgemeinschaften durchaus bewusst war. Nähe schafft eben nicht notwendigerweise Harmonie, sondern befördert wohl gerade in religiösen Fragen zugleich den Wunsch nach Abgrenzung und Durchsetzung. Und so bilden im Überblick eben auch jene Orte und Zeiten, in denen ein weitgehend konfliktfreies Zusammenleben möglich erscheinen mochte, letztlich nur eine Folie. Die offene Haltung oder auch nur die pragmatische Einrichtung in multikultureller Vergemeinschaftung stieß immer wieder an Grenzen und gab den Akteuren unauflösbare Widersprüche auf (Esch). Es ist nun keineswegs als Verharmlosung der dabei zu beobachtenden Brutalität und Grausamkeit zu verstehen, wenn man festhält, dass selbst der Kontaktmodus ‚Konflikt‘ keine rein ausgrenzenden Wirkungen besitzt. Auch bei der negativen Wahrnehmung des jeweils ‚Anderen‘ und deren ritueller Umsetzung konnte der ‚Andere‘ doch zugleich für die Konstruktion der eigenen Identität – selbst im Rahmen des Gottesdienstes – konstitutiv erscheinen (Bärsch, Vogelgsang). Insgesamt bildet die ‚Erbengemeinschaft‘ damit einen Zusammenhang, dessen Mechanismen und Dynamiken immer wieder aufeinander bezogen sind und sich einer vereinfachenden Kategorisierung entziehen. Schon alleine die Wahrnehmung und Beschreibung etwa der Juden durch christliche Autoren führt in eine schwierige Gemengelage von individueller Beobachtung und stereotyper Polemik (Scholl), die aber nicht immer nur von der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft ausgehen musste (Raspe). Nicht zuletzt aufgrund dieser eng verwobenen Interaktionen, so wird man zumindest vermuten dürfen, begegnet bereits in mittelalterlichen Kontexten auch immer wieder das Verlangen, den ‚Anderen‘ nicht nur auszugrenzen oder gewaltsam zu bekämpfen, sondern auch mit den Mitteln des Wortes von der eigenen Position zu überzeugen (Walter). Dabei mag das Scheitern solcher Ansätze zumindest so lange tatsächlich vorprogrammiert sein, wie es letztlich nicht um den freien Austausch von Meinungen und Ansichten geht, sondern immer noch die Behauptung der eigenen Überlegenheit mitschwingt. Die Materialien und Einsichten unseres Bandes können dabei aber auch eine positive Einsicht vermitteln: Nicht nur müssen wir heute kulturelle und soziale Pluralität – gerade auch mit ihren Zumutungen – erfahren, deuten und ertragen, sondern auch die Vergangenheit war bereits mit Uneindeutigkeiten konfrontiert. Schon die Menschen der Vormoderne mussten und konnten lernen, diese auszuhalten, indem sie eine Ambiguitätstoleranz entwickelten, der sogar gestalterische Freiräume abzugewinnen waren (Meier). Für die erfolgreiche Durchführung des hinter diesem Band stehenden Symposiums, das vom 3. bis 6. März 2013 in Heidelberg stattfand, sowie für die Herstellung dieses Bandes selbst, ist zahlreichen Personen und Institutionen Dank abzustatten: Die Tagung wurde finanziell und ideell unterstützt von der Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg Theresia Bauer, von der Deut



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schen Forschungsgemeinschaft, von der Manfred Lautenschläger Stiftung, von der Sparkasse Heidelberg, vom Universitätsverlag Winter sowie von der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Die praktische Durchführung des Symposiums wäre nicht möglich gewesen ohne die tatkräftige Hilfe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der beteiligten Seminare und vieler Studierender. Ein besonderer Dank gilt hier Katja Weiser, Ricarda Wagner und Frank Krabbes, die das eigentliche Rückgrat der Organisation darstellten. Einen Tagungsbericht verfassten Manuel Kamenzin, Daniel Beeker, Theresa Jaeckh, Lisa Horstmann und Nora Küppers.18 Auf dem Werk zum fertigen Buch war das Engagement von ­Friederike Pfister und Jakob Odenwald eine unverzichtbare Hilfe, die neben der redaktionellen Einrichtung der Beiträge auch die Erstellung der Register übernahmen. Dank gilt schließlich auch unseren Ansprechpartnern beim Verlag de Gruyter, allen voran Jacob Klingner und Maria Zucker, für die geduldige und stets interessierte Zusammenarbeit. Heidelberg, November 2014 Klaus Oschema, Ludger Lieb, Johannes Heil

18 Erschienen in: Das Mittelalter 18, 1 (2013), S. 141–144.



Plenarvorträge

Christel Meier (Münster)

Unusquisque in suo sensu abundet (Röm 14,5). Ambiguitätstoleranz in der Texthermeneutik des lateinischen Westens? Abstract: Entgegen der verbreiteten Vorstellung vom Mittelalter als einer Epoche kirchlich-autoritativer Fixierung eindeutiger Wahrheiten lässt sich zeigen, dass sowohl Exegeten wie Dichter der Epoche im Umgang mit den großen lateinischen Schriftcorpora – der Bibel und der antiken Autoren – die unaufhebbare Mehrdeutigkeit ihrer Texte nicht nur erkannten und akzeptierten, sondern sogar als besonderen Wert zu schätzen wussten und als Lizenz für ihre Arbeit in Anspruch nahmen. Dies entwickelt der Beitrag an der Lesartenvielfalt der lateinischen Bibel, an der allegorischen Schriftauslegung und deren wichtigsten Stationen bis zu dem Vereinheit­ lichungsdruck im 16. Jahrhundert und beschreibt die Methoden und Begründungen der Deutungspluralität in Berufung auf die Legitimationsformel Röm 14,5 sowie die daraus gefolgerte Lizenz zur eigenverantwortlichen Interpretation. Deren Transposi­ tion auf Dichtung und Kunst sowie ihre Erhaltung in Liturgie und Ritus hatten wesentliche Auswirkungen auf die europäische Kunst und Textkultur. Die Akzeptanz von Mehrdeutigkeit, ‚Ambiguitätstoleranz‘, die Deutungsvielfalt, differierende Diskurse, konkurrierende Wertecodes in der mittelalterlichen Gesellschaft ermöglichte und pflegte, ist nicht nur als historisches Phänomen interessant und bisher kaum beachtet, sondern sie macht auch aufmerksam auf ein Problem von hoher Relevanz für den Kulturenvergleich im Mittelalter wie für plurale Gesellschaften heute.

„Abrahams Erbe“, der Titel des Symposions, der auf die drei großen monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – als Kulturen verweist, die im Mittelalter in Konflikt und Koexistenz aufeinander bezogen waren, hat nicht nur mediävistische, sondern durchaus auch aktuelle Aspekte. Denn eine plurale Gesellschaft, in der in zunehmendem Maß verschiedene religiöse Kulturen, vor allem die genannten, miteinander und mit Atheisten zusammenleben, ist auf Lösungen von Konflikt­potential und Überwindung von Unverständnis dem Fremden gegenüber angewiesen. Die globalen Verflechtungen Europas und auch Deutschlands machen die aktuellen Probleme dabei nicht geringer. Für das friedliche Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft stellt die Haltung der Ambiguitätstoleranz, das heißt das Aushalten von Mehrdeutigkeit und Vielfalt, offenbar eine Bedingung, einen Ermög-

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lichungsgrund dar. Der tolerante Umgang mit unterschiedlichen Normencodes und Sinnzuweisungen verhindert Repression und Gewalt.1 Mit seinem Buch über die kulturelle Ambiguitätstoleranz im mittelalterlichen Islam hat Thomas Bauer 2011 – dankenswert und anregend – nicht nur eine in Vergessenheit geratene liberale Tradition muslimischer Kultur und Religiosität ins Bewußtsein gerufen, sondern auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften einen Anstoß gegeben zum Kulturenvergleich unter diesem konzeptionellen Ansatz.2 Damit hat er auch eine weiterführende Befragung von Fundamentalismen bei allen drei Erben Abrahams angestoßen. Denn das Modell der Ambiguitätstoleranz eröffnet auch eine neue Perspektive für den jüdisch-christlich-islamischen Kulturvergleich und kann dazu anregen, verwandte Phänomene in der jüdischen Tradition und im christlichen Mittelalter zu prüfen und zu interpretieren wie auch abweichende schärfer zu konturieren.3 Bauer sagt: „Das Thema kultureller Ambiguität (ist) ein bislang nicht ausgeschöpftes Erklärungspotential für kulturelle, soziale und politische Phänomene“.4 Und er führt seine Untersuchung zur Ambiguität im mittelalterlichen Islam an verschiedenen kulturellen Manifestationen durch: an der Vielfalt der Lesarten und der Mehrdeutigkeit von Koran und Hadith, an Recht und säkularer Poesie, am spielerisch-ambigen Umgang mit Sprache und an einer liberalen Haltung zur Sexualität. Seine These ist, dass die heutigen Fundamentalismen des Islam, obwohl als Rückkehr zum Ursprung deklariert, erst das Ergebnis seiner Begegnung mit der westlichen Welt und ihrem Vereindeutigungsdruck im 19. Jahrhundert seien.5 Dieses Urteil fordert dazu heraus, in einem dem Anliegen Bauers verwandten komparativen Verfahren für das westliche Mittelalter analoge Phänomene kultureller Ambiguität zu prüfen, wie er sie für den vormodernen Islam reklamiert. Abrahams Erben sind in allen drei aus der gemeinsamen Wurzel entwickelten Buchreligionen mit verwandten Schwierigkeiten konfrontiert gewesen, die z. T. zu vergleichbaren Lösungen geführt haben. Ihre Bücher, die als von Gott inspirierte Urkunden die Grundlage der Religionen bilden, als sie zu festen Corpora geworden sind, werden problematisch durch den Hiat zwischen Entstehung und schriftlicher Überlieferung; aus ihm sind jeweils Lesartenvielfalt und Deutungsaporien erwachsen, die zu bewälti-

1 Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005; John D. Caputo, In Praise of Ambiguity, in: Craig J. N. De Paulo u. a. (Hgg.), Ambiguity in the Western Mind, New York 2005, S. 15–34. 2 Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011, S. 26–53, zu Begriff und Forschungssituation der ‚kulturellen Ambiguität‘; zur Notwendigkeit eines befriedigenden Umgangs des Westens mit dem Islam s. ebd., S. 404f. 3 Vgl. z. B. Ross Brann, The Compunctious Poet. Cultural Ambiguity and Hebrew Poetry in Muslim Spain, Baltimore, London 1991. 4 Bauer (Anm. 2), S. 53. 5 Ebd., S. 15f., 192–223, 402–405.





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gen waren.6 Für das westliche Christentum im Mittelalter soll hier anhand des Umgangs mit seinen großen lateinischen Textcorpora als eines Paradigmas hermeneutischer Vielfalt nach Grad und Qualität von Ambiguitätstoleranz gefragt werden. Nach der bisherigen Forschung ist sie wenig bis gar nicht ausgeprägt gewesen.7 Und auch Bauer schreibt noch: „Die Kultur Europas hat auf dem Gebiet der Ambiguität nicht allzu viele Leistungen vorzuweisen, sieht man von Kunst und Musik ab, die zu vielen Zeiten das Refugium darstellten, in dem sich die gesellschaftlich geächtete Ambiguität ausleben durfte.“8 Eine genauere Antwort auf diese Frage erscheint mir sowohl für ein Urteil über das westliche Mittelalter und die kulturellen Entwicklungsprozesse des vormodernen Europa wie auch für den Vergleich der drei in Frage stehenden Kulturen notwendig.

1 Die Bibel: Textvarianten und mehrfacher Schriftsinn (Mehrdeutigkeit) 1.1 Die Vielfalt der Lesarten Als Papst Sixtus V. am 1. März 1590 das Erscheinen der gereinigten Vulgata – die das Konzil zu Trient einige Jahrzehnte zuvor (1546) gefordert hatte – mit der Bulle ‚Eternus ille celestium‘ begleitete,9 konstatierte er mit diesem Akt das Ende der Depravationsgeschichte des Bibeltextes. In ihr beschreibt er, wie Gott die Kirche wie ein Paradies eingerichtet habe, das durch drei Flüsse, die drei heiligen Sprachen, in alle Welt das Wasser der Heiligen Schrift, die göttlichen Geheimnisse und Offenbarungen, hinaustrage und verkünde.10 Doch gerade diese göttliche Urkunde habe der Teufel, der tödliche Feind des Menschen, mit aller ihm verfügbaren Schläue verunreinigt und verdorben durch zahlreiche Korruptelen, „so dass eine Reihe von durch viele Korruptelen verdorbene Ausgaben herauskam“.11 Nicht nur durch Häretiker, sondern auch

6 Allgemein zum Schriftlichwerden der Religionen Guy G. Stroumsa, Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen der Spätantike, Berlin 2011 (frz. 2005), hier S. 53–85, 183–190 („Der Aufschwung der Buchreligionen“). 7 Dazu s. unten Anm. 93. 8 Bauer (Anm. 2), S. 402f. 9 Paul Maria Baumgarten, Die Vulgata Sixtina von 1590 und ihre Einführungsbulle. Aktenstücke und Untersuchungen, Münster 1911, S. 40–64. 10 Ebd., S. 40f.: Eternus ille celestium terrestriumque rerum omnium conditor, ac moderator Deus, ecclesiam sanctam, veluti deliciarum Paradisum, sua ipsemet dextera, tanquam prouidus agricola, varijs plantis stirpibusque mirifice conseuit, simulque vberrimo sacrarum eandem scripturam fonte, pluribus quasi fluuijs, in uniuersum terrarum orbem diffuso, sic irrigauit, vt sancta mysteria, oraculaque diuina, que sacris continentur libris, sicut in cunctarum gentium salutem parabantur, ita a tribus illis potissimum enunciarentur linguis (sc. Hebreis, Grecis ac Latinis litteris). 11 Ebd., S. 41: Verum calidissimus, ac nequissimus humani generis hostis […] id vero precipue omni conatu, ac machinatione tentauit, vt sacrorum quedam corruptissime Bibliorum editiones prodirent,



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durch die Lehrer der Kirche habe Satanas, versiert in allen bösen Künsten, mit der Vielfalt und Verschiedenheit der Versionen ein Chaos angerichtet, in dem es kaum eine heile Autorität (inviolabilis auctoritas) mehr gebe.12 Gegen diese verderbliche Vielfalt sei nun, um die Krankheit zu heilen, das Tridentinum eingeschritten.13 Mit der notwendigen Vereindeutigung des Bibeltextes, mit der Beseitigung der Variantenvielfalt seien Frieden, Einheit, Konsens, Norm wiederherzustellen gegen Schisma, Häresie, Zweifel, Streit, totale Verunsicherung.14 Eine Ironie der Geschichte – oder eine List des Teufels – wollte es jedoch, dass diese erste gereinigte Edition viele Fehler enthielt, so dass die Auflage zurückgerufen werden musste. Nur wenige Exemplare dieses Fehlschlags, einer verunglückten Purgatio textus, sind erhalten geblieben.15 Die Geschichte des Bibeltextes im Mittelalter war allerdings eine andere als ihre Darstellung in der Normierungskampagne des 16. Jahrhunderts. Denn die variantenreiche Textgestalt der Bibel ist im Mittelalter nie ein solches Ärgernis gewesen, wie Sixtus es hier beschreibt. Ganz im Gegenteil: Der lateinische Text der Bibel war im Mittelalter nie ein im Ganzen fester Text.16 Entstanden aus griechischen Übersetzun-

atque ita impietas sub pietatis figura delitesceret ac populis scoria pro argento, fel draconum pro vino, pro lacte sanies obtruderetur. 12 Ebd., S. 41f.: Cumque non in Hereticis tantum, sed in Catholicis etiam quibusdam, tametsi consilio dissimili, subortum sit nimium quoddam nec plane laudabile studium, et quasi libido scripturas latine interpretandi: Idem malorum omnium artifex Satanas per illos, licet nihil tale cogitantes, ex hac ipsa tam incerta, ac multiplici versionum diuersitate et varietate sumpta occasione, sic miscere omnia, atque in dubium reuocare, et si fieri posset, rem eo perducere contendit, vt, dum scripturarum verbis diuersi interpretes aliam atque aliam formam, ac speciem induunt, nihil in ijs certi, nihil rati, ac firmi, nulla denique inuiolabilis auctoritas sine magna difficultate reperiri posse videretur, ita vt hoc seculo valde ­timendum fuerit, ne in priscum illud editionum Chaos rediremus, de quo beatus Hieronymus inquit: Apud Latinos tot sunt exemplaria, quot Codices. 13 Ebd., S. 42: Quare huic morbo sacrosancta Tridentina Synodus mederi cupiens statuit vt ex omnibus, que circumferuntur sacrorum librorum Latinis editionibus, ipsa vetus et vulgata, que longo tot seculorum vsu in Ecclesia probata est editio, in publicis lectionibus, disputationibus, predicationibus, et expositionibus pro authentica habeatur […]. Hec autem vulgata editio cum vna esset, varijs lectionibus in plures quodammodo distracta videbatur. 14 Ebd., S. 43: Verendum tamen fuit, ne […] hec probatissima scripturarum editio, quam vinculum pacis, fidei vnitatem, charitatis nexum, dissentientium consensionem, certissimam in rebus dubijs normam esse oportebat, plerisque contra, schismatis, et heresis inductio, dubitationum fluctus, inuolutio questio­ num, discordiarum seges, et piarum mentium implicatio multiplex euaderet. 15 Ebd., S. 65–112, bes. S. 88–101. Zur weiteren Problematik von Disziplinierung und Rigorismus versus Toleranz im Epochenübergang Peter von Moos, Kirchliche Disziplinierung zwischen Mittelalter und Moderne. Adriano Prosperis „Tribunali della coscienza“ aus mediävistischer Sicht, in: Zeitschrift für historische Forschung 27 (2000), S. 75–90; Klaus Schreiner, ‚Tolerantia‘. Begriffs- und wirkungsgeschichtliche Studien zur Toleranzauffassung des Kirchenvaters Augustinus, in: Alexander Patschovsky u. Harald Zimmermann (Hgg.), Toleranz im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 45), Sigmaringen 1998, S. 335–389. 16 Franz Brunhölzl, Jean Gribomont u. Günter Bernt, Bibel. A. Allgemeiner Sprachgebrauch. B. Bibel in der christlichen Theologie, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (1981/83), Sp. 40–42.





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gen des Alten Testaments, die z. T. mit Rückversicherung im hebräischen Text verbessert wurden, und aus der lateinischen Übersetzung des Neuen Testaments, existierte er in verschiedenen Versionen; schon Origenes stellte in der Hexapla vier griechische Rezensionen des Alten Testaments nebeneinander und schuf einen Text, der jedoch nicht zur autoritativen Version wurde.17 Hieronymus erarbeitete seine letzte von drei Versionen aus jener Hexapla und dem hebräischen Text unter Beibehaltung überkommener Formulierungen – und unter Klagen, dass er ambige Stellen vereindeutigen musste, wie es beim Übersetzen oft notwendig ist.18 Sog. altlateinische Fassungen aus dem 2. Jahrhundert, z. B. aus Nordafrika und Gallien, blieben in der Überlieferung lange erhalten, ohne dass ihre Varianz Anstoß erregte oder rigoros eliminiert wurde.19 Auch die sog. Vulgata, die aus der Arbeit des Hieronymus entstand, blieb ein Mischtext und bedeutete keine endgültige Fixierung auf einen homogen festgelegten Wortlaut.20 Die Bemühungen Alcuins und Theodulfs von Orléans im 9. Jahrhundert veränderten diese Situation nicht,21 und selbst die Bibelkorrektorien verschiedener Orden (Dominikaner, Franziskaner) des 13. Jahrhunderts schufen mit ihren gereinigten Versionen keine homogene sich durchsetzende Fassung.22 Eine besondere Form eines Variantencorpus stellen im Neuen Testament die vier Evangelien dar; die Geschichte Jesu wird nicht einmal, sondern in mehr oder weniger starker Differenzierung viermal in den biblischen Kanon aufgenommen. Im Eingang seines Lukas-Kommentars reflektiert Beda Venerabilis diese Tatsache. Er erinnert daran, dass es noch viel mehr Evangelien gegeben habe, und bezeichnet die vier des Neuen Testaments als pulchra varietas, „eine schöne Vielfalt oder Buntheit“, von der

17 Zu Origenes’ Arbeit am Bibeltext Franz Brunhölzl, Bibelübersetzungen. I. Lateinische Bibelübersetzungen und ihre textgeschichtlichen Voraussetzungen, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (1981/83), Sp. 88–93; ferner Henning Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, 2 Bde., München 1990/94, hier Bd. 1, S. 170–171. Zur Septuaginta-Entstehung ebd., Bd. 1, S. 24–32; Folker Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta (Institutum Judaicum Delitzschianum. Münsteraner Judaistische Studien 9), Münster 2001; Michael Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005, S. 84–97, auch zur Hexapla des Origenes und deren Nachfolge-Rezensionen. 18 Zu Hieronymus s. Brunhölzl (Anm. 17), Sp. 91f.; ferner Graf Reventlow (Anm. 17), hier Bd. 2, S. 39–52. 19 Brunhölzl (Anm. 17), Sp. 90f.; aus der Vetus Latina haben sich bei Hieronymus Formulierungen erhalten. 20 Ebd., Sp. 91f. 21 Günter Bernt, Bibel. Textgeschichtliches. Geschichte, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (1981/83), Sp. 41–42; Brunhölzl (Anm. 17), Sp. 92. 22 Jean Gribomont, Bibel. Bibelkorrektorien, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (1981/83), Sp. 45f. Einen knappen, informativen Überblick über die Phasen des Umgangs mit dem lateinischen Bibeltext in Mittelalter und Renaissance gibt Peter Stotz, Die Bibel auf Latein – unantastbar? (Mediävistische Perspektiven 3), Zürich 2011.



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er eine unbegrenzte Zahl von weiteren Evangelien in einem Akt der Ambiguitätsbändigung als nicht-schöne Vielfalt unterscheidet.23

1.2 Mehrfacher Schriftsinn Wie variantenreich der Bibeltext selbst in seinen verschiedenen lateinischen Übersetzungen und in der Vierzahl der Evangelien auch war, seine Mehrdeutigkeit entfaltete sich in großem Stil erst durch die hermeneutischen Verfahren seiner Auslegung. In Anlehnung an antike Allegorese und an die entsprechende jüdische Adaptation dieser Methode an alttestamentliche Schriften (Philon)24 schuf Origenes in Alexan­ dria in der 1. Hälfte des 3. Jahrhunderts ein christliches bibelallegorisches Corpus und entwickelte in seinem Grundlagenwerk ‚De principiis‘ (4. Buch) auch die Theorie von den drei Schriftsinnen,25 die im lateinischen Westen zuerst von Cassian (Marseille) zur bekannten vierfachen Auslegung erweitert wurde.26 Die Unterscheidung der vier Schriftsinne nach dem Literalsinn und den drei spirituellen Sinnen, dem heilsgeschichtlichen, moralischen und eschatologisch-anagogischen, blieb als Grundregel viele Jahrhunderte in Geltung und wurde unzählige Male beschrieben.27 Das bekannte deutungsmethodische Schema kann mit den drei geistigen Sinnen der Schrift allerdings ganz umfassende Bereiche der conditio humana und ihrer Bedingungen erfassen: Es geht im engeren allegorischen Sinn um (Heils-)Geschichte, im moralischen Sinn um Ethik in einem weiten Verständnis menschlicher Selbsterkenntnis und sozialer Interaktion und im eschatologisch-anagogischen Sinn um Zukunft und Ziel der Menschheit und der Welt. Dass diese thematischen Großbereiche in der Exegese der Epoche auch verschieden stark ausgeschöpft wurden, ist leicht vorzustellen und ließe sich belegen mit Schwerpunkten in der ethisch ausgerichteten Pastoral

23 Beda Venerabilis, In Lucae evangelium expositio, hrsg. v. David Hurst (Corpus Christianorum. Series Latina 120), Turnhout 1960, S. 20: in der Absetzung von den falsa evangelia, die durch verschiedene Häresien (hereses multifariae diversitate) ohne die Inspiration des Heiligen Geistes geschrieben seien, schufen die vier kanonischen Evangelisten ein Evangelienwerk: qui cum sint quattuor non tam quattuor euangelia quam unum quattuor librorum uarietate pulcherrima consonum ediderunt. Eine Evangelienharmonie hat im 2. Jh. der Syrer Tatian mit seinem Diatessaron geschaffen, das in Bearbeitungen erhalten blieb. Vgl. auch Barth D. Ehrman, Last Scriptures. Books that did not become the New Testament, New York 2003. 24 Graf Reventlow (Anm. 17), Bd. 1, S. 44–49. 25 Henri De Lubac, Exégèse médiévale. Les quatre sens de l’Écriture, 2 Bde. (Théologie 41/42/59), Paris 1959–1964, hier Bd. I 1, S. 198–207; Graf Reventlow (Anm. 17), Bd. 1, S. 174–177; Gilbert Dahan, Lire la Bible au Moyen Âge. Essais d’herméneutique médiévale, Genf 2009. 26 Cassianus, Conlationes XXIV, hrsg. v. Michael Petschenig (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 13), Wien 1886, 2. Aufl. 2004, S. 404f. 27 Friedrich Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, in: ders., Schriften zur mittelalter­ lichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 1–31, hier S. 6; De Lubac (Anm. 25), passim.





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der neuen Orden seit dem 13. Jahrhundert oder in den eschatologisch-anagogischen Endzeitdiskursen des späteren Mittelalters.28 Der Reichtum an Bedeutungen, der durch Überschreitung des Literalsinns in die spirituelle Mehrdeutigkeit erreicht wird, ist immer wieder als unausschöpfbar verstanden worden. Die unendliche Sinnfülle wurde mit dem Meer verglichen, auf dem man untergehen kann.29 Cassiodor resümiert am Ende seines durch Jahrhunderte maßgeblichen Psalmen-Kommentars: Auch mit dem Bewußtsein davon, dass die Fülle nicht begriffen werden kann, wird doch mit Nutzen (nach Auslegungen) gesucht, weil die Schrift in der Suche (oder: durch die Suche) immer reicher (copiosior) wird.30

Aber nicht nur die Bedeutungsfülle der Bibel wächst im Fortgang ihrer Auslegung. Die Unausschöpfbarkeit bedingt die Unabschließbarkeit des Deutens; denn mit der fortgesetzten inspirierten Exegese erweitert sich auch der Rahmen der göttlichen Offenbarungen über die Bibel hinaus. In bestimmten Traditionszweigen gilt die Überzeugung, dass die göttlich inspirierten Schriften mit dem biblischen Kanon nicht endgültig abgeschlossen seien, sondern eine ständige Erweiterung erfahren könnten: so in der Gregor-Nachfolge, der pseudo-dionysischen Theologie, bei verschiedenen innovativen Exegeten des 12. Jahrhunderts31 und so auch bei der Prophetin Hildegard von Bingen, die ihre Visionen als neue Bibelexegese verstanden wissen will in der Fortsetzung der göttlichen Offenbarung – daher lässt sie im ‚Scivias‘ Gott über sich sagen:

28 Mit den Mendikanten und ihrem Bedarf an Predigthilfen gibt es eine starke Tendenz zur moralischen Exegese; in der Nachfolge Joachims von Fiore entwickeln sich eschatologisch-anagogische Auslegungsmuster (z. B. an der Apokalypse) im ganzen Spätmittelalter in einem umfangreichen Schrifttum. 29 Hans-Jörg Spitz, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends (Münstersche Mittelalterschriften 12), München 1972, S. 137–141, zum ‚Meer‘ der Schrift und ihrer Auslegung (immenses fluctus; vastum mysteriorum pelagus, immensitas pelagi) nach Origenes, Gregor u. a. 30 Magnus Aurelius Cassiodorus, Expositio Psalmorum, 2 Bde., hrsg. v. Marcus Adriaen (Corpus Christianorum. Series Latina 97/98), Turnhout 1958, hier Bd. 2, S. 1330 (‚Conclusio Psalmorum‘): Sed quamuis a nobis ex toto comprehendi non possit, tamen utiliter quaeritur, quia perscrutatus semper copiosior inuenitur. 31 Gian L. Potestà, Propheten, Prophetie, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7 (1994/95), Sp. 252–254; Christel Meier, Nova verba prophetae. Evaluation und Reproduktion der prophetischen Rede der Bibel im Mittelalter. Eine Skizze, in: dies. u. Martina Wagner-Egelhaaf, Prophetie und Autorschaft, Berlin 2014, S. 71–104: zu Gregor, Ps.-Dionys – Eriugena, Autoren des 12. Jhs. Zum infiniten Schriftsinn auch Gilbert Dahan, L’exégèse chrétienne de la Bible en Occident médiéval XIIe–XIVe ­siècle, Paris 1999, S. 71–73; Pier Cesare Bori, L’interpretazione infinita: l’ermeneutica cristiana antica e le sue trasformazioni, Bologna 1987; für den jüdischen Bereich David Banon, La lecture infinie. Les voies de l’interprétation midrachique, Paris 1987.



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Der katholische Glaube ist jetzt ins Wanken geraten und das Evangelium hinkt bei den heutigen Menschen. Die starken Schriftenbände, die die bewährtesten Lehrer mit größter Mühe erklärt (wörtlich: ‚ausgekernt‘) hatten, gleiten dahin in hässlichem Überdruss, und die Lebensspeise der göttlichen Schriften ist schon schal geworden. Deshalb spreche ich jetzt über die Schriften durch einen Menschen, der nicht spricht und nicht ausgebildet wurde durch einen irdischen Lehrer, sondern ich, der ich bin, verkünde durch ihn neue Geheimnisse und vieles Mystische, was bisher noch in den Büchern verborgen war.32

– so die jüngste Kirchenlehrerin über die Unausschöpfbarkeit der Bibel.

1.3 Augustin: Rhetorik – Schrifthermeneutik Als Augustin daranging, mit ‚De doctrina Christiana‘ ein erstes umfassendes Lehrbuch zur Bibelhermeneutik vorzulegen,33 nutzte er neben der Reflexion der frühen christlichen Allegorese vor allem die rhetorische Lehre der Antike, in der er selbst Experte war. Damit geriet er zwangsläufig in einen Konflikt mit den rhetorischen Prinzipien der Klarheit und Eindeutigkeit des Ausdrucks als Stärke, virtus, sowie der Dunkelheit der Rede als Fehler, vitium.34 Die weitgehend negative Bewertung von ambiguitas und amphibolia, die Quintilian z. B. in einem großen Kapitel (VII 9) aus juristischer Sicht entwickelt hatte,35 musste für den dunklen Bibeltext eine Revision erfahren. Augustin nimmt eine Umwertung und funktionale Differenzierung vor nach dem Wortsinn (den verba propria), für den die rhetorische vitium-Regel gilt, einerseits, und nach der spezifischen Zeichensprache des Bibeltextes in der übertragenen Rede, den verba trans-

32 Hildegardis, Scivias, hrsg. v. Adelgundis Führkötter u. Angela Carlevaris (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 43/43A), Turnhout 1978, S. 586: Sed nunc catholica fides in populis uacillat et euangelium in eisdem hominibus claudicat, fortissima etiam uolumina quae probatissimi doctores multo studio enucleauerant in turpi taedio diffluunt et cibus uitae diuinarum Scripturarum iam tepefactus est: unde nunc loquor per non loquentem hominem de Scripturis, nec edoctum de terreno magistro, sed ego qui sum dico per eum noua secreta et multa mystica quae hactenus in uoluminibus latuerunt. 33 Aurelius Augustinus, De doctrina Christiana libri IV, hrsg. v. Joseph Martin (Corpus Christianorum. Series Latina 32), Turnhout 1962; die Übersetzung Aurelius Augustinus, Die christliche Bildung (De doctrina Christiana), übers. mit Anmerkungen und Nachwort v. Karla Pollmann, Stuttgart 2002, wurde benutzt, aber auch nach den Erfordernissen dieser Studie z. T. abgewandelt. Wo Übersetzungen benutzt werden, können sie auch kontextgemäß verändert sein. 34 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, §§ 222f., 528–537, 1066– 1070, 1073, 1079; dazu Manfred Fuhrmann, Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike, in: Wolfgang Iser (Hg.), Immanente Ästhetik – ­Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne (Poetik und Hermeneutik 2), München 1966, S. 47–72. 35 Marcus Fabius Quintilianus, Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, 2 Teile, hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn (Texte zur Forschung 3), 2. Aufl. Darmstadt 1988, Teil 2, S. 110–117.





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lata und ihren verborgenen Bedeutungen, andererseits.36 Dunkelheiten und ambige Rede (obscuritates et ambiguitates) der zweiten Sorte werden dann nicht mehr als sprachliches Defizit, sondern als Potential begriffen, das durch ein angemessenes Zeichenverständnis zu entschlüsseln ist. Dieses befriedigt sowohl ästhetische wie pädagogische Anforderungen: Durch göttliche Vorsorge wurde das Bibelwort gegen Hochmut und Überdruß (superbia, fastidium) eines zu leichten Verstehens geschützt und verschlüsselt.37 Die Mühen der Entschlüsselung der Dunkelheiten und Ambiguitäten lassen die Schönheit des Textes in der Befriedigung des endlichen Begreifens erst wirksam werden: suavius videre, libentius cognoscere, gratius invenire, wie Augustin sagt.38 Unter dem Einfluß von Augustins Zeichenlehre und der frühen Allegoresepraxis wird als Grundregel der Auslegung der Satz formuliert: So viele Eigenschaften ein Ding hat, so viele Bedeutungen hat es.39 Es werden in der Auslegung Ähnlichkeiten, Analogien (similitudines) erhoben, um die Signifikate zu erschließen. Doch die Mehr-

36 Augustinus (Anm. 33), S. 35, zur Bibel: Sed multis et multiplicibus obscuritatibus et ambiguitatibus decipiuntur, qui temere legunt, aliud pro alio sentientes, quibusdam autem locis, quid vel falso suspicentur, non inueniunt: ita obscure dicta quaedam densissimam caliginem obducunt; ebd., S. 77: Ut autem signis ambiguis non decipiatur [homo], quantum per nos instrui potest […], sciat ambiguitatem scripturae aut in uerbis propriis esse aut in translatis. Es folgen Ausführungen zur ambiguitas im Wortsinn. Abschließend und überleitend zu den uerba translata: Rarissime igitur et difficillime inueniri potest ambiguitas in propriis uerbis, quantum ad libros diuinarum scripturarum spectat, quam non aut circumstantia ipsa sermonis, qua cognoscitur scriptorum intentio, aut interpretum conlatio aut praecedentis linguae soluat inspectio. Sed uerborum translatorum ambiguitates, de quibus deinceps loquendum est, non mediocrem curam industriamque desiderant; ebd., S. 102 zum Verständnis der Tropen in der Bibel: Quorum cognitio propterea scripturarum ambiguitatibus dissoluendis est necessaria, quia cum sensus, ad proprietatem uerborum si accipiatur, absurdus est, quaerendum est utique, ne forte illo uel illo tropo dictum sit, quod non intellegimus. Zu Ambiguität dialektisch-rhetorisch Aurelius Augustinus, Principia Dialecticae, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 32, Sp. 1409–1420, hier Sp. 1414–1420, zu Ambiguität und Dunkelheit; dazu unter Berücksichtigung auch des Echtheitsproblems Hans Ruef, Dialectica (De - ), in: Augustinus-Lexikon, Bd. 2 (1996–2002), Sp. 402–407; ders., Dialectica, dialecticus, in: ebd., Sp. 407–414. 37 Augustinus (Anm. 33), S. 35, zu Dunkelheit und Ambiguität der Heiligen Schrift: Quod totum prouisum esse diuinitus non dubito ad edomandam labore superbiam et intellectum a fastidio reuocandum, cui facile inuestigata plerumque uilescunt. Aurelius Augustinus, De Genesi ad litteram libri XII, hrsg. v. Joseph Zycha (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 28, 1), Prag u. a. 1894, S. 27: Et in rebus obscuris atque a nostris oculis remotissimis, si qua inde scripta etiam diuina legerimus, quae possint salua fide qua imbuimur, alias atque alias parere sententias, in nullam earum nos praecipiti adfirmatione ita proiciamus, ut, si forte diligentius discussa ueritas eam recte labefactauerit, corruamus, non pro sententia diuinarum Scripturarum, sed pro nostra ita dimicantes, ut eam uelimus scripturarum esse, quae nostra est, cum potius eam, quae scripturarum est, nostram esse uelle debeamus. 38 Augustinus (Anm. 33), S. 36. 39 Zum Beispiel Petrus Pictaviensis, Allegoriae super tabernaculum Moysi, hrsg. v. Philip S. Moore u. James A. Corbett, Notre Dame (Indiana) 1938, S. 4: Quaelibet enim res quot habet proprietates tot habet linguas aliquid spirituale nobis et invisibile insinuantes; vgl. auch oben Anm. 27.



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deutigkeit findet damit nicht ein Ende, sondern es können auch über ein- und dieselbe Eigenschaft der oft zahlreichen Proprietäten der Dinge verschiedene Bedeutungen gefunden werden. Zum Beispiel kann das Rot einer Rose nicht nur die Liebe, sondern auch die Passion, äußeres oder inneres Martyrium, ja die jenseitige Königswürde der Christen bedeuten.40 Diese überschießende Bedeutungsvielfalt wird durch Strategien der Ambiguitätsbändigung aus dem aktuellen Kontext wie der Gesamtbibel reguliert. Einen Schritt weiter als Augustin geht im Verständnis der Ambiguität der Bibel(sprache) Ps.-Dionys und mit ihm Eriugena. Sie kommen zu der grundsätz­ lichen Aussage, dass diese göttliche Urkunde nicht so sehr Ähnlichkeitsdeutungen zur Erkenntnis des Göttlichen zulassen will, sondern vielmehr – so die apophatische (negative) Theologie – das Unähnliche, das Monströse sicherer zur (höchsten) Einsicht in die prophetische Gottesoffenbarung führt;41 ein verschärftes Ambiguitäts­ training ist also für die Rezipienten gefordert. Nach Alans von Lille Prolog zu seinem Bibelwörterbuch, der geradezu als Ambiguitätstheorie zu lesen ist, verlangt der Text der Heiligen Schrift auch deshalb ein besonderes Ambiguitätstraining, weil seine Grammatik und logischen Aussagen nicht mit den Kategorien der antiken Ars grammatica und dialectica kompatibel sind. Dieser Text ist gefährlicher, schwieriger als andere Texte: wo die Rede die Sache nicht bezeichnet, wie sie ist, wo Wörter sich von ihren eigentlichen Bedeutungen entfremden und, (selbst) verwundert, neue Bedeutungen annehmen, wo die göttliche Erhabenheit herabsteigt, damit die menschliche Einsicht aufsteige, wo Substantive zu Pronomina, Adjektive zu Substantiven werden, das Verb kein Zeichen mehr ist, das etwas über etwas anderes aussagt,42

wo auch weitere grammatische und logische Bezüge und Regeln nicht funktionieren, Donat, Cicero und Aristoteles also unbrauchbar sind, weil Konstruktionen, Metapho-

40 Dazu s. Christel Meier u. Rudolf Suntrup, Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter, CDRom, Köln, Wien 2011, s. v. roseus, rosa und ruber, rubeus. 41 Dazu s. Johannes Scotus Eriugena, Expositiones in Ierarchiam coelestem, hrsg. v. Jeanne Barbet (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 31), Turnhout 1975, S. 22f., 34f.; Christel Meier, Ut rebus apta sint verba. Überlegungen zu einer Poetik des Wunderbaren im Mittelalter, in: Dietrich Schmidtke (Hg.), Das Wunderbare in der mittelalterlichen Literatur (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 606), Göppingen 1994, S. 37–83. 42 Alanus de Insulis (Alan von Lille), Distinctiones dictionum theologicalium, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 210, Sp. 685–1012, hier Sp. 687B: In sacra pagina periculosum est theologicorum nominum ignorare virtutes, ubi periculosius aliquid quaeritur, ubi difficilius invenitur, ubi non habemus sermones de quibus loquimur […], ubi vocabula a propriis significationibus peregrinantur et novas admirari videntur; ubi divina descendit excellentia ut humana ascendat intelligentia; ubi nomina pronominantur, ubi adjectiva substantivantur, ubi verbum non est nota eius quod de altero dicitur.





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rik und logische Prädikationen nicht stimmen.43 Die Anlage des Wörterbuchs bestätigt dann die Interpretationsbedürftigkeit und ambige Faktur des Bibeltexts.44

1.4 Reflexionen zur Mehrdeutigkeit der Schrift Die Exegeten nehmen in direkten Reflexionen und in Metaphern zu dieser Mehrdeutigkeit selbst Stellung. Der Wert der Mehrdeutigkeit, die Schönheit der Vielfalt wird von den Kommentatoren in einer Metadeutung der Buntheit bekräftigt. So lobt Cassiodor die Sinnvarianz (in intellectu […] diversitas) mit dem reizvollen Farbenwechsel verschiedener Edelsteine, Vögel oder des Chamäleons.45 Honorius Augustodunensis erklärt in seiner ‚Clavis physice‘, der Kurzform von Eriugenas ‚Einteilung der Natur‘ (‚De divisione nature‘): Wie man auf der Feder des Pfaus ein- und dieselbe wunderbare und schöne Buntheit ungezählter Farben erblickt, so vielfältig und unbegrenzt (multiplex et infinitus) ist auch das Verstehen der göttlichen Rede.46

43 Ebd., Sp. 687BC: […] ubi sine inhaerentia praedicatio, ubi sine materia subjectio, ubi affirmatio impropria, negatio vera, ubi constructio non subjacet legibus Donati, ubi translatio aliena a regulis Tullii, ubi enuntiatio peregrina ab Aristotelis documento. 44 Alan setzt die allegorischen Deutungen der Bibelexegese vielfach als proprie-Bedeutung der Lemmata, um ihre neue Signifikanz in diesem Kontext zu signalisieren, z. B. ebd., Sp. 689C: ‚Absinthium‘, proprie, dicitur diabolus ratione amaritudinis, cujus amara est doctrina (dazu Apoc. 8,11). 45 Cassiodorus, Expositio Psalmorum, 2 Bde., hrsg. v. Marcus Adriaen (Corpus Christianorum. ­Series Latina 97/98), Turnhout 1958, hier Bd. 1, S. 482: Studiosissime nobis consideranda est uarietas et parilitas ista psalmorum, quando in uerbis consonantia, et in intellectu probatur esse diuersitas. ­Absolutissime siquidem prodit diuini eloquii coruscabilem dignitatem; ut in hisdem sermonibus salua fide res diuersas intellegere debeamus. Nam si coloribus gemmarum datum est uaria luce radiare; si auibus quibusdam concessum est diuersis splendere coloribus; si cameleontem in uno atque eodem corpore, modo prasinum, modo uenetum, modo roseum, modo pallidum humani oculi contuentur, cur et diuina eloquia diuersitatis intelligentiam non haberent, quae frequenter et abyssis comparantur? Nam motu tremulo uaria pelagus luce resplendet. Hinc est etiam quod orthodoxi patres de uno loco diuersa dicunt, et tamen omnes salutariter audiuntur; unde et quidam nostrorum ait: ‚Margarita quippe est sermo diuinus, et ex omni parte forari potest.‘ Ebd., Bd. 2, S. 1331: Sic uarietas ista Psalmorum, aut pretiosissimo lapidi topazio, aut pulcherrimo pauoni congrue forsitan comparatur, qui toties diuersos reddunt colores corporis sui, quoties in eis defixus fuerit oculus intuentis. 46 Honorius Augustodunensis, Clavis physicae, hrsg. v. Paolo Lucentini, Rom 1974, S. 184: Sicut in penna pavonis una eademque mirabilis ac pulchra innumerabilium colorum varietas conspicitur, ita multiplex et infinitus divinorum eloquiorum intellectus cognoscitur.



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Der spanische Apokalypse-Kommentator Beatus von Liébana betont im 8. Jahrhundert den einen Glauben, aber die Vielfalt der Predigt: Es ist nicht nur eine Predigt, weil die verschiedenen [Prediger] Verschiedenes erkennen und mit verschiedenen Farben sich gleichsam in vielfarbiger Tönung färben.47

Beatus hebt hier die Differenz der Auslegungen durch ein viergliedriges Polyptoton von diversus hervor: una praedicatio non est quia diversi diversa sentiendo diversis coloribus quasi tinctura diversa fuscantur.48 Die Vielfalt der in den geistigen Sinnen erschließbaren Signifikanz des Bibelworts wird von den patristischen Autoren nicht als Problem einer störenden Beliebigkeit wahrgenommen, sondern als Angebot verstanden, durch das jedem Exegeten große Freiheit der Interpretation zukommt, diese aber auch den anderen zuzugestehen ist. Denn seit der frühen christlichen Auslegung gilt die allegorische Kommentierung nicht als kanonisch. Origenes, der erste große christliche Bibelexeget, der trotz der Verurteilung einiger seiner Lehren durch Übersetzungen und direkte Lektüre auch im lateinischen Westen eine außerordentliche Nachwirkung hatte, macht immer wieder auf das Tentative seiner Deutungen aufmerksam, betont ausdrücklich die Schwierigkeiten der spirituellen Auslegungen, bezeichnet sie als Vorschläge, die nicht verbindlich sind. Davon haben die lateinischen Kirchenväter gelernt, etwa Hieronymus, Augustin oder Gregor der Große.49 Und im 12. Jahrhundert wie erneut im Humanismus begründet dies die Hochschätzung des Origenes: Abaelard und Johannes von Salisbury sehen ihn als scharfsinnigsten und gebildetsten christlichen Philosophen,50

47 Beatus von Liébana, In Apocalipsin libri duodecim, hrsg. v. Henry A. Sanders, Rom 1930, S. 534f. 48 Ebd.; vgl. dazu Meier u. Suntrup (Anm. 40), s. v. Varius und Verwandtes II 3. 49 De Lubac (Anm. 25), Bd. II 2, S. 85–106, zu Einschränkungen der eigenen Deutungsfähigkeit besonders bei Origenes, aber auch bei nachfolgenden Exegeten. Hieronymus, In Hieremiam libri VI, hrsg. v. Sigofredus Reiter (Corpus Christianorum. Series Latina 74), Turnhout 1960, S. 1f. (Prolog) zur Erklärung, dass er in seinen Kommentaren viele Meinungen verschiedener Exegeten bringe, dem Leser die Wahl überlassen sei: In quibus [sc. commentariis] multae diuersorum ponuntur opiniones uel tacitis uel expressis auctorum nominibus, ut lectoris arbitrium sit, quid potissimum eligere debeat, decernere. Vgl. Graf Reventlow (Anm. 17), Bd. 2, S. 43. Hieronymus, Epistulae, hrsg. v. Isidorus Hilberg (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 54–56), Wien, Leipzig 1910/1912/1918, hier Ep. 61, 2, über die exegetische Arbeit des Origenes: [Origenes] et scripturas in multis bene interpretatus est et in prophetarum obscura disseruit et tam noui quam ueteris testamenti reuelavit maxima sacramenta. 50 Abaelard, Epistolae, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 178, Sp. 113–380, hier Ep. 7, Sp. 253D: Ut caeteros omittam, praecipui doctores Ecclesiae producantur in medium, Origenes scilicet, Ambrosius atque Hieronymus. Quorum quidem primus ille videlicet maximus Christianorum philosophus; Johannes von Salisbury (Saresberiensis), Policraticus sive De nugis curialium et vestigiis philosophorum libri VIII, 2 Bde., hrsg. v. Clemens C. I. Webb, London, Oxford 1909, ND Frankfurt a. M. 1965, Bd. 2, S. 251: philosophus acutissimus et litteratissimus Christianus […] Origenes.





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Erasmus wertet sein Werk als unvergleichlich, nennt ihn den glücklichsten Künstler in der Allegorese: felicissimus artifex in tractandis allegoriis.51 Der so gepriesene Ausleger der Schrift bietet häufig verschiedene Verstehensmöglichkeiten und mehrschichtige Deutungen an. Er versieht diese Vorschläge mit Formeln wie: „Wenn es nicht zu gewagt ist zu sagen“, oder: „ich wage zu sagen“, oder: „Die Geheimnisse der Schrift suchen wir nach unseren Möglichkeiten zu ergründen, aber vieles entgeht uns dabei.“52 Gregor der Große vergleicht den Versuch der Textdurchdringung mit einer Nachtwanderung, in der man sich nur tastend fortbewegen kann.53 Häufige Formeln der Exegeten sind daher: „Es scheint mir“, oder: „ungefähr dieses können wir begreifen“, wenn nicht sogar ausdrücklich gesagt wird, eine Aussage verstehe man eigentlich nicht, mache aber trotzdem einen Vorschlag der Deutung.54 Diese Vorsicht ist bislang für die Einschätzung der exegetischen Arbeit zu wenig beachtet worden. Die Vielfalt der Bedeutungen des polyvalenten Bibeltextes hat demnach drei Aspekte: Erstens liegt sie in der Sache selbst, da Gottes Wort reicher ist als Menschenwort; zweitens gibt sie dem (inspirierten) Exegeten großen Raum für ein eigenes Verständnis; drittens kommt sie den ganz verschiedenen Rezipienten nach deren jeweiliger Fassungskraft und Situation entgegen. Gregor vergleicht daher die Bibel im Prolog seines Hiob-Kommentars mit einem Fluss, der zugleich tief und flach ist, so dass der Elefant schwimmen muss, das Lamm jedoch mühelos hindurchwaten kann.55 Johannes Busch schildert am Ende des Mittelalters in seinem Tatenbericht über die Klosterreform der Devotio moderna, wie er selbst lange weder durch intensives Bibelstudium noch bei der Lektüre der Kirchenväter von seinen schweren Glaubenszweifeln loskam, ja alle Codices entmutigt in die Bibliothek zurückgab, bis ein erfahrener Ordensbruder ihm die Heilige Schrift als eine

51 Desiderius Erasmus, Ratio verae Theologiae, in: ders., Opera omnia 5, Lugduni Batavorum 1704, Sp. 75–138, hier Sp. 127: Porro in tractandis allegoriis felicissimus artifex est Origenes; vgl. ebd., Sp. 80, 132f. 52 Vgl. De Lubac (Anm. 25), Bd. II 2, S. 85 (Belege). 53 Gregor der Große, Homiliae in Hiezechielem prophetam, hrsg. v. Marcus Adriaen (Corpus Christianorum. Series Latina 142), Turnhout 1971, S. 205: Obscurum quidem ualde est opus quod aggredimur, sed ponamus in animo quia nocturnum iter agimus. Restat ergo ut hoc palpando carpamus. 54 Vgl. De Lubac (Anm. 25), Bd. II 2, S. 85 (Belege). 55 Gregorius Magnus, Moralia in Iob libri I–X, hrsg. v. Marcus Adriaen (Corpus Christianorum. Series Latina 143), Turnhout 1979, S. 6: Diuinus etenim sermo sicut mysteriis prudentes exerciet, sic plerumque superficie simplices refouet. Habet in publico unde paruulos nutriat, seruat in secreto unde mentes sublimium in admiratione suspendat. Quasi quidam quippe est fluuius, ut ita dixerim, planus et altus, in quo agnus ambulet et elephas natet. Dazu Albertus Magnus, Summa theologiae sive de mirabili scientia Dei, hrsg. v. Dionys Siedler u. a., Münster 1978, S. 16 (danach die Titelformulierung bei Wim François u. August Den Hollander, ‚Wading Lambs and Swimming Elephants‘. The Bible for the Laity and Theologians in the Late Medieval and Early Modern Era [Bibliotheca Ephemeridum Theo­ logicarum Lovaniensium 257], Leuven u. a. 2012).



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große, mit köstlichen Speisen aller Art besetzte Tafel erklärte, von der jeder sich das nehmen könne, was ihm zusage und bekomme – dies war ein erster Schritt für ihn auf dem Weg zu einem erleuchteten Lehrer.56 Ein Bibelvers legitimiert bei den Exegeten gleichsam leitmotivisch die positiv verstandene Polyvalenz des Bibeltextes und die große Freiheit eigenständiger Auslegung, Röm 14,5: „Ein jeder soll aus der Fülle des eigenen Geistes schöpfen“ – Unusquisque in suo sensu abundet. Wo Paulus mit dem Satz die Berechtigung verschiedener religiöser Bräuche, z. B. der Speisegesetze, bekräftigen und gegenseitige Kritik verschiedener religiöser Gruppen verhindern wollte,57 beziehen die Bibelkommentatoren die Lizenz auf ihr eigenes Geschäft. So verweist Bernhard von Clairvaux in der Auslegung von Isaias’ Berufung (Is 6), in der er die beiden Seraphim der Vision auf die zweifache rationale Kreatur, Engel und Menschen, deuten will, darauf: „wenn es hier einem jeden erlaubt ist, aus der Fülle des eigenen Geistes zu schöpfen“.58 Von den Kirchenvätern (z. B. Hieronymus) bis mindestens in die Zeit des Thomas von Aquin wird dieser Satz als Legitimationsformel für die eigene Auslegungsfreiheit aufgerufen.59 Auch die Neuerer der Theologie wie Eriugena oder Abaelard gebrauchen diesen Vers in der Art eines rechtfertigenden Leitmotivs. Eriugena beschließt nach den schwierigen Erörterungen über Gn 1–3 und die Rückkehr von Mensch und Kosmos in Gott am Ende der Geschichte (Apokatastasis) sein innovatives Gesamtwerk ‚Die Einteilung der Natur‘ mit diesem Satz: Unusquisque in suo sensu abundet, und er fährt fort: „bis jenes Licht kommt, das das Licht der falsch Philosophierenden zu Finsternis

56 Johannes Busch, Liber de reformatione monasteriorum, hrsg. v. Karl Grube (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 19), Halle a. d. Saale 1886, S. 708f.; dazu Nikolaus Staubach, Text als Prozess. Zur Pragmatik des Schreibens und Lesens in der Devotio moderna, in: Christel Meier u. a. (Hgg.), Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur (Münstersche Mittelalter-Schriften 79), München 2002, S. 251–276, hier S. 271; der Vergleich entfaltet eine alte Schriftmetapher: Spitz (Anm. 29), S. 158–188. 57 Röm 14,2–4: Alius enim credit se manducare omnia; qui autem infirmus est olus manducet. Is qui manducat, non manducantem non spernat; et qui non manducat, manducantem non iudicet: Deus enim illum assumpsit. Tu quis es, qui iudicas alienum servum? 58 Bernhard von Clairvaux, Dominica in kalendis novembris. Sermo tertius, in: ders., Opera, Bd. 5: Sermones, hrsg. v. Jean Leclercq u. Henri Rochais, Rom 1968, S. 311–314, hier S. 311: Et ego quidem, fratres, si licet in hac parte unicuique abundare in suo sensu, in duobus Seraphim duplicem arbitror intelligi creaturam rationabilem, angelicam scilicet et humanam. Salimbene von Parma (de Adam), Cronica, hrsg. v. Oswald Holder-Egger (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores in folio 32), Hannover, Leipzig 1905/13, S. 342: Exponat et intelligat unusquisque verba supraposita Danielis sicut vult, quia apostolus dicit: Unusquisque in suo sensu abundet. 59 Hieronymus, In Hieremiam (Anm. 49), S. 235f.: zum Glauben der Juden an die irdische Wiedererstehung Jerusalems nach der Zerstörung im 1. Jh. n. Chr.: Quae licet non sequamur, tamen damnare non possumus, quia multi ecclesiasticorum uirorum et martyres ista dixerunt, ut ‚unusquisque in suo sensu abundet‘ et domini cuncta iudicio reseruentur (zu Jer 19,10–11).





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macht und die Dunkelheit der richtig Erkennenden in Licht verwandelt“.60 Abaelard beschreibt zur Legitimation seiner eigenen theologischen Lehre, die wegen der Fülle der Tradition von den Gegnern als überflüssig bezeichnet worden war, die Vielfalt der Menschen und Zeiten, die, vor immer neue Fragen gestellt, immer neue Probleme zu lösen hätten, so dass die Notwendigkeit bestehe, dass ein jeder aus der Fülle seines Geistes schöpfe.61 Thomas von Aquin schließlich gesteht mit Berufung auf diesen Satz den doctores der Heiligen Schrift – bei Beachtung des rechten Glaubens – durchaus verschiedene Meinungen (diversae opiniones) zu, ohne für die Schüler der einen oder anderen Seite eine Gefahr zu sehen.62 In einem Feld der Deutungsambiguitäten dient der Satz immer wieder zur Anmahnung von Toleranz im Geltenlassen anderer Auslegungen. Eine schöne Demonstration dieses Paulus-Zitats gibt Augustin im zwölften Buch der ‚Confessiones‘, wo es um die Auslegung von Gn 1,1 geht. Er schildert dort, wie verschiedene Exegeten auftreten und je Verschiedenes aus dem Text des Moses „Am

60 Johannes Scotus seu Eriugena, Periphyseon, Liber Quintus, hrsg. v. Edouard A. Jeauneau (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 165), Turnhout 2003, S. 865 (Versio IV/V); mit der Widmung an seinen wissenschaftlichen Freund Wulfad und der Bitte um Prüfung der Schrift verbindet er die Vorstellung von wohlwollenden wie kritischen Lesern, mit denen er aber nicht streiten will; dann folgt der Schlusssatz: ‚Unusquisque in suo sensu abundet‘, donec ueniat lux, quae de luce falso philosophantium facit tenebras, et tenebras recte cognoscentium conuertit in lucem. Weitere Stellen mit Zitat Röm 14,5: ders., Periphyseon. Liber Quartus, hrsg. v. Edouard A. Jeauneau (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 164), Turnhout 2000, S. 103, 107. Zu der Widmung Sita Steckel, Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter. Autorität, Wissenskonzepte und Netzwerke von Gelehrten (Norm und Struktur 39), Köln, Weimar, Wien 2011, S. 653–656. 61 Petrus Abaelardus, Opera Theologica II. Theologia Christiana. Theologia Scholarium. Accedunt Capitula Haeresum Petri Abaelardi, hrsg. v. Eligius M. Buytaert (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 12), Turnhout 1969, S. 297 (Theol. Christ. IV 72): Quod si mihi fidelium quisquam obiiciat iam nec doctrinam meam nec defensionem necessariam esse, post tot uidelicet et tanta sanctorum documenta, uerum fortassis dicit quantum ad doctrinam, non quantum ad defensionem. Cum enim ‘unusquisque in suo sensu abundet’ et pro diuersitate hominum uel temporum nouae quotidie quaestiones uel impugnationes oriantur, nouis quotidie rationibus resistendum puto et nouis exorientibus morbis noua quaerenda remedia. Im Römerbrief-Kommentar deutet Abaelard den Vers auf die Freiheit des einzelnen in noch ungeklärten Fragen: Abaelardus, Commentaria in epistolam Pauli ad Romanos, hrsg. v. Eligius M. Buytaert (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 11), Turnhout 1969, S. 41–340, hier S. 299: UNUSQUISQUE in talibus his scilicet diiudicandis uel deliberandis de quibus nulla adhuc discussio uel ratione uel auctoritate facta est, ABUNDET IN SUO SENSU, hoc est suam magis opinionem quam alterius sequatur. 62 S. Thomae Aquinatis opera omnia iussu Leonis XIII P. M. edita, Bd. 25: Quaestiones de quodlibet, Rom, Paris 1996, S. 253 (Quodlibet 3, qu. 4, art. 2): Responsio. Dicendum quod diverse opiniones doctorum sacre scripture, si quidem non pertineant ad fidem et bonos mores, absque periculo auditores utramque opinionem sequi possunt [folgt Zitat Röm 14,5]. Thomas von Kempen, Sermones ad novicios III, in: ders., Opera omnia, hrsg. v. Michael J. Pohl, Bd. 6, Freiburg i. Br. 1905, S. 22, gesteht den Novizen diese Freiheit noch nicht zu: Si ignoratis quid Deo magis placeat […], interrogate diligenter a praelato vestro […], ne contingat vos in proprio sensu abundare et errare.



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Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ herauslesen, z. B. die Erschaffung der geistigen und materiellen Welt oder nur der materiellen Welt oder des formlosen Urstoffs, aus dem alles andere hervorgeht usf., und alles kann doch wahr sein, sagt Augustin63 und resümiert im Hinblick auf die Vielfalt wahrer Deutungen (diversitas sententiarum verarum): Wenn also einer mich fragt, was von all dem nun eigentlich Dein Diener Moses gemeint habe, so wäre dieses Werk nicht das Buch meiner Bekenntnisse, wollte ich Dir nicht bekennen: ich weiß es nicht (nescio). Jener hat in diesen Worten, als er sie niederschrieb, gewiß alles gefühlt und gedacht, was wir an Wahrem haben finden können und was wir nicht oder noch nicht haben finden können und das was dennoch darin zu finden ist.64

Dies ist übrigens eine Stelle, die bei modernen Theologen Anstoß erregt hat.65 Auch Thomas von Aquin betont, es tue der Autorität der Schrift und ihrem wahren Autor keinen Abbruch, wenn sie auf verschiedene Weise ausgelegt wird – bei rechtem Glauben –, weil der Heilige Geist sie mit größerer Wahrheit fruchtbar gemacht habe, als irgendein Mensch erfinden könnte.66 Und da Gott der eigentliche Autor der Heiligen Schrift ist, kann sogar der Literalsinn mehrere Signifikate umfassen,

63 Aurelius Augustinus, Confessiones – Bekenntnisse, hrsg. u. übers. von Joseph Bernhart, 3. Aufl. München 1966, XII 20–32, S. 714–749, hier S. 714–723 und 742f. 64 Ebd., S. 742f.: Ac per hoc, si quis quaerit ex me, quid horum Moyses, tuus ille famulus senserit, non sunt hi sermones confessionum mearum, si tibi non confiteor: nescio; S. 746f.: Sensit ille omnino in his verbis atque cogitavit, cum ea scriberet, quidquid hic veri potuimus invenire et quidquid nos non potuimus aut nondum potuimus et tamen in eis inveniri potest. Die gesamte Passage ist ein Plädoyer dafür, verschiedene Auslegungen (Wahrheiten) nebeneinander gelten zu lassen. Dazu vgl. auch A ­ ugustinus (Anm. 33), S. 99f. (III 27), bes.: Nam quid in diuinis eloquiis largius et uberius potuit diuinitus prouideri, quam ut eadem uerba pluribus intellegantur modis, quos alia non minus diuina contestantia faciant adprobari? Siehe Aleksandra Prica, Heilsgeschichten. Untersuchungen zur mittelalterlichen Bibelauslegung zwischen Poetik und Exegese (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 8), Zürich 2010, S. 46, 49–70 zu Augustins Reflexionen über Literalsinn und Auslegung(svarianten) anhand von ‚De Genesi ad litteram‘. 65 Augustinus (Anm. 63); der Kommentar ebd., S. 908f. 66 Thomas von Aquin, Scriptum super libros Sententiarum magistri Petri Lombardi, hrsg. v. Pierre Mandonnet, Bd. 2, Paris 1929, S. 307 (Sent. lib. 2, dist. 12, qu. 1, art. 2 ad 7): Auctoritati Scripturae in nullo derogatur, dum diversimode exponitur, salva tamen fide, quia majori veritate eam Spiritus sanctus fecundavit, quam aliquis homo adinvenire possit. Vgl. De Lubac (Anm. 25), Bd. II 2, S. 276. Bonaventura, Collationes in Hexaemeron, hrsg., übers. u. eingeleitet v. Wilhelm Nyssen, München 1964, S. 398/400, über die Fruchtbarkeit des dritten Schöpfungstages, spirituell: Sic ex Scripturis elici pos­ sunt infinitae theoriae, quas nullus potest comprehendere nisi solus Deus. Sicut enim ex plantis nova semina; sic ex Scripturis novae theoriae et novi sensus, et ideo Scriptura sacra distinguitur. Unde sicut si una gutta de mari extrahatur; sic sunt omnes theoriae, quae eliciuntur, respectu illarum quae possunt elici.





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da ja Gott in seinem Intellekt alles zugleich enthält: omnia simul suo intellectu comprehendit.67

2 Epochen der Bibelhermeneutik Dass der Umgang mit dem biblischen Text und seiner Sinnfülle in den langen Jahrhunderten des Mittelalters erheblichem Wandel unterlag, von dem auch das jeweilige Verhältnis zur Mehrdeutigkeit, zur Ambiguität nicht unbeeinflusst blieb, ist erwartbar. Nach den bereits erwähnten Anfängen bei Origenes, Hieronymus, Augustinus sollen hier nur drei Punkte schlaglichtartig beleuchtet werden. Wie im 9. Jahrhundert die Schriftauslegung bis zu den höchsten Repräsentanten der Gesellschaft, Königen und Metropoliten, als Hauptgeschäft und ihre Beherrschung als Zeichen der Weisheit begriffen wurde, sei an einer Momentaufnahme des Jahres 865 gezeigt. Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle treffen sich in Tusey an der Maas, um sich im Ehestreit um ihren Neffen Lothar gegen ihn zu verbünden. Aus einem Brief Hincmars von Reims an Ludwig den Deutschen erfahren wir dann, wie der König in der Zusammenkunft der Großen beider Reiche vor der politischen Verhandlung nach dem Sinn eines schwierigen Psalmverses (Ps 103,17) gefragt habe.68 Es scheint dabei um Quisquilien zu gehen, um Vögel und Nistbäume: die Spatzen, die in den Zedern des Libanon nisten, und die Reiher oder andere große Wasservögel (herodii, fulicae), die sie leiten und beschützen.69 Da Hincmar nicht zur ausführlichen Antwort kommt wegen des Beginns der größeren Beratungsrunde, zu der Karl der Kahle sie drängt, schreibt er den Brief mit einem wahren Feuerwerk von gründlichen Informationen: über die Art und Problematik der Lesarten der Bibel, die notwendige Konsultation wissenschaftlicher Fachliteratur (hier über Vögel mit dem Hinweis auf die physici, besonders Isidor),70 über Stellungnahmen der patristischen Exegeten

67 Thomas von Aquin, Summa theologiae. Pars prima, qu. 1, art. 10, in: ‚S. Thomae Aquinatis opera‘ (Anm. 62), Bd. 4, Rom 1888, S. 25: Respondeo […] Quia [...] auctor autem sacrae Scripturae Deus est, qui omnia simul suo intellectu comprehendit, non est inconveniens, ut Augustinus dicit [sc. Confessiones XII 18f.], si etiam secundum litteralem sensum in una littera Scripturae plures sint sensus. 68 Hincmar von Reims, De verbis psalmi: Herodii domus dux est eorum. Ad Ludovicum Germaniae regem, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 125, Sp. 957–962, hier Sp. 957. Nikolaus Staubach: Quasi semper in publico. Öffentlichkeit als Funktions- und Kommunikationsraum karolingischer Königsherrschaft, in: Gert Melville u. Peter von Moos (Hgg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10), Köln, Weimar, Wien 1998, S. 577–608, hier S. 606, zum Ehestreit Lothars II. (mit Lit.). 69 Vor allem aus dem Psalmenkommentar des Hieronymus zur Stelle und Gregors ‚Moralia‘ werden die Vögel im Literalsinn weiter erklärt, s. Hincmar (Anm. 68), Sp. 959C–960A. 70 Die wissenschaftliche Fachliteratur, vor allem Isidor, wird zu diesen Vögeln zitiert: In libris denique Physicorum, qui de naturis volucrum, animalium et serpentium et arborum atque herbarum scripserunt, de eadem ave ita relegi: ‚Fulica […]‘ (ebd., Sp. 959A); Isidorus, Etymologiarum libri XX, hrsg. v.



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(Augustin, Hieronymus, Prosper von Aquitanien und Cassiodor)71 bis er zuletzt eine eigene zeitgemäß-situationsbezogene Auslegung anbietet. Mag die Diskussion des Verses auch als Quisquilie über abgelegene Wissensbestände erscheinen, so zeigt sie symbolisch doch zweierlei: zum einen die gottgegebene Weisheit des Königs, der auch über die abgelegensten und schwierigsten Aussagen der Bibel sich mit den Experten auszutauschen vermag,72 zum anderen eine pastoral-­ kirchenrechtliche Auslegung auf die karolingische Gesellschaft: das Volk, aus dem sich die Mönche (Spatzen) separiert haben und durch die Mächtigen unter den Laien materiell versorgt werden, da sie ja in den Zedern des Libanon nisten, während sie von den Bischöfen und anderen Kirchenoberen, den großen Vögeln, geleitet und beschützt werden73 – eine von den Vorgängerexegeten abweichende Handlungsanweisung für die Großen beider gesellschaftlicher Gruppen, ihren Pflichten nachzukommen, ohne dass auf eine exklusive Lesart des Textes noch auf diese besondere Deutung Wahrheitsanspruch erhoben würde (denn sie wird eher beiläufig hinzugefügt).74 Schwieriger zu beurteilen ist die Situation für die Ambiguitätsfrage im 12. Jahrhundert. Drei Aspekte seien hervorgehoben. Zum einen gibt es eine Bestandsaufnahme: Theorie und Methodik der Bibelallegorese werden systematisch zusammengefasst, der gewaltige Schatz von Bedeutungen wird gesichtet, geordnet und z. B. in der ‚Glossa ordinaria‘ oder großen Lexika zugänglich gemacht.75 Zum anderen treten

Wallace M. Lindsay, Oxford 1911 u. ö., XII 28f., 53, s. v. Diomedias und fuliga. Es geht um die Lesarten von Ps. 103,18, in dem die Vögel als fulicae oder herodii überliefert sind; Hincmar (Anm. 68), Sp. 958. Die Lesarten, ihre Herkunft und Erklärung (Septuaginta, Origenes, Hexapla, Hieronymus, Vulgata) werden diskutiert. Dass Symmachus statt herodius fulica übersetzt hat und damit die der fulica ähnlichen diomediae aves, die die Griechen herodii nennen, die gelegentlich über das Hebräische mit milvus (Weihe) gleichgesetzt werden, in die Diskussion bringt, zeigt dem König die ganze Komplexität der Lesartendiskussion und der darauf fußenden Auslegung, s. ebd., Sp. 959ABC. 71 Vgl. Hincmar (Anm. 68), Sp. 958C. 72 Ebd., Sp. 957A: secundum sapientiam vobis [sc. Regi Ludovico] a Deo datam, de quibusdam sacrae Scripturae abditis et difficilioribus sententiis quaerere et subtiliter investigare. Zur Propagierung der imperialen Weisheit unter Karl dem Kahlen Nikolaus Staubach, Rex christianus. Hofkultur und Herrschaftspropaganda im Reich Karls des Kahlen (Pictura et poesis 2/II), Köln u. a. 1993. 73 Hincmar (Anm. 68), Sp. 960C–961A: Cujus herodii [sc. Christi] domus, id est rectores Ecclesiae, dicente Paulo, quae domus sumus nos, duces passerum, mundi videlicet contemptorum, super egenum et pauperem intelligentium, sumptibus sustentatorum esse noscuntur; dazu ebd., Sp. 962A, die Erinnerung, dass nach der Größe der Gaben Gott Rechenschaft zu geben sei. 74 Da der König eigentlich nach dem Literalsinn (den Vögeln) gefragt habe, sei dafür die ausführliche Antwort erfolgt; der spirituelle Sinn sei ihm als von Gott mit Weisheit Begabtem ja zugänglich – deshalb der Verzicht auf die Erläuterung der Auslegungstradition (er wolle nicht Bäume in den Wald tragen; aber ne in totum praeterisse mysticum sensum viderer, quaedam potius significare quam exponere censui; s. ebd. Sp. 960B). 75 Zum Beispiel das noch nicht sicher einem Autor zugeordnete allegorische Lexikon Ps.-Hrabanus, Allegoriae in sacram scripturam, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 112, Sp. 849–1088; vgl. auch oben Anm. 44.





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neue Bibelkommentatoren auf, die mit großer Kreativität und vielfältigen Modifizierungen des überlieferten Deutungsrepertoires und der Kommentarformen die Tradition überschreiten, eigene Akzente setzen und mit Verweis auf ihre Inspiration ihr Recht auf Innovationen verteidigen: Rupert von Deutz, Bernhard von Clairvaux und zahlreiche weitere Exegeten bis hin zu Joachim von Fiore.76 Als erster großer Neuerer stellt sich Rupert von Deutz vor. In einer Inspirations- und Berufungsvision beschreibt er, wie er von der Trinität auf die Bibel gestellt und emporgehoben wurde, wobei ihm von der göttlichen Dreiheit attestiert wird, er lege die Schrift besser aus als die Väter.77 Mit solchem gewandelten Autorschaftsbewusstsein veränderte sich bei ihm wie bei anderen die Art des Zugriffs auf die Tradition und ihre Autoritäten.78 Die Fülle des Erreichten und der Neuaufschwung einer individuell verantworteten innovativen Exegese hatten jedoch auch die Wirkung eines scheinbar überbordenden Ambiguitätsüberschusses. Er löste eine Ambiguitätskrise aus, die einerseits Überprüfungen der neuen Exegeten bis hin zum Häresieverdacht nach sich zog,79 andererseits methodische Regulierungen bedingte, z. B. mit Verfahren der Reduktion und Bändigung der überschießenden Mehrdeutigkeit, die nun auch als dysfunktional wahrgenommen werden konnte. Für den Umgang mit Widersprüchen hatte es seit dem 11. Jahrhundert sozu­sagen zwei Trainingsfelder gegeben: zum einen die dialektische Methode, die sich an den Kathedralschulen stark entwickelte,80 und zum anderen das politische Feld des Investiturstreits, in dem gerade auch mit Argumenten aus dem Bibeltext als Kampfmittel kontrovers agiert wurde (z. B. in der Frage der Gewalt gegen Andersgläubige –

76 Gian Luca Potestà, ‚Intelligentia Scripturarum‘ und Kritik des Prophetismus bei Joachim von Fiore, in: Robert E. Lerner (Hg.), Neue Richtungen in der hoch- und spätmittelalterlichen Bibel­ exegese (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 32), München 1996, S. 95–119; vgl. auch unten Anm. 77–79. 77 Christel Meier, Ruperts von Deutz literarische Sendung. Der Durchbruch eines neuen Autorbewusstseins im 12. Jahrhundert, in: Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz u. Gisela Vollmann-Profe (Hgg.), Aspekte des 12. Jahrhunderts (Wolfram-Studien 16), Berlin 2000, S. 29–52, bes. S. 34f.; dies., Ruperts von Deutz Befreiung von den Vätern. Schrifthermeneutik zwischen Autoritäten und intellektueller Kreativität, in: Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 73 (2006), S. 257–289; dies., Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Autorität und Rollenkonstrukt, in: Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft (Norm und Struktur 23), Köln, Weimar, Wien 2004, S. 207–266. 78 Meier, Autorschaft (Anm. 77); Steckel (Anm. 60), S. 1191–1196. 79 So für Rupert von Deutz John H. Van Engen, Rupert of Deutz, Berkeley u. a. 1983, S. 135–220, 335–352; Meier, Ruperts von Deutz literarische Sendung (Anm. 77), S. 45–48, zu verschiedenen Anfeindungen, bes. durch Norbert von Xanten; Steckel (Anm. 60), S. 1057–1177, zu Häresieprozessen im 12. Jahrhundert (Abaelard, Gilbert von Poitiers u. a.). 80 Alain de Libera u. Burkhard Mojsisch, Dialektik, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3 (1984/86), Sp. 944–946; Toivo J. Holopainen, Dialectic and Theology in the Eleventh Century (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 54), Leiden, Boston 1996; Steckel (Anm. 60), S. 863– 1196.



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wie Gerd Althoff in seinem 2013 erschienenen Buch „Selig sind, die Verfolgung ausüben“ zeigt;81 auch auf Philippe Bucs Buch „L’ambiguïté du Livre“, gemeint ist die Bibel, wäre für das spätere Mittelalter in diesem Zusammenhang der Diskussion von Gewalt mit Hilfe von Bibeltexten hinzuweisen82). In seinem Werk ‚Sic et non‘ sucht Peter Abaelard, Meister der neuen Dialektik, Widersprüche und Quellen von Mehrdeutigkeit der Tradition und ihrer Autoritäten grundsätzlicher darzulegen und zu prüfen, abweichend von einer „Hermeneutik der Harmonie“ seiner Vorgänger – wie Bezner betont.83 In seinem bemerkenswerten Werkprolog macht er zunächst die Feststellung, es gehe ihm nicht um Differentes (diversa), sondern um die Prüfung wirklicher Widersprüche (adversa).84 Mit sprachlich-philologischen Regeln und historischen Argumenten für ein analytisch-textkritisches Verständnis räumt er zunächst die überwindbaren Hindernisse der Interpretation aus dem Weg: Er erklärt etwa Homonyme, ungewöhnliche stilistische Wendungen, Soziolekte, Zeit- und Rezipientenkontexte. Diese Varianten kommentiert Abaelard mit dem Römerbrief-Zitat, das er leicht erweitert: „Wie ein jeder aus dem eigenen Geist die Fülle schöpft, so hat er auch reichen Überfluss in seinen eigenen Wörtern.“85 Um nun ein gravierendes Hindernis verbindlicher Autoritäten für die Widerspruchsprüfung zu beseitigen, beruft er sich auf die zahlreichen Aussagen der Kirchenväter, besonders Augustins, über ihre eigene Irrtumsanfälligkeit. Abaelard sagt: „Da auch die Kirchenlehrer selbst […] einiges in ihren Büchern für korrekturbedürftig hielten, gaben sie ihren Nachgeborenen die Erlaubnis zu verbessern oder nicht zu folgen.“86 Schon die biblischen Autoren selbst können ja irren, Fehler machen, obwohl ihre Schriften

81 Gerd Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausüben“. Päpste und Gewalt im Hochmittelalter, Darmstadt 2013. 82 Philippe Buc, L’ambiguïté du Livre. Prince, Pouvoir et peuple dans les commentaires de la Bible au Moyen Âge. Préface de Jacques Le Goff (Théologie Historique 95), Paris 1994. 83 Frank Bezner, Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der Intellectual History des 12. Jahrhunderts (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 85), Leiden, Boston 2005, S. 565–567. 84 Peter Abailard, Sic et non. A Critical Edition, hrsg. v. Blanche B. Boyer u. Richard McKeon, Chicago, London 1976, S. 89–104 (Prolog); Cornelia Rizek-Pfister, Petrus Abaelardus, Prologus in ‚Sic et non‘, in: Paul Michel u. Hans Weder (Hgg.), Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik I, Zürich 2000, S. 207–252 (danach hier zitiert), mit einer sorgfältigen Analyse des Prologs und Literatur, hier § 1, S. 215: Cum in tanta verborum multitudine nonnulla etiam sanctorum dicta non solum ab invicem diversa verum etiam invicem adversa videantur, non est temere de eis iudicandum. Siehe auch Bezner (Anm. 83), S. 562–584. 85 Rizek-Pfister (Anm. 84), S. 216 (Abaelardus, Prologus, § 4): Ad quam [sc. intelligentiam] nos maxime pervenire impedit inusitatus locutionis modus ac plerumque earundem vocum significatio diversa, cum modo in hac modo in illa significatione vox eadem sit posita. Quippe quemadmodum in sensu suo, ita et in verbis suis unusquisque abundat. 86 Ebd., S. 241 (§ 70): Hoc et ipsi ecclesiastici doctores diligenter attendentes et nonnulla in suis operibus corrigenda esse credentes, posteris suis emendandi vel non sequendi licentiam concesserunt, si qua illis retractare et corrigere non licuit; s. ferner ebd., S. 241–244 (§§ 71–83).





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kanonisch sind, um wie viel mehr sind dann – so Abaelard – auch die Patres irrtumsanfällig, die nicht als kanonisch eingestuft sind.87 Die Widersprüche der Autoritäten werden in ‚Sic et non‘ markiert, nicht gelöst. Es ist nun höchst bedeutsam, dass Abaelard für seine eigene theologische Lehre keinen Wahrheitsanspruch geltend macht, sondern in seinen Theologien ihn wiederholt gleichsam suspendiert, um das Wahrscheinliche, eine nur approximative Erkenntnis als einzig der menschlichen Einsicht mögliche darzustellen. Abaelard sagt: Ich verspreche nicht die Wahrheit zu lehren, die ganz sicher weder ich noch irgendein anderer Sterblicher weiß, sondern nur etwas Wahrscheinliches (verisimile) und dem menschlichen Denken Nahes […]. Was auch immer ich also über die höchste Philosophie sagen werde, ist eher schattenhaft, nicht die Wahrheit, versichere ich, und gleichsam etwas Ähnliches (similitudo), nicht die Sache selbst.88

Gott allein kenne die Wahrheit. Die Schönheit der Verhüllung, die pulcherrima involucri figura, ist die göttliche, vom Heiligen Geist gewählte Redeform, um deren Dunkelheiten und Rätsel der Exeget, der Mensch überhaupt sich bemühen muss.89 Mit diesem Uneigentlichkeitsmodus und seiner Überwindung im Wahrscheinlichen bleibt ein Deutungsspielraum bestehen. Das Begreifen ist auch bei Abaelard verstanden als abhängig von göttlicher Inspiration.90 Der neuen Disambiguierungstendenz wird damit ein Maß gesetzt.

87 Ebd., S. 223f. (§ 20f.): Quid itaque mirum, si in evangeliis quoque nonnulla per ignorantiam scriptorum corrupta fuerint, ita et in scriptis posteriorum patrum, qui longe minoris sunt auctoritatis, nonnumquam eveniat? Vgl. Aurelius Augustinus, Retractationum libri II, hrsg. v. Almut Mutzenbecher (Corpus Christianorum. Series Latina 57), Turnhout 1984, zu Korrekturen an seinen Werken, auf die Abaelard verweist. Jean Jolivet, Le traitement des autorités contraires selon le ‚Sic et Non’ d’Abélard, in: Jacques Berque u. Jean-Paul Charnay (Hgg.), L’ambivalence dans la culture arabe, Paris 1967, S. 267–280. 88 Petrus Abaelardus, Theologia ‚Summi boni‘, hrsg. v. Eligius M. Buytaert u. Constant J. Mews (Ders., Opera Theologica III/Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 13), Turnhout 1987, S. 123: Nos docere ueritatem non promittimus, quam neque nos neque aliquem mortalium scire constat, sed saltem aliquid uerisimile atque humane rationi uicinum […]. Quicquid itaque de hac altissima philosophia disseremus, umbram, non ueritatem esse profitemur. Steckel (Anm. 60), S. 1004f.; Bezner (Anm. 83), S. 99–150, hier S. 138f.; Regina Heyder, Auctoritas Scripturae. Schriftauslegung und Theologieverständnis Peter Abaelards unter besonderer Berücksichtigung der ‚Expositio in Hexaemeron‘ (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters N. F. 74), Münster 2010, bes. S. 196–247. Peter von Moos, Was galt im lateinischen Mittelalter als das Literarische an der Literatur? Eine theologisch-rhetorische Antwort Abaelards, in: ders., Abaelard und Heloise. Gesammelte Studien zum Mittelalter, Bd. 1, hrsg. v. Gert Melville (Geschichte. Forschung und Wissenschaft 14), Münster 2005, S. 305–325, hier S. 305f., 312–314. 89 Dazu Augustinus (Anm. 33), S. 35; wie oben, Anm. 36–37. 90 Peter von Moos, Die angesehene Meinung. Studien zum endoxon im Mittelalter. Abaelard, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 45 (1998), S. 343–380, hier S. 366–374; jetzt auch ders., Öffentliches und Privates, Gemeinsames und Eigenes. Gesammelte Schriften zum Mittelalter,



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Das 13. Jahrhundert, in dem sich die Scholastik an den Universitäten mächtig entwickelt, zeigt zugleich einen neuen Aufschwung in der Bibelallegorese, allerdings in einer Differenzierung in verschiedene Richtungen: Sie ist teils mehr wissenschaftlich, z. B. um den Literalsinn bemüht, teils mehr der Praxis, z. B. der Predigt, zugewandt – oder sie ist mystisch-spirituell, wie Kurt Ruh in seiner Mystikgeschichte gezeigt hat (etwa bei Thomas Gallus von Vercelli); die Gesamtgeschichte der spätmittelalter­ lichen Exegese muss allerdings noch geschrieben werden. 91 Hervorgehoben als Leistung des Spätmittelalters seien nur noch die riesigen allegorischen Enzyklopädien, Speicher mit Tausenden von Bedeutungen zu allen Bereichen der geschaffenen Welt, die übrigens noch bis ins 18. Jahrhundert nachgedruckt wurden. 92 Mit der Loslösung von konkreten Bibelstellen mutiert dieser Bedeutungsvorrat zu einem Reservoir für die Weltdeutung überhaupt. Es ist also ein Missverständnis, wenn in der Forschung zur Ambiguität für die Vormoderne in knappen Hinweisen gelegentlich der mehr­ fache Schriftsinn genannt, aber zugleich seine starre Struktur und seine Konventionalität betont wird, um ihm den Charakter des Ambigen, d. h. der freien Vielfalt und produktiven Mehrdeutigkeit, abzusprechen.93

Bd. 3, hrsg. v. Gert Melville (Geschichte. Forschung und Wissenschaft 16), Berlin 2007, S. 287–320; Bezner (Anm. 83), S. 99–181. 91 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, 4 Bde., München 1990–1999, Bd. 2–4, hier bes. Bd. 3, S. 59–81; einige Stationen der spätmittelalterlichen Exegesegeschichte bei Graf Reventlow (Anm. 17), S. 212–287 (von Bonaventura bis Wyclif). 92 Zum Beispiel Petrus Berchorius, Reductorium Morale sive Tomus secundus De rerum proprietatibus In XIV Libros divisus, Köln 1731. 93 Wolfgang Ullrich, Grundrisse einer philosophischen Begriffsgeschichte von Ambiguität, in: ­Archiv für Begriffsgeschichte 32 (1989), S. 121–169, hier S. 141–144 (S. 141): „Ganz allgemein lässt sich für die nachantike Zeit feststellen, dass für etwa 1000 Jahre dem Ambiguitätsbegriff keine neuen ­Aspekte abgewonnen werden, vielmehr in weitgehend unveränderter Form bereits vorhandene Klassifikationen übernommen werden.“ Nach dem Übersehen wichtiger neuer Aspekte bei Augustin und dem Übergehen der Mehrdeutigkeit des mehrfachen Schriftsinns als nicht zum Ambiguitätsbegriff passend, wendet sich Ullrich dem Symbolbegriff Hegels zu, mit einer Beschreibung, die auch auf die ältere Mehrdeutigkeit (z. B. den mehrfachen Schriftsinn) passen würde. Ihm folgen Helmut K. Kohlenberger u. Rainer Fabian, Ambiguität (Amphibolie), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (1971), Sp. 201–204 (aber mit Hinweis auf die Exegese bei Erasmus); Christoph Bode, Ambiguität, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1 (1997), S. 67–70, hier S. 68f.; Roland Bernecke u. Thomas Steinfeld, Amphibolie, Ambiguität, in: Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1 (1992), Sp. 436–444, bes. Sp. 437, 439: ein Ansatz zur positiven Bewertung biblischer Mehrdeutigkeit (Ambiguität) bei Augustin und ihrer Wirkung wird genannt. Tom Tashiro, Ambiguity as Aesthetic Principle, in: Philip P. Wiener (Hg.), Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, Bd. 1, 2. Aufl. New York 1973, S. 48–60, hier S. 51–53, bezieht den mehrfachen Schriftsinn ein. Neuere Arbeiten zur Ambiguität haben kein Problem damit, dies ebenfalls zu tun: Wolfgang Brückner, Spiegel-Erkenntnis. Mittelalterliche Realie und doppeldeutige Metapher, in: Heinz Otto Luthe u. Rainer E. Wiedemann (Hgg.), Ambivalenz. Studien zum kulturtheoretischen und empirischen Gehalt einer Kategorie der Erschließung des Unbestimmten, Opladen 1997, S. 83– 107, bes. S. 84–104; Matthias Bauer, Joachim Knape, Peter Koch u. Susanne Winkler, Dimensio-





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3 Antike Überlieferung – Dichtung Für das Mittelalter war nicht nur ein Schriftencorpus, das der Bibel und ihrer patristischen Auslegung, ein Schatz der Vielfalt und Herausforderung zur Akzeptanz und Bewältigung von Mehrdeutigkeit. Ambiguität in hohem Maß brachte ein zweites großes Schriftencorpus in die intellektuelle Arbeit in mittelalterlichen Klöstern und Kathe­ dralschulen: die Dichtung der Antike. Man beschränkte sich gerade nicht darauf, am Psalter, den historischen Büchern des Alten Testaments oder dem Neuen Testament Lesen und Schreiben zu lernen, sondern akzeptierte mit der Implementierung dieser Überlieferung, die man selbst weiter pflegte, in die Ausbildung eine Diskurspluralität, die erstaunlich ist.94 Nach den spätantiken Kontroversen um den paganen Mythos blieben die klassischen Werke trotz der paganen Götter und der differenten Wertecodes dieser Literatur ohne größeren Anstoß, nahezu unangefochten integraler Bestandteil im Bildungsrepertoire der christlichen Schulen.95 Nur im Ausnahmefall, wie bei Hrotsvit von Gandersheim, werden etwa die Terenz-Komödien als für Christen unpassende Lektüre in Frage gestellt, und Hrotsvit löst in diesem Fall in einer Kontrafaktur die antiken Liebesgeschichten durch Märtyrerinnen und Helden der frühen Kirche ab.96

nen der Ambiguität, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 40 (2010), S. 7–75, bes. S. 35f. (mehrfacher Schriftsinn in heiligen und säkularen Texten). Für die Kunstgeschichte: Silke Tammen, Stelzenfisch und Bildnisse in einer Baumkrone, Unähnlichkeit und Montage. Gedanken zur Ambiguität mittelalterlicher Bilder, in: Verena Krieger u. Rachel Mader (Hgg.), Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas (Kunst – Geschichte – Gegenwart  1), Köln u. a. 2010, S. 53–71 (zur Typologie S.  56) – mit instruktiver Einleitung des ganzen Bandes von Verena Krieger, S. 13–49; Frauke Berndt u. Stephan Kammer, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit, in: dies. (Hgg.), Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, Würzburg 2009, S. 7–30, hier S. 8–10; Valeska von Rosen, Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600, Berlin 2009. 94 Es gab immer wieder auch rigorosere Stellungnahmen gegen eine zu weit gehende Akzeptanz der antiken Bildungsinhalte, die letztlich aber keinen Einbruch im Rezeptionsverhalten bewirkten. Vgl. etwa Conrad von Hirsau, Dialogus super auctores, in: R. B. C. Huygens (Hg.), Accessus ad auctores, Leiden 1970, S. 71–131, hier S. 130: Er war ein strenger Reformabt, der sich aber des verbreiteten Bildes vom Gebrauch der ägyptischen Gold- und Silbergefäße im jüdischen Kult (Ex 3,21–22 und Ex 35) bediente zu einer wenn auch vorsichtigen Legitimation der Ausbildung in der literatura secularis. 95 Dazu z. B. Günter Glauche, Schullektüre im Mittelalter. Entstehung und Wandlungen des Lektürekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 5), München 1970. 96 Hrotsvitha, Opera, hrsg. v. Paul von Winterfeld (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi [34]), Berlin 1902, ND Berlin 1965, S. 106: Plures inveniuntur catholici, cuius nos penitus expurgare nequimus facti, qui pro cultioris facundia sermonis gentilium vanitatem librorum utilitati praeferunt sacrarum scripturarum. Sunt etiam alii, sacris inhaerentes paginis, qui licet alia gentilium spernant, Terrentii tamen fingmenta frequentius lectitant, et, dum dulcedine sermonis delectantur, nefandarum noticia rerum maculantur. Unde ego, Clamor Validus Gandeshemensis, non recusavi illum imitari dictando, dum alii colunt legendo, quo eodem dicta-



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Seit dem 12. Jahrhundert bleibt es nicht mehr bei der Subsidiarfunktion von Sprach- und Wissensvermittlung aus diesem Corpus. Es entstehen neue Dichtungsformen, die teils eigenständige säkulare Positionen gegenüber dem religiösen Bereich einnehmen, teils ganz neue produktive Möglichkeiten für den Umgang mit dem Mythos finden. Die Lyrik z. B. spielt die Wertedifferenz des Antik-Weltlichen und des Religiösen witzig gegeneinander aus, wie der Archipoeta am Erzbischofssitz Rainalds von Dassel, des Erzkanzlers Friedrich Barbarossas. Dem Mäzen gegenüber bekennt sich der Dichter in parodistischer Beichte zu den charakteristischen Lebensfreuden des sog. Vagantendichters: Frauenliebe, Wein und Glücksspiel; denn sie seien auch Ansporn zum Dichten.97 Die ‚Carmina Burana‘ enthalten eine Menge freizügiger Liebespoesie, die dem religiösen Normencorpus widerspricht, aber gleichwohl geschätzt wird.98 Ein anderes, noch erstaunlicheres Verfahren der Eröffnung eines neuen Diskurses ist der Umgang mit dem Mythos. Nicht nur viele Lieder der ‚Carmina Burana‘ lassen die antiken Götter wieder aufleben; ja es gibt Gebete an sie, z. B. um Liebeserfüllung, man feiert ihre Feste, verspricht ihnen Tieropfer,99 natürlich in einer Sphäre des Spiels. Ganz anders werden dann in großen Dichtungen des 12. Jahrhunderts in Anknüpfung an antike Vorgaben neue Mythen geschaffen. Sie verhandeln in einem sich neu konstituierenden parabiblischen Raum der Dichtung die großen biblischen Themen von Schöpfung, Sündenfall und Erlösung des Menschen aus philosophischer Sicht (ohne den Schöpfer, den Teufel oder den Erlöser in ihren biblischen Rollen) und setzen dafür allegorisch-mythologische Figuren, schöpferische Kräfte des Kosmos, wie Natura, Noys, Urania, Physis u. a., in Aktion.100 Ihre Dichter Bernardus Silvestris, Alan von Lille, Johannes von Hauvilla haben ihre Werke als parabiblische Allego-

tionis genere, quo turpia lascivarum incesta feminarum recitabantur, laudabilis sacrarum castimonia virginum iuxta mei facultatem ingenioli celebraretur. Fidel Rädle, Hrotsvit von Gandersheim, in: Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl. Bd. 4 (1983), Sp. 196–210, hier Sp. 202–206. 97 Die Gedichte des Archipoeta, hrsg. v. Heinrich Watenphul u. Heinrich Krefeld, Heidelberg 1958, S. 73–83, Carm. 10 (Einfluss von Ovid, Am. 2,4). Vgl. auch ‚Carmina Burana‘ (Anm. 98), Nr. 30, 75, zu einer großen Weltlust und Freiheit. 98 Dazu Günter Bernt, Nachwort, in: Carmina Burana. Die Lieder der Benediktbeurer Handschrift. Zweisprachige Ausgabe, 3. Aufl. München 1985, S. 848–852; die Liebeslieder, Nr. 56–186, sind die größte Abteilung in den ‚Carmina Burana‘. 99 Bernt (Anm. 98), S. 853f., bes. zu den Carmina 155, 3; 73, 4; 161; 135, 4f. 100 Winthrop Wetherbee, Platonism and Poetry in the Twelth Century. The Literary Influence of the School of Chartres, Princeton NJ 1972; Christel Meier, Wendepunkte der Allegorie im Mittelalter: Von der Schrifthermeneutik zur Lebenspraktik, in: Lerner (Anm. 76), S. 39–64; Bernd Roling, Das Moderancia-Konzept des Johannes von Hauvilla. Zur Grundlegung einer neuen Ethik laikaler Lebensbewältigung im 12. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 37 (2003), S. 167–258. Unter dem Aspekt der Neudeutung antiker Unterweltdarstellung Petra Korte, Die antike Unterwelt im christ­ lichen Mittelalter. Kommentierung – Dichtung – philosophischer Diskurs (Tradition – Reform – Innovation 16), Frankfurt a. M. 2012, S. 163–204, 236–262.





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rien (integumenta), als Narrationen verstanden, denen eine latente Mehrdeutigkeit genuin inhärent ist.101 Trotz der unaufgelösten Spannung und Ambiguität zur biblischen Botschaft werden diese fiktionalen Texte bald als Schullektüre genutzt und reich kommentiert.102 Die volkssprachlichen Autoren folgen: Dante, Boccaccio, der Rosenroman wie ihre Kommentatoren schöpfen die Freiheit des Literarischen weiter aus und nehmen Mehrdeutigkeit für ihr Verständnis gleichfalls in Anspruch. Boccaccio etwa begegnet in der Apologie der Dichtkunst am Ende seiner ‚Genealogie deorum gentilium‘ dem Vorwurf der Gegner der Poesie, die Dichter seien dunkel (obscuritas poetarum) mit dem von Augustin übernommenen Argument zur Funktion der Mehrdeutigkeit der Bibel, ihrer Ambiguitäten und Dunkelheiten: Sie seien eine heilsame Herausforderung für die Leser, sich um die Deutung des Textes zu bemühen. Boccaccio stellt damit die Dichterlektüre der Bibellektüre gleich: „[…] denn ich möchte, dass man von den Dunkelheiten der Dichter ebenso denke wie Augustinus von denen der Bibel.“103 Untersuchungen zur Ambiguitätshaltigkeit volkssprachiger Literatur des

101 Zur Verbindung eines theologischen involucrum-Konzepts (etwa bei Abaelard) und neuer, auch volkssprachlicher Literatur, die änigmatisch, ambivalent, sinnpolyvalent ist, von Moos (Anm. 88), S. 319–325. Neuere Zusammenfassungen zur allegorischen und integumentalen Literatur, diachron angelegt, bei Rita Copeland u. Peter T. Struck (Hgg.), The Cambridge Companion to Allegory, Cambridge 2010, mit Beiträgen von der frühen griechischen Allegorie bis ins 20. Jh. (Schwerpunkte: Spät­antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit). Eine interkulturelle Perspektive der Beiträge (neben der west­ lichen Tradition sind auch jüdische und islamische Studien inbegriffen) präsentiert der Band von Jon Whitman (Hg.), Interpretation and Allegory. Antiquity to the Modern Period (Brill’s Studies in Intellectual History 101), Leiden u. a. 2000; er ermöglicht den Vergleich. Alan of Lille, Literary Works, hrsg. u. übers. v. Winthrop Wetherbee (Dumbarton Oaks Medieval Library), Cambridge/Mass., London 2013 (mit aktueller Bibliographie). 102 Zum Beispiel sind die zahlreichen Kommentare von Alans ‚De planctu Nature‘ und ‚Anticlaudianus‘ noch unbearbeitet und unediert. Vgl. dazu etwa das Resümee von Denise Cornet, Les commentaires de l’‚Anticlaudianus‘ d’Alain de Lille d’après les manuscrits de Paris. Étude suivie de l’édition du Commentaire de Raoul de Longchamp, in: École nationale des Chartes. Positions de thèses soutenues par les élèves de la promotion de 1945 (1945/1946), S. 77–81. Christel Meier, Die Rezeption des ‚Anticlaudianus‘ Alans von Lille in Textkommentierung und Illustration, in: dies. u. Uwe Ruberg (Hgg.), Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, Wiesbaden 1980, S. 408–549. 103 Boccaccio, Genealogie deorum gentilium, Buch XIV, Kap. 12, 10, 12, hier zit. nach Brigitte Hege, Boccaccios Apologie der heidnischen Dichtung in den ‚Genealogie deorum gentilium‘, Buch XIV. Text. Übersetzung, Kommentar und Abhandlung, Tübingen 1997, S. 88/90, zum Heiligen Geist als sublimis artifex, dem Autor der Bibel: Quod per Augustinum in libro ‚Celestis Ierusalem‘ XI firmari videtur, dum dicit: „Divini sermonis obscuritas etiam ad hoc est utilis, quod plures sententias veritatis parit et in lucem notitiae producit, dum alius eum sic, alius sic intelligit.“ […] Idem velim de obscuritatibus poetarum sentiri, quod de divinis ab Augustinus sentitur. Vgl. den Kontext ebd., S. 86–93, und Augustinus (Anm. 36).



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Mittelalters kommen gerade erst in Gang; sie versprechen interessante Resultate für eine angeblich ambiguitätsarme Textkultur.104 Im Bereich der dichterischen Form hat das 12. Jahrhundert auch einen kuriosambigen Gedichttypus geschaffen: die Zusammensetzung von reimend-rhythmischen Vagantenversen mit quantitierenden Hexametern, derart, dass jeweils drei Vagantenverse mit einem Hexameter, der Zitat aus der antiken Dichtung ist, zu einer Reimstrophe ergänzt und abgeschlossen werden. In dieser sog. auctoritas-Dichtung, die aus satirischer Festpoesie hervorgegangen ist,105 wird die hybrid-ambige Kombination zweier literarischer Traditionen, von Antike und Mittelalter, besonders sinnfällig gemacht. Freude an sprachlicher Ambiguität manifestiert sich im Übrigen vor allem in Parodie und Ironie, in denen nicht selten auch Bibelzitate mit komischer Wirkung in nicht-religiöse Konnotationen gestellt werden.106 Eine extreme Form des ambigen Umgangs mit der antiken Dichtung, die zwischen großer Freiheit und Vereinnahmung changiert, ist die Ovid-Allegorese des ­späteren Mittelalters. Petrus Berchorius, gelehrter Mönch am Papsthof in Avignon und ­Petrarca-Freund, plädiert dafür, dass Ovids Mythen wie die Bibel nach dem mehrfachen Schriftsinn auszulegen sind, und macht auch vor christologischen Deutungen nicht Halt.107 Noch im selben Jahrhundert schreibt zwar ein Mailänder Magister gegen die Ovid-Liebhaber seinen ‚Antiovidianus‘ und betont, was der poetisch begabte Ovid hätte schreiben sollen: auf keinen Fall Götter- und Liebesgeschichten.108 Aber die Ovid-Allegorese des Berchorius war im Spätmittelalter ein sehr erfolgreiches

104 Dazu Anm. 100–101. Die von Oliver Auge und Christiane Witthöft im April 2013 ausgerichtete Greifswalder Tagung „Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und ­interdisziplinärer Rezeption“, deren Beiträge sich in Druckvorbereitung befinden, war vorrangig dieser Frage gewidmet; s. ferner John Chamberlin, Medieval Arts Doctrines on Ambiguity and Their Places in Langland’s Poetics, Montréal u. a. 2000; Bruno Quast, Diu bluotes mâl. Ambiguisierung der Zeichen und literarische Programmatik in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (2003), S. 45–60. 105 Peter Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, in: Heinz Bergner (Hg.), Lyrik des Mittelalters. I: Probleme und Interpretationen, Stuttgart 1983, S. 19–196, hier S. 96–113; zur Entstehung der Vagantenstrophe mit auctoritas ebd., S. 104. 106 Paul Lehmann, Die Parodie im Mittelalter, 2. Aufl. München 1963; Gerd Althoff u. Christel Meier, Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik, Darmstadt 2011, bes. S. 39–58, 195f. 107 Petrus Berchorius, Reductorium morale, Liber XV: Ovidius moralizatus, Cap. I, De Formis Figurisque Deorum, hrsg. v. Joseph Engels, Utrecht 1966; ders., Reductorium morale, Liber XV, Cap. II–XV, Ovidius moralizatus naar de Parijse druk van 1509, hrsg. v. Joseph Engels, Utrecht 1962; eine kritische Edition ist noch Desiderat. Paul Michel, Vel dic quod Phebus significat diabolum. Zur Ovid-Auslegung des Petrus Berchorius, in: ders. u. Weder (Anm. 84), S. 293–353. 108 Antiovidianus, hrsg. v. Konrad Burdach u. Richard Kienast, in: diess., Aus Petrarcas ältesten deutschen Schülerkreisen. Texte und Untersuchungen (Vom Mittelalter zur Reformation. Forschungen zur Geschichte der deutschen Bildung 4), Berlin 1929, S. 77–111; dazu Thomas Haye, Ein spätmittelalterliches Antidot für Ovid-Liebhaber. Ambrogio Migli und der ‚Antiovidianus‘ im Spiegel venezianischer Glossen, in: Frühmittelalterliche Studien 39 (2005), S. 202–223.





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Werk, überliefert in über 80 Handschriften.109 Im 16. Jahrhundert wurde die Schrift, die noch einige Nachfolger hatte, zusammen mit diesen auf den Index gesetzt, war dadurch in ihrer Wirkung jedoch nicht mehr entscheidend zu mindern. Übergehen muss ich hier die relativ gut erforschte Aneignung arabisch-griechischer Wissenschaft seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts, die als maßgebliche Autorität neben den abendländischen Quellen bevorzugt rezipiert wurde.110

4 Fazit Mit dem Schritt in die Frühe Neuzeit lassen sich für die Ambiguitätstoleranz eine Verlust- und eine Gewinn-Geschichte konstatieren. Erhebliche Anstrengungen zu Vereindeutigungen prägen das 16. Jahrhundert. Nicht nur der Variantenreichtum der Bibel wird, wie anfangs erklärt, als Skandalon empfunden und die potentielle Mehrdeutigkeit des Bibeltexts erfährt erhebliche Reduktionen, besonders durch das protestantisch-humanistische Sola-Scriptura-Prinzip.111 Auch an der bemerkenswerten Vielfalt der Liturgie und des Kults des Mittelalters wird auf dem Tridentinum Anstoß

109 Joseph Engels, L’Édition critique de l’Ovidius moralizatus de Bersuire, in: Vivarium 9 (1971), S. 19–24; Frank T. Coulson, A Checklist of Newly Discovered Manuscripts of Pierre Bersuire’s Ovidius moralizatus, in: Scriptorium 51 (1997), S. 164–186. 110 Dazu Andreas Speer u. Lydia Wegener (Hgg.), Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 33), Berlin, New York 2006; ferner weitere Arbeiten des Thomas-Instituts, Köln (Averroes-Arbeitsstelle und Datenbank DARE); Michael Borgolte, Juliane Schiel, Annette Seitz u. Bernd Schneidmüller (Hgg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft (Europa im Mittelalter 10), Berlin 2008, bes. Frederek Musall, Vom ‚Schlüssel der Wissenschaften‘ zum ‚Schlüssel des Gesetzes‘. Wissenskultur und Wissenstransfer im europäischen Mittelalter am Beispiel Moshe ben Maimons, in: ebd., S. 210–228, hier S. 213 mit Anm. 59. Siehe auch weitere Arbeiten des Schwerpunkt-Programms „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“. 111 William of Ockham, Dialogus, hrsg. v. John Kilcullen u. a. (William of Ockham, Opera politica 8), Oxford 2011, S. 283–298, zu Ockhams entschiedener Ablehnung der These des Marsilius von Padua, dass die „notwendigen“ Glaubensartikel nur durch das Generalkonzil festzulegen seien: Er sucht den Literalsinn, meint aber, dass die weiteren Sinne nicht von irgendeiner kirchlichen Instanz festzulegen seien, sondern allein durch göttliche Offenbarung oder in Annäherung durch Forschen und Nachdenken von allen verschieden gefunden werden könnten (freundlicher Hinweis von Jürgen Miethke). Georgett Sinkler, Ockham and Ambiguity, in: Medieval Philosophy and Theology 4 (1994), S. 142–164 („six types of ambiguity“, nach Aristoteles ‚Sophistici elenchi‘, und ihre Reduktion auf eine sprach­ liche Ambiguitätsform durch Ockham, die aequivocatio). Eine andere Form der Ambiguität wird in der konfessionellen Auseinandersetzung entwickelt: Andreas Pietsch u. Barbara Stollberg-Rilinger (Hgg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 214), Gütersloh, Heidelberg 2013, bes. Andreas Pietsch, Messbesuch für Anfänger und Fortgeschrittene. Zur Ambiguität der konfessionellen Zugehörigkeit, in: ebd., S. 238–266.



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genommen, und neue Bücher sollen sie beseitigen. Zur mittelalterlichen Varianz und Mehrdeutigkeit der kultischen Praxis nur zwei prominente Zeugnisse: Nach einem Besuch Bernhards von Clairvaux in Heloises Kloster Paraklet berichtet sie Abaelard, Bernhard habe Kritik geübt an ihrem Gebrauch des Vaterunsers aus Matthäus statt des kürzeren aus Lukas und darin eine Neuerung Abaelards geargwöhnt.112 Abaelard begründet Bernhard gegenüber in einem Brief diese Wahl als die authentischere, betont aber, er wolle damit niemanden von seinem Usus abbringen; denn „ein jeder schöpfe aus der Fülle seines eigenen Geistes“.113 Die Vielfalt der liturgischen Bräuche sei bekanntermaßen enorm, und sie müsse eher als Genuss (oblectatio), denn als Störung empfunden werden, da man ja auch in Mailand, in Lyon und anderswo eigene Riten pflege.114 So solle auch jeder aus der Fülle seines Geistes schöpfen und das Herrengebet in der Form sprechen, die er bevorzugt.115 Im späten 13. Jahrhundert formuliert der maßgebliche Liturgie-Ausleger Durandus († 1296) im Prolog seines ‚Rationale‘ – eines Werkes, das bis ins späte 19. Jahrhundert 94 Druckauflagen hatte:116 Man muss aber bedenken, dass in der Liturgie (in divino cultu) die Buntheit eines vielfältigen Ritus festzustellen ist. Denn fast jede Kirche hat ihre eigenen Kulthandlungen und schöpft aus der Fülle ihres Geistes, und es kann nicht als tadelnswert oder absurd betrachtet werden, dass Gott und ihre Heiligen mit verschiedenen Chorgesängen und Liedern und mit verschiedenen Kulthandlungen verehrt werden, da die triumphierende Kirche selbst nach dem Propheten (David, Ps. 44,10) mit buntem Gewand bekleidet ist und bei der Ausübung selbst der kirchlichen Sakramente zurecht die Vielfalt der Gewohnheit geduldet wird.117

112 Petrus Abaelardus, Epistolae, X, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 178, Sp. 335–340, hier Sp. 335BC. 113 Ebd., Sp. 335C–338B, bes. Sp. 338B: Nemini tamen praecipio, nemini persuadeo, ut me in hoc sequatur et a communi recedat usu. Abundet unusquisque in sensu suo. 114 Ebd., Sp. 340BC: Denique in divinis officiis quis ignoret diversas et innumeras Ecclesiae consuetudines inter ipsos etiam clericos? [… (Rom, Mailand, Lyon)] Et cum tanta in istis facta sit varietas quidquid una post aliam noviter instituit, nulla reprehensio novitatis incidit, quia nulla fidei contrarietas fuit. Nonnullam enim oblectationem haec divini cultus varietas habet, quia, ut Tullius meminit, identitas in omnibus mater est satietatis. 115 Ebd., Sp. 340D: Denique, ut omnibus satisfaciam, nunc etiam, ut superius dico, abundet unusquisque in suo sensu, dicat eam [sc. orationem Christi]. Am Ende des Briefs schwingt etwas Ironie mit. 116 Georg Langgärtner u. a., Durantis(s), Guillelmus d. Ä., in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3 (1984/86), Sp. 1469–1470. 117 Guillelmus Durandus, Rationale divinorum officiorum I–IV, hrsg. v. Anselm Davril u. Timothy M. Thibodeau (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 140), Turnhout 1995, S. 8: Considerari autem oportet quod in diuino cultu multiplicis ritus uarietas reperitur. Unaqueque namque fere Ecclesia proprias habet obseruantias et in suo sensu habundat, nec censetur reprehensibile uel absurdum Deum et sanctos eius uariis concentibus seu modulationibus atque diuersis obseruantiis uenerari cum et ipsa Ecclesia triumphans secundum prophetam circumdata sit uarietate, et in ipsorum ecclesiasticorum sacramentorum administratione de iure consuetudinis uarietas toleretur.





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Durandus will – unter Verzicht auf die vielen lokalen Riten, die er akzeptiert, aber nicht bewältigen könnte – die wichtigsten allgemeiner darstellen.118 Auch die heutige Liturgiewissenschaft ist von der Aufarbeitung dieser Vielfalt noch entfernt. Am Ende des Mittelalters reflektiert Nikolaus von Kues in seiner visionären Schrift ‚De pace fidei‘ diese Vielfalt der Riten unter der Formel religio una in rituum varietate – auf der Suche nach einem Frieden zwischen den verschiedenen Religionen.119 Während mittelalterliche Vielfalt auf diesem Gebiet seit dem 16. Jahrhundert dem Ideal der gesamtkirchlichen Uniformität geopfert wurde, ist in anderen Bereichen der Gewinn des mittelalterlichen Ambiguitätstrainings durchaus bewahrt geblieben. Die jahrhundertelange Einübung in eine Praxis mit mehrdeutigen Texten, in den Umgang mit einer in ihnen gefundenen polyvalenten Wirklichkeit hat die europäische Mentalität über das religiöse Feld hinaus geprägt. Nach gewissen Reduktionen im 16. Jahrhundert kehrt die Freude an der Mehrdeutigkeit der Texte bald zurück und wird im Barock auf einen neuen Höhepunkt getrieben.120 Die Bibel wird wieder in großen Kommentarwerken allegorisch gedeutet – auch im Protestantismus gibt es Beispiele – bis ins 18. Jahrhundert. Große allegorische Bibellexika,121 Marienlexika und verwandte Spezialwerke122 vermitteln einen Begriff von der Bedeutungspoly­ valenz von Text und Welt, und die aufblühende Emblematik, eine Tochter der mittelalterlichen Allegorie, durchdringt mit ihren verschiedenen Ausprägungen vom Religiösen über das Lebensweltlich-Private bis zum Politischen Bücher und Kunstwerke

118 Ebd., S. 9: Non enim uniusquisque loci specialia, sed communes atque usitatiores ritus hic prosequimur qui communem non particularem doctrinam tradere laboramus, nec sit possibile quorumlibet locorum specialia perscrutari. 119 Nikolaus von Kues, De pace fidei, in: ders., Philosophisch-theologische Schriften, Bd. 3, hrsg. v. Leo Gabriel, übers. v. Dietlind u. Wilhelm Dupré, Wien 1967, ND Wien 1982, S. 705–795, bes. S. 724f., 796f. Zur Reflexion der Ritenvielfalt vgl. auch Markus Riedenauer, Pluralität und Rationalität. Die Herausforderung der Vernunft durch religiöse und kulturelle Vielfalt nach Nikolaus Cusanus (Theo­ logie und Frieden 32), Stuttgart 2007. 120 Dazu Bauer (Anm. 2), S. 32, unter Hinweis auf Luis de Góngora, Giambattista Marino, John Donne: „So unterschiedlich deren Werk und Rezeption auch sind (zu denen wenig später verwandte Richtungen in Deutschland und Frankreich kommen) und so problematisch der Begriff ‚europäischer Barock‘ sein mag, so steht doch fest, dass die vormoderne europäische Literatur in dieser Zeit ihren Höhepunkt an Ambiguitätstoleranz erreicht hat und in ihrem produktiven Umgang mit dem Deutungspotential der Sprache endlich an das Niveau herangekommen war, das für die arabische Literatur seit Jahrhunderten selbstverständlich war. Die Aufklärung bereitete dieser Blüte ein rasches Ende.“ Dieses Urteil muss nun für die Zeit vor dieser Epoche erweitert werden. 121 Zum Beispiel Hieronymus Lauretus, Silva allegoriarum totius sacrae Scripturae, Barcelona 1570, ND München 1971, nach der 10. Aufl. Köln 1681, eingeleitet v. Friedrich Ohly. 122 Zum Beispiel Theophilus Raynaudus, Marialia (Opera omnia 7), Lugduni 1665, S. 371–445; Hippo­ lytus Marracius, Polyanthea Mariana, Köln 1710; Petrus Bungus, Numerorum Mysteria, Bergamo 1599, ND Hildesheim u. a. 1983 (hrsg. und eingel. v. Ulrich Ernst).



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in ganz Europa.123 Besonders die Lyrik und Dramatik des Barock nehmen einen neuen künstlerischen Aufschwung in der Reflexion und Darstellung der Widersprüchlichkeit, der Mehrdeutigkeit der Welt, der Ambiguität der conditio humana. Während der Begriff der Ambiguität bereits viele Jahrzehnte (seit Empson 1930) in der literaturwissenschaftlichen Forschung diskutiert worden ist (wie dann auch in der Linguistik und Philosophie)124 und er zum positiven Schlüsselbegriff der modernen Literatur und Kunst, ihrer Offenheit und prinzipiellen Mehrdeutigkeit, ihrer ästhetischen Komplexität wurde,125 galten die Vormoderne und insbesondere das Mittel­alter in den maßgeblichen Büchern und Artikeln auch noch der letzten Jahre als kaum ambiguitätsfreundlich oder -relevant – sie schienen vielmehr eine Negativbilanz im Gefolge der antiken Rhetorik zu dokumentieren.126 Die Ambiguitätskultur des mittelalterlichen Islam war bis zum Buch Thomas Bauers fast unbeachtet.127 Dass ebenso die Patristik und das westliche Mittelalter eine ganz eigene Wertschätzung von Ambiguität entwickelt haben, mit weitreichenden Folgen bis in die Neuzeit hinein, blieb bislang unerkannt. Die Prüfung der Zeugnisse hat damit eine neue Perspektive des Vergleichs mit dem mittelalterlichen Judentum und dem Islam eröffnet

123 Arthur Henkel u. Albrecht Schöne, Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, S. xxix (Emblembücherverzeichnisse). 124 William Empson, Seven Types of Ambiguity, 3. Aufl. London 1973 (1. Aufl. 1930). 125 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, übers. v. Günter Memmert, Frankfurt a. M. 1973 (ital. 1962), S. 32–34, zum Mittelalter negativ; Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 43), Tübingen 1988, S. 273–292, zum Mittelalter negativ. Hinzuweisen ist nun jedoch auf das Graduiertenkolleg 1808 „Ambiguität – Produktion und Rezeption“ an der Universität Tübingen, das neben dem sprachwissenschaftlichen Schwerpunkt auch literaturhistorische und weitere wesentlich sprachbezogene Disziplinen vereinigt. 126 Zum rhetorischen Aspekt der Ambiguität im Mittelalter vgl. Anm. 93; ferner Jacqueline Cerquiglini, Polysémie, ambiguïté et équivoque dans la théorie et la pratique poétiques du Moyen Âge français, in: Irène Rosier (Hg.), L’ambiguïté. Cinq études historiques, Lille 1988, S. 167–180, sowie Irène Rosier, Evolution des notions d’‚equivocatio‘ et ‚univocatio‘ au XIIe siècle, in: ebd., S. 103–162; Jan Pinborg, Amphibologia, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1 (1977/80), Sp. 543; Adam Sennet, Ambiguity, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (SEP), Open access 2011, 33 S. (im wesentlichen linguistisch und Ambiguität mit Polysemie gleichsetzend). Zu einem Randgebiet der hier behandelten Mehrdeutigkeit Silvana Vecchio, Mensonge, simulation, dissimulation. Primauté de l’intention et ambiguïté du langage dans la théologie morale du bas Moyen Âge, in: Constantino Marmo (Hg.), Vestigia, imagines, verba. Semiotics and Logic in Medieval theological Texts (XIIIth–XIVth Cent.), Turnhout 1999, S. 117–132. Neue, bisher unbemerkte Ansätze der Rhetorik und Poetik zur Erklärung der Ambiguität (amphibolia) finden sich bei Gervasius von Melkley, Ars poetica, hrsg. v. Hans-Jürgen Gräbener (Forschungen zur Romanischen Philologie 17), Münster 1965, S. 20–22; Boncompagno da Signa, Rhetorica novissima 7, 3 ‚De amphibologia‘, hrsg. v. Steven M. Wight, Los Angeles 1998 (Scrineum Universita di Pavia 1999), URL http://scrineum.unipv.it/wight/index.htm (zuletzt einges. 7.6.2014). 127 Zu nennen wäre auch etwa Berque u. Charnay (Anm. 87).





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sowie die aktuelle Frage nach der älteren Vorgeschichte kultureller Ambiguitätstoleranz als Qualität von pluralen Gesellschaften heute akzentuiert. Das Bewusstsein vom Funktionieren solcher Toleranz in älteren Zeiten und Kulturen mag einen als problematisch erfahrenen Vereindeutigungsdruck in der modernen ambiguitätsfeindlichen Welt, sofern sie durch Prozesse der Rationalisierung, Institutionalisierung oder Formalisierung geprägt ist, in ihrem Geltungsanspruch relativieren durch die Akzeptanz von Mehrdeutigkeit, durch die Wertschätzung von Vielfalt.



Arnold Esch (Rom)

Neue Quellen zu Handel und Umgang zwischen Christen und Muslimen im Mittelmeerraum. Die Gesuche an die Pönitentiarie im 15. Jahrhundert Abstract: Der Handel mit den Muslimen, vor allem die Lieferung kriegswichtigen Materials, war seit den Kreuzzügen allen Christen vom Papst bei Strafe der Exkommunikation untersagt: ein Embargo, das sich im Mittelmeer zwischen christlicher Nordküste und muslimischer Südküste allerdings kaum durchführen liess. Ein vatikanischer Archivfonds, der Forschung lange Zeit unzugänglich und darum noch wenig ausgewertet, verzeichnet die Absolutionsgesuche derer, die gegen kirchenrechtliche Bestimmungen verstossen hatten, darunter zahlreiche Kaufleute. Da sie der Penitenzieria Apostolica, dem obersten Buß- und Gnadenamt der Kirche, ihren Fall erst einmal darlegen mussten, erfahren wir – hier für die Jahre 1440–1484 – eine Vielzahl solcher Handelsgeschäfte aus dem mittelmeerischen Alltag: vor allem spanische und italienische Kaufleute in Häfen von Marokko bis Ägypten, aber auch lokaler Kleinhandel mit Granada, und das portugiesische Vorrücken die westafrikanische Küste hinab (wem gehören neuentdeckte Länder, die nicht von Christen, Muslimen, Juden bewohnt sind?). Daneben hören wir, in teilweise ausführlichen narrationes, von anderen Problemen des Umgangs: Konversion zum Islam, Mischehen, persönliche Kreuzzüge, abenteuerliche Lebenswege zwischen den Fronten. So zeigen diese Gesuche ganz konkret die unentwirrbare Gemengelage von Völkern, Religionen, Handelsinteressen im Mittelmeerraum. Im Ton ganz anders die Gesuche aus dem öst­ lichen Mittelmeerbecken, die mit Schrecken vom raschen Vorrücken der Türken und von erzwungenen Lieferungen sprechen. In der mittelmeerischen Wirklichkeit galt die Ring-Parabel nicht.

Zum großen Thema dieses Symposions mit einem – dem Anlass entsprechenden, also nicht zu speziellen – Vortrag beizutragen, ist, wie immer, auch eine Frage der Quelle. Was die hier vorzustellende Quelle zu bieten hat, liegt allerdings nicht auf der hohen Ebene geistiger Auseinandersetzung zwischen den Religionen. Man erwarte nicht die Feinheiten von Exegese und Glossen, nicht die Argumente interreligiöser Disputation und Kommunikation. Das Gegen- und das Miteinander, das unser Thema ist, wird hier ganz handfest in der Praxis des mittelmeerischen Alltags sichtbar: Was macht man, wenn ein christliches Handelsschiff durch Sturm in einen muslimischen Hafen verschlagen wird? Wie ist das, wenn ein Christ in muslimischer Gefangenschaft zum Islam übertritt, oder wenn ein Christ eine Muslimin heiratet? Seien Sie also nicht enttäuscht von so viel platter Wirklichkeit. Aber Geschichte ist eben auch das, und in der mittelmeerischen Wirklichkeit galt die Ring-Parabel nicht.



Die Gesuche an die Pönitentiarie im 15. Jahrhundert 

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Die Quelle, die uns diese Einzelschicksale im Umgang zwischen Christen und Muslimen zuspielt, war lange Zeit der historischen Forschung strikt verschlossen. Es sind die Suppliken, die Gesuche, die im Archiv der Penitenzieria Apostolica liegen.1 Die Penitenzieria Apostolica war (und ist) das oberste Buß- und Gnadenamt der römischen Kirche. Wer gegen Bestimmungen des Kirchenrechts verstoßen hatte – und das geschah leicht, denn die mittelalterliche Kirche durchdrang das tägliche Leben auch der Laien – wer also einen Verstoß gegen das kanonische Recht begangen hatte, der nicht vom Ortsbischof gelöst werden konnte, sondern dem Papst reserviert war, musste sich in einer Supplik (einem Gesuch um Absolution oder Dispens) an den Papst wenden, der die Fälle dann an die Pönitentiarie überwies.2 Eine grundsätz­liche Bemerkung vorab: Die hier herangezogenen, registrierten Gesuche sind alle ohne Ausnahme positiv beschieden worden, meist mit Überweisung an den Ortsbischof zu näherer Untersuchung, so dass wir die für die Absolution auferlegten Bedingungen meist nicht kennen, abgesehen davon, dass – auch bei kleinsten Handelsgeschäften – fast immer eine Strafsumme zu zahlen war. Seit diese Supplikenregister zugänglich wurden, hat das Deutsche Historische Institut in Rom die deutschen Betreffe zu seinem Forschungsprojekt gemacht und, dank der Tatkraft von Ludwig Schmugge, bereits acht Bände herausgebracht.3 Die nichtdeutschen Betreffe4 habe ich in den letzten Jahren gesichtet: Anders als in den

1 Rom, Penitenzieria Apostolica, Archivio (bis 2012 im Archivio Segreto Vaticano deponiert): ‚Registra matrimonialium et diversorum‘ (fortan zitiert als: Pen. Ap., reg.). Hier ausgewertet die Rubriken De diversis formis und De declaratoriis. Zum Archiv: Alessandro Saraco (Hg.), La Penitenzieria Apostolica e il suo archivio, Città del Vaticano 2012. Die Darstellung folgt (für den ersten, berberischen Teil) meiner inzwischen erschienenen Auswertung des archivalischen Materials: Arnold Esch, Der Handel zwischen Christen und Muslimen im Mittelmeer-Raum. Verstöße gegen das päpstliche Embargo geschildert in den Gesuchen an die Apostolische Pönitentiarie (1439–1483), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 92 (2012), S. 85–140. 2 Zu Institution und Arbeitsweise der Behörde Emil Göller, Die päpstliche Pönitentiarie von ihrem Ursprung bis zu ihrer Umgestaltung unter Pius V. (Bibliothek des Königlich-Preußischen Historischen Instituts in Rom 3, 4, 7, 8), Rom 1907–1911; Ludwig Schmugge, Patrick Hersperger u. Béatrice ­Wiggenhauser, Die Supplikenregister der päpstlichen Kurie aus der Zeit Pius’ II. (1458–1464) (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 84), Tübingen 1996; Kirsi Salonen u. Ludwig Schmugge, A Sip from the ‚Well of Grace‘. Medieval Texts from the Apostolic Penitentiary (Studies in Medieval and Early Modern Canon Law 7), Washington 2009. 3 Repertorium Poenitentiariae Germanicum: Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, hg. v. Deutschen Historischen Institut in Rom, bearb. v. Ludwig Schmugge und Mitarbeitern, bisher 8 Bände (Eugen IV. – Alexander  VI.; Julius  II. im Druck), Tübingen 1996–2012. Eine Auswertung in Arnold Esch, Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst, München 2010, und ders., Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters, München 2014. 4 Einige sind inzwischen veröffentlicht: schwedische Suppliken der Kirchenprovinz Uppsala durch Sara Risberg u. Kirsi Salonen (Hgg.), Auctoritate Papae. The Church Province of Uppsala and the Apostolic Penitentiary 1410–1526 (Diplomatarium Suecanum. Appendix 2), Stockholm 2008; eng­



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deutschen, kommt in den italienischen, spanischen und französischen Gesuchen das Mittelmeer kräftig vor – und das ist der Anlass von Beobachtungen, die ich hier vortragen will. Der Reiz dieser Quelle liegt darin, dass hier Menschen zu uns sprechen, die eigentlich keine Chance hatten, in eine historische Quelle hineinzufinden oder gar selbst zu Worte zu kommen: Kaufleute, Kapitäne, ja kleine Matrosen und Schiffsbelader.5 Nicht dass diese Menschen uns Geschichten über Muslime erzählen wollten. Aber sie müssen es tun, um ihr Anliegen erklären zu können. Und eben das wollen wir Historiker uns zunutze machen: dass diese Menschen Dinge sagen müssen, um sagen zu können, was sie sagen wollen. Natürlich versuchen sie, sich rechtfertigend noch kleiner zu machen als sie ohnehin schon sind, so dass von ihrer Darstellung immer etwas abzuziehen ist; natürlich erzählen sie dem Papst keine Nettigkeiten über den Islam; natürlich haben ihnen ihre Prokuratoren erfolgversprechende juristische Formeln hineingebracht (doch das bekommt man schon heraus, wenn man Tausende solcher Suppliken gelesen hat). Aber es bleibt immer ein Kern von fetter, lebensvoller Wirklichkeit. Mehr noch als Ereignisse, sind es Verbote und ihre Übertretungen, die Quellen erzeugen. Umso besser für uns Historiker: Hier ist es der Verstoß gegen das Embargo, das das Papsttum gegen den Handel mit den Muslimen verhängt hatte. Die Kirche stellte seit den Kreuzzügen, vor allem mit dem 3. Lateran-Konzil 1179, den Verkauf von kriegswichtigem Material an die Muslime unter die Strafe der Exkommunikation und erneuerte dies Verbot immer wieder.6 Unter die Embargo-Güter rechneten in erster Linie Metalle, Holz vor allem für den Schiffbau (angesichts der Armut Nordafrikas an Langholz), Pech (gleichfalls wichtig für den Schiffbau), die Lieferung von Waffen, von Schwefel (notwendig für die Pulverherstellung); aber auch die Lieferung von Lebensmitteln und Schlachtvieh konnte unter das Verbot fallen. Natürlich ist dieses päpstliche Embargo auch aus anderen Quellen bekannt; ja der katalanische Handel mit Alexandria in Ägypten war so gewöhnlich, dass man

lische der Kirchenprovinzen Canterbury und York durch Peter D. Clarke u. Patrick Zutshi (Hgg.), Supplications from England and Wales in the Registers of the Apostolic Penitentiary, 1410–1503, Bd. 1: 1410–1464, Woodbridge 2013; norwegische durch Torstein Jørgensen u. Gastone Saletnich (Hgg.), Synder og Pavemakt. Botsbrev fra den Norske Kirkenprovins og Suderøyene til Pavestolen 1438–1531 (Diplomatarium Poenitentiariae Norvegicum), Stavanger 2004; polnische in Irena Sułkowska-Kuraś u. Stanislaw Kuraś (Hg.), Bullarium Poloniae, Bd. 4–7, Rom 1992–2006. 5 Zum sozialen Aspekt der Überlieferungs-Chance Arnold Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 529–570, bes. S. 544–548. 6 III Conc. Lat., c. 24: Conciliorum oecumenicorum decreta, hrsg. v. Giuseppe Alberigo u. a., B ­ ologna 3 1973, S. 223; X 5.6.6: Corpus Iuris Canonici, hrsg. v. Emil Friedberg, Bd. 2, Leipzig 1881, Sp. 773. Dazu zuletzt Tilmann Schmidt, Waffenembargo und Handelskrieg im Mittelalter, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 93 (2006), S. 23–33.





Die Gesuche an die Pönitentiarie im 15. Jahrhundert 

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in Barcelona die Embargobrecher geradezu alexandrini nannte.7 Unsere Quelle aber stammt aus der Behörde, die im Vatikan diese Fälle zu behandeln hatte, also im eigentlichen Sinne zuständig war. Und sie hat wieder den entscheidenden Vorteil solcher Gesuche gegenüber normativen Texten. Während normative Texte sagen, wie es sein soll, sagen unsere Texte, wie es wirklich war: denn sie müssen die Verstöße und ihre Umstände erst einmal erzählen, damit die Pönitentiarie den Grad der Schuld (und die Höhe der Buße) bemessen konnte. Und auf diese narrationes haben wir es abgesehen. Episoden erzählt aus dem Munde gewöhnlicher Menschen, die – sei es aus Regung des Gewissens, sei es aus der Furcht, denunziert zu werden – sich an Rom wenden und erzählen, was sie an Embargo-Waren verschifft und an die ‚Sarazenen‘ verkauft hatten. Zunächst seien die Saraceni des Maghreb, der nordafrikanischen Gegenküste von Marokko bis Ägypten, in den Blick genommen, wobei ‚sarazenisch‘ hier zunächst einfach ‚muslimisch‘ bedeutet. Zwar sollte der Mittelmeerhandel grundsätzlich als Einheit gesehen werden. Aber der Handel mit dem Maghreb einerseits und mit der Levante andererseits hatte doch seine unterschiedlichen Bedingungen, und es hat, für das 15. Jahrhundert, seinen Sinn, westliches und östliches Mittelmeerbecken, Berber und Türken hier auseinanderzuhalten.8 Um welche Güter ging es? Während die Rechtstexte die großen Umrisse von Waren-Kategorien bezeichnen, bringen die Gesuche nun das ganze Spektrum der wirklich gehandelten Waren – und die Umstände, unter denen sie gehandelt wurden. Unter den ausdrücklich genannten Waren sind – neben den weitgefassten EmbargoGütern Waffen, Eisen, Holz – Lanzen und Pfeile auch wenn nur als Schäfte ohne Spitzen, Armbrüste auch wenn es nur Schnüre zum Herstellen von Armbrustsehnen sind. Einzelne Kaufleute liefern nach Nordafrika große Mengen Reis (!) und Korn. Von da geht es abwärts bis zu seltsam unscheinbaren Geschäften, die in keiner päpstlichen Embargo-Liste enthalten waren, aber von einzelnen, aus besonderer Vorsicht, doch vorgebracht wurden. Ja, ein Uhrmacher aus Bergamo gesteht, er habe bei der

7 José Trenchs Odena, „De Alexandrinis“. El comercio prohibido con los musulmanes y el p ­ apado de Aviñón durante la primera mitad del siglo XIV, in: Anuario de Estudios Medievales 10 (1980), S. 237–320; für die folgende Zeit siehe Damien Coulon, Barcelone et le grand commerce d’Orient au Moyen Âge. Un siècle de relations avec l’Égypte et la Syrie-Palestine (ca. 1330–ca. 1430) (Bibliothèque de la Casa de Velázquez 27), Madrid 2004, zum päpstlichen Handelsverbot (und Lizenzen für Handel und Hl. Land) bes. S. 26–41. 8 Zum Handel zwischen Christen und Muslimen im Allgemeinen zuletzt: Simonetta Cavaciocchi (Hg.), Relazioni economiche tra Europa e mondo islamico sec. XII–XVIII  / Europe’s Economic Relations with the Islamic World XIIth–XVIIIth Centuries (Settimane di studi dell’Istituto Francesco Datini di Prato 38), Florenz 2007. Zum Handel mit dem Maghreb konzise Miguel A. Ladero Quesada, Relazioni economiche tra Europa e mondo islamico, sec.  XIII–XVIII, in: ebd., S.  13–52, mit reicher Bibliographie. Vgl. Georges Jehel, L’Italie et le Maghreb au Moyen Âge. Conflits et échanges du VIIe au XVe siècle, Paris 2001.



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Herstellung einer Uhr ein Metall als ungeeignet befunden (plus debito dura) und an die Türken verkauft!9 Größere Objekte, deren strategischer Wert leicht einzusehen war, waren ganze Schiffe. Ein Mann aus Syrakus erzählt, wie er im Hafen von Tripoli in Libyen von einigen Muslimen auf den Verkauf seines Schiffes angesprochen wurde: Als er einst [die Antragsteller sprechen immer in der 3. Person von sich, nicht in der 1. Person] mit einem kleinen Schiff... da drüben war und von einem Hafen zum andern fahren wollte, aber wegen Sturm nicht konnte, sah er sich wegen dieses Sturms gegen seinen Willen gezwungen, mit seinem Schiff einen anderen Hafen der Ungläubigen namens Tripoli anzulaufen. Als das Schiff nun da im Hafen war und er in deren Gewalt, sagten einige Ungläubige zu ihm, ob er ihnen dieses Schiff verkaufen wolle. Er sagte: Nein (quod non). Da sagten sie ihm, wenn er das nicht tun wolle, dann nähmen sie es ihm mit Gewalt. Und als er nun sah, dass er in großer Gefahr sei, verkaufte er es.10

Komplizierter ist der Fall eines Korsen. Der Mann hatte – auf muslimischem Territorium, also wohl drüben in Nordafrika – einen Viertelanteil an einem Schiff an einen Christen verkauft, und der verkaufte dann das Schiff (oder seinen Anteil) dort drüben an einen Juden.11 Wie sollte man das entflechten? Aber gerade diese unentwirrbare Gemengelage von Handelsinteressen, Religionen, Kapitalien, kirchlichen Verboten und kommerziellen Geboten spiegelt die Verhältnisse im Mittelmeerraum wieder. Solche komplexen Konfigurationen mussten – zu unserem Glück – von den Petenten ja erst einmal erzählt werden und begegnen in vielfältigen Umspielungen immer wieder. Wie sollte man in diesem dicht vernetzten Handelsraum beispielsweise wissen, an wen die gelieferte Ware dann weiterverkauft wurde? Und sollte man auch dafür noch verantwortlich sein? Wie schuldig ist der, der das nach Afrika auslaufende Schiff bloß beladen, aber Afrika selbst nie betreten hatte? Oder die bloß als naute mitfahrenden Matrosen, die ja keinen Gewinn-Anteil an der Fracht hatten? – Doch, sagte das päpstliche Verbot: ihre Löhnung ist ihr Gewinn! Natürlich versuchten die Petenten, ihren Schuldanteil zu verringern. Darum ist ihre Darstellung nicht unbedingt beim Worte zu nehmen: ‚Mit den von mir gelieferten Schwertern konnte man doch nur Brot schneiden‘ (quosdam parvos gladios ad scindendum panem aptos); die verkauften Segel waren doch schon alt; die den Muslimen gelieferten Hölzer waren doch bloß Bretter für Fensterrahmen, bloß dünne Dachsparren, ‚da konnte man doch keine Schiffe draus bauen‘ (non tamen pro galeis conficiendis)!12 Oder es war höhere Gewalt: Der Sturm ‚trieb uns unversehens an die

9 Im Einzelnen siehe die in Esch (Anm. 1), zusammengestellten und behandelten Fälle (Liste ebd., S. 125–137). Weitere Fälle in Filippo Tamburini, Ebrei Saraceni Cristiani. Vita sociale e vita religiosa nei registri della Penitenzieria Apostolica, sec. XIV–XVI, Mailand 1996 (ebd., Nr. 14, der Uhrmacher). 10 Esch (Anm. 1), S. 137, Nr. 100. 11 Ebd., S. 94. 12 Ebd., S. 133, Nr. 74; S. 126, Nr. 16.





Die Gesuche an die Pönitentiarie im 15. Jahrhundert 

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nordafrikanische Küste‘ (portata fuit apud Sarracenos), so mussten wir die eigentlich für christliche Abnehmer gedachten Waren notgedrungen an die Muslime verkaufen.13 Gern wird mit der zunächst nicht absehbaren Marktlage argumentiert, auf die man habe reagieren müssen. Und das ist unter Kaufleuten ja durchaus glaubhaft – nur dass die Pönitentiarie keine Handelsagentur ist und gegenüber solcher Argumentation ziemlich unempfindlich. Da heißt es etwa: Wir hatten das ursprünglich gar nicht vor, hörten dann aber auf Sizilien, dass drüben in Nordafrika gegenwärtig leichter an Getreide zu kommen sei als hier. Nur darum kamen wir mit Muslimen ins Geschäft.14 Wir sehen Schiffe auslaufen aus Genua, Palermo, Barcelona, Lissabon oder Sevilla. Ein Barkenführer schildert, in Form einer Denunziation zu eigener Entlastung, wie er ein für Nordafrika bestimmtes Schiff in der Mündung des Guadalquivir belud. Er habe für einen Johannes Serrano, der damals mit einem Schiff im Hafen von Barrameda lag und nach Afrika auslaufen wollte, auf seiner Barke flussabwärts Salz transportieren müssen, aber auch Säcke und Behälter unbekannten Inhalts... Er selbst sei nie in Afrika oder anderen muslimischen Ländern gewesen und wolle nun nicht, dass seine Tätigkeit in Verdacht komme.15

Manche ersuchten um Absolution schon für den bloßen Umgang mit den infideles: Schon das Betreten des Heiligen Landes war ja untersagt und erforderte eine päpstliche licentia intrandi terras Sarracenorum.16 „Hat mit ihnen getrunken und gegessen“, konnte da bei vorsichtigeren Gemütern schon hinreichen, um eine Absolution zu erbitten. Es ist bezeichnend, dass sich die Ordensmissionen der Dominikaner und Franziskaner in Tunis – weil gewiss oft als Beichtväter mit diesen Problemen von Zusammenleben und Embargobestimmungen befasst – um kirchenrechtliche Klarstellung an Rom wandten.17 Die berichteten Fälle, die Umgang und nicht Warenverkehr betreffen, spielen sowohl auf der Iberischen Halbinsel wie drüben in Nordafrika. Der regelmäßige Umgang unter Händlern führte, neben den eigentlichen Kaufgeschäften, aufs natürlichste auch zu Gast- und Ehrengeschenken, die nun gleichfalls bewertet sein wollten.

13 Ebd., S. 96, 98. 14 Ebd., S. 97 und 136, Nr. 91 15 Ebd., S. 133, Nr. 75. 16 Gritje Hartmann, Licencia apostolica intrandi terras Sarracenorum et communicandi cum eis. Die päpstlichen Register als Quelle für die spätmittelalterlichen Pilgerfahrten, in: Michael Matheus (Hg.), Friedensnobelpreis und historische Grundlagenforschung. Ludwig Quidde und die Erschließung der kurialen Registerüberlieferung (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 124), Berlin, Boston 2012, S. 243–277. 17 Antworten des Raymond de Peñafort auf entsprechende Anfragen: Stephan Kuttner, Repertorium der Kanonistik (Studi e Testi 71), Città del Vaticano 1937, S. 446f.



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So hatte ein Mann aus Sevilla, der zweimal zu Schiff ins Land der ‚Sarazenen‘ gekommen war und dort mit ihnen gelebt hatte, „wegen ihrer Freundschaft und der guten Gesellschaft, die er an ihnen hatte“ (propter amicitiam ipsorum et bonam societatem quam ab eisdem recepit), eine Lanze zum Geschenk gemacht.18 Die meisten werden so etwas nie der Pönitentiarie gemeldet und einfach gehandelt haben, wie sie es für richtig hielten. Ein Mann aus der Diözese Pamplona erzählt, als 13-Jähriger sei er einfach „zum Vergnügen“, causa solacii, ins Land der Ungläubigen hinübergefahren.19 Ein Zusammenleben besonderer Art, die Gefangenschaft bei den Muslimen, erscheint in den Pönitentiarie-Registern erstens, weil dieses Schicksal angesichts des permanenten Seeraubs recht häufig war (Menschen waren eine mindestens ebenso begehrte Beute wie Güter), und weil – zweitens und vor allem – längere Gefangenschaft nicht selten mit dem Übertritt zum Islam endete. Wenn Freigekommene dann um Absolution baten, hoben sie hervor, dass ihre Konversion unter Zwang erfolgt sei. Das war wohl nicht immer der Fall. Ja ein Geistlicher bekennt sogar, christlichen und muslimischen Glauben verglichen zu haben, und nicht zum Vorteil des christlichen: „Öfters lästerte er Gott, seinen Schöpfer, und die hl. Jungfrau Maria, wobei er ver­ sicherte, der Glaube der Muslime sei besser als der christliche“ (fidem Saracenorum meliorem christiana fore)!20 In dem von drei Religionen durchsetzten Mittelmeerraum waren es aber vor allem die gemischten Ehen, die zu diffizilen persönlichen Konstellationen und vor die Pönitentiarie führen konnten. Der erste Fall spielt zwischen Sizilien und Nordafrika. Perna war jung mit Onofrio, beide aus Trapani, verheiratet worden. Aber Onofrio „legte den christlichen Glauben ab, ging ins Berberland und schloss dort eine Ehe oder Wohngemeinschaft (matrimonium seu contubernium) nach Art der Berber mit einer Berberin“. Nach acht Jahren des Wartens heiratet Perna einen anderen, aber nach weiteren 18 Jahren kommt unerwartet Onofrio zurück: „er kam nach Trapani zurück und nahm den christlichen Glauben wieder an“ (fidem christianam reassumpsit), um eine Christin zu heiraten. Ähnliches widerfuhr einer Frau aus der Diözese Terracina (immer ist ein Hafen in der Nähe, Bergbauern kommen nicht so leicht in muslimische Versuchung). Aber es ging auch umgekehrt: Ein Moslem wird Christ und heiratet eine Christin, und als die stirbt, hat er eine Jüdin genommen; nun will er aber wieder eine Christin heiraten – die drei Religionen in einem höchst persönlichen Dreieck.21 Diesseits des Meeres, auf der Iberischen Halbinsel, spielen andere, oft unfreundliche Begegnungen. Aber der alltägliche Kleinhandel im Grenzverkehr hier zeigt auch die friedlicheren Seiten des Umgangs. Einen besonderen Fall stellt das Gesuch eines

18  Esch (Anm. 1), S. 100. 19  Ebd., S. 101. 20 Ebd., S. 102. 21  Ebd., S. 102f.





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Ortsherrn dar, der seinen muslimischen Untertanen in Carlet bei Valencia die Vergrößerung ihrer Moschee erlaubt hatte, weil ihre Zahl stark angewachsen war. Nun seien ihm und seinem Sohn doch Bedenken gekommen: Er habe deswegen, weil an diesem Ort, in dem Christen und Muslime (Sarraceni) wohnen, die Zahl der Muslime sich so vermehrt hatte, dass sie in ihre Moschee nicht mehr richtig hineinpassten (ita, quod in ... mesquita commode stare non poterant), diesen Muslimen die Erlaubnis gegeben, die Moschee zu vergrößern (ut eam ampliarent), was sie dann auch taten. Jetzt aber, Heiliger Vater, haben die Gesuchsteller doch Zweifel, ob sie deswegen nicht vielleicht exkommuniziert seien.22

Doch erinnern sich Männer auch ganz anderer Szenen – die sie nun bereinigt wissen wollen, weil sie als künftige Priester nichts mit Blutvergießen zu tun gehabt haben durften, nicht einmal mit der Hinrichtung von rechtskräftig zum Tode verurteilten Muslimen. Ein Mönch erinnert sich, im Alter von 19 Jahren in der Stadt Mallorca an der Hinrichtung sarazenischer Gefangener beteiligt gewesen zu sein, die angeblich, auf Anstiften irgendeines Emirs, die Brunnen der Stadt vergiften wollten und darum zum Tode verurteilt, kopfüber aufgehängt und von den Jungen gesteinigt wurden (appensi per pedes lapidati a pueris et iuvenibus dicte civitatis mortui sunt). Unter den Steinewerfern war auch er (behauptet aber, niemanden getroffen zu haben). Ähnliches gesteht ein Geistlicher aus der Diözese Segovia: 14-jährig habe er, als ein Sarazene wegen seiner Verbrechen zum Tode durch Steinigung verurteilt wurde (ad lapidandum), damals mitgeworfen, aber nur zwei Mal.23 Im Handel mit Nordafrika werden an italienischen Kaufleuten – man erwartet es nicht anders – mehrmals Venezianer und Genuesen genannt. Die Venezianer hatten in ihren galee di trafégo einen Galeeren-Konvoi, der regelmäßig Alexandrien mit Tripoli, Djerba und Tunis anlief, mit den galee di Barbería einen Galeerenkonvoi „ins Land der Berber“, der jedes Jahr acht Häfen des Maghreb berührte.24 Natürlich brauchten diese Handels-Galeeren eine Ausnahme vom Embargo. Venezianische Galeeren auf dem Weg zu muslimischen Häfen erscheinen in den Registern der Pönitentiarie aber noch in einem Sektor, der für den venezianischen Seeverkehr tatsächlich besonders charakteristisch war: dem Transport von Pilgern ins Heilige Land. Von der Jerusalem-Fahrt erfahren wir in dieser Quelle vor allem aus solchen Besuchs-Anträgen auch einfacher Pilger, oder (und das gilt für alle Pil-

22 Ebd., S. 104f. Zum Umgang mit den Muslimen zuletzt die Beiträge in Klaus Herbers u. Nikolas Jaspert (Hgg.), Integration, Segregation, Vertreibung: religiöse Minderheiten und Randgruppen auf der Iberischen Halbinsel (7.–17. Jahrhundert) (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 8), Berlin 2011. 23 Esch (Anm. 1), S. 105. 24 Zu den Galeeren-Linien Doris Stöckly, Le système de l’Incanto des galées du marché à Venise (fin XIIIe–milieu XVe siècle) (The Medieval Mediterranean 5), Leiden, New York, Köln 1995, S. 169–175.



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gerziele) aus der Bitte um Lösung vom Pilger-Gelübde25 – die eine sehr persönliche Begründung haben konnte: so brachte eine französische Santiago de CompostelaPilgerin das entwaffnende Argument, „sie sei inzwischen so dick und fett geworden (adeo pinguis et grossa), dass sie weder gehen noch reiten könne“!26 Auch die Galeeren-Reeder selbst brauchten für ihren Pilgertransportbetrieb ein kirchliches ‚Visum‘ für das Betreten des Heiligen Landes. Und so sehen wir mehrmals Loredan und Contarini, die in diesem Pilgertransportgeschäft besonders engagierten Familien, solche Anträge für sich und ihre Schiffsoffiziere stellen. Neben den Venezianern begegnen natürlich die Genuesen, denn im Handel mit dem Westen waren sie führend – und so sahen die Genuesen im Augenblick der Entdeckungen schon in die richtige Richtung (nach Westen) und nicht, wie das bis dahin dominierende Venedig, nach Osten, in das – nun zur Sackgasse werdende – östliche Mittelmeer.27 Ein ungewöhnliches Gesuch richtet 1449 ein Genuese an den Papst. Was sich wie eine gewöhnliche Handelsfahrt gibt, ist in Wahrheit ein getarntes Kommandounternehmen zur Befreiung von Gefangenen: Der Genuese erzählt, wie sein Bruder auf dem Meer von katalanischen Piraten angegriffen wurde und sich vor ihnen „in die Länder der Ungläubigen“ flüchtete. Christlichen Piraten in die Hände zu fallen war nämlich nicht angenehmer als muslimischen. In Nordafrika gefangen, schwört dieser Bruder seinem christlichen Glauben ab, wird sogar Garten-Oberaufseher des dortigen Herrschers. Und dann der abenteuerliche Plan: der Gefangene rät seinem Bruder, ein Schiff zu besorgen und darauf eine bestimmte Menge von dünnen Hölzern zu transportieren, geeignet zur Ausrüstung von Weinbergen und auch als Gestänge und Stakett und anderes zur Reparatur von Häusern (lignorum subtilium et abtium [sic] ad parandum vineas ac eciam ad dardos sive zagaglias et aliqua ad reparacionem domorum: d. h. nicht starke Hölzer geeignet für den Schiffbau – sonst hätte die Pönitentiarie gleich Nein gesagt). Wenn Giovanni dann dort eintreffe, solle er so tun, als ob er die verkaufen wolle, und der Bruder [Onofrio] solle so tun, als ob er sie kaufen wolle (fingens illa vendere velle bzw. similiter fingens illa velle emere); und dann würden sie mit mehreren anderen, die dort ebenfalls in Gefangenschaft waren, aufs Schiff gehen und damit fliehen. Darum bittet Giovanni, da er nun das Schiff bereit habe, um diesen seinen Bruder und die anderen aus der Gefangenschaft zu befreien, der Hl. Stuhl möge ihm die Erlaubnis geben, dass er dieses Schiff mit solchen Weinberghölzern, Stangen und Staketten beladen dürfe bis zum Wert von 150 Gulden, und das alles ins Land der Ungläubigen transportieren, um den Bruder und die anderen [...] zu befreien.28

25 Am Beispiel weiblicher Hl. Land-Pilger Arnold u. Doris Esch, Frauen nach Jerusalem. Weibliche Pilger zum Heiligen Grab in den Registern der Poenitentiaria Apostolica 1439–1479, in: Archiv für Kulturgeschichte 94 (2012), S. 293–311. 26 Ebd., S. 307f. 27 Charles-Emmanuel Dufourcq, Aperçu sur le commerce entre Gênes et le Maghrib au XIIIe siècle, in: Economies et sociétés au Moyen Âge. Mélanges offerts à Edouard Perroy, Paris 1973, S. 721–736; Jacques Heers, Gênes au XVe siècle, Paris 1961, S. 473–498 (zum Handel mit dem Maghreb). 28 Esch (Anm. 1), S. 109f.





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Der Papst möge also der Ladung und dem Fahrtziel zustimmen. Dass der Kardinal Großpönitentiar mit fiat de speciali et expresso unterschreibt, gibt der Bewilligung die Form, die über die Routine hinausgeht und ist ein Indiz, dass die Angelegenheit persönlich mit dem Papst besprochen wurde. Gewiss warteten Genuesen in der Regel nicht ab, was ihnen der Papst sagte – wie man überhaupt sagen muss, dass diese Embargo-Bestimmungen zwar lästig waren, aber den Handelsaustausch nie unterbunden haben. Nur dass sich einige, die Nachteile für ihr Geschäft befürchteten, doch lieber absicherten. In eine andere, geradezu globalhistorische Dimension geraten wir, wenn wir in dieser Quelle nun das unmittelbare Gegenüber der Iberischen Halbinsel, das muslimische Nordafrika in den Blick nehmen und das zunehmend aggressive Ausgreifen Portugals hinüber über die Meerenge: es sind die Anfänge der Entdeckungen, die ersten Anläufe zur Umsegelung Afrikas. Denn auch das Ausgreifen der Portugiesen nach Nordafrika, das es auf das Getreide des Maghreb und die dort endenden, vom Sudan und Schwarzafrika heraufführenden Karawanenwege absah und mit der Eroberung von Ceuta 1415 einsetzt, schlägt sich in einigen Suppliken nieder. Wem aber gehören die neuentdeckten Inseln und Länder, wo man von Abraham noch nie etwas gehört hatte, weil sie nicht von Christen, Juden, Muslimen, sondern von ‚Heiden‘, oder von gar niemandem bewohnt waren? Es war der Papst, der dem König von Portugal oder Heinrich dem Seefahrer solche neuentdeckten Inseln und Länder übertrug.29 Spätestens seither wusste man in Rom und in der Pönitentiarie, worum es bei Gesuchen ging, in denen solche Expeditionen vorkamen. Und in den römischen Zollregistern dieser Jahrzehnte sieht man, was für exotische Dinge nun über Portugal nach Rom hereinkamen: Affen, Papageien, Elefantenzähne, schwarze Sklaven.30 Wie sich das Übergreifen der Portugiesen nach Marokko in kleinen Schicksalen widerspiegelt, sei an einigen Gesuchen gezeigt. Ceuta, nach der Eroberung von 1415 ein dauernd bedrängter Außenposten, spielt da immer noch eine besondere Rolle.31 Auch ein Kommandant von Ceuta tritt auf: Der Graf von Villareal Almeida hatte gelobt, von der im Kampf gegen die Muslime gewonnenen Beute jeweils den zehnten Teil Gott zu stiften – hatte es damit, obwohl mit Beute reich gesegnet, dann aber nicht so genau genommen und lässt sich nun absolvieren.32 Einen besonderen Fall persönlichen Kreuzzuges stellt ein Gesuch dar, in dem drei Schotten 1441 der Pönitentiarie treuherzig ihren weiten Weg von den Hebriden nach Ceuta und ihren – letztlich ergebnislosen – Einsatz dort schildern. Im Zweifel, ob ihr

29 Ebd., S. 111f. (mit der einschlägigen Literatur). 30 Arnold Esch, Economia, cultura materiale ed arte nella Roma del Rinascimento. Studi sui registri doganali romani 1445–1485 (Roma nel Rinascimento inedita 36: saggi), Rom 2007, bes. S. 179f. 31 Anna Unali, Ceuta 1415: Alle origini dell’espansione europea in Africa, Rom 2000. 32 Esch (Anm. 1), S. 113.



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Gelübde damit wirklich erfüllt sei, begeben sie sich von Ceuta persönlich nach Rom. Ohne jede Sprachkenntnis außer ihrem Gälisch, und nun bar aller Mittel, bitten sie dringend um Feststellung, ihr Gelübde gleichwohl erfüllt zu haben – ein anrührendes Beispiel individueller Initiative und ernstgenommenen Gelübdes nach dem Ende der Kreuzzüge. Die drei erzählen von ihrem Sarazenen-Gelübde und ihrem Weg nach Nordafrika: Allerdings war, Heiliger Vater, zu der Zeit, als sie in Ceuta für einen Monat und mehr waren und dort ihr Gelübde erfüllt zu haben glaubten, zwischen dem [christlichen] Kriegshauptmann und den Sarazenen ein Waffenstillstand abgeschlossen für so lange Zeit, dass sie ohne Sold – weil sie aus eigenen Mitteln nichts hatten – nicht länger abwarten konnten. Wegen dieses Waffenstillstands konnten sie ihr Gelübde [...] nicht erfüllen, es sei denn dass sie zu dritt allein gegen das Heer der Sarazenen hätten kämpfen wollen, was doch leichtsinnig und gegen den Waffenstillstand des Königs gewesen wäre.

Nun bitten sie den Papst, ihnen entsprechende Briefe auszustellen, aber bitte ohne Kosten, da sie so arm sind, dass sie nichts haben, wovon sie sich Brot kaufen könnten, was sie auch beschwören könnten, und dass sie außer ihrer Muttersprache, die an der römischen Kurie kaum von vier Leuten verstanden werde, keine Sprache sprechen (linguam preter vulgare suum quod vix a quatuor personis Romane curie intellegitur, loqui nesciunt).33

Andere von portugiesischen oder kastilischen Petenten geschilderte Situationen wechseln zwischen militärischer und kommerzieller Unternehmung, und das dürfte der Wirklichkeit recht nahe kommen. Ein unordentlicher (und dem Historiker darum besonders interessanter) Lebensweg, der tief hinab und durch muslimische Gefangenschaft, dann hoch hinauf führte, tritt uns im Gesuch eines Geistlichen aus Lissabon entgegen. Von einem Neffen des Erzbischofs von Lissabon dazu angestiftet, hatte er nachts im erzbischöflichen Palast mit anderen Gold, Silber, Geld und Gewänder gestohlen. Er wurde aus Portugal verbannt, geriet in sarazenische Gefangenschaft, und wagte dann nicht mehr, nach Portugal zurückzukehren. Ein Nachtrag der Pönitentiarie zieht die Linie dieses unerfreulichen Lebens nun in überraschender Weise weiter aus: der Fall sei an den Beichtvater der Kaiserin zu überweisen (et committatur confessori imperatricis: also Eleonore von Portugal, die ein Jahr zuvor Kaiser Friedrich III. geheiratet hatte), denn in deren Dienst wolle der Petent treten.34 Aus den Kerkern des Maghreb nach Wiener Neustadt! (falls ihm das wirklich gelungen ist).

33 Wortlaut in Jørgensen u. Saletnich (Anm. 4), S. 110f., 175f.; Esch (Anm. 1), S. 113–115. 34 Esch (Anm. 1), S. 117f.





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Auch über Handel und Umgang mit den Muslimen diesseits des Meeres, im Süden der Iberischen Halbinsel, erfahren wir aus diesen Gesuchen, denn das päpstliche Embargo galt natürlich auch dort – und Granada war noch nicht erobert. Der Handel, der da vor unsere Augen tritt, ist überwiegend alltäglicher Nahhandel, sozusagen kleiner Grenzverkehr.35 Die hier überlieferten Fälle können wieder nur einen Bruchteil des tatsächlich stattgefundenen Austauschs darstellen. Fast immer sind es Männer aus den (dem geschrumpften Emirat Granada benachbarten) Städten oder ganze Ortschaften nahe der Grenze, die etwa bei Hungersnot Getreide gegen Tuche und Waffen getauscht hatten. Der Austausch kleiner Gefälligkeiten über die Grenze hinweg tritt in der narratio eines Mannes hervor, der bei einer Jagd auf maurischem Gebiet (infra limites Sarracenorum) von einem Mauren Brot und Gerste erhielt und ihm dafür, nach Hause begleitet, daheim Öl gab.36 Auf einen kleineren Maßstab als in dieser Szene lässt sich das Thema „Umgang zwischen Christen und Muslimen“ nicht reduzieren: aber sie sollte uns nicht zu klein sein – vorausgesetzt, dass wir sie in einen größeren Rahmen einfügen. Manche führten ein Leben zwischen den Fronten (oder den Kulturen) und zogen daraus auch Profit. Ein Mann, nun Kleriker der Diözese Cartagena, war in seiner Jugend Waffenträger eines mit den Muslimen verbündeten christlichen Ritters – also auch im Kampf gegen Christen – gewesen, und hatte später (den Christen abgewonnene) Beute an die Muslime und an christliche Lieferanten der Muslime verkauft.37 Also wieder solch ein Fall inniger Verschränkung: nicht die einen hier, die anderen da ihre Auffassung von Gott bekennend oder kontrovers diskutierend, sondern mittelmeerischer Alltag in allen denkbaren Konfigurationen. Der Handel war freilich nur die eine Seite des Umgangs zwischen Christen und Muslimen im Mittelmeerraum. Die andere Seite war der Seekrieg, vor allem der alltägliche Seeraub.38 Auch diese Seite, Piraterie und Korsarentum, erscheint in den Akten der Pönitentiarie in zahlreichen Episoden, zumal Piraterie dem christlichen Seemann auch nach kirchlichem Recht grundsätzlich untersagt war. Dass es der christliche und nicht der muslimische Seeraub ist, der in diesen Bitten um Absolution hervortritt, liegt in der Natur der Sache. Nun wäre es naiv anzunehmen, der christliche Pirat habe es auf muslimische Schiffe und der muslimische Pirat auf christliche Schiffe abgesehen. Piraten machen keine konfessionellen Unterschiede, insofern gehören Piraten-Gesuche auch zu unserem Thema. In seiner Jugend, so bekennt ein Mann aus der Diözese Pamplona, habe er ein Schiff ausgerüs-

35 Zum Handel zwischen Christen und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel und zu den Mudejaren zuletzt Concepción Villanueva Morte, El mundo mudéjar y el comercio terrestre entre los reinos de Aragón y Valencia en el siglo XV, in: Cavaciocchi (Anm. 8), S. 97–120, und Manuel G. Ruzafa García, in: ebd., S. 325–338. 36 Esch (Anm. 1), S. 119. 37 Ebd., S. 121. 38 Jacques Heers, I Barbareschi. Corsari del Mediterraneo, Rom 2003.



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tet und sei „als Pirat mehrmals sowohl gegen Christen wie gegen Ungläubige gefahren“. Er habe, bekennt ein anderer, als er mit weiteren Genossen auf See „als Pirat nacheinander auf zwei nãos und dann auf einer Galeere gefahren sei“ (man beachte die Unterscheidung der Schiffstypen: Rundschiff und Langschiff), Christen wie Sarazenen verwundet, getötet, beraubt. Aber auch als Pirat konnte man mit den Muslimen ins Geschäft kommen: „auf Piratenschiffen“ hatte ein Korse Sarazenen ein kleines Korallenfischer-Schiff verkauft, unam navem parvam ad piscandum corallum.39 Bisher war vom westlichen Mittelmeer-Raum die Rede. Endlich noch ein Blick auf das Verhältnis von Christen und Muslimen im östlichen Mittelmeer-Becken. Beide Räume getrennt zu behandeln hat seinen Sinn einmal darin, dass im Sprachgebrauch der Pönitentiarie-Gesuche beide Bereiche tatsächlich einigermaßen getrennt bleiben: Saraceni sind die berberischen Muslime des westlichen Mittelmeerraums, Turci sind hingegen die osmanischen Türken des östlichen Mittelmeerraums. Vor allem aber hat die Konfrontation zwischen Christen und Muslimen in beiden Zonen damals ganz unterschiedliche Züge, wie auch die Gesuche selbst schon ver­ raten. Während die Muslime des Westens weit überwiegend als Handelspartner erscheinen und, seit der Auflösung des Almohadenreiches um die Mitte des 13. Jahrhunderts ohne staatliche Einheit, in Abwehr der die ‚Reconquista‘ vollendenden Portugiesen und Spanier militärisch eher in der Defensive sind, treten die Türken als mächtige, angriffslustige Gegner auf, haben die Suppliken aus diesem Raum Episoden zum Inhalt, in denen mit Grauen vom aggressiven Vordringen einer kompakten Macht die Rede ist: eben der osmanischen Türken.40 Wenn im Westen den Muslimen das afrikanische Ceuta, endlich Granada genommen wird und im Osten den Christen Konstantinopel, Serbien, Albanien, dann soll sich das wohl auch in der Stimmung bescheidener Berichte noch niederschlagen. Ein Problem stellte die durch den raschen türkischen Vormarsch entstandene Gemengelage auf dem Balkan dar (die es so im Maghreb natürlich nicht gab): Wenn man etwa von der Insel Korçula Wein in türkisch besetztes Gebiet, aber an Christen lieferte, sollte dann auch da das Embargo gelten? Die Pönitentiarie behandelte diesen Fall drei Tage bevor die Nachricht von der Eroberung Konstantinopels in Rom eintraf!41 Unter den gelieferten Embargo-Gütern wird mehrmals Stahl genannt. Ganz ungewöhnlich sind die Nachrichten von direkten türkischen Waffeneinkäufen in Mailand. Ein Mailänder Waffenhändler berichtet von einer solchen Begegnung, die zu einem Großauftrag führte:

39 Die Nachweise bei Esch (Anm. 1), S. 123. 40 Eine Arbeit über die Türken-Betreffe der Pönitentiarie-Suppliken jetzt in Esch, Lebenswelt (Anm. 3), S. 323–341. Zum historischen Rahmen weiterhin Franz Babinger, Mehmed der Eroberer und seine Zeit, München 1953. 41 Arnold Esch, 29 giugno 1453. La notizia della caduta di Costantinopoli arriva a Venezia, in: Uwe Israel (Hg.), Venezia. I giorni della storia, Rom, Venedig 2011, S. 123–145, hier S. 139.





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Da kam ein Ungläubiger in seinen Laden. Aber [der Waffenhändler] wusste nicht, dass er einen Nichtchristen vor sich habe, verkaufte ihm einen Harnisch oder Panzerhemd und machte mit ihm den Kauf von weiteren 25 Harnischen oder Panzerhemden aus. Als der fortgegangen war, kam ihm nach einer gewissen Zeit zu Ohren, dass der Käufer ein Ungläubiger sei.42

Natürlich hatte sich bei den Türken längst herumgesprochen, dass man Waffen am besten dort kaufte, im Metallindustriegebiet Mailand – Bergamo – Brescia. Von dort (und aus Deutschland) kamen damals auch die meisten Waffen nach Rom hinein. Doch ist es vor allem der Krieg, der Abwehrkampf gegen die Türken, wovon die Gesuche an den Papst in Einzelschicksalen berichten: spontaner Aufbruch, schwieriger Weg an die Front, Belagerung, Gemetzel, Gefangenschaft, erzwungene Konversion... All das wird hier aus persönlicher Erfahrung angeführt, wenn das Erlebnis irgendein Element enthält, das man zu eigener Rechtfertigung Rom glaubt vorlegen zu müssen. Das Vordringen der Türken auf dem Balkan ist bereits in vollem Gang, als unsere Überlieferung 1439 einsetzt. Zahlreiche Gesuche berichten persönliche Details aus den Kämpfen vor allem in Ungarn, Kroatien, Serbien. Sogar die Eroberung von Konstantinopel selbst kommt vor: Ein genuesischer Kaufmann tut in den Schrecken von Eroberung und Gefangennahme das Gelübde, Mönch zu werden, möchte davon aber nun gelöst sein.43 Das Sklavenschicksal, das deportierte Gefangene auf türkischer Seite erwartete, konnte man auch von christlicher Hand erleiden – aber die Pönitentiarie erreichte es nur, wenn Christen Christen versklavten. So hatte ein adeliger Albaner einen Christen an die Türken verkauft; ja der Johanniter-Großmeister Battista Orsini hatte einem Johanniter-Komtur einen Türken als Sklaven geschenkt, der mit anderen aus der Türkei geflohen, zum christlichen Glauben übergetreten war, dann aber wegen einiger Missetaten zum Sklaven gemacht, verschenkt und dann weiterverkauft worden war.44 Dem Eroberer von Konstantinopel, Mehmed II., waren auf dem Balkan inzwischen zwei große Gegner erstanden, Hunyadi und Skanderbeg, und die taten mehr als Papst und Kaiser zusammen.45 Der spontane Zulauf war gewaltig, und diese Spontaneität der Türkenkreuzzüge hatte ihre organisatorischen Probleme, von denen wir vor allem aus diesen Gesuchen erfahren. Ein Beispiel: Zwei Nürnberger Mönche nahmen, wohl unter dem Eindruck einer Kreuzzugspredigt,

42 Pen. Ap., reg. 5, fol. 31r: quod ille cui vendiderat illam coratiam sive loricam esset infidelis (1455). 43 Pen. Ap., reg. 5, fol. 265v (1456). 44  Pen. Ap., reg. 5, fol. 108v (1455); reg. 25, fol. 84v (1477). 45 János Hunyadi (ca. 1408–1456), Wojwode von Siebenbürgen und Reichsverweser für den unmündigen ungarischen König. Georg Kastriota, genannt Skanderbeg (ca.  1405–1468), aufgewachsen als Geisel am türkischen Hof, von seiner Bergfestung Kruja (nördlich Tirana) 25 Jahre lang den Türken erfolgreich widerstehend; siehe zuletzt Oliver J. Schmitt, Skanderbeg. Der neue Alexander auf dem Balkan, Regensburg 2009.



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in Nürnberg das Kreuz und wollten persönlich in den Kampf gegen Türken und Ungläubige ziehen. So begaben sie sich auf eigene Kosten nach Ungarn, aber dort fanden sie niemanden, der sie in den Kampf gegen die Ungläubigen geführt hätte, und als ihre Mittel aufgebraucht waren, kehrten sie um46

– es war eben kein Heer da, dem sie sich hätten anschließen können: Das kurz darauf von János Hunyadi vor das belagerte Belgrad geführte Heer hatte sich noch nicht gebildet, selbst im gutinformierten Nürnberg wusste man es so genau nicht. Oder ein französischer Priester wollte den Türkenfeldzug mitmachen – aber das Schiff war schon voll: Neulich kam er, als Kreuzfahrer gegen die Türken, an die provençalische Küste. Aber er konnte das Schiff oder die Barke wegen der Menge an Leuten nicht betreten: der Schiffer sagte ihm, das Schiff sei überladen (quod navis nimium honerata esset), und er könne ihn keinesfalls mehr aufnehmen.47

Auch er musste sich von seinem Kreuzzugsgelübde lösen lassen, darum sein Gesuch. Allein in den zehn Tagen zwischen dem 24. Januar und dem 2. Februar 1456 werden vier solcher Anträge bewilligt: Indiz für den großen Zulauf solcher Türkenkriegsaufrufe – von der Ablasspredigt gleich an die Front, waffenlos und unausgebildet, den professionellen Militärs gewiss ein Greuel. Dann erreichen die Türkeneinfälle – noch zu Lebzeiten des Eroberers von Konstantinopel! – auch Slowenien, das Veneto, die Steiermark; ja in Süditalien wird überraschend Otranto erobert.48 (Die dabei Getöteten als Märtyrer seligzusprechen stand auf der Tagesordnung des Konsistoriums jetzt vom 11. Februar 2013, auf dem Papst Benedikt  XVI. überraschend seinen Rücktritt erklärte.) Gleichzeitig, 1480, wird die Johanniterfestung Rhodos belagert: Ein Johanniterbruder erzählt, wie er in Rhodos als Artilleriebeobachter auf einem Turm postiert war, der dann durch einen türkischen Treffer über ihm zusammenkrachte, wobei er ein Auge verlor – ein Priester muss aber unversehrten Leibes sein, darum sein Gesuch.49 Diese Belagerung, 1480, konnten die Johanniter gerade noch durchstehen, die nächste nicht mehr – und so werden aus den Johannitern Malteser. Im Zusammenhang mit diesen Türkenkriegen ist immer wieder von Konversionen zum Islam die Rede, die in den Gesuchen meist als erzwungen dargestellt werden und es gewiss oft auch waren (doch schildert ein Georg von Ungarn in seinem eindrucksvollen Bericht über seine türkische Gefangenschaft, in der er zeitweilig einen freundlichen Moslem als Herrn hatte, äußerst eindringlich, wie sich auch ohne direkten

46 Repertorium Poenitentiariae Germanicum (Anm. 3), Bd. 3, Nr. 296 (1456). 47   Pen. Ap., reg. 5, fol. 19r (1455). 48 Zuletzt Hubert Houben (Hg.), La conquista turca di Otranto tra storia e mito, Galatina 2008. 49 Pen. Ap., reg. 30, fol. 13v (1481).





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Zwang die Versuchung des Übertritts zum Islam in das Gemüt des Gefangenen einschleichen konnte!).50 In Gefangenschaft verleugnen ihren christlichen Glauben und konvertieren zum Islam ganz unterschiedliche Personen, die sich nun reumütig an Rom wenden. Interessant die Fälle, bei denen nicht ausdrücklich (oder ausdrücklich nicht) von Gefangenschaft und Konversion unter Zwang die Rede ist. Ein Venezianer bekennt, dass er einst, als er 13 Jahre alt war, aus Verzweiflung [oder jugendlicher Orientierungskrise, oder wie immer man ex desperatione bei einem Dreizehnjährigen übersetzen will] seinem Glauben in die Hände der Türken absagte und den schlimmen sarazenischen Glauben annahm. Vier Jahre lang blieb er unter ihnen bei diesem Ritus und betete ihr Idol an51

– bei einer bilderlosen Religion ist das nicht gerade eine gute Umschreibung. Eine letzte Beobachtung. Bei aller Reichhaltigkeit dieser Quelle sei ihr Wert im Kontext der Thematik dieses Symposiums doch auch nicht überschätzt. Ich weiß einen Text, der „den Koran durchsiebt“ wie die Cribratio Alcorani des Cusanus, in seinem Rang von diesen kleinen Suppliken wohl zu unterscheiden. Deren Würde liegt darin, dass sie große Probleme in den kleinen Alltag hinunterführen, in die bange Frage des Einzelnen, wie er sich in dieser konkreten Situation richtig hätte verhalten sollen – dass sie große Geschichte aus der niedrigen Augenhöhe gewöhnlicher Menschen sehen lassen. Und diese gewöhnlichen Menschen sind wir.

50 Georgius de Hungaria, Tractatus de moribus, condictionibus et nequicia Turcorum, hrsg. v. Reinhard Klockow (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 15), Köln, Weimar, Wien 1994. 51 Pen. Ap., reg. 20, fol. 180r (1472).



Peter Walter (Freiburg i. Br.)

Muss(te) Raimundus Lullus scheitern? Die Möglichkeiten des Religionsdialogs damals und heute Abstract: Der katalanische Religionsphilosoph Raimundus Lullus (um 1232–1316) gilt zu Recht als ein Protagonist des interreligiösen Dialogs, auch wenn er im heutigen Diskurs kaum genannt wird. Im Hinblick auf diesen Dialog, vor allem mit Vertretern des Islam und des Judentums, hat er eine eigene Methode entwickelt, die er ars (Kunst) nannte. Mittels dieser wollte er seine Gesprächspartner mit rein rationalen Argumenten von der Wahrheit des christlichen Glaubens überzeugen. Im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossen, die Dialoge zwischen Vertretern der genannten drei Religionen schrieben, hat Lull auf Reisen in die arabische Welt rund um das Mittelmeer den direkten Kontakt mit Muslimen gesucht und ist in Diskussionen mit ihnen eingetreten. Von einer Hinwendung seiner Gesprächspartner zum christlichen Glauben ist allerdings nichts überliefert. Wenn er in seiner letzten Phase gar für einen Kreuzzug eingetreten ist, scheint er seine Grundüberzeugung aufgegeben und statt rationaler Argumente den Einsatz von Gewalt propagiert zu haben. Bei näherem Hinsehen wird freilich deutlich, dass Lull den Kreuzzug nicht als Ersatz für den Austausch von Argumenten, sondern als Voraussetzung dafür betrachtete, durch die erneute Präsenz des Christentums in der muslimischen Welt einen Dialog überhaupt erst zu ermöglichen. Auch seine ars kam über Achtungserfolge bei ,Außenseitern‘ der Philosophie- und Theologiegeschichte nicht hinaus. Gleichwohl hat Lull mit seinem Modell eines friedlichen, vernunftgeleiteten Dialogs zwischen den Religionen Maßstäbe gesetzt, die auch in der Gegenwart noch Anregungen bieten. Die Subsumierung der drei großen monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam unter das Stichwort ,abrahamitische Religionen‘ ist relativ jung. Das lässt sich etwa ablesen an den in den letzten Jahren erschienenen theologischen Lexika. Während die dritte Auflage des ,katholischen‘ ,Lexikons für Theologie und Kirche‘ das Lemma „Abrahamitische Religionen“ in dem 1993 erschienenen ersten Band noch vermissen lässt, bietet die vierte Auflage des ,evangelischen‘ Pendants ,Religion in Geschichte und Gegenwart‘ in dem fünf Jahre später herausgekommenen ersten Band immerhin ein kurzes Stichwort, das sich mehr oder weniger auf eine Definition beschränkt: „A[brahamitische Religionen] sind die monotheistischen Religionen, die sich auf Abraham berufen: Judentum, Christentum und Islam. Diese stritten sich über ihn […], dennoch könnte er eine Brücke zwischen ihnen bilden.“1 Daraufhin

1 Adel Theodor Khoury, Abrahamitische Religionen, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl. Bd. 1 (1998), Sp. 78.



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hat das ,Lexikon für Theologie und Kirche‘ in dem 2001 erschienenen Registerband, der auch einige neue Stichworte enthält, nachgezogen.2 Hier findet sich ein etwas umfangreicherer Artikel von der Länge einer halben Spalte, der vor allem auch die Bezugnahme auf und die Deutung von Abraham durch die Muslime herausstellt. Verfasst hat beide Artikel der aus dem Libanon stammende Religionswissenschaftler Adel Theodor Khoury, der lange Jahre an der Katholisch-theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster lehrte und unter anderem durch eine deutsche Übersetzung des Korans hervorgetreten ist.3 Auch in dem umfang­ reicheren Artikel äußert Khoury die Hoffnung, dass Abraham eine Brücke zwischen den Religionen bilden könnte, die sich auf ihn berufen.4 Zu verdanken ist diese Ent­ deckung der ,abrahamitischen Ökumene‘ Büchern wie dem mittlerweile in zahlreichen Auflagen erschienenen Werk von Karl-Josef Kuschel ,Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint‘.5 Bei dem mallorquinischen Religionsphilosophen Ramon Lull (um 1232–1316)6, der an der Wende vom 13.  zum 14.  Jahrhundert so etwas wie einen interreligiösen Dialog zwischen den heute so genannten abrahamitischen Religionen propagierte und selber führte, kommt der Namensgeber Abraham eher nur am Rande vor. Man findet bei Lull die auf den Kirchenvater Ambrosius von Mailand (333/334–397) zurückgehende Kurzzusammenfassung der Begegnung Abrahams mit dem dreieinen Gott bei den Eichen von Mamre (Gn 18,2): [Abraham] uidit tres, et adorauit unum,7 und

2 Ders., Abrahamitische Religionen, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl. Bd. 11 (2001), Sp. 1. 3 Vgl. Der Koran, übers. v. Adel Theodor Khoury, unter Mitwirkung von Muhammad Salim Abdullah, 4. Aufl. Gütersloh 2007. 4 Vgl. Khoury (Anm. 2). 5 Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint [1994], 6. Aufl. Düsseldorf 2006. Zum Hintergrund vgl. das Vorwort zur Neuausgabe: „Auf dem Weg zu einer Ökumene der Kinder Abrahams“ (ebd., S. 11–24). Lull sucht man in diesem Werk leider vergeblich. 6 Zu Leben, Werk und Denken Lulls vgl. Alexander Fidora u. Josep E. Rubio (Hgg.), Raimundus Lullus. An Introduction to his Life, Works and Thought (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis 214), Turnhout 2008. Lulls lateinische Werke werden im Folgenden zitiert nach der vom Freiburger Raimundus-Lullus-Institut veranstalteten Ausgabe mit Angabe des jeweiligen Editors: Raimundi Lulli Opera Latina (abgekürzt: ROL), Bde. 1–5, Palma de Mallorca 1959–1967, danach in der Reihe ,Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis‘, Turnhout 1975ff. 7 Raimundus Lullus, Liber de fine, in: ders., Op. 120–122: In Monte Pessulano anno 1305 composita, hrsg. v. Alois Madre (ROL 9), Turnhout 1981, S. 233–291, hier S. 258, Z. 251f. (I 3); ders., Liber prae­ dicationis contra Iudaeos, in: ders., Op. 123-127: Barcinone, in Monte Pessulano annis 1308–1309 composita, hrsg. v. Alois Madre (ROL 12), Turnhout 1984, S. 1–78, hier S. 18f. (4). Bei Ambrosius findet sich die Formulierung: Tres uidit unum adorauit; Belege bei Christoph Markschies, Ambrosius von Mailand und die Trinitätstheologie. Kirchen- und theologiegeschichtliche Studien zu Antiarianismus und Neunizänismus bei Ambrosius und im lateinischen Westen (364–381 n. Chr.) (Beiträge zur Historischen Theologie 90), Tübingen 1995, S. 101 mit Anm. 96. Nicht zuletzt durch die Aufnahme in die



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die christologische Deutung der Verschonung Isaaks (Gn 22).8 Am nächsten kommt Lull einem heutigen Verständnis vom Ursprung der monotheistischen Religionen im Glauben Abrahams, wenn er die biblische Aussage vom „Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs“ (Ex 3,6; 3,15f.) dahingehend deutet, dass der Gott Abrahams der Vater Jesu Christi sei, der sich in der Hingabe seines Sohnes und in der Sendung des Heiligen Geistes fortschreitend als der Dreieine offenbart habe.9 Am existenziellsten wird es, wenn Lull in einer entscheidenden Krise seines Lebens mit Abraham verglichen wird, der gegen alle Hoffnung voll Hoffnung geglaubt habe.10 Damit sind wir beim Leben Lulls angekommen, das wir uns im Hinblick auf die ihn bewegenden Ziele hin vergegenwärtigen wollen.

Lulls Ziele Ramon Lull, latinisiert: Raimundus Lullus, wurde, kurz nachdem König Jaume I. von Aragón (1208–1276) Mallorca 1229 von den Sarazenen zurückerobert hatte, in Palma de Mallorca geboren. Er stand im Dienst dieses Königs, war verheiratet und Vater von zwei Kindern, als er sein Leben in eine überraschende Richtung gewiesen sah. In seiner 1311 mit Hilfe eines Mönchs der Kartause Vauvert bei Paris verfassten Autobiographie, der ,Vita coaetanea‘,11 begründet Lull seine Bekehrung mit einer Vision: Als

,Glossa Ordinaria‘ zu Gen 18,2f. wurde dieses Wort Gemeingut, vgl. Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 113, Sp. 125D. 8 Vgl. Raimundus Lullus, Liber praedicationis (Anm. 7), S. 56, Z. 576f. (35); ders., De doctrina puerili, in: ders., Op. 7–9: Annis 1274–1276 composita, hrsg. v. Jaume Medina (ROL 33), Turnhout 2009, S. 52– 561, hier S. 534f. (XCVII 7). Die Verschonung Isaaks ist nach Lull auch eine Begründung für das islamische Opferfest. Vgl. Raimundus Lullus, Liber disputationis Raimundi Christiani et Homeri ­Saraceni, in: ders., Op. 130–133: In Monte Pessulano et Pisis anno 1308 composita, hrsg. v. Alois Madre (ROL 22), Turnhout 1998, S. 159–264, hier S. 247, Z. 42f. (II 2, 2, 4). Aus der reichen Literatur zum Opfer Abrahams bzw. zur Verschonung Isaaks sei nur der interdisziplinäre Band genannt: Helmut Hoping (Hg.), Die Bindung Isaaks. Stimme, Schrift, Bild, Paderborn u. a. 2009. 9 Vgl. Raimundus Lullus, Liber praedicationis (Anm. 7), S. 56f. (35). 10 Raimundus Lullus, Vita coaetanea, in: ders., Op. 178–189: Parisiis anno 1311 composita, hrsg. v. Hermogenes Harada (ROL 8), Turnhout 1980, S. 259–309, hier S. 288, Z. 346 (24): Abraham patriarcha ‚contra spem‘ olim ‚in spem credidit‘. Das in ‚ ‘ gesetzte Zitat ist Röm 4,18 entnommen. 11 Vgl. Raimundus Lullus, Vita coaetanea (Anm. 10), S. 259–309. Bislang existiert nur eine vor dieser kritischen Edition angefertigte deutsche Übersetzung: Das Leben des seligen Raimund Lull. Die „Vita coëtanea“ und ausgewählte Texte zum Leben Lulls aus seinen Werken und Zeitdokumenten, übers. u. eingel. v. Erhard-W. Platzeck, Düsseldorf 1964. Vgl. auch die kostbaren Illustrationen der Haupt­stationen von Lulls Vita in der von einem Schüler Lulls zusammengestellten Kurzfassung seiner Lehre, deren ursprünglich für die französische Königin angefertigte Handschrift sich heute in Karlsruhe befindet: Raimundus Lullus – Thomas Le Myésier, Electorium parvum seu Breviculum. Vollständiges Faksimile der Handschrift St. Peter perg. 92 der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, 2 Bde., hrsg. v. Gerhard Römer u. Gerhard Stamm, Wiesbaden 1988.





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er mit etwa dreißig Jahren ein Liebeslied für eine Dame verfasste, die nicht seine Frau war, erschien ihm der Gekreuzigte. Dies wiederholte sich immer, wenn er daran weiter schreiben wollte – insgesamt fünfmal. Er sah sich dadurch nicht nur von seinem sündhaften Vorhaben abgebracht, sondern in den Dienst Christi gerufen, um „das beste Buch der Welt zur Widerlegung der Irrtümer der Ungläubigen“12 zu verfassen. Die Ungläubigen (infideles) sind bei Lull die Angehörigen der beiden anderen abrahamitischen Religionen, während er die Christen als Gläubige (fideles) bezeichnet.13 Von diesen beiden Gruppen unterscheidet er die gentiles, die weder an Gott noch an die Auferstehung glauben. Um die „Irrtümer der Ungläubigen“ zu wider­legen, musste Lull nicht weit fahren, Gelegenheit dazu hatte er auf seiner Heimat­insel Mallorca mit ihrer großen muslimischen Bevölkerung von etwa 40 % und einer kleinen jüdischen Minderheit genug.14 Lull hatte zunächst geglaubt, seinen Christusdienst mit seinem bisherigen Leben vereinbaren zu können. Doch bei dem auf die Christusvisionen folgenden Fest des heiligen Franziskus ging ihm während der Predigt in der Franziskanerkirche von Palma auf, er müsse wie der poverello von Assisi alles verlassen. Daraufhin verkaufte er seinen Besitz – bis auf einen für den Lebensunterhalt seiner Frau und seiner Kinder notwendigen Teil – und begab sich auf Pilgerfahrt, um Gott und die Heiligen um ihren Segen zu bitten. Seine Neuorientierung fand ihren äußeren Ausdruck in der Vertauschung seiner bisherigen höfischen Kleidung gegen ein schlichtes Gewand aus grobem Stoff. Lulls durch die Christusvision ausgelöste Lebenswende ereignete sich möglicherweise 1263, als in Barcelona die berühmte Disputation zwischen dem jüdischen Gelehrten Moses Nachmanides (um 1194–um 1270) und dem vom Judentum zum Christentum konvertierten Dominikaner Paulus Christiani (†  1274) stattfand.15 Vielleicht hat dieses Ereignis zu Lulls Bekehrung und zu seinem dabei gefassten Entschluss beigetragen. Lulls Zielrichtung war zwar nicht primär die Judenmission, sondern die Bekehrung der „Sarazenen“, aber der missionarische Impetus wie die dialogische Vorgehensweise verbanden ihn mit den Dominikanern. Sie wie er haben die Disputation als an der Universität etablierte Form der öffentlichen, methodisch kontrollierten Auseinandersetzung als Missionsmethode favorisiert.

12 Raimundus Lullus, Vita coaetanea (Anm. 10), S. 275: [...] unum librum, meliorem de mundo, contra errores infidelium [...]. Diese und die folgenden Übersetzungen aus diesem Werk stammen von mir. 13 Vgl. Raimundus Lullus, Liber de Deo maiore et Deo minore, in: ders., Op. 213–239: Opera messanensia anno 1313 composita, hrsg. v. Johannes Stöhr (ROL 1), Turnhout 1959, S. 485–503, hier S. 489. 14 Vgl. dazu Eusebi Colomer, La actitud compleja y ambivalente de Ramon Llull ante el judísmo y el islamismo, in: Fernando Domínguez u. Jaime de Salas (Hgg.), Constantes y fragmentos del pensamiento luliano. Actas del simposio sobre Ramon Llull en Trujillo, 17–20 septiembre 1994 (Beihefte zur Iberoromania 12), Tübingen 1996, S. 77–90, hier S. 81. 15 Vgl. Hans-Georg von Mutius, Die christlich-jüdische Zwangsdisputation zu Barcelona. Nach dem hebräischen Protokoll des Moses Nachmanides (Judentum und Umwelt 5), Frankfurt a. M. u. a. 1982; Robert Chazan, Barcelona and beyond. The Disputation of 1263 and its aftermath, Berkeley u. a. 1992.



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Der entscheidende Unterschied zwischen dem Konzept der Dominikaner und demjenigen Lulls bestand darin, dass jene sich mit ihren Gesprächspartnern über die Auslegung der von beiden Seiten als grundlegend anerkannten Heiligen Schrift, d. h. des von den Christen so genannten Alten Testaments, stritten, mithin Autoritätsargumente einsetzten, während Lull allgemein einsehbare Vernunftgründe für die Wahrheit des christlichen Glaubens vorzubringen beanspruchte. Die Disputation mit Muslimen konnte ja von keiner gemeinsamen Autoritätsbasis ausgehen, sondern musste Vernunftargumente bemühen, wie auch die ,Summa contra gentiles‘ des Dominikaners Thomas von Aquin (1224/25–1274) zeigt.16 Diese ist jedoch wohl weniger an Muslime selbst gerichtet als an diejenigen seiner „dominikanischen Mitbrüder, die mit der Philosophie des Aristoteles und der arabischen Interpreten des Aristoteles wie Avicenna und Averroes bereits vertraut waren, um ihnen eine Darstellung der christlichen Glaubenslehre im Horizont eines interkulturellen Religionsgesprächs an die Hand zu geben.“17 Lull berief sich zur Begründung immer wieder auf das Beispiel eines Königs der Sarazenen, dem ein christlicher Missionar, nachdem er jenen mit rationalen Gründen von der Falschheit seines Glaubens überzeugt hatte, solche Gründe für den christlichen Glauben verweigerte mit der Forderung, diesen müsse er eben glaubend akzeptieren, woraufhin der König ihn getadelt und aus seinem Reich verwiesen habe: Er sei Moslem gewesen, nun sei er weder Moslem noch Christ.18 Den Plan, sich an der Universität Paris die für seine Aufgabe nötige Bildung zu erwerben, gab Lull auf und widmete sich in seiner Heimat dem Erlernen des Arabischen mit Hilfe eines muttersprachlichen Sklaven, um sich so auf die Mission unter den Muslimen vorzubereiten. Zugleich hat er als Autodidakt ein umfangreiches Lek­ türeprogramm absolviert: Neben Bibel, Koran und Talmud hat er hauptsächlich Platon und Aristoteles sowie den persischen Philosophen al-Ghazzali (1058–1111) studiert. Insgesamt ist Lull vor allem in der ,augustinischen Tradition‘ beheimatet, wie sie durch Anselm von Canterbury (1033/34–1109), die Viktoriner (12. Jahrhundert) oder Bonaventura (1217–1274) repräsentiert wird, auch wenn bei ihm kaum ausdrückliche Zitate aus deren Werken begegnen.19

16 Vgl. Jean-Pierre Torrell, Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg u. a. 1995, S. 123–125. 17 Matthias Lutz-Bachmann, Rationalität und Religion. Der Beitrag des Thomas von Aquin zu einer rationalen Grundlegung des Religionsdialogs in der Summa contra gentiles, in: ders. u. Alexander Fidora (Hgg.), Juden, Christen und Muslime. Religionsdialoge im Mittelalter, Darmstadt 2004, S. 96– 118, hier S. 99. 18 Vgl. etwa Raimundus Lullus, Disputatio fidei et intellectus, in: ders., Op. 101–105: Ianuae et in Monte Pessulano anno 1303 composita, hrsg. v. Walter Euler (ROL 23), Turnhout 1998, S. 213–279, hier S. 226 (I 1). Vgl. dazu Matteo Vinti, Faccia a faccia tra fede e intelletto. Introduzione e commento alla Disputatio fidei et intellectus di Ramón Llull, Cagliari 2012. 19 Vgl. Robert Pring-Mill, Der Mikrokosmos Ramon Llulls. Eine Einführung in das mittelalterliche Weltbild (Clavis Pansophiae 9), Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 93–105.





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Um 1274 wurde Lull schließlich auf dem nahe bei Palma gelegenen Berg Randa, wohin er sich zur Betrachtung zurückgezogen hatte, nach eigenem Bekunden durch göttliche Erleuchtung die Art und Weise deutlich, in der er das geplante Buch gegen die ,Irrtümer der Ungläubigen‘ schreiben soll. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die ars (Kunst), wie Lull seine Methode nennen wird, sogleich ihre unverrückbar feste Gestalt gefunden hätte. Vielmehr lässt sich durchaus eine Entwicklung beobachten, die auf die Reduktion von deren Komplexität abzielte. Hatte Lull seine ars nach ersten noch tastenden Versuchen zunächst auf die Zahl Vier gegründet (quaternäre Phase), trat später die Zahl Drei an deren Stelle (ternäre Phase).20 Indem Lull den Begriff ars favorisierte, knüpfte er bewusst oder unbewusst an ein älteres Wissenschaftsideal an. Im 12. Jahrhundert wurde dieser Begriff, etwa bei Hugo von St.  Viktor (um 1096–1141), als Oberbegriff für die unterschiedlichsten Wissensgebiete, einschließlich der sogenannten „mechanischen Künste“, verwendet. Unter dem Einfluss der aristotelischen Wissenschaftstheorie wurde er im 13. Jahrhundert immer stärker auf den Bereich der Propädeutik zu den höheren Wissenschaften eingeschränkt. Lull erhob jedoch keinen geringeren Anspruch, als in seiner ars eine „allgemeine Wissenschaft“ (ars generalis) für alle anderen Wissenschaften formuliert zu haben, in deren allgemeinen Prinzipien die Prinzipien aller Wissenschaften enthalten sind wie das Besondere im Allgemeinen.21 Um die Fruchtbarkeit seiner ars zu zeigen, hat Lull unermüdlich publiziert und sich dabei unterschiedlicher literarischer Gattungen – von der Abhandlung über den Dialog bis hin zu Roman und Gedicht – und verschiedener Sprachen – Katalanisch, Lateinisch und Arabisch – bedient. Insgesamt etwa 280 Werke sind auf diese Weise entstanden, von denen der größte Teil erhalten ist; die arabisch geschriebenen Werke gelten jedoch als verschollen.22 Der ,mechanische‘ Eindruck, den Lulls Kombinatorik auf den ersten Blick hinterlässt, trügt. Derjenige, der sie gebraucht, gelangt keineswegs automatisch zum Erfolg; die Anstrengung des Denkens wird ihm nicht abgenommen. Die ars ist „keine sterile Wundermaschine, die ihrem Anwender ohne dessen Zutun die Geheimnisse der Wirklichkeit erschließt, wie sie späterhin gern gedeutet wurde, sondern erfordert neben einer gewissen Virtuosität im Umgang mit ihren Prinzipien und Figuren die persönliche geistige Anteilnahme und Anstrengung ihres Anwenders.“23 Diese ars des doctor illuminatus (erleuchteter Lehrer), wie Lull im Mittelalter genannt wurde, sollte weite Kreise ziehen und Lull auf die Dauer mehr Anhänger verschaffen als das ursprünglich damit verbundene Anliegen der Mission.

20 Vgl. Jordi Gayà Estelrich, Raimondo Lullo. Una teologia per la missione (Eredità medievale 2, 20), Mailand 2002, S. 76–79. 21 Vgl. ebd., S. 73–76. 22 Eine Liste mit kurzen Inhaltsangaben findet sich bei Fernando Domínguez, Works, in: Fidora u. Rubio (Anm. 6), S. 125–242. 23 Raimundus Lullus, Ars brevis, übers. u. mit einer Einf. hrsg. v. Alexander Fidora (Philosophische Bibliothek 518), Hamburg 1999, S. xxxf. (Einführung des Hg.).



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Lulls Religionsdialoge: Von der literarischen Fiktion zur Wirklichkeit Lulls Bemühungen um einen Religionsdialog24 seien an drei Beispielen verdeutlicht. Das erste Beispiel eines – fiktiven – Dialogs Lulls mit Vertretern der drei abrahamitischen Religionen ist das 1274–1276 katalanisch verfasste ‚Buch vom Heiden und den drei Weisen‘.25 Lull verfolgt damit die Absicht, „mit Hilfe einer neuen Methode und neuartiger Argumente die Irrenden vom Weg des Irrtums abzubringen, ihnen damit endlose Leiden zu ersparen und sie in die Lage zu versetzen, die Herrlichkeit ohne Ende zu erlangen.“26 Er präsentiert seine „zwingenden Vernunftgründe“ (rahons demostratives e necesaries)27 spielerisch und anschaulich, indem er einen philosophisch gebildeten Heiden, der weder an Gott noch an die Auferstehung glaubt, an einem lieblichen Ort mit je einem gelehrten Vertreter von Judentum, Christentum und Islam zusammentreffen lässt. Sie sehen an einer Quelle fünf Bäume mit beschrifteten Blüten und werden von der schönen Dame ,Intelligenz‘ mit deren Bedeutung vertraut gemacht. Mittels dieses Kunstgriffs veranschaulicht Lull seine Grundannahmen, auf deren Basis er voranschreitet. In den vier Büchern des Werkes wird mit Hilfe von Prinzipien, die von allen Gesprächspartnern anerkannt werden, argumentiert. Im ersten Buch sollen die Existenz Gottes und die Auferstehung der Toten bewiesen werden. Den darin übereinstimmenden Vertretern der drei Religionen gelingt es, mittels ihrer Vernunftgründe den Heiden davon zu überzeugen. Dessen Glück über die so erlangte Zuversicht zerbricht jedoch, als er die Uneinigkeit der drei Weisen in ihren religiösen Auffassungen und Gebräuchen erkennen muss.

24 Aus der Fülle der Literatur sei verwiesen auf Alexander Fidora, Ramon Llull – Universaler Heilswille und universale Vernunft, in: Lutz-Bachmann u. Fidora (Anm.  17), S.  119–135, sowie Anne­ marie C. Mayer, Drei Religionen – ein Gott? Ramon Lulls interreligiöse Diskussion der Eigenschaften Gottes, Freiburg, Basel, Wien 2008. Zum Thema allgemein vgl. neben dem genannten Sammelband von Lutz-Bachmann u. Fidora (Anm. 17) auch Bernard Lewis u. Friedrich Niewöhner (Hgg.), Religionsgespräche im Mittelalter. Vorträge, gehalten anlässlich des 25. Wolfenbütteler Symposions vom 11.–15. Juni 1989 in der Herzog-August-Bibliothek (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 4), Wiesbaden 1992. 25 Ramon Llull, Llibre del gentil e dels tres savis, hrsg. v. Antoni Bonner (Nova Edició de les Obres de Ramon Llull 2), 2. Aufl. Palma de Mallorca 2001; dt. Übers. nach der lateinischen Fassung: Ramon Lull, Das Buch vom Heiden und den drei Weisen, übers. u. hrsg. v. Theodor Pindl (Universal-Bibliothek 9693), Stuttgart 1998. 26 Ramon Llull, Llibre del gentil (Anm. 25), S. 6 (Del Proleg); Übers.: Ramon Lull, Buch vom Heiden (Anm. 25), S. 5. 27 Ramon Llull, Llibre del gentil (Anm. 25), S. 12 (Del Proleg); Übers.: Ramon Lull, Buch vom Heiden (Anm. 25), S. 17. Zu den rationes necessariae vgl. Walter Andreas Euler, Unitas et Pax. Religionsvergleich bei Raimundus Lullus und Nikolaus von Kues (Religionswissenschaftliche Studien 15), 2. Aufl. Würzburg, Altenberge 1995, S. 101–128.





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Die folgenden Bücher sind jeweils der Selbstdarstellung einer der drei Religionen gewidmet. Als Vertreter der ältesten beginnt der Jude, darauf folgen der Christ und der Muslim. Keiner darf den anderen ins Wort fallen, und wenn es dennoch geschieht, wird es von dem Heiden streng unterbunden. Dieser ist nicht nur stummer Zuhörer oder Stichwortgeber, sondern argumentiert kräftig mit, besonders im Gespräch mit dem Muslim. Auch wenn am Ende nicht gesagt wird, welcher der drei Religionen der Heide zuneigt, wird deutlich, welche aus dieser Disputation als die wahre hervorgeht: Die mit dem Christentum nicht übereinstimmenden Auffassungen der übrigen Religionen werden im Verlauf des Dialogs als unhaltbar aufgezeigt, etwa die jüdische Auffassung vom noch ausstehenden Kommen des Messias oder die muslimischen Jenseitsvorstellungen. Während Ersteres durch den Christen geschieht, unternimmt Letzteres der Heide. In beiden Zusammenhängen ist hier auch von Abraham die Rede: Zum einen gehört er nach Lull zu den Propheten, die das Kommen des Messias vorhersagten, und ist einer derjenigen, die der Auferstandene in den Himmel führt.28 Zum andern begegnet er in einer längeren Passage, in der der Sarazene erklärt, dass von Adam über Noah, Abraham, Mose und Jesus Christus keiner fähig war, vor Gott für die Menschen einzutreten, außer Mohammed. Abraham war dazu nicht in der Lage, weil er zweimal gelogen habe.29 Der Heide, wie gesagt, ist es, der die Plausibilität dieser Behauptung bestreitet.30 Dem Christen obliegt es, die Vernunftgemäßheit der Trinität und der Inkarnation darzulegen. Er tut dies zum einen mit Verweis auf Gottes immanente Tätigkeit, die seine Dreieinheit voraussetzt,31 und zum anderen, indem er die Notwendigkeit einer Verbindung von Schöpfer und Geschöpf, und zwar im vornehmsten Geschöpf, dem Menschen, zu beweisen versucht.32 Für Lull ist die Menschwerdung des Sohnes Gottes nicht durch die Sünde bedingt, sondern geschieht zur Vollendung der Schöpfung. Wenn Ersteres der Fall wäre, würde Gott sich ja von einem Geschöpf abhängig machen. Lull propagiert demnach eine Vorstellung, wie sie auch von seinem jüngeren Zeitgenossen Johannes Duns Scotus (1265/1266–1308) und, in Abhängigkeit von Lull, von Nikolaus Cusanus (1401–1464) vertreten wird.

28 Vgl. Ramon Llull, Llibre del gentil (Anm. 25), S. 146f. (III 11 [Flor 4–5]); Übers.: Ramon Lull, Buch vom Heiden (Anm. 25), S. 179. 29 Einmal, indem er seine Frau als seine Schwester ausgegeben habe (vgl. Gn 12,11–20; 20,2–18), zum andern, weil er leugnete, Götterbilder zerstört zu haben (vgl. Koran, Sure 21:51–72). 30 Ramon Llull, Llibre del gentil (Anm. 25), S. 177–182 (IV 8); Übers.: Ramon Lull, Buch vom Heiden (Anm. 25), S. 215–217, 219. Diese Erzählung begegnet mit denselben Personen, aber teilweise etwas anderen ,Vergehen‘ auch in Raimundus Lullus, Liber disputationis (Anm. 8), S. 244f. (II 2, 1, 8). Mög­ licherweise greift Lull hier auf muslimische Quellen zurück. 31 Vgl. Ramon Llull, Llibre del gentil (Anm. 25), S. 104f. (III 2–4 [Flor 17]); Übers.: Ramon Lull, Buch vom Heiden (Anm. 25), S. 129–131. 32 Vgl. Ramon Llull, Llibre del gentil (Anm. 25), S. 117–119 (III 6 [Flor 2]); Übers.: Ramon Lull, Buch vom Heiden (Anm. 25), S. 145f.



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In einen echten Dialog mit Vertretern des Islam, und zwar auf deren eigenem Territorium, einzutreten, fiel Lull überaus schwer. Damit kommen wir zum zweiten Beispiel. Nach vergeblichen Versuchen, die Päpste und die Universität Paris von seiner ars zu überzeugen, plante Lull Anfang der Neunziger Jahre eine Überfahrt nach Nordafrika. In Genua geriet er darüber in eine tiefe Krise, welche in der ,Vita coaetanea‘ mit schonungsloser Offenheit geschildert wird und dort so etwas wie den Dreh- und Angelpunkt der Darstellung bildet.33 In diesem Zusammenhang vergleicht er sich mit Abraham, der gegen alle Hoffnung gehofft habe. Nach Überwindung dieser Krise begab Lull sich im Herbst 1292 auf einer Genueser Barke nach Tunis, wo er mit muslimischen Gelehrten diskutierte. Er kam in keine vollkommen fremde Welt, gab es dort doch Handelsniederlassungen christlicher Seemächte und bestand das Heer des Sultans doch großenteils aus katalanischen Söldnern. Lull begann seine Mission, indem er sich den muslimischen Gelehrten als christlicher Kollege vorstellte und versicherte, sich ihnen anzuschließen, wenn sie ihn mit Gründen zu überzeugen vermöchten. In der ,Vita coaetanea‘ ist die Rede überliefert, die wohl den Kern seiner Argumentation wiedergibt: Für jeden Weisen geziemt es sich, jenen Glauben zu bejahen, der dem ewigen Gott, an den alle Weisen der Welt glauben, die größere Güte, Weisheit, Kraft, Wahrheit, Ehre, Vollkommenheit usw. zuerkennt, und dies alles in größerer Gleichheit und Übereinstimmung. Auch ist jene Glaubensüberzeugung lobenswerter, welche zwischen Gott, der die höchste und erste Ursache ist, und seinen Wirkungen die größere Übereinstimmung bzw. Übereinkunft annimmt.34

Man kann dahinter unschwer das Anselmsche id quo maius cogitari nequit („das, worüber hinaus etwas Größeres nicht gedacht werden kann“) entdecken.35 Darüber hinaus hat Lull einen im Dialog der Religionsvertreter mit dem Heiden noch nicht voll ausgebildeten Gedanken in die Waagschale geworfen: die nähere Bestimmung der Gott immanenten Aktivität mittels der Ternare bonificatiuum, bonificabile, bonificare (gut machend, gut machbar, gut machen) usw. für alle Grundwürden bzw. Eigenschaften Gottes (Güte, Größe, Ewigkeit, Macht, Weisheit, Wille, Tugend, Wahrheit, Herrlichkeit). Mit dieser wohl an arabische Verbformen angelehnten, ungewöhnlichen Terminologie versucht Lull die innere, ewige Aktivität der Grundwürden konsistent zu denken, indem er Subjekt (-tiuum), Objekt (-bile) und den Akt selber (-are) unterscheidet. Grundgelegt ist diese sog. Korrelativenlehre bei Augustinus sowie im mittelalterlichen Augustinismus.36

33 Raimundus Lullus, Vita coaetanea (Anm. 10), S. 284–289 (20–25). Vgl. Fernando Domínguez Reboiras, Idea y estructura de la ‚Vita Raymundi Lulii‘, in: Estudios Lulianos 27 (1987), S.  1–20, hier S. 13f. 34 Raimundus Lullus, Vita coaetanea (Anm. 10), S. 290, Z. 388–394 (26). 35 Vgl. dazu Mayer (Anm. 24), S. 91–99. 36 Vgl. Pring-Mill (Anm. 19), S. 105–118; Jordi Gayà Estelrich, La teoría luliana de los correlativos. Historia de su formación conceptual, Palma de Mallorca 1979.





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Seinen muslimischen Gesprächspartnern hält Lull vor, nur im Hinblick auf die Weisheit und den Willen Gottes eine solche Aktivität anzunehmen. Dies sei, da es einen Unterschied bzw. Widerstreit in die Grundwürden eintrage, inkonsistent. Die Christen bewiesen mittels dieser Gott immanenten Akte mit Evidenz die Dreiheit der Personen von Vater, Sohn und Heiligem Geist in der einen und einfachsten göttlichen Wesenheit bzw. Natur. Er bietet seinen Zuhörern an, dies „mit Gottes Hilfe mittels der einem Eremiten, wie geglaubt wird, von Gott offenbarten ars mit klaren Gründen zu beweisen“.37 Dadurch erweise sich auch die Inkarnation des Gottessohnes als Ver­ einigung von Schöpfer und Geschöpf als überaus vernünftig (rationabilissime). Weiter macht Lull sich anheischig, dies auch für die Erlösungstat Christi zu zeigen, die den ursprünglichen, durch die Sünde Adams gestörten Schöpfungsplan Gottes wiederhergestellt habe.38 Unter den Muslimen entstand eine heftige Auseinandersetzung, die mit Lulls Ausweisung endete. Nicht anders erging es ihm bei seinem nächsten Aufenthalt in Nordafrika, der für das Jahr 1307 angesetzt wird, in der etwa 200 km östlich von Algier gelegenen Küstenstadt Bougie – unser drittes Beispiel. Nach eigener Auskunft hat Lull dort auf dem Marktplatz gerufen: „Das Gesetz (lex) der Christen ist wahr, heilig und Gott gefällig; das Gesetz der Sarazenen hingegen ist falsch und irrig. Und dies zu beweisen bin ich bereit.“39 Er wurde verhaftet und vor den Kadi gebracht, der zwingende Beweise für seine Behauptung forderte. Lull begründete die Trinität nun mit dem neuplatonischen Gedanken des sich verströmenden Guten (bonum diffusivum sui). Während die Muslime das Verströmen der göttlichen Güte erst in der Schöpfung gegeben sähen und deshalb die Güte Gottes für der Vervollkommnung fähig erachteten, hätten die Christen die rechte Auffassung davon, da der Gedanke der innertrinitarischen Hervorgänge die Ewigkeit des sich selbst verströmenden Guten zu denken erlaube. Der Kadi lässt Lull ins Gefängnis werfen und schließlich ausweisen. In der halbjährigen Haft hat Lull seine Disputationen fortgesetzt. Deren Frucht ist die ursprünglich arabisch geschriebene ,Disputation des Christen Raimundus und des Sarazenen Omar‘.40 Hier herrscht insgesamt ein anderer Ton als in dem fiktiven, idealisierten Religionsgespräch des Heiden mit den Vertretern der drei abrahamitischen Religionen. Im dritten Teil weist Lull mit großer Sorge auf das Vordringen des Islam hin, dem es gelinge, Christen, vor allem aber die über weiträumige Reiche gebietenden Mongolen, bei Lull Tartari genannt, zu sich herüber zu ziehen. Aufgrund einer Reise ins östliche Mittelmeer mit Stationen in Zypern, Kleinasien und Jerusalem kannte Lull die

37 Raimundus Lullus, Vita coaetanea (Anm. 10), S. 291 (27). 38 Vgl. ebd. 39 Ebd., S. 297, Z. 560–562 (36). 40 Vgl. Raimundus Lullus, Liber disputationis (Anm. 8), S. 159–264; vgl. dazu Hans Daiber, Raimundus Lullus in der Auseinandersetzung mit dem Islam. Eine philosophiegeschichtliche Analyse des Liber disputationis Raimundi Christiani et Homeri Saraceni, in: Lutz-Bachmann u. Fidora (Anm. 17), S. 136–172.



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dortige Situation recht gut. Neben seiner altbekannten Forderung nach Ausbildungsstätten für Missionare ruft Lull hier zur Zusammenlegung der Ritterorden auf, damit diese das Heilige Land zurückerobern können, und schlägt schließlich die Unterstützung eines solchen Kreuzzuges durch den Kirchenzehnten vor, den der Papst und die Kardinäle den weltlichen Herrschern zu diesem Zweck übergeben sollen.41 Ist dieser Aufruf zur bewaffneten Rückeroberung des Heiligen Landes ein Eingeständnis des Scheiterns eines friedlichen Dialogs zwischen den Religionen? Bei genauerem ­Hinsehen nimmt Lull sein Gesprächsangebot keineswegs zurück. Die militärischen Aktionen sollen lediglich die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Christen im Heiligen Land wieder tätig werden können.42 In Lulls letzten Lebensjahren traten jedoch innerchristliche Gegner immer stärker in den Vordergrund: an der Universität Paris lehrende Philosophen, die sich bei der Suche nach dem Denken des Aristoteles auf die Kommentare des Averroes (1126– 1198) stützten. Diesen kreidete Lull die diametral zu seiner eigenen Überzeugung stehende Auffassung an, der christliche Glaube könne unmöglich als wahr eingesehen, sondern nur geglaubt werden.43 Während seines letzten und längsten Paris-Aufenthaltes (1309–1311) konnte Lull etwa vierzig Mitglieder der artistischen und der medizinischen Fakultät mit seiner ars bekannt machen und erhielt von diesen wie vom Kanzler der Universität Empfehlungs- bzw. Unbedenklichkeitserklärungen.44 Von Paris begab er sich nach Vienne zu dem dorthin einberufenen Generalkonzil (1311–1312), um sich erneut für sein missionarisches Anliegen einzusetzen. Das Konzil beschloss die Anstellung von Lehrern des Hebräischen, Arabischen und Aramäischen an der päpstlichen Kurie sowie an den Universitäten von Paris, Oxford, Bologna und Salamanca, um Missionare in diesen Sprachen auszubilden und Literatur aus diesen Sprachen ins Lateinische zu übersetzen.45 Der mittlerweile Achtzigjährige machte sich danach nochmals nach Tunis auf, wo er sich 1315 aufhielt. Wahrscheinlich starb er ein Jahr später auf Mallorca. Seine letzte Ruhestätte fand Lull in der Franziskanerkirche zu Palma.

41 Vgl. Raimundus Lullus, Liber disputationis (Anm. 8), S. 261–264 (Teil III). 42 Zur viel diskutierten Haltung Lulls zum Kreuzzug vgl. Fernando Domínguez u. Jordi Gayà, Life, in: Fidora u. Rubio (Anm. 6), S. 3–124, hier S. 70–73 (Lit.). 43 Vgl. Raimundus Lullus, Vita coaetanea (Anm. 10), S. 302 (43); vgl. Ruedi Imbach, Der unmögliche Dialog. Lull und die Pariser Universitätsphilosophie (1309–1311), in: ders., Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema (Bochumer Studien zur Philosophie 14), Amsterdam 1989, S. 102–131. 44 Vgl. J[ocelyn]  N. Hillgarth (Hg.), Diplomatari lul·lià: documents relatius a Ramon Llull i a la seva família, Barcelona 2001, S. 80–82, 85f. Dazu auch Peter Walter, Vado Parisius, ubi sunt homines ualde sapientes. Raimundus Lullus’ letzter Aufenthalt in Paris (1309–1311) und dessen Ertrag, in: Markus Vinzent u. Christopher Wojtulewicz (Hgg.), Meister-Eckhart in Paris and Strasbourg (Eckhart: Texts and Studies 3), Leuven 2015 (im Druck). 45 Josephus Alberigo u.  a. (Hgg.), Conciliorum Oecumenicorum Decreta, 3.  Aufl. Bologna 1973, S. 379f.





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Ist Lull gescheitert bzw. musste er scheitern? Auch wenn Lull auf dem Konzil von Vienne ein gewisser Erfolg beschieden war, so sind seine Missionsaktivitäten doch insgesamt nicht an ihr Ziel gelangt. Im Gegensatz zu der Solidaritätserklärung der Pariser Magister ist keine solche von Seiten muslimischer oder jüdischer Gelehrter bekannt, die sich durch seine Argumente von der Wahrheit des Christentums hätten überzeugen lassen. Wenn es anders gewesen wäre, hätte Lull, der ein Meister der Selbstdarstellung war, das sicher mitgeteilt. Ist er deshalb gescheitert? Die Wirkung Lulls darf nicht nur daran bemessen werden, ob er andere von der Wahrheit des christlichen Glaubens überzeugt hat, sondern daran, ob es ihm gelungen ist, die Gesprächsfähigkeit des christlichen Glaubens und der christlichen Theologie mit anderen weltanschaulichen Überzeugungen zu befördern. Darin hat er durchaus Nachfolger gefunden wie etwa Nicolaus Cusanus oder Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), die es – und darin gleichen sie Lull – nach wie vor schwer haben als Theologen ernst genommen zu werden. Lulls Versuche, mit Vertretern der anderen monotheistischen Religionen Judentum und Islam auf der Basis der allen Menschen gemeinsamen Vernunft in einen Dialog einzutreten, haben nach dem 11. September 2001 eine ungeahnte Aktualität erhalten. In der Forschung wird nach wie vor die Frage diskutiert, wie die Position Lulls einzuschätzen sei, ob als wirkliches Dialogangebot oder als mehr oder weniger verkappte Apologie des Christentums.46 Lulls Ziel war kein ergebnisoffener Dialog über die wahre Religion. Die Wahrheit war für ihn im christlichen Glauben gegeben und musste nicht erst gesucht werden. Aber er wollte die Wahrheit des christlichen Glaubens auf vernünftig einsehbare Weise darlegen und dadurch anderen einsichtig machen. Autoritätsargumente sind nach seiner Auffassung dazu nicht in der Lage. Deshalb spielt die Heilige Schrift für seine Argumentation keine Rolle, weil, wenn auch die Gesprächspartner sich auf ihre heiligen Texte berufen, Aussage gegen Aussage steht. Man muss sich deshalb eher wundern, dass biblische Gestalten wie Abraham bei ihm überhaupt begegnen. Die Handvoll Belegstellen zu Abraham in seinem riesigen Opus zeigt dies deutlich. Dieser begegnet deshalb auch nicht als Vermittler einer besonderen Offenbarung, sondern als ‚Geburtshelfer‘ zu allgemein zugänglichen Einsichten. Und eine solche ist für Lull – im Unterschied zur Mehrheit der christlichen Theologen – das trinitarische Wesen Gottes. Für Lull steht Abraham somit nicht für einen abstrakten Monotheismus, sondern für den konkreten Monotheismus.47

46 Vgl. dazu Mayer (Anm. 24), S. 35f. 47 Zu dieser Unterscheidung vgl. Karl Rahner, Einzigkeit und Dreifaltigkeit Gottes im Gespräch mit dem Islam, in: Peter Walter u. Michael Hauber (Hgg.), Karl Rahner, Sämtliche Werke, Bd. 22, 1b, Freiburg, Basel, Wien 2013, S. 656–669, bes. S. 658f., sowie ebd., S. 1053 Anm. j.



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Am absoluten Vorrang der rationalen Glaubensbegründung ändert auch Lulls Eintreten für den Kreuzzug nichts. Dieser sollte die heiligen Stätten befreien und nicht die Muslime gewaltsam zu Christen machen; er sollte die Voraussetzungen für den Dialog schaffen, nicht diesen ersetzen. Lull kann deshalb auch nicht als Beispiel für die Gewaltbereitschaft des Monotheismus dienen – eine brisante Fragestellung, die hier in Heidelberg durch Jan Assmann48 ihren Ausgang genommen hat –, weil Lull Gewalt als Mittel der Konversion ablehnt. Es ist für ihn geradezu ein Argument für die Verfehltheit des Islam, dass die Muslime ihren Glauben angeblich durch Schwert und Gewalt propagierten.49 Papst Benedikt XVI. (2005–2013) hätte in seiner Regensburger Rede, in der er mit einem Zitat über die Gewaltbereitschaft Mohammeds den Zorn der muslimischen Welt erregte, statt des byzantinischen Kaisers Manuel II. (1391–1425)50 auch Lull zitieren können! Das hätte freilich die Sache nicht besser gemacht. Es ist immer bedenklich, die negativen Anteile der Geschichte ungleich zu verteilen, hier das friedliche Christentum, dort der gewalttätige Islam, selbst wenn es heute mehr gewaltbereite Islamisten geben mag als Christen. Auch die subtile Argumentation Lulls für den Kreuzzug – aus heutiger Sicht könnte man das, was Lull befürwortete, am ehesten mit den inter­ nationalen Eingreiftruppen in Afghanistan oder Mali vergleichen – kann die durch die Kreuzzüge hervorgerufenen Gewaltexzesse, die in der muslimischen, jüdischen wie in der orthodoxen Welt teilweise bis heute traumatisierend nachwirken, nicht ungeschehen machen. Zum friedlichen Dialog gibt es keine Alternative. Auf diesen Weg hat sich auch die Kirche Lulls, die römisch-katholische Kirche, begeben mit dem vor 50 Jahren abgehaltenen 2.  Vatikanischen Konzil (1962–1965) und dessen Erklärungen ‚Nostra aetate‘ „über die Haltung der Kirche zu den nichtchrist­lichen Religionen“51 und ‚Dignitatis humanae‘ „über die religiöse Frei­

48 Aus der umfangreichen Literatur sei verwiesen auf den aus einer Diskussion von Vertretern verschiedener theologischer Disziplinen mit Jan Assmann hervorgegangenen Sammelband: Peter Walter (Hg.), Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott (Quaestiones disputatae 216), Freiburg, Basel, Wien 2005. 49 Raimundus Lullus, Liber disputationis (Anm. 8), S. 195, Z. 19f. (I, II 3): […] legem falsam et diabolicam, per ensem et uim multiplicatam […]. Statt von der uis in Kombination mit dem Schwert kann Lull auch von superbia sprechen (ebd., S. 255, Z. 90 [II 2, 4, 4]) bzw. von superbia et impatientia (ebd., S. 256, Z. 133 [II 2 ,4, 7]. 50 Vgl. Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen. Vorlesung des Heiligen Vaters, in: Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach München, Alt­ ötting und Regensburg 9.  bis 14.  September 2006. Predigten, Ansprachen und Grußworte (Verlaut­ barungen des Apostolischen Stuhles 174), Bonn 2006, S. 72–84, hier S. 73f. 51 So die Übersetzung des Titels dieses Konzilstextes in dem zurzeit besten Kommentar dazu: Roman A. Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, in: Peter Hünermann u. Bernd Jochen Hilberath (Hgg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, 5 Bde., Freiburg, Basel, Wien 2004–2006, Bd. 3, S. 591–693. Vgl. auch Thomas Roddey, Das Verhältnis der Kirche zu den nichtchrist-





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heit“.52 Die Basis für die darin zum Ausdruck kommende neue Sicht auf die Religion und die Religionen wurde in der Kirchenkonstitution ‚Lumen gentium‘ gelegt, wo das Konzil im Bild konzentrischer Kreise, die sich um Jesus Christus als Mittelpunkt lagern, unterschiedliche Zugänge zum Heil erläutert. Es entwickelt hier grundsätzlich auch für diejenigen, die nicht zur römisch-katholischen Kirche gehören, durchaus eine Heils-Perspektive, wenn nach seiner Auffassung nur diejenigen des Heils verlustig gehen, „die um die katholische Kirche und ihre von Gott durch Christus gestiftete Heilsnotwendigkeit wissen, in sie aber nicht eintreten oder in ihr nicht ausharren wollten.“53 Unter den Nichtchristen und Nichtglaubenden sieht das Konzil eine unterschiedliche Hinordnung auf die Kirche: In erster Linie jenes Volk, dem der Bund und die Verheißungen gegeben worden sind und aus dem Christus dem Fleische nach geboren ist (vgl. Röm 9,4–5), dieses seiner Erwählung nach um der Väter willen so teure Volk: die Gaben und Berufung Gottes nämlich sind ohne Reue (vgl. Röm 11,28–29). Der Heilswille umfasst aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslim, die sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird. Aber auch den anderen, die in Schatten und Bildern den unbekannten Gott suchen, auch solchen ist Gott nicht ferne, da er allen Leben und Atem und alles gibt (vgl. Apg 17,25–28) und als Erlöser will, dass alle Menschen gerettet werden (vgl. 1 Tim 2,4).54

Hier wird nun auch die positive Begründung für die zunächst nur negativ angedeutete Heilsmöglichkeit für Nichtchristen, ja sogar für Nichtglaubende, geliefert: Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluss der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen. Die göttliche Vor­sehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen sich bemühen. Was sich nämlich an Gutem und Wahrem bei ihnen findet, wird von der Kirche als Vorbereitung für die Frohbotschaft und als Gabe dessen geschätzt, der jeden Menschen erleuchtet, damit er schließlich das Leben habe.55

lichen Religionen. Die Erklärung „Nostra aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils und ihre Rezep­ tion durch das kirchliche Lehramt (Paderborner Theologische Studien 45), Paderborn 2005. 52 Vgl. dazu Roman A. Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit Dignitatis humanae, in: Hünermann u. Hilberath (Anm. 51), Bd. 4, S. 125–218. 53 Karl Rahner u. Herbert Vorgrimler (Hgg.), Kleines Konzilskompendium. Alle Konstitutionen und Erklärungen des Zweien Vaticanums in der bischöflich genehmigten Übersetzung, 35. Aufl. Freiburg, Basel, Wien 2008, S. 139 (Lumen gentium, Nr. 14). 54 Rahner u. Vorgrimler (Anm. 53), S. 141 (Lumen gentium, Nr. 16). 55 Ebd.; vgl. hierzu Peter Hünermann, Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution Lumen gentium, in: Hünermann u. Hilberath (Anm. 51), Bd. 2, S. 263–582, hier S. 394–401. Hünermann verweist auf Thomas von Aquin, Summa theologiae III q. 8 a. 3, wo die Lehre von Jesus Christus als Haupt aller Menschen entfaltet wird, als „theologische Grundlage für diese Zuordnung“ (ebd.,



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Aufgrund dieser Zuversicht in den allgemeinen Heilswillen Gottes kann das 2. Vaticanum eine andere Begründung für die Mission entwickeln, als sie traditionellerweise, auch von Lull, gegeben wurde: Lull war davon überzeugt, dass alle, die sich nicht zum christlichen Glauben bekehren, des Heils verlustig gehen. Daraus erklärt sich das Zwanghafte, das seinen Missionsaktivitäten anhaftet, und die Enttäuschung über seinen Misserfolg, wie sie etwa in dem autobiographische Züge tragenden katalanischen Gedicht ‚Lo Desconhort‘56 zum Ausdruck kommen, in dem Lull schwankt zwischen der Hoffnung auf die Rettung möglichst vieler (Str. 42) und der Trauer um die Verdammnis derjenigen, die nicht zum Glauben gekommen sind (Str. 64).57 Im Missionsdekret ‚Ad gentes‘ stellt das Konzil dieser klassischen Notwendigkeits- eine Zeugnis-Missiologie gegenüber.58 Christen haben nicht die Aufgabe, durch Mission alle Nichtchristen vor der ewigen Verdammnis zu retten, sondern für ihren Glauben und die damit verbundene Weltsicht zu werben. Einen weiteren Schritt stellt die ‚Antrittsenzyklika‘ Pauls  VI. (1963–1978) dar, ‚Ecclesiam suam‘ (1964), welche die nichtchristlichen Religionen in ihren geistigen und sittlichen Werten positiv würdigt und ihnen die Zusammenarbeit der römisch-katholischen Kirche anbietet.59 Dieser Perspektivwechsel ermöglicht es der letzteren, die anderen Religionen und die bislang von ihr abgelehnte Religionsfreiheit neu und positiv zu würdigen. Diese Haltung bedeutet jedoch „nicht einfach das Eigene in der Form des anderen“ anzuerkennen, sondern „fordert eine tiefe Ernsthaftigkeit in der Wahrnehmung der anderen Religionen, gerade auch in ihrer Differenz.“60 Dieser Aspekt ist bei Lull sicher zu kurz gekommen, der zwar die Unterschiedenheit der Religionen kennt, sie aber an seiner letztlich abstrakt bleibenden Vorstellung von Christentum misst. Dies scheint

S. 398). Zum theologiegeschichtlichen Hintergrund vgl. auch Siebenrock (Anm. 51), S. 599–611, der freilich nicht nur Thomas von Aquin, sondern auch entsprechende Aussagen der Kirchenväter, vor allem des Irenäus von Lyon, und des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Religionsdialogs mit dem Beispiel des von Lull beeinflussten Nicolaus Cusanus einbezieht. Auch Lull wird in diesem Zusammenhang erwähnt (ebd., S. 607). 56 Vgl. Ramon Llull, Lo Desconhort  / Der Desconhort. Auf Grundlage der Ausgabe v. J.  Romeu i Figueras u. einschließlich der Varianten der Ausgabe von A. Pagès übers. u. mit einer Einf. ver­sehen v. Johannes u. Vittorio Hösle (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 31), München 1998. Die Bearbeiter lassen den Titel des Werkes bewusst unübersetzt, da dieser „sowohl einen Zustand der Trostlosigkeit und des Unwillens als auch die ihn ausdrückende literarische Gattung“ bezeichnen kann. Sie verweisen darauf (ebd., S.  38 mit Anm.  46), dass Platzeck (Anm. 11), S. 100, ihn „treffend mit ‚Un-Mut‘“ übertragen habe. 57 Vgl. Ramon Llull (Anm. 56), S. 90f., 102f. 58 Vgl. Peter Walter, Geistes-Gegenwart und Missio-Ekklesiologie. Perspektiven des II. Vaticanums, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 96 (2012), S. 64–74. 59 Vgl. Peter Walter, Aufrichtiger und geduldiger Dialog, in: Mariano Delgado u. Michael Sievernich (Hgg.), Die großen Metaphern des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ihre Bedeutung für heute, Freiburg, Basel, Wien 2013, S. 81–100, bes. S. 81–89. 60 Siebenrock (Anm. 51), S. 657.





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ihm durchaus bewusst gewesen zu sein, weshalb er in zahlreichen poetischen Texten, in denen er auch Anregungen aus den beiden anderen abrahamitischen Religionen aufgenommen hat, entgegenzusteuern versucht. Die Dialogbereitschaft der römisch-katholischen Kirche ist in ihren eigenen Reihen keineswegs unumstritten. Zur Wirkungsgeschichte von ‚Nostra aetate‘ gehört zum einen die Einrichtung vatikanischer Behörden für den Dialog mit den nichtchristlichen Religionen bzw. für den interreligiösen Dialog, wobei demjenigen mit dem Judentum, für den bezeichnenderweise der Rat für die Förderung der Einheit der Christen zuständig ist, und auch mit dem Islam ein besonderer Stellenwert zukommt.61 Von größerer Öffentlichkeitswirksamkeit als die von diesen Institutionen gepflegten Dialoge waren die von Papst Johannes Paul II. (1978–2005) initiierten Weltgebetstreffen in Assisi, welche erstmals 1986 stattfanden, bei denen Vertreter der Weltreligionen den Dialog pflegten und zwar nicht gemeinsam, aber miteinander beteten, was den schärfsten Protest konservativ katholischer Kreise hervorrief. Es ist bezeichnend, dass bei dem Jubiläumstreffen im Oktober 2011 die Vertreter der einzelnen Religionen nur noch unter sich und nicht mehr an einem gemeinsamen Ort gebetet haben, und dass der Papst auch kein Gespräch über den Gottesbegriff der Religionen wollte. Die Piusbrüder, die 1000 Messen lesen ließen, um das Treffen zu verhindern, sind allerdings nicht erhört worden.62 In die Geschichte nach ‚Nostra aetate‘ gehören zum andern aber auch Verlaut­ barungen des römischen Lehramtes, die zwar den konziliaren Aussagen nicht direkt zu widersprechen wagen, diese jedoch restriktiv interpretieren. In diese Richtung geht die von der Glaubenskongregation veröffentlichte, umstrittene „Erklärung über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche“ ‚Dominus Iesus‘ vom 6. August 2000.63 Diese sorgte vor allem auf evangelischer Seite und unter Ökumenikern für Irritationen, weil sie die nichtkatholische Christenheit in Kirchen und kirchliche Gemeinschaften unterteilte und die Zugehörigkeit zur ersteren Kategorie von Kriterien abhängig machte, welche die evangelischen Kirchen angeblich nicht erfüllen: gültiges Bischofsamt und gültige Eucharistie.64 Das Hauptziel war jedoch nicht die Ökumene, sondern die pluralistische Religionstheologie, ein vor allem im angelsächsischen Raum beheimateter Versuch, das Konfliktpotential sich widerstrei-

61 Vgl. ebd., S. 667–669. 62 Vgl. Jörg Bremer, Pilger der Wahrheit und des Friedens. Papst Benedikt XVI. hat zum Gebetstag der Weltreligionen nach Assisi eingeladen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Oktober 2011, Nr. 250/2011, S. 10. 63 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Dominus Iesus. Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 148), Bonn 2000. 64 Vgl. ebd., S. 22–24, Nr. 17.



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tender religiöser Wahrheitsauffassungen dadurch zu entschärfen, dass auf jeglichen Wahrheitsanspruch und Heilsexklusivismus verzichtet wird.65 Im Unterschied zum 2. Vaticanum erkennt diese Erklärung in den anderen Religionen keine Wahrheitsmomente an, die für den christlichen Glauben bereichernd sein könnten. Sie kontrastiert den „theologalen Glauben“ der Christen mit der „inneren Überzeugung“ in den anderen Religionen. Der „inneren Überzeugung in den anderen Religionen“, unter denen auch das in ‚Dominus Iesus‘ nie genannte Judentum keine Sonderstellung einnimmt, wird für deren Angehörigen jede Heilsbedeutung abgesprochen. Sie verbleiben rein auf der Ebene der Immanenz.66 In einer gewissen Spannung dazu steht, wenn die Erklärung die vom 2. Vaticanum formulierte Auffassung wiederholt, dass „sich das Heilswirken Jesu Christi mit und durch seinen Geist über die sichtbaren Grenzen der Kirche hinaus auf die ganze Menschheit“ erstreckt und die Pastoralkonstitution ‚Gaudium et spes‘ zitiert: Dies gilt nicht nur für die Christgläubigen, sondern für alle Menschen guten Willens, in deren Herzen die Gnade unsichtbar wirkt. Da nämlich Christus für alle gestorben ist und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, dass der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem Paschamysterium in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein.67

Immerhin wird als Desiderat formuliert, „über das Vorhandensein anderer religiöser Erfahrungen und ihrer Bedeutung im Heilsplan Gottes nachzudenken und zu erforschen, ob und wie auch Gestalten und positive Elemente anderer Religionen zum göttlichen Heilsplan gehören können.“68 Die Grenze des Denkmöglichen sieht ‚Dominus Iesus‘ allerdings überschritten durch „Lösungsvorschläge, die ein Heilswirken Gottes außerhalb der einzigen Mittlerschaft Christi annehmen.“69 Darin stimmt sie sowohl mit dem 2. Vaticanum wie mit Raimundus Lullus überein.

Schluss Mit dieser Tagung des Mediävistenverbandes ist Raimundus Lullus in Heidelberg, an der ältesten deutschen Universität, angekommen. Gleich zwei Vorträge waren ihm hier gewidmet.70 Aber Lull war schon da, natürlich nicht persönlich, sondern literarisch, zwar nicht an der Universität, aber in dem humanistischen Zirkel um den Wormser

65 Vgl. ebd., S. 5f., Nr. 4. 66 Vgl. ebd., S. 9f., Nr. 7. 67 Ebd., S. 15, Nr. 12 (mit Bezug auf ‚Gaudium et spes‘) u. Nr. 22. 68 Ebd., S. 18, Nr. 14; vgl. auch S. 29f., Nr. 21. 69 Ebd., S. 19, Nr. 14. 70 Im Rahmen des Heidelberger Symposiums sprach Cornelia Herberichs zum Thema ‚Maria als Grenzfigur und Mittlerin. Das Buch über die heilige Maria des Ramon Lull‘.





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Bischof Johannes von Dalberg am Ende des 15. Jahrhunderts.71 Der niederländische Universalgelehrte Rudolf Agricola, den Dalberg nach Heidelberg geholt hatte und der hier 1485 verstarb, bezieht sich zu Beginn des zweiten Buches seines posthum veröffentlichten Hauptwerks ‚De inventione dialectica‘ in einer langen Passage auf Lull. Erstaunlich ist, dass er diesen Denker von den fernen Balearen überhaupt erwähnt. Dies zeigt, dass Lull damals nicht so vergessen war, wie es heute weitgehend der Fall ist. Was Agricola aber sagt, klingt ziemlich von oben herab: Zur Zeit unserer Altvorderen lebte ein gewisser Raimundus mit dem Zunamen Lullus, ein Spanier, oder richtiger: Baleare, der eine gewisse Kunst aufgebracht hat, die man mit dem Namen dieses Lullus benennt: eine Kunst, die, was ich nicht bestreiten möchte, Zeugnis eines scharfsinnigen und beweglichen Geistes ist; da er aber – und seine Schüler pflegen sich dessen in seinem Namen sogar noch zu rühmen! – keine gelehrte Bildung besaß, hatte er sich keinerlei andere Wissenschaft angeeignet, die des Namens eines Gelehrten würdig wäre, und konnte nicht einmal das, was er herausgefunden hatte, in seiner Besonderheit deutlich erkennen – und wenn er es vielleicht erkannt hat, dann vermochte er es sprachlich nicht zum Ausdruck zu bringen und auch nicht den Eindruck zu vermitteln, daß er es erkannt hatte.72

Nachdem er dann ausführlich Lulls Scheitern – nicht in Bezug auf die Überzeugung der übrigen Monotheisten von der Wahrheit des Christentums, sondern in der Ausarbeitung seiner ars – festgestellt hat, kommt er zur Schlussfolgerung: Aber wie auch immer – man muß jenem Mann gleichwohl bescheinigen, daß er ein über­ ragendes Talent besessen hat, und darf ihm das Lob, das sein höchst ehrenvolles Vorhaben verdient hat, nicht vorenthalten. Während er für die Wissenschaft Größtes zu leisten begierig war, hat er unstreitig das geleistet, was er eben konnte – und dies ist schon hinreichend verdienstvoll. Sollte das eine oder andere seinen Absichten nur wenig entsprechen, so sollte man gleichwohl seinen guten Willen loben und mit seiner geistigen Leistungsfähigkeit Nachsicht üben.73

Agricola und andere Humanisten, wie etwa Jacobus Faber Stapulensis, der Anfang des 16. Jahrhunderts in Paris einiges von Lull zum Druck beförderte, stießen sich vor allem an seiner Sprache. Faber hat sie so verschlimmbessert, dass vom eigentlichen

71 Zu Dalberg und seinem Humanistenkreis vgl. Peter Walter, „Inter nostrae tempestatis pontifices ­facile doctissimus“. Der Wormser Bischof Johannes von Dalberg und der Humanismus, in: Gerold Bönnen u. Burkard Keilmann (Hgg.), Der Wormser Bischof Johann von Dalberg (1482–1503) und seine Zeit (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte  117), Mainz 2005, S. 89–152; zu Agricola s. ebd., S. 99–101. 72 Rudolf Agricola, De inventione dialectica libri tres / Drei Bücher über die Inventio dialectica. Auf der Grundlage der Edition von Alardus von Amsterdam (1539) kritisch hrsg., übers. u. komm. v. Lothar Mundt (Frühe Neuzeit 1), Tübingen 1992, S. 203. 73 Ebd., S. 205.



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Lull kaum etwas geblieben ist.74 Es bleibt zu hoffen, dass es diesmal gelungen ist, Lull als einem Vordenker eines vernunftgeleiteten Dialogs der Religionen gerecht zu werden und dadurch diesen Dialog zu befördern.

74 Vgl. Peter Walter, Jacobus Faber Stapulensis als Editor des Raimundus Lullus, dargestellt am Beispiel des ‚Liber Natalis pueri parvuli Christi Jesu‘, in: Fernando Domínguez u. a. (Hgg.), Aristotelica et Lulliana magistro doctissimo Charles H. Lohr septuagesimum annum feliciter agenti dedicata (Instrumenta patristica 26), Den Haag 1995, S. 545–559.



Abrahambilder – Deutungen, Ikonographie und Vorbildfunktion

Pamela Kalning (Heidelberg)

Abrahambilder in deutschen Texten des christlichen Mittelalters Abstract: Der Beitrag geht der Frage nach, was für ein Bild von Abraham in deutschsprachigen Texten des Mittelalters beschrieben wird. Untersucht wurden vor allem Erzähltexte und didaktische Literatur. Dabei zeigt sich ein auf den ersten Blick disparates Ergebnis. Elemente aus den biblischen Berichten um Abraham werden in den Texten vereinzelt und dekontextualisiert. Sie werden als Exempel dem jeweiligen Argumentationszweck angepasst. Dennoch bleibt ein Aspekt der Person Abrahams konstant im Vordergrund: Der Stammvater ist durch seine Gesetzestreue gekennzeichnet, sein Glaube und Gehorsam bestätigt sich insbesondere in der Bereitschaft, den Sohn Isaak zu opfern. Über die biblischen Texte hinausgehende ergänzende Motive werden in dem vorliegenden Material nicht ausgeführt, rabbinische Auslegungstraditionen scheinen ebenso wenig einzufließen wie Koranperikopen, weder als direkte Zitate noch als indirekte Reflexe.

1 Einleitung Dieser Beitrag geht der Frage nach, welches Bild von Abraham in deutschsprachigen Texten des Mittelalters beschrieben wird. In Vorarbeiten hierzu wurden die Register einer Vielzahl von Texten auf das Vorkommen seines Namens hin durchsucht. Wenn auch naturgemäß keine Vollständigkeit der Belege erreicht werden konnte, so scheint das Ergebnis doch repräsentativ und aussagekräftig im Hinblick auf die Rolle und Bedeutung, die der Stammvater im kollektiven Bewusstsein des westeuropäischen Christentums innehatte. Zunächst ist festzuhalten, dass die Zahl der Stellen, in denen Abraham in volkssprachlichen Texten genannt wird, die nicht Bibeldichtung oder Bibelauslegung im engeren Sinne sind oder in einem historiographischen Zusammenhang die biblischen Geschichten berichten, gering ist.1 Des Weiteren ist eine starke Diversität der

1 Auch in der lateinischen christlichen Tradition spielt Abraham konzeptionell keine zentrale Rolle, vgl. z. B. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 4. Aufl. (korrig. ND der 3. Aufl. 2005), Darmstadt 2009, wo Abraham nur am Rande vorkommt. Das differenzierte Bild, das Theresia Heither u. Christiana Reemts, Biblische Gestalten bei den Kirchenvätern, Bd. 1: Abraham, Münster 2005, zusammenstellen, beruht in erster Linie auf den Details der biblischen Darstellung. Weitere Nachweise aus der Patristik bei Elisabetta Lucchesi Palli, Abraham, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1 (1968), Sp. 20–35, hier Sp. 20. Zur Bedeutung der Abrahamfigur im Christentum vgl. auch Bernd Schröder, Abraham im Christentum. Eine religionspädagogische Perspektive, in:

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verwendeten Motive und Handlungsstränge zu beobachten, die oft mit einer geringen Spezifität einhergeht. Abraham wird als Exempelfigur eingesetzt und hat eine zentrale Funktion im Heilsgeschehen. Unter den verschiedenen in der Bibel berichteten Geschehnissen kommt für das Christentum die größte Bedeutung wohl seiner Bereitschaft zu, seinen Sohn auf Befehl Gottes hin zu opfern. Es ist diese in der ‚Glossa Ordinaria‘ betonte2 Präfiguration des Opfers Christi, die die Rolle Abrahams kennzeichnet. Im Folgenden soll zunächst die biblische Grundlage kurz rekapituliert werden. Es wird sodann exemplarisch gezeigt, wie einzelne mittelhochdeutsche Texte Aspekte hieraus aufnehmen.

2 Die Grundlage: Bibelstellen Der alttestamentliche Bericht über Abraham findet sich Gn 11,27–25,10.3 Abram, wie er anfangs heißt, wird im Rahmen einer längeren genealogischen Reihe eingeführt, an deren Beginn die Sintflut und der Turmbau zu Babel standen. Abram ist ein Nachfahre von Noahs ältestem Sohn Sem, der in verschiedenen deutschsprachigen Texten des Mittelalters als Stammvater des höchsten der drei auf die Söhne Noahs zurückgehenden Stände4 beschrieben wird. Der Herr schickte bereits Abrams Vater Tharah mit

Harry H. Behr, Daniel Krochmalnik u. Bernd Schröder (Hgg.), Der andere Abraham. Theologische und didaktische Reflexionen eines Klassikers, Berlin 2011, S. 75–90, hier S. 75. 2 Vgl. die ‚Glossa Ordinaria‘ zu Gn 22, s. Biblia latina cum glossa ordinaria, Facsimile Reprint of the Edition Princeps Adolph Rusch of Strassburg 1480/81, 5  Bde., hrsg.  v. Karlfried Fröhlich u. Margareth  T. Gibson, Turnhout 1992, Bd.  1, S.  60: Dixit autem Abraam] Isi. Abraam vnicum filium ducens ad immolandum deum patrem significat. Abraam senex filium suscepit. Deus aut non senescit sed promissio de christo quodammodo senuerat quando natus est. Inchoauit ab Adam quando dictum est. Erunt duo in carne vna: et completa est sexta etate seculi. Senectus Sare in plebe dei: hoc est in mulitudine prophetarum. hoc idem significat: quia in fine temporum ex plebe sanctarum animarum natus est Christus. Sterilitas eius significat quae in hoc seculo spe salui facti sumus et in Christo tanquam in Ysaac omnes nati sumus quem partum ecclesia in fine temporum non natura sed gratia procreauit. Sicut enim Abraam vnicum et dilectum filium victimam deo obtulit sic deus pater vnigenitum filium pro nobis tradidit. et sicut Ysaac ligna portabat quib. impondendus erat: sic Christus crucem in qua figendus erat. Zur Opferung Isaaks in der christlichen Tradition s. Thomas Böhm, Die Bindung Isaaks in ausgewählten Texten der Kirchenväter, in: Helmut Hoping, Julia Knop u. Thomas Böhm (Hgg.), Die Bindung Isaaks. Stimme, Schrift, Bild, Paderborn u. a. 2009, S. 127–142; Julia Knop, Die Hingabe des Sohnes – Preis­ gabe der Liebe, in: ebd., S. 143–159. Zum Vergleich der Opfergeschichte in Judentum, Christentum und Islam s. Martin Bauschke, Der Spiegel des Propheten. Abraham im Koran und im Islam, Frankfurt a. M. 2008, S. 104f., Tab. 2. 3 Bibelzitate werden im Folgenden der lateinischen Vulgata entnommen, als deutsche Übersetzung wird, falls nötig, die nur graphisch normalisierte Lutherbibel von 1912 verwendet. Die Abkürzungen für die biblischen Bücher richten sich nach Loccumer Richtlinien. 4 Vgl. Klaus Grubmüller, Nôes Fluch. Zur Begründung von Herrschaft und Unfreiheit in mittelalterlicher Literatur, in: Dietrich Huschenbett u. a. (Hgg.), Medium Aevum Deutsch. Beiträge zur deut-





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den Kindern Lot, Abram und Sarai aus Ur in Chaldäa fort nach Kanaa. Sie siedeln in Haran. Nach dem Tod Tharahs wird die Sendung wiederholt und Abram selbst macht sich auf die Reise ins Gelobte Land. Damit verbunden ist Gottes Verheißung: „Deinem Samen will ich das Land geben.“ (Gn 15,18). Abram lebt eine Zeit lang in Ägypten in der Fremde, wo er seine schöne Frau Sarai als seine Schwester ausgibt. Sie lebt dort mit dem Pharao zusammen, doch Gott straft dieses Leben mit Plagen. Der Pharao erkennt, dass sein Leben mit Sarai unrecht ist, und gibt sie ihrem rechtmäßigen Ehegatten zurück. Abram zieht nun gemeinsam mit Lot und Sarai aus Ägypten fort nach Beth-El. Da beide Männer viel Besitz haben, kommt es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen den Sippen. Sie teilen deshalb das Land auf: Abram wohnt in Kanaan, Lot in der Nähe von Sodom. Abrams Ehe mit Sarai ist lange Zeit kinderlos. Um nicht ganz ohne Erben zu bleiben, führt Sarai Abram ihre ägyptische Magd Hagar zu; Abrams erster Sohn wird von Hagar geboren, sein Name ist Ismael. Zu diesem Zeitpunkt gibt Gott Abram die Pflicht auf, seine männlichen Nachkommen beschneiden zu lassen (Gn 17,10), was dieser an allen Männern seiner Sippe auch vollzieht. Ab diesem Zeitpunkt wird er nicht mehr Abram, sondern Abraham genannt; Sarai heißt von nun an Sara. Abraham wird nach einer weiteren Verheißung im Alter von 100 Jahren noch ein Sohn mit Sara geschenkt, was Sara kommentiert: „Gott hat mir ein Lachen zugerichtet, denn wer es hören wird, der wird über mich lachen.“ (Gn 21,6). Diesen Sohn, Isaak, soll nun Abraham für Gott opfern. Abraham ist zu diesem Opfer bereit (Gn 22), das im letzten Moment durch Gott selbst verhindert wird. Die letzte Episode des biblischen Berichts enthält dann die Brautwerbung für Isaak. Als Ehefrau für Isaak soll keine Heidin gewählt werden (Gn 24,2–4). In Gn 25,1–10 werden schließlich noch Tod und Begräbnis Abrahams geschildert. Die Evangelien, in denen zahlreiche bereits genannte Aspekte aufgenommen werden, betonen insbesondere die Rolle Abrahams als Stammvater der Gläubigen.5 Für Paulus steht Abraham für den Glauben, der die Rechtfertigung aus Gnade

schen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Festschrift für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag, Tübingen 1979, S. 99–119. Die bei Grubmüller angeführten Belege geben keine Anhaltspunkte für einen (theoretisch denkbaren) Bezug der Geschlechter von Noahs Söhnen zu verschiedenen Reli­gionen. Fokussiert wird die Begründung von Knechtschaft aus sündhaftem Verhalten. Auch bei Beda, der eine Verbindung der drei Völker zu Erdteilen herstellt (Ham – Afrika, Sem – Asien, Japhet – Europa), spielen unterschiedliche Religionen keine Rolle. 5 Zu Abraham im Neuen Testament s.  Friedrich  E. Wieser, Die Abrahamvorstellungen im Neuen Testament (Europäische Hochschulschriften, Reihe 23: Theologie  317), Bern u.  a. 1987. Einführend ­Horacio E. Lona, Abraham. Im Neuen Testament, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl. Bd. 1 (1993), Sp.  62f. (mit weiterer Literatur); Harold W. Attridge, Abraham. Neues Testament, in: Reli­ gion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl. Bd. 1 (1998), Sp. 74. Vgl. auch Anke Mühling, Blickt auf Abraham, euren Vater. Abraham als Identifikationsfigur des Judentums in der Zeit des Exils und des Zweiten Tempels (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 236), Göttingen 2011, S. 326–340.



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annimmt; Abrahams Platz in der Heilsgeschichte relativiert das Gesetz, vgl. Röm 4,2–3: „Ist Abraham durch die Werke gerecht, so hat er wohl Ruhm, aber nicht vor Gott [...] Abraham hat Gott geglaubt, und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.“ Als Vater der Gläubigen erfüllt Abraham Gottes Verheißung, ein Segen für die Völker zu sein. Seine wirklichen Kinder sind jedoch nicht seine physischen Nachkommen, sondern diejenigen, die Gottes Verheißung annehmen: denn die Verheißung, dass er sollte sein der Welt Erbe, ist nicht geschehen Abraham oder seinem Samen durch das Gesetz, sondern durch die Gerechtigkeit des Glaubens. [...] Denn er zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern ward stark im Glauben und gab Gott die Ehre. (Röm 4,13)

Nicht die leiblichen Kinder Abrahams, seine beiden Söhne Ismael und Isaak, und deren Nachfahren sind es, denen die Verheißung erfüllt wird, sondern diejenigen, die ihm im Glauben und in der Beständigkeit nachfolgen. Diese Vorstellung ist auch im Lukasevangelium präsent: Abrahams Schoß nimmt die Verstorbenen auf (Lk 16,22– 25), aber er kann sich nicht für seine eigenen Nachkommen verwenden, die durch Lazarus und seine Brüder repräsentiert werden (Lk 16,28–30). In den neutestamentlichen Abrahamdarstellungen steht die Vorstellung, wahre Kinder Gottes seien die, die Abraham im Glauben nachfolgen, neben dem durch die Genesis nahegelegten Erwählungsmodell, das nur leibliche Nachfahren Abrahams zu den Adressaten der Verheißung Gottes zählt. Das christliche Mittelalter trifft zwischen diesen beiden Modellen in der Regel eine Entscheidung für das Bewährungsmodell und setzt sich damit grundlegend von der jüdischen Tradition ab. Dass auch im Islam die Kinder Abrahams seine Kinder im Glauben sind, spielt im Rahmen unserer Texte keine Rolle. Die Ismaeliten (oder Hagariten) werden dort nur am Rande erwähnt, auf ihre Glaubensvorstellungen wird nicht näher eingegangen.

3 Mittelhochdeutsche Texte 3.1 Abrahams Platz in der Heilsgeschichte Die Rolle Abrahams im heilsgeschichtlichen Rahmen wird in der Chronistik regelmäßig aufgerufen, findet aber auch in literarischen Texten mit historiographischen Anteilen Berücksichtigung. In der Vorstellung von den sechs Weltzeitaltern6 (1. von Adam bis Noah, 2. von Noah bis Abraham, 3. von Abraham bis David, 4. von David bis

6 Einführend Graeme Dunphy, Six Ages of the World, in: The Encyclopedia of the Medieval Chro­ nicle, Bd. 2 (2010), S. 1367–1370. Schemagerecht auch Rudolf von Ems, Weltchronik. Aus der Wernigeroder Handschrift, hrsg. v. Gustav Ehrismann (Deutsche Texte des Mittelalters 20), Berlin 1915, ND Dublin, Zürich 1967, vv. 86–146.





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Nebukadnezar, 5. von Nebukadnezar bis Christus, 6. ab Christi Menschwerdung) tritt mit Abraham eine Wende von der Zeit ante legem in die Zeit sub lege ein. Die uns vorliegenden mittelhochdeutschen Stellen benennen die Weltzeitalter, ohne näher auf Einzelheiten einzugehen. In Ulrichs von Etzenbach ‚Alexander‘7 findet sich eine Änderung gegenüber dem üblichen Schema; statt Nebukadnezar wird Mose als Repräsentant des vierten Zeitalters benannt. Ob es sich um einen Irrtum handelt8 oder um eine bewusste Ersetzung, kann hier nicht entschieden werden. Festzuhalten bleibt die Präsenz der Person Abrahams in diesem Rahmen. Seine Bedeutung für die Weltgeschichte wird in Etzenbachs ‚Alexander‘ auch auf dem Grabmal für die verstorbene Kaiserin Herzeloide verstetigt. Dargestellt wird hier aus der Vielfalt der biblischen Details über den Stammvater nur wie Abrahâm sîn lant verliez | und in got gewaltic hiez, | wie er in fremdem lande | des engels wort bekande, | daz von des werden lîbe | und Sarâ sînem wîbe | solde werden her Isac.9

In dem geistlichen Gedicht von ‚Gottes Zukunft‘ zieht Appolonius von Tyrland Abrahams und Sarahs späte Elternschaft dagegen als Exempel für die Gesegnetheit des Ehestandes heran: Ich gesegnet Abraham | Und sin frauwen Saram | In iren alten jaren | Da sie unfruehtbar waren.10

3.2 Abraham als Stammvater der Gläubigen Der Hinweis auf die Verheißung Gottes an Abrahams Nachkommenschaft, die sich in der späten Elternschaft realisiert, ist in Predigten regelmäßig präsent, so reimt z. B. in den ‚Hessischen Reimpredigten‘ vielfach in den Schlussversen Abrahams samen auf amen.11 Doch in erzählenden Texten sucht man nach dem Motiv weitgehend vergeb-

7 Ulrich von Etzenbach, Alexander, hrsg. v. Wendelin Toischer (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 183), Tübingen 1888, S. 30f., vv. 1125–1140. In der ‚Weltchronik‘ Rudolfs von Ems wird die Geburt Moses an zwei Stellen im Widerspruch zur einleitenden Gesamtdarstellung ebenfalls als Beginn des vierten Weltzeitalters markiert, s. Rudolf von Ems (Anm. 6), S. 2, sowie S. 119 (vv. 8798–8803, Akrostichon), 300 (v. 21 518). 8 Dunphy (Anm. 6), S. 1368. 9 Ulrich von Etzenbach (Anm. 7), S. 300f., vv. 11 295–11 301. Die Beschreibung des Grabmals, auf dem die gesamte Menschheitsgeschichte kunstvoll dargestellt ist, erstreckt sich über mehrere hundert Verse, s. ebd., S. 296–314, vv. 11 118–11 820. 10 Heinrich von Neustadt, Apollonius von Tyrland nach der Gothaer Handschrift. Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach der Heidelberger Handschrift, hrsg. v. Samuel Singer (Deutsche Texte des Mittelalters 7), Berlin 1906, ND Dublin, Zürich 1967, S. 449, vv. 7926–7929. 11 Die Hessischen Reimpredigten, Bd.  2: Text, hrsg.  v. Barbara Lenz-Kemper (Deutsche Texte des ­Mittelalters 89), Berlin 2009, S. 342, Nr. 37, v. 247; 347, Nr. 38, v. 173 u. ö.



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lich. Heinrich von Neustadt rekurriert im ‚Appolonius von Tyrlant‘ eher en passant auf die Vorstellung, dass Abraham im Paradies weilt: vor Abrahames garten | Wolten sy sein warten.12 Lediglich Rudolf von Ems beschreibt in ‚Barlaam und Josaphat‘ ­Abrahams Schoß als den Ort, in den der Gläubige nach dem leiblichen Tod gelangt: in truoc der engel vreude groz  | ze himel in Abrahames schoz.13 Ausführlich stellt er in diesem Zusammenhang die Geschichte von Lazarus und dem reichen Mann dar (Lk  16,19–31): Der reiche Mann, der Lazarus um sein Wohlergehen im Himmel beneidet, bittet Abraham um Erbarmen, doch Abraham hilft ihm in seiner Not nicht (vv. 3410–3441). Rudolf von Ems hat allerdings insofern unter den deutschen erzählenden Texten eine für unsere Fragestellung exponierte Rolle inne, als er in verschiedenen seiner Werke auch auf jüdische Erzähltraditionen rekurriert und im Gegensatz zu anderen Verfassern bei ihm stärkere Bezüge auf und Aufnahmen von religiösem Wissen erwartet werden können.14 So findet sich im ‚Barlaam und Josaphat‘ auch eine längere Passage über Abrahams Gottsuche (vv. 2131–2164), und der Text erwähnt die Bedeutung Abrahams als Stammvater für die Israeliten (vv. 10 681–10 684: die Juden waren unde sint | von Abraham der vrühte kint | Isaac Jacob die sint der stam | von den ir vruht ein urhap nam). Im ‚Alexander‘ führt Rudolf von Ems neben Isaak auch Ismael als rechtmäßigen Sohn Abrahams ein (vv.  17  207–17  218) und erwähnt, dass von Abrahams Samen zwölf Geschlechter hervorkamen (v. 16 157).

3.3 Sternenkunde Es ist ebenfalls Rudolf von Ems, der Abraham mit der Astronomie/Astrologie in Zusammenhang bringt. In Ägypten (Babilon), so stellt er in seinem ‚Alexander‘ fest, seien Weisheit und Künste wohl bekannt gewesen, und swaz irdischin wisheit | von astronomie geseit | unde von der sternen kraft | daz kunden sie nach meisterschaft | von Abrahames lere gar | als er si lerte und brahte dar.15

12 Heinrich von Neustadt (Anm. 10), S. 326, v. 20 507. 13 Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat, hrsg.  v. Franz Pfeiffer, Leipzig 1843, ND Berlin 1965, S. 86, vv. 3394f. 14 Dazu Martin Przybilski, Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 61), Berlin u. a. 2010, S. 206–217. 15 Rudolf von Ems, Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts, 2 Bde., hrsg. v. Victor Junk (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 272 u. 274), Leipzig 1928–1929, ND Darmstadt 1970, Bd. 1, S. 8, vv. 171–176; vgl. auch Rudolf von Ems (Anm. 6), S. 17, vv. 1177–1183.





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Einen Zusammenhang zwischen den Anfängen der Astrologie und Abraham erwähnt auch Johannes Rothe im ‚Ritterspiegel‘16. Die um 1415 entstandene, an einen jungen Adligen gerichtete Standesdidaxe bietet unter anderem eine ausführliche Darstellung vom richtigen Verhalten im Krieg. Astrologie kommt mit der Frage ins Spiel, ob es sinnvoll sei, vor Beginn einer Schlacht den Himmel zu erforschen, um zu prüfen, ob der richtige Zeitpunkt für die Schlacht nun da sei. Johannes Rothe äußert sich diesbezüglich skeptisch – nicht der Lauf der Gestirne sei für den Ausgang einer Schlacht oder eines Kriegszuges entscheidend, sondern allein Gottes Wille: Etzliche ramen gudir zcid | noch dez himmels louftin, | wan sie sullin haldin den strid. | Dit habin di ungetouftin, || Di wisin babilonischin zcu dem erstin fundin | und wise judin mit den heidin, | di dez gesternes kunste wol kundin; | Dit vindit man von en beidin. || Moses und ouch Abraham | kundin di kunst gar wole, | abir god en mer zcuhulffe quam | und liez syner gnade sy sich irhole. || Ab wol der himmel wedir sy waz, | dannoch sy di strite gewunnen. | Dez himmels meistir machte daz, | den sy allezcid wol besunnen. (‚Ritterspiegel‘, vv. 4013–4028).

Abrahams astrologische Kenntnisse werden in der Bibel nur angedeutet. Die Vorstellung, dass Abraham sternenkundig war, lässt sich auf Gn 11,31 (Abraham lebte unter den Chaldäern, bevor er nach Kanaa zog) und Gn  15,5 (Gott fordert Abraham auf, seine Nachkommenschaft an den Sternen zu zählen) zurückführen. Ein Abschnitt aus dem mittelhochdeutschen ‚Lucidarius‘ nimmt das Motiv im Initium auf; der astrologische Fachtext beginnt mit den Worten: Got hieß Abraham das er anseche die hymel.17 Die Verbindung Abrahams mit der mesopotamischen Astrologie wird bei Petrus Comestor in der ‚Historia Scolastica‘18 aufgenommen, was Rothes Quelle gewesen sein dürfte.19 Während das Motiv von Abrahams Sternenkunde im christlichen wie auch im jüdischen Abrahambild nur am Rande Erwähnung findet, ist die Kenntnis vom Gang der Gestirne für den Glauben Ibrahims, wie der Stammvater im Koran genannt wird, zentral. In der hierfür wichtigsten Sure  6 wird geschildert, wie Abraham durch die

16 Johannes Rothe, Der Ritterspiegel, hrsg., übers. u. komm. v. Christoph Huber u. Pamela Kalning, Berlin, New York 2009. 17 Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 226, fol. 97r–98v, zitiert nach der Handschrift. Vgl. auch Cod. Pal. germ. 718, fol. 1r, und Cod. Pal. germ. 291, fol. 26v–28v. Zum Lucidarius-Auszug vgl. Klaus Schönfeldt, Lucidarius-Auszüge in astronomischen Handschriften des 15. Jahrhunderts, in: Centaurus 8 (1963), S. 85–90; Georg Steer, Lucidarius, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl. Bd. 5 (1985), Sp. 939–947. 18 Petrus Comestor, Scolastica historia. Liber Genesis, hrsg. v. Agneta Sylwan (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis 191), Turnhout 2005, S. 84: post diluuium decima generatione fuit apud Chaldeos uir in celestibus rebus expertus. 19 Johannes Rothe (Anm.  16), S.  419 (Kommentar der Herausgeber zu vv.  4021f.). Wenige weitere Nachweise aus der christlichen Tradition werden genannt bei Heither u. Reemts (Anm. 1), S. 247f.



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Beobachtung vom Sinken von Sternen, Mond und Sonne zum Eingottglauben an den Schöpfer der Gestirne und der Erde gelangt:20 Und als Ibrahim zu seinem Vater Azar sagte: ‚Nimmst du Götzen zu Göttern? Ich sehe dich und dein Volk in einem offenbaren Irrtum‘, da zeigten Wir Ibrahim das Reich der Himmel und der Erde, auf dass er zu den Festen im Glauben zählen möge. Als ihn nun die Nacht überschattete, da erblickte er einen Stern. Er sagte: ‚Das ist mein Herr.‘ Doch da er unterging, sagte er: ‚Ich liebe nicht die Untergehenden.‘ Als er den Mond sah, wie er sein Licht ausbreitete, da sagte er: ‚Das ist mein Herr.‘ Doch da er unterging, sagte er: ‚Wenn mein Herr mich nicht rechtleitet, werde ich gewiß unter den Verirrten sein.‘ Als er die Sonne sah, wie sie ihr Licht ausbreitete, da sagte er: ‚Das ist mein Herr, das ist noch größer.‘ Da sie aber unterging, sagte er: ‚O mein Volk, ich habe nichts mit dem zu tun, was ihr (Allah) zur Seite stellt. Seht, ich habe mein Angesicht in Aufrichtigkeit zu Dem gewandt, Der die Himmel und die Erde schuf, und ich gehöre nicht zu den Götzendienern.‘ (Sure 6:74–79)21

Diese Verknüpfung der Beobachtung der Sterne mit der Erkenntnis von der Schöpfung durch den einen Gott findet aber bei Johannes Rothe und Rudolf von Ems keinen Widerhall. Übrig bleibt nur das Motiv der astrologischen Kenntnisse Abrahams, das theologisch funktionslos bleibt.

3.4 Partnerwahl Ähnlich zusammenhanglos scheint eine weitere Bibelstelle zu stehen, die Johannes Rothe ebenfalls im ‚Ritterspiegel‘ verwendet, dort heißt es: Abrahammes knecht swur uf sin diech, | daz keyn heidin worde genommen | von Ysaac. Man werdit houbtsiech | Vil dicke von bosir geselschaft, | dit ist eyn aldis sprichwort.22

Rothe nimmt hier Bezug auf Gn 24:23 Abrahams Knecht schwor auf seine Hüfte, dass von Isaak keine Heidin (zur Ehefrau) genommen werde und fährt mit einem Sprich-

20 Einführend Bauschke (Anm. 2), S. 45–51. In diesem Sinne z. B. stellt Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, Gräfenhainichen 1931, ND Darmstadt 1961, S. 120–186, Sure 6 seinem Abrahamkapitel voran. 21 Der Koran. Aus dem Arabischen von Max Henning, überarb.  u. hrsg.  v. Murad  W. Hofmann, Kreuzlingen 2005. 22 Johannes Rothe (Anm. 16), S. 26–28, vv. 130–134. 23 Erat autem Abraham senex dierumque multorum et Dominus in cunctis benedixerat ei dixitque ad servum seniorem domus suae qui praeerat omnibus quae habebat pone manum tuam subter femur meum ut adiurem te per Dominum Deum caeli et terrae ut non accipias uxorem filio meo de filiabus Chnaeorum inter quos habito, sed a terrem et ad cognationem meam proficiscaris et inde accipias uxorem filio meo Isaac [...] posuit ergo servus manum sub femore Abraham domini sui et iuravit illi super sermone hoc. Übers. nach Luther (vgl. Anm. 3): „Abraham war alt und wohlbetagt und der Herr hatte





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wort fort: Man werde oft krank am Haupt von schlechter Gesellschaft. Die Brautwerbung Isaaks, die „den nachexilischen Zielkonflikt zwischen (legitimer) Heirat in der mesopotamischen Verwandtschaft und Verbleib im Land“24 thematisiert, wird von Johannes Rothe in einen Abschnitt integriert, in dem das Lernen, und zwar das Lernen von Tugenden, behandelt wird. Wie eine leere Tafel komme ein Kind auf die Welt und je nachdem, was man auf diese Tafel einschreibe, werde das Kind tugendhaft oder böse. Rothe kombiniert den aristotelischen tabula-rasa-Gedanken25 mit einem Psalmwort, Mit den heiligen werdistu heilig, Und mit den vorkartin vorkart (Ps 17,26–27), dem oben genannten Genesiszitat und einem weiteren Sprichwort. Es geht in erster Linie um den Umgang, den das Kind pflegen soll – von dem Thema Brautwerbung dürfte der didaktische Impetus des Lehrers und Fürstenerziehers hier weit entfernt sein. Die Details der biblischen Geschichte werden ausgeblendet; übrig bleibt ein Motiv, das dazu dient, eine Aussage – hier: „umgebe dich mit guter Gesellschaft“ – zu illustrieren. Johannes Rothe verwendet die biblische Geschichte als Exempel,26 ohne dass damit weitere theologische Implikationen verknüpft wären. Im ‚Ritterspiegel‘, der als ständische Didaxe die traditionellen Privilegien von Adel und Rittertum mit Tugendforderungen und Verhaltensregeln verbindet, stellt Johannes Rothe hier wie auch in weiteren seiner didaktischen Werke verschiedenartige heterogen wirkende Sentenzen und Autoritätenzitate zusammen, um die Gültigkeit einer Aussage zu untermauern.

3.5 Gabe des Zehnten Einen vollkommen anderen Aspekt aus dem Fundus um die Figur Abraham finden wir im ‚Schachzabelbuch‘ Konrads von Ammenhausen,27 und zwar im Zusammen-

ihn gesegnet allenthalben. Und er sprach zu dem ältesten Knecht seines Hauses, der allen seinen Gütern vorstand: Lege deine Hand unter meine Hüfte Und schwöre mir bei dem Herrn, dem Gott des Himmels und der Erde, daß du meinem Sohn kein Weib nehmest unter den Töchtern der Kanaaniter, unter welchen ich wohne, sondern daß du ziehest in mein Vaterland und zu meiner Freundschaft und nehmest meinem Sohn Isaak ein Weib. [...] Da legte der Knecht seine Hand unter die Hüfte Abrahams, seines Herrn, und schwur ihm solches.“ 24 Erhard Blum, Abraham, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl. Bd. 1 (1998), Sp. 70–74, hier Sp. 73. 25 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. u. komm. v. Franz Dirlmeier (Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung 6), Darmstadt 1956, S. 28, 1103a. 26 Grundlegend zum Begriff Exempel Nigel F. Palmer, Exempla, in: Frank  A.  C. Mantello u. Arthur  G. Rigg (Hgg.), Medieval Latin. An Introduction and Bibliographical Guide, Washington  D.C. 1996, S. 582–588. 27 Das Schachzabelbuch Kunrats von Ammenhausen. Nebst den Schachbüchern des Jakob von Cessole und des Jakob Mennel, hrsg. v. Ferdinand Vetter, Frauenfeld 1892.



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hang mit der Darstellung des ersten Venden, des Bauern. Dessen Tugenden sind mit Gottesfurcht, Achtung vor dem Gesetz und dem Fehlen von Furcht vor dem Tod wenig spezifisch. Insbesondere wird als eine zentrale Tugend des Bauern die Bereitschaft, den Zehnten zu entrichten, aufgeführt. In diesem Kontext findet sich die einzige Erwähnung Abrahams im ‚Schachzabelbuch‘ Konrads. An disem schachzabelbuoche stât | von zehenden niht geschriben mê, | wan als ir hant gehoeret ê | dâ vor; doch sond ir wissen das, | das Abraham der êrste was, | der den êrsten zehenden gap. | swer wissen welle den urhap, | der suoche an der biblî, | wâ das vierzehent kapitel sî | des buochs, das Genesis ist genant; | ich waene, das tüege ims bekant. | dô Abraham den sig gewan | und im ­Melchisedech bekan | und im brâhte brôt und wîn | und im segnete die spîse sîn, | dô gab im den êrsten zehenden Abraham | von allem dem roube, den er nam | dien künigen, die er überwant, | und Loth erlôste von ir hant. | das seit noch bas hystoriâ, | die man nennet scolasticâ; | dâ suoch ers, swer es wissen wil, | wan es wurde gar ze vil, | ob ich es alles sölte sagen; | dâvon wil ich es verdagen | und sagen von der materie hie | an der stat, dâ ich es lie. | das was, wie ein bûman sol leben:  | er sol sîn zehenden rehte geben,  | als ich an dem schachzabelbuoch vant. (vv. 10 200–10 229).

Konrad von Ammenhausen, der Leutpriester aus Stein am Rhein bei Basel, hat seine Vorlage, den lateinischen ‚Liber de moribus seu de ludo scacchorum‘, an dieser wie auch an zahlreichen weiteren Stellen ausführlich ergänzt und eine Vielzahl an zusätzlichen Beispielen und Erläuterungen zu den einzelnen Tugendforderungen inseriert. Als Quelle für Abrahams Gabe des Zehnten an Melchisedek nennt Konrad selbst Gn 14: Als er nun wiederkam von der Schlacht des Kedor-Laomor und der Könige mit ihm, ging ihm entgegen der König von Sodom in das Feld, das Königstal heißt. Aber Melchisedek, der König von Salem, trug Brot und Wein hervor. Und er war ein Priester Gottes des Höchsten. Und segnete ihn und sprach: Gesegnet seist du, Abram, dem höchsten Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat; und gelobt sei Gott der Höchste, der deine Feinde in deine Hand beschlossen hat. Und demselben gab Abram den Zehnten von allem. Da sprach der König von Sodom: Gib mir die Leute, die Güter behalte dir. Aber Abram sprach zu dem König von Sodom: Ich hebe meine Hände auf zu dem Herrn, dem höchsten Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat. Daß ich von allem, was dein ist, nicht einen Faden noch einen Schuhriemen nehmen will, daß du nicht sagest, du habest Abraham reich gemacht; ausgenommen, was die Jünglinge verzehrt haben, und die Männer, die mit mir gezogen sind, die laß ihr Teil nehmen.28

Der Bericht wird zwar auch im Hebräerbrief wieder aufgenommen (vgl. Hebr 7,1–10), doch Konrad geht ausdrücklich auf die erste Quelle zurück und nennt als einen weiteren Ort, um darüber nachzulesen, die ‚Historia Scolastica‘, die ebendiesen Bericht

28 Gn 14,17–24; zur Übers. vgl. Anm. 3.





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wiederholt.29 Auch hier ist ein theologisch kaum interpretationsbedürftiger Gebrauch der Bibelstelle festzustellen, das Verhalten des biblischen Vorbildes wird als nachahmenswert vorgeführt und illustriert die für alle Gläubigen, zu denen auch die Bauern gehören, geltende Pflicht, seine Abgaben zu leisten.

3.6 Gehorsam und Glaube Die Gabe des Zehnten, die Achtung vor dem Gesetz, kann man als Teilaspekt einer übergreifenden Tugend Abrahams ansehen. In Tugendkatalogen wird Abraham aufgrund seines Gehorsams hervorgehoben. Thomasin von Zerclaere erwähnt in seinem umfassenden didaktischen Werk, dem ‚Welschen Gast‘ (fertiggestellt 1215), Abraham nur ein einziges Mal und zwar in einer solchen Aufzählung: Ir sult wizzen ze dirre vrist, | swer ze Himel komen ist, | der muoste ûf der tugende stiege. | Swen des dunket daz ich liege, | der zeige wer ie kœme dar, | ern wære tugenthafte gar. | Ob er mirz niht zeigen kan, | sô geloube der selbe man | daz man in alter und in jugent | mac dar niht komen âne tugent. | Von wiu kom Abrahâm dar? | Durch sîn gehôrsam, daz ist wâr. | Moyses durch sîn diumuot | kom zem oberisten guot. | Îob durch sîn gedultikeit.30

Wer auf der Tugendleiter in den Himmel kommen will, muss eine Vielzahl von Tugenden aufweisen (vv. 6065–6079), im Hinblick auf den Gehorsam soll er sich an Abraham orientieren und ihn übertreffen: Wer mac sich hin ze Got gelîchen | der die tugent hât vil gar | und volleclîchen? Daz ist wâr, | er hete grœzer gehôrsam | dan der gehôrsame Abrahâm. | Er hete ouch grœzer diumuot | danne Moyses, der guot. | Er was kiuscher dan Îsâc: | Jâcobs einvalte an im lac. | Sô wizzet vür die wârheit, | er hete grœzer dultikeit | dan Îob.31

Die vierzehnte der ‚Hessischen Reimpredigten‘ macht deutlich, was in dem didaktischen Text nur angedeutet wurde:

29 Petrus Comestor (Anm. 18), S. 88: At uero Melchisedech rex Salem obtulit ei panem et uinum. Quod quasi exponens Iosephus ait: Ministrauit exercitui exenia et multam habundantiam rerum opportunarum simul exhibuit. Et super epulas benedixit Deum qui Abre subdiderat inimicos. Erat enim sacerdos Dei altissimi. [...] Cui Abram decimas dedit ex omnibus spoliis, et tunc primum decime leguntur date, primitie uero ab Abel. Et ait ad eum rex Sodomorum: Da michi animas, cetera tibi tolle. Et noluit Abram etiam minimum quid tollere, exceptis que comederunt iuuenes et partibus trium fratrum, qui uenerant cum eo. Hunc Melchisedech aiunt Hebrei fuisse Sem filium Noe et uixisse usque ad Ysaac, et omnes primogenitos a Noe usque ad Aaron sacerdotes fuisse. Qui in conuiuiis, et oblationibus populo benedicebant, et heredibus dabant primogenita. De quibus post explicabitur. 30 Der wälsche gast des Thomasin von Zirclaria, hrsg. v. Heinrich Rückert (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 30), Quedlinburg u. a. 1852, ND Berlin 1965, S. 164f., vv. 6041–6055. 31 Ebd., S. 165f., vv. 6080–6091.



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her noch sa gat der dritte kruog | der gehorsam me dan cluog | mit deme auch Abraham | zuo Ihesu Kristis hochzit quam | ir sullit wissen, daz ich las, | daz an der gehorsam was | Abraham follekummen gar | an allen dingen, daz ist war | in Genesi, dem buoche, da | sa lisit man mit namen sa, daz got durch sine milde | uns allen zuo einem bilde | versuhte, obe im Abraham | auch wolde sin gehorsam | [...] | froliche halden sin gebot, | got nit verlan durch keine not | alse Abraham auch dede | der heilige unde der stede | der zuo deme aller mersten | den besten unde den hersten | sich selber brahte gode | zuo allem sime gebode.32

Das Verhalten Abrahams in der Prüfung ist ein Vorbild für uns Christen im Gehorsam. Ohne die Geschichte selbst berichten zu müssen, rekurriert auch Thomasin auf die Bereitschaft Abrahams, seinen Sohn Isaak auf den Befehl Gottes hin zu opfern. Dies ist für das christliche Mittelalter der wohl bedeutendste Aspekt, der die Person Abrahams kennzeichnet. Die Opferung Isaaks wird in der ‚Glossa Ordinaria‘ zu Gn 22 als Präfiguration des Opfers Christi durch Gott den Vater im Neuen Testament gedeutet.33 Der unbedingte Gehorsam ist eine Prüfung, die Gott Abraham auferlegt, und deren Erfüllung den wahren Glauben Abrahams beweist. Rudolf von Ems macht diese Verbindung explizit: Abraham der reine man | in sînen sinnen dô began | got minnen alsô sêre | daz er im durch sîn êre | sîn kint und sînes kindes leben | wolte zeopher hân gegeben.34

Bei Johannes Rothe im ‚Lob der Keuschheit‘35 wie auch im Prolog zu den ‚Secreta Secretorum‘36 erscheint denn auch der Glaube als zentrale Tugend Abrahams. Die Bereitschaft zum Opfer ist im ‚Jüngeren Titurel‘ ein wichtiger Beweis für die Festigkeit Abra-

32 ‚Hessische Reimpredigten‘ (Anm. 11), S. 176–178, Nr. 14, vv. 425–507. 33 Vgl. Anm. 2. 34 Rudolf von Ems (Anm. 13), Sp. 55, vv. 2155–2160. Ähnlich führt es auch der ‚Jüngere Titurel‘ ausdrücklich aus, s. Albrecht von Scharfenberg, Jüngerer Titurel, 4 Bde., hrsg. v. Werner Wolf u. Kurt Nyholm (Deutsche Texte des Mittelalters  45, 55/61, 73/77, 79), Berlin 1955–1995, hier Bd.  2, S.  49, Str. 2148, 1: Der hoehst geb uns die minne, die Abraham erkande, | do er in rechte sinne, an sinem lieben kind des todes mande, | des wolt in got zum opfer niht verdriezen, | darumb er sin geslehte merte mer denn zal des meres griezen. 35 Johannes Rothe, Das Lob der Keuschheit. Nach C. A. Schmidts Kopie einer verschollenen Lüneburger Handschrift, hrsg. v. Hans Neumann (Deutsche Texte des Mittelalters 38), Berlin 1934, S. 83f., vv. 2949–2958: Di liebe ist gote anneme gar vel | also des kuschen menschen Abel | mit iren oppher das si gote thud | unnd also Noe uf der sintflud. | also Abraham in dem glauben veste | also Moyses sanfftmutig in ober leste, | barmhertzig also konig David, | der betrupnisse leid manig zid | zu liden bereit unnd gehure | also di dry kinder in dem fure. 36 Hiltgart von Hürnheim, Mittelhochdeutsche Prosaübersetzung des Secretum Secretorum, hrsg. v. Reinhold Möller (Deutsche Texte des Mittelalters  56), Berlin 1963, S.  1, Prologus  4: In te namque reperiuntur sanctorum gratie universe: Noe pudicitia, Habraha fidelitas, Isaac confidentia, longanimitatis Moysi, tollerantia Josue, stabilitas Elie, devotio Helesei, perfectio David, benignitas Thobie, sensus ­Salomonis, Iob patientia, castitas Danielis, Isaie fecunditas, perseverantia Jeremie cum ceteris sanctorum virtutibus in tua plenissime habitant sanctitate.





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hams im Glauben und Grund für die Aufnahme in Gottes Paradies: got Abraham sin opfer galt mit werde  | in vrone paradise und ouch vil werdiclichen hie uf erde.37 Das Opfer steht gleichberechtigt neben der Gotteserkenntnis: In Abraham erkande, daz er was ein herre | gewaltic aller lande, uber alle kreatuere nah und verre | ist er gewalticliche krone tragende |schepfer aller dinge, da von ist man im richez lop ie sagende.38

4 Fazit Abraham ist wie im Islam39 auch im christlichen Mittelalter eine Exempelfigur mit zahlreichen für den jeweiligen Argumentationszweck einsetzbaren Facetten, deren moralische Vorbildhaftigkeit aufgrund seiner Erwähltheit wie auch seines Gottvertrauens unzweifelhaft ist. Der Glaube Abrahams stützt sich auf seine Gotteserkenntnis, wird aber erst deutlich in seiner Prüfung. Über die biblischen Texte hinausgehende ergänzende Motive sind in dem vorliegenden Material nicht ersichtlich, rabbinische Auslegungstraditionen scheinen ebenso wenig einzufließen wie Koranperikopen, weder als direkte Zitate noch als indirekte Reflexe. Dies wird besonders deutlich in der Aufnahme des Motivs von Abrahams Sternenkunde, die in den mittelhochdeutschen Texten keinerlei Bezug auf seine Gotteserkenntnis hat. Die aus dem Samen Abrahams hervorgegangen zwölf Stämme Israels werden erwähnt, haben aber ihre heilsgeschichtliche Exzeptionalität eingebüßt; die Tatsache, dass Abraham über Ismael auch im Islam eine wichtige Rolle spielt, ist vollständig ausgeblendet.

37 Albrecht von Scharfenberg (Anm. 34), Bd. 1, S. 46, Str. 182, 3. 38 Ebd., Bd. 3, 2, S. 421, Str. 6073, 1. 39 Vgl. z. B. Bauschke (Anm. 2), S. 10.



Elke Ukena-Best (Heidelberg)

Abrahamsbilder im geistlichen Drama des deutschen Spätmittelalters Abstract: Dem Publikum des geistlichen Dramas bietet sich ein facettenreiches Abrahamsbild. Der biblische Stammvater tritt in alt- und neutestamentlichen Szenen auf, die ihn in verschiedenen Rollen zeigen: Exempelfigur für Gottesgehorsam, Träger der göttlichen Verheißung, Repräsentant des dritten Weltzeitalters, theologische Berufungsinstanz im christlich-jüdischen Disput. Da im Passionsgeschehen eine weitere Abrahamsfigur in Gestalt eines christusfeindlichen Juden agiert, werden zwei kon­ träre, gleichwohl miteinander verbundene Anliegen der Passionsspielaufführungen im Spätmittelalter virulent: die pastorale Intention der christlichen Glaubensvermittlung und die ihr assoziierte antijudaistische Polemik.

Im geistlichen Drama des deutschen Spätmittelalters ist die Figur Abrahams in Pas­ sions- und Fronleichnamsspielen des 14. bis 16. Jahrhunderts präsent.1 Eigenständige Abrahamsdramen, wie sie das besonders an alttestamentlichen Stoffen interessierte Bibeldrama der Reformationszeit hervorbringt, gibt es in der mittel­alterlichen Spiel­ tradition nicht. Doch tritt Abraham hier in mehreren Funktionen und dramatischen Zusammenhängen auf und es agieren zwei verschiedene Personen unter seinem Namen: 1. der alttestamentliche Patriarch, 2. der Jude Abraham aus der Gruppe der neutestamentlichen Christusfeinde. So bieten die Spiele ein mehrdimensionales, an die jeweilige Rolle gebundenes Abrahamsbild. Da dieses bislang noch nicht spe­ziell untersucht wurde, ist es zunächst einmal sinnvoll, die einschlägigen Spiel­szenen im Überblick vorzustellen und die Grundzüge des Figurenprofils darzulegen.2 Angesichts der Tatsache, dass die oft mehrtägigen Aufführungen in der spätmittelalterlichen Stadt als mediales Großereignis mit heilsdidaktischem Anspruch inszeniert wurden, wird auch der Frage nachgegangen, welche religiösen Aspekte dem bürgerlichen Laien­ publikum mit den spezifischen Darstellungsverfahren des geistlichen Dramas aktuell vermittelt werden sollten. Um die sprachliche Gestaltung der Texte zu vergegenwärtigen, werden kürzere Zitatbeispiele aus verschiedenen Spielen he­rangezogen. Für die Passionsspiele, die als zentralen Ereigniskomplex das Leben, Leiden und Sterben Jesu dramatisieren, ist der Aufführungsort eine auf einem städtischen Hauptplatz wie dem Markt- oder dem Kirchenvorplatz eingerichtete Simultanbühne.

1 Zur Kurzcharakteristik der beiden Spieltypen vgl. Elke Ukena-Best, Passionsspiel, in: Metzler Lexikon Literatur, 3. Aufl. (2007), S. 574; dies., Fronleichnamsspiel, in: ebd., S. 255. 2 Die gesamte Textüberlieferung der deutschsprachigen Passions- und Fronleichnamsspiele zu erfassen, ist im Rahmen dieser Abhandlung allerdings nicht möglich.



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Alle Handlungsorte sind hier bereits aufgebaut, sodass neben der Sukzession des dramatischen Verlaufs die zusätzliche Ebene der lokalen Simultaneität es ermöglicht, theologische Sinnbezüge zwischen zeitlich und räumlich auseinanderliegenden Geschehnissen der Heilsgeschichte visuell wahrnehmbar zu machen. Die thematische Perspektivierung auf die Menschheitserlösung durch Christus führt in späteren Spielen des 15. und 16. Jahrhunderts zur Erweiterung des neutestamentlichen Kerngeschehens um Ereignisse der vor- und nachchristlichen Heilsgeschichte und damit auch zur Aufnahme von Szenen aus dem Alten Testament mit spezifischer Verweisfunktion auf das Erlösungsgeschehen wie etwa die Opferung Isaaks oder die Episoden um Kain und Abel, David und Goliath sowie Joseph und seine Brüder. Anders strukturiert sind die in der Verehrung des Altarsakraments begründeten, die gesamte Heilsgeschichte nachvollziehenden Fronleichnamsspiele, die an den Stationen der Fronleichnamsprozession unter Leitung eines Rector processionis markante Begebenheiten und repräsentative Personen von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht gemäß biblischer Chronologie in Form von Lebenden Bildern, Figurenreden oder dramatischer Inszenierung vorstellen. Die hier in die gottesdienstliche Kulthandlung des geistlichen Umzugs eingebundenen Spielszenen sind mitunter aus Passionsspielen übernommen, bleiben aber zumeist ohne textliche Aufschwellung auf die wesentlichen, der Glaubensvermittlung und der Veranschaulichung von Glaubenstatsachen dienenden Geschehensfaktoren beschränkt. Zusätzliche exegetische Kommentare des Rector processionis verstärken die Lehrhaftigkeit des Vorgeführten. Es ist ein Charakteristikum der Passions- und Fronleichnamsspiele, dass die zumeist geistlichen Autoren3 zwar von der biblischen Textbasis ausgehen und auch Bibelstellen wörtlich übernehmen, bei der Umsetzung der biblischen Ereignisse in dramatische Handlung und der Transformation von Bibelprosa in Dialoge jedoch recht selbständig vorgehen und eigene Textpassagen mit spezieller Akzentsetzung verfassen. Auch kommt es zu stofflichen Veränderungen oder Ergänzungen und zur Aufnahme zusätzlicher Szenen durch den Einbezug weiterer Quellen wie Apokryphen, Legenden, Predigten, religiös-theologischen Traktaten und Texten der Liturgie. Diese spieltypische Freiheit der dramatischen Ausgestaltung wirkt sich auch in den Abrahamsszenen aus.

1 Abraham, der alttestamentliche Patriarch Alttestamentliche Szenen, in denen Abraham als biblischer Stammvater auftritt, sind die Opferung Isaaks (1.1), die Begegnung mit Melchisedek (1.2) und die Werbung

3 Da die überlieferten Spieltexte vielfach keine neu geschaffenen Werke, sondern Überarbeitungen oder Neufassungen bereits existierender älterer Versionen eines Spiels sind, steht die Bezeichnung ‚Autor‘ hier allgemein für den Verfasser oder Redaktor des jeweils vorliegenden Textes.



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Isaaks um Rebecca (1.3). Im neutestamentlichen Spielteil zeigt sich Abraham zum einen in der Szene der Höllenfahrt Christi (1.4) als einer der vorchristlichen Gerechten im Limbus, zum anderen fungiert er ohne reale Bühnenpräsenz als theologische Legitimationsinstanz (1.5) in den Glaubensstreitszenen zwischen Jesus und den Juden und zwischen Ecclesia und Synagoga.

1.1 Die Opferung Isaaks An den alttestamentlichen Szenen, die auf ein vertieftes Verständnis des neutestamentlichen Heilsgeschehens abzielen, ist zu beobachten, dass sie gemäß dem im Mittelalter gängigen Prinzip des Verständnisses von Ereignissen der biblischen Historie nach dem mehrfachen Schriftsinn unterschiedlich präsentiert werden. So stellt sich die Szene der Opferung Isaaks4 (gemäß Gen  22,1–19) in anderer dramatischer Ausformung dar, je nachdem, ob der Autor nach dem allegorisch-heilsgeschichtlichen Sinn mit der Holztragung Isaaks die Präfiguration der Kreuztragung Jesu oder auf der Ebene des tropologisch-moralischen Verständnisses mit Abraham ein Exempel für bedingungslosen Gottesgehorsam vorführen will. Die szenische Wiedergabe ist also bereits von der exegetischen Absicht gesteuert. Dass es sich dabei um ein wesent­liches Verfahren der Rezeption des biblischen Berichts handelt, wird an den folgenden Textbeispielen deutlich. Da die Opferung Isaaks als die am häufigsten dramatisierte und mit den meisten Textbelegen vertretene Abrahamepisode besonders aufschlussreich ist, wird sie etwas ausführlicher als die anderen Szenen behandelt.

1.1.1 Präfiguration (allegorisch-heilsgeschichtlicher Sinn) Repräsentativ für die Gestaltung gemäß dem allegorisch-heilsgeschichtlichen Sinn ist das aus Mainz stammende ,Heidelberger Passionsspiel‘5 (Bergmann Nr. 62)6 von

4 Nr. 14 im Spielinhaltsregister Katalogs der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, hrsg. v. Rolf Bergmann (Veröffentlichungen der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften), München 1986; Szenenübersicht bei Fritz Reckling, Immolatio Isaac. Die theologische und exemplarische Interpretation in den Abraham-Isaak-Dramen der deutschen Literatur insbesondere des 16. und 17. Jahrhunderts, Diss. Münster 1962, S. 28–36. 5 Heidelberger Passionsspiel. Mit den Paralleltexten der Frankfurter Dirigierrolle, des Frankfurter Passionsspiels, des Alsfelder Passionsspiels und des Fritzlarer Passionsspielfragments, hrsg. v. Johannes Janota, Tübingen 2004. 6 Die Registriernummer im Katalog von Rolf Bergmann (Anm. 4) wird bei der ersten Nennung jedes Spieltextes angegeben. Editionen werden nur für diejenigen Texte verzeichnet, aus denen wörtliche Zitate aufgenommen sind. Ansonsten sei auf die bibliographischen Angaben bei Bergmann verwiesen.





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1514. Sein Autor stellt besonders deutlich die typologischen Bezüge zwischen dem Alten und dem Neuen Testament heraus. Er integriert die präfigurativen Szenen in das neutestamentliche Geschehen um Jesu öffentliches Wirken und seine Passion, indem er sie den entsprechenden neutestamentlichen Szenen unmittelbar vorausschickt. Die Verbindung zwischen Typus und Antitypus schafft jeweils die Rede eines Propheten, der zwischen beiden Szenen mit direkter Wendung an die Zuschauer den religiös-theologischen Konnex erklärt. Die Szene (vv. 4970b–5042b) ist ganz auf Isaak als Holzträger und Opfer konzentriert. Die den biblischen Bericht einleitende und auch bestimmende Feststellung, dass Gott Abraham auf die Probe stellt (Gen  22,1), lässt der Autor weg. Abrahams Gehorsam wird hier nicht speziell thematisiert, sondern ist als Grundzug seines Persönlichkeitsbildes die Voraussetzung für den göttlichen Auftrag. Der Aufforderung Gottes zur Opferung seines Sohnes folgt Abraham mit demütigem Kniefall und fraglos-vertrauensvoller Zustimmung: O gott, himellischer here, | Gerenn will jch erfüllenn dein beger: | Vff stundtt will jch jnn der arbeyt sein, | Dir zcu opferenn Ysaac, denn soen mein. (vv. 4981–4984: „O Gott, himmlischer Herr, gern will ich dein Begehren erfüllen. Sofort will ich die Aufgabe ausführen, dir meinen Sohn Isaak zu opfern.“)

Isaak, der in der Bibel nur mit der Frage nach dem Opfertier zu Wort kommt (Gen 22,7), erhält hier zwei gewichtige, seine Funktion als Typus Christi kennzeichnende Reden. Auf Abrahams Ansinnen, das Holz auf seinem Rücken zur Opferstätte zu tragen, erklärt er nachdrücklich seine Bereitschaft: Vatter Abraham, ich will willig sein, | Zcu volnbrengen denn willen dein. | Kein wort will jch auch me sagenn, | Das holcz will jch willigklich tragenn | Vnnd mitt dir ghenn vff den berg, | Das du erfüllest gottes werck. (vv. 4989–4994: „Vater Abraham, ich will willig sein, deinen Willen zu vollbringen. Ich will dazu kein weiteres Wort sagen. Ich will das Holz willig tragen und mit dir auf den Berg gehen.“)

Die durch geradezu suggestive Repetitio betonte Freiwilligkeit von Isaaks Handeln konstituiert als zentrales Motiv die Szene. Als Abraham später auf dem Berg den Altar errichtet hat, fordert er von seinem Sohn das Opfer: Alhy mustu ennden dein leben  | Vnnd will dich zcum opffr gebenn.  | Her vumb layß dich willig findenn. (vv. 5009–5011: „Hier musst du dein Leben beenden. Ich werde dich als Opfer hingeben. Darum zeige dich bereitwillig.“)

Erwartungsgemäß bekundet Isaak Demut, Opferwilligkeit und Leidensbereitschaft: Abraham, liebster vatter mein, | ich will gerenn gehorsam sein. | Widder gott will jch nitt streydenn, | Denn doit will jch willig leyden. (vv. 5013–5016: „Abraham, mein geliebter Vater, ich will gerne gehorsam sein. Gegen Gott will ich nicht aufbegehren. Den Tod will ich willig leiden.“)



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Danach sind alle noch folgenden Handlungspartien – das Eingreifen des Engels, die Opferung des Widders und die Segensverheißung – wieder eng an der Bibel orientiert. Indem sodann der Prophet Ezechiel in seiner direkt angeschlossenen explikativexegetischen Rede den typologischen Bezug herstellt, leitet er zur neutestament­ lichen Entsprechungsszene der Kreuztragung über: Ir habtt gesehenn hubsch vnnd schon, | Wie Ysaac, Abrahams soynn, | Gehorsamlich vnnd vnuer­ zcagenn | Hoitt vff seinen achsselenn getragenn | Das holcz, dar vff er leydenn woltt | Denn doitt (vv. 5045–5050: „Ihr habt auf angemessene Weise gesehen, wie Isaak, Abrahams Sohn, gehorsam und unverzagt auf seinen Schultern das Holz getragen hat, auf dem er den Tod leiden wollte.“)

Es folgt der Verweis auf den Antitypus: Also wirtt komen demuttiglich | Jhesus, gottes soenn vonn himelrych, | Vnnd wirtt das crüetz vff der achsselnn tragen, | Als vnns die ewangelistenn sagenn, | Dar ann leydtt er williglich denn doitt | Vnnd erloist denn menschen vß noitt. (vv. 5053–5058: „In derselben Weise wird Jesus, Gottes Sohn vom Himmelreich, voller Demut kommen und wird das Kreuz auf der Schulter tragen, wie es uns die Evangelisten berichten. Daran wird er willig den Tod leiden und wird den Menschen von der Verdammnis erlösen.“)

Der Autor parallelisiert die beiden Ereignisse durch die formale Disposition der Szenen und die Textgestaltung mittels Analogien im Rhetorischen und wörtlicher Übereinstimmungen in den Aussagen so, dass sich ihr heilsgeschichtlicher Zusammenhang mit dem Darstellungsschwerpunkt der Freiwilligkeit des Erleidens der Todesqualen dem Publikum nachdrücklich einprägt. Somit kann die Präfiguration auch den im Jesusbild des ,Heidelberger Passionsspiels‘ hervorgehobenen Aspekt der Stärke des für sein Heilswerk eintretenden Erlösers stützen, wodurch seine Schwäche als hilfloses Opfer der Glaubensfeinde relativiert wird.

1.1.2 Exempel für Gehorsam (tropologisch-moralischer Sinn) Häufiger findet sich die Opferungsszene vor dem Hintergrund der auf die mensch­ liche Einzelseele ausgerichteten tropologisch-moralischen Bedeutungsdimension dramatisiert. Spiele mit dieser Gestaltungsvariante sind das ,Egerer Passionsspiel‘7 (Bergmann Nr. 122) von ca. 1480, das ,Luzerner Passionsspiel‘8 (Bergmann Nr. 94) in der Textfassung von 1583, das ,Künzelsauer Fronleichnamsspiel‘9 (Bergmann Nr. 128)

7 Egerer Fronleichnamsspiel, hrsg. v. Gustav Milchsack (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 156), Tübingen 1881 (vom Herausgeber irrtümlich als ‚Fronleichnamsspiel‘ bezeichnet). 8 Das Luzerner Osterspiel. Gestützt auf die Textabschrift von M. Blakemore Evans, 3 Bde., hrsg. v. Heinz Wyss, Bern 1967. 9 Das Künzelsauer Fronleichnamsspiel, hrsg. v. Peter K. Liebenow (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVII. Jahrhunderts. Reihe Drama 2), Berlin 1969.





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von 1479, das ,Freiburger Fronleichnamsspiel‘10 (Bergmann Nr.  44) von 1599 und das unter dem Titel ‚Der Sündenfall‘ edierte mittelniederdeutsche Spiel des Arnold Immessen11 (Bergmann Nr. 171) vom Ende des 15. Jahrhunderts. Hier bilden die alttestamentlichen Szenen einen eigenen Szenenblock, der den neutestamentlichen Ereignissen nach biblischer Chronologie vorausgeht. Das Gehorsamsexempel wird den Zuschauern mit heilspädagogischer Absicht vor Augen geführt. Auch von ihnen fordert man die christliche Tugend des Gehorsams als Ausdruck rechten Glaubens. So sagt im ,Luzerner Passionsspiel‘ der die Szene einleitende Kirchenvater Augustinus: Von Abraham wirdtt man nun anfahen,  | Wie der vffopffrett Isaac sin sun,  | Damitt er Gott wolltt ghorsame thuon. | Ein söllich anzeig thuott vns schyn, | Das wir ouch söllend ghorsam sin. (vv. 646–650: „Von Abraham wird man nun vorführen, wie er seinen Sohn Isaak opferte, womit er Gott Gehorsam erweisen wollte. Eine solches Vorbild zeigt uns, dass auch wir gehorsam sein sollen“)

und im ,Künzelsauer Fronleichnamsspiel‘ mahnt der Rector processionis die Anwesenden: Ir sollent dy figur ach mercken, | Dy euch an geharsam sol stercken | Vnd jn rechtem glawben vestigen wol. | Her Abraham rechts glawben vol | Sein sun Ysaac erdotten vnd opfern wolt, | Durch rechter geharsam als er solt. (vv.  621–626: „Ihr sollt auch dieser Darstellung mit Aufmerksamkeit folgen, die euch in eurem Gehorsam stärken und im rechten Glauben festigen soll. Herr Abraham, erfüllt vom rechten Glauben, wollte seinen Sohn Isaak töten und opfern mit rechtem Gehorsam, wie er es sollte.“)

Alle Texte führen bereits am Anfang der Szene den Terminus ‚Gehorsam‘ (substantivisch oder adverbial) ein, der sich sinngebend als Dominante durch die Handlung zieht. Im ,Egerer Passionsspiel‘ ist der göttliche Opferungsbefehl von Aufforderungen zum Gehorsam eingerahmt: Abraham, hör den willen mein. | Wiltü mir recht gehorsam sein, | Ich wil dir sagen mein begier: | Dein sun, den soltü opfern mir, | Isaac den dü ganz libest ser. (vv. 757–761: „Abraham, höre meinen

10 Freiburger Passionsspiele des 16. Jahrhunderts, hrsg. v. Ernst Martin, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Beförderung der Geschichts-, Alterthums- und Volkskunde von Freiburg, dem Breisgau und angrenzenden Landschaften 3 (1873/1874), S. 3–95 (vom Herausgeber irrtümlich als ‚Passionsspiele‘ bezeichnet). Während mit der Szene von Abraham und Isaak (vv. 199–302) das Gehorsamsexempel gezeigt wird, weist im Prolog der Proclamator auch auf die präfigurative Bedeutung der Opferung Isaaks hin (vv. 25–28). 11 Arnold Immessen, Der Sündenfall, hrsg. v. Friedrich Krage (Germanische Bibliothek, 2. Abt., Untersuchungen und Texte 8), Heidelberg 1913. Dieses heilsgeschichtliche Spiel bietet alttestamentliche Szenen von der Erschaffung der Welt bis zum Besuch der Königin von Saba bei Salomon und endet mit der Geburt Marias und dem Streit der Töchter Gottes über die Erlösung der Menschheit. Mög­ licherweise ist dieser Text der Anfangsteil eines nicht vollständig erhaltenen Passionsspiels.



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Willen. Willst du mir in rechter Weise gehorsam sein, so will ich dir mein Begehren mitteilen: Deinen Sohn, den sollst du mir opfern, Isaak, den du so innig liebst.“)

Die Rede endet imperativisch: Gehorsamlich dich gegen mir naig (vv. 764: „Wende dich mir in Gehorsam zu!“) ‚Der Sündenfall‘ des Arnold Immessen eröffnet die Szene mit einer Rede Gottes, der zunächst dem Publikum seine Absicht der Gehorsamsprüfung mitteilt und sich dann an Abraham wendet, um auch ihm den Zweck des verlangten Opfers zu eröffnen: Dar wil eck dynen horsam ynne prouen. (vv. 1923: „Damit will ich deinen Gehorsam prüfen.“) Das personale Zentrum der Szene ist immer Abraham, der den Willen Gottes gemäß allen Anordnungen ausführt. In einigen Spielen wird die Rolle Isaaks so ausgebaut, dass er die Absicht des Vaters vor der Opferung erkennt und Angst äußert oder um Erbarmen fleht. So sagt er im ,Egerer Passionsspiel‘: O vatter, mein herz gänzlich erschrickt. | Ich ge mit ganzem traürigem gemüt. (vv. 775f.: „O weh, Vater, mein Herz erschreckt sich im Innersten, ich gehe mit tieftraurigem Gemüt“),

im ,Künzelsauer Fronleichnamsspiel‘: Gedenck, das ich bin der sun dein, | Liber vater vnd schon mein. (vv. 645f.: „Denk daran, dass ich dein Sohn bin, lieber Vater, und verschone mich“)

oder noch verstärkt im ,Freiburger Fronleichnamsspiel‘: Ich förcht, das opfer werd sein ich. | Herczliebster vatter, so bit ich dich, | Mag es in deinem willen sein, | Opffer für mich ein lembelin. | Bedenckh, das ich dein sune bein. | Verschon, herzliebster vatter mein! (vv. 227–232: „Ich fürchte, das Opfer werde ich sein. Herzliebster Vater, so bitte ich dich, wenn es in deinem Willen liegt, opfere an meiner Stelle ein Lämmlein. Bedenke, dass ich dein Sohn bin. Verschone mich, mein herzliebster Vater!“).

Mit dem Einbezug der emotionalen Dimension kann das Ausmaß der von Abraham geforderten Standhaftigkeit im Gottesgehorsam besonders intensiv vergegenwärtigt werden. Sich dem Flehen des Sohnes widersetzen zu müssen, so erfährt es das vom Leid des Kindes affizierte Publikum, ist für den Vater die schlimmste Anfechtung. Wenn der glaubensfeste Abraham dann seinerseits von Isaak den unbedingten Gehorsam für das gottbefohlene Opfer fordert, erweitert sich die Szene zum Doppel­ exempel, wie etwa im ,Luzerner Passionsspiel‘ und im ,Freiburger Fronleichnamsspiel‘. So wie Abraham Gott, dem himmlischen Vater, gehorsam ist, erweist Isaak seinem irdischen Vater den Gehorsam. Dass sich das Vorbild des Gehorsams von Vater und Sohn im Nachvollzug erfüllen wird, stellt Isaak im ,Luzerner Passionsspiel‘ heraus: Ouch die, so nach vns werdend kon, | Die werdend alls wir gehorsam sin. (vv. 722f.: „Auch die, die nach uns kommen werden, werden ebenso wie wir gehorsam sein.“). Im ,Zerbster Fronleichnamsspiel‘ wird das Auftreten der nicht selbst sprechenden Figuren vom Spielleiter mit erklärenden Ausführungen begleitet. Er betont Abra



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hams Gehorsam (v. 26) und die ihm dafür zuteilwerdende Verheißung der Geburt des Er­lösers aus seinem Geschlecht (vv.  31–34). Vom ,Löbauer Prozessionsspiel‘ (Bergmann Nr.  77), das nicht am Fronleichnamstag, sondern am Heilig-Kreuz-Fest 1521 veranstaltet wurde, ist nur die Prozessionsordnung erhalten, die einen Auftritt von Abraham und Isaak verzeichnet (Z.  18–20). Dass die Szene auch zum alttestament­ lichen Bestand des vermutlich viertägig gespielten ,Frankfurter Passionsspiels‘12 (Bergmann Nr.  42) von 1493 gehört, lässt sich nur aus archivalischen Quellen entnehmen, da der Spieltext zwar für den zweiten und dritten Tag, nicht jedoch für den ersten Tag und vierten Tag überliefert ist.13 Über ihre dramatische Beschaffenheit ist daher nichts zu erfahren.

1.2 Die Begegnung Abrahams mit Melchisedek In der seltener, vor allem in Fronleichnamsspielen aufgenommenen Szene der Begegnung Abrahams mit dem König und Gottespriester Melchisedek14 (Gn  14,18–20) kommt Abraham die Rolle des Stammvaters als Träger der göttlichen Verheißung zu (gemäß Gn 13,14–18). Die szenische Darstellung der Übergabe von Brot und Wein an Abraham schließt ihre Bedeutung als Präfiguration des Sakraments der Eucharistie ein. Im ,Künzelsauer Fronleichnamsspiel‘ erläutert der Rector processionis vorab den heilstheologischen Sinn der Szene: Das solt ein recht figur sein  | Des lebendigen brats von himelreich,  | Das fur vns wurt geopfert degleich. (vv. 670–672: „Das soll eine wahre Figuration/Vorausgestaltung des lebendigen Brotes vom Himmel sein, das ebenso für uns geopfert wurde.“)

Die unmittelbare Verbindung zur christlichen Abendmahlsfeier in der Gegenwart stellt er mit einer Gebetsanrufung an Christus her: Der prister vnd opfer hie gegen wertig ist, | Dein warer leychnam her Ihesu Crist, | Den wolstu vns zu speißen hy geben | Vnd dar nach furn jn das ewig leben. (vv. 673–676: „Der Priester und das Opfer sind hier gegenwärtig. Deinen wahren Leib, Herr Jesus Christus, den mögest du uns hier zur Speise geben, und danach mögest du uns in das ewige Leben führen.“)

12 Frankfurter Dirigierrolle. Frankfurter Passionsspiel. Mit den Paralleltexten der Frankfurter Dirigierrolle, des Alsfelder Passionsspiels, des Heidelberger Passionsspiels, des Frankfurter Osterspiels und des Fritzlarer Passionsspielfragments, hrsg. v. Johannes Janota, Tübingen 1996. 13 Zu den Aufführungsbelegen vgl. Klaus Wolf, Kommentar zur Frankfurter Dirigierrolle und zum Frankfurter Passionsspiel, Tübingen 2002, S. 302f. 14 Nr. 13 im Spielinhaltsregister bei Bergmann (Anm. 4).



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In seiner Segnung Abrahams spricht Melchisedek in Priesterfunktion von Brot und Wein als Opfergaben und weist damit prophetisch auf das mit der Erlösung der Welt verbundene ewige Priestertum Christi voraus. Durch Wortwiederholung, Chiasmus und Reimkorrespondenz kommt der heilstheologische Nexus beider Sachverhalte wirkungsvoll zum Ausdruck: Ich opfer dir bratt vnd wein, | Du solt ewiglichen gesegent sein. […] Es kumt ein prister, der wurtt ewig sein, | Dem wurtt man opfern brat vnd wein. (vv. 677f. u. 681f.: „Ich opfere dir Brot und Wein, du sollst auf ewig gesegnet sein. […] Es wird ein Priester kommen, der wird ewig sein, dem wird man Brot und Wein opfern.“)

Abraham hat in dieser Szene, die das alttestamentlich-historische Geschehen völlig ausblendet, die statische Position der präfigurativen Autorität ohne Handlungsaktivität zu erfüllen. Der Leiter des ,Zerbster Prozessionsspiels‘ hebt die Ehre Abrahams hervor, die ihm Melchisedek durch die Gabe von Brot und Wein erweist und betont den typologischen Bezug zu dem mit dieser Prozession verehrten Sakrament (vv. 27f.). Für das ,Ingolstädter Fronleichnamsspiel‘ (Bergmann Nr. 64) von 1507, eine Prozession mit Lebenden Bildern, ist nur die Prozessionsordnung erhalten, die einen Auftritt von Melchisedek mit Abraham verzeichnet (Z. 19). Andere Spiele, wie der ‚Sündenfall‘ des Arnold Immessen oder das ,Freiburger Fronleichnamsspiel‘, haben zwar eine Melchisedekszene, doch ist der Stammvater dort in die Darstellung nicht einbezogen.

1.3 Die Werbung um Rebekka Die Szene der Werbung um Rebekka15 (Gn 24) findet sich ausschließlich im ,Heidelberger Passionsspiel‘ (vv. 1343–1482) als Präfiguration der Szene von Jesus und der Samariterin.16 Typologisch entsprechen sich die Begegnungen am Brunnen: Die Frau – Rebekka / die Samariterin – reicht dem ihr unbekannten, sie um Wasser bittenden Mann – Abrahams Knecht / Jesus – den Wasserkrug. An Rebekka offenbart sich ihre göttliche Auserwähltheit; Jesus gibt sich der Samariterin als Messias zu erkennen. Abraham hat als Vaters Isaaks nur in der Anfangssequenz die Handlung auszulösen (gemäß Gn 24,1–9). Der Dialog mit dem Knecht, den er zur Brautwerbung für seinen

15 Nr. 15 im Spielinhaltsregister bei Bergmann (Anm. 4). 16 Lediglich einen Hinweis auf die Szene enthält noch die Prozessionsordnung des ,Ingolstädter Fronleichnamsspiels‘ (Z. 21). Da dort aber allein Abraham und Isaak genannt sind, ist die Bestimmung der Szene nicht ganz sicher. Vgl. Bergmann (Anm. 4), S. 154; Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, Bd. 1 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 84), München 1987, S. 409.





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Sohn in sein Geburtsland schickt, vermittelt dem Publikum in enger Anlehnung an den biblischen Text die zum Verständnis des Geschehens nötigen Kenntnisse. Auf die Rückfrage des Knechts berichtet Abraham von der einstigen göttlichen Verheißung für sein Geschlecht. Ohne Beteiligung an der Werbungshandlung bleibt er hier eine neutrale, nicht speziell profilierte Figur.

1.4 Christi Höllenfahrt Jenseits seiner biblischen Lebensgeschichte tritt Abraham als Repräsentant des dritten Weltzeitalters in einigen Passionsspielen unter den im Limbus gefangenen vorchristlichen Gerechten auf, die von Christus befreit und ins Paradies geführt werden.17 In der Quelle, dem Descensusbericht des apokryphen ‚Evangeliums Nico­ demi‘18 (cap.  xvii–xxvii: ‚Descensus ad inferos‘), sind es zunächst Jesaja, Johannes der Täufer, Adam und sein Sohn Seth, die beim Erblicken des Lichtscheins, der das Nahen des Heilands ankündigt, freudig ihre Erlösungshoffnung äußern. Abraham wird hier nur als einer der Anwesenden genannt (cap. xviii u. xix). Als Christus nach der Überwindung Satans die Gefangenen aus der Hölle entlässt (cap.  xxiv), stattet Adam ihm persönlich seinen Dank ab, während sich alle anderen zu einem kollek­ tiven Dankesgruß vereinen. An dieser Stelle erweitern die Spielautoren das Personal, indem sie einzelne der Altväter, darunter auch Abraham, den Erlöser mit eigenen, ihre jeweils singuläre heilsgeschichtliche Funktion betreffenden Reden begrüßen lassen. So ist diese Szene vom Triumph Christi über Hölle und Teufel nicht nur ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung entsprechend ausgeweitet, sondern auch der zur Publikumsbelehrung wichtigen Rekapitulation alttestamentlicher Erlösungsprophetien und markanter vorchristlicher Ereignisse nutzbar gemacht. Im ,Sterzinger Passionsspiel‘19 des Lienhard Pfarrkircher (Bergmann Nr. 148) von 1486, das zur Gruppe der Tiroler Passionsspiele gehört, ist die Szene so gestaltet, dass vor ihrer Befreiung Adam und Eva ihre Sündenschuld eingestehen und die Gefangenen Christus (hier: Salvator) um die Erlösungsgnade anflehen müssen, obwohl er diese am Anfang der Szene mit der Antiphon Venite, benedicti patris mey (einschließlich deutscher Paraphrase: Chombt her, ier lieben kindt, | Dy von mier gesegent sind;

17 Nr. 200–205 (Höllenfahrtszenen) im Spielinhaltsregister bei Bergmann (Anm. 4). 18 Evangelii Nicodemi pars altera sive Descensus Christi ad inferos. Latine A/Latine B, in: Evangelia Apocrypha, hrsg. v. Konstantin von Tischendorf, Leipzig 1876, ND Hildesheim u. a. 1987, S. 389–432; Nikodemusevangelium. Pilatusakten und Höllenfahrt Christi, in: Edgar Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, 2 Bde., hrsg. v. Wilhelm Schneemelcher, Bd. 1: Evangelien, 4. Aufl. Tübingen 1968, S. 330–358. 19 Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, hrsg. v. Joseph E. Wackernell (Quellen und Forschungen zur Geschichte, Literatur und Sprache Österreichs und seiner Kronländer 1), Graz 1897, ND Wiesbaden 1972, S. 181–253.



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vv. 3336f.: „Kommt her, ihr lieben Kinder, die von mir gesegnet sind.“) bereits feierlich kundgetan hat. Hier tritt Abraham besonders hervor, denn erst nach seiner Bittrede, die er im Namen aller in diesem grauenvollen helle kärcher (v. 3388: „Höllen­kerker“) Eingeschlossenen (Altväter, propheten und patriarcher,  | Alt, jung, man, frauen und kind, vv.  3389f.) vorbringt und mit einem eindringlichen Appell abschließt (Herr got, enpfach uns parmhercziklich!; v. 3393: „Herr Gott, empfang’ uns barmherzig!“), gewährt Salvator ihnen nunmehr definitiv die Aufnahme in den Himmel: Ich wil ewch nach disem jamer geben  | Ein freydenreiches leben  | In meines himelischen vaters reich;  | Dar in erfrewt ewch ewikleich. (vv.  3396–3399: „Ich will euch nach diesem Jammer ein freudeerfülltes Leben im Reich meines himmlischen Vaters geben; darin werdet ihr Freude in Ewigkeit haben.“)

Während im ,Sterzinger Spiel‘ die dem Erlösungsjubel vorausgehende sorgenvolle Ungewissheit der Altväter als retardierendes Moment dem Publikum zunächst wohl Furcht vor dem höllischen Schreckensort einflößen soll, herrscht in den Passionsspielen der alemannischen Spielgruppe sogleich die Erlösungsfreude. Kaum hat er den Höllenherrscher (hier: Luzifer) gefesselt, ruft Salvator auch schon mit der Er­lösungsbotschaft die Altväter zu sich, die ihm in langer Reihe nacheinander für die nun eingetretene Erfüllung ihrer Heilsprophetien danken. Abraham befindet sich unter den Exponenten der bis zur Ankunft des Messias vergangenen Weltalter und hält – nach Noah und vor David – eine emphatische Lob- und Dankesrede. Im ,Donaueschinger Passionsspiel‘20 (Bergmann Nr. 36) von ca. 1480 lautet sein Text: herr ich sag dir lob vnnd danck | mir ist die will gewesen lang | nu ist verschwunden als min leid | lob vnd danck sy dir geseit | vmb die marter vnd das liden din | dar durch wir erlöst sind von pin. (vv. 3999–4004: „Herr, ich sage dir Lob und Dank! Mir ist die Zeit lang gewesen, nun aber ist all mein Leid geschwunden. Lob und Dank sei dir gesagt für die Marter und dein Leiden, wodurch wir von der Höllenqual erlöst sind.“)

Fast identisch ist der Wortlaut seiner Rede im ,Luzerner Passionsspiel‘ (Bergmann Nr.  79) in den Fassungen von 1545 bis 1616 und im ,Villinger Passionsspiel‘ (Bergmann Nr. 36) vom Ende des 16. Jahrhunderts. Bereits das frühe, auch räumlich außerhalb der traditionellen Spiellandschaften angesiedelte ,Osnabrücker Passionsspiel‘21 (Bergmann Nr.  125) vom Ende des 14.  Jahrhunderts enthält eine personenreiche Höllenfahrt-Szene, in der Abrahams Begrüßungsrede zwischen Noah und Moses platziert ist. Lob und Dank gelten dem Heiland vor allem für die Aufnahme ins Paradies:

20 Das Donaueschinger Passionsspiel, hrsg. v. Anthonius H. Touber, Stuttgart 1985. 21 Das Osnabrücker Passionsspiel, hrsg. v. Ludwig Wolff, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 82 (1959), S. 90–98.





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Sint ic hir di vornam, | ic nu darf spreken Abraham: | geprijset siistu, leue here vader min | dat ic sal mitti in den paradise sijn. (vv. 174–177: „Da ich dich hier gehört habe, darf ich, Abraham, nun sprechen: Gepriesen seist du, mein lieber Herr und Vater, dafür, dass ich mit dir im Paradies sein werde.“)

In seiner auch hier funktionsgebundenen Rolle hat Abraham Zeugnis für die im Alten Testament lange angekündigte und erwartete, sich nun vollendende Erlösung der Menschheit abzulegen. Mit dieser Szene, die zum Grundbestand der das Ostergeschehen dramatisierenden Spiele22 gehört, konkretisiert sich für das Publikum die Er­lösungsbotschaft im Vollzug des Erlösungswerkes nach Jesu Tod.

1.5 Abraham als theologische Legitimationsinstanz Keine selbständig agierende dramatis persona, sondern eine theologische Legitima­ tionsinstanz, auf die sich die Juden mit ihren aus christlicher Sicht falschen und daher zu widerlegenden Argumenten berufen, ist Abraham in ausgeprägt judenfeindlichen Szenen wie den Glaubensstreitigkeiten zwischen Jesus und den Juden während seines öffentlichen Wirkens und der dogmatischen Disputation zwischen den allegorischen Figuren Ecclesia und Synagoga, den Verkörperungen von Christentum und Judentum.

1.5.1 Die Glaubensstreitszenen In den Glaubensstreitszenen wird die Unfähigkeit der Juden, die Lehren Jesu zu verstehen, auf ihre Unfähigkeit, seine Messianität zu erkennen, zurückgeführt. Ihre feindlichen Reaktionen, die zu aggressivem Verfolgungshass eskalieren, werden als Folge willentlicher Glaubensverweigerung dargestellt. Als Beispiel für viele derartige Szenen soll hier die verbreitete Szene der An­drohung der Steinigung Jesu23 (Joh  8,48–59) herangezogen werden. Sie ist auch den Texten der hessischen Spielgruppe gemeinsam und findet sich, teils unterschiedlich ausgeformt, doch mit wesentlichen Textübereinstimmungen, in der ,Frankfurter Dirigierrolle‘ (Bergmann Nr.  43) vom Anfang des 14.  Jahrhunderts, dem ,Frankfurter Passionsspiel‘, dem ,Alsfelder Passionsspiel‘ (Bergmann Nr. 70) vom Anfang des 16. Jahrhunderts und im ,Heidelberger Passionsspiel‘. Ihr voran geht die Szene, in der die Juden Jesus Torheit und teuflische Besessenheit vorwerfen, nachdem er sie in der Synagoge von Kapharnaum über das Wesen der Eucharistie belehrt hat (Joh 6,51–60). Als er dann die Unsterblichkeit derjenigen Menschen verkündet, die seinem Wort

22 Dies sind diejenigen Passionsspiele, die ihre Handlung über Kreuzigung und Grablegung hinaus weiterführen und die auf das Ostergeschehen zentrierten Osterspiele; vgl. Anm. 17. 23 Nr. 120 im Spielinhaltsregister bei Bergmann (Anm. 4).



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folgen, reagieren die Juden höhnisch, aber auch zunehmend zornig und unterstellen ihm, er wolle sich über ihren schon vor Zeiten gestorbenen Stammvater Abraham erheben. Im ,Frankfurter Passionsspiel‘ spricht Synagogus für die Juden: Haha, haha, nu mircken mir, | das der tufel ist in dir. | sage an, sage an, du dummer man, | wiltu hoher wesen dan der heilige Abraham,  | vnser vatter lobesam,  | der nach gottes hulde warb? (vv. 1701–1707: „Ha ha ha, nun merken wir, dass der Teufel in dir steckt. Sag an, sag an, du törichter Mensch, willst du dich höher stellen als der heilige Abraham, unser gelobter Vater, der Gottes Gnade erwarb?“)

Auf Jesu Antwort, Abraham habe lange auf ihn gewartet und voller Freude seine Ankunft erlebt, reagieren die Juden verständnislos. Wie könne er, der noch nicht 50 Jahre alt sei, Abraham gesehen haben? Jesus legt ihnen seine Präexistenz dar. Im ,Heidelberger Passionsspiel‘ lautet sein Text: Ich sagenn vch allenn vor war, | vorhin vill lanng iar, | ehe Abraham wordtt noch, | so bi ich ge­wessenn doch. (vv.  1129–1132: „Ich sage euch allen wahrhaftig, vor langer Zeit, vor vielen Jahren, noch bevor Abraham geboren wurde, habe ich bereits existiert.“)

Da die Juden die von Jesus angesprochenen heilsgeschichtlichen Zusammenhänge nicht begreifen, halten sie sein Reden für Gotteslästerung, die nach mosaischem Gesetz mit Steinigung zu ahnden ist. Diesen Vorwurf erhebt im ,Heidelberger Pas­ sionsspiel‘, verbunden mit einer Aufforderung zur Steinigung, der Jude Sabba: inn vnnser ehe ist einn gebott: | wer sprichtt widder gott, | das man denn selbigen sall versteinen. | nu werfft zcu im alls gemein, | so er sein wortt nitt will sparenn. (vv. 1135–1139: „In unserem Gesetz gibt es ein Gebot: Denjenigen, der wider Gott spricht, soll man steinigen. Nun werft alle zusammen Steine auf ihn, wenn er seine Rede nicht unterlässt.“)

Für das Verhalten Jesu hat der Jude nur eine Erklärung bereit: ich haltt, der teuffell sey inn in gefarenn. (V. 1140: „Ich meine, der Teufel sei in ihn gefahren.“), worauf alle Juden Steine gegen Jesus erheben.

1.5.2 Die Disputation zwischen Ecclesia und Synagoga Der antijudaistische Streitdialog zwischen den allegorischen Figuren Ecclesia und Synagoga24 ist als statisch-erörternde Passage in den Fortlauf der dramatischen Handlung eingelassen und bietet für diese die theoretisch-theologischen Begründungen. Die Szene, erstmals überliefert in der ,Frankfurter Dirigierrolle‘, steht in der Tradition der im Mittelalter verbreiteten pseudoaugustinischen Schrift ‚De altercatione

24 Nr. 231 im Spielinhaltsregister bei Bergmann (Anm. 4).





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Ecclesiae et Synagogae dialogus‘ aus dem 5. Jahrhundert.25 Doch handelt es sich in den Spielen gerade nicht um eine sachliche Disputation auf einheitlicher Argumentationsebene, sondern um die Darlegung des christlich-dogmatischen Standpunktes, dem Synagoga zwangsläufig widersprechen muss, sodass auf diese Weise die jüdische Unbelehrbarkeit demonstriert werden kann. Mitunter sind die Rollen der Allegorien auf Personen der Handlung übertragen. Neben anderen alttestamentlichen Autoritäten wird in einigen Spielen auch Abraham als jüdische Bezugsgröße herangezogen.26 So wehrt im ,Künzelsauer Fronleichnamsspiel‘ (vv.  4418a–4669) Sinagoga die Taufaufforderung des Rector processionis, der hier die Position der Ecclesia einnimmt, mit Berufung auf die Abrahamskindschaft der Juden ab und zweifelt das christliche Dogma der Trinität an: Kaines dawffes bedarff ich nit me. | Wir sein hy her Abrahams kint, | Dy cristenhait ist gar blint. | Du sprichst, das vatter, sun et gaist ain got sey, | Da beweise mich dy geschrifft bey. | Wan ich hon nye gehort noch gelesen, | Das drey mochten ainer gewesen. (vv. 4555–4561: „Ich bedarf keiner Taufe mehr. Wir sind bis heute Abrahams Kinder; die Christenheit ist gänzlich blind. Du sagst, dass Vater, Sohn und Geist ein Gott seien. Da möge die Schrift mir recht geben. Denn ich habe niemals gehört oder gelesen, dass drei einer gewesen wären.“)

Der Rector processionis gibt den Vorwurf der Blindheit an die Juden zurück und hält Gen 18 dagegen: Abraham tres vidit et vnum adorauit. | Du waist wol, her Abraham sahe drey man | Vnd bet doch ein got an. (vv. 4568–4569: „Abraham sah drei und betete einen an. Du weißt wohl, Herr Abraham erblickte drei Männer und betete doch nur einen Gott an.“)

Zwar muss Sinagoga die Richtigkeit dieser Feststellung bestätigen, lässt sich aber nicht überzeugen und verkündet am Schluss ohne jegliche Einsicht, dass sie in Abrahams Garten (dem Hain Mambre gemäß Gen 18,1) auf ihre Anhänger warten wolle. In der breit ausgeführten Streitszene des ,Alsfelder Passionsspiels‘,27 dessen Text von 1501–1517 aufgezeichnet ist (vv. 4480–5263),28 setzt sich Sinagoga (hier eine männliche Rolle: der Anführer der Juden) mit groben Worten gegen Ecclesia zur Wehr

25 Vgl. Edith Wenzel, Synagoga und Ecclesia. Zum Antijudaismus im deutschsprachigen Spiel des späten Mittelalters, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 12 (1987), S. 57–81; Monika Wolf, so tünd ich dir verbinden din ougen vnd brich dir din baner ouch en zwey. Ecclesia und Synagoga in fortwährendem Streit, in: Ursula Schulze (Hg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 2002, S. 35–58. 26 Auf Inhalte und Darstellungsstrategien der gesamten Szene kann hier nicht eingegangen werden. 27 Alsfelder Passionsspiel. Frankfurter Dirigierrolle mit den Paralleltexten. Weitere Spielzeugnisse. Alsfelder Passionsspiel mit den Paralleltexten, hrsg. v. Johannes Janota, Tübingen 2002. 28 Zur Szene der Disputation zwischen Ecclesia und Syngoga im ,Alsfelder Passionsspiel‘ vgl. Klaus Vogelsang, Kommentar zum ‚Alsfelder Passionsspiel‘ und zu den zugehörigen kleineren Spielzeugnissen, Tübingen 2008, S. 459–485.



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und vertritt voller Sturheit unter Berufung auf ihre Stammväter Abraham, Isaak und Moses den Standpunkt der Juden: Ich hon das dick gehort, | beyde hie vnd auch dort, | das du bist von wysheyt bloyß, | das du bist doller dan eyn noß. | ich wel bliben by myner art, | als Abraham, Ysaac vnd Moises mich han gelart, | vnd wel volgen myner ee. (vv. 4935–4941: „Ich habe das schon oft gehört, hier und auch dort, dass du ohne jegliche Weisheit bist, dass du dümmer als ein Vieh bist. Ich will bei meiner Art bleiben, wie Abraham, Isaak und Moses es mich gelehrt haben und will meinem Gesetz folgen.“)

Auch in diesem Spiel rekurriert Sinagoga auf Abrahams Garten, den Ecclesia in ihrem raszende glauben (v. 5096: „in ihrem wahnsinnigen Glauben“) niemals betreten könne, in dem die Juden aber auf ihren Messias warten wollen. Damit wird das Christentum zum Irrglauben erklärt, der die Anhänger der Ecclesia von der jüdischen Heilserwartung ausschließt. Sinnfällig dokumentiert sich zuletzt die irreversible Verstocktheit der Juden, wenn sie Sinagogas Aufforderung folgen und gemeinsam mit ihm einen Tanz um das goldene Kalb vollführen.

2 Der Jude Abraham aus der Gruppe der neutestamentlichen Christusfeinde Ohne konkreten Bezug zum alttestamentlichen Patriarchen gehört in der neutestamentlichen Passionshandlung der in der Bibel namentlich nicht vorkommende Jude Abraham zur Gruppe der den Heiland lästernden und verfolgenden jüdischen Gegner. Die Juden der Evangelien, die außer den Hohenpriestern Annas und Cayphas anonym bleiben, erhalten bei ihrer Umwandlung in Dramenfiguren von den Spielautoren entweder nur Rollenbezeichnungen, wie „1.“, „2.“, „3. Jude“ usw., oder sie werden mit Eigennamen personalisiert. In den Fronleichnamsspielen, die die heilsgeschichtliche Totalität erfassen, sind die Juden namenlos und agieren ohne besondere Profilierung in der Rolle der Jesusverfolger, wie sie ihnen von der Bibel gemäß ihrer Funktion im göttlichen Heilsplan zugewiesenen ist. Die Passionsspiele dagegen stellen die christusfeindlichen Juden mit stark anti­ judaistischer Tendenz dar, die über das negative Judenbild der Evangelien weit hinausgeht. Als Rollennamen werden ihnen in charakteristischer Absetzung vom christlichen Personal sowohl alttestamentliche als auch mittelalterlich-zeitgenössische Judennamen (wie etwa in der ,Frankfurter Dirigierrolle‘: Lieberman, Michilman, Secklin, Selegman oder Kalman) verliehen. Dieses Verfahren der Namensgebung zieht die Juden der Gegenwart mit diskriminierender Absicht und Wirkung in das biblischhistorische Geschehen um die von den Juden initiierte Tötung des Heilands hinein. Unter den mit ihnen gemeinsam agierenden Trägern alttestamentlicher Judennamen wie Jakob, Isaak, Salomon, Samuel usw. findet sich in einigen Spielen auch Abraham, z. B. in der ,Frankfurter Dirigierrolle‘, im ,Frankfurter Passionsspiel‘, im ,Augsburger 



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Passionsspiel‘ (Bergmann Nr. 116) aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts und im ,Egerer Passionsspiel‘. Dieser Jude Abraham profiliert sich in den grausam-drastischen, teils biblisch fundierten, teils eigenständig geschaffenen Szenen, in denen die Kreuzigung Jesu vorangetrieben und vollendet wird. Ebenso wie bei den anderen genannten alttestamentlichen Juden ist es, zeitentbunden und losgelöst von der biblisch-historischen Existenz und ihrer theologischen Bedeutung im Alten Testament, allein noch die Tradition des Namens, der hier in einem antichristlichen Kontext fortlebt. Gleichwohl belegen Passionsspiele wie diejenigen von Eger und Frankfurt29 das Auftreten des alttestamentlich-historischen Patriarchen Abraham und des Christusfeindes Abraham in demselben Spiel. Das dreitägige Spiel von Eger, um auf dieses noch etwas genauer einzugehen, präsentiert Abraham am ersten Tag in der Szene der Opferung Isaaks als Exempel für Gehorsam und Demut,30 in der neutestamentlichen Handlung des zweiten und dritten Tages aber als Mitglied der hasserfüllten Gruppe der Jesusfeinde.31 Dieser Jude Abraham ist an der Gefangennahme Jesu und seiner Überführung zu Annas beteiligt; in den Verhörszenen vor Annas und Cayphas verspottet er Jesus und tut ihm gemeinsam mit den anderen Juden Gewalt an, indem er ihn an den Ohren zerrt, ihm Haare ausreißt und ihm ins Gesicht spuckt. Herodes fordert er zur Verurteilung Jesu auf. Als auf Cayphas’ Geheiß die Kreuztragung beginnt, macht sich Abraham zum Wortführer aller Juden und verkündet eifrig ihre Bereitwilligkeit, Jesus auf dem Weg nach Golgatha drangsalieren zu wollen: Das sol geschehen, her Cayphas. | Wir thun im we, wisse das, | Wir wellen im machen so heis, | Das er schwizt blutigen schweis. (vv. 5812–5815: „Das soll geschehen, Herr Cayphas. Wir werden ihm wehtun, das sollst du wissen; wir wollen es ihm so heiß machen, dass er blutigen Schweiß schwitzen muss.“)

Dann wendet er sich dem Heiland zu und verlacht seine Schwäche. Auf Golgatha wird der Gekreuzigte bis zum Tod verunglimpft. Abraham verhöhnt ihn als König der Juden und äußert sich zynisch zu seinem 5. Kreuzeswort gemäß Joh 19, 28 Sicio (v. 6552: „Mich dürstet“): Jesus dürste es, weil er zuvor Bratwurst gegessen habe. Die unmenschliche Haltung ist zugleich Ausdruck der Torheit des ungläubigen Juden, der Jesu metaphorische Auslegung des leiblichen Durstes auf seine soteriologische Sendung gänzlich ignoriert:

29 Der alttestamentliche Textteil des Frankfurter Passionsspiels ist jedoch nicht überliefert; vgl. Kap. 1.1.2. 30 Vgl. Kap. 1.1.2. 31 Dasselbe ist bei Isaak zu beobachten; auch er tritt am ersten Tag in seiner alttestamentlichen Rolle, am zweiten und dritten Tag als Jude in der Passionshandlung auf.



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Mich durstet also serr | Nach dem armen sunder | Und nach den sellen, die do sein | Lange zeit in der helle pein | Gewessen umb ir missetat, | Der sol heut aller werden rat. (vv. 6552–6557: „Mich dürstet so sehr nach dem armen Sünder und nach den Seelen, die wegen ihrer Sünde so lange in der Hölle Qualen erlitten haben; diese alle sollen heute erlöst werden.“)

Das von Gehässigkeit und Erbarmungslosigkeit geprägte Personenprofil Abrahams ist repräsentativ für das vom Autor insgesamt rigoros negativ gezeichnete Judenbild im ,Egerer Passionsspiel‘. Fragt man nach der Intention dieser Namensverwendung, so ist festzustellen, dass Abraham – wie auch andere alttestamentliche Judennamen – in der zeitgenössischen Gegenwart des Spätmittelalters durchaus ein gängiger Judenname war. Möglicherweise ist darin aber auch ein antijudaistischer Vorstoß zur Verschärfung des Feindbildes zu sehen, wenn den Zuschauern mit diesen beiden Namensträgern sichtbar gemacht wird, dass sich die Juden aufgrund ihres eigenen Fehlverhaltens seit der Ankunft des Messias vom auserwählten Volk zur verstockten, sündigen Außenseitergruppe in der mittelalterlichen Gesellschaft gewandelt haben.32 Gerade die Aufführung veranschaulicht den Zuschauern die Unterschiedlichkeit der Figuren. Der durch Kostümierung, Habitus und Darstellungsstil, insbesondere durch Stimmführung, Mimik, Gestik und Gebärden evozierte Gegensatz zwischen dem Darsteller des ehrwürdigen alttestamentlichen Stammvaters und dem des fratzenhaft verzerrten, in neutestamentlicher Historie und mittelalterlicher Gegenwart zugleich präsenten bösen Juden kann wohl krasser nicht sein. So verdichtet sich in diesen konträren Abrahamsbildern das im geistlichen Drama virulente Spannungsverhältnis von christlicher Glaubenslehre und judenfeindlicher Polemik. Für sich genommen ist das facettenreich entfaltete Bild des alttestamentlichen Patriarchen, indem es im Dienste der religiösen Belehrung des stadtbürgerlichen Laienpublikums steht, einer der pastoralen Grundfunktionen des geistlichen Spiels zuzuordnen. Dogmatische und moraltheologische Sachverhalte können hier außerhalb des Gottesdienstes nicht nur durch das Medium des gesprochenen Wortes, sondern in weiterer Dimension, unter Einsatz des Repertoires aller wirkungsintensiven performativen Mittel, die einer geistlichen Spielaufführung zur Verfügung stehen, vergegenwärtigt werden.

32 Dass die antijüdische Propaganda des Passionsspiels zwar ein gattungstypisches Merkmal, hier aber auch Reflex der zeitgenössischen Judenfeindlichkeit in Eger ist, zeigt Brigitte Lehnen, Das Egerer Passionsspiel (Europäische Hochschulschriften  1/1034), Frankfurt  a.  M. u.  a. 1988, S.  430–438. Aus der Geschichte der Egerer Juden seit dem Pogrom des Jahres 1350 bis zu ihrer Ausweisung aus Eger 1502 folgert sie einleuchtend, dass die über lange Zeit hinweg praktizierte judenfeindliche Politik durch das Spiel offenkundig unterstützt werden sollte (ebd., S. 437). Zu den Wechselbezügen zwischen städtischem Antijudaismus und negativem Judenbild in den Passionsspielen der Stadt Frankfurt am Main vgl. Klaus Wolf, Die judden sollen dis spiel in iren husen bliben. Die Ghettoisierung der Frankfurter Juden im Spiegel des stadtbürgerlichen Spiels, in: Fritz Backhaus u. a. (Hgg.), Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2006, S. 189–199, 333–335.



Lydia Miklautsch (Wien)

Abrahams Kindheit: hebräisch, jiddisch, deutsch Abstract: Von der bereits in den antiken rabbinischen Schriften enthaltenen Erzählung von Abrahams Zerstörung der Götzenbilder gibt es zwei sehr unterschiedliche Zeugnisse in altjiddischer und deutscher Sprache: eine spätmittelalterliche Variante, die in der berühmten Cambridger Handschrift von 1382/83 überliefert ist, und eine auf hebräische Quellen zurückgehende Nachdichtung von Johann Gottfried Herder aus dem Jahre 1787. Sowohl der mittelalterliche Text als auch die Fassung Herders sind Bearbeitungen, die, trotz aller Parallelen der Handlung, unterschiedlicher nicht sein könnten. Beiden gemeinsam ist jedoch ihre Tendenz zur Literarisierung der Legende. Ein Vergleich beider Texte lässt zwei Rezeptionsformen erkennen: religiöses Exem­ plum im innerjüdischen Kontext mit deutlicher Abgrenzung gegenüber dem christ­ lichen Umfeld und wertschätzende Vereinnahmung und gleichzeitige Säkularisierung im aufgeklärten Christentum.

Abraham ist die erste Figur im Alten Testament, über deren Lebensweg ausführlich berichtet wird. Über die Geburt und die Kindheit des Stammvaters gibt es in den Kapiteln 11,27–25,10 der Genesis allerdings nur sehr spärliche Informationen. In der jüdisch-hellenistischen Traditionsliteratur hingegen sind Erzählungen über Abrahams Kindheit ein fester Bestandteil und dienen in erster Linie dazu, Abrahams Glaubensfestigkeit zu demonstrieren: Abraham war der erste, der Gott erkannte und der seine Gebote noch vor deren Offenbarung befolgte. Sein Kampf um die Verehrung des einen und einzigen Gottes richtete sich auch gegen seinen Vater Terach, dessen Götterbilder er zerstörte. Aufgrund dieser Tat wird Abraham von Nimrod in den Feuer­ ofen geworfen und von Gott gerettet. Von der Erzählung von Abrahams Zerstörung der Götterbilder, die in verschiedenen Ausformungen bereits in rabbinischen Schriften des antiken Judentums enthalten ist,1 gibt es eine spätmittelalterliche Variante in der berühmten Cambridger Handschrift von 1382/83 (T.-S. 10. K. 22),2 mit der ich mich im ersten Teil meines Beitrags genauer auseinandersetzen will. Zunächst zur Handschrift selbst, die aus mehreren Gründen von herausragender Bedeutung ist. Der Codex wurde im 19. Jahrhundert (1861) zusammen mit zahlreichen

1 So etwa im ‚Jubiläenbuch‘, in den ,Midraschim Bereschit Rabba‘ 38,13–19, ,Seder Elijahu Rabba‘ 6; sie findet auch Erwähnung in der ‚Apokalypse Abrahams‘ und im Koran Sure 21:51–70. 2 Von der Handschrift existieren ein (schlechtes) Faksimile sowie eine Transliteration und eine neuhochdeutsche Übersetzung von Leib Fuks, The oldest known literary documents of Yiddisch ­Literature, Part 1: Introduction, Facsimiles and Transcription. Part 2: Transliteration. Modern German Version, Notes and Bibliography, Leiden 1957. Eine Neuedition der gesamten Handschrift wäre dringend nötig.

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anderen Handschriften in der berühmten Geniza der Ben Ezra Synagoge von Fustat (Alt-Kairo) gefunden. Es handelt sich dabei um einen Speicher für nicht mehr be­nötigte liturgische Schriften, welcher sich im oberen Stock der Synagoge in einem Hohlraum unter dem Dach befand. Dort wurden über 200  000 Schriftstücke und Fragmente sichergestellt, die überwiegend aus dem 9. bis zum 14. Jahrhundert stammen. Viele der Fundstücke sind von unschätzbarem Wert; für eine Kultur­geschichte des Judentums im Mittelmeerraum des frühen und späten Mittelalters ist von besonderem Interesse, dass die verwahrten Texte nicht nur liturgische Inhalte haben, sondern auch unzählige Dokumente aus dem Alltagsleben erhalten sind (Briefe, Heiratsurkunden, Handelskorrespondenz, etc.).3 Die Originale sind in unterschiedlichen Sammlungen aufbewahrt und teilweise digitalisiert, den größten Anteil besitzt die Universitätsbibliothek Cambridge. Die Cambridger Sammlung ist benannt nach dem Talmudgelehrten Solomon Schlechter, dem der Ankauf des größten Teils der Sammlung gelang, und seinem Kollegen, dem Hebraisten Charles Taylor.4 Die Handschrift T.-S. 10. K. 22 umfasst 42 Blätter. Sowohl der Fundort als auch das Papier der Handschrift, das mit ziemlicher Sicherheit orientalischen Ursprungs ist, lassen die Vermutung zu, dass sie auch im ägyptischen Raum entstanden ist. An zwei Stellen der Handschrift befindet sich eine hebräisch geschriebene Jahreszahl, die auf das Jahr 1382 verweist. Damit ist die Handschrift die älteste bekannte Sammlung altjiddischer Texte in hebräischen Lettern, genauer in aschkenasischer Kursive. Die Sprache der Handschrift, aber auch Teile des Inhalts, verweisen allerdings auf eine Entstehung im zentraleuropäischen Raum. Wir haben es mit einem späten Mittelhochdeutsch zu tun, das zu dieser frühen Zeit wenige bis gar keine spezifisch jiddischen Merkmale aufweist.5 Die hebräischen Buchstaben jedoch machen diese Schrift, und darin folge ich Solomon Birnbaum, eindeutig zu einer jiddischen. Der Gebrauch der hebräischen Buchstaben reflektiert die Verbundenheit des Schreibers mit seiner jüdischen Kultur und literarischen Tradition. Ob der Schreiber auch der Verfasser war und ob er eine schriftliche Vorlage verwendete, oder aus dem Gedächtnis schrieb, lässt sich nicht entscheiden.6

3 Dazu Shlomo D. Goitein, A Mediterranean Society: The Jewish Communities of the Arab World as portrayed in the documents of the Cairo Geniza, 6 Bde., Berkeley, Los Angeles 1967–1993. 4 Vgl. hierzu die Website der Bibliothek, URL http://www.lib.cam.ac.uk/Taylor-Schechter/Collection. html (einges. 09.06.2014). 5 Für Birnbaum zählt die Sprache der Handschrift zu den westjiddischen Dialekten, s. Solomon Birnbaum, Die jiddische Sprache. Ein kurzer Überblick und Texte aus acht Jahrhunderten, Hamburg 1974, S. 64. Ergänzend und weiterführend hierzu Erika Timm, Graphische und phonische Struktur des Westjiddischen unter besonderer Berücksichtigung der Zeit um 1600 (Hermanea N. F. 53), Tübingen 1987. Zur Problematik des „Alt-Jiddischen“ s. a. Edith Wenzel, Alt-Jiddisch oder Mittelhochdeutsch?, in: Aschkenas 14 (2004), S. 31–49. 6 Darauf verweisen einige Schreibfehler, die nur mit der Annahme der lateinischen Schrift zu erklären sind, s. James W. Marchand. Einiges zur sogenannten jiddischen Kudrun, in: Neophilologus 45





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Der Inhalt der Handschrift ist zweigeteilt: Drei aus hebräischen Midraschim abgeleitete Erzählungen stehen am Beginn und bilden über den Schreiberverweis Isak eine Einheit. Ergänzt werden sie durch die Joseferzählung und die Löwenfabel, die vermutlich vom Schreiber Awroham hinzugefügt wurden. Obwohl zwei Schreibernamen genannt sind, wurden alle Texte von einer Hand geschrieben. Den hagiographischen Schriften steht der umfangreiche ‚Dukus Horant‘ gegenüber, ein weltlicher Text, der eindeutig der deutschsprachigen Heldendichtung dieser Zeit zuzuordnen ist: fol. 1r–2v: Schluss einer ‚Petirass Aheron‘: jiddische Legendenerzählung in vierhebigen Reimpaaren7 fol. 2v–6v: ‚Gan Eden‘: Reimpaarrede über den Ort der abgeschiedenen Gerechtigkeit in 328 Versen; der Verfasser folgt fast wörtlich einem hebräischen Midrasch8 fol. 6v– 17v: ‚Awroham owinu‘9 (Isak der Schreiber) fol. 17v–18v: ‚Joßef ha-zadik‘10: altjiddisches Exemplum in 19. Str.; geht auf eine „hebräisch-­ aramäische Midraschtradition“ zurück („Die Anfangsbuchstaben der ersten 44 Zeilen bilden nach dem hebräischen Alphabet eine Akrostichon; dies beweist, dass das Gedicht keine Trans­ kription oder Transliteration einer mhd. Vorlage ist.“)11 fol. 19r–19v: Löwenfabel:12 altjiddische Version der Fabel vom sterbenden Löwen, den die Tiere misshandeln, um altes Unrecht zu rächen (70 Reimpaarzeilen) fol. 20v: Liste der Wochenabschnitte für den Gottesdienst und Glossar zu den Steinen des Hohenpriesters fol. 21r–42v: ,Dukus Horant‘13

(1961), S. 55–63. Vgl. dagegen Dukus Horant. Mit einem Exkurs von Solomon Birnbaum, hrsg. v. Peter F. Ganz, Frederik Norman u. Werner Schwarz, Tübingen 1964, S. 62: „Ob diese ursprünglich aschkenasische Niederschrift allerdings auf einer deutschschriftlichen Quelle beruht oder frei nach einem nie genau fixierten mündlich umlaufenden Gedicht niedergeschrieben wurde, ist weder beweisbar, noch wäre es zeitlich festzulegen.“ 7 Text in Walter Röll, Zu den ersten drei Texten der Cambridger Handschrift Hs. 1382/1383, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 104 (1975), S. 54–68, hier S. 57f. 8 August Wünsche, Aus Israels Lehrhallen. Kleine Midraschim zur späteren legendarischen Literatur des alten Testaments, Bd. 3, Leipzig 1909, S. 21–23. Dor Sadan, The Midrashic Background of The ­,Paradise‘: Its Implications for the Evaluation of the Cambridge Yiddish Codex (1382), in: Uriel Weinreich (Hg.), The Field of Yiddish. Studies in Language, Folklore, and Literature, 2nd Collection, London u. a. 1965, S. 253–262. 9 Textausgabe (Transliteration und Übersetzung) von Fuks (Anm. 2), Bd. 2, S. 12–33. Zur Geschichte der Legende s. Moses Gaster, The Exempla of the Rabbis, London 1924. 10 Textausgabe von James Marchand u. Frederic C. Tubach, Der keusche Joseph. Ein mitteldeutsches Gedicht aus dem 13.–14. Jh., in: Zeitschrift für deutsche Philologie 81 (1962), S. 30–52. 11 Wulf-Otto Dreessen, ‚Joßef ha-zadik‘, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 4 (1983), Sp. 878–880, hier Sp. 879. 12 Ausgabe in Siegmund A. Wolf, Jiddisches Wörterbuch, Mannheim 1962, S. 35f.; dazu auch Erika Timm, Die ,Fabel vom alten Löwen‘ in jiddistischer und komparatistischer Sicht, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 100 (1981: Sonderheft ,Jiddisch‘), S. 109–170. 13 Ediert in ‚Dukus Horant‘ (Anm. 6).



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Vor allem der heldenepische ,Dukus Horant‘ hat zu vielen Spekulationen über den Stellenwert und den kulturellen Kontext der Handschrift geführt.14 Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen nach den Möglichkeiten einer eigenen jiddischen literarischen Tradition vor 1500, aber auch nach den kulturellen Kontakten zwischen der jiddischen und der christlich-literarischen Kultur des späten Mittelalters. Die anderen Texte der Handschrift verweisen hingegen eindeutig auf jüdisch literarische Traditionen und biblische Kleinepik, die ihrerseits auf hebräische ­Midraschim zurückgeht. Im Gegensatz zum ,Dukus Horant‘ sind die (überwiegend hebräischen) Quellen hier leichter auszumachen. Sind die hagiographischen Texte der Handschrift nichts anderes als Übersetzungen aus dem Hebräischen? Und warum sollte es überhaupt solche geben? Auch wenn die Cambridger Handschrift das älteste uns erhaltene Zeugnis eines deutschsprachigen Texts in hebräischer Handschrift ist, kann man davon ausgehen, dass es jüdisch-deutsche Bibelübersetzungen bereits seit dem 13. Jahrhundert gibt.15 Ähnliches scheint auch für die Texte aus der midraschimen Tradition zu gelten. Die Herausgeber des ,Dukus Horant‘ vermuten: „Wir haben es hier also zu tun mit einer deutschsprachigen Literatur, in der jüdische Stoffe von Juden für ein jüdisches Publikum zubereitet werden“16 – möglicherweise, so kann man ergänzend hinzufügen, für die der hebräischen Sprache unkundigen, ungebildeten unteren Schichten oder auch für ein weibliches Publikum.17 Für Wulf-Otto Dreessen hat die Verwendung der Volkssprache auch den Sinn, die Gruppenzusammengehörigkeit der Mitglieder der jüdischen Bevölkerung für diejenigen zu betonen, „die wegen ihrer ungenügenden Kenntnis des Hebräischen an der traditionellen Gelehrsamkeit zu wenig Anteil zu nehmen vermochten.“18 Dass die jiddischen Midraschbearbeiter sich dabei in vielen Fällen an den literarischen Konventionen und Formelementen der Literatur des christlichen Mittelalters orientierten, muss auch nicht im Sinne einer Anpassung und schon gar nicht als Zeichen intensiven Kulturkontakts verstanden werden, sondern

14 Zuletzt Fritz Peter Knapp, ,Dukus Horant‘ und die deutsche subliterarische Epik des 13. und 14. Jahrhunderts, in: Aschkenas 14 (2007), S. 101–123, mit ausführlicher Diskussion der älteren Forschung. 15 Wilhelm Staerk u. Albert Leitzmann (Hgg.), Die jüdisch-deutschen Bibelübersetzungen von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1923, S. 73–81. Altjiddische Glossen sind bereits seit 1100 nachweisbar, s. Erika Timm, Zur Frage der Echtheit von Raschis jiddischen Glossen, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PPB) 107 (1985), S. 45–81. 16 ‚Dukus Horant‘ (Anm. 6), S. 77. 17 Dazu Günter Stemberger, Midrasch. Vom Umgang der Rabbinen mit der Bibel. Einführung – Texte – Erläuterungen, München 1989, S. 213–215. 18 Wulf-Otto Dreessen, Midraschepik und Bibelepik. Biblische Stoffe in der volkssprachlichen Literatur der Juden und Christen des Mittelalters im deutschen Sprachgebiet, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 100 (1981: Sonderheft Jiddisch), S. 78–97, hier S. 88.





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kann auch den formalen Bedingungen mündlich überlieferter Dichtung allgemein geschuldet sein. Neuere Forschungen zeigen allerdings, dass weder die Vorstellung einer totalen Isolation der Juden noch die einer Symbiose die Situation im europäischen Mittelalter angemessen beschreibt:19 „Die jüdische Minderheitenkultur und die christliche Mehrheitskultur waren nicht hermetisch voneinander abgeschottet, es gab offensichtlich mehr Gemeinsamkeiten in Sprache und Kultur als bislang angenommen. Gleichzeitig aber existierten klare Grenzlinien der religiösen Identität, die eine Abgrenzung von Juden und Christen auch gerade im Alltag erforderlich machten. Daneben gab es offensichtlich Grenzräume, in denen ‚das Eigene‘ und ‚das Fremde‘ beider Identitäten zu Wort kommen konnte und die eine selektive Akkulturation ermöglichten, ohne die jeweilige Identität zu gefährden.“20 Der Überlieferungsverbund der Cambridger Handschrift scheint beides zu bestätigen: einerseits eine deutliche und durchaus polemische Abgrenzung gegenüber dem christlichen Umfeld in den religiösen Texten, andererseits die Verschriftlichung eines Textes (mündlicher) deutscher ‚Unterhaltungsliteratur‘ in hebräischen Lettern. Die ersten vier Texte aus der Midraschtradition zeigen eine deutliche Tendenz zur Literarisierung der Lehre. Der jüdische Midraschbearbeiter verwendet dabei – wie wir noch sehen werden – nicht nur Elemente aus dem Bereich der deutschen Helden­ epik, sondern er übernimmt auch Motive aus der christlichen Heiligenlegende. Dabei handelt es sich – so meine ich – keinesfalls um eine unreflektierte Übernahme, sondern, wie ich nun am Beispiel des ,Abwroham owinu‘ zeigen will, um einen selektiven Adaptionsprozess – und zwar mit der Absicht, die eigene kulturelle Tradition deutlich von der christlichen abzugrenzen. Alle hagiographischen Texte der Handschrift sind formal unterschiedlich gestaltet, entweder in Reimpaaren oder, wie in dem von mir gewählten Beispiel, in Strophenform. Walter Röll nimmt dies als Argument für seine Annahme, dass die ersten drei Dichtungen nicht aus einer Feder stammen.21 Allerdings könnte die unterschiedliche formale Gestaltung der Legenden auch ein Hinweis auf eine bereits eigenständige jiddische (volkssprachliche) Bibeldichtung sein. Die Legende über Abrahams Kindheit ist in ursprünglich 115 Strophen22 abgefasst, es spricht einiges dafür, dass es sich um eine ‚Abwandlung der Kudrunstrophe‘

19 Vgl. dazu die Tagungsbände Edith Wenzel (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Kulturelle Kontakte zwischen Christen und Juden im Mittelalter = Aschkenas 14, 1 (2004), sowie Ludger Grenzmann, Thomas Haye, Nikolaus Henkel u. Thomas Kaufmann (Hgg.), Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen N. F. 4), Berlin 2009. 20 Edith Wenzel, Grenzen und Grenzüberschreitungen: Kulturelle Kontakte zwischen Juden und Christen im Mittelalter. Zur Einführung, in: dies. (Anm. 19), S. 1–7, hier S. 3. 21 Röll (Anm. 7), S. 65. 22 Zwischen fol. 28 und fol. 29 der Handschrift fehlt ein Blatt, s. hierzu Röll (Anm. 5), S. 66f.



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handelt; sie ist jedenfalls anderweitig nicht bekannt: „Verglichen mit anderen jidd.strophischen Texten, ist die Versbehandlung altertümlich.“23 Bis heute existiert keine Ausgabe dieser Legende, Ausgangspunkt für meine Interpretation ist die Zählung der Transliteration von Leib Fuks. Da die notwenige Erarbeitung einer mittelhochdeutschen Version in diesem Rahmen nicht zu leisten ist, zitiere ich die relevanten Textstellen in neuhochdeutscher Übersetzung.24 Die von Ganz, Norman und Schwarz, den Herausgebern des ‚Dukus Horant‘, als das „beste Gedicht der Sammlung“25 bezeichnete Legende, wird mit dem Schreiberverweis eingeleitet: Isak der Schreiber, der uns diese Geschichte und diese Lehre bekannt machte, den nehmt alle in euer Gebet: Abraham Avinu.26

Die ersten 15 Strophen sind ein traditionelles Gotteslob, die eigentliche Erzählung beginnt mit dem 77. Vers: Abrahams Vater wird als ungebildeter Schnitzer von Götterfiguren eingeführt, der weder lesen noch schreiben kann (vv. 77f.). Interessant ist die Begründung, die den Heiden für ihre Anbetung der Statuen in den Mund gelegt wird (vv. 85–92): Sie sprachen: Der Gott im Himmel, der ist uns zu erhaben, der den Himmel gebaut hat und das Meer erschaffen, der hat zu hoch gebaut und sitzt uns zu fern wir wissen [besser], wem wir klagen [sollen], was uns bedrückt Wir wollen uns Götter machen, die bei uns wohnen denen können wir klagen, was und bedrückt. denjenigen, die diese nicht rühmen wollen oder anbeten, denen spalten wir den Schädel.27

23 Walter Röll, ‚Awroham owinu‘ (‚Unser Vater Abraham‘), in: Die deutsche Literatur des Mittel­ alters. Verfasserlexikon, 2. Aufl. Bd. 1 (1978), Sp. 573f. 24 Im Netz zugänglich ist auch eine mittelhochdeutsche Transkription des Textes, eine studentische Arbeit aus dem Jahre 1964 von Heinz Nöding, zu finden unter URL http://www.noeding.info/ (einges. 30.7.2013), ohne Seitenzählung und mit einer von Fuks (Anm. 6) abweichenden Verszählung. Der rekonstruierte mittelhochdeutsche Text soll nur zur besseren Vergleichbarkeit und Orientierung dienen. 25 ‚Dukus Horant‘ (Anm. 6), S. 76, Anm. 3. 26 Eigene Übertragung aus der Transliteration von Fuks (Anm 6), S. 12, v. 217–218: Isak der schriber, der uns dise mer, und dise rede kunt tet, / den nemt all in uwer gebet: abwroham owinu. 27 Nöding (Anm. 24), vv. 9–16: si sprochen der g[ot] uf deme himele, der is uns zu her / der gebouen hot den himel unde geschafen hot das mer / der hot zu hoch gebouet er sizet uns zu verre / wir wissen weme klagen was uns werre. // wir scholen gote machen di uns wonen bi / den muge wir geklagen was uns werrende si / di onders wellen rumen unde warten / unde tun si das nicht wir slahen si durch di swarten.





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Diese Aussage wird sofort mit dem Kommentar des Erzählers konfrontiert, der Götzendienst und Abgötterei entschieden ablehnt (vv. 94–98). Mit Verweis auf die heilige Schrift wird nun als Exempel für das rechte Verhalten Abraham eingeführt, der in dieser Version bereits als dreijähriges Kind an Gott glaubt und seinen Vater an Weisheit weit übertrifft. Eines Tages bittet Terach seinen Sohn, die Götterfiguren am Markt zu verkaufen. Abraham tut, wie ihm befohlen, doch auf dem Weg zertrümmert er die Statuen mit einem Stein. Dem Vater erzählt er, die Statuen hätten Streit miteinander angefangen und sich gegenseitig zerstört. Die Handlungsfolge wiederholt sich, diesmal geht Abraham mit den Figuren zum Markt. Eine alte Frau will eine Figur kaufen und Abraham nützt das Verkaufsgespräch dazu, auf die Nutzlosigkeit der Figurenanbetung hinzuweisen und bekehrt die Frau zum rechten Glauben (vv. 206f.): Ich will an diesen Gott immer glauben er ist der wahrhaftige Gott, der rechte Nothelfer.28

Als Abraham mit den unverkauften Figuren nach Hause kommt, wird er von seinem Vater wiederum gescholten und nach einiger Zeit schickt der Vater seinen Sohn neuer­ lich zum Markt. Abrahams Zorn auf die Schnitzfiguren wird immer größer, und als er an einen Fluss gelangt, wirft er sie hinein und verspottet sie, weil sie nicht in der Lage sind, ans andere Ufer zu gelangen (vv. 269–282): Er sprach: Watet schon hinüber, überhastet es nicht, sucht mir den Übergang, ich folge euch dann nach, wenn ihr drüben seid, dann wartet auf mich, wenn nicht, werde ich eure Schandtaten überall verkünden. Sie drehten die Spitzen nach oben und flossen talwärts. Er schrie ihnen laut nach, dass es weithin erschallte. Kommt zurück, ihr habt euch geirrt, ihr habt den rechten Weg nicht gefunden. Was er ihnen auch nachrief, es war alles umsonst. Sie trieben dahin und scherten sich nicht um seine Rede. Er kehrte ihnen den Rücken zu und es war ihm völlig gleichgültig, er kam unbeladen zum Haus seines Vaters.29

28 Ebd., vv. 115–116: ich will an den selben g[ot] geloben immer mere / er ist worhaftik g[ot] ein rehter not helfere. 29 Ebd., vv. 169–180: er sprach watet hin uber lot uch nicht sin goch / sucht mir den vurt vor ich wate uch ales noch / komtir hin uber so scholt ir min da beiten / entut irs nicht our laster will ich breiten // si korten uf di zinken si vlosen hin ze tal / er schrei in noch vil lute das es vil verre ersal / kert wider kert ir habet uch vor gesen / ir habet den rehten vurt nicht wol gemesen. // was er in noch gerif das war in alse ein wicht / si vlosen hin unde korten sich an sine rede nicht / er korte in och den rucken unde was ime gar unmere / er kam zu sines vaters hus vil lere.



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Von seinem Vater zur Rede gestellt, fügt Abraham hinzu (vv. 287–290): Nachdem ich sie auf meinen Rücken geladen hatte, trug ich sie bis zu einem reißenden Fluss. Ich bat sie inständig, sich zu überlegen, wie sie mich trockenen Fußes über das Wasser brächten.30

Eine Quelle für diese Szene konnte ich bislang nicht ausmachen; in den mir bekannten Midraschim, die Abrahams Zerstörung der Götterbilder zum Thema haben, lässt sich das Motiv der im Fluss treibenden Figuren jedenfalls nicht finden. Bemerkenswert ist vor allem die Forderung Abrahams an die Statuen, ihn trockenen Fußes über den Fluss zu bringen. Ich sehe hier eine polemische Anspielung auf die Christophoruslegende: Der Christusträger war in der Ikonographie des Mittelalters äußerst beliebt. Christophorus zählt bekanntlich zu den vierzehn Nothelfern, und vielleicht ist auch die von mir zitierte Episode der Bekehrung der alten Frau durch Abraham, die schließlich einzig Gott als den rechten Nothelfer bezeichnet, darauf gemünzt. Mit dem Vers 349 setzt die Erzählung neu an: Wir erfahren, dass die Heiden Bethäuser errichten, in denen sich die Statuen befinden, und dass diese in der Nacht bewacht werden. Als Abrahams Vater an der Reihe ist, bittet er seinen Sohn, dies für ihn zu übernehmen. Die Nacht ist kalt, es schneit und das Kind friert. Mit den Statuen errichtet Abraham ein Feuer. Die erzürnten Heiden schicken nach dem Bildhauer und verlangen von ihm die Bestrafung Abrahams. Nimrod stellt das Kind zur Rede. Dieses erklärt wiederum seine Verachtung gegenüber dem Götzenglauben und preist den einzigen Schöpfergott. Nimrod will eine Glaubensprobe durchführen und lässt Abraham in einen Ofen werfen. Die Engel Michael und Gabriel bitten für ihn vor Gott, der Abraham rettet und ihm aufträgt, den Glauben zu vermehren und zu verbreiten. Das Wunder bekehrt Abrahams Vater und die gesamte Heidenschaft. Die Legende endet mit den Strophen (vv. 467–474): Kinder, ihr alle, glaubt an den mächtigen Gott, achtet seinen Willen und folgt seinem Gebot. Das sollt ihr tun, ihr Männer mit euren Frauen wenn ihr das tut, wird euch Heil zukommen. Nun hört auf seinen Willen, solange ihr lebt. Isak, der Schreiber, gibt euch diesen Rat, befolgt ihr das alles, werdet ihr nicht verdammt, sondern kommt in das ewige Himmelsreich.31

30 Ebd., vv. 189–192: da ich si vil ebene uf minen ruken luot / ich truk sie vil rechte zu eines wasers vluot / ich bat sie ineklichen das si dar an gedechten / unde mich trokenes vuses uber das waser brechten. 31 Ebd., vv. 353–360: kinder al gemeine gloubet an den richen got / wartet sines wilen unde leistet sin gebot / das scholtir tun ir man mit ouern wiben / tut ir das sa mak uch heil bekliben // nun wartet sinen wilen di wile ir das leben hot / isak der schribere der gibet uch den rot / unde tut ir das sa mak uch nicht geswichen / sa komtir in das ewige himelriche.





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Formal lehnt sich die Legende eng an die deutschsprachige volkstümliche Dichtung an: Die typischen Formelemente aus der deutschen Heldenepik (Strophenform, trotz der Berufung auf die Bibel Verweis auf eine mündliche beglaubigte Überlieferung, das Kind Abraham hat deutlich heroische Züge) sind – und hier stimme ich mit Wulf-Otto Dreessen überein – vor allem erzählerische Pose, die „Anschluss an Althergebrachtes“32 sichert. Anderseits grenzt sich die Erzählung sowohl inhaltlich als auch vom hebräischen Schriftbild gegenüber dem christlichen Umfeld ab. Auch das Datum der Handschrift, 1382, könnte ein Argument für eine Tendenz zu einer schärferen Abgrenzung (Pogrome des 14. Jahrhunderts) sein. Die in der Legende beschriebenen kultischen Bräuche der Heiden passen ohne weiteres auch auf die religiösen Praktiken der Christen. Und wie die von mir gewählten Textbeispiele zeigen, können die komischen Elemente im Text durchaus als eine mehr oder weniger verdeckte antichristliche Polemik verstanden werden: Dass die Christen in den Augen der jüdischen Bevölkerung in ihrer Heiligenverehrung als Götzendiener galten, ist mehrfach belegt. Man könnte dies aber auch anders lesen, denn die Legende bietet auch Anschlussmöglichkeiten für christliche Rezipienten: Sowohl Abraham als auch die Engel werden im Text als heilig bezeichnet, was für jüdische hagiographische Texte sehr ungewöhnlich ist.33 Für James Marchand ist dies sogar ein Grund dafür, von einem nicht jüdischen Verfasser auszugehen.34 Möglicherweise versteht sich der Erzähler auch als ein Vermittler jüdischer Traditionen für ein interessiertes christliches Publikum: Die Bezeichnung ,heilig‘ hätte somit eine Signalwirkung, die auf Gemeinsames und nicht auf Trennendes hinweist. Die Zerstörung von Götterbildern und die Unmöglichkeit einen heiligen Körper zu verbrennen, ist bekanntlich auch in christlichen Legenden ein häufig vorkommendes Motiv. Gegen diese Annahme spricht allerdings, dass eine Rezeption der Legende im christlichen Umfeld nicht bekannt ist – bis auf eine bemerkenswerte Ausnahme: Kein Geringerer als Johann Gottfried Herder hat die Geschichte von Abrahams Kindheit in der dritten Sammlung der ‚Zerstreuten Blätter‘ (1787) unter dem Titel ,Dichtungen aus der morgenländischen Sage‘ aufgenommen.35 Als Vorlage für die Erzählung dienten ihm die ,Horae Hebraicae et Talmudice in Universum Novum Tes-

32 Dreessen (Anm. 18), S. 83, spricht von Midrasch-Epik und meint damit „Bearbeitungen“ von biblischen Büchern, die in Verse umgeformt werden. Zu nennen sind etwa das ‚Schmuelbuch‘, das ‚Melochimbuch‘, das Buch Daniel oder das Buch Esther. Ein wichtiges Merkmal dabei ist, dass in dieser religiösen Epik in der Volkssprache die hebräisch-aramäische Literatur weiterentwickelt und neben der biblischen auch auf nachbiblische Lehrtradition zurückgegriffen wird. 33 Lucia Raspe, Jüdische Hagiographie im mittelalterlichen Aschkenas, Tübingen 2006, S. 26f. 34 James Marchand, Einiges zur sogenannten jiddischen Kudrun, in: Neophilologus 54 (1961), S. 55–63. 35 Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1882, ND Hildesheim 1968, Bd. 26, S. 334–336; vgl. den Kommentar ebd., S. 486f.



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 Lydia Miklautsch

tamentum‘ (1733) des Hebraisten Johann Christian Schöttgen, ein Kommentar zum neuen Testament unter Heranziehung von Talmud und Midrasch. Als Quelle für die Erzählungen gibt Schöttgen unter anderem das maaße buch an, eine umfangreiche Sammlung jiddischer Erzählungen, die meisten davon talmudisch-midraschischen Ursprungs – er nennt es liber vernaculus.36 Die Erzählung ‚Abrahams Kindheit‘ wurde 1781 von Herder schon einmal herausgegeben, und zwar im ,Teutschen Merkur‘ unter dem Titel ,Jüdische Dichtungen und Sagen‘.37 Auffällig ist nun, dass Herder in seiner Vorrede zur dritten Sammlung den ursprünglichen Titel der Sammlung nicht mehr erwähnt. Ebenso fehlt ein Hinweis auf die jüdischen Quellen. Vielmehr heißt es in der Vorrede zur Ausgabe von 1787: Ich bin zu ihnen gekommen auf Wegen, wo ich so etwas nicht suchte, meistentheils nämlich im Studium morgenländischer Sprachen, Sagen und Kommentare. Hier war mir oft ein Bild, ein Gleichnis, eine Dichtung das, was jenem müden Propheten der Wacholderbaum in der Wüste war. […] Oder, ohne Bild zu reden, ich traf in den Sagen des Morgenlandes, so ungereimt sie manchmal schienen, oft so dichterische Ideen an, die um eine bessere Ausbildung gleichsam ­fleheten, dass es mir schwer wart, sie nicht auszuzeichnen und in müßigen Stunden nach meiner Weise zu gestalten.38

Es ist Herders Verdienst, erstmals jüdische Erzählstoffe in einer deutschen Antho­ logie veröffentlicht zu haben, allerdings in einer sehr freien Aneignung. Die rabbinischen Erzählungen, „die um eine bessere Ausbildung gleichsam fleheten“, dienen als Grundlage für poetische Um- und Überformung. Verbunden damit ist eine deutliche Poetisierung des rabbinischen Erzählguts, was sich auch an unserem Beispiel sofort feststellen lässt. Herder stellt die Erzählung gegenüber seiner Vorlage in manchen Teilen um und verändert auch einige Erzählinhalte: Abraham ist nicht drei, sondern 16 Jahre alt, als er aus der Höhle kommt und den Schöpfergott erkennt. Bei Schöttgen ist von der Verbrennung der Götzen die Rede, bei Herder zerschlägt Abraham sie – der Autor streicht die Sequenz mit dem Speiseopfer, und es ist bei Herder auch nicht Abrahams Vater, der die Zerstörung der Götzen bei Nimrod meldet. Schoettgens Erzählung endet mit dem Glaubensbekenntnis Abrahams vor Nimrod, Herder ergänzt dies noch mit der Erzählung vom Feuerofen, die in der rabbinischen Tradition ein Teil davon ist. Die Erzählung endet: „Und Abraham ward Stifter des wahren Gottesdienstes des Einen Gottes Himmel und der Erde für alle Welt.“39 Es ist nicht so sehr Herders Umgestaltung der Erzählung, sondern vielmehr der Kontext, in dem sie erfolgt, die den religiösen Stellenwert dieses Textes im Sinne einer exegetischen Auslegung zumindest ambivalent erscheinen lässt. So heißt es in der Vorrede:

36 Johann Christian Schöttgen, Horae Hebraicae et Talmudice in Universum Novum Testamentum, Dresden, Leipzig 1733, Bd. 1, S. 490–492; hier zit. nach Herder (Anm. 35), S. 486. 37 Herder (Anm. 35), S. 334–336, in Kleindruck unter dem Haupttext. 38 Ebd., S. 307f. 39 Ebd., S. 336.





Abrahams Kindheit: hebräisch, jiddisch, deutsch 

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Niemand also vermische diese Dichtungen mit den Erzählungen der Bibel; sie sind völlige Apokryphen, entweder alte Sagen mehrerer morgenländischer Völker, oder wenigstens aus Samenkörnern dieser Art entsprossene Gewächse. In ihrer Ausbildung gehören die meisten mir völlig zu; wenige nur sind, wie sie dastehen, ganz der Tradition gegeben.40

Herder will die Texte aus ihrer Historie verstanden wissen; die Gleichstellung mit den Schriften anderer Völker steht natürlich in einem deutlichen Gegensatz zur rabbinischen Auffassung von der „göttlichen Art“ dieser Texte. Eine Erklärung für die Aufnahme des Textes in eine Anthologie jüdischer Poesie liegt in Herders Auffassung des Alten Testaments, das er als Dokument ursprünglicher Poesie verstanden haben will. Damit einher geht eine säkulare Sichtweise des biblischen Textes: Herder fordert eine Relektüre der Bibel, die sich an der Poesie orientiert. Wie man sich das vorstellen soll, hat Herder höchst eindrucksvoll an seiner Ausgabe des Hohen Lieds demonstriert. Bemerkenswert dabei ist, dass sich Herder mit den Deutungen aus der christlichen und der jüdischen Exegese auseinandersetzt, wobei er den jüdischen ausdrücklich den Vorrang gibt, die er als „moralische, poetische und philosophische Anwendungen“ begreift, während er die christlichen als „grob“ bezeichnet.41 Dass Herder den Titel seiner Sammlung verändert und auch die verschiedenen Quellen aus dem Bereich der rabbinischen Literatur nicht mehr erwähnt, ist also wohl weniger als ein antijüdischer Reflex zu verstehen, sondern eher als ein Versuch, rabbinisches Erzählgut durch Neubearbeitung auch außerhalb der jüdischen Gemeinschaft bekannt zu machen, indem er die Texte aus einer spezifisch rabbinischen Verein­ nahmung ‚befreit‘ und ‚poetisch‘, ‚menschlich‘ gelesen haben will. Die Erzählung von Abrahams Kindheit ist bei ihm ein in schöne Worte gesetztes Gleichnis für den wahren Glauben. Der letzte Satz seiner Version von ‚Abrahams Kindheit‘ bietet Anschlussmöglichkeiten für alle monotheistischen Glaubensrichtungen, ja „für alle Welt“. Letztlich zeigt auch unser spätmittelalterliches Beispiel, dass die Legende von ihrem Kern her zwei Rezeptionsmöglichkeiten bietet: Die Geschichte kann sowohl als deutliche Abgrenzung gegenüber christlichen Glaubenpraktiken gelesen werden, wie etwa dem Heiligenkult, als auch als Beispiel für die Einübung in den ‚wahren Gottesdienst‘, der für alle drei großen Religionen in gleicher Weise verbindlich ist.

40 Ebd., S. 307. 41 Dazu u. a. Emil Adler, Johann Gottfried Herder und das Judentum, in: Kurt Mueller-Vollmer (Hg.), Herder Today. Contributions from the international Herder Conference, Nov. 5–8, 1987, Stanford, California, Berlin, New York 1990, S. 382–401, hier S. 390. Zur Diskussion von Herders Anti­ judaismus s. Martin Bollacher, „Feines, scharfsinniges Volk, ein Wunder der Zeiten!“ – Herders Verhältnis zum Judentum und zur jüdischen Welt, in: Christoph Schulte (Hg.), Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittelund Osteuropas (Haskala 28), Hildesheim 2003, S. 17–33; Helmut Müller-Sievers, „Gott als Schriftsteller.“ Herder and the Hermeneutic Tradition, in: Mueller-Vollmer (s. o.), S. 319–330.



Susanne Enderwitz (Heidelberg)

Abraham aus der Sicht des Islam Abstract: Abraham spielt nicht nur in der jüdischen und christlichen Überlieferung, sondern (unter dem arabischen Namen Ibrahim) auch in der islamischen Tradition eine Rolle. Man kann sogar sagen, dass der Islam im siebten Jahrhundert unserer Zeitrechnung vor allem mit dem Anspruch antrat, die „Religion Ibrahims“ wiederherzustellen. Die Verbindung der Araber zu Ibrahim verläuft über eine Genealogie, die in Abrahams / Ibrahims Sohn Ismail den Stammvater der Araber sieht, während die Muslime sich auf Ibrahim als Hanif berufen, der sich aus eigenem Antrieb von der Götzendienerei seiner Vorväter löste und auf die Suche nach Gott machte. Un­geachtet der Bedeutung der Abrahams- beziehungsweise Ibrahimsfigur für das Judentum und den Islam enthalten die Offenbarungsschriften nicht genügend Material, um ein kohärentes Abrahams- beziehungsweise Ibrahimsnarrativ zu begründen. Juden und Muslime waren im Mittelalter daher auf außerbiblisches beziehungsweise außer­ koranisches Material angewiesen, um insbesondere die Kindheit und Jugend Abrahams zu rekonstruieren. Dieses Material ist in beiden Religionen häufig identisch, und die Beeinflussung der einen Tradition durch die andere scheint in beide Richtungen funktioniert zu haben. Es wäre daher wünschenswert, wenn bei der Erforschung der monotheistischen Traditionen rund um das Mittelmeer stärker als bisher auch die islamische/muslimische Überlieferung miteinbezogen würde.

Dass Abraham die christliche mit der jüdischen Religion verbindet, ist eine Tatsache, die seit einigen Jahren in der Wendung vom „christlich-jüdischen Erbe“ beschworen wird. Dieser Gemeinplatz ist indessen keineswegs so aufgeschlossen, wie er theologisch mit seiner ausdrücklichen Anerkennung des jüdischen Anteils an der christ­ lichen Tradition zu sein scheint. Denn als Gemeinplatz gibt es ihn erst seit der sogenannten Islam-Debatte („Der Islam gehört zu Deutschland“, „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, „Der Islam gehört nicht zu Deutschland, aber die Muslime gehören zu Deutschland“), und er verdankt seine Existenz im öffentlichen Diskurs vor allem dem politischen Bestreben, den Islam in der Bundesrepublik auf den Platz des ausgeschlossenen oder allenfalls geduldeten Dritten zu verweisen. Aus islamischer Perspektive wäre die Abrahamsfigur jedoch eher geeignet, einem ‚islamisch-jüdischen Erbe‘ das Wort zu reden und den christlichen Anteil daran als nachgeordnet zu betrachten. Viel haben muslimische Exegeten, Historiker und Genealogen/Biographen über Abraham als den genealogischen Stammvater der Juden über seinen zweitgeborenen Sohn Isaak (Isḥāq) und der Araber vermittels seines erstgeborenen Sohnes Ismael (Ismā‘īl) geschrieben, und noch mehr gilt diese Verbindung zwischen den beiden Religionen mit Bezug auf den monotheistischen Glauben. Im siebten Jahrhundert unserer Zeitrechnung trat der Islam – die jüngste



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der drei monotheistischen Religionen – mit keinem geringeren Anspruch als mit der Absicht an, das jüdische und christliche Erbe zurechtzurücken, und keine biblische Figur erwies sich dafür geeigneter als Abraham. Ich gehe sicher nicht zu weit, wenn ich behaupte, dass die Berufung auf Abraham – arabisch Ibrahim (Ibrāhīm) – den Kern des Islams darstellt. Der Islam verstand und versteht sich ja nicht als eine neue Religion, die Juden- und Christentum eine ganz andere Gottesvorstellung entgegenzuhalten beabsichtigte. Er verstand sich vielmehr als ein Reformprojekt, das einem einzigen Zweck diente: der Wiederherstellung „der Religion Ibrahims“ (dīn Ibrāhīm). Dass der Islam heute von Juden und vor allem von Christen als kaum ernst zu nehmender Epigone unter den drei abrahamitischen Religionen eingeschätzt wird, ist ein rezentes Phänomen. Frühere Generationen sahen dies unter religiösen, theo­ logischen und ästhetischen Gesichtspunkten anders, und zwar weil sie – je nachdem – die islamische Religion als Konkurrenz fürchteten, die islamische Philosophie als Bereicherung schätzten oder später – in der Romantik – den koranischen Text als Poesie bewunderten. Ganz anders in Bezug auf Abraham sahen dies die jüdischen Exegeten des Mittelalters, die sich vom islamischen Abrahamsbild beeinflussen ließen und damit möglicherweise indirekt sogar auf die christlichen Abrahamsvorstellungen zurückwirkten. Auf diesen Punkt komme ich am Schluss meines Artikels noch einmal zurück, aber zunächst soll es um mein eigentliches Thema gehen, um den koranischen und islamischen Abraham mit Namen Ibrahim. Dieser Ibrahim teilt zwar etliche Züge mit Abraham, wie wir ihn aus der biblischen Überlieferung und dem außerbiblischen Schrifttum kennen, unterscheidet sich aber in etlichen Merkmalen auch dezidiert und pointiert von ihm.

1 Der koranische Text Dem Koran gilt Ibrahim als Prophet und er wird in 245 Versen in 25 Suren erwähnt, womit er rein quantitativ fast dieselbe herausragende Rolle spielt wie Moses, der am häufigsten erwähnte Prophet.1 Der Koran wurde Mohammed vom Jahr 610 n. Chr. an über ungefähr zwei Jahrzehnte hinweg geoffenbart, und seine 114 Suren werden in die sogenannten mekkanischen und medinensischen Suren unterteilt. Die Zuordnung der Suren nach ihrer mekkanischen (vor der Hidschra) und medinensischen (nach der Hidschra) Herkunft ist alte und gängige muslimische Praxis, die erst die west­ liche Orientalistik im 19. Jahrhundert zu präzisieren trachtete. Vor allem mittels einer Untersuchung und Zuordnung thematischer, stilistischer und sprachlicher Besonder-

1  Reuven Firestone, Abraham, in: Encyclopaedia of the Qur’an, Bd. 1 (2001), S. 5–11.



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 Susanne Enderwitz

heiten in verschiedenen Partien des Korans kam sie dahin, zwischen drei mekkanischen und einer medinensischen Periode zu unterscheiden.2 Historisch gesehen ist eine solche Einteilung und Zuordnung der Suren oder bestimmter Teile derselben sinnvoll, weil Mohammed in der langen Zeit seiner Offenbarungstätigkeit sehr unterschiedliche Lebensstationen durchlief, die ihren Niederschlag auch in der Offenbarung fanden. War die erste mekkanische Periode noch durch die Sammlung einer zunächst kleinen und unbedeutenden Anhängerschaft gekennzeichnet, so wuchs in der zweiten mekkanischen Periode mit dem Anwachsen dieser Anhängerschaft die Feindschaft des herrschenden Stammes Quraisch (Quraiš). Mohammed selbst gehörte zu diesem Stamm, aber die führenden Familien sahen in ihm zunehmend eine Bedrohung des bestehenden paganen Kaaba-Kults, der durch die jährlich stattfindenden Pilgerfahrten und damit verbundenen Märkte eine lukrative Einnahmequelle für sie bereithielt. In der dritten mekkanischen Periode kulminierte die quraischitische Feindschaft gegen die Muslime in einer regelrechten Verfolgung, so dass sich Mohammed im Jahr 621 zur Auswanderung (Hidschra, hiğra) entschloss. Das bedeutet, dass er mit seinen Anhängern Mekka verließ, um einem Ruf nach Medina (damals noch unter dem Namen Yaṯrib bekannt) zu folgen, wo man ihn als Schiedsrichter zwischen verfeindeten Stämmen benötigte. Die medinensische Periode der koranischen Offenbarung trägt die Spuren des Aufbaus und Erhalts eines muslimischen Gemeinwesens, das den Nukleus der späteren islamischen Gemeinschaft (umma) darstellte.3 Ibrahim wird bereits in der ersten mekkanischen Periode von Mohammeds Offenbarungstätigkeit im Koran erwähnt, doch in der zweiten und dritten mekkanischen Periode sowie in der medinensischen Zeit nimmt seine Bedeutung spürbar zu. Immer mehr wird er zum wichtigsten Bezugspunkt des monotheistischen Gedankens, der in der mit der Schöpfung beginnenden Offenbarungsgeschichte einen nicht hinterfragbaren Meilenstein darstellt. Darüber hinaus zählt er innerhalb dieser Offenbarungs-

2 Das Referenzwerk ist immer noch Theodor Nöldeke, Geschichte des Qorans, Göttingen 1860, die von einigen seiner Schüler fortgesetzt, aber erst 2004 ins Arabische übersetzt wurde und bis heute in einigen arabischen Ländern der Zensur unterliegt. 3 Verglichen mit dem Beginn der Offenbarungstätigkeit in Mekka könnte der Duktus der Suren aus Mohammeds Zeit in Medina nicht unterschiedlicher sein: Hier die apokalyptischen Bilder vom ­nahenden Weltgericht in fiebrigem Stakkato, dort die ehe- und erbrechtlichen Verfügungen in fast bürokratischer Ausführlichkeit. Tatsächlich wurden die Suren umso länger, je später sie geoffenbart wurden, und da der Koran vornehmlich der Länge seiner Suren zusammengestellt wurde, finden sich die frühen Suren eher am Ende als am Anfang des heiligen Textes. Zum Korantext insgesamt möchte ich noch vorausschicken, dass er nur wenige längere narrative Passagen enthält. Die Josephssure mit dem Bericht von Josephs Ankunft in Ägypten, seiner Leidensgeschichte und seinem letztend­ lichen Triumph bildet eine Ausnahme. Bei Ibrahim hingegen verhält es sich so wie bei den meisten Prophetengeschichten im Koran: Auf Ereignisse weist der Text nur kurz im Sinn einer Information, einer Parabel oder einer Ermahnung hin, was den Schluss nahe legt, dass sie im Grunde als bekannt ­vorausgesetzt wurden.





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geschichte zu jenen Propheten, die ähnlich wie Mohammed von ihren eigenen Leuten verfolgt wurden und deshalb geeignet waren, dem unter Druck geratenden Verkünder des Korans als Richtschnur und nicht zuletzt auch als Trost zu dienen. Schließlich wird Ibrahim im Koran mit dem Kaabakult der Stadt Mekka in eine ursächliche Verbindung gebracht, so dass sich der Kreis zwischen Mohammed, der den schon bestehenden Kaabakult in den Islam überführte, und Ibrahim als dem Initiator dieses Kultes schließt.4 Aber im Zentrum des Interesses steht im Koran Ibrahims Kampf gegen den Polytheismus, sein Ringen um die Gotteserkenntnis und die Selbstoffenbarung Gottes ihm gegenüber. Dies alles kommt in der Sure 6:74–79 besonders deutlich zum Ausdruck: Und (gedenke), als Abraham sprach zu seinem Vater Āzar5: „Nimmst du Bilder zu Göttern an? Siehe, ich sehe dich und dein Volk in offenkundigem Irrtum.“ Und ebenso zeigten Wir Abraham das Königreich der Himmel und der Erde, damit er zu den Festen im Glauben gehöre. Und da die Nacht ihn überschattete, sah er einen Stern. Er sprach: „Das ist mein Herr.“ Als er aber unterging, sprach er: „Nicht liebe ich, was untergeht.“ Und als er den Mond aufgehen sah, sprach er: „Das ist mein Herr.“ Und als er unterging, sprach er: „Wahrlich, wenn mich nicht mein Herr leitet, so bin ich einer der Irrenden.“ Und als er die Sonne aufgehen sah, sprach er: „Das ist mein Herr; das ist das Größte.“ Als sie jedoch unterging, sprach er: „O mein Volk, ich habe nichts mit euern Göttern zu schaffen. Siehe, ich wende mein Angesicht lautern Glaubens zu dem, der die Himmel und die Erde erschaffen, und nicht gehöre ich zu denen, die (Allah) Gefährten geben.“6

Hinter der Übersetzung „lautern Glaubens“ steckt das arabische Wort Hanif (ḥanīf),7 das in postkoranischer Zeit ganz allgemein zum Begriff für Menschen wurde, die sich vor und außerhalb der Offenbarung auf die Suche nach Gott machten, weil sie in ihrem Inneren spürten, dass es einen Größeren als die Götzen geben müsse. Im Koran wird dieses Wort Hanif allerdings nur für Ibrahim (acht Mal) und Mohammed (zwei Mal) verwendet, so dass schon dadurch der Bezug zwischen Ibrahim und Mohammed gegeben ist. Die von Ibrahim gestiftete Religion nennt der Koran in aller Regel „die Religion Ibrahims“ (dīn Ibrāhīm), die sich negativ zum Polytheismus verhält, ohne sich positiv mit dem jüdischen oder christlichen Monotheismus zu verbinden. Wohl aber scheint sie sich positiv mit dem islamischen Monotheismus zu verbinden,

4 Zu einer eher traditionell muslimischen Deutung der Ibrahim betreffenden Koranpassagen s. Friday  M. Mbon, Abraham in the Qur’an, in: Mohamed Taher (Hg.), Encyclopedic Survey of Islamic Culture, Bd. 2: Studies in Quran, Delhi 1997, S. 128–147. Dies ist besonders interessant in Hinblick auf jene Passagen, die keinen oder nur einen geringen biblischen Bezug aufweisen. 5 Dieser Name, der nichts mit dem biblischen Namen von Abrahams Vater (Teraḥ) zu tun zu haben scheint, hat zahlreiche Interpretationen herausgefordert. Für eine Übersicht über die verschiedenen Interpretationen s. Shari Lowin, The Making of a Forefather. Abraham in Islamic and Jewish Exegetical Narrative, Leiden, Boston 2006, S. 53. 6 Dieses und die folgenden Koranzitate folgen der Übersetzung von Max Henning (Übers.), Der Koran, Stuttgart 1960. 7 W. Montgomery Watt, Ḥanīf, in: Encyclopaedia of Islam, Bd. 3 (1979), S. 165a–166b, hier bes. S. 165a.



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denn Ibrahim wird in Sure 3:67 als ḥanīf muslim bezeichnet. Diese Nominalphrase ist äquivok, da das Wort muslim sowohl adjektivische (muslimisch, Gott ergeben) als auch substantivische (Muslim, Gott Ergebener) Bedeutung haben und infolgedessen grammatikalisch entweder attributiv als „ein muslimischer Hanif“ oder appositionell als „ein Hanif, ein Muslim“ verstanden werden kann, sowie semantisch entweder mit einer aktiven Partizipialkonstruktion als „ein Gott ergebener Hanif“ oder mit der attributiven Form wiederum als „ein muslimischer Hanif“. In Sure 30:30 wird das Hanifentum mit der ‚natürlichen‘, jedem Menschen eingegebenen Religion (fiṭra)8 in Verbindung gebracht, aber erst eine Prophetenüberlieferung stellte – wiederum negativ – die Beziehung zwischen ‚natürlicher‘ Religion und Islam implizit her: „Jeder Mensch wird im Zustand der Fitra (also der ‚natürlichen‘ Religion) geboren. Erst dann machen seine Eltern aus ihm einen Christen, Juden oder Zoroastrier.“9 Daraus lässt sich, wenn auch nicht mit absoluter Sicherheit, eine Interpretation ableiten, wonach die ‚natürliche‘ Religion und der Islam eins sind.10

2 Die mittelalterliche Interpretation War Ibrahim also von Anfang an und lange vor der Offenbarung des Korans bereits ein Muslim, weil er ein Gottsucher (ḥanīf) war, der die von Gott für die Schöpfung vorgesehene Religion (fiṭra) in sich suchte und sie dank Gottes Selbstoffenbarung im Ur-Islam fand? Ja, so muss man den Anspruch Mohammeds, die „Religion Ibrahims“ wiederherzustellen, in seiner letzten Konsequenz wohl verstehen – aber bis zur religiös-theologischen Aufarbeitung dieses Gedankens und der Reklamierung Ibrahims für den Ur-Islam vergingen noch einige Jahrhunderte. Wie die Bibel über Abraham, so bringt auch der Koran nur relativ spärliche Nachrichten über Ibrahim, aus denen sich ein zusammenhängendes Narrativ rekonstruieren ließe. Wie die Juden, so sammelten auch die Muslime deshalb Nachrichten über Ibrahim, die sie von außerhalb der Offenbarung aus allen möglichen Quellen zusammentrugen. Diese Informationen fanden dann Eingang in verschiedene mittelalterliche religiös-literarische Genres, unter denen die Prophetentradition (ḥadīṯ), die Prophetenbiographie (sīra), die Koranexegese (tafsīr), die Universalgeschichten (tāriḫ) und die Prophetengeschichten (qiṣaṣ al-anbiyā’) die wichtigsten sind.

8 Duncan B. Macdonald, Fiṭra, in: Encyclopaedia of Islam, Bd. 2 (1965), S. 931b–932a. 9 Ebd., S. 932a. 10 Eine besondere Verehrung gilt Ibrahims Grab, das die Muslime – wie die Juden Abrahams Grab – in Hebron lokalisieren, wodurch dieser Ort zu einem Brennpunkt zwischen beiden Reli­ gionsgemeinschaften wurde und seit Jahren Anlass zu immer neuen Auseinandersetzungen zwischen ­Palästinensern und Siedlern gibt.





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Bis ungefähr um die Mitte des achten Jahrhunderts nach Christus hatten die ­ uslimischen Gelehrten noch ein kaum distanziertes Verhältnis zu dem Material, das m aus jüdischen Quellen stammte. Die sogenannten Isra’iliyyat (isrā’īlīyāt, „aus israelischer Quelle“, womit jüdische und christliche Überlieferung gemeint ist) zeugen von einer regen Verwendung jüdischer Überlieferung vor allem aus dem Midrasch, die in die eigene Tradition, an die eigenen Bedürfnisse und in den eigenen Kontext eingepasst wurde. Eine frühe Prophetentradition spiegelt diese grundsätzlich positive Einstellung wider, denn sie autorisiert die Prophetengefährten zur Tradierung von Nachrichten über „die Kinder Israels“, die natürlich von niemandem als diesen selbst kommen konnten.11 Diese Tradition wurde im Übrigen durch den Koran selbst legitimiert, der die Verwendung jüdischer und christlicher Überlieferung in der Sure 10:94 ausdrücklich erlaubte: „Und so du in Zweifel bist über das, was Wir zu dir hinabsandten, so frage diejenigen, welche die Schrift vor dir lasen.“ Allmählich aber gerieten die Isra’iliyyat in Misskredit und fielen aus dem normativen Korpus islamischer Überlieferung heraus, und zwar in dem Maß, in dem sich die islamische Gemeinde auf der Basis ihres eigenen angewachsenen Traditionsbestandes etablierte und sich zunehmend weniger auf ihre Legitimation von außen angewiesen sah. Dieser Prozess muss kurz vor oder um die Mitte des achten Jahrhunderts eingesetzt haben, als die Dynastie der Abbasiden an die Macht kam und das Kalifat weit mehr als ihre Vorgänger mit einer religiösen – islamischen – Bedeutung auflud.12 Für die Tradition Ibrahims bedeutete diese Entwicklung, dass vor allem drei Gedanken in den Mittelpunkt rückten: die Abstammung der Araber und – in der dem Islam eigenen Verquickung von Arabern und Muslimen – auch der Muslime von Ismail (Ismā‘īl), dem Sohn Ibrahims mit Hagar (Hāğar), die Verlegung des Schauplatzes von Ibrahims Sohnesopfer von Syrien/Palästina weg auf die Arabische Halbinsel, wodurch ebenfalls Ismail ins Zentrum rückte, und die Zurückführung der Gründung der Stadt Mekka und des Kaabakultes auf Ibrahim, der dabei wiederum in Ismail eine tatkräftige Unterstützung fand. Die genannten drei Entwicklungslinien ergeben sich nicht zwangsläufig aus dem Koran, aber der Koran steht auch nicht explizit einer solchen offenbarungsgeschichtlichen Deutung entgegen. Ismail wird an mehreren Stellen des Korans unter den heiligen Männern der Vorzeit erwähnt, aber eine direkte Beziehung zwischen ihm und Ibrahim ist dort nicht auszumachen, zumal in den Suren aus der mekkanischen Zeit noch Jakob als zweiter Sohn und nicht etwa Enkel Ibrahims zu figurieren scheint. In den spät­ mekkanischen Suren und in den Suren aus der medinensischen Periode ändert sich das, und Ismail wird zum bevorzugten Sohn Ibrahims, auch wenn die genealogische Verbindung zwischen Arabern und Juden weiter im Unklaren bleibt. Mohammed

11 Lowin (Anm. 5), S. 8f.; ebd., S. 10–14, folgt eine Reihe frühislamischer Schriftgelehrter, die in der biblischen Tradition bewandert waren. 12 Ebd., S. 7–18, bes. S. 15.



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wusste jedoch anscheinend um seine eigene genealogische Verbindung zu Abraham über Ismail, denn im Anschluss an seine wundersame Nachtreise nach Jerusalem und sein Erklimmen der Himmelsleiter soll er über seine dortige Begegnung mit den Propheten Ibrahim, Musa (Mūsā, Moses) und Isa (Īsā, Jesus) geäußert haben:13 „Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der mir ähnlicher war als Ibrahim.“14 Aber selbst in der späteren muslimischen Tradition bleibt diese Genealogie eher unbestimmt, und Ismail wird eher durch seine Verehelichung mit einer arabischen Frau vom Stamm Dschurhum (Ğurhum) zum Stammvater aller Araber als aus eigenem Anspruch. Eine ähnliche Unbestimmtheit ist charakteristisch für die Identifikation Ismails mit dem zu opfernden Sohn, die unter den muslimischen Gelehrten des Mittelalters heftig und ausführlich diskutiert wurde, allerdings ohne klares Ergebnis. Der Koran nennt in diesem Zusammenhang in Sure 37:101–107 nicht den Namen des betreffenden Sohnes, und so sprach sich neben den Befürwortern und Gegnern der Ismail-These eine dritte, vermittelnde Partei mittelalterlicher muslimischer Gelehrter aus ‚praktischen‘ Gründen dafür aus, die Antwort auf die Frage nach der Identität des zu opfernden Sohnes von dem Ort abhängig zu machen, an dem man den Opferplatz lokalisierte. Was diesen Ort der Sohnesopferung angeht, so war sich die Mehrheit jedoch darüber einig, dass es sich nicht um Jerusalem, sondern um Mekka gehandelt haben müsse.15 In Mekka auch, so stellte man unter Berufung auf die Sure 2:127–128 (siehe auch die Suren 14:35–37, 22:26–27, 2:125 und 3:96–97) fest, hätten später Ibrahim und Ismail zusammen den Ort der – ursprünglich von Adam erbauten – Kaaba gereinigt, den Monotheismus als Kultus begründet und die Pilgerriten des Islams verbindlich gemacht.

13 Basil W. Robinson, Mi’rādj, in: Encyclopaedia of Islam, Bd. 7 (1979), S. 97b–105a, bes. S. 97b–99b. 14 Dieses Zitat stammt aus Ibn Isḥāqs Biographie (sīra) Mohammeds aus dem 8. Jh., die wir in der Rezension von Ibn Hišām aus dem neunten Jahrhundert kennen, und steht im Kapitel über die Nachtund Himmelsreise Mohammeds. 15 Ausdrücklich widmen sich dem Sohnesopfer und dem Mekkabezug in Koran und Tradition Suliman Bashear, Abraham’s Sacrifice of his Son and Related Issues, in: Der Islam 76 (1990), S. 243–277, sowie Reuven Firestone, Abraham’s Journey to Mecca in Islamic Exegesis. A Form-Critical Study of a Tradition, in: Studia Islamica 76 (1992), S. 5–24. Eine Eigentümlichkeit des Korans besteht darin, dass Ibrahim das Sohnesopfer im Einverständnis mit dem Sohn in Angriff nimmt. Die folgenden Verse der Sure 37:102–105 lauten: „Und da er das Alter erreicht hatte, mit ihm zu arbeiten, sprach er: ‚O mein Söhnlein, siehe, ich sah im Traum, dass ich dich opfern müßte. Nun schau, was du meinst.‘ Und da beide ergeben waren und er ihn auf seine Stirn niedergeworfen hatte, da riefen Wir ihm zu: ‚O Abraham, du hast das Gesicht erfüllt. Siehe, also lohnen Wir den Rechtschaffenen.‘“





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3 Das ibrahimitische Narrativ Da mittelalterliche muslimische Gelehrte dem Prinzip folgten, nach Möglichkeit keine – jedenfalls keine authentifizierte – Überlieferung zu unterdrücken, gibt es nahezu unzählige, konkurrierende und auch widersprüchliche Aussagen zu den Personen der islamischen Prophetengeschichte. Trotzdem lässt sich aus dem gesamten Material so etwas wie ein Mainstream der Ibrahims-Erzählung rekonstruieren, die sich in drei Phasen unterteilt.16 Der erste Teil spielt in Mesopotamien, dem Land von Ibrahims Geburt, der zweite in Syrien, und zwar in der Umgebung von Jerusalem, und der dritte auf der Arabischen Halbinsel, in der Umgebung von Mekka. Die Geschichte beginnt mit dem König Nimrod (Namrūd), dem seine Astrologen einen Konkurrenten um den Thron weissagen. Deshalb weiß er sich keinen anderen Rat, als einen Infantizid aller männlichen Neugeborenen ins Werk zu setzen. Ibrahim entgeht jedoch dem Kindermord, so wie überhaupt von Anfang an seine Kindheit und Jugend von wundersamen Zeichen begleitet wird. Bereits im Alter eines Heranwachsenden erkennt er die Falschheit des Götzendienstes und zerstört die Idole seines Vaters, ja sogar die Götzen des ganzen Volkes und Nimrods selbst. Für diesen Frevel wird er zum Tod in den Flammen verurteilt, aber dank göttlicher Intervention können die Flammen ihm nichts anhaben. Im zweiten Teil befindet sich Ibrahim mit seiner Frau Sarah (Sāra) auf einer Reise und trifft auf einen Herrscher, der Gefallen an Sarah findet. Weil Ibrahim ihm wenig Widerstand bietet, fühlt sich der Herrscher zu ihrer Heirat ermutigt. Im Schlafgemach gleitet jedoch seine Hand an ihr ab, und deshalb bringt er sie – zusammen mit einer ägyptischen Sklavin namens Hagar – zu Ibrahim zurück. Hagar gebiert Ibrahim Ismail, während Ibrahim sich als Brunnenbauer und damit zugleich an der Etablierung eines monotheistischen Kultes in Jerusalem oder dessen Umgebung versucht. Doch die Leute erkennen seinen Glauben erst an, als er sein Unterfangen bereits aufgegeben hat und im Gefolge seines vorübergehenden Wegzugs der Brunnen versiegt.17 Im dritten Teil wechselt die Szene nach Mekka, wohin Ibrahim Hagar und Ismail aufgrund von Sarahs Eifersucht gebracht hat. Nach Ibrahims Rückkehr nach Syrien müssen Mutter und Kind in der Wüste dürsten, aber wunderbarerweise öffnet sich nach Hagars langer, verzweifelter Suche nach Wasser die Quelle Zamzam im Wüs-

16 Zusammenfassungen des Ibrahim-Narrativs finden sich etwa bei Firestone (Anm. 1), S. 5–11, und Jan Knappert, Islamic Legends. Histories of the Heroes, Saints and Prophets of Islam, Bd. 1, Leiden 1985, S. 72–82. 17 Zu Sarah und Hagar in der islamischen Tradition siehe Reuven Firestone, The Problem of Sarah’s Identity in Islamic Exegetical Tradition, in: The Muslim World 80, 2 (1990), S. 65–71; Afnan Fatani, Hajar, in: Oliver Leaman (Hg.), The Qur’an. An Encyclopaedia, London 2006, S. 234–236, sowie den Sammelband von Letty Russell u. Phillis Trible (Hgg.), Hagar, Sarah and Their Children. Jewish, Christian and Muslim Perspectives, Louisville KY 2006, in dem allerdings ausgerechnet Hagar zu kurz kommt.



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 Susanne Enderwitz

tensand. Ibrahim hat dieser Version zufolge die Sklavin und ihren Sohn keineswegs verstoßen, sondern besucht sie zu drei späteren Gelegenheiten. Obwohl er seinen Sohn bei den ersten beiden Besuchen gar nicht antrifft, lässt er Ismail eine Botschaft zukommen, in der er die von seinem Sohn gewählte Frau missbilligt und für ihre Ersetzung durch eine geeignetere Frau sorgt. Bei seinem dritten Besuch findet Ibrahim dann Ismail vor, worauf sie gemeinsam die Umgebung der Kaaba reinigen und einen monotheistischen Kultus und Ritus um den Heiligen Stein herum begründen. Ich habe zu Anfang auf die Abhängigkeit der islamischen Literatur von jüdischen Quellen, außerbiblischen mehr als biblischen, bei der Ausarbeitung des Abrahambildes gesprochen, aber dieser Befund gilt auch umgekehrt. Jüngere Untersuchungen wie etwa Steven Wasserstroms „Between Muslim and Jew. The Problem of Symbiosis under Early Islam“ konstatieren in Bezug auf die islamische Adaption jüdischer Quellen „muslimische Reimaginierungen jüdischer Tradition“, in Bezug auf das Hin und Her gegenseitiger Beeinflussung im Mittelalter einen „synergetischen“ Vorgang und in Bezug auf die jüdische Exegese unter muslimischem Einfluss: „Wir wissen, dass sich das Judentum im Kleinen wie im Großen veränderte, als es auf dem Boden islamischer Zivilisationen weiter wuchs.“18 Über die Interaktion zwischen dem Islam und seinen monotheistischen Vorgängerreligionen ist in den vergangenen 25 Jahren einiges geforscht worden, vor allem in den USA, wo die ‚Religious Studies‘ einen besseren Stand zu haben scheinen als in Europa. Immer mehr setzte sich dabei die Erkenntnis durch, dass – anders als man noch im 19. Jahrhundert glaubte und diesen Glauben in Buchtitel wie Abraham Geigers „Was hat Mohammed aus dem Juden­ thume aufgenommen?“19 goss – der Islam ebenso ein Gebender wie ein Nehmender war. Mit dem Blick auf Abraham erschien erst jüngst eine umfassend angelegte Untersuchung von Shari  L. Lowin, deren wichtigste Ergebnisse ich zum Schluss in aller Kürze präsentieren möchte.20 Lowin konstatiert einen Paradigmenwechsel in der jüdischen Bibelexegese, den sie mit Flavius Josephus und seiner Orientierung an einer vornehmlich nicht-jüdischen, hellenistischen, griechisch gebildeten Leserschaft im ersten Jahrhundert nach Christus in Verbindung bringt. Während in der Bibel Abraham und Moses etwa gleich starke, selbstbestimmte und diesseitige Figuren sind, teilte sich jetzt das Vorbild des griechischen Helden in zwei verschiedene Spiegelungen desselben, nämlich in den aktiven und zugleich weisen Heroen, der das Schicksal selbst in die Hand

18 Steven Wasserstrom, Between Muslim and Jew. The Problem of Symbiosis under Early Islam, Princeton 1995, S. 181. 19 Abraham Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?, Diss. Bonn 1833 (von Friedrich Niewöhner 2004 neu herausgegeben). 20 Zum Folgenden s. Lowin (Anm.  5), bes. S.  212–255 (Kap.  5: „Abraham, Ibrāhīm, Moses, and Muḥammad“).





Abraham aus der Sicht des Islam 

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nimmt (Abraham), und in den eher passiven und gleichzeitig auserwählten Helden, der das Schicksal der Götter/Gottes erfüllt (Moses). Mohammed wird sich später in hohem Maß mit Abraham identifizieren, weil die Genealogie die Araber/Muslime mit Abraham verbindet und weil Abraham den Monotheismus begründete; aber der Ibrahim des Korans ist nicht mehr der Abraham der Bibel und der jüdischen Exegese. Obwohl ihm als Hanif ein Rest seiner aktiven Gottessuche verbleibt, wird er zum auserwählten „Freund Gottes“ (ḫalīl Allāh, Sure 4:125), den typologisch viel mehr mit dem postbiblischen Moses als mit Abraham verbindet. Umgekehrt wird das postkoranische Judentum zahlreiche biographische Details vor allem aus Ibrahims Kindheits- und Jugendgeschichte aus der islamischen Tradition entlehnen, aber zugleich – im Unterschied zum Islam – an der intellektuell selbstbestimmten Haltung Abrahams festhalten. Anders gesagt: Ibrahims Biographie in der mittelalterlichen islamischen Literatur ähnelt typologisch mehr derjenigen von Moses als derjenigen von Abraham, weil Mohammeds Biographie typologisch eher derjenigen von Moses als der von Abraham ähnelte. Diese typologische Ähnlichkeit von Moses und Mohammed gilt dabei nicht nur für den Umstand ihrer Erwählung zum Propheten, sondern auch in anderer Hinsicht: Weder Moses noch Mohammed begründeten den Monotheismus, sondern Abraham/Ibrahim. Nicht Abraham/Ibrahim trat als Gesetzgeber auf, sondern Moses und Mohammed. Moses und Mohammed führten als Heerführer ihr Volk an seinen angestammten Platz, nicht Abraham/Ibrahim. Nach alledem bleibt festzuhalten, dass der koranische und später der mittel­ alterliche islamische Ibrahim alles andere als ein Abklatsch des jüdischen und christlichen Abrahams ist. Er ist vielmehr eine Figur eigenen Rechts, die – wie auch andere koranische Propheten oder sonstige koranische Figuren – zu erforschen eine der Aufgaben einer jüdisch-christlich-islamischen Schrift-, Religions- oder auch Kulturwissenschaft sein könnte. Dies setzte allerdings voraus, dass eine solche Wissenschaft oder ein solcher Wissenschaftsverbund die Abraham/Ibrahim-Tradition, die von der Antike bis zur Moderne reicht und den gesamten Mittelmeerraum nach allen vier Himmelsrichtungen umspannt, umfassender als bisher in den Blick zu nehmen bereit wäre.



Anna Paranou (Marburg)

Die Gestalt Abrahams in Darstellungen der Opferung Isaaks in der byzantinischen und in der italienischen Bildkunst: Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Versuch einer Interpretation anhand der schrift­ lichen Quellen Abstract: In den italienischen Monumenten beherrscht die übergroße Gestalt Abrahams das Geschehen, während Isaak als Kleinkind passiv auf dem Altar sitzt. In den byzantinischen Denkmälern tritt die Opferung oft im Rahmen eines Abrahamszyklus auf, und der Opfergang ist häufiger in die Darstellung einbezogen. Der Figur Abrahams wird zudem eine geringere Aufmerksamkeit als jener Isaaks verliehen. Die lateinischen Kirchenväter betonten den vorbildlichen Gehorsam Abrahams gegenüber Gott: Abraham war bereit, seinen Sohn auf Befehl Gottes zu opfern, und ertrug sein Schicksal durch seinen Glauben. Deswegen war Gott-Vater auch bereit, seinen einzigen Sohn für die Erlösung der Nachkommen Abrahams zu opfern. Die lateinischen Kirchenväter sahen in Abraham Gott-Vater präfiguriert. Die griechischen Kirchenväter betrachteten die dreitägige Reise zum Opferort als eine schwere Bürde für Abraham. Dieser gab schließlich die Hoffnung auf eine große Nachkommenschaft durch Isaak auf und unterwarf sich den Befehlen Gottes. Isaak wird in der griechischen Patristik stärker gewichtet als Abraham, denn in der Opferung Isaaks wird der Tod Christi präfiguriert. Aufgrund ihres Opfercharakters wurde die Szene im Altarraum positioniert. In Italien erscheint sie auch oft im Kirchenschiff als unübertreffbares Paradebeispiel für Gehorsamkeit gegenüber göttlichen Geboten. Sie verweist zugleich auf die christliche Glaubensgemeinschaft, da alle Christen im Glauben aus Abraham abstammen. Zu dieser Gemeinschaft zählten die reumütigen Konvertiten nicht: Deswegen mussten sie in Byzanz der Liturgie im Narthex beiwohnen.

Ziel dieses Artikels ist es, die Unterschiede der Wiedergabe Abrahams in Darstellungen der Opferung Isaaks in der byzantinischen und italienischen Bildkunst aufzuzeigen. Diese Unterschiede gipfeln in der Gestalt Abrahams und sind von der Forschung schon in Ansätzen bemerkt worden.1 Die Untersuchung ihrer Ursachen blieb jedoch

1 Vgl. Friedrich W. Deichmann, Ravenna. Hauptstadt des spätantiken Abendlandes, Bd. 2, 2: Kommentar, Wiesbaden 1976, S. 170; Ute Schwab, Zum Verständnis des Isaak-Opfers in literarischer und bildlicher Darstellung des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 15 (1981), S.  435–494, hier S. 450f., 454.



Die Gestalt Abrahams in Darstellungen der Opferung Isaaks 

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bisher aus. Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab, diese Differenzen mit der unterschiedlichen patristischen Tradition in Verbindung zu bringen. Die Opferung Isaaks ist eine der am häufigsten illustrierten alttestamentlichen Szenen und stellt seit der Spätantike ein beliebtes Bildthema der christlichen Kunst dar.2 Sie erscheint oft auf Gegenständen der Kleinkunst, Amuletten,3 Siegeln,4 Elfenbeinpyxiden,5 Öllampen6 und Glasschliffgläsern7. Die ersten erhaltenen Darstellungen stammen aus der Katakombenmalerei und der Sarkophagplastik und zeigen überwiegend den Höhepunkt des Geschehens.8 In diesen Darstellungen ist Abraham die beherrschende Gestalt; er steht meistens aufrecht in der Mitte, hat seine linke Hand auf Isaak gelegt und erhebt gleichzeitig die Rechte mit dem Messer, um seinen Sohn zu opfern.9 Isaak kniet auf dem Boden vor dem Altar; seine Hände sind oft gebunden.10 Er wird meistens bedeutend kleiner als sein Vater wiedergegeben und erscheint als Kleinkind.11 Der Widder wurde oft in die Komposition miteinbezogen. Meistens befindet er sich neben Abraham.12 Der Altar ist überwiegend rechteckig, blockhaft, und oft brennt darauf ein Feuer.13

2 Eduard Stommel, Beiträge zur Ikonographie der konstantinischen Sarkophagplastik (Theophaneia, Beiträge zur Religions- und Kirchengeschichte des Altertums 10), Bonn 1954, S. 69. 3 Corby Finney, Abraham and Isaac on Late-Antique Amulets and Seals. The Western Evidence, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 38 (1995), S. 140–166, hier S. 142–146, 166; vgl. Elisabeth Paneli, Die Ikonographie der Opferung Isaaks auf den frühchristlichen Sarkophagen (Edition Wissenschaft, Reihe Kunstgeschichte 24), Marburg 2001, S. 66. 4 Finney (Anm. 3), S. 145–147. 5 Wolfgang Friedrich Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters (Kata­ loge vor- und frühgeschichtlicher Altertümer  7), 3. Aufl. Mainz 1976, S.  104–106, Nr.  161, 163, 164; Klaus Wessel, Abraham, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst, Bd. 1 (1966), Sp. 11–22, hier Sp. 14; Paneli (Anm. 3), S. 41, 66; Rainer Warland, Das Opfer Abrahams. Diskurse der Bildgeschichte um Gehorsam, Sohnesopfer und Gewalt, in: Helmut Hoping, Julia Knop u. Thomas Böhm (Hgg.), Die Bindung Isaaks. Stimme, Schrift, Bild. Regensburg 2009, S. 15–38, hier S. 23. 6 Anton de Waal, Das Opfer Abrahams auf einer orientalischen Lampe, in: Römische Quartalschrift 18 (1904), S. 21–34, hier S. 21–23; Paneli (Anm. 3), S. 67. 7 Warland (Anm. 5), S. 15–17. 8 Stommel (Anm. 2), S. 69; Paneli (Anm. 3), S. 6. 9 Elisabeth Lucchesi Palli, Abraham, in: Lexikon der Christlichen Ikonographie, Bd.  1 (1968), Sp.  20–35, hier Sp.  23; vgl. Romana Gerhard, Die Opferung Isaaks in der biblischen, jüdischen und christlichen Literatur und in der Kunst des 11.  bis 13.  Jahrhunderts in Italien, Bochum 2002, URL http://www-brs.ub.ruhr-uni-bochum.de/netahtml/HSS/Diss/GerhardRomana/diss.pdf (einges. 10.6.14), S.  150f.; s. a. de Waal (Anm.  6), S.  30; Finney (Anm.  3), S.  149f.; Paneli (Anm.  3), S.  6f.; Warland (Anm. 5), S. 20. 10 Lucchesi Palli (Anm. 9), Sp. 23; vgl. Gerhard (Anm. 9), S. 150f., sowie Paneli (Anm. 3), S. 6f., 61–63. 11 Paneli (Anm. 3), S. 23. 12 Zu den unterschiedlichen Positionen des Widders s. Lucchesi Palli (Anm. 9), Sp. 24, 27; Paneli (Anm. 3), S. 68f., 73. 13 Paneli (Anm. 3), S. 93.



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 Anna Paranou

Gregor von Nyssa bewunderte diese Szene in der Wandmalerei. Er beschreibt den auf dem Altar knienden Isaak, dessen Hände nach hinten gebunden sind; sein Vater hat seinen Kopf gepackt und nach hinten gezogen, um den tödlichen Schlag in den Hals auszuüben. Der Engel des Großen Rates verhindert in letzter Sekunde das Opfer. Beim Anblicken dieser Szene wurde Gregor von Nyssa derartig emotional berührt, dass er in Tränen ausbrach.14 Entsprechende Darstellungen dieses Bildthemas im frühbyzantinischen Raum sind selten. Dieses Schema weisen dagegen üblicherweise frühchristliche Abbildungen der Opferung im Westen auf.15 Das berühmte Mosaik von San Vitale in Ravenna (547 geweiht), die älteste erhaltene Darstellung dieses Ereignisses in der Monumentalkunst, weist dieses Konzept auf. Die Opferung befindet sich in der Lünette an der Nordwand des Presbyteriums (Abb.  1) und ist neben der Philoxenia Abrahams illustriert.16 In der Opferung steht Abraham aufrecht neben einem blockhaften Altar und erhebt mit seiner Rechten das Schwert, um seinen gefesselten Sohn zu töten, der auf dem Altar kniet. Zugleich dreht er sich nach links, um die Stimme Gottes zu hören; an seinen Füßen befindet sich der Widder. Fast gleichzeitig entstand das Bild der Opferung im Katharinenkloster auf dem Sinai. Es befindet sich an der Westseite des nördlichen Pilasters im Altarraum der Marienkirche (Abb. 2).17 Gewisse Parallelen lassen sich zum Konzept der Darstellung in Ravenna feststellen. Abraham steht aufrecht, ist übergroß und in der Mittelachse positioniert. Mit der linken Hand packt er Isaak am Schopf und mit der rechten erhebt er das Schwert, um ihn zu töten. Isaak ist als Kleinkind dargestellt, seine Hände sind

14 Gregor von Nyssa, Περί θεότητος Υἱοῦ καί πνεύματος Λόγος, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Graeca, Bd. 46, Sp. 553–576, hier Sp. 572f.; vgl. Isabel Speyart Van Woerden, The Iconography of the Sacrifice of Abraham, in: Vigiliae Christianae 15, 4 (1961), S. 214–255, hier S. 221, 228; Wessel (Anm. 5), Sp. 11f.; Edward Kessler, Bound by the Bible. Jews Christians and the Sacrifice of Isaac, Cambridge 2005, S. 155. 15 Wessel (Anm.  5), Sp.  12. Eine Silberschale, vermutlich aus Byzanz, heute im Musée de l’art et d’histoire in Genf, weist dieses Schema auf. Es wird jedoch spekuliert, ob die Schale eine moderne Fälschung ist, s. Marielle Martiniani-Reber, Nr. 30, Schale mit der Darstellung des Abrahamsopfers, in: Byzanz. Pracht und Alltag, Kunst- und Ausstellungshalle des Bundesrepublik Deutschland, Bonn 26. Februar bis 13. Juni 2010, München 2010, S. 156. Auch ein Relief mit der Opferung im Archäologischen Museum in Istanbul zeigt dieses Schema, vgl. Nezih Firatli, Deux Nouveaux Reliefs funéraires d’Istanbul et les Reliefs similaires, in: Cahiers Archéologiques 11 (1960), S. 73–92, hier S. 84, Abb. 16a. 16 Lucchesi Palli (Anm. 9), Sp. 23; Friedrich W. Deichmann, Ravenna. Hauptstadt des spätantiken Abendlandes, Bd. 1: Geschichte und Monumente, Wiesbaden 1969, S. 235, 238; Rainer Sörries, Die Bilder der Orthodoxen im Kampf gegen den Arianismus. Eine Apologie der orthodoxen Christologie und Trinitätslehre gegenüber der arianischen Häresie, dargestellt an den ravennatischen Mosaiken und Bildern des 6. Jahrhunderts, Frankfurt a. M., Bern 1983, S. 156. 17 Sabine Schrenk, Typos und Antitypos in der frühchristlichen Kunst (Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg.-Bd. 21), Münster 1995, S. 74f.





Die Gestalt Abrahams in Darstellungen der Opferung Isaaks 

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gebunden und er kniet auf dem blockhaften Altar. Das Altartuch ist mit einem Kreuz in der Mitte geschmückt.18 Dieses Schema übernahmen die italienischen Künstler bei der Wiedergabe des Themas. Die Darstellung ist immer auf den Höhepunkt des Geschehens fokussiert. Abraham lässt sich als die Hauptfigur identifizieren. Seine übergroße Gestalt nimmt stets das Zentrum ein und ist oft auf den Betrachter ausgerichtet. Abraham steht oft in Kontrapoststellung im Vordergrund neben dem Altar, und seine Gesten verleihen der Szene eine besondere Dramatik. Gelegentlich schreitet er dynamisch zum Altar, auf dem sich sein gefesselter Sohn befindet. Mit der Linken hat er Isaak am Schopf gepackt und mit der Rechten erhebt er das Schwert, um ihn zu töten.19 Seine Tunika weht wellenförmig nach hinten, und dadurch wird seiner Gestalt mehr Dynamik verliehen.20 Der kleine Isaak liegt oder sitzt passiv auf dem Altar. Abraham blickt zugleich nach oben, wo entweder ein Engel, die Hand Gottes oder selten Gott selbst erscheint und ihn davon abhält, das Opfer auszuführen. Der Widder befindet sich häufig am Rand der Komposition.21 Die Gestaltung der Szene in den italienischen Monumenten legt die Vermutung nahe, dass es den Künstlern vor allem auf die Akzentuierung der Gestalt Abrahams ankam.22 Im Baptisterium von Concordia Sagittaria bei Portogruaro, Venedig (Ende 11. Jahrhundert)23 und in der Jakobskirche in Grissian, Norditalien (um 1120) wurde die Opferung im Altarraum dargestellt. In Grissian ist sie sogar in einem erweiterten Zyklus aufgenommen worden, in dem auch der Aufbruch zum Opfergang geschildert wird.24 Ferner ist die Opferung wie in der Abtei San Pietro in Valle aus dem 12. Jahrhundert (Abb.  3)25 und in der Basilika San Giovanni a Porta Latina in Rom (Ende 12./ Anfang 13. Jahrhundert) auch im Kirchenschiff anzutreffen.26 In der Basilika des San Francesco in Assisi (zwischen 1288 und 1292) wurde die Opferung im Obergaden des Langhauses positioniert (Abb. 4).27

18 Schrenk (Anm. 17), S. 79–83, 88. Sabine Schrenk ist der Auffassung, dass in dieser Szene das ­eigentliche Opfer dargestellt werden sollte, und daher Isaak so klein wiedergegeben sei; s. a. Warland (Anm. 5), S. 26. 19 Vgl. Schrenk (Anm. 17), S. 79f.; Gerhard (Anm. 9), S. 176, 188, 249f. 20 Vgl. Gerhard (Anm. 9), S. 182, 188; Gerhard Ruf, Die Fresken der Oberkirche San Francesco in Assisi. Ikonographie und Theologie, Regensburg 2004, S. 129. 21 Gerhard (Anm. 9), S. 152, 176, 188, 250; vgl. Speyart Van Woerden (Anm. 14), S. 214–255, hier bes. S. 233; Deichmann (Anm. 1), S. 170. 22 Vgl. Gerhard (Anm. 9), S. 177. 23 Ebd., S. 171, 176f., Abb. 4, bes. die Schemazeichnung auf S. 174. 24 Ebd., S. 155–160, Abb. 1, 2; Warland (Anm. 5), S. 28. 25 Gerhard (Anm. 9), S. 185, 188. 26 Ebd., S. 178f., 182f. 27 Ebd., S. 189f., 193; Ruf (Anm. 20), S. 129.



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In den byzantinischen Darstellungen wird Abraham dagegen nicht aufrecht neben dem Altar stehend gezeigt, sondern er liegt mit seinem Körper beinahe auf seinem Sohn. Isaak befindet sich wiederum nicht auf dem Altar, sondern liegt meistens mit zusammengebundenen Händen auf dem Boden daneben; auf dem Altar brennt ein Feuer.28 Abraham hat Isaak gepackt, sein Knie auf dessen Rücken gepresst und hebt das Messer, um es ihm in den Hals zu stoßen. Abraham und Isaak wirken angespannt, und es entsteht der Eindruck eines Kampfes. Die Hand Gottes oder der Engel verhindert in letzter Sekunde das Opfer. Im Gegensatz zu den entsprechenden italienischen Darstellungen vermittelt die Szene keine Ausgewogenheit. Der Gestalt Abrahams wird zudem nicht die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt wie in den italienischen Denkmälern, sondern Isaak wird mehr Gewicht eingeräumt; er ist nur etwas kleiner als Abraham dargestellt.29 Mehr Gewicht wurde auf die Schilderung der Be­gebenheiten vor der Opfertat gelegt, weswegen der Opferung oft kein eigenes Bildfeld eingeräumt worden ist. Sie erscheint öfters in einem erweiterten Zyklus und meistens im selben Bildfeld wie die Reise zum Berg Morija. In den italienischen Monumenten wurde hingegen die Reise seltener illustriert. Dieses Schema weisen die Darstellungen der Opferung im Altarraum der Sophienkirche in Ohrid30 (Abb. 5) und der Gottesmutterkirche in Gračanica31 (gegen 1321) auf. Diese Kompositionen wurden im selben Bildfeld mit dem Auftrag Gottes an Abraham, seinen Sohn zu opfern, und/oder der Reise zum Berg Morija dargestellt. Der Moment der Opferung nimmt das obere Bildfeld ein. Im Bema der Peribleptoskirche in Mistra (um 1360) wurde der Opferung Isaaks dagegen ein eigenes Bildfeld zuteil.32 Seit der spätbyzantinischen Zeit ist die Opferung auch im Narthex anzutreffen wie in der Dreifaltigkeitskirche in der Omorphe Ekklesia in Athen (Anfang 13. Jahrhundert)33 und in der Achileioskirche in Arilje in Serbien (Abb. 6).34 Die Opferung erscheint in Arilje im Rahmen eines erweiterten Zyklus. Zur Bildfolge gehören

28 Vgl. Speyart Van Woerden (Anm. 14), S. 228; Deichmann (Anm. 1), S. 170f.; Gerhard (Anm. 9), S. 226. 29 Vgl. Gerhard (Anm. 9), S. 226. 30 Wessel (Anm.  5), Sp.  17; Richard Hamann-MacLean, Grundlegung zu einer Geschichte der mittelalterlichen Monumentalmalerei in Serbien und Makedonien (Marburger Abhandlungen zur Geschichte und Kultur Osteuropas 4), Gießen 1976, S. 183; Barbara Schellewald, Johannes Chrysostomos und die Rhetorik der Bilder im Bema der Sophienkirche in Ohrid, in: Martin Wallraff u. Rudolf Brändle (Hgg.), Chrysostomosbilder in 1600 Jahren. Facetten der Wirkungsgeschichte eines Kirchenvaters (Arbeiten zur Kirchengeschichte 105), Berlin, New York 2008, S. 169–192, hier S. 173–177. 31 Wessel (Anm. 5), Sp. 17; Desanka Milosević, Manastir Gračanića, Belgrad 1989, S. 378, Abb. 10. 32 Suzy Dufrenne, Les programmes iconographiques des églises byzantines de Mistra (Bibliothèque des Cahiers archéologiques 4), Paris 1970, S. 14. 33 Agapi Basilaki-Karakatsani, Οἱ τοιχογραφίες τῆς Ὄμορφης Ἐκκλησιᾶς στὴν Ἀθήνα, Τετράδια Χριστιανικῆς Ἀρχαιολογίας καὶ τέχνης, Athen 1971, S. 18f., Taf. 9. 34 Dragan Vojvodić, Zidno Slikarstvo Krkve Arilje Svetog Achilija y Arilje, Belgrad 2005, S. 106.





Die Gestalt Abrahams in Darstellungen der Opferung Isaaks 

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die Erteilung des Befehls Gottes an Abraham durch einen Engel, die Reise zum Berg Morija mit dem Gespräch zwischen Vater und Sohn und der Moment der Opferung. Entgegen der anderen byzantinischen Darstellungen des Themas ist in der Szene der eigentlichen Opferung Abraham halb stehend und halb kniend abgebildet. Er beugt sich über seinen Sohn, drückt sein Knie auf dessen Rücken, packt ihn am Haar und erhebt das Messer, um die Opferung zu vollziehen. Ein Engel Gottes rettet Isaak in letzter Sekunde.35 Wie aus der Vorstellung des Bildmaterials hervorgeht, bestehen wichtige Unterschiede im Aufbau und der Ikonographie zwischen den byzantinischen und italienischen Darstellungen. Zur Erklärung dieser Unterschiede soll der theologische Hintergrund beleuchtet werden, um den Zusammenhang zwischen Bildsprache und Aussage der Kompositionen zu erkennen. Die Opferung Isaaks (Gen 22,1–19) gilt – was ihre theologische Interpretation angeht – als eine der bekanntesten und zugleich schwierigsten Stellen des Alten Testaments.36 In der griechischen und lateinischen Patristik wird das Thema verschiedenartig ausgelegt. Die jüdische außerbiblische Tradition ist ebenfalls zu berücksichtigen. Im ‚Barnabasbrief‘ (1. Jahrhundert) befindet sich die älteste typologische Deutung Isaaks als Präfiguration Christi mit dem Unterschied, dass das Opfer an Isaak unvollendet blieb und Christus es zur Vollendung führte. Die Rolle Isaaks steht im Vordergrund des Geschehens, während Abraham überhaupt nicht erwähnt wird.37 Johannes Chrysostomos (Mitte 4.–Anfang 5.  Jahrhundert) war der Auffassung, dass Abraham eine Vorahnung auf die Passion und den Tod Christi hatte. Deswegen hatte er die menschliche Natur überwunden und die Befehle Gottes an die erste Stelle gesetzt.38 Laut Kyrill von Alexandreia (Ende 4.–Mitte 5.  Jahrhundert) wurden die Geheimnisse der Inkarnation und Auferstehung Christi dem Stammvater Abraham bei der Opferung offenbart; Abraham wurde somit in das Mysterium der Inkarnation Christi eingeweiht.39 Sein Verhalten war von Glauben und Vertrauen gegenüber Gott erfüllt. Er war bereit, das Gebot Gottes zu erfüllen, obwohl er in Versuchung geraten war, und er blieb in der Erwartung, dass er durch Isaak zum Vater einer großen Nach-

35 Vgl. Wessel (Anm. 5), Sp. 17. 36 Gerhard (Anm. 9), S. 12. 37 Épitre de Barnabé, hrsg.  v. Pierre Prigent u. Robert  A. Kraft (Sources Chrétiennes  172), Paris 1971, S.  130; Ferdinand  R. Prostmeier, Der Barnabasbrief (Kommentar zu den Apostolischen Vätern 8), Göttingen 1999, S. 293f.; Gerhard (Anm. 9), S. 122. 38 Johannes Chrysostomos, Ὁμιλία ΜΖ’. Καὶ ἐγένετο μετά τὰ ῥήματα ταῦτα ὁ Θεὸς ἑπείραζε τὸν Ἀβραάμ, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Graeca, Bd. 54, Sp. 428–434, hier Sp. 429, 432; Gerhard (Anm. 9), S. 130; Kessler (Anm. 14), S. 69. 39 Kyrill von Alexandreia, Περί τοῦ Ἀβραάμ καὶ τοῦ Ἰσαάκ, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Graeca, Bd. 69, Sp. 138–148, hier Sp. 145A–C; Vojvodić (Anm. 34), S. 107.



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kommenschaft werden könnte. Er hatte sich der Macht Gottes unterstellt und wusste, dass das Versprechen Gottes trotz seines Befehls eingehalten werden würde.40 Origenes (185–um 254) sah in der dreitägigen Reise zum Opferort eine weitere Bürde in der harten Prüfung Abrahams.41 Er hat den inneren Kampf Abrahams als einen Konflikt zwischen Geist und Fleisch interpretiert, weil dieser auf keinen Fall den göttlichen Befehl missachten wollte.42 Laut Gregor von Nyssa (4.  Jahrhundert) verstärkte das Gespräch Abrahams mit Isaak während der Reise das Ausmaß seiner Prüfung; am Ende gab Abraham seinen Wunsch auf eine riesige Nachkommenschaft auf und ordnete sich komplett den Befehlen Gottes unter.43 Gleichzeitig bestehen Ähnlichkeiten zwischen Isaak und Christus. Origenes erkennt Parallelen zwischen dem Holz tragenden Isaak und dem Kreuz tragenden Christus. Die Opferung Isaaks gilt also als ein Symbol der Passion Christi. Das Tragen des Holzes ist jedoch auch eine priesterliche Aufgabe; Christus ist also Priester und Opfer zugleich. Auch Isaak hatte Anteil am priesterlichen Dienst, weil er neben und nicht hinter seinem Vater ging, ein Hinweis auf deren Gleichwertigkeit.44 Der Widder wird mit Christus gleichgesetzt und symbolisiert seine menschliche Natur, die aus dem Schoß Marias hervorgegangen ist und während des Kreuzestodes litt, um für die Sünden der Menschheit zu sühnen.45 Auch Kyrill von Alexandreia vergleicht die Opferung Isaaks mit der Kreuzigung Christi. In beiden Fällen wird der Sohn vom Vater zum Opfer geführt. Gleichzeitig stellt er Parallelen im Verhalten Christi und Isaaks fest; beide akzeptierten widerstandslos die Entscheidung von Gott-Vater und opferten sich.46 Die lateinischen Kirchenväter interpretierten dieses Ereignis vornehmlich im Hinblick auf Abraham. Irenäus von Lyon (2. Jahrhundert) betrachtete das Verhalten Abrahams als vorbildlich für die Apostel. Wie Abraham dem Befehl Gottes gehorchte und seine Liebe zu Isaak überwand, so verließen auch die Apostel ihre Verwandten und folgten Christus.47 Irenäus sah in dem Verhalten Abrahams ebenfalls ein Vorbild

40 Kyrill von Alexandreia (Anm. 39), Sp. 145A; Kessler (Anm. 14), S. 71. 41 Origenes, Homélies sur la Genèse, hrsg. v. Henri de Lubac u. Louis Doutreleau (Sources Chrétiennes 7), Paris 1976, S. 221; Kessler (Anm. 14), S. 51. 42 Origenes (Anm. 41), S. 228; Kessler (Anm. 14), S. 51. 43 Gregor von Nyssa (Anm. 14), Sp. 569, 572; Kessler (Anm. 14), S. 49f. 44 Origenes behauptete, dass Isaak Christus gleich war; Christus war allerdings wie Melchisedek ein Priester für die Ewigkeit (Ps 110,4), was der Szene eine eucharistische Bedeutung verleiht. Ori­genes (Anm. 41), S. 223, 231; Gerhard (Anm. 9), S. 127; Kessler (Anm. 14), S. 53; vgl. Paneli (Anm. 3), S. 49, Anm. 161. 45 Origenes (Anm. 41), S. 231; Franz Nikolasch, Das Lamm als Christussymbol in den Schriften der Väter (Wiener Beiträge zur Theologie 3), Wien 1963, S. 42; Gerhard (Anm. 9), S. 128. 46 Kyrill von Alexandreia (Anm. 39), Sp. 141, 144; vgl. Kessler (Anm. 14), S. 116, 125. 47 Irenäus von Lyon, Adversus Haereses / Gegen die Häresien, 5 Bde., hrsg. v. Norbert Brox (Fontes Christiani 8), Freiburg i. Üe. u. a. 1993–2001, Bd. 4, S. 43; Speyart Van Woerden (Anm. 14), S. 217; Gerhard (Anm. 9), S. 131f.; Schrenk (Anm. 17) S. 31f.





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für die Christen. Er ermahnte sie, ihr eigenes Schicksal mit dem Glauben Abrahams zu erdulden und wie Isaak ihr eigenes Kreuz zu tragen.48 Cyprian von Karthago (3. Jahrhundert) hebt die Gehorsamkeit Abrahams hervor, auf Anweisung Gottes seinen Sohn zu opfern. Auch das Verhalten Isaaks sei lobenswert: Er widersetze sich nicht dem Gebot Gottes und könne daher als Typos Christi verstanden werden.49 Diese Auffassung erfährt eine Steigerung bei Zeno von Verona (4. Jahrhundert), der ausführt, dass Abraham und Isaak über den Befehl Gottes nicht schmerzlich berührt seien, sondern erfreut, weil ihnen diese Ehre zuteil wurde. Zeno betont, dass Verbindungen zwischen den beiden Opfern bestehen. Isaak musste nicht geopfert werden, sondern der Widder – und Christus entsühnte mit seinem Opfer die Ursünde Adams.50 In der jüdischen Tradition wird die Opferung ebenfalls als eine Prüfung für den Gehorsam Abrahams angesehen.51 Abraham erscheint jedoch nicht immer als unübertreffbares Vorbild für Gehorsam. Er soll sogar absichtlich den göttlichen Befehl missachtet oder versucht haben, die Ausführung der Opferung zu verzögern.52 Die Opferung wird zudem als das Resultat der Unfähigkeit Abrahams angesehen, ein angemessenes Dankopfer für die Geburt Isaaks darzubringen.53 Im Testament Abrahams, einer jüdischen Schrift aus den ersten Jahrhunderten nach Christus, die den Auftrag Gottes an Michael und Thanatos, den Tod Abrahams herbeizuführen, und seinen Befehl an Abraham, sein Testament zu verfassen54, schildert, versucht Abraham sogar seinem eigenen Schicksal zu entkommen,55 die Entscheidung Gottes zu umgehen und weigert sich stur ein Testament zu verfassen.56 Nur mit List gelingt es Thanatos, die Seele Abrahams in den Himmel zu überführen.57 Aus den Auslegungen der Kirchenväter geht hervor, dass diese die Opferung Isaaks mit dem Opfertod Christi in Verbindung setzten und als seine Präfiguration ansahen. Es bestehen jedoch Unterschiede in der Interpretation dieses Ereignisses in der griechischen und der lateinischen Patristik. Die griechischen Kirchenväter bewunderten das Verhalten Abrahams, weil dieser seine Vaterliebe gegenüber Isaak überwand und

48 Irenäus von Lyon (Anm.  47), Bd.  4, S.  42; Speyart Van Woerden (Anm.  14), S.  217; Gerhard (Anm. 9), S. 131f.; Kessler (Anm. 14), S. 71, 112. 49 Cyprianus Thascius Caecilius, Opera omnia, hrsg.  v. Wilhelm von Hartel (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 3, 1), Wien 1868, S. 52, 404; Gerhard (Anm. 9), S. 134f. 50 Zeno von Verona, Tractatus, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 11, Sp. 253–528, hier Sp. 419 (Tractatus 10: Da Abraham I); Gerhard (Anm. 9), S. 136f. 51 Kessler (Anm. 14), S. 47. 52 Ebd., S. 50f. 53 Ebd., S. 51. 54 Jared W. Ludlow, Abraham Meets Death. Narrative Humor in the Testament of Abraham (Journal for the Study of the Pseudepigrapha, Supplement Series 41), London 2002, S. 22f., 25. 55 Ebd., S. 17, 24f., 32, 37, 50f., 60, 63. 56 Ebd., S. 14, 49. 57 Ebd., S. 50, 63.



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dem Befehl Gottes Priorität einräumte, obwohl die Reise zum Opferort sehr schmerzhaft war. Sie haben die Opferung vor allem als Typos der Kreuzigung interpretiert und den Holz tragenden Isaak entsprechend als Typos Christi, weil dieser auch sein Kreuz selbst tragen musste. Der Widder wird in die Symbolik einbezogen, weil er schließlich wie Christus an Stelle von jemand anderem geopfert wurde.58 Folglich legten die griechischen Kirchenväter primär Wert auf die erlösende Botschaft dieses Ereignisses. Die Darstellung der Opferung innerhalb eines erweiterten Zyklus kann zudem mit dem inneren Kampf Abrahams während der Reise zum Opferort in Zusammenhang stehen. Sie soll ihren Ursprung aber auch in byzantinischen narrativen Buchillustrationen haben, die mehrere Handlungsgänge wiedergeben.59 Ihren Ursprung könnte sie auch in der jüdischen Tradition haben, in der das Zögern Abrahams, das göttliche Gebot auszuführen, besonders stark zum Ausdruck kommt. Die lateinischen Kirchenväter interpretierten die Opferung Isaaks ebenfalls als eine Präfiguration der Kreuzigung und haben die Person Christi auch mit Isaak in Zusammenhang gebracht. Sie hoben vor allem das Verhalten und die Gehorsamkeit Abrahams gegenüber Gott hervor und betrachteten diesen als Vorbild für die Christenheit.60 Sie fanden auch Parallelen zwischen Abraham und Gott-Vater. Deswegen trägt vermutlich Abraham in der Opferszene in San Vitale in Ravenna eine Tunika mit Clavi, genauso wie die drei Männer in der Szene seiner Gastfreundschaft. Sie wurden als ein Bild der Trinität angesehen.61 Tunika und Pallium galten als Kleidung von heiligen Gestalten und wurden im Zusammenhang mit der frontalen Körperhaltung Abrahams gesehen.62 Abraham könnte auch in Tunika und Pallium erscheinen, um seine Rolle als christlicher Priester, der das eucharistische Opfer durchführt, zum Ausdruck zu bringen63. Johannes Chrysostomos hatte Abraham in einer exegetischen Rede als Priester in Bezug auf seine Rolle in der Opferung bezeich-

58 Gerhard (Anm. 9), S. 141. 59 Vgl. Paneli (Anm. 3), S. 127; Wessel (Anm. 5), Sp. 116; vgl. Schellewald (Anm. 30), S. 172–175. 60 Gerhard (Anm. 9), S. 141. 61 Die völlige Übereinstimmung der drei Männer in Größe, Kleidung und Gestik lässt sich nicht übersehen, vgl. Sörries (Anm. 16), S. 162: „Keine der drei Personen ragt an Würde oder Ansehen über die andere hinaus.“ Kyrill von Alexandreia, Ὑπέρ τῆς τῶν χριστιανῶν εὐαγοῦς θρησκείας, Πρός τὰ τοῦ ἐν ἀθέοις Ἱουλιανοῦ, Λόγος Πρῶτος, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Graeca, Bd. 76, Sp. 509–556, hier Sp. 533, war der Auffassung, dass Abraham die drei Hypostasen der Trinität erschienen seien, und deutete die Philoxenia als Typos der Trinität; vgl. Deichmann (Anm. 1), S. 152; ders. (Anm. 16), S. 238, 244; Maria-Barbara von Stritzky, Die Darstellung der Philoxenie an der südlichen Lang­hauswand von Santa Maria Maggiore in Rom, in: Römische Quartalschrift 93 (1998), S. 200–214, hier S. 204. 62 Hans-Jürgen Geischer, Heidnische Parallelen zum frühchristlichen Bild des Isaak-Opfers, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 10 (1967), S. 127–144, hier S. 130f. Wessel (Anm. 5), Sp. 12, 15, bezeichnet Abraham in den Darstellungen als Patriarchen, in denen er mit Tunika und Pallium erscheint; vgl. Paneli (Anm. 3), S. 15–17. 63 Paneli (Anm. 3), S. 19.





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net.64 Die kniekurze Tunika Abrahams in der Szene der Gastfreundschaft wurde dagegen als die Kleidung eines Dieners angesehen; dadurch wurde die Begegnung zwischen dem Menschen Abraham und den drei Hypostasen der Trinität, wie diese in Gn 18,3 geschildert wird, deutlich illustriert.65 In der Darlegung der Unterschiede in der Gestalt Abrahams zwischen den italie­ nischen und byzantinischen Monumenten ist auch die räumliche Einordnung der Szene im Bildprogramm zu berücksichtigen. Die Anbringung im Sanktuarium – in Byzanz wie in Italien – steht mit dem Opfercharakter der Szene im Einklang. Sie verweist auf das wichtigste kirchliche Mysterium, die Eucharistie, die in diesem Raum vollzogen wird.66 Die Wiedergabe Isaaks auf dem Altar in den italienischen Darstellungen steht also mit dem liturgischen Geschehen im Altarraum in Zusammenhang, denn der Priester vollzieht das eucharistische Opfer ebenfalls auf dem Altar.67 Deswegen trägt Isaak in der Darstellung des Opfergangs in der Jakobskirche in Grissian ein Schwert und ein weißes Tuch über der Armbeuge, ein Attribut des Priesters. Er wird dadurch als Priester gekennzeichnet; Origenes hatte allerdings bereits auf eine Gleichstellung von Isaak und Abraham während des Opfergangs hingewiesen.68 Der Vergleich der Opferung Isaaks mit dem Kreuzestod Christi floss sehr früh in die Liturgie ein. Das entsprechende Genesiszitat wurde ab dem vierten Jahrhundert in die Jerusalemer Osterliturgie übernommen.69 Auch die Anaphora der Basileios-Liturgie erwähnt die Opferung Isaaks.70 In italienischen Kirchen wurde diese Szene wie in den Basiliken San Giovanni a Porta Latina in Rom und San Francesco in Assisi vorwiegend im Kirchenschiff darge-

64 Johannes Chrysostomos, Eἰς τὸ ῥητὸν τοῦ Ἀποστόλου, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Graeca, Bd. 48, Sp. 1017–1028, hier Sp. 1025; Paneli (Anm. 3), S. 36f. 65 Sara erscheint dagegen in der Szene der Gastfreundschaft in der Kleidung einer Hofdame; sie lauscht am Eingang des Hauses dem Gespräch zwischen Abraham und den drei Männern, bei dem die Geburt Isaaks angekündigt wird. Diese Hinweise legen die Vermutung nahe, dass in dieser Komposition der Akzent auf der Verkündigung der Geburt Isaaks liegt, die als Typos der Verkündigung der Geburt Christi angesehen wurde; Sara wurde typologisch auf die Gottesmutter bezogen. Johannes Chrysostomos, Εἰς τὸν μακάριον Ἀβραάμ, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Graeca, Bd. 50, Sp. 737– 746, hier Sp. 741f. Vgl. Deichmann (Anm. 1), S. 155; ders. (Anm. 16), S. 238; von Stritzky (Anm. 61), S. 204f.; Warland (Anm. 5), S. 25. 66 Aufgrund der Gleichsetzung von Christus und Isaak gab die Opferung in der frühchristlichen Kunst die biblische und theologische Exegese der Kreuzigung wieder. Dieses Bild hat folglich das Wesen der Messe zum Thema, d. h. das Opfer Christi. Deswegen wurde der Szene ein starker eucharistischer Charakter beigemessen und diese im Bema angebracht, s. Stommel (Anm. 2), S. 69, 71–76; Deichmann (Anm. 16), S. 238f.; Hamann-MacLean (Anm. 30), S. 183; Vojvodić (Anm. 34), S. 106. 67 Paneli (Anm. 3), S. 34, 36 mit weiterführender Literatur. Die Wiedergabe Isaaks auf dem Boden kann dagegen in Zusammenhang mit heidnischen Opferritualen stehen. 68 Siehe Anm. 42; vgl. Warland (Anm. 5), S. 28. 69 Speyart Van Woerden (Anm. 14), S. 219f.; vgl. Nikolasch (Anm. 45), S. 55. 70 Frank E. Brightman, Liturgies Eastern and Western, Bd. 1: Eastern, Oxford 1896, S. 320; Speyart Van Woerden (Anm. 14), S. 220; vgl. Schellewald (Anm. 30), S. 177.



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stellt und oft mit dem Sündenfall in Verbindung gebracht, einem Paradebeispiel für Ungehorsam (Abb. 6). Durch ihren Ungehorsam stürzten Adam und Eva die Menschheit ins Verderben.71 Im Gegensatz dazu steht das vorbildliche Verhalten Abrahams, der sich Gott gegenüber als gehorsam erwies und bereit war, seinen eigenen Sohn zu opfern.72 Dadurch erscheint Abraham als Vorbild für die Menschen, die sich zum wahren Glauben bekennen und Gehorsamkeit üben sollen.73 Gegenüber der Opferung wurde in der Basilika von San Francesco in Assisi zudem der Verrat des Judas dargestellt, der sich Jesus untreu erwies.74 Der um die Mitte des 12. Jahrhunderts angefertigte Abraham-Engel-Teppich aus dem Domschatz in Halberstadt mit seinem ausführlichen Abrahamszyklus weicht vom Konzept der italienischen Darstellungen der Opferung ab. Die Begrüßung, die Bewirtung, der Opfergang und die Opferung Isaaks gehören zur Bildfolge.75 In der Szene des Opfergangs ist Isaak nur etwas kleiner als sein Vater wiedergegeben, genauso wie in der Jakobskirche in Grissian. Der Holz tragende Isaak in der Mitte wird durch eine Beischrift besonders gekennzeichnet, ein Hinweis auf eine Aufwertung seiner Rolle in Opferungsdarstellungen der abendländischen Bildkunst.76 In der Szene der eigentlichen Opferung steht Abraham axialsymmetrisch in der Mitte der Komposition dem Betrachter zugewandt. Er erhebt mit der Rechten das Schwert, um seinen Sohn zu opfern, der vor dem Feueraltar kniet. Gleichzeitig blickt er nach rechts oben in die Richtung des Engels, der die Opferung verhindert. Dieser weist auf den Widder hin, der unter ihm vor einem Gebüsch zu sehen ist.77 Isaak kniet nicht auf, sondern vor dem Altar, genauso wie in den byzantinischen Darstellungen der Opferung. Folglich ist es möglich, dass Bildelemente aus dem byzantinischen Raum das Konzept der Gestaltung der Szene beeinflusst haben. Ähnliche Beobachtungen lassen sich an einer der ältesten erhaltenen mittel­ alterlichen Darstellungen der Opferung machen; es handelt sich um diejenige im Tympanon des Seiteneingangs von San Isidoro in León, Spanien (um 1100). Die Komposition zeigt mehrere Episoden, die von rechts nach links geschildert werden: 1. Vor einer Haustür steht Sara, die sich von ihrem Sohn verabschiedet. 2. Der reitende Isaak macht sich auf den Weg zur Opferung. 3. Die Vorbereitung der Opferung: Isaak hat seinen Mantel bereits abgelegt und zieht die Schuhe aus. Hinter ihm befindet sich

71 Gerhard (Anm. 9), S. 183f., 195, 201f., 228. 72 Ebd., S. 184. 73 Ebd., S. 177. 74 Ebd., S. 195; Ruf (Anm. 20), S. 132, 178. 75 Anja Preiss, Der Abraham-Engel-Teppich im Domschatz zu Halberstadt. Bildprogramm und Aufhängungsort, in: Michael Altripp u. Claudia Nauerth (Hgg.), Architektur und Liturgie. Akten des Kolloquiums vom 25. bis 27. Juli in Greifswald (Spätantike – Frühes Christentum – Byzanz. Reihe B: Studien und Perspektiven 21), Wiesbaden 2006, S. 251–264, hier S. 252, 254. 76 Ebd., S. 257; Warland (Anm. 5), S. 29. 77 Preiss (Anm. 75), S. 257.





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der Altar. 4. Im Zentrum steht die übergroße Gestalt Abrahams, der seinen Sohn am Schopf gepackt hat und nach unten zieht, um ihm den tödlichen Stoß beizufügen. Links erscheint die große Hand Gottes und verbietet die Opferung, zugleich macht sie auf den Widder unterhalb aufmerksam, den ein Engel zu Abraham schiebt. 5. Neben dem Engel steht die Sklavin Hagar und ganz links der reitende Ismael, der seinen Bogen ins Zentrum des Tympanons zum Agnus Dei spannt.78 Der Widder, der vom Engel Gottes zu Abraham gebracht wird, kann mit einer jüdischen außerbiblischen Tradition in Verbindung stehen: Dieser Widder wartet im Paradies seit der Erschaffung der Welt, um als Ersatz bei der Opferung dargebracht zu werden.79 Die ungewöhnliche Leserichtung der Komposition, von rechts nach links, kann ebenfalls mit der jüdischen Tradition in Zusammenhang stehen, denn die jüdische Schrift verläuft ebenfalls von rechts nach links.80 Die Einbeziehung Ismaels dürfte mit dieser Tradition in Zusammenhang stehen, nach der die Opferung durch die ­Konkurrenz zwischen Isaak und Ismael herbeigeführt wurde.81 Bezüglich der Darstellung Saras, die sich am Eingang ihres Hauses von Isaak verabschiedet, führt Romanos der Melode aus, dass Sara am Ende die Entscheidung Gottes akzeptiert habe; deswegen habe sie ihrem Sohn gesagt, er solle mit seinem Vater gehen.82 Es bestehen jedoch weitere Interpretationsmöglichkeiten, denn laut Gal 4,21–27 ist Sara Typos des Neuen Testaments, des Himmlischen Jerusalems und im Gegensatz zu Hagar Mutter aller Gläubigen.83 Ismael ist zudem nach dem Fleisch gezeugt, hingegen Isaak nach dem Geist (Gal 4,29).84 Im Brief an die Galater (Gal 4,24) werden die Sklavin Hagar und ihre Kinder, die ebenfalls Sklaven sind, als Vorbild des Sinaibundes, des Gesetzes angesehen. Alle, die unter dem Gesetz stehen, sind also Sklaven.85 Da die Christen durch Gottes Verheißung von Isaak, dem Kind der freien Frau Abrahams, abstammen, sind sie prädestinierte Erben des Himmelreichs.86 Diese Komposition hätte folglich

78 Siehe die Abbildung samt Erläuterungen auf ‚Die Opferung Isaaks‘, URL http://www.sanisidoro. de/deutsch/cordero/popup/tympanon_unten.html (einges. 10.6.2014). 79 Rainer Stichel, Zur Ikonographie der Opferung Isaaks in der romanischen Kunst Spaniens und in der byzantinischen Welt, in: Actas del XXIII Congreso Internacional de Historia del Arte. España entre el Mediterraneo y el Atlantico, Granada 1973, Bd. 1, Granada 1977, S. 527–536, hier S. 527–533. 80 Élisabeth Revel, Contribution des textes rabbiniques à l’étude de la Genèse de Vienne, in: Byzantion. Revue internationale des études byzantines 42 (1972), S. 115–130, hier S. 119f. 81 Kessler (Anm. 14), S. 42f. 82 Ebd., S. 78. 83 Eine ähnliche Auffassung vertritt Origenes (Anm.  41), S.  197, 199, 201, 203; vgl. von Stritzky (Anm. 61), S. 209f. Siehe auch James Swetnam, Jesus and Isaac. A study of the Epistle to the Hebrews in the Light of the Aqedah (Analecta Biblica 94), Rom 1981, S. 112. 84 Swetnam (Anm. 83), S. 112. 85 Leonhard Goppelt, Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen, 3.  Aufl. Darmstadt 1981, S. 167. 86 Ebd., S.  166–168; Swetnam (Anm.  83), S.  111f., 124, 156, 165. Gleichzeitig wird im Brief an die Galater (3,16; 3,29) Christus als der ultimative Nachkomme Abrahams anerkannt. Die Geburt Christi



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die Erfüllung des Neuen Testaments in der Opferung präfiguriert, und die Christen nehmen als geistige Kinder Abrahams an dieser Erfüllung teil. Beim Betreten des Kirchenraums wurde dem Gläubigen die Erfüllung des Neuen Testaments sichtbar vor Augen geführt, und die Opferung schmückt in dieser Kirche das Kirchenportal aus. Gleichzeitig lässt sich der Einfluss der jüdischen und der byzantinischen Tradition und Bildsprache in Darstellungen der Opferung im Westen beobachten. Im byzantinischen Raum tritt die Opferung Isaaks wie in der Omorphe Ekklesia in Athen87 und der Achilleioskirche in Arilje (Abb.  6)88 außerdem in der Vorhalle auf, und zwar gegenüber der Szene der Begegnung des Propheten Balaam mit dem Engel (Num 22,22–35). Diese Gegenüberstellung bedarf einer Erklärung: Balaam, ein Prophet der Moabiter, sollte auf Bitten des moabitischen Königs die Israeliten verfluchen und reiste zu diesem Zweck auf einer Eselin an, um sich mit dem König zu treffen. Im Laufe der Reise erschien ihm der Engel Gottes und untersagte die Verfluchung der Israeliten. Diese Intervention führte zur Segnung der Israeliten durch Balaam. Dadurch wurde ihre Niederlassung in Palästina möglich und das Versprechen Gottes erfüllt. Diese Szene steht folglich inhaltlich mit der Opferung im Einklang, die ebenfalls auf das Einhalten des Versprechens Gottes hinweist und auf die Geburt Christi anspielt. Der Abschnitt aus dem Pentateuch (Num 24,2–3; 24,5–9; 24,17–18), in dem der Prophet Balaam die herankommenden Israeliten segnet, anstatt sie zu verfluchen, wurde nämlich während der großen Vesper zur Geburt Christi am 25.  Dezember verlesen;89 deswegen wird die Geburt Christi mit Balaam in Verbindung gebracht.90 Entsprechend kann die Gegenüberstellung der Opferung und der Begegnung Balaams mit dem Engel als eine Anspielung auf die Ankunft des Erlösers angesehen werden.91

war das Ergebnis eines Versprechens genauso wie jene Isaaks. Christus ist also ein geistiges Kind Abrahams (Gal 3,29) und der Geist ist die Quelle des an Abraham versprochenen Segens. Die Christen sind ebenfalls Gotteskinder, da sie von Isaak abstammen (Gal 4,28), das heißt, sie sind durch die Verheißung Gottes geboren. Deswegen sind sie auch Erben der Verheißung (Hebr 6,17). 87 Basilaki-Karakatsani (Anm. 33), S. 18–20. 88 Vojvodić (Anm. 34), S. 106. 89 Feuillien Mercenier, La prière des églises de rite byzantin, Bd. 2, 1: Grandes Fêtes Fixes, 2. Aufl. Chevetogne 1953, S.  202; Theodoros  A. Archontopoulos, Ὁ Βαλαάμ καὶ ὁ ἄγγελος – Προσπάθεια ἑρμηνευτικῆς προσέγγισης τοῦ θέματος, in: Βυζαντινός Δόμος 5/6 (1991/92), S. 177–182, hier S. 180. 90 Vgl. Dimitrios Triantaphylopoulos, Ζητήματα ἑρμηνείας τῆς ζωγραφικῆς στὴ Μεταμόρφωση στὸ Πυργί Αὐλωναρίου, in: Δελτίoν Xριστιανικής Aρχαιολογικής Eταιρείας 33 (2012), S. 141–154, hier S. 152, Anm. 63. Archontopoulos (Anm. 89), S. 179f., ist jedoch der Meinung, dass Balaam in Verbindung mit der Prophetie Jakobs über dem Stern steht (Num 24,17), der einen Bezug zum Stern Bethlehems aufweist. Siehe ebenfalls Gordana Babić, Ikonografski Program zivopica y pripratama krkva Kralja Milutina, in: L’art byzantin au début du XIVe siècle (Symposium de Gračanića 1973), Belgrad 1978, S. 105–126, hier S. 119. 91 Vgl. André Grabar, La peinture religieuse en Bulgarie (Orient et Byzance 1), Paris 1928, S. 258; Smilka Gabelić, Manastir Lesnovo. Istorija i slikarstvo, Belgrad 1998, S. 179.





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Die Opferung gilt nämlich als Schlüsselereignis der Inkarnation Christi und der Heilsgeschichte, die die Erlösung des Menschengeschlechtes ermöglichte. Da sie nicht ausgeführt wurde, ist das Versprechen Gottes an Abraham eingehalten worden, ihn zum Stammvater einer großen Nachkommenschaft zu machen, zu der ebenfalls Christus zählt.92 Die Wurzel Jesse, der Opferung gegenüber dargestellt, zeugt vom Bund zwischen Gott und Abraham, eine große Nachkommenschaft für den Patriarchen zu gewährleisten. Dadurch ergänzte die Opferung die Darstellung der Wurzel ideologisch, indem sie die Festigung des Bundes zeigt.93 Die Opferung Isaaks in den Vorhallen der Kirchen in Omorphe Ekklesia und Arilje wirkt also wie eine Verheißung der Ankunft Christi und eine Präfiguration seines Opfers.94 Der Narthex der Kirche in Arilje diente zudem für Bestattungen, und das Bild der Opferung mit seinem Erlösungscharakter95 sowie seiner Auferstehungs- und Errettungssymbolik96 brachte die Hoffnung der Verstorbenen auf Teilhabe am Heilsgeschehen zum Ausdruck. Auch die Reumütigen, die sich hier aufhielten,97 schöpften aus diesem Bild eine entsprechende Hoffnung.98 Die Opferung Isaaks im Narthex von Arilje (Abb. 6) steht zudem mit den ökumenischen Konzilien in Verbindung.99 In den Briefen des Paulus an die Römer (Röm 4,11–25; 9,6–9) und an die Galater (Gal 3,6–29) wird Abraham als heilsgeschicht­liches Vorbild für die Gläubigen angesehen, die ihr Gottesverhältnis auf einer höheren Ebene durch Christus vollenden wollen. Abraham wird dadurch zum Typos der Christenheit erhoben; zudem zählen alle Völker, die dem rechten Glauben angehören, zur Nachkommenschaft Abrahams.100 Laut Kyrill von Alexandreia gehörten die Christen durch ihren Glauben zu den wahren Nachkommen Abrahams, obwohl sie nicht von ihm abstammen, und die Darstellungen der ökumenischen Synoden im Narthex von Arilje zeugen vom Kampf um die Bewahrung des rechten Glaubens.101 Die Opferung

92 Vgl. Gerhard (Anm. 9), S. 47; Finney (Anm. 3), S. 158. 93 Vojvodić (Anm. 34), S. 107f. 94 Babić (Anm. 89), S. 121. 95 Vgl. Stommel (Anm. 2), S. 77. 96 Warland (Anm. 5), S. 20; vgl. Paneli (Anm. 3), S. 142, 149–151. 97 Im 12.  Jh. bezeichnete Theodoros Balsamon den Narthex als Ort der zweiten Buße; hier hielten sich die Reumütigen auf, vgl. Theodoreos Balsamon, Τοῦ μακαρίου Διονυσίου Ἀρχιεπισκόπου Ἀλεξανδρείας ἐπιστολή πρός Βασιλειάδην ἐπίσκοπον, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Graeca, Bd. 138, Sp. 455–474, hier Sp. 465C; Rossitsa Borissova Roussanova, Painted Messages of Salvation. Monumental programs of the subsidiary spaces of late byzantine monastic churches in Macedonia, Ann Arbor (Diss., Univ. of Maryland) 2005, S. 24f.; Robert E. Taft, Women at Church in Byzantium. Where, When – and Why?, in: Dumbarton Oaks Papers 52 (1998), S. 27–87, hier S. 50f. 98 Vojvodić (Anm. 34), S. 104, 108. 99 Ebd., S. 109f. 100 Ebd., S. 109; Ruf (Anm. 20), S. 130; vgl. Swetnam (Anm. 83), S. 111f., 124, 156. 101 Kyrill von Alexandreia, Ὁμιλίαι ἑορταστικαί, Λόγος Ε’, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Graeca, Bd. 77, Sp. 472–500, hier Sp. 483; Vojvodić (Anm. 34), S. 109.



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und die Konzilien verweisen folglich auf die christliche Glaubensgemeinschaft als Versammlung der Völker, die sich zum rechten Glauben bekennen.102 Zu dieser Glaubensgemeinschaft zählten nicht die reumütigen Glaubensübertreter. Falls sie unter Zwang die orthodoxe Glaubensgemeinschaft verließen, mussten sie nicht lebenslang für den Übertritt büßen, um wieder am Eucharistie-Mysterium teilnehmen zu dürfen. Der Narthex diente ihnen inzwischen als Aufenthaltsraum.103 Als Erinnerung an die Zugehörigkeit zur christlichen Glaubensgemeinschaft könnte auch die Anbringung der Opferung im Kirchenschiff der italienischen Monumente aufgefasst werden. Wie aus der Untersuchung des Materials ersichtlich wurde, sind für die Interpretation der Unterschiede in der Gestaltung der Opferung die Bedeutung der Protagonisten, wie diese in der Patristik dokumentiert wird, und der Kontext der Anbringung der Szene im Kirchenraum relevant. In Italien wird der Schwerpunkt vor allem auf die vorbildliche Rolle Abrahams und auf seine Gehorsamkeit gegenüber Gott gelegt; auch die eucharistische Symbolik der Szene kommt zum Ausdruck. In Byzanz wurde ebenfalls die eucharistische Symbolik der Szene betont; die erlösende Botschaft und die besonders vertrauenserweckende Bedeutung der Darstellung wurden jedoch akzentuiert. Zugleich ist der Einfluss der außerbiblischen jüdischen Tradition zu berücksichtigen. Das Zögern Abrahams, das göttliche Gebot auszuführen, beeinflusste vermutlich die Interpretation der griechischen Kirchenväter. Weitere Elemente dieser Tradition flossen in die Interpretation der Szene ein und bereicherten ihren Bedeutungsgehalt in Ost und West. Die Opferung verweist jedoch vor allem auf die christ­ liche Glaubensgemeinschaft, weil die Christen im Glauben aus Abraham abstammen. Daraus resultiert vermutlich auch ihre Anbringung im Bema, im Kirchenschiff und im Narthex.

102 Vojvodić (Anm. 34), S. 109–111. 103 Périclès-Pierre Joannou, Discipline generale antique, IVe–IXe s., Bd. 2: Les canons des pères grecs (Fonti. Ser. 1 9, 2), Rom 1963, S. 156. Basileios der Große schreibt in seinem 82. Kanon sechs Jahre Bußzeit für diese Gruppe der Reumütigen vor.





Die Gestalt Abrahams in Darstellungen der Opferung Isaaks 

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Abb. 1: Ravenna, San Vitale, Nordwand des Presbyteriums, Lünette, Philoxenia und Opferung. Nach Carola Jäggi, Ravenna, Kunst und Kultur einer spätantiken Residenzstadt. Die Bauten und Mosaiken des 5. und 6. Jahrhunderts, Regensburg 2013, Abb. 171.

Abb. 2: Sinai, Marienkirche, Altarraum, Westseite des nördlichen Pilasters, Opferung. Nach John Galey u. a., Das Katharinenkloster auf dem Sinai, 2. Aufl. Stuttgart, Zürich 1997, Taf. 20a.

Abb. 3: San Pietro in Valle bei Ferentillo, Hauptschiff, Nordwand, Opferung. Nach Gerhard (Anm. 9), Abb. 6.



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Abb. 4: Assisi, Oberkirche von San Francesco, Obergaden des Langhauses, Nordwand, Opferung. Nach Ruf (Anm. 20), S. 131.

Abb. 5: Ohrid, Sophienkirche, Altarraum, Südwand, Erteilung des Befehls, Opfergang und Opferung. Nach Schellewald (Anm. 30), Abb. 34.





Die Gestalt Abrahams in Darstellungen der Opferung Isaaks 

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Abb. 6: Arilje, Achileioskirche, Narthex, Ostwand, Erteilung des Befehls, Opfergang und Opferung. Nach Vojvodić (Anm. 34), Pl. 32.



Wilfried E. Keil (Heidelberg)

Abrahams Schoß in der mittelalterlichen Bauskulptur Abstract: In der mittelalterlichen Bauskulptur finden sich Darstellungen von Abrahams Schoß meist an Kirchenportalen im Zusammenhang mit der Apokalypse. Der Ursprung von Abrahams Schoß liegt in der Lazarusparabel (Lk 16,19–31). Die frühen Werke der Bauskulptur visualisieren das Gleichnis in mehreren Episoden, wobei die letzte Lazarus im Schoße Abrahams zeigt. In den späteren Bildnissen ist meist nur der Stammvater mit anderen Seligen im Schoß zu sehen, wobei mit der Zeit eine mehr oder weniger starke Vereinfachung stattfindet. Diese Abhandlung untersucht besonders die zentralen Stufen der Entwicklung. Zusätzlich stellt sich aber die Frage, ob mit der formalen Entwicklung auch eine inhaltliche einhergeht. Abrahams Schoß wird von den Kirchenvätern unterschiedlich gedeutet, zum einen als Ort des Übergangs bis zum Jüngsten Gericht und zum anderen als der Ort der ewigen Glückseligkeit, als Paradies.

In der mittelalterlichen Bauskulptur finden sich Bildnisse von Abrahams Schoß meist an Kirchenportalen im Zusammenhang mit apokalyptischen Programmen.1 Im Schoße Abrahams ist je nach Objekt eine unterschiedliche Anzahl an Seligen dargestellt. Die Seelen werden, wie im Mittelalter üblich, als verkleinerte Personen, in den hier verwendeten Beispielen fast ausschließlich mit kindlichen Zügen, dargestellt. Im Judentum wird der Schoß als ein Ort der Seligkeit angesehen. Die Gerechten sind nach ihrem Tod wieder mit den Vätern, den Patriarchen, am Aufenthaltsort der Glückseligen vereint.2 Abraham, der erste der drei Erzväter, ist das Urbild der Patriarchen und der Stammvater aller Israeliten. In der frühchristlichen Literatur wurde die Bezeichnung „Abrahams Schoß“ aus der Heiligen Schrift übernommen und zunächst nur für den Ort benutzt, an dem sich Abraham und die anderen Gerechten aufhalten. Nach und nach fand sie immer häufiger Anwendung für den Ort der ewigen Glück­ seligkeit.3 Wirken sich die unterschiedlichen Interpretationen von „Abrahams Schoß“ auf die Darstellungsart in der Bauskulptur aus? Der Ursprung des Darstellungstypus von Abrahams Schoß liegt in der Lazarus­ parabel des Lukasevangeliums (Lk 16,19–31). Der arme Lazarus lag mit Geschwüren

1  Für weitere Beispiele, auch aus der Bauskulptur, siehe Ursula Wolf, Die Parabel vom reichen Prasser und armen Lazarus in der mittelalterlichen Buchmalerei (Beiträge zur Kunstwissenschaft 26), München 1989, S. 253f.; Kai Detlev Sievers, Die Parabel vom reichen Mann und armen Lazarus im Spiegel bildlicher Überlieferung, Kiel 2005, und Jérôme Baschet, Le sein du père. Abraham et la ­paternité dans l’occident médiéval, Paris 2000 (hier v. a. die Auflistungen auf S. 394–405). 2 Gérard-Henry Baudry, Handbuch der frühchristlichen Ikonographie. 1. bis 7. Jahrhundert, Freiburg i. Br., Basel, Wien 2010, S. 218. 3 Willy Staerk, Abrahams Schoß, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 1 (1950), Sp. 27f.



Abrahams Schoß in der mittelalterlichen Bauskulptur 

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bedeckt vor der Tür des Reichen und hoffte auf die vom Tisch fallenden Essensreste. Er bekam aber nichts davon. Am Boden liegend leckten Hunde an seinen Wunden. Der Arme starb und seine Seele wurde von Engeln in den Himmel getragen und in den Schoß Abrahams gesetzt. Als der Reiche starb, kam dieser in die Hölle. Dort sah er, unter Qualen leidend, von weitem Lazarus in Abrahams Schoß. Er bat Abraham sich seiner zu erbarmen und Lazarus zu schicken, der ihm mit einem mit Wasser befeuchteten Finger den Durst lindern möge. Abraham entgegnete, dass der Reiche zu Lebzeiten sein Gutes empfangen habe, wie der arme Lazarus das Schlechte. Zudem sei die Kluft zwischen den beiden Orten zu groß. Der Reiche bat ihn daraufhin, dass er Lazarus zu seinen Brüdern schicken möge, damit diese gewarnt seien und nicht wie er nach dem Tode Höllenqualen erleiden müssten. Abraham schlug die Bitte ab und verwies darauf, dass die Brüder auf Moses und die Propheten hören könnten.4 Das Gleichnis veranschaulicht unter anderem wie wichtig es ist, Almosen zu geben. Es zeigt aber auch auf, dass die Sünder an einen vorläufigen Ort der Bestrafung und die Frommen an einen vorläufigen Ort der Belohnung kommen und dort bis zum Jüngsten Gericht warten müssen. Am Ort der Bestrafung ist keine Linderung zu erwarten, nicht einmal durch einen Tropfen Wasser, wie ihn sich der reiche Prasser erhofft hatte.5 Bildwerke, die die Parabel darstellen, haben eine katechetische Funktion. Die didaktische Rolle von Bildern betonte bereits Papst Gregor der Große (um 540–604). Bilder lehren den Analphabeten das, was den Schriftkundigen die Schrift lehrt und was sie zu befolgen haben.6

4 Der Lazarus dieser Parabel ist nicht mit Lazarus von Bethanien, dem Bruder von Maria Magdalena und Martha, zu verwechseln, dessen Geschichte im Johannesevangelium 11,1–44 erzählt wird. Die bekannteste Szene hieraus ist die Auferweckung des Lazarus. Durch eine fälschliche Identifikation der beiden wurde der Heilige Lazarus zum Patron der Aussätzigen. Infolgedessen wurden die Leprosenheime auch Lazarette genannt. Zu letzterem siehe: Jacob Kremer, Lazarus. II. Wirkungsgeschichte, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl. Bd. 6 (1997), Sp. 697f., hier Sp. 698. Zur Deutung der ­Parabel bei den Kirchenvätern s. Wolf (Anm. 1), S. 13–23; eine literaturwissenschaftliche Unter­suchung der Lazarusgeschichte unter Berücksichtigung des rezeptionsästhetischen Ansatzes bietet Johannes Hintzen, Verkündigung und Wahrnehmung. Über das Verhältnis von Evangelium und Leser am Beispiel Lk 16,19–31 im Rahmen des lukanischen Doppelwerkes (Bonner Biblische Beiträge 81), Frankfurt a. M. 1991. 5 Siehe hierzu auch Wolf (Anm. 1), S. 13. 6 Gregor der Große, Registrum epistularum. Libri 8–14, hrsg. v. Dag Norberg (Corpus Christianorum. Series Latina 140A), Turnhout 1982, S. 873f. (lib. 11, epist. 10). Auf diese Textstelle beziehen sich immer wieder mittelalterliche Autoren, auch zur Entstehungszeit der hier erwähnten Bild­werke. Hierzu sei nur auf Bischof Sicardus von Cremona († 1215) verwiesen, der verdeutlichte, dass den Betrachter die dargestellten Höllenqualen abschrecken und die himmlischen Begehrlichkeiten anlocken sollen, s. Sicard von Cremona, Mitralis de officiis, hrsg. v. Gábor Sarbak u. Lorenz Weinrich (Corpus Christia­ norum. Continuatio Mediaevalis 228), Turnhout 2008, S. 50 (lib. 1, cap. 12). Zu dieser Thematik siehe auch: Bruno Boerner, Bildwirkungen. Die kommunikative Funktion mittelalterlicher Skulpturen, Berlin 2008, hier bes. S. 33–62.



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Die frühen Werke der Bauskulptur zeigen das Gleichnis vom Reichen und Armen in mehreren Episoden. In der letzten sitzt Lazarus im Schoße Abrahams.7 Der Darstellungstypus von Abrahams Schoß lässt sich in zwei Gruppen unterteilen. In eine, bei der nur ein Seliger, nämlich Lazarus, im Schoß sitzt und in eine, bei der sich mehrere Selige im Schoß befinden. Eine bildliche Darstellung des Gleichnisses ist erstmals für das 9. Jahrhundert in Byzanz in einem Homiliar von Gregor von Nazianz aus Konstantinopel überliefert.8 Die Miniatur befindet sich heute in einem schlechten Erhaltungszustand, sodass nicht mehr alle Details erkennbar sind. In der unteren Hälfte der Seite ist die Parabel in zwei Registern dargestellt. Im oberen sieht man in der Mitte den Prasser auf einem Pferd an Lazarus vorbeireiten.9 Neben dem Armen steht ein Hund, der seine Schnauze zu dessen Beinen gerichtet hat, wahrscheinlich um an den Wunden zu lecken. Links daneben ist in einer Architektur der Reiche als Toter aufgebahrt und rechts liegt der tote, in Tücher gewickelte Lazarus in der Mulde eines Hügels. Im unteren Register sieht man links den Reichen in der Hölle, seine Finger als Zeichen seines Durstes zum Mund führend. Rechts daneben sitzt Abraham auf einem Thron, die Seele des armen Lazarus im Schoß haltend. Abraham hat die Hand zum Redegestus erhoben und weist den Prasser, der sich einen Tropfen Wasser erhofft, zurück. Rechts neben Abraham stehen zwei Engel, die ihm wahrscheinlich gerade die Seele des Armen gebracht haben.

7 Der Name Lazarus lautet im hebräischen ‫לעזר‬, eine Abkürzung für ‫אלעזר‬, was „Gott hilft“ bedeutet, s. Jacob Kremer, Lazarus. I. Neues Testament, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl. Bd. 6 (1997), Sp. 697. Der Name ist hier also bewusst gewählt. Die Seele des Lazarus wird nach seinem Tod in den Schoß Abrahams gebracht. Seine Seele ist also durch Gottes Hilfe gerettet worden. 8 Karl Möller, Abraham, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 1 (1937), Sp. 82–102, hier Sp. 96; Beat Brenk, Tradition und Neuerung in der christlichen Kunst des ersten Jahrtausends. Studien zur Geschichte des Weltgerichtsbildes (Wiener Byzantinische Studien 3), Wien 1966, S. 102; Elisabeth Lucchesi Palli, Abraham, in: Lexikon für christliche Ikonographie, Bd. 1 (1968), Sp. 20–35, hier Sp. 31; Wolf (Anm. 1), S. 24. Leslie Brubaker konnte herausfinden, dass die Handschrift (Paris, Bibliothèque Nationale, ms. gr. 510, hier fol. 149r) zwischen 879 und 882 fertiggestellt wurde, s. Leslie Brubaker, Vision and Meaning in Ninth-Century Byzantium. Images and Exegesis in the Homilies of Gregory of Nazianus (Cambridge Studies in Palaeography and Codicology 6), Cambridge 1999, S. 5–7, Abb. 20; abgeb. bei Baschet (Anm. 1), S. 110, Abb. 19; Rainer Kahsnitz, Ungewöhnliche Szenen im Aachener Liuthar-Evangeliar. Ein Beitrag zum Problem des christologischen Zyklus der Reichenauer Buchmalerei, in: Klaus Gereon Beuckers, Christoph Jobst u. Stefanie Westphal (Hgg.), Buchschätze des Mittelalters. Forschungsrückblicke – Forschungsperspektiven, Regensburg 2011, S. 63–91, hier S.  84, Abb. 15; Wolf (Anm. 1), Abb. 1. Ein Relieffragment aus dem 5./6. Jahrhundert aus dem Martyrion von Seleukia-Piera bei Antiochien, das sich heute im Universitätsmuseum in Princeton befindet, zeigt bereits den ersten Teil der Parabel, s. Brenk, S. 101; Wolf (Anm. 1), S. 4; Kahsnitz, S. 85, Anm. 63. 9 Hier weicht die Darstellung vom Text der Heiligen Schrift ab.





Abrahams Schoß in der mittelalterlichen Bauskulptur 

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Die erste bekannte Darstellung von Abrahams Schoß in der römischen Kirche10 findet sich im sogenannten Liuthar-Evangeliar,11 dem Evangeliar des Kaisers Otto III. Die Handschrift entstand um 99012 auf der Insel Reichenau im Bodensee13 und war von Anfang an für den Gebrauch in der Aachener Pfalzkapelle bestimmt. Heute be­findet es sich wieder im Aachener Domschatz.14 Das Gleichnis ist innerhalb einer Rahmenarchitektur, in drei Medaillons gegliedert, dargestellt.15 Im unteren Medaillon sieht man den reichen Prasser mit Gefolge am Tisch. Links außerhalb befindet sich der arme Lazarus, an dessen Geschwüren bereits zwei Hunde lecken. Auf der anderen Seite des Medaillons, eilen drei weitere Hunde herbei. Im mittleren Medaillon ist eine mit einer Beischrift ABYS[SUS] versehene Personifikation des Abgrundes dargestellt, welche die Hölle versinnbildlicht. Zu seiner Linken sammeln sich die Verdammten und zu seiner Rechten zeigt der Prasser mit einem Finger auf seinen Mund, um seinen Durst zu verdeutlichen. Im oberen Medaillon thront, von Paradiesbäumen und zwei Engeln umgeben, Abraham mit Lazarus im Schoß. Eine der frühesten plastischen Darstellungen befindet sich an der vor 102216 entstandenen bronzenen Bernwardsäule im Dom zu Hildesheim, einem aus dem architektonischen Kontext entrücktem Bauelement. Die Lazarusszenen auf der Bernwardsäule werden durch Miniaturarchitekturen gerahmt und gegliedert. Die Anordnung des aufsteigenden neutestamentlichen Bilderzyklus erfolgt in einer Bahn entgegen der Leserichtung, also von rechts nach links. In der ersten Szene sitzt der reiche Prasser am Tisch. Links von ihm bettelt der in ein Gewand gekleidete Lazarus, der durch eine Gehhilfe und punktartige Geschwüre als Krüppel und Kranker zu erkennen ist. Hinter ihm warten bereits zwei Hunde, die ihre Hälse nach ihm ausstrecken. In der zweiten Szene ist der Reiche in einem Flammenmeer der Hölle dargestellt. Seinen rechten Zeigefinger hat er erhoben und bittet mit dieser Geste den Lazarus, der links von ihm in Abrahams Schoß sitzt, um einen Tropfen Wasser. Die älteste überlieferte Darstellung der Parabel in der Bauskulptur befindet sich an einem Kapitell im Kreuzgang der ehemaligen Abtei Saint-Pierre in Moissac. Der

10 Wolf (Anm. 1), S. 37. 11 Benannt nach dem auf dem Widmungsblatt dargestellten und mit dem Namen LIUTHARIO bezeichneten Mönch, der einen Codex zur Übergabe an den Kaiser in den Händen hält. 12 Ernst Günther Grimme, Das Evangeliar Kaiser Ottos III. im Domschatz zu Aachen, Freiburg i. Br., Basel, Wien 1984, S. 14, 90; Kahsnitz (Anm. 8), S. 63. Dort auch Hinweise zu späten Datierungen. Rainer Kahsnitz datiert in das letzte Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts. 13 Grimme (Anm. 12), S. 90, 105f.; Kahsnitz (Anm. 8), S. 63f. 14 Grimme (Anm. 12), S. 8. 15 Inventar Grimme, Nr. 25, pag. 238; abgeb. bei Baschet (Anm. 1), S. 111, Abb. 20; Grimme (Anm. 12), S. 66; Kahsnitz (Anm. 8), S. 80, Abb. 14; Möller (Anm. 8), Sp. 98, Abb. 15; Wolf (Anm. 1), Abb. 13. Zur Meisterfrage bzw. der Scheidung von unterschiedlichen Meistern innerhalb der Miniatur siehe: Grimme (Anm. 12), S. 65, 107f. Kritisch hierzu Kahsnitz (Anm. 8), S. 84f. 16 Michael Brandt, Bernwards Säule (Schätze aus dem Dom zu Hildesheim 1), Regensburg 2009, S. 10. Vgl. die Abbildungen ebd., S. 55, Abb. 50, und S. 57, Abb. 52; s. a. Wolf (Anm. 1), Abb. 105, 106.



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Kreuzgang wurde laut einer Inschrift am Mittelpfeiler des Westflügels im Jahre 1100 fertiggestellt.17 Das an allen Seiten beschädigte Kapitell ist im Ostflügel verbaut. Die Geschichte beginnt auf der Nordseite mit dem Mahl des Reichen und Lazarus vor dessen Haus. Der Körper des Lazarus leitet zur Schmalseite des Kapitells über, wo die Seele von einem Engel empfangen wird. Zur Südseite zeigt ein Engel auf den Tod des Lazarus. In der Mitte sitzt Lazarus im Schoße Abrahams. Von rechts kommt ein Engel herbei, der die Seele des Armen zu Abraham bringt. Auf der daran anschließenden Schmalseite wird der tote Reiche, in den Armen seiner Frau liegend, von einem geflügelten Dämon empfangen. Lazarus, Abraham, der Reiche und die entsprechenden Seelen werden durch tituli bezeichnet. Auf der Kämpferplatte ist umlaufend eine Inschrift mit Psalm 54 (53),3–4 eingehauen.18 An der linken Wand der zwischen 1120 und 113519 entstandenen Vorhalle des Portals in Moissac ist die Lazarusparabel ebenfalls wiedergegeben. Im oberen Fries sitzt rechts der Prasser mit seiner Frau am Tisch und wird von einem Diener bewirtet (Abb. 1).20 Unter dem Tisch kommen die Hunde des Reichen hervor und lecken an den Geschwüren des Lazarus, der vergeblich eine Mahlzeit erhofft hatte. Lazarus wird hier durch die Glocke neben ihm als Leprakranker ausgewiesen. Er ist soeben gestorben und ein Engel leitet, ursprünglich die Seele des Lazarus in der Hand haltend,21 zu dem links von ihm auf einem Thron sitzenden Abraham über. Abraham hält in seinem Schoß in sein Gewand gehüllt, liebevoll die Seele des armen Lazarus, indem er seine rechte Hand schützend auf die Brust des Armen legt. Links davon zeigt eine sitzende Gestalt auf eine Schriftrolle. Es könnte sich hiermit um einen alttestamentarischen Propheten oder um einen Apostel oder auch um den Evangelisten Lukas handeln.22

17 ANNO : ABINCARNA / TIONE · AETERNI / PRINCIPIS · MILESIMO / CENTESIMO · FACTUM / EST · CLAUSTRUM · ISTUD · / · TEMPORE · / DOMINI · / ANSQUITILII · / ABBATIS : / AMEN · / · V · V · V · / · M · D · M / · R · R · R · / · F · F · F ·. Zur Inschrift s. Robert Favreau, Corpus des inscriptions de la France médiévale, Bd. 8: Ariège, Haute-Garonne, Hautes-Pyrénées, Tarn-et-Garonne, Paris 1982, S. 176–178, Nr. 48. Die Transkription ist hier durch den Verfasser auf der Basis des Originals und daher von Robert Favreau leicht abweichend wiedergegeben. 18 Zum Kapitell s. Thorsten Droste, Die Skulpturen von Moissac. Gestalt und Funktion romanischer Bauplastik, München 1996, S. 89, 97 (Abb. aller Seiten); Pierre Sirgant, Moissac. Bible ouverte, 2. Aufl. Montauban 1997, S. 223–227; Quitterie Cazes u. Maurice Scellès, Le cloître de Moissac, Bordeaux 2001, S. 160f. (mit Abb. aller Seiten). 19 Bernhard Rupprecht, Romanische Skulptur in Frankreich, 2., überarb. Aufl. München 1985, S. 82. Droste (Anm. 18), S. 221, datiert die Portalwangen genauer auf einen Zeitraum zwischen 1130 und 1135. 20 Der Evangelist Lukas berichtet nicht von der Frau des Prassers. Sie ist eine Zutat, vielleicht um durch die Parabel beiderlei Geschlecht zu belehren. 21 Von der Figur der Seele sind nur noch die kleinen Füße erhalten. 22 Die Deutung ist in der Forschung umstritten: Richard Hamann, Kunst und Askese. Bild und Bedeutung in der romanischen Plastik in Frankreich, Worms 1987, S. 13, hält sowohl einen Propheten als auch einen Apostel für möglich. Marguerite Vidal deutet die Gestalt im Zusammenhang mit der Tympanondarstellung als Apostel Johannes, s. Marguerite Vidal u. a. (Hgg.), Quercy roman (La nuit des





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Unter der rechten Blendarkade unter dem Fries ist die Todesszene des Prassers dargestellt, der in seinem Bett liegend von seiner Frau beweint wird. Ein Engel lehnt die Aufnahme ins Himmelsreich ab und die Seele wird von einem Dämon in Empfang genommen. Ein anderer Dämon hält einen Geldsack, ein Sinnbild der Habgier, in der Hand. Unter der linken Arkade erleiden der Prasser und seine Frau Höllenqualen. Der Zyklus ist in ein komplexes Gesamtprogramm des Portals eingebunden, in dessen Zentrum auf dem Tympanon die zweite Parusie Christi, vor dem Jüngsten Gericht, dargestellt ist. Nach dem Zyklus in Moissac wurde die Lazarusparabel in der Bauskulptur nicht mehr so ausführlich dargestellt. Sie wurde meistens nur noch auf Kapitellen in wenigen Episoden verkürzt wiedergegeben und ab dem 13. Jahrhundert nahezu überhaupt nicht mehr abgebildet.23 An Kirchenportalen entwickelte sich eine andere Art der Darstellung. Es wurde nur noch das Bildnis von Abrahams Schoß, ohne einen direkten Bezug zur Lazarusgeschichte, wiedergegeben. Meistens werden mehrere Selige im Schoße Abrahams dargestellt, was die Frage nach der Anzahl der Seelen aufwirft. Mehrere Selige im Schoße Abrahams sind erstmals auf einem Wandgemälde der Tschanawarkirche in Kappadokien aus dem 10. oder frühen 11. Jahrhundert überliefert.24 Die Darstellung von Abrahams Schoß bei byzantinischen Weltgerichtsbildern dürfte wohl auf Gerichtsvisionen aus dem 4. Jahrhundert zurückgehen, die Ephraem Syrus (um 306–373) zugeschrieben werden.25 Im römischen Kirchengebiet findet sich die erste überlieferte Abbildung von Abraham mit mehreren Seligen in einem um 1040 entstandenen englischen Psalter aus Bury Saint Edmunds.26 Abraham ist hier in einem Vierpass sitzend dargestellt. Mit der linken Hand hält er vier Seelen, die unter seinem Mantel hervorschauen. Mit dem ausgestreckten rechten Arm empfängt er von einem herbeifliegenden Engel eine weitere Seele. Danach trat dieser Typus in der französischen Bauskulptur des 12. Jahrhunderts auf.27 Hier sind die Seligen meist nicht mehr auf dem Schoß sitzend oder stehend

temps 10), 3. Aufl. Saint-Léger-Vauban 1979, S. 102. Mehrfach wird sie als Moses gedeutet, da am Ende der Parabel auf diesen verwiesen wird, so z. B. Rupprecht (Anm. 19), S. 84; Jochen Zink, Moissac, Beaulieu, Charlieu. Zur ikonologischen Kohärenz romanischer Skulpturenprogramme im Südwesten Frankreichs und in Burgund, in: Aachener Kunstblätter 56/57 (1988/1989), S. 73–182, hier S. 106, 119, 124; Droste (Anm. 18), S. 195. Als Evangelist Lukas deuten die Figur z. B. Werner Weisbach, Religiöse Reform und mittelalterliche Kunst, Einsiedeln, Zürich 1945, S. 80; Marcel Durliat, L’abbaye de Mois­ sac, Rennes 1985, S. 30; Maurice Scellès, Bekanntschaft mit der Abtei Moissac, Bordeaux 2005, S. 21. 23 Siehe hierzu die Übersicht der Parabeldarstellungen bei Baschet (Anm. 1), S. 394–396. 24 Möller (Anm. 8), Sp. 96. 25 Beat Brenk, Die Anfänge der byzantinischen Weltgerichtsdarstellung, in: Byzantinische Zeitschrift 57 (1964), S. 106–126, hier S. 109, und Brenk (Anm. 8), S. 90f. 26 Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, cod. Reg. lat. 12, fol. 72r; s. Baschet (Anm. 1), S. 122, 123 mit Abb. 28. 27 Möller (Anm. 8), Sp. 96, hingegen nimmt an, dass dieser Typus im römischen Kirchengebiet erstmals in der französischen Bauskulptur des 12. Jahrhunderts vorkommt.



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 Wilfried E. Keil

abgebildet, sondern sie werden von Abraham in einem Tuch gehalten, wodurch er die Seelen nicht direkt berührt. Die verhüllten Hände drücken hierbei die Ehrfurcht vor den gehaltenen Personen aus.28 Bevor hier näher auf diese Darstellungen eingegangen wird, werden noch zwei weitere Darstellungstypen, wahrscheinlich Zwischenstufen, vorgestellt. Der erste Fall, bei dem Abraham in der Bauskulptur nicht Lazarus im Schoß, sondern Selige um sich stehen hat, ist auf dem zu Beginn des 12. Jahrhunderts29 entstandenen Weltgerichtstympanon der Abteikirche in Conques zu finden. Über dem linken Türsturz werden die Seligen im Himmlischen Jerusalem, paarweise unter Bögen einer Arkade stehend, dargestellt (Abb. 2). Am rechten Ende der Arkade befindet sich die Himmelspforte. Im mittleren Bogen umarmt ein sitzender bärtiger Mann zwei neben ihm stehende kleine Personen. Die beiden haben jeweils eine Hand auf ein Knie des Mannes gelegt und halten in der anderen Hand Szepter. Bei dem Mann wird es sich auf Grund der Position und der Darstellungsart wahrscheinlich um Abraham handeln. Ob es sich bei den verkleinert dargestellten Personen um Kinder, vielleicht sogar die Kinder Abrahams, Isaak und Ismael oder um wie üblich verkleinert dargestellte Seelen handelt, kann nicht sicher entschieden werden. Da es sich bei den daneben befindlichen Seligen sowohl um Männer als auch um Frauen handelt, liegt eine Deutung als Kinder nahe. Die beiden Personen neben Abraham könnten aber auch als Isaak und Jakob interpretiert werden. Bruno Boerner deutet dementsprechend die Darstellung als „Himmlisches Gastmahl“ bei Abraham, Isaak und Jakob.30 Eine solche Deutung geht allerdings nicht aus den abgebildeten Personen hervor. Jérôme Baschet bezeichnet die mittlere Person ebenfalls als Abraham und sieht in den anderen, die unter der Arkade stehen, eine hierarchische Abstufung der Auserwählten: Propheten, Apostel, Märtyrer und Jungfrauen. Für ihn ist das Dargestellte nicht ausreichend, um es als Paradies zu deuten.31 Über den Stegen der Seligen steht eine Inschrift, die sie als solche auszeichnet: [C]ASTI PACIFICI MITES : PIETATIS AMICI : SIC STANT ‧ GAVDENTES ‧ SECVRI NIL METVENTES +.32 Die belehrende Funktion des gesamten Portalprogrammes geht auch aus der auf dem Türsturz

28 Wolf (Anm. 1), S. 162. 29 Bruno Boerner, Eschatologische Perspektiven in mittelalterlichen Portalprogrammen, in: Jan A. Aertsen u. Martin Pickavé (Hgg.), Ende und Vollendung. Eschatologische Perspektiven im Mittelalter, Berlin, New York 2002, S. 301–320, hier S. 302. 30 Boerner (Anm. 29), S. 302. 31 Baschet (Anm. 1), S. 126. 32 „Hier stehen die Keuschen, Friedfertigen, Sanftmütigen und Freunde der Frömmigkeit, sie er­ freuen sich der Sicherheit und haben nichts zu befürchten.“ (Übersetzung des Verfassers.) Zur Inschrift s. Robert Favreau, Corpus des inscriptions de la France médiévale, Bd. 9: Aveyron, Lot, Tarn. Paris 1984, S. 17–25, Nr. 10, hier S. 22.





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stehenden Inschrift hervor: O PECCATORES TRANSMVTETIS NISI MORES : IVDICIVM DVRVM VOBIS SCITOTE FVTVRVM:.33 Ein weiterer Darstellungstypus findet sich an einem in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts34 entstandenen Portalfries an Saint-Trophime in Arles. Abraham wird zusammen mit seinen Nachkommen Isaak und Jakob in der gleichen Funktion wiedergegeben (Abb. 3). Die drei Patriarchen thronen zwischen Paradiesbäumen und haben jeweils zwei Selige im Schoß. Die sie umgebenden Engel bringen weitere Seelen herbei. Zu den Füßen der Patriarchen steigen die Auferstandenen aus ihren Gräbern. Die Darstellung geht wahrscheinlich auf die himmlische Tischgemeinschaft aus Matthäus 8,11 zurück, bei der viele von Osten und Westen her kommend, gemeinsam mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich am Tisch sitzen. Dieser in der byzantinischen Kunst weitverbreitete Typus kommt im Bereich der römischen Kirche recht selten vor.35 Das erste isoliert auftretende Beispiel von Abrahams Schoß mit mehreren Seligen ist in den nördlichen Archivolten des Gerichtsportals an der Westfassade in Saint-Denis zu finden. Das teilweise stark erneuerte Portal ist vor 1140 entstanden.36 Die Seligen werden hier nicht direkt im Schoß dargestellt, sondern befinden sich in einem Tuch, das Abraham über seinem Schoß hält (Abb. 4). Dieser Darstellungstypus versinnbildlicht allgemein das Paradies an sich.37 Dies wird gerade in dieser Szenerie deutlich, denn die eigentliche Gerichtsszene befindet sich hier über die Register verteilt in der innersten Archivolte. In der Mitte richtet Christus, in Halbfigur über die durch Engel an ihn herangetragenen Auferstandenen. Ganz unten zu seiner Rechten ist die Himmelspforte und zu seiner Linken die Hölle zu sehen.38 Von der Himmelspforte werden die Auferstandenen durch Engel emporgetragen. Zwischen zwei dieser Engel befindet sich Abraham mit den Seligen im Schoß. Die anderen dargestellten Seligen, die Christus mit seiner Rechten segnet, sind auf dem Weg in Abrahams Schoß, also in

33 „O Sünder, wenn ihr eure Angewohnheiten nicht ändert, wisst, dass euch ein hartes Gericht bereitet wird.“ (Übersetzung des Verfassers.) Zur Inschrift s. Favreau (Anm. 32), S. 17–25, Nr. 10, hier S. 23. 34 Die Fertigstellung des Portals wird meistens zur Krönung Kaiser Friedrich Barbarossas zum König von Burgund bzw. des Arelats am 30. Juli 1178 in Arles angenommen, s. Andreas HartmannVirnich, Saint-Paul-Trois-Chateaux und Saint-Trophime in Arles. Studien zur Baugeschichte zweier romanischer Kathedralen in der Provence (Veröffentlichungen der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität Köln 45), Köln 1992, S. 553. 35 Möller (Anm. 8), Sp. 97. 36 Conrad Rudolph, Inventing the Gothic Portal. Suger, Hugh of Saint Victor, and the Construction of a New Public Art at Saint-Denis, in: Art History 33 (2010), S. 568–595, hier S. 569. 37 Siehe auch Möller (Anm. 8), Sp. 97; Lucchesi Palli (Anm. 8), Sp. 31; Yves Christe, Das Jüngste Gericht, Regensburg 2001, S. 96. 38 Zur Platzierung von Himmel und Hölle in den Archivolten siehe auch: Rudolph (Anm. 36), S. 587, 589.



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das Paradies. In diesem Zusammenhang wird das Bild aus der Lazarusparabel von Lazarus im Schoße Abrahams verallgemeinert und auf alle Seligen ausgeweitet. Die Kirchenväter deuten das Bildnis von Abrahams Schoß unterschiedlich. Tertullian (um 160–nach 220) beschreibt ihn, der antiken Jenseitsvorstellung entsprechend, als Ort des Übergangs, an dem sich Abraham und die anderen Gerechten bis zur Auferstehung am Ende der Zeiten aufhalten.39 Der im 4. Jahrhundert in Unterägypten wirkende Bischof Serapion von Thmuis40 (um 300–nach 370) bittet in seinem Euchologium Gott, die Seelen der Verstorbenen in den Schatzkammern der Ruhe zusammen mit Abraham, Isaak und Jakob ausruhen zu lassen. Er fasst hier die bereits genannte Stelle aus Matthäus 8,11 und das jüdisch-antike Bild der Schatzkammern der Unterwelt zusammen.41 Origenes (182–254),42 Johannes Chrysostomus (344/349/354–407)43 und Gregor der Große (um 540–604)44 legen Abrahams Schoß als Sinnbild des Himmels, als Ort der ewigen Glückseligkeit, aus. Allerdings benutzten einige Kirchenväter wie Ambrosius (339–397)45 und Augustinus (354–430)46 beide Deutungen. Bereits im frühen Christentum ist das Wissen, dass Lazarus nach seinem Tod in Abrahams Schoß kommt, ein Hinweis auf eine Bestrafung der Sünder und Belohnung der Gerechten nach dem Tod und vor dem Jüngsten Gericht.47 Aus dem Frühchristentum ist durch viele Grabinschriften der Wunsch der Verstorbenen überliefert, dass sie in Abrahams Schoß aufgenommen werden wollen.48 Für diese Zeit ist auch belegt, dass die Genesis und vor allem die Abrahamsperikopen in der Liturgie der Fastenzeit gelesen wurden und auf dem Lehrplan des Katechumenenunterrichts standen.49 Hierdurch wird deutlich, dass bereits die Katechumenen mit dem Leben Abrahams vertraut waren und er ihnen, wie den Gläubigen, als ein Vorbild für den Glauben und den Gehorsam gegenüber Gott galt. Bildliche Darstellungen von Abrahams Schoß sind in frühchristlicher Zeit jedoch nicht bekannt.50 In der Totenliturgie wird Abraham mehrfach erwähnt. Abrahams Schoß wird hier als Ort der Glückseligkeit angeführt.51 Im Offertorium der Totenmesse wird die

39 Staerk (Anm. 3), Sp. 27; Wolf (Anm. 1), S. 14, 179; Baudry (Anm. 2), S. 220. 40 Die Stadt Thmuis heißt heute Tell El-Timai. 41 Theodor Klauser, Abraham, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 1 (1950), Sp. 18–27, hier Sp. 21. 42 Baudry (Anm. 2), S. 220. 43 Staerk (Anm. 3), Sp. 28. 44 Ebd. 45 Ebd., Sp. 27; Baudry (Anm. 2), S. 220. 46 Staerk (Anm. 3), Sp. 27f.; Wolf (Anm. 1), S. 181. 47 Brenk (Anm. 8), S. 101. 48 Ebd.; Baudry (Anm. 2), S. 220. 49 Klauser (Anm. 41), Sp. 22f. 50 Brenk (Anm. 8), S. 101; Baudry (Anm. 2), S. 220. 51 Klauser (Anm. 41), Sp. 24; Staerk (Anm. 3), Sp. 28.





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Verheißung des Besitzes Kanaans an Abraham mit der Verheißung des Himmels gleichgesetzt. Michael möge die Verstorbenen zum heiligen Licht führen, wie es einst Abraham und dessen Nachfahren verheißen wurde.52 Es fragt sich, ob sich die unterschiedlichen Deutungen der Kirchenväter auch auf die Darstellungen in der Bauskulptur ausgewirkt haben. Kann man hier einen Unterschied feststellen, ob Abrahams Schoß als Übergangsort oder als Paradies anzusehen ist? In der Buchmalerei finden sich auch Miniaturen mit mehreren Seelen in Abrahams Schoß. Im zwischen 1176 und 1196 im Elsass entstandenen ‚Hortus deliciarum‘ der Herrad von Landsberg ist auf fol. 263v Abraham auf einem Thron mit 14 Seligen im Schoß dargestellt.53 Links und rechts von ihm steht ein Paradiesbaum und in den Ecken der Seite sind die vier Paradiesflüsse personifiziert. Hier handelt es sich also eindeutig um eine Paradiesdarstellung. Die vorderen Seligen sind nicht nackt, sondern in Gewänder gehüllt. Bemerkenswert ist auch die hohe Anzahl der Seelen, die in der Bauskulptur nicht überliefert ist. Wie in Saint-Denis werden auch an anderen Portalen der französischen Gotik drei oder mehrere nackte Seelen in einem von Abraham gehaltenen Tuch dargestellt. Die Seelen erscheinen als Jünglinge mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. In den nördlichen Archivolten des in den 1210er Jahren entstandenen und 1240er Jahren überarbeiteten54 Gerichtsportals der Westfassade an der Kathedrale NotreDame in Paris sind die drei Seligen in Abrahams Schoß erstmals in Gewänder gehüllt und beten (Abb. 5). Das Bildnis von Abrahams Schoß befindet sich auf nördlicher Seite in der zweiten Archivolte von innen unten an erster Stelle. Es ist somit auf der Höhe des Tympanonregisters mit der Auferweckung der Toten zum Jüngsten Gericht. Im darüber liegenden Register sind die Züge der Seligen und Verdammten platziert. Dies könnte als ein Indiz für Abrahams Schoß als Aufenthaltsort bis zum Jüngsten Gericht gedeutet werden. Allerdings findet sich auch keine Höllendarstellung auf dem Tympanon. Dafür sind in den gegenüberliegenden Archivolten Höllenqualen dargestellt, was eine Interpretation von Abrahams Schoß als Paradies zulässt. Bruno Boerner deutet die beiden neben Abraham thronenden Gestalten als Isaak und Jakob und sieht hierin ein Bildnis des himmlischen Gastmahls nach Matthäus 8,11, bei dem die

52 Klauser (Anm. 41), Sp. 24. 53 Kahsnitz (Anm. 8), S. 88f. Die ehemals in der Straßburger Stadtbibliothek befindliche Handschrift ist 1870 verbrannt und nur noch in Kopien überliefert; Abbildungen bieten Baschet (Anm. 1), S. 133, Abb. 34, und Kahsnitz (wie Anm. 8), S. 87, Abb. 17. 54 Jean-Pierre Cartier, Le portail du Jugement, in: André Vingt-Trois (Hg.), Notre-Dame de Paris (La grâce d’une cathédrale 6), Straßburg 2012, S. 187–197, hier S. 187. Bruno Boerner, Par caritas par meritum. Studien zur Theologie des gotischen Weltgerichtsportals in Frankreich – am Beispiel des mittleren Westeingangs von Notre-Dame in Paris (Scrinium Friburgense 7), Freiburg i. Üe. 1998, S. 63, datiert hingegen in einen größeren Zeitraum zwischen 1200 und 1230/40.



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Erwählten die Früchte der Glückseligkeit genießen.55 Diese Deutung erscheint eher unwahrscheinlich, da Isaak und Jakob keine Seligen wie in Arles im Schoß haben. Die Darstellung ist hier eher als eine Art Zusammenschau, zum einen aus Abrahams Schoß als Paradies und zum anderen aus einer Reihe der drei Erzväter, zu interpretieren. An der Kathedrale von Bourges befindet sich das Bildnis von Abrahams Schoß im mittleren Register des Tympanons des in der Mitte des 13. Jahrhunderts56 entstandenen Gerichtsportals der Westfassade. Abraham thront in einer Blendarkade und hält in seinem Tuch sechs nackte Seelen (Abb. 6).57 Das Bildnis ist am Ende des von rechts kommenden Zuges der Seligen und zugleich am nördlichen Ende des zweiten Tympanonregisters dargestellt. Es ist das Pendant zur Hölle, die sich am anderen Ende des Registers befindet und daher eindeutig als ein Sinnbild des Paradieses zu verstehen.58 Jérôme Baschet, der Abrahams Schoß hier ebenfalls als Paradiesesdarstellung deutet, weist auf den Unterschied zwischen den Seligen in Abrahams Schoß und dem Zug der Auserwählten hin. Letztere sind noch deutlich an ihrer Kleidung den Ständen zuzuordnen, während die Seelen alle gleich aussehen. Dies interpretiert er so, dass im Himmel die sozialen Unterschiede nicht mehr relevant sind und alle gleich behandelt werden.59 Durch die Nacktheit der Seligen ist eine Hierarchisierung nicht möglich. Im linken Gewände des um 122560 entstandenen Fürstenportals des Bamberger Domes befindet sich in der Archivoltenzone Abraham mit fünf Seligen im Schoß (Abb. 7).61 Die Seelen sind hier erstmals in der Bauskulptur differenziert dargestellt. Einige beten und andere haben die Hände am Leib herunterhängen. Die Betenden erinnern an die in der Tympanondarstellung aus ihren Gräbern Auferstehenden, die ebenfalls beten. Die beiden erhaltenen Köpfe der Seligen zeigen das für die Bamberger Skulptur typische Lächeln.62 Erstmals sind hier Selige als ganze Figur, und nicht durch das Tuch in Teilen verdeckt, zu sehen. Dies war sonst nur bei einigen Bildnissen des Lazarus der Fall.

55 Boerner (Anm. 54), S. 44. 56 Jean-Yves Ribault, Un chef-d’œuvre gothique. La cathédrale de Bourges, Arcueil 1995, S. 120f. 57 Die beiden hinteren Seelen sind von jedem Betrachterstandpunkt kaum erkennbar, da sie von den vorderen nahezu immer verdeckt sind. 58 Auch Boerner (Anm. 29), S. 304, deutet hier Abrahams Schoß als Paradies, allerdings ohne dies zu begründen. Für ihn versinnbildlicht die Darstellung von Abrahams Schoß allgemein das Paradies. 59 Baschet (Anm. 1), S. 171f. 60 Manfred Schuller, Das Fürstenportal des Bamberger Domes, Bamberg 1993, S. 90. Zum Nachweis der Ursprünglichkeit des Aufstellungsortes der Skulptur s. ebd., S. 86–90. 61 Am Fürstenportal befindet sich heute eine Kopie, das Original ist heute im Innern des Domes im Südseitenschiff an der Chorschrankenwand aufgestellt. 62 Zum „Bamberger Lächeln“ s. Willibald Sauerländer, Reims und Bamberg. Zur Art und Umfang der Übernahmen, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 39 (1976), S. 176–192, hier S. 183, 185.





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Ähnlich wie in Bamberg, aber fast hundert Jahre später, wahrscheinlich um 1310/15,63 ist Abraham am Weltgerichtsportal an der Südseite von St. Sebald in Nürnberg dargestellt. Das Fürstenportal von Bamberg dürfte hier ein direktes Vorbild gewesen sein.64 Hier wurde erstmals eine eindeutige Unterscheidung zwischen den Geschlechtern der Seligen in der Bauskulptur vorgenommen. Da zum Höllenschlund am Ende des Zuges der Verdammten wieder kein Pendant existiert, kann die Darstellung auch hier als Paradies interpretiert werden. Gerade in den letzten Beispielen ist Abrahams Schoß so exponiert dargestellt, dass diese Bildnisse nicht zu übersehen waren und somit vielleicht auch eine besonders große Wirkung auf den Betrachter hatten. Ein Bildnis von Abrahams Schoß mit mehreren Seligen könnte im Gegensatz zu einem mit einer Seele auch ein höheres Identifikationspotential von Seiten der Gläubigen gehabt haben. Dies ist vor allem zu vermuten, wenn die Seligen unterschiedlich dargestellt sind. Gerade das Lächeln der Seligen, wie z. B. in Bamberg, verdeutlicht ihre Glückseligkeit und die Vorstellung von Geborgenheit. Teilweise fand parallel hierzu die Entwicklung einer stärker verkürzten Darstellung statt. Ihren Anfang in der Bauskulptur nahm sie wohl in der äußeren Archivolte auf der Nordseite im dritten Register des kurz nach 117065 entstandenen mittleren Westportals der Kathedrale von Senlis, das im Tympanon die Marienkrönung zeigt. Dort hält Abraham sechs Köpfe von Seligen in seinem Mantelbausch. Die Seligen scheinen hier überhaupt keinen Körper zu besitzen, sondern nur aus einem Kopf zu bestehen. Auf einem Kapitell aus Alspach aus dem 12. Jahrhundert,66 das sich heute im Unterlindenmuseum in Colmar befindet, hält Abraham als Halbfigur in einem großen Tuch drei Selige. Diese Art der Darstellung ist so verkürzt, dass das Wesentliche, nämlich der Schoß selbst, überhaupt nicht mehr dargestellt ist. Dies setzt voraus, dass der Bildnistyp allgemein bekannt war. An der spätromanischen ehemaligen Schlosskapelle St. Ulrich in Ainau bei Geisenfeld in Oberbayern ist ein solches verkürztes Bildnis sogar als Hauptszene im Tympanonfeld des um 123067 entstandenen Portals zu finden (Abb. 8). Abraham, selbst

63 Gerhard Weilandt, Die Sebalduskirche in Nürnberg. Bild und Gesellschaft im Zeitalter der Gotik und Renaissance, Petersberg 2007, S. 28. 64 Siehe auch Schuller (Anm. 60), S. 87; Weilandt (Anm. 63), S. 30. 65 Willibald Sauerländer, Die Marienkrönungsportale von Senlis und Mantes, in: Wallraf-RichartzJahrbuch 20 (1958), S. 115–162, hier S. 135; Diane Cynthia Brouillette, The Early Gothic Sculpture of Senlis Cathedral, Diss. Berkeley 1981, S. 107, 111. Abgeb. bei Baschet (Anm. 1), S. 200, Abb. 67. 66 Möller (Anm. 8), Sp. 101; abgeb. bei Baschet (Anm. 1), S. 194, Abb. 60; Möller (Anm. 8), Sp. 101f., Abb. 17. 67 Hans Karlinger, Die Romanische Steinplastik in Altbayern und Salzburg 1050–1260, Regens­burg 1924, S. 124; Walter Haas u. Ursula Pfistermeister, Romanik in Bayern, Stuttgart 1985, S. 284;



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nur als Halbfigur dargestellt, hält vor seiner Brust ein Tuch mit vier Seligen, die ebenfalls als Halbfiguren dargestellt sind. Aus dem Tuch ragen fast nur ihre Köpfe heraus. Am Baseler Münster ganz oben in den Archivolten des um 1270/8568 entstandenen Hauptportals der Westfassade befindet sich als Abschluss ein ebenfalls stark verkürztes Bildnis von Abrahams Schoß. Die exponierte Lage legt eine Deutung als Paradies nahe. Dies sind die entscheidenden Entwicklungsstufen des Darstellungstypus von Abrahams Schoß in der mittelalterlichen Bauskulptur, der ab dem 14. Jahrhundert fast nicht mehr dargestellt wird.69 Die Forschung beschränkt sich meistens nur auf die Benennung von Abrahams Schoß und deutet sie fast immer als ein Sinnbild des Paradieses. Auf das Aussehen und die Anzahl der Seligen wird höchstens beschreibend eingegangen. Wie ist aber die unterschiedliche Anzahl der Seligen zu deuten? Kommt man hier vielleicht mit der mittelalterlichen Zahlensymbolik weiter?70 Auch die Gesten und die Kommunikation unter den Seligen ist noch nicht ein­ gehend erforscht und gedeutet.71 Bereits bei dem vorher genannten Beispiel, im ‚Hortus deliciarum‘ der Herrad von Landsberg, sind Gesten der Seligen zu erkennen. Auf einer Miniatur, des um 1230 in Paris entstandenen Psalter der Blanca von Kastilien, sieht man im Medaillon unten die Hölle und oben als Paradiesdarstellung Abraham, der fünf Selige in einem Tuch vor sich hält.72 Die beiden linken Seligen haben die Hände zum Redegestus erhoben und die drei rechten schauen mit heruntergezogenen Mundwinkeln zu diesen hinüber. Sie unterscheiden sich also in ihren

Gottfried Weber, Die Romanik in Oberbayern. Architektur – Skulptur – Wandmalerei, Pfaffenhofen 1985, S. 342. 68 Dorothea Schwinn Schürmann, Beschreibung des heutigen Portals und seiner Vorgänger, in: Hans-Rudolf Meier u. Dorothea Schwinn Schürmann (Hgg.), Himmelstür. Das Hauptportal des Basler Münsters, Basel 2011, S. 28–33, hier S. 31; abgeb. ebd., S. 12, Abb. 3. 69 Siehe hierzu die Übersichten von Abrahams Schoß beim Jüngsten Gericht, in anderen und un­ sicheren Kontexten bei Baschet (Anm. 1), S. 397–404. 70 Im Falle von vier Seligen könnte man an die vier Paradiesflüsse denken. Dies wäre ein zusätz­ licher Hinweis auf eine Deutung als Paradies. Bei drei Seligen könnte man an die Trinität oder die drei Stammväter denken. Eine Deutung der Zahlensymbolik kann nur im Gesamtzusammenhang eines jeden Portalprogramms und seiner Ikonographie erfolgen – dies kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Allgemein zu mittelalterlichen Zahlenbedeutungen s. Heinz Meyer u. Rudolf Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen (Münstersche Mittelalter-Schriften 56), München 1987. 71 Vom Verfasser ist zu diesem Thema eine Studie in Arbeit. Zur Deutung von Gesten im Mittel­alter s. Jean-Claude Schmitt, Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, Stuttgart 1992; Alicia Miguélez Cavero, Actitudes gestuales en la iconografia del románico peninsular hispano. El sueño, el dolor espiritual y otras expresiones similares, León 2007. 72 Bibliothèque de l’ Arsenal, Ms. lat. 1186, fol. 171v; s. Jacques Guignard, Trésors de la Bibliothèque de l’Arsenal, Paris 1980, S. 136; abgeb. bei Baschet (Anm. 1), S. 10, Taf. V, Abb. 54; Christe (Anm. 37), S. 107, Abb. 65.





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Gesten und in ihrer Position. Es scheint also verschiedene Stufen der Glückseligkeit zu geben. Wie aufgezeigt werden konnte, gibt es zwei Darstellungstypen von Abrahams Schoß. Die eine zeigt nur einen Seligen, nämlich Lazarus, in Abrahams Schoß. Dieser Typus steht meistens am Ende der in Episoden dargestellten Lazarusparabel. Der Typus von Abraham mit mehreren Seligen im Schoß erfährt im Laufe der Zeit eine Entwicklung. Einerseits steigt teilweise die Anzahl der Seligen und andererseits findet bei manchen Bildnissen eine stärkere Verkürzung der Darstellung statt. Für die unterschiedlichen Deutungen in der Bibelexegese, einmal als vorläufiger Aufenthaltsort vor dem Jüngsten Gericht oder als Paradies, gibt es nur eine Darstellungsart. Im Zusammenhang mit Gerichtsportalen hat sich die Deutung als Paradies als plausibel erwiesen. Bei Darstellungen in anderem Zusammenhang, z. B. auf Kapitellen ist aber auch die andere Interpretation möglich bzw. es könnten beide Deutungen intendiert sein. Dies lassen die Schriften mancher Kirchenväter wie Ambrosius und Augustinus vermuten.



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Abb. 1: Moissac, ehemalige Abteikirche, linke Portalwange, Fries (Wilfried E. Keil)

Abb. 2: Conques, ehemalige Abteikirche, Weltgerichtstympanon (Wilfried E. Keil)





Abrahams Schoß in der mittelalterlichen Bauskulptur 

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Abb. 3: Arles, Saint-Trophime, Portal (Wilfried E. Keil)



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Abb. 4: Saint-Denis, Westfassade, Gerichts­ portal (nach Christe (Anm. 37), Abb. 100)

Abb. 5: Paris, Kathedrale, Westfassade, Gerichts­portal (Nick Thompson)

Abb. 6: Bourges, Kathedrale, Westfassade, Gerichtsportal (nach Christe (Anm. 37), Abb. 128)





Abrahams Schoß in der mittelalterlichen Bauskulptur 

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Abb. 7: Bamberg, Dom, ehemals Fürstenportal (Wilfried E. Keil)

Abb. 8: Ainau bei Geisenfeld, ehemalige Schlosskapelle, Portal (nach Karlinger (Anm. 67), Abb. S. 136)



Heiko Ullrich (Heidelberg)

Abraham und Hiob als Kontrastfiguren in der mittelhochdeutschen Literatur Abstract: Der vorliegende Beitrag möchte zeigen, wie Abrahams Bereitschaft zur Opferung Isaaks den Erzvater einerseits in den Tugendkatalogen der mittelhochdeutschen Literatur zum beliebten Beispiel für den Gehorsam macht, andererseits aber auch zu einer unheimlichen Figur, der in narrativen Texten wie Jansen Enikels ‚Weltchronik‘, Albrechts von Scharfenberg ‚Jüngerem Titurel‘ oder dem ‚Barlaam und Josaphat‘ Rudolfs von Ems nur noch schwer eine plausible Motivation für ihr Vorgehen zugeordnet werden kann. Aus diesem Grund verzichten auch andere mittelhochdeutsche Texte wie beispielsweise die meisten Erzählungen der ‚Amicus und Amelius‘Tradition (u. a. Konrads von Würzburg ‚Engelhard‘) oder die verschiedenen Versionen der ‚Silvester‘-Legende darauf, die prominente biblische Erzählung als Vergleich für den zentralen Kindsmord heranzuziehen, um die eigenen Figuren nicht noch zusätzlich zu desavouieren. Als Gegenpole zu den in der Nachfolge Abrahams stehenden Figuren wie dem Titelhelden des ‚Engelhard‘ oder der Meierstochter im ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue fungieren dabei Figuren, die explizit mit dem Dulder Hiob verglichen werden (Dieterich bzw. Heinrich). Anders als Hiob jedoch bewähren diese ihr Gottvertrauen nicht allein im geduldigen Ertragen des Leids, sondern werden durch die Abrahamfiguren, Engelhard und die Meierstochter, in den Konflikt zwischen den Forderungen des göttlichen Befehls und der menschlichen Ethik mit hineingezogen und so gegen ihren Willen ebenfalls zu Nachfolgern Abrahams.

In den Katalogen des Mittelalters, die einzelnen Exempelfiguren bestimmte Tugenden zuschreiben, verkörpert Abraham meist den gehôrsam wie im ‚Welschen Gast‘ des Thomasin von Zerclaere (v.  6051).1 Abraham stellt diesen Gehorsam in erster Linie durch die Bereitschaft zur von Gott befohlenen Opferung seines Sohnes Isaak unter Beweis, woraufhin Gott in Jansen Enikels ‚Weltchronik‘ den Engel ausrichten lässt, er habe erkannt, daz im daz opfer waer bereit, | und [Abraham] im gehôrsam wolde […] wesen. (v. 4017).2 Als Grund für diese Bereitschaft bestimmt Rudolf von Ems im ‚Barlaam und Josaphat‘ Abrahams minne zu Gott:

1 Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hrsg. v. Heinrich Rückert. Mit einer Einleitung und einem Register v. Friedrich Neumann (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 1, 30), Quedlinburg u. a. 1852, ND Berlin 1965. 2 Jansen Enikels Werke, hrsg. v. Philipp Strauch (MGH Deutsche Chroniken 3), Hannover, Leipzig 1900. Vgl. zur Rolle des Engels in dieser Szene auch Raymond G. Dunphy, Daz was ein michel wunder. The Presentation of Old Testament Material in Jans Enikel’s Weltchronik (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 650), Göppingen 1998, S. 137f.



Abraham und Hiob als Kontrastfiguren in der mittelhochdeutschen Literatur 

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Abraham, der reine man,  in sînen sinnen dô began  got minnen alsô sêre  daz er im durch sîn êre  sîn kint und sînes kindes leben  wolte zeopher hân gegeben. (55, 15–20/vv. 2155–2160)3

Während Rudolf den vorausgegangenen Befehl Gottes zur Tötung Isaaks weitgehend ausblendet,4 wägt Albrecht von Scharfenberg im ‚Jüngeren Titurel‘ die minne Abrahams zu Gott gegen die Gottes zu Abraham ab: Der hoehst geb uns di minne, di Abraham erkande,  do er in rechtem sinne an sinem lieben kind des todes ernande,  des wolt in got zeim opfer niht verdriezen,  darumb er sin geslehte merte mer denn zal des meres griezen  Und liez im doch gesundez kint do wider lebende. (Str. 2148, 1–2149, 1)5

3 Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat, hrsg. v. Franz Pfeiffer (Dichtungen des deutschen Mittelalters 3), Leipzig 1843. Vgl. zu dieser Stelle auch Charlotte Nägler, Studien zu Barlaam und Josaphat von Rudolf von Ems, Diss. Karlsruhe 1972, S.  133–135; Xenia von Ertzdorff, Rudolf von Ems. Untersuchungen zum höfischen Roman im 13. Jahrhundert, München 1967, S. 201, und Helmut Brackert, Rudolf von Ems. Dichtung und Geschichte, Heidelberg 1968, S. 220. Zum Gattungskontext auch Corinna Biesterfeldt, Moniage – Der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zu Kaiserchronik, König Rother, Orendel, Barlaam und Josaphat, Prosa-Lancelot, Stuttgart 2004, S. 101f., und Karin Cieslik, Die Legenden Rudolfs von Ems und Konrads von Würzburg. Eine vergleichende Untersuchung, in: Wolfgang Spiewok (Hg.), Deutsche Literatur des Spätmittelalters. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung (Deutsche Literatur des Mittelalters 3), Greifswald 1986, S. 193–204, hier S. 197f. 4 Vgl. zu den Gründen für die vereinfachende Darstellung des Stoffes durch Barlaam auch Roy Wisbey, Zum Barlaam und Josaphat Rudolfs von Ems, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 86 (1955/56), S. 293–301, hier S. 296; Albrecht Classen, Kulturelle und religiöse Kontakte zwischen dem christlichen Europa und dem buddhistischen Mittelalter. Rudolfs von Ems Barlaam und Josaphat im europäischen Kontext, in: Fabula 41 (2000), S. 203–228, hier S. 222, und Ulrich Wyss, Rudolfs von Ems Barlaam und Josaphat zwischen Legende und Roman, in: Peter F. Ganz u. Werner Schröder (Hgg.), Probleme mittelhochdeutscher Erzählformen. Marburger Colloquium 1969, Berlin 1972, S. 214–238, hier S. 224. 5 Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel, Bd.  2, hrsg. v. Werner Wolf (Deutsche Texte des Mittelalters 55/56), Berlin 1968. Vgl. zum Kontext der Stelle auch Herbert Guggenberger, Albrechts Jüngerer Titurel. Studien zur Minnethematik und zur Werkkonzeption (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 566), Göppingen 1992, S. 134; Hedda Ragotzky, Studien zur Wolfram-Rezeption. Die Entstehung und Verwandlung der Wolfram-Rolle in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 20), Stuttgart u. a. 1971, S. 122, und Danielle Buschinger, Zu ­Albrechts Jüngerem Titurel. Versuch einer Interpretation, in: Kurt Gärtner u. Joachim Heinzle (Hgg.), Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder zum 75.  Geburtstag, ­Tübingen 1989, S. 521–528, hier S. 524f.



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Auch Albrecht jedoch hat keine Erklärung für den Befehl Gottes, der Abraham natürlich verdriezen muss; er betont daher, dass die minne Gottes sich vor allem im abschließenden Verzicht auf das Opfer und in der Belohnung für Abrahams Gehorsam zeige. So stellt er neben das Eingeständnis, dass die Befolgung des göttlichen Befehls Abraham große emotionale Überwindung kostet (ernande), die sachliche Feststellung, er habe mit der Bereitschaft zur Opferung seines Sohnes in rechtem sinne gehandelt. Zu dieser fast juristischen Sachlichkeit bildet die Betonung der Zuneigung Abrahams zu sinem lieben kind (Str. 2148, 2) einen emotionalen Gegenpol.6 Noch deutlicher wird diese antithetische Grundstruktur in Jansen Enikels Darstellung der Opferung Isaaks. Der Engel redet Abraham nicht nur als gotes man und lieber gotes kneht an (‚Weltchronik‘, vv. 3762f.), um ihn von vornherein an seine Gehorsamspflicht zu erinnern, sondern beteuert auch sogleich: ich wirb ein botschaft, diu ist reht (v. 3764).7 Wie der Erzähler des ‚Jüngeren Titurel‘ beweist aber auch Jansens Engel Einfühlungsvermögen in Abrahams Lage: daz sol dir nimmer wesen leit (v. 3768). Die Beziehung Abrahams zu sinem lieben kind wird einerseits hyperbolisch verstärkt und andererseits mit der Verpflichtung gegenüber dem göttlichen Gebot parallelisiert, das eine ähnliche Überhöhung erfährt: ez sol dîn sun sîn Isaac,  der dir niht lieber wesen mac.  als liep dir sî dîn selbes leben,  dû solt in got ze opfer geben. (vv. 3773–3776)8

Die in dem Polyptoton lieber – liep begonnene Emotionalisierung der Szene steigert sich über Abrahams Bekundung seiner Betroffenheit (vor jâmer ich verswinde; v.  3788) zu einer ausführlichen Klage um den todgeweihten Sohn (vv.  3804–3812), bevor die abschließende Entscheidung Abrahams (sîn gebot ich nimmer übergên. | ich wil in sînen hulden stên; vv. 3815f.) zurück auf den Beginn der Episode verweist, wo genau diese Pflichterfüllung von dem gotes man und gotes kneht eingefordert wird.

6 Zu den Vater-Sohn-Beziehungen bei Albrecht vgl. auch Matthias Meyer, Genealogische Aporien. Väter und Söhne im Jüngeren Titurel, in: Martin Baisch u.  a. (Hgg.), Der Jüngere Titurel zwischen Didaxe und Verwilderung. Neue Beiträge zu einem schwierigen Werk (Aventiuren 6), Göttingen 2010, S. 201–219. 7 Vgl. zur Darstellung alttestamentarischer Stoffe bei Jans auch Hartmut Kugler, Jans Enikel und die Weltchronistik im späten Mittelalter, in: Winfried Frey, Walter Raitz u. Dieter Seitz (Hgg.), Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts, Bd. 2: Patriziat und Landesherrschaft, 13.–15. Jahrhundert, Opladen 1982, S. 216–251, hier S. 245; Ursula Liebertz-Grün, Das andere Mittel­ alter. Erzählte Geschichte und Geschichtserkenntnis um 1300. Studien zu Ottokar von Steiermark, Jans Enikel, Seifried Helbling (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 5), München 1984, S.  94, und Horst Wenzel, Höfische Geschichte. Literarische Tradition und Gegenwartsdeutung in den volkssprachigen Chroniken des hohen und späten Mittelalters (Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte 5), Bern u. a. 1980, S. 87–99. 8 Vgl. zu dieser Stelle auch Dunphy (Anm. 2), S. 138.





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Aber auch in der Darstellung der Opferszene selbst zeigt sich die Antithese von Rationalisierung und Emotionalisierung, wenn Isaak sich mit folgenden Worten an seinen Vater wendet: nein, lieber vater mîn,  gedenk an di triu dîn.  wa getoetet ie vater sîn kint?  dînes zorns gên mir erwint. (vv. 3965–3969)9

Erneut wird zu dem emotionalen Vokabular, der Anrede lieber vater mîn und der Unterstellung des zorns als Beweggrund, eine von rationalen und juristischen Argumenten getragene Gegenposition aufgebaut, die nicht nur verallgemeinernd für jede Beziehung zwischen vater und kint das Gebot der triu einfordert,10 sondern auch die entscheidende (rhetorische) Frage stellt: wa getoetet ie vater sîn kint? Während Jans diese Frage dem Sohn, der geopfert werden soll, in den Mund legt, erscheint sie in einer einer Prosaversion des ‚Amicus und Amelius‘ als Ausdruck des Dilemmas, in dem sich der Vater und potenzielle Mörder sieht: Amelius, der seinen Freund durch das Blut seiner beiden Kinder vom Aussatz heilen soll,11 ruft in der mit Jansens Opferszene vergleichbaren Situation aus: wer hat nie gehört, daz ain vater seine kind allz williglich müß tötten!12 Natürlich dient dieser Ausruf in erster Linie dazu, die Exzeptionalität der Lage, in der Amelius sich befindet, zu unterstreichen, und ist daher nicht wörtlich zu verstehen. Dennoch stellt sich die Frage, warum die offensichtliche Parallele zur allseits bekannten biblischen Geschichte hier so explizit geleugnet wird – zumal der Amelius der ‚Vita Amici et Amelii carissimorum‘ diese ausdrücklich zieht (Si ante regem pro me paratus fuit ille mori, et ego pro illo filios meos

9 Vgl. zur Emotionslenkung in Jansens Dialogen auch Maria Dobozy, Historical Narrative and Dia­ logue. The Serious and the Burlesque in Jans der Enikel’s Weltchronik, in: Sibylle Jefferis (Hg.), Current Topics in Medieval German Literature. Texts and Analyses. Kalamazoo Papers 2000–2006 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 748), Göppingen 2008, S. 151–168, hier S. 165. 10 Vgl. zur Darstellung von Vater-Sohn-Verhältnissen bei Jans auch Wenzel (Anm.  7), S.  88, und Strauch (Anm.  2), S.  lxxviii; zur Rolle von Ordnungsverstößen in der ‚Weltchronik‘ auch Gesine ­Mierke, Die Konstruktion der Welt in der Weltchronik des Jans Enikel, in: Philipp Billion u. a. (Hgg.), Weltbilder im Mittelalter, Bonn 2009, S. 149–165, hier S. 162. 11 Zur Verbreitung des Motivs der Blutheilung im Mittelalter vgl. v. a. Kurt Ruh, Hartmanns ‚Armer Heinrich‘. Erzählmodell und theologische Implikation, in: Ursula Henning u. Herbert Kolb (Hgg.), Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag, München 1971, S. 315–329, hier S. 316f. 12 Konrad von Würzburg, Engelhard, hrsg. v. Ingo Reiffenstein, 3.  Aufl. der Ausgabe von Paul ­Gereke (ATB  17), Tübingen 1982, S.  247. Ganz ähnlich wird die Frage in einer bei Peter H. Oettli, Tradition and Creativity. The Engelhard of Konrad von Würzburg. Its Structure and its Sources (Australian and New Zealand Studies in German Language and Literature 14), New York, Bern, Frankfurt a. M. 1986, S. 184, transkribierten Handschrift gestellt: Wer hat ey gehoirt, dat eyn vader syn kynder willenclichen haue gedoit?



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non interficiam? [...] Abraham namque per fidem salvatus est)13 und damit die fides als Kardinaltugend Abrahams mit der fides im Sinne der Handlungsstruktur des ‚Amicus und Amelius‘, also der Freundestreue, gleichsetzt. Die Exempelfigur Abraham dient Amelius so als Rechtfertigung für sein eigenes Handeln,14 und es ist durchaus verwunderlich, dass die ‚Vita‘ innerhalb der ‚Amicus und Amelius‘-Tradition in dieser Hinsicht eine Sonderrolle einnimmt. Denn auch die bekannteste mittelhochdeutsche Bearbeitung des Stoffes, Konrads von Würzburg ‚Engelhard‘, verzichtet auf die explizite Nennung der Parallele, die gleichwohl an zahlreichen Stellen des Romans eine entscheidende Rolle spielt. Wie bei Rudolfs Abraham geht Engelhards Bereitschaft zur Tötung der Kinder von gotes geist  | und der wâren minne gluot (vv.  6216f.) aus, während seine (unterdrückten) Vatergefühle das Verhalten repräsentieren, das von natûre (v. 6226) geboten und zu erwarten wäre.15 Sein am Aussatz erkrankter Freund Dieterich, an den der Befehl des Engels zunächst ergeht,16 entscheidet sich dagegen vorerst dafür, den Befehl nicht wie verlangt an Engelhard weiterzuleiten, und interpretiert die Verheißung seiner Heilung durch das Blut der Kinder Engelhards als Versuchung; von diesen üppeclichen tröumen (v. 5493) will er sich nicht dazu verleiten lassen, so viel Unheil (v. 5495) anzurichten, da er die Tötung der Kinder nachvollziehbarerweise als ein alsô grôze[z]

13 Amis and Amiloun. Zugleich mit der altfranzösischen Quelle, nebst einer Beilage: Amicus ok Amilius rimur, hrsg. v. Eugen Kölbing (Altenglische Bibliothek 2), Heilbronn 1884, S. cvi, Z. 11–17. Weder im ‚Amis and Amiloun‘ (vv. 2296–2304) noch im ‚Amis et Amilun‘ (vv. 1086–1092) wird Abraham – oder irgendeine andere Vergleichsfigur – genannt, was der Herausgeber der Ausgabe Amis and Amiloun, hrsg. v. MacEdward Leach (Early English Text Society 203), London 1937, S. liv, folgendermaßen kommentiert: „the sacrifice of Isaac [is] […] nothing more than a remote analogue.“ 14 Vgl. dazu auch Silke Winst, Amicus und Amelius. Kriegerfreundschaft und Gewalt in mittel­ alterlicher Erzähltradition (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 57), Berlin, New York 2009, S. 196f., und Edith Feistner, Die Freundschaftserzählungen vom Typ Amicus und Amelius, in: Klaus Matzel u. Hans-Gert Roloff (Hgg.), Festschrift Herbert Kolb zum 65. Geburtstag, Bern u. a. 1989, S. 97–130, hier S. 103. 15 Zitiert nach ‚Konrad von Würzburg‘ (Anm. 12). Vgl. zu dieser Stelle auch Timothy R. Jackson, Abraham and Engelhard. Immoral Means and Moral Ends, in: Peter Skrine, Rosemary E. WallbankTurner u. Jonathan West (Hgg.), Connections. Essays in Honour of Eda Sagarra on the Occasion of her 60th Birthday (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik  281), Stuttgart 1993, S.  117–126, hier S.  119– 121; Rüdiger Brandt, Konrad von Würzburg (Erträge der Forschung  249), Darmstadt 1987, S.  142; Ute von Bloh, „Engelhart der Lieben Ja(e)ger“. „Freundschafft“ und „Liebe“ im „Engelhart“, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 8 (1998), S. 317–334, hier S. 328, und Elisabeth Schmid, Engelhard und Dietrich. Ein Freundespaar soll erwachsen werden, in: Claudia Brinker-von der Heyde u. Helmut Scheuer (Hgg.), Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur (MeLiS 1), Frankfurt a. M. u. a. 2004, S. 31–49, hier S. 39. 16 Zum Auftritt des Engels an dieser Stelle vgl. auch Hartmut Kokott, Konrad von Würzburg. Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie, Stuttgart 1989, S. 52.





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meine (v. 5519) einstuft.17 Anders als bei Engelhard (und Abraham) werden die emo­ tionalen Hemmschwellen der natûre bei Dieterich nicht durch die minne zu Gott überwunden; stattdessen lehnt er den Ausweg, den Gott ihm aus seiner scheinbar hoffnungslosen Lage zeigt, als unbrauchbar ab: wil er nicht anders machen rât  mîner swaere danne alsô,  sô wirt mîn trûric herze frô  vil lützel und vil selden. (vv. 6066–6069)

Während Dieterich, der letztlich den von der natûre her erwartbaren Emotionen folgt, diese konsequent rationalisiert und verrechtlicht, indem er sich von seinen tröumen lossagt und den Kindsmord als meine klassifiziert, gelingt es Engelhard zwar offenbar, sich selbst von der Richtigkeit seines Handelns zu überzeugen. Der Versuch, sein Verhalten auch anderen plausibel zu machen, erscheint Konrads Titelfigur jedoch so aussichtslos, dass er beschließt, den Kindsmord heimlich zu vollziehen: er wolte si verderben  tougenlîche ân allen schimpf  darumbe daz sîn ungelimpf  niht würde vor den liuten starc.  diz dinc er vor den liuten barc,  und niht vor dem getriuwen gote:  der twanc in dô mit sîme gebote  daz er diz wunder ane vienc. (vv. 6234–6241)18

Auch die biblische Erzählung lässt Abraham zur Opferung seines Sohnes in die Einöde ziehen, wobei der Ort beim Aufbruch strengster Geheimhaltung unterliegt: vade in terram Visionis atque offer eum ibi holocaustum super unum montium quem monstravero tibi (Gen 22,2).19 Der von Gott geforderte und im Verborgenen vollzogene Vertrauensbeweis zielt nach der Auffassung Konrads jedoch in erster Linie auf die

17 Vgl. dazu auch Karl-Heinz Göttert, Tugendbegriff und epische Struktur in höfischen Dichtungen. Heinrichs des Glîchezâre Reinhart Fuchs und Konrads von Würzburg Engelhard (Kölner Germanistische Studien 5), Köln, Wien 1971, S. 166, und Jackson (Anm. 15), S. 118. 18 Vgl. zu Engelhards Verheimlichung der Tat auch Rüdiger Brandt, Konrad von Würzburg. Kleinere epische Werke (Klassiker-Lektüren 2), Berlin 2000, S. 130, Anm. 126, u. S. 141; Jackson (Anm. 15), S. 119; Schmid (Anm. 15), S. 38, und Günther Rohr, Konrads von Würzburg kleiner Roman Engelhard, in: Euphorion 93 (1999), S. 305–348, hier S. 338, sowie Neil Thomas, Hartmann’s Der arme Heinrich. Narrative Model and Ethical Implication, in: Modern Language Review  90 (1995), S.  933–943, hier S. 938. 19 Später führt Abraham dieses Versteckspiel fort, wenn er nicht nur die Knechte am Fuß des Berges zurücklässt, sondern ihnen gegenüber sogar behauptet: revertemur ad vos (Gen 22,5), was diese nur auf ihn und Isaak beziehen können.



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Belehrung der Mitmenschen Engelhards ab, denen die Tat nach ihrer Vollendung folglich offenbart werden muss: daz Dieterich generet wart  von sîner sühte mâsen  und daz diu kint genâsen,  daz hiez der süeze got schehen  durch daz die liute möhten sehen  und erkennen wol dar an  daz er triuwe minnen kan  und inneclîche wârheit. (vv. 6466–6473)20

In dieser öffentlichen Demonstration des Gehorsams liegt auch für Augustinus die Bedeutung des Isaaksopfers: temptatur Abraham de immolando dilectissimo filio ipso Isaac, ut pia eius oboedientia probaretur, saeculis in notitiam proferenda, non Deo.21 Der ‚Engelhard‘ bildet dieses Schwanken zwischen kausal notwendiger Geheimhaltung und final notwendiger Offenbarung in seiner Handlungsstruktur durch die Verheimlichung des Mordes auf der einen und durch den schmalen Streifen am Hals der Kinder (vv.  6386–6389) als bleibendem Zeichen22 auf der anderen Seite ab. Zudem beeinflusst das zentrale Dilemma auch den Verweischarakter der Erzählung auf die in vielen Details vorbildhafte biblische Vorlage: Zwar soll Abraham nicht explizit genannt werden, denn so würde Engelhards Verhalten von vornherein gegenüber Dieterichs Zweifeln aufgewertet, andererseits aber soll der Leser durch die überdeutlichen Parallelen gerade am Ende Engelhard als Nachfolger des Abraham in der Kardinaltugend der fides erkennen. Dass Dieterich bei Konrad trotz seiner Zweifel an Gottes Willen letztlich als überwiegend positive Figur erscheint, liegt auch daran, dass er sich Engelhard gegenüber ausdrücklich selbst mit einer äußerst populären Figur des Alten Testaments vergleicht: ich müeste biuwen einen mist  dem arme Jôbe vil gelîch,  ob mich dîn hôhiu tugent rîch  enthielte nicht sô schône. (vv. 6086–6089)23

20 Vgl. dazu Arne Koch, Die zwei Formen der triuwe in Konrads von Würzburg Engelhard, in: Colloquia Germanica 32 (1999), S. 201–222, hier S. 216f. 21 Aurelius Augustinus, De civitate Dei, 2 Bde., hrsg. v. Bernhard Dombart u. Alfons Kalb (Corpus Christianorum. Series Latina 14), Turnhout 1955, XVI 32. 22 Ruh (Anm. 11), S. 319, sieht durch die Wiedererweckung der Kinder zum Leben „auch allfällige theologisch-sittliche Bedenken beschwichtigt.“ 23 Lediglich auf die Bibelstelle verweist der Kommentar in: Konrad von Würzburg, Engelhard. Nach dem Text von Ingo Reiffenstein ins Neuhochdeutsche übertragen, mit einem Stellenkommentar und





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Die Bereitschaft zur Hiobnachfolge stellt Dieterich unter Beweis, wenn er nach der Erkrankung an der miselsuht (v. 5147) von allen Angehörigen und Freunden verlassen wird (vv. 5193–5199) und in der Einsamkeit sein Leben fristen muss (vv. 5218–5308).24 Seine Weigerung, dem Befehl des Engels nachzukommen und seine Heilung durch das Blut von Engelhards Kindern einzufordern (vv. 5512–5548),25 ist damit auch Ausdruck des Widerwillens davor, aus der Rolle des frommen Dulders Hiob26 in die des potenziellen Kindsmörders Abraham zu wechseln. Dieser (vorläufige) Verzicht auf die eigene Heilung vom Aussatz, den Konrad gegenüber anderen Versionen der ‚Amicus und Amelius‘-Tradition neu einführt,27 erscheint auch in Konrads ‚Silvester‘, der dem ‚Engelhard‘ motivlich nahe verwandt ist. Auch hier ist der Aussatz, von dem Kaiser Konstantin befallen wird (vv. 896),28 Ausgangspunkt für den Versuch einer Wunderheilung durch das Blut von dreitausend unschuldigen Kindern (vv. 902–944). Doch während Dieterich sich anfangs vehement gegen die Durchführung des Opfers wehrt, Engelhard schließlich aber doch vom Befehl des Engels erzählt, stimmt Konstantin der Opferung der Kinder zunächst bedenkenlos zu (vv. 927–933), bevor er unter dem Eindruck der klagenden und bittenden Mütter auf diese Möglichkeit der Heilung verzichtet (vv. 1014–1035).29 Durch seine Zustimmung zu Beginn und seinen Verzicht am Ende erweist Konstantin sich zunächst als Anti-Hiob, weil er die von Gott geschickten Plagen nicht zu ertragen vermag; später wird er wie Dieterich zum Anti-Abraham, der eigene moralische Grundsätze über die direkten Handlungsanweisungen der Götter

einem Nachwort von Klaus J. Schmitz (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 501), Göppingen 1989, S. 75. Zur Deutung des Hinweises auf Hiob vgl. Kokott (Anm. 16), S. 59. 24 Vgl. auch Kokott (Anm. 16), S. 52; Göttert (Anm. 17), S. 166, und Brandt (Anm. 18), S. 145. 25 Zur Darstellung Dieterichs an dieser Stelle vgl. Oettli (Anm. 12), S. 44. 26 Vgl. etwa seine Darstellung im ‚Welschen Gast‘ (vv. 4781–4788). Zur unproblematischen Sicht des frommen Dulders Hiob, den das Mittelalter von allen gegen Gott rebellierenden Zügen befreit, vgl. v. a. Karl Heinz Glutsch, Die Gestalt Hiobs in der deutschen Literatur des Mittelalters, Diss. Karlsruhe 1972, S. 137f., 149; Günter Datz, Die Gestalt Hiobs in der kirchlichen Exegese und der „Arme Heinrich“ Hartmanns von Aue (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 108), Göppingen 1973, S. 237–239, und Corinna Dahlgrün, Hoc fac, et vives (Lk 10, 28) – vor allen dingen minne got. Theologische Reflexionen eines Laien im Gregorius und in Der arme Heinrich Hartmanns von Aue (Hamburger Beiträge zur Germanistik 14), Frankfurt a. M. u. a. 1991, S. 146. 27 Vgl. z. B. die bereits zitierten Versionen in der Ausgabe ‚Konrad von Würzburg‘ (Anm. 12), S. 247 (Vnd dasselb set Amicus mit grossem schrecken dem grauen Amelio), und bei Oettli (Anm. 12), S. 184 (Als dit Amelius hoirt). 28 Konrad von Würzburg, Die Legenden, Bd. 1, hrsg. v. Paul Gereke (Altdeutsche Textbibliothek 19), Halle a. d. S. 1925. 29 Vgl. Herma Kliege-Biller, ... und ez in tiusch getihte bringe von latîne. Studien zum Silvester Konrads von Würzburg auf der Basis der Actus Silvestri, Münster 2000, S. 266f., sowie Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation (Wissensliteratur im Mittelalter 20), Wiesbaden 1995, S. 162.



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bzw. ihrer Vertreter stellt.30 Wenn Konstantin für diesen Wandel vom Anti-Hiob zum Anti-Abraham von den Aposteln Petrus und Paulus mit der Heilung seiner Krankheit belohnt wird, zeigt sich auch hier die Popularität von Hiobs Verhaltensmuster sowie die überwiegend negative Bewertung Abrahams als Vorbild.31 Eine Kombination aus dem Verhalten des Dieterich und des Kaisers Konstantin bietet die Titelfigur eines Textes, der Konrad bekannt gewesen sein dürfte, nämlich der ‚Arme Heinrich‘ Hartmanns von Aue.32 Wie Dieterich weist auch Heinrich die Möglichkeit seiner Heilung, die die Meierstochter als Sprachrohr Gottes offenbart,33 zunächst weit von sich und verwendet dabei genau die Argumentation, mit der Gott auf das Isaaksopfer verzichtet: dû hâst mich des wol innen brâht,  möhtetû, dû hülfest mir.  des genüeget mich von dir.  ich erkenne dînen süezen muot,  dîn wille ist reine unde guot,  ich ensol ouch niht mê an dich gern. (vv. 934–939)

Später jedoch stimmt er wie Konstantin der Blutheilung zu, um dem Kaiser des ‚Silvester‘ schließlich auch im letztendlichen Verzicht zu folgen und dafür ebenfalls mit der Heilung belohnt zu werden.34 Im Gegensatz zu Konstantin jedoch wird er – und dies noch weit ausführlicher als im Fall des Dieterich – explizit mit der Hiobfigur in Verbindung gebracht. Zu Beginn der Krankheit stellt der Erzähler erhebliche Unterschiede zwischen Heinrich und dem biblischen Vorbild fest: dô schiet in sîn bitter leit  von Jôbes geduldikeit.  wan ez leit Jôb der guote  mit geduldigem muote,  do ez im ze lîdene geschach,  durch der sêle gemach 

30 Indem Konrad als Urheber des Befehls zur Tötung der Kinder von dem kapitôliô  | die meister (vv. 904f.) benennt, rückt er den Gott des Alten Testaments und seinen Befehl an Abraham in eine wenig schmeichelhafte Nähe zu den heidnischen Göttern. 31 Zum Verzicht Konstantins vgl. Ruh (Anm. 11), S. 318, und Ulrich Wyss, Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik (Erlanger Studien 1), Erlangen 1973, S. 251. 32 Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, hrsg. v. Hermann Paul, neu bearb. v. Kurt Gärtner, 17. Aufl. Tübingen 2001. 33 Vgl. Timothy R. Jackson, The Legends of Konrad von Würzburg. Form, Content, Function (Erlanger Studien 45), Erlangen 1983, S. 38f.; Theodor Verweyen, Der Arme Heinrich Hartmanns von Aue. Studien und Interpretation, München 1970, S. 54f., und Hartmut Freytag, Ständisches, Theologisches, Poetologisches. Zu Hartmanns Konzeption des Armen Heinrich, in: Euphorion 81 (1987), S. 240–261, hier S. 252. 34 Zu dieser Entwicklung vgl. auch David Duckworth, Heinrich’s zwîvel in Hartmann’s Poem, in: Mediaevistik 11 (1998), S. 11–31.





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den siechtuom und die swachheit die er von der werlte leit,  des lobete er got und vreute sich.  do entete der arme Heinrich  leider niender alsô;  er was trûric und unvrô. (vv. 137–148)

Während Heinrich also zu Beginn am Maßstab des „gottgefälligen Dulders“35 Hiob gemessen (und für zu leicht befunden) wird,36 wächst er zunächst durch seinen vorläufigen und dann endgültig durch seinen finalen Verzicht auf das Opfer in die (vom Erzähler übergestülpte) Rolle hinein.37 Erstaunlicherweise jedoch wendet der Erzähler dieses Muster auch auf die Meierstochter an, obgleich diese anders als Heinrich keineswegs auf ihren Opfertod verzichten will, von dem sie sich ihrerseits Erlösung aus dem irdischen Jammertal verspricht:38 do erkande ir triuwe und ir nôt  cordis speculâtor,  vor dem deheines herzen tor  vürnames niht beslozzen ist  sît er durch sînen süezen list  an in beiden des geruochte,  daz er si versuochte  rehte alsô volleclîchen  sam Jôben den rîchen.  do er in des siechen hant  bärmde und triuwe vant  und ouch die vil reine maget  an triuwen vant sô unverzaget  daz si benamen ir leben  in gotes güete wolde geben,  dô erzeicte der heilic Krist  wie liep im triuwe und bärmde ist  und schiet si dô beide  von allem ir leide  und machete in dâ zestunt  reine unde wol gesunt. (vv. 1353–1370)

35 Verweyen (Anm. 33), S. 22. 36 Vgl. neben Verweyen (Anm. 33), S. 22f., auch Datz (Anm. 26), S. 217, und Joachim Theisen, Typo­ logie und Individualität. Zur Rezeption des Buches Ijob im Armen Heinrich Hartmanns von Aue, in: Heidrun Colberg u. Doris Petersen (Hgg.), Spuren. Festschrift für Theo Schumacher (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 184), Stuttgart 1986, S. 81–106. 37 Vgl. dazu v.  a. Datz (Anm.  26), S.  231f.; Theisen (Anm.  36), S.  96f., und Dahlgrün (Anm.  26), S. 147. 38 Vgl. zu diesem Widerspruch auch Walter Ohly, Die heilsgeschichtliche Struktur der Epen Hartmanns von Aue, Diss. Berlin 1958, S. 53; Ruh (Anm. 11), S. 328, und Hans-Werner Eroms, Vreude bei Hartmann von Aue (Medium Aevum 20), München 1970, S. 120, Anm. 17.



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Der Vergleich der Meierstochter mit Hiob erscheint angesichts der Tatsache, dass diese der Versuchung eines Quasi-Selbstmordes in Reaktion auf das menschliche Elend – und damit einer Auflehnung gegen Gottes Gebot, die in Hiobs Verhalten keinerlei Entsprechung hat – nicht aus eigener Entscheidung widerstanden hat, sehr oberflächlich;39 zudem beziehen sich die Eigenschaften der bärmde und triuwe, für die Heinrich und die Meierstochter angeblich belohnt werden, auf den jeweils anderen, während Hiob allein nach seinem Verhalten Gott gegenüber beurteilt wird.40 Während Heinrich durch seine Krankheit und seine allmähliche Akzeptanz derselben deutliche Parallelen zu Hiob aufweist, ist die (nach Aussage des Erzählers erfolgreich bestandene) Versuchung der Meierstochter offensichtlich eher in der Bereitschaft zur Ausführung des in ihrer Vision offenbarten, unverständlich erscheinenden göttlichen Befehls zu sehen – anders als Heinrich folgt sie nicht dem Vorbild Hiobs, sondern dem Abrahams.41 Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn Heinrich sie schließlich mit Gewalt an der Durchführung des Opfers hindern muss und damit die Rolle des Engels einnimmt, der Abraham am Ende in den Arm fällt.42 So können letztlich beide Figuren mit Recht vom Erzähler gelobt und von Gott belohnt werden: Heinrich verfehlt wie Dieterich das Vorbild Abraham, indem er sich Gott gegenüber als ungehorsam erweist; möglich wird dieser – von beiden Figuren

39 Vgl. dazu auch Martin H. Jones, Changing Perspectives on the Maiden in Der arme Heinrich, in: Timothy McFarland u. Silvia Ranawake, Hartmann von Aue. Changing Perspectives. London Hartmann Symposium 1985 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 486), Göppingen 1988, S. 211–231, hier S. 229, Anm. 31. 40 Schon Christoph Cormeau, Hartmanns von Aue Armer Heinrich und Gregorius. Studien zur Interpretation mit dem Blick auf die Theologie zur Zeit Hartmanns (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 15), München 1966, stellt angesichts der „Überhebung gegen Gott in der Verfügung über fremdes Leben“ (S. 136), deren Heinrich sich schuldig macht, mit Recht fest: „Mit dem Typus des geduldigen Job hat Hartmann eine andere Sinnmöglichkeit ganz ­außerhalb des Schuld-Strafe-Zusammenhangs angedeutet“ (S. 130). 41 So auch Hendricus Sparnaay, Hartmann von Aue. Studien zu einer Biographie, Bd. 2, Halle a. d. S. 1938, S. 10 (allerdings ohne explizite Nennung des Isaaksopfers); Eva-Maria Carne, Die Frauengestalten bei Hartmann von Aue. Ihre Bedeutung im Aufbau und Gehalt der Epen (Marburger Beiträge zur Germanistik 31), Marburg 1970, S. 118f.; Jones (Anm. 38), S. 222, und David Duckworth, The Leper and the Maiden in Hartmann’s Der arme Heinrich (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 627), Göppingen 1996, S. 102f. Wenn Peter Wapnewski, Poor Henry – Poor Job. A Contribution to the Discussion of Hartmann’s von Aue so-called Conversion to an Anti-Courtly Attitude, in: Harald Scholler (Hg.), The Epic in Medieval Society. Aesthetic and Moral Values, Tübingen 1977, S. 214–225, hier S. 218f., und Brian Murdoch, Hartmann’s Legends and the Bible, in: Francis G. Gentry (Hg.), A Companion to the Works of Hartmann von Aue, Rochester, Woodbridge 2004, S. 141–159, hier S. 146–149, die Selbstopferung der Meierstochter mit der Erlösungstat Christi in Verbindung bringen, spricht dies ebenfalls für eine Parallelisierung mit dem typologisch auf den Kreuzestod verweisenden Isaaksopfer. 42 Vgl. dazu neben Peter Wapnewski, Hartmann von Aue (Sammlung Metzler 17), 2. Aufl. Stuttgart 1964, S. 96f., auch Andrea Fiddy, The Presentation of the Female Characters in Hartmann’s Gregorius and Der arme Heinrich (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 715), Göppingen 2004, S. 163.





Abraham und Hiob als Kontrastfiguren in der mittelhochdeutschen Literatur 

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nicht als solcher wahrgenommene – Ungehorsam nur dadurch, dass sie die Parallelen zwischen der eigenen Situation und der Abrahams konsequent übersehen und stattdessen dem Verhaltensmuster Hiobs folgen, zu dem beide sich auch explizit bekennen. Engelhard und die Meierstochter dagegen entscheiden sich zwar für die Verhaltensweise Abrahams und kommen diesem auch in der Konsequenz gleich, mit der sie die Ausführung des scheinbar unverständlichen göttlichen Befehls betreiben; anders als bei Heinrich und Dieterich fehlt bei ihnen jedoch das explizite Bekenntnis zu ihrem biblischen Vorbild. Dass Hartmann und Konrad ihre Figuren, die Meierstochter und Engelhard, nicht mit Abraham verglichen sehen wollen, zeigt sich auch darin, dass sie deren Bereitschaft zum Kindsmord und (versuchten) Selbstmord doppelt begründen: Während Abraham als Erklärung für sein Handeln lediglich seinen gehôrsam Gott gegenüber anführen kann, ergänzt Hartmann dies im Fall der Meiers­tochter durch deren Loyalität zu ihrem Lehnsherrn, während Konrad Engelhard in erster Linie aus Freundestreue handeln lässt. Es sind nicht zuletzt diese zusätzlichen Motivationen, die Hartmanns und Konrads Figuren – gerade auch für den mittel­alterlichen Leser – zu geeigneteren Identifikationsangeboten machen als den geradezu dämonischen Abraham, der den (religiösen) Gehorsam ins Übermenschliche steigert.



Axel Harlos (Marburg)

Abraham: Referenz und Autorität für die mittelalterliche irische Identitätsfindung im ‚Lebor Gabála Érenn‘1 Abstract: Wie auch andere Volksgruppen Europas wurden die Bewohner Irlands als Folge der Christianisierung ihres Landes mit dem Problem konfrontiert, ihre eigenen Ursprungslegenden sowie die Besiedlungsgeschichte ihres Landes mit den chronologischen Vorgaben der Bibel in Einklang bringen zu müssen. Der Kanon für eine solche pseudohistorische Gesamtdarstellung findet sich in dem mittelalterlichen irischen Werk ‚Lebor Gabála Érenn‘ (‚Das Buch der Eroberungen Irlands‘). Dieses Werk nennt verschiedene Gruppen von Siedlern, die zu unterschiedlichen Zeiten nach Irland kommen. Der Rahmen für diese Textkompilation stammt aus den gelehrten Schriften der griechisch-römischen Historiographie und Bibelexegese. Verschiedene biblische Begebenheiten und Personen werden hierbei genutzt, um die irische Geschichte mit diesen Autoritäten zu synchronisieren. Diese Angleichung von ‚Lebor Gabála Érenn‘ mit dem christlichen Geschichtsverständnis verläuft jedoch nicht widerspruchslos, und verschiedene Methoden der Optimierung scheinen in der Entwicklung des textlichen Kanons aufeinandergetroffen zu sein. Ein wichtiger historischer Fixpunkt für die Synchronisation der irischen pseudohistorischen Geschichtsschreibung mit der christlichen Weltgeschichte sind die Lebensdaten Abrahams. In dem folgenden Aufsatz soll nun anhand der Verwendung Abrahams als zeitliche Referenz verdeutlicht werden, wie die irischen Gelehrten versuchten, sich mittels der lateinischen Vorbilder des europäischen Kontinents in ein internationales Verständnis der Weltgeschichte zu integrieren.

Hier beginnt die Eroberung Partholóns. Irland war nun seit der Sintflut 111 Jahre unbewohnt (oder es waren 1002 Jahre, wie andere sagen), bis Partholón es erreichte. (Und dieses ist richtiger, da Abraham 60 Jahre vollendet hatte, als Partholón es erreichte.)2

1 Ich möchte an dieser Stelle Prof. Erich Poppe für seine hilfreichen Kommentare und Berichtigungen bei der Bearbeitung dieses Artikels danken. Die in dem Text verbleibenden Fehler sind natürlich meine. 2 Lebor Gabála Érenn. The Book of the Taking of Ireland, Bd. 1–5, hrsg. v. Robert A. S. Macalister (The Irish Texts Society 34, 35, 39, 41, 44), Dublin 1938–1956, Bd. 3, § 208, S. 2f.: Gabāil Parrtholōin so. Ba fās trā Ēriu īar ndīlind fri rē ōen bliadna dēc ar trī cētaib bliadan, no comdiss dā bliadain ar mīle amail atberat araile, conostoracht Partholōn, 7 is fīriu son. Dāig is sesca bliadan ba slān do Abrām in tan rogab Parthalōn Ērinn. Die Übersetzung ist hier und bei den übrigen Zitaten aus ‚LGÉ‘ meine­ eigene. Die Klammern markieren die von Macalister als Glossierungen gekennzeichneten Textstellen, s. ebd., Bd. 1, S. viii.



Referenz und Autorität für die mittelalterliche irische Identitätsfindung 

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Mittels dieser Worte wird im mittelalterlichen irischen ‚Lebor Gabála Érenn‘ (‚LGÉ‘), dem ‚Buch der Eroberungen3 Irlands‘, die Ankunft Partholóns in Irland datiert und gleichzeitig mit der christlichen Weltgeschichte synchronisiert. Der Text von ‚LGÉ‘ nennt mehrere Siedlungsgruppen, die Irland zu verschiedenen Zeiten er­reichen. Allerdings wird insbesondere bei der Ankunft Partholóns ein erheblicher Aufwand betrieben, um dieses Ereignis mit den Lebensdaten Abrahams abzugleichen. Im Folgenden werden zunächst einige Hintergrundinformationen zu ‚LGÉ‘ ge­geben. Anschließend werden verschiedene Synchronisierungsschemata vorgestellt, die in ‚LGÉ‘ verwendet werden, um Partholóns Besiedlungsgeschichte und das Leben Abrahams zu verbinden. Hierdurch soll herausgestellt werden, dass es durch die Orientierung an Abraham möglich geworden ist, eine relative zeitliche Chronologie zu erstellen, anhand derer die Iren sich in die christliche Weltgeschichte einordnen können und somit auch imstande sind, sich eine eigene Identität innerhalb des christlichen Geschichtsverständnisses zu schaffen. Darüber hinaus werden verschiedene Datierungsvarianten für die Ankunft Partholóns in ‚LGÉ‘ dargestellt, wodurch die Relevanz eines plausiblen Abgleichs der pseudohistorischen Ereignisse in ‚LGÉ‘ mit Abraham für das mittelalterliche irische Herkunftsverständnis herausgestellt werden soll. ‚LGÉ‘ fasst verschiedene Traditionen über die Besiedlung Irlands zu einem Gesamtwerk zusammen und versucht, diese unterschiedlichen Traditionen in Einklang zu bringen.4 Die Transmissionsgeschichte von ‚LGÉ‘ ist jedoch komplex und wird

3 Bei dem Wort gabála handelt es sich um ein Verbalnomen im Genitiv Singular von Nominativ Singular gabál (nehmen, in Besitz nehmen, ergreifen) siehe gabál in: Dictionary of the Irish language. Based mainly on Old and Middle Irish materials. Compact Edition, hrsg. v. Ernest G. Quin, Dublin 1983, ND Dublin 2007, S. 351. Da von mehreren Gruppen gesprochen wird, die nach Irland kommen, wird der Titel für gewöhnlich im Plural übersetzt. Ich richte mich hier nach der am häufigsten gebrauchten Übersetzung des Titels ins Deutsche. Siehe z. B. Hildegard L. C. Tristram, Sex aetates mundi. Die Weltzeitalter bei den Angelsachsen und den Iren, Untersuchungen und Texte (Anglistische Forschungen 165), Heidelberg 1985, S. 207–278, hier S. 271, und Dáibhí Ó Cróinín, Lebor Gabála Érenn, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5 (1991), Sp. 1782. 4 Für eine Übersicht über die Texttradition von ‚LGÉ‘ siehe Richard M. Scowcroft, Leabhar ­Gabhála. Part I: The Growth of the Text, in: Ériu 38 (1987), S. 79–140; ders., Leabhar Gabhála. Part II: The Growth of the Tradition, in: Ériu 39 (1988), S. 1–66; ders., Medieval recensions of the Lebor Gabála, in: John Carey (Hg.), Lebor Gabála Érenn. Textual History and Pseudohistory (Irish Texts Society. Subsidiary Series 20), London 2009, S. 1–20; John Carey, A New Introduction to Lebor Gabála Érenn. The Book of the Taking of Ireland, hrsg. u. übers. v. Robert A. Stewart Macalis­ ter (Irish Texts Society; Subsidiary Series 1), London 1993; John Carey, The Irish National Originlegend. Synthetic Pseudohistory (Quiggin Pamphlets on the Sources of Mediaeval Gaelic History 1), Cambridge 1994; ders., Lebor Gabála and the Legendary History of Ireland, in: Helen Fulton (Hg.), Medieval Celtic Literature and Society, Dublin 2005, S. 32–48. Für eine Kurzübersicht siehe John Carey, Lebor Gabála Érenn, in: Celtic culture. A Historical Encyclopedia, Bd. 3 (2006), S. 1123–1125; Ó Cróinín (Anm. 3).



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 Axel Harlos

zusätzlich dadurch verkompliziert, dass es sich bei einigen Siedlungsgeschichten möglicherweise um reine Doppelungen handelt.5 John Carey charakterisiert das Werk wie folgt: Bringing together a heterogeneous body of legends and speculations regarding the ancient history of the country and the origins of the people, and fitting them into a single comprehensive framework, Lebor Gabála provided a narrative extending from the creation of the world to the coming of Christianity, and beyond – a national myth which sought to put Ireland on the same footing as Israel and Rome.6 (Durch die Zusammenführung eines heterogenen Korpus von Legenden und Spekulationen bezüglich der Geschichte des Landes und der Herkunft des Volks sowie deren Eingliederung in ein einziges, umfassendes Gerüst liefert ‚Lebor Gabála‘ eine Erzählung, die von der Schöpfung der Welt bis zur Entstehung des Christentums und darüber hinaus reicht – ein nationaler Mythos, der versucht, Irland auf das selbe Fundament wie Israel und Rom zu stellen.)

Richard Scowcroft vermutet, dass alle überlieferten Versionen von ‚LGÉ‘ auf einen gemeinsamen Kerntext des 9. Jh. zurückgehen.7 Der überlieferte Text von ‚LGÉ‘ lässt sich in verschiedene Rezensionen unterteilen: Rezension I8 wurde im letzten Viertel des 11. Jh. geschrieben. Rezension II wurde zeitlich früher, in der Mitte des 11. Jh. kompiliert. Nachdem beide Rezensionen im Laufe ihrer Tradierung immer wieder erweitert und ergänzt wurden, führte man die beiden Texttraditionen schließlich zur Rezension III zusammen. Als Anhang zur Rezension II findet sich zudem ein kurzer, der Rezension I sehr ähnlicher Text, genannt ‚Míniugud‘ (Erklärung oder Abkürzung).9 Diese drei Textvarianten wie auch der ‚Míniugud‘-Text wurden von Stewart Macalister (1870–1950) im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in fünf Bänden ediert, übersetzt und kommentiert.10

5 Zu den Überschneidungen und Wiederholungen bestimmter Siedlungsgruppen und Motiven in ‚LGÉ‘ siehe Scowcroft, Leabhar II (Anm. 4), S. 53–64. 6 Carey, Irish (Anm. 4), S. 1. 7 Scowcroft, Medieval Recensions (Anm. 4), S. 7. 8 Scowcroft nennt die Textversionen nicht Rezension I–III, sondern Rezension a–c. Zur Eindeutigkeit beim Verweis auf Macalisters’ Editionen wurde in diesem Artikel die Nummerierung I–III benutzt, auch wenn Macalister selber die Rezensionen „Redactions“ nennt. 9 Für eine ausführliche Besprechung der Textevolution siehe Scowcroft, Medieval Recensions (Anm. 4), S. 5–8, 10f., 16f.; Scowcroft, Leabhar I (Anm. 4), bes. S. 83–102. Für eine Kurzübersicht siehe Scowcroft, Leabhar II (Anm. 4), S. 2, und Carey, Irish (Anm. 4), S. 22f. Es gibt allerdings auch abweichende Meinungen zur Transmissionsgeschichte von ‚LGÉ‘. Carey vermutet, dass ‚LGÉ‘ auf der Grundlage von Gedichten, die sich mit der Geschichte Irlands befassen, im 11. Jh. zusammengestellt wurde, siehe Carey, New Introduction (Anm. 4), S. 1. Die Meinungen über das Zusammenspiel zwischen Prosatext und den in ‚LGÉ‘ enthaltenen Gedichten geht zudem in einigen Fällen auseinander. Siehe hierzu Peter J. Smith, Three Historical Poems Ascribed to Gilla Cóemáin. A Critical Edition of the Work of an Eleventh-century Irish Scholar (Studien und Texte zur Keltologie 8), Münster 2007, S. 23f. 10 ‚Lebor Gabála‘ (Anm. 2). Die Beliebtheit des Stoffs und die damit verbundene Vielzahl an über­ lieferten Handschriften sowie anderweitige Aufgabenfelder des Herausgebers machten die Bearbei-





Referenz und Autorität für die mittelalterliche irische Identitätsfindung 

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Der mittelalterliche Text von ‚LGÉ‘ ist einer historiographischen Textgattung zuzuordnen, die durch die sich ändernden politischen sowie sozialen und kulturellen Strukturen der Spätantike und des frühen Mittelalters in vielen Gebieten Europas an Popularität gewann. Die im Folgenden zitierte Beschreibung von Arne S. Christensen soll einer Charakterisierung dieses Phänomens dienen: Late Antiquity saw the birth of new genres. Christianity had spread across the Empire, and Christians wanted a description of the past that did not reflect pagan views. At the same time, a new opportunity presented itself for writing an actual history of the world, since it became possible to draw on the account provided in the Bible.11 (In der Spätantike wurden neue Genres geboren. Das Christentum hatte sich über Europa verbreitet und Christen verlangten nach einer Beschreibung der Vergangenheit, die keine heidnischen Ansichten widerspiegelte. Zur gleichen Zeit ergab sich die Gelegenheit, eine tatsächliche Geschichte der Welt zu verfassen, da es möglich geworden war, sich auf die Angaben, die die Bibel bereitstellt, zu beziehen.)

Wie auch in anderen Regionen Europas sah man sich in Irland mit dem Problem konfrontiert, die eigenen Konzeptionen der Vergangenheit mit den Geschichtsreferenzen der Bibel in Einklang bringen zu müssen. Man war hier natürlich nicht ohne Vorbilder und konnte sich an Gelehrten wie etwa Eusebius, Augustin, Orosius, Cassiodor, Fredegar, Gregor v. Tours und insbesondere Isidor v. Sevilla und Beda orientieren.12 Der früheste Prosatext, der einen Hinweis auf die Besiedlungsgeschichte Irlands gibt, wie wir sie in ‚LGÉ‘ vorliegen haben, findet sich jedoch nicht in einer irischen sondern in einer britischen Quelle, der ‚Historia Brittonum‘ aus dem 9. Jahrhundert.13 Auch dort liegt eine Beschreibung der Ankunft Partholóns, hier Partholomus genannt, vor:

tung des Texts zu einem komplizierten und langwierigen Unterfangen. Auch als Folge dieser Um­ stände wird den von Macalister herausgegebenen Publikationen sowohl von zeitgenössischen als auch von heutigen Wissenschaftlern in philologischer wie auch editorischer Hinsicht viel Kritik entgegengebracht. Für eine Zusammenfassung der Umstände und der Entwicklung des Publikationsverlaufs siehe Carey, New Introduction (Anm. 4), S. 9–17; für Kritik an den Publikationen siehe u. a. Paul Walsh, Lebor Gabála Érenn. The Book of the Taking of Ireland by R. A. Stewart Macalister, in: Irish Historical Studies 2/6 (1940), S. 88–91; ders., Lebor Gabála Érenn. The Book of the Taking of Ireland by R. A. Stewart Macalister, in: Irish Historical Studies 2, 7 (1941), S. 330–333, und Daniel A. Binchy, Lebor Gabála Érenn. The Book of the Taking of Ireland, ed. R. A. Stewart Macalister, in: Celtica 2 (1952), S. 195–209. Für eine kritische Betrachtung der editorischen Arbeitsweise siehe Scowcroft, Leabhar I (Anm. 4), S. 82f. 11 Arne S. Christensen, Cassiodorus, Jordanes and the History of the Goths. Studies in a Migration Myth, Kopenhagen 2002, S. 4f. 12 Carey, Irish (Anm. 4), S. 4f. 13 Für die Datierung der ‚Historia Brittonum‘ siehe David N. Dumville, Some Aspects of the Chronology of the Historia Brittonum, in: The Bulletin of the Board of Celtic Studies 25 (1974), S. 439–445. Für eine Diskussion der Autorenschaft siehe ders., ‚Nennius‘ and the Historia Brittonum, in: Studia Celtica 10/11 (1975/1976), S. 78–95. Für eine weitläufigere Beschreibung des Texts siehe David N. Dum-



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 Axel Harlos

Primus autem venit Partholomus cum mille hominibus de viris et mulieribus et creverunt usque ad quattuor milia hominum et venit mortalitas super eos et in una septimana omnes perierunt et non remansit ex illis etiam unus.14 (Der Erste, der kam, war Partholomus, zusammen mit tausend Männern und Frauen und sie vermehrten sich, bis sie 4000 waren, und eine Krankheit kam plötzlich über sie und alle starben innerhalb einer Woche.)15

Weder ein Bezug auf Abraham noch eine anderweitige absolute Datierung wird in der ‚Historia Brittonum‘ mit der Ankunft Partholóns verknüpft. Dennoch findet eine zeitliche Einordnung in Form einer relativen Datierung statt, indem berichtet wird, dass Partholomus die erste Person ist, die in Irland siedelt. Bei einem Vergleich mit der Rezension I von ‚LGÉ‘ fällt auf, dass die Ankunft Partholóns nun sowohl mit einer relativen wie auch einer absoluten Datierung versehen ist: Irland war nun (anschließend) für den Zeitraum von 300 Jahren unbewohnt (oder 312 Jahre, quod verius est), bis Partholón, Sohn von Sera, Sohn von Sru, es erreichte. Er ist der Erste, der es nach der Sintflut eroberte, an einem Dienstag, am 14. des Mondes, [...] im 60. Jahr des Zeitalters Abrahams eroberte Partholón Irland.16

Neben dem Ort und dem genauen Tag der Ankunft wird hier auch berichtet, dass Partholón ein Nachfahre Magogs, des Sohns Jafets, ist. Letzterer ist wiederum ein Sohn Noahs,17 wodurch Partholón einen festen Platz in der Nachkommenschaft Noahs zugewiesen wird. Es findet sich in dieser Textstelle neben einer relativen Datierung nun auch eine absolute Datierung von Partholóns Ankunft in Irland, die ebenso wie seine genealogische Abstammung auf der Bibel beruht: Er ist der Erste, der nach der Sintflut nach Irland kommt, und Irland ist nach der Sintflut 300 bzw. 312 Jahre unbewohnt. Die 312 Jahre stammen aus einer Version der Rezension I, die im ‚Book of Leinster‘, einem Manuskript aus dem Ende des 12. Jh., überliefert ist.18 Des Weiteren wird seine Ankunft schließlich auf das 60. Jahr von Abrahams Zeitalter datiert.

ville, Historia Brittonum. An Insular History from the Carolingian Age, in: Anton Scharer u. Georg Scheibelreiter (Hgg.), Historiographie im frühen Mittelalter (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32), Wien 1994, S. 406–434. 14 Historia Brittonum cum additamentis Nennii, in: Chronica minora saec. IV. V. VI. VII, Bd. 3, hrsg. v. Theodor Mommsen (Monumenta Germaniae Historica. Auctorum Antiquissimorum 13), Berlin 1898, S. 111–222, hier S. 154. 15 Die Übersetzung ist meine eigene. 16 ‚Lebor Gabála 2‘ (Anm. 2), S. 268, § 199: Ba fās trā Hēriu īarsain fri rē trī chēt mbliadan no dā dēcc ar trī cētaib, quod verius est conostoracht Partholōn mac Sera meic Srū. Is ē cēta rogab Hērinn īar ndīlinn, Dia Mairt, for ceithre dēcc ēsca, [...] isin tsescatmad bliadain āisi Abrāim roghab Partholōn Hērinn. 17 Biblia sacra iuxta vulgatam Clementinam, hrsg. v. Alberto Colunga u. Laurentio Turrado, Madrid 1965, Gen. 10,1f. 18 Zur Datierung des ‚Book of Leinster‘ siehe Dagmar Schlüter, History or Fable? The Book of ­Leinster as a Document of Cultural Memory in Twelfth-Century Ireland (Studien und Texte zur Keltologie 9), Münster 2010, S. 24–27.





Referenz und Autorität für die mittelalterliche irische Identitätsfindung 

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Partholón entspricht keiner mittelalterlichen irischen Namensform19 und die Bedeutung des Namens wird in der Forschungsliteratur unterschiedlich gedeutet. Es scheint aber, dass Isidor v. Sevillas einflussreiche etymologische Ausführungen eine wichtige Rolle bei der Konzeptualisierung des Namens gespielt haben. Kuno Meyer stellt in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts fest, dass der Name Bartholomäus andernorts mit dem Namen Partholón ins Irische übersetzt wird und dass Bartholomäus gemäß Isidor v. Sevillas Erklärung des Namens als filius suspendentis aquas [...]. Syrum est, non Hebraeum20 ein durchaus passender Name für den ersten Einwanderer in Irland nach der Sintflut ist.21 Eventuell konnte so auch Partholóns Namensgebung die Fixierung seiner relativen Positionierung unter den Einwanderern Irlands zusätzlich unterstützen. Rezension III von ‚LGÉ‘ basiert im Textabschnitt der Invasion Partholóns auf Rezension II22 und Macalister fasst in seiner Edition an dieser Stelle beide Rezen­ sionen zu einem Text zusammen. Die Rezension II/III ist bei der zeitlichen Einordnung der Ankunft Partholóns wesentlich differenzierter als Rezension I: Hier beginnt die Eroberung Partholóns. Irland war nun seit der Sintflut 111 Jahre unbewohnt (oder es waren 1002 Jahre, wie andere sagen), bis Partholón es erreichte. (Und dieses ist richtiger, da Abraham 60 Jahre vollendet hatte, als Partholón es erreichte: Es waren 942 Jahre von Abraham zurück bis zur Sintflut, 60 Jahre mit den 40 ergeben 100. Die 100 mit den 900 ergeben

19 Das indogermanische *p geht bereits im Proto-Keltischen verloren. In einigen späteren Dialekten des Keltischen entwickelt sich das keltische *kw zu p. Das Irische gehört jedoch zu dem goidelischen Sprachzweig der keltischen Sprachfamilie, der von dieser Innovation vorerst unberührt bleibt. Das Phonem /p/ wird erst später durch lateinische Lehnwörter vom irischen Lautsystem adaptiert. Siehe hierzu z. B. Paul Russell, An Introduction to the Celtic Languages (Longman Linguistics Library), London, New York 1995, S. 11f. 20 Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, Bd. 1, hrsg. v. Wallace M. Lindsay, Oxford 1911, ND 1985, VII ix, 16. 21 Kuno Meyer, Partholón mac Sera, in: Zeitschrift für Celtische Philologie 13 (1919–1921), S. 141f. Rudolph Thurneysen wie zunächst auch Anton Van Hamel sehen den Ursprung der Namensgebung ebenso in Isidors Schriften. Im Gegensatz zu Meyer vermuten sie aber, dass es Isidors Erläuterung des Namens der Parther und Partholóns Beschreibung als ein exul aus Scythia seien, die für die Namensform Partholón sorgten. Siehe hierzu Isidor (Anm. 20), 9. 2, 44; Anton G. Van Hamel, On Lebor Ga­ bála, in: Zeitschrift für Celtische Philologie 10 (1914/1915), S. 97–197, hier S. 181; Rudolph Thurneysen, Partholón, in: Zeitschrift für Celtische Philologie 20 (1936), S. 375–381, hier S. 380f. Weitere Theorien besagen beispielsweise, dass der Name auf eine Stammesbezeichnung zurückgehen könnte, siehe hierzu John MacNeill, An Irish Historical Tract Dated A. D. 721, in: Proceedings of the Royal Irish Academy. Section C: Archaeology, Celtic Studies, History, Linguistics, Literature 28 (1910), S. 123–148, hier S. 145f., oder dass der Name Partholón ursprünglich einem Korn-Dämon oder einer alten Gottheit zugeordnet werden müsse, siehe Anton G. Van Hamel, Partholon, in: Revue Celtique 50 (1933), S. 217– 237. Die beiden letzteren Theorien werden jeweils von Meyer und Thurneysen zurückgewiesen. 22 Scowcroft, Leabhar I (Anm. 4), S. 106.



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1000, und 2 Jahre dazu, sodass es 1002 Jahre von der Sintflut bis zur Ankunft Partholóns in Irland sind.)23

Die Zeitperiode, die Irland nach der Sintflut unbewohnt ist, wird hier mit entweder 311 Jahren oder 1002 Jahren angegeben (in der Rezension I sind es 300 oder 312 Jahre). Die Zeitspanne von 311 Jahren ist an zwei weiteren Textstellen von ‚LGÉ‘ belegt. Zum einen in einer vorangehenden Textpassage, in der eine Übersicht über die Besiedlungsepochen Irlands gegeben wird,24 zum anderen in dem in ‚LGÉ‘ enthaltenen Gedicht ‚Hériu ard, inis na rríg‘ (‚Erhabenes Irland, Insel der Könige‘)25 von Gilla Cóemáin (fl. 1072).26 Die in der Rezension II/III genannte Zeitperiode von 1002 Jahren wird zusätzlich durch eine auf den ersten Blick eher verkomplizierende Rechnung ergänzt, die die korrekte Anzahl von Jahren zwischen Sintflut und Partholóns Ankunft verifizieren soll. Was letztendlich vorgerechnet wird, ist eine Addition der 60 Jahre, die Abraham bei Partholóns Ankunft in Irland alt gewesen sein soll und der 942 Jahre, die für die Zeitspanne zwischen der Sintflut und Abrahams Geburt angenommen werden. Die Zahl 942 wird hierbei in ihre Einer-, Zehner-, und Hunderterstellen zerlegt und zu der Zahl 60 hinzuaddiert. Es handelt sich letztendlich um die Verrechnung der 942 Jahre und der 60 Jahre Abrahams, die schließlich die 1002 Jahre zwischen Sintflut und Partholóns Ankunft ergeben. Bei dieser Berechnung scheint es sich um eine Akzentuierung und wohl auch Legitimierung der 1002-jährigen Zeitspanne zwischen der Sintflut und Partholóns Ankunft in Irland zu handeln und somit auch um einen Hinweis darauf, dass zum einen auf eine stimmige Datierung von Partholóns

23 ‚Lebor Gabála 3‘ (Anm. 2), § 208, S. 2f.: Gabāil Parrtholōin so. Ba fās trā Ēriu īar ndīlind fri rē ōen bliadna dēc ar trī cētaib bliadan, no comdiss dā bliadain ar mīle amail atberat araile, conostoracht Partholōn, 7 is fīriu son. Dāig is sesca bliadan ba slān do Abrām in tan rogab Parthalōn Ērinn, .i. dā bliadain 7 cethracha 7 nōi cēt ō Abrām co dīlind sūas. Sesca bliadan ō Abrām frisin cethrachait, conidh cēt. In cēt fris na nōi cēt, conid mīle, 7 dā bliadain fair: conid dā bliadain ar mīle ō dīlinn co tiachtain Parthalōin co Hērind. 24 ‚Lebor Gabála 2‘ (Anm. 2), § 172, S. 182–185. 25 Smith (Anm. 9), S. 100f. 26 ‚Lebor Gabála 5‘ (Anm. 2), S. 486f.: Ōen bliadan dēc, data in blad, / īar ndīlinn, trī cēt bliadan, / do’n Ērinn galaig cen glōr, / conus-rogob Parthalōn. (11 Jahre, schön ist der Ruhm, / nach der Sintflut, 300 Jahre, / war das tapfere Irland ohne Geräusch, / bis Partholón es eroberte.) Richard Scowcroft geht davon aus, dass Gilla Cóemáin sich hier nach der Rezension II oder einer in diesem Punkt mit Rezen­sion II übereinstimmenden Quelle richtet und dass in der ‚Book of Leinster‘ Version der Rezension I, in der die oben genannten 312 Jahre für den Zeitraum zwischen der Sintflut und der Ankunft Partholóns postuliert werden, wiederum auf ihn Bezug genommen wird. Zu Gilla Cóemáin siehe Smith (Anm. 9), S. 27. Peter Smith verweist jedoch darauf, dass Kenneth Jackson vermutet, dass Gilla Cóemáin im Jahr 1072 verstarb, vgl. Kenneth H. Jackson, The Poem a eólcha Alban uile, in: Celtica 3 (1956), S. 149–167, hier S. 150. Smith selber kommt aber zu dem Ergebnis, dass Gilla Cóemáin dieses Gedicht in der 2. H. des 11. Jhs. verfasst hat, s. Smith (Anm. 9), S. 97. Für eine neuere Edition und Übersetzung des Gedichts siehe ebd., S. 100–161.





Referenz und Autorität für die mittelalterliche irische Identitätsfindung 

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Ankunft in Abrahams Zeitalter Wert gelegt wird und zum anderen, dass es zumindest zwei rivalisierende Daten für die Zeit zwischen der Sintflut und der ersten Besiedlung Irlands gibt. Eine Variante nennt eine Zeitspanne von 300, 311 oder 312 Jahren, die andere gibt 1002 Jahre an. Eine Grundlage für diese Variationen findet sich in den irischen ‚Sex Aetates Mundi‘,27 einer mittelalterlichen irischen Zusammenfassung des Alten Testaments, geordnet nach den sechs Weltzeitaltern, wie sie auf der Basis von Eusebius’ Abgleich der Bibel mit der säkularen Weltgeschichte unter anderem durch die Bearbeitung von Augustin, Isidor und Beda entsteht. Bedas Bearbeitung mag hierbei von besonderem Interesse sein, da dieser nicht wie seine Vorgänger die Septuaginta, sondern die Vulgata von Hieronymus als Grundlage für seine Berechnung der Weltzeitalter nimmt. Schon bei Eusebius stellt Abrahams Geburt eine zeitliche Referenz dar, anhand derer Personen und Geschehnisse zeitlich eingeordnet werden. Die Epochen der ‚Sex Aetates Mundi‘ grenzen sich ebenso durch biblische Ereignisse oder die Lebensdaten von biblischen Personen ab. Abrahams Geburt ist hierbei der Startpunkt für das dritte Weltzeitalter und Geschehnisse der säkularen Weltgeschichte werden schließlich mit dem Alter Abrahams abgeglichen.28 In der irischen Version der ‚Sex Aetates Mundi‘ finden wir, nicht untypisch für mittelalterliche irische Gelehrtentexte, zunächst Gedichte, die den folgenden Prosatext zusammenfassen. Im Fall des zweiten Weltzeitalters gehen dem Prosatext zwei Gedichte voraus. Das erste Gedicht trägt interessanterweise die Überschrift „Dies nach der Septuaginta“:29 Und über das zweite Alter – keine Schande –, / von der Flut bis Abraham, / neunhundert, lang her – es ist erlaubt –, / zwei Jahre und vierzig [= 942].30

Hier haben wir auch die Grundlage für die Berechnung der Zeitperiode mit 1002 Jahren zwischen der Sintflut und Partholóns Ankunft in Irland. Das sich unmittelbar anschließende zweite Gedicht wird mit den Worten „[d]as Folgende gibt die ‚hebräische Wahrheit‘ (Vulgata) im Unterschied zur Septuaginta (wörtlich: den siebzig Übersetzern) an“ eingeleitet.31 Die Strophe, die das zweite Weltzeitalter be-­ schreibt, lautet:

27 Der Text wurde ediert und übersetzt in: Sex aetates mundi, hrsg. v. Dáibhí Ó Cróinín, Dublin 1983, S. 64–137, und von Tristram (Anm. 3), S. 207–278. 28 Für eine Übersicht über die Entwicklung der Weltzeitalter siehe Tristram (Anm. 3), S. 19–30. 29 Ebd.: Do reir tseptín inso. 30 Ebd., S. 209, 247: Is d’aes tanaissi – ni tar –. / o dilinn co Abraham. / nói cet o chianaib – is cet –. / da bliadain is da fichet. 31 Ebd., S. 210, 248: Debni na firinni ebraide frisin .lxx ‛ait‘. tintudach inso sis. Die Erklärungen in den Klammern wurden von der Herausgeberin der Edition in ihre Übersetzung eingefügt.



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Das zweite Zeitalter dann, / von der Sintflut bis Abraham, / zweiundneunzig – klares und genaues Wort – / und zweihundert glatte und liebliche Jahre [= 292].32

Verrechnet man diese 292 Jahre mit den 60 Jahren von Abraham ergibt sich eine Zeitspanne von 352 Jahren und somit keine genaue Entsprechung der in den Quellen genannten 300/311/312 Jahre für den Zeitraum. In der sich an die Gedichte anschließenden Prosaausarbeitung der irischen ‚Sex Aetates Mundi‘ findet sich zunächst nur die Zahl 292, also die Berechnung nach der Vulgata.33 Das ‚Manuskript G. 131‘ aus dem 17. Jahrhundert beinhaltet allerdings eine abweichende Variante, die die Zeitspanne auf 942 Jahre festlegt. Folglich gibt es auch in der Prosatradition der irischen ‚Sex Aetates Mundi‘, wenn auch in einem späteren Manuskript, eine Varianz zwischen 292 und 942 Jahren für das zweite Weltzeitalter.34 Natürlich lässt sich nicht vollends ausschließen, dass das entsprechende Gedicht zu Anfang des Texts die letztere Variante beeinflusst hat. In Rezension II/III von ‚LGÉ‘ findet sich am Ende der Siedlungsepoche Partholóns eine weitere zeitliche Verortung seiner Ankunft, in der es heißt: „Nach der Ansicht anderer Historiker eroberte Partholón Irland im 7. Jahr des Zeitalters Abrahams.“35 Abraham bleibt auch hier der Fixpunkt für die Datierung von Partholóns Ankunft in Irland, und wir haben zudem eine stärkere Angleichung an die 292 Jahre nach der Vulgata-Berechnung für das zweite Weltzeitalter. An den Textabschnitt, der Partholóns Besiedlung beschreibt, schließt sich in der Rezension II sowie in einem Manuskript der Rezension III ein Traktat an, das die Begebenheiten um Partholón mit den weltlichen Herrschern des Zeitalters von Abraham, wie sie bereits bei Eusebius abgeglichen werden, synchronisiert.36 Eingeleitet wird das Traktat mit einer Übersicht über die zeitliche Einordnung von Partholóns Besiedlung: Hier beginnt der Synchronismus der Eroberung Partholóns. Die Anzahl der Jahre, die es von der Schöpfung der Welt bis zur Erkrankung des Gefolges von Partholón waren, und die Anzahl der Könige, die die Welt zu dieser Zeit beherrschten. Dieses ist nun das erste Zeitalter, von der Schöpfung der Welt bis zur Sintflut: 1656 Jahre. Das zweite Zeitalter, von der Sintflut bis zu Abraham:

32 Ebd.: Ind aimser thanaisse trán. / o dílinn co Abaram. / a do nochat – guth ṅgluair ṅgrinn – / ar da cet ṁbliadan ṁblaithbind. 33 Ebd., S. 217, 254: Ind aes tanaisi dano hit da bliadain nochat ar .cc. fil inti. (Im zweiten Alter sind 292 Jahre.) 34 Ebd., S. 217, Anm. 238, 259. 35 ‚Lebor Gabála 3‘ (Anm. 2), S. 20f., § 221: Is ī cētfaid araile sencha combad isin tsechtmad bliadain āisi Abraim rogab Partholōn Hērenn. 36 Ebd., S. 95, Kommentar zu § 227. Für einen ausführlicheren Vergleich des Traktats mit Eusebius siehe Scowcroft, Leabhar I (Anm. 4), S. 125–129.





Referenz und Autorität für die mittelalterliche irische Identitätsfindung 

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292 Jahre oder 942 Jahre war seine Länge. Und am Ende von 60 Jahren eroberte Partholón danach Irland. 550 Jahre von der Ankunft Partholóns bis zur Erkrankung seines Gefolges.37

Die Berechnung des ersten Weltzeitalters richtet sich nach der Vulgata; für das zweite Weltzeitalter werden nun beide uns bereits bekannten Varianten angegeben. Zusätzlich wird beschrieben, dass Partholóns Gefolge 550 Jahre in Irland ist, bis es von einer Epidemie ausgelöscht wird. Im Gegensatz zu der Version in der ‚Historia Brittonum‘ ist Partholón in ‚LGÉ‘ nicht der erste Siedler in Irland, da eine Person namens Cessair die Insel bereits vor der Sintflut erreicht. Es handelt sich bei Cessair um eine Tochter von Bith, einem nicht biblischen Sohn Noahs, dem ebenso wie seiner Tochter ein Platz auf der Arche verwehrt wurde. In der Hoffnung, dass die Sintflut nicht so weit nach Westen vordringt, flüchtet Cessair nach Irland. Der Plan misslingt jedoch und sie wird kurze Zeit später zusammen mit ihrem Gefolge durch die Sintflut getötet.38 In der Rezension I von ‚LGÉ‘ wird bei Cessairs Ankunft darauf verwiesen, dass sie 300 Jahre vor Partholón nach Irland kommt.39 In der Rezension II wird diese relative Datierung analog zu Partholóns Ankunft in die Weltzeitalter eingebunden und Partholóns Ankunft wird auch hier in Abrahams Zeitalter gelegt: Aber es ist in der Zeit von Adam, dass die Eroberung Cessairs vermutet wird. In dieser Zeit aber, von der Sintflut bis zu Abraham und bis zum 9. Jahr der Herrschaft Abrahams, wurde Irland nicht gefunden, bis Partholón es entdeckte.40

Hier wird jedoch vermerkt, dass Partholón im 9. Jahr des Zeitalters Abrahams nach Irland kommt, was wieder stärker an die Berechnung nach der Vulgata und den 292 Jahren für das zweite Weltzeitalter erinnert. Die Rezension III ist noch etwas ausführlicher bei der zeitlichen Einordnung: Im letzten Jahr vor der Sintflut kam Cessair nach Irland […] und keiner der Gefolgsleute der Sintflut von dieser Eroberung Cessairs überlebte, außer Fintan alleine. Von der Sintflut bis zu Abraham sind es 292 Jahre. Und dadurch wird hierfür kein Synchronismus angenommen, abgesehen davon, dass alle Kinder Noahs sich vermehrten und Fintan währenddessen alleine in

37 ‚Lebor Gabála 3‘ (Anm. 2), S. 28f., § 227: Comhaimser gabāla Parrthalōin andso siss. A līon bliadan ro baī ō thosach domain co tamlecht munntire Partholōin, 7 in līn do rīgaib rogabsat in domun frisin rē sin. Is ī trā in cētna aimsir, ō thus domain co dīlind, .i. .ui. bl. .l. ar .dc. ar mili. Ind āes tanaisdi, o dīlinn co Habram, .i. da bl. .xc. ar da .c.; no .xlii. 7 .dcccc. a fot-side. Ocus i cind. lx. bl. post rogab Partholōn Hērinn; .l. ar .d. o tiachtain Partholōin co taimlecht a munntire. 38 ‚Lebor Gabála 2‘ (Anm. 2), S. 167–229, § 166–198. 39 Ebd., S. 176f., § 166. 40 Ebd., S. 192f., § 184: Acht is do aimsir Adaim domuinter ‚in gabāil so Chessrach. lnd aimsir so imorro ō dīlinn co ‚Habrām, 7 cosin nōmaid bliadain flaithiusa Abrāim, nocho frith Hēriu conasfuair Partholōn. 

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Irland war. [...] Im 60. Jahr des Zeitalters Abrahams kam Partholón nach Irland, in dem 60. Jahr der Herrschaft Ninias, Sohn von Ninus, Sohn von Belus.41

Es ist hier wieder das 60. Jahr von Abrahams Zeitalter, in dem Partholón nach Irland kommt, und es wird berichtet, dass dieses im 6. Jahr des Herrschers Ninias, Sohn des Ninus, Sohn des Belus, geschieht. Gleichzeitig wird erläutert, dass eine Person, Fintan, sich während des Zeitalters der Sintflut in Irland befindet. Fintan war ursprünglich im Gefolge Cessairs. Er überlebt die Sintflut und auch die folgenden Besiedlungsepochen Irlands zunächst in der Gestalt eines Lachses, eines Habichts und eines Adlers, wodurch er später als Augenzeuge von den Geschehnissen berichten kann.42 Er wird ebenso wie die Zeitangabe von 300 Jahren Abstand zwischen der Sintflut und Partholóns Ankunft in Irland auch in einem weiteren in ‚LGÉ‘ enthaltenen Gedicht erwähnt,43 das Eochaid ua Flainn († 1004) zugeschrieben werden kann.44 Nachdem Partholóns Gefolge schließlich durch eine Epidemie ausgelöscht wurde, kommt ein weiterer Siedler, Nemed, mit seinem Gefolge nach Irland. In der Rezension I wird darauf hingewiesen, dass Nemed 30 Jahre nach dem Tod Partholóns in Irland erscheint.45 Es handelt sich also zunächst wieder um eine relative zeitliche Einordnung. Seine Ankunft in Irland wird in Rezension II und III genauer bestimmt: Da wir nun eindeutig von Cessair und von Partholón berichtet haben sowie ihren Synchronismen von Adam zur Sintflut und von der Sintflut bis Abraham und von Abraham bis zu Nemed, mit dem Wissen der Synchronismen von jedem König, der die Welt in dieser Zeit regierte, ziehen wir es vor, von Nemed zu erzählen, und von den Königen, die in seiner Zeit regierten.46

Es ist an dieser Stelle auffällig, wie viel Wert darauf gelegt wird, dass die vorangegangenen Besiedlungen historisch fest verankert sind, bevor man sich den Geschehnissen der nächsten Besiedlung widmet. Parallel zu dem Synchronisationstraktat

41 Ebd., S. 208f., § 198: Andsin bliadain deireanaig re ndilind ‚tanic Cesair in Erind‘ […]: ocus nir bo beo deis dileann don gobail sin Cheasrach ach Fintan na aenur. O dilind co Habram da bliadain nochat ar dib cetaib, 7 ni hairmiter comaimsearrdacht risin acht clanna Noe uile ic imdugud 7 Fintan na aenur in Erind risi sin […]. Isin seascadmad bliadain aisi Abraim tanic Parrthalon in Erinn, 7 isin sesed bliadain flaithiusa Ninias meic Nin meic Pel. 42 Bernhard Maier, Lexikon der keltischen Religion und Kultur, Stuttgart 1994, S. 128f. 43 ‚Lebor Gabála 3‘ (Anm. 2), S. 46f.: Tri chet bliadan arbāgim, / rāidim tria rīagla rīmim, / ba fās, fri fāidi fāidim, / Ēriu aibind īar ndilind. Doluid Partholōn prīmda, […]. (300 Jahre, ich gebe es an, / ich spreche durch die ­Regeln, die ich berichte, / war es unbewohnt, ich verkünde es entgegen der Wahrsager, das wundervolle Irland nach der Sintflut. Der unübertroffene Partholón kam, […]). 44 Carey, Irish (Anm. 4), S. 18 und Anm. 41. 45 ‚Lebor Gabála 3‘ (Anm. 2), S. 120f., § 237. 46 Ebd., S. 126f., § 246: Ō ro indisemar trā do Chessair 7 do Partholōn co lēir, 7 dia Comaimseradh, ō Adam co dīlinn, 7 ō dīlinn co Habrām, 7 ō Abrām co Nemed, co fis comaimseraig cach rīg ro gab in doman frisin rē sin, is ferr dūinn co ro innisim do Nemed, 7 dona rīgaib rogab ina remis. Gabail Nemid Sisana. 



Referenz und Autorität für die mittelalterliche irische Identitätsfindung 

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am Ende des Partholónabschnitts findet sich auch in Rezension II und in einem der Manuskripte der Rezension III nach dem Abschnitt, der Nemeds Besiedlungsepoche beschreibt, eine solche Abhandlung. Hier wird erneut die relative Chronologie mit der absoluten Datierung verbunden: Hier beginnt der Synchronismus der Eroberung von Nemed. 640 Jahre von der Geburt Abrahams bis zu der Ankunft Nemeds in Irland: Die 60 Jahre, die Abraham zeitgleich mit Partholón in Irland verbrachte und die 550 Jahre, die Partholón in Irland war und 30 Jahre, die Irland unbewohnt war, sodass dieses 640 Jahre von Abraham bis Nemed sind.47

Die Berechnung der Zeitspanne zwischen Abrahams Geburt und der Ankunft Nemeds wird dadurch ermöglicht, dass zuvor Partholóns Besiedlungsepoche präzise mit Abrahams Lebensdaten synchronisiert werden konnte. Das Alter Abrahams bei der Ankunft Partholóns (60 Jahre), der Zeitraum, den Partholón in Irland war (550 Jahre) und der Zeitraum zwischen dem Tod Partholóns und der Ankunft Nemeds (30 Jahre) führen so von einer relativen zu einer absoluten Datierung, in Folge derer Nemed 640 Jahre nach Abrahams Geburt nach Irland kommt. Somit ist mittels der Verknüpfung von Partholón und Abraham auch Nemeds Ankunft in Irland in die christliche Zeitrechnung der Weltzeitalter integrierbar. Mit Hilfe der Datierung seiner Ankunft nach der Sintflut kann Partholóns Besiedlung so als Referenz für weitere Begebenheiten in der Geschichte Irlands verwendet werden. Scowcroft schreibt hierzu: „Partholón is also used throughout the text the way biblical historians used Abraham, as a historical marker by which to date subsequent texts.“48 Dies wird dadurch verdeutlicht, dass sowohl die Invasion vor, als auch die Invasion nach Partholón sich in einer relativen Chronologie auf ihn beziehen. Entsprechend findet sich aber auch in der Herkunftslegende der letzten Invasoren Irlands, den Söhnen von Míl, den späteren Gälen, ein Verweis auf Partholón: [Die Söhne Míls] waren drei weitere Monate auf See und erreichten schließlich Ägypten, am Ende von 1354 Jahren nach der ersten Eroberung Irlands durch Partholón.49

John MacNeill versteht die oben erwähnten synchronistischen Traktate, die in Rezension II/III von ‚LGÉ‘ eingearbeitet sind, als Teil eines ursprünglich einheitlichen Werks, das die irische Geschichte mit der Weltgeschichte nach Eusebius abgleicht. Er merkt an, dass in diesem Traktat versucht wird, die postsintflutlichen Siedlungsepo-

47 Ebd., S. 156–159, § 272: Comaimsiradh Gabala Nemidh andso siss. Dā fichit bliadan trā 7 .dc. o gen Apraim co tiachtain Nemid in Ērinn, .i. na trī fichit ro chaith Abram fri Partholōn in Ērind, 7 in .l. ar .d. ro bāi Partholōn an Hērinn, 7 in .xxx. bliadan ro baī Ēriu fass; conid iat sin na dā fichet 7 na .dc. bliadan ō Abram co Nemed. 48 Scowcroft, Leabhar II (Anm. 4), S. 3f. 49 ‚Lebor Gabála 5‘ (Anm. 2), S. 48f., § 409: Trī mīss aile for fairrce, co riachtatar co hĒigipt fodeōid, hi cind ceithre mbliadan cōicat ar trī cēt ar mīle iar cet-gabāil Ērenn do Parrtolōn.



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chen mit den Weltreichen, wie sie aus Eusebius’ Chronik bekannt sind, zu synchronisieren. Partholóns Besiedlung würde hierbei mit dem assyrischen und Nemeds Besiedlungsepoche mit dem medischen Weltreich zusammenfallen.50 Hierdurch ergibt sich auch die grundsätzliche Tradition der 300/311/312 Jahre als Zeitraum zwischen der Sintflut und der Ankunft Partholóns. Scowcroft verweist darauf, dass in einem der synchronistischen Textabschnitte Abraham nicht im 43. Jahr nach der Machtübernahme von Ninus, dem Begründer des assyrischen Weltreichs, geboren wird, sondern im 23. Jahr und dass dies für einige Unstimmigkeiten gesorgt haben könnte.51 Weiterhin stellt er fest, dass schon MacNeill darauf hinweist, dass Geoffrey Keating in seinem frühneuzeitlichen Geschichtswerk über Irland aus dem 17. Jahrhundert ,Foras Feasa ar Éirinn‘,52 unglücklicherweise ohne Angabe seiner Quelle, schreibt, dass Partholón 22 Jahre nach der Sintflut nach Irland kommt, wodurch dieses Datum mit der Gründung des assyrischen Weltreichs übereinstimmen würde.53 Die Annahme, dass Partholón im siebten beziehungsweise neunten Jahr nach Abrahams Geburt nach Irland kommt, reflektiert sicherlich die Tradition der Weltzeitberechnung nach Beda von 292  Jahren zwischen Sintflut und Abrahams Geburt. Die Diskrepanz zwischen den sieben und neun Jahren erklärt Scowcroft mit dem Unterschied zwischen ordinaler und kardinaler Interpretation der Zahlen.54 Die Terminierung von Partholóns Ankunft auf das 60. Jahr nach dem Beginn von Abrahams Zeitalter ist hiermit natürlich nur schwer in Einklang zu bringen. Nach Scowcroft wurde hier allerdings nicht versucht, Partholóns Ankunft mit dem assyrischen Weltreich zu synchronisieren, sondern mit dem 60. Jahr Abrahams, 103 Jahre später.55 Des Weiteren schlägt Scowcroft vor, dass der Bezugspunkt für die Synchronisation der irischen Geschichte mit der Weltgeschichte durch die zeitliche Nähe von Ninus und Abraham in Eusebius’ Weltchronik von Ninus auf den Patriarchen übergeht. Trotz dieser unterschiedlichen Berechnungsmodelle verbirgt sich hinter den Darstellungen in ‚LGÉ‘ ein verhältnismäßig konstantes Konzept einer Schematisierung der irischen Vergangenheit: „Partholón’s original position is implied by those of the other invaders. Considering the rivalry between Eusebius’ scheme of worldkingdoms and the several schemata of biblical ages available to the authors of [‚LGÉ‘], their conscientious but often confusing efforts to work out a concordance to these synchronisms, and the vast opportunity for error afforded by Roman numerals, one

50 MacNeill (Anm. 21), S. 140f.; Scowcroft, Leabhar I (Anm. 4), S. 127; ders., Leabhar II (Anm. 4), S. 29; ders., Medieval Recensions (Anm. 4), S. 11. 51 Scowcroft, Leabhar II (Anm. 4), S. 30f., Anm. 84. 52 Geoffrey Keating, Foras feasa ar Eirinn. The History of Ireland, Bd. 1, hrsg. v. David Comyn (The Irish Texts Society 4), London 1901; Geoffrey Keating, Foras feasa ar Eirinn. The History of Ireland, Bd. 2–4, hrsg. v. Patrick S. Dinneen (The Irish Texts Society 8, 9, 15), London 1908–1914. 53 Geoffrey Keating (Anm. 52), Bd. 1, S. 156f.; MacNeill (Anm. 21), S. 141f. 54 Scowcroft, Leabhar II (Anm. 4), S. 31, Anm. 84. 55 Ebd., S. 30 (vgl. Gn 12,4).





Referenz und Autorität für die mittelalterliche irische Identitätsfindung 

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is surprised to find any scheme emerging from the arithmetical wilderness as clearly as does this one.“56 Der Text, der uns in der Form von ‚LGÉ‘ überliefert ist, sollte aber nicht zwangsläufig als ‚verwirrter Versuch‘ wahrgenommen werden. Viel eher ist er das Zeugnis einer intellektuellen Diskussion, in der versucht wird, bestehenden Theorien über den Verlauf der Weltgeschichte als auch den eigenen Vorstellungen über die Geschichte Irlands gerecht zu werden. Die veranschaulichenden Rechnungen zur Belegung einzelner Datierungen ebenso wie absichtlich gewählter Formeln wie atberat araile (andere sagen) oder quod verius est mögen ein Ausdruck dieser Diskussion sein. In diesem Artikel wurde versucht herauszustellen, dass bei der mittelalterlichen irischen Kanonisierung der pseudohistorischen Landesgeschichte besonderer Wert auf die genaue Datierung der Ankunft Partholóns im Zeitalter Abrahams gelegt wird. Dies geschieht aufgrund Abrahams bereits etablierter Stellung als zeitliche Referenz anhand derer historische Ereignisse mit einem Datum versehen werden können. Durch die relative Chronologie, also die zeitlichen Abstände der Besiedlungen Irlands, und Abrahams Verbindung mit Partholón lassen sich nun auch andere Begebenheiten der irischen Pseudohistorie mit der Referenz von Partholón absolut datieren. Hierfür mag es nicht unbedeutend sein, dass Partholón, unter Umständen sogar mittels seines Namens, fest mit der ersten Besiedlung Irlands nach der Sintflut, einem Ereignis, das in allen Teilen der Welt zur gleichen Zeit stattfindet, verbunden ist. Durch die Einwanderung Cessairs und dem überlebenden Fintan ist auch bekannt, wie lange es dauerte, bis Irland nach der Sintflut wieder besiedelt wird. Partholóns Ankunft kann hierdurch in Anlehnung an Abraham in eine internationale Vorstellung der Weltgeschichte integriert werden. Infolgedessen können die wichtigsten Personen und Geschehnisse der Pseudohistorie Irlands durch die Chronologisierung der Einwanderungsepochen auch einen Platz neben den antiken Herrschern, wie sie in den Theorien zu den Weltzeitaltern genannt werden, einnehmen. Darüber hinaus wird ein Grundbedürfnis eines linearen Geschichtsverständnisses umgesetzt: Es gibt einen datierbaren Anfang der nachsintflutlichen Besiedlungsgeschichte Irlands. Wenn man so will, ist Abrahams Vermächtnis für die Iren somit zum einen, dass sie durch ihn als zeitliche Referenz einen Zeitpunkt haben, um das durchaus heterogene und komplizierte Einwanderungsschema Irlands mit einem Anfang zu versehen und zum anderen, dass ihnen die Möglichkeit gegeben wird, die eigene Besiedlungsgeschichte fest in der internationalen christlichen Weltgeschichte zu verorten.

56 Ebd., S. 31.



Medialität des Gotteswortes

Andreas Haug (Würzburg)

Medialitäten des Gotteswortes. Die vokale Performanz sakraler Texte in den Buchreligionen des Mittelalters Abstract: Alle drei Buchreligionen des europäischen Mittelalters kennen das Phänomen einer vokalen Performanz ihrer sakralen Texte: Tora, Psalter, Evangelium und Koran unterliegen von der religiösen Kommunität anerkannten, geregelten und überwachten Formen einer stimmlichen Wiedergabe, die innerkulturell meist nicht der ‚Musik‘ zugerechnet werden. Bei Juden, Christen und Muslimen zählt diese Praxis zu den kulturellen Schlüsselritualen, und in allen drei Religionen kommt ihr eine kulturelle Bedeutung zu, die in ihren Voraussetzungen und Auswirkungen über den Kultus weit hinausreicht. Dabei sind interreligiöse und interkulturelle Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte festzustellen – Verbindendes, das auf ein gemeinsames ‚Erbe‘ verweisen mag –, aber auch tiefgreifende und folgenreiche Unterschiede, Trennendes, woran sich prinzipielle Differenzen zwischen den drei Religionen zeigen. Konzentriert auf den christlichen Kultgesang erörtert der als Einleitung in das Thema der Sektion konzipierte Beitrag die religiösen Prämissen der vokalen Performanz, die sie betreffenden Ambivalenzen, die sie beurteilenden, problematisierenden und legitimierenden Diskurse und die innerhalb von Judentum, Christentum und Islam in gleichem Maße, aber in unterschiedlicher Hinsicht komplexen Medialitäten des ‚vertikal‘ an und ‚horizontal‘ durch Menschen vermittelten Gotteswortes. Die folgenden Überlegungen zur Praxis der vokalen Performanz sakraler Texte in den drei Buchreligionen des europäischen Mittelalters sollten am Heidelberger Symposium des Mediävistenverbands in die Sektion ‚Medialitäten des Gotteswortes‘ einführen. Zu diesem übergeordneten Thema sprechen sie in loser Folge einzelne Aspekte an: Sie betreffen Fragen, von denen ich denke, dass sie entweder von grundsätz­lichem Interesse oder besonders problematisch sind. Ich illustriere sie – dem Schwerpunkt eigener fachlicher Kompetenz gemäß – anhand von Beispielen aus dem Christentum des ersten Jahrtausends.1 1. Alle drei Buchreligionen des europäischen Mittelalters praktizieren eine stimm­ liche Wiedergabe ihrer heiligen Schriften.2 Die Tora, der Psalter, das Evangelium, der

1 Dabei greife ich immer wieder auf in anderem Zusammenhang angestellte Überlegungen zurück, s. Andreas Haug, Der Codex und die Stimme in der Karolingerzeit, in: Felix Heinzer (Hg.), Codex und Geltung (Wolfenbütteler Mittelalter‐Studien 25), Wiesbaden (im Druck). 2 William Graham, Beyond the Written Word. Oral Aspects of Scripture in the History of Religions, Cambridge 1987.

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 Andreas Haug

Koran – sie unterliegen alle von den religiösen Gemeinschaften überwachten, diskutierten, approbierten und kodifizierten Prozeduren vokaler Performanz. Bei Juden, Christen und Muslimen zählt diese rituelle Praxis zu den kulturellen Schlüsselritualen. In allen drei Religionen ist sie flankiert von Legitimationsdiskursen.3 Überall begegnen religiöse Autoritäten der Macht und den ästhetischen Verlockungen der Stimme mit Ambivalenz. Auf der einen Seite wird begrüßt, dass das Gotteswort, wenn man es der Stimme überantwortet, dadurch versinnlicht, verschönert und sozusagen ‚vermenschlicht‘ wird; dass seine vokale Performanz, wie es in ihrem Beitrag zu dieser Sektion An­gelika Neuwirth ausdrückt, in einem „organischen“ Resonanzraum erklingt, der „nicht in der Transzendenz, sondern in der menschlichen Natur zu suchen“ ist.4 Auf der anderen Seite kann unter der Prämisse eines prinzipiellen Wertgefälles zwischen Seele und Körper die Körpergebundenheit der Stimme auch irritierend wirken und negativ beurteilt werden. Dann wird die vokale Praxis beargwöhnt und Restriktionen unterworfen. Innerhalb des spätantiken Christentums des ausgehenden 4.  Jahrhunderts, in einer musikhistorisch bedeutsamen Übergangssituation, als die Praxis des Psalmengesangs aus der Welt des Wüstenmönchtums kommend in den Bischofskirchen urbaner Zentren Afrikas, Kleinasiens und Europas Eingang fand, machen sich angesichts dieser – von James McKinnon als „psalmodische Revolution“ charakterisierten5 – Ausbreitung der genuin monastischen Psalmodie zwei Bischöfe Gedanken über den göttlich verbürgten Eigenwert des sakralen Textes und den fragwürdigen Mehrwert seiner vokalen Performanz. Bischof Niceta von Remesiana nimmt die öffentliche Kantillation der Psalmen gegen Kritiker in Schutz, die „Wollust“ wittern, wenn der Psalm nicht nur „im Herzen“ gesprochen, sondern „mit dem Ton der Lippen“ gesungen werde. Mit seinen Psalmen habe David, so eines von Nicetas Argumenten, uns einen Trank bereitet, der das harte Heilmittel des Gesetzes dem Menschen schmack-

3 Siehe hierzu Heidy Zimmermann, Tora und Shira. Untersuchungen zur Musikauffassung des rabbinischen Judentums, Bern u. a. 2000; Manfred Fuhrmann, Herz und Stimme: Innerlichkeit, Affekt und Gesang im Mittelalter (Musiksoziologie  13), Kassel 2004; Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999; William Graham u. Navid Kermani, Recitation and aesthetic reception, in: Jane Dammen McAuliffe (Hg.), The Cambridge Companion to the Qur’an, Cambridge 2006, S. 115–141; Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010. 4 Hierzu näher im vorliegenden Band der Beitrag von Angelika Neuwirth, Die vielen Namen des Koran. „Offenbarung“, „Inlibration“ oder „Herabsendung“ und „Lesung“?, S. 222–238, hier S. 238. 5 James McKinnon, Desert Monasticism and the Later Fourth-Century Psalmodic Movement, in: Music and Letters 75 (1994), S.  505–521; s.  a. Peter Jeffery, Monastic Reading and the Emerging Roman Chant Repertory, in: Sean Gallagher (Hg.), Western Plainchant in the First Millenium: Studies in the Medieval Liturgy and Its Music, Aldershot 2003, S. 45–103.





Medialitäten des Gotteswortes 

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haft mache, und zwar kraft seiner der stimmlichen Darbietung geschuldeten Süße (per dulcedinem cantionis; suaviter enim auditur dum canitur).6 Bekannter ist die Stellungnahme von Nicetas Zeitgenossen Augustinus. Er stellt an den viel diskutierten Stellen seiner „Bekenntnisse“ Argumentationsmuster für einen sozusagen ‚vokalitätskritischen‘ Diskurs bereit, die bei der Beurteilung des Stellenwerts der Stimme und des Nutzens und der Nachteile des Singens in der Kirche nachhaltig maßgeblich bleiben werden. Augustinus würdigt die Schönheit, die sinnlichen Qualitäten und affektiven Wirkungen der Stimme und der Kantilene. Doch der Erfahrung, dass die Worte der Heiligen Schrift, wie er bemerkt, die Seele stärker zur Frömmigkeit bewegen, „wenn sie gesungen werden, als wenn sie nicht gesungen würden“ (cum ita cantantur, quam si non ita cantarentur) – eine Erfahrung, die er mit Niceta teilt und die zugunsten eines Singens in der Kirche spräche – steht die beun­ ruhigende Beobachtung entgegen, dass ihn „stärker der Gesang als der Gegenstand, der besungen wird, bewegt“ (ut me amplius cantus quam res, quae canitur, moveat), was gegen eine bischöfliche Approbation der Praxis spricht.7 Niceta von Remesiana führt zugunsten des officium psalmizandi auch noch ein anderes, aus Psalmenzitaten abgeleitetes Argument an, dessen sich Augustinus nicht bedient und das für eine religionsgeschichtliche Einordnung der Praxis interessant ist. Es hat nicht die Leistungen des Kultgesangs für den Menschen, sondern für Gott im Blick, also die transzendente Resonanz des ertönenden Gotteswortes. Niceta rechtfertigt das rituelle Singen als Lobgesang, als ein Gott geschuldetes Dankopfer, und zwar als ein unblutiges, „geistiges Opfer“. Als ein sacrificium spiritale sei das sacrificium laudis dem Schlachten von Opfertieren überlegen. Das „vernünftige Lob“ (laus rationalibilis) des Psalmengesangs löse ein Opfer ab, bei dem das Blut unvernünftiger Tiere – oder, wie Niceta es formuliert, das „unvernünftige Blut von Tieren“ (sanguis animalium irrationabilis) – vergossen wurde.8 Begreift man mit Guy Stroumsa das Ende des Opfers und das Aufkommen von Buchreligionen als zentrale Momente der religiösen Mutationen der Spätantike,9 kann man versuchen, die in den Buchreligionen geübte vokale Performanz ihrer sakralen Texte als einen Teilaspekt dieser komplexen Umformungsprozesse zu interpretieren und die musikgeschichtlich langfristig so folgenreiche Karriere des Psalmengesangs religionsgeschichtlich zu verorten: Nimmt man Nicetas Argument ernst, erscheint die Ausbreitung des Psalmengesangs als ein Moment jenes religionsgeschichtlichen Prozesses in der Spätantike, den Stroumsa – in gewagt ‚großer‘ Erzählung – beschrieben

6 Cuthbert  H. Turner, Niceta of Remesiana II: Introduction and text of ‚De psalmodiae bono‘, in: Journal of Theological Studies 24 (1922–1923), S. 225–252, hier S. 236. 7 Aurelius Augustinus, Confessiones, hrsg.  von Luc Verheijen (Corpus Christianorum. Series ­Latina 27), Turnhout 1981, S. 181f. (X xxxiii 49f.). 8 Siehe Turner (Anm. 6), S. 237. 9 Guy G. Stroumsa, Das Ende des Opferkults: Die religiösen Mutationen der Spätantike, Berlin 2011.



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hat: als eine „Transformation des Rituals“ von der rituellen Gewalt der Opfer zum Gebet, vom materiellen zum spirituellen Kult.10 Der durch die Einstellung der längst auch von Heiden kritisierten Opfer – sacrificiorum insania aboleatur lautet das von Kaiser Kon­ stantin II. erlassene Gesetz11 – markierte Übergang lasse sich als eine „Modernisierung der Religion“ auffassen; eine Modernisierung, die Juden und Christen dem gleichen Ereignis zu verdanken hätten: der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. durch Titus infolge einer jüdischen Revolte gegen die Römer. Dies markiert eine Modernisierung, der wir, so Stroumsa, „die europäische Kultur zu verdanken haben“.12 Doch nicht das Gebet allein, auch der Gesang tritt in diesem religionsgeschichtlichen Wandel an die Stelle des abgeschafften öffentlichen Opfers: der öffentliche Kultgesang, die öffentliche Rezitation oder Kantillation der die Religion begründenden Offenbarungsschriften. Innerhalb des Christentums und namentlich für das westliche Europa sollten sich der neue buchreligiöse Stellenwert des Wortes und der Stellenwert seiner stimmlichen Wiedergabe nach der Abschaffung der Opfer musikgeschichtlich nachhaltig auswirken: Wiederum in den Bahnen einer gewagt großen Erzählung gedacht, ‚verdanken‘ wir dieser Neubewertung des Singens seit dem Ende des 4. Jahrhunderts die ‚europäische Musik‘. 2. In keiner der drei Religionen wird die Praxis der vokalen Performanz sakraler Texte umstandslos der sogenannten ‚Musik‘ zugerechnet. Und das, obwohl der aus dem Griechischen stammende Musik-Begriff im Hebräisch der Juden und im Arabisch der Muslime ebenso benutzt wurde wie im Griechisch und Latein der Christen des Ostens und des Westens, und obwohl der Modus vokaler Performanz, ohne dass er der Domäne des im neuzeitlichen Sinne ‚Musikalischen‘ restlos angehört, eine musikalische Dimension aufweist.13 In den für sie zuständigen Wissenschaften wird die Praxis weithin synonym als Rezitation, Kantillation, Sprechgesang oder Intonation bezeichnet und als „mit einer Kantilene unterlegte Textrezitation“, als „vokale Reproduktion“ oder eben als „vokale Performanz“ des Textes umschrieben. All das sind Begriffe und Umschreibungen, die zwischen einer Hervorhebung der sprachlichen, semantischen und der stimmlichen, klanglichen Seite unentschlossen schwanken. Vielleicht ist dieses Schwanken ein Symptom der Unsicherheit darüber, wieweit es sich bei der stimmlichen Wiedergabe buchreligiöser Offenbarungsschriften um ein sinnzentriertes Lesen oder um ein klangzentriertes Singen handle – modern

10 Ebd. 11 Codex Theodosianus 16.10.2, hier zitiert nach der online-Edition in der ‚Roman Law Library‘, URL http://droitromain.upmf-grenoble.fr/Constitutiones/CTh16.html#10 (einges. 27.07.2014). 12 Stroumsa (Anm. 9), S. 94. 13 Max Haas, Zur Musiktheorie der drei Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam im ­Mittelalter, in: Dörte Schmidt (Hg.), Musiktheoretisches Denken und kultureller Kontext (Forum Musikwissenschaft 1), Schliengen 2005, S. 19–43; ders., Musikalisches Denken im Mittelalter. Eine Einführung, Bern u. a. 2007.





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gesprochen: um eine Praxis der ‚Sinnproduktion‘ oder eine Praxis der ‚Präsenzproduktion‘ oder, ebenso modern gesprochen: um eine primär ‚hermeneutische‘ oder eine primär ‚ästhetische‘ Praxis. Geläufige Klimaxbildungen wie ‚leises Lesen – lautes Lesen – Singen‘ oder ‚Sprechen – Sprechgesang – Gesang‘ sind in diesem Zusammenhang insofern problematisch, als sie eine Vorentscheidung treffen und das Singen von vorne herein zu einer intensivierten und kultisch markierten Form des Sprechens oder Lesens depotenzieren. Hebt man einseitig auf die semantisch informierte, signifikative, sinnaffirmative Seite des Singens ab, wird seine vokale, nonverbale, sinnsubversive Gegenseite verharmlost. Christliche Autoren der Spätantike und des Mittelalters haben das ästhetische Potential von Vokalität ernstgenommen – und zwar als ein Gefahrenpotential. Zahlreiche Autoren der Karolingerzeit vertreten, was man als das Ideal einer depotenzierten, diskursivierten Vokalität bezeichnen könnte. Auf der einen Seite werden von den Kantoren Leistungen und von der Kantilene Wirkungen erwartet, die über den von Lektoren wahrgenommenen Aufgabenkreis des docere, praedicare oder instruere hinausgehen und sich auf den rhetorischen und ästhetischen Bereich des placere, movere und excitare erstrecken.14 Auf der anderen Seite wird ein Singen mit „bloßer Stimme“ (sola voce) negativ bewertet. Agobard von Lyon sieht einen Widerspruch zwischen der Würde der verba divina und dem der dulcedo vocis geschuldeten Vergnügen an der stimmlichen Darbietung.15 Amalarius von Metz unterscheidet in diesem Konflikt zwischen Wort und Stimme den „körperlichen“ (cantus corporis) vom „seelischen“ Gesang (cantus animae) und befindet: quanto enim melior est anima corpore, tanto melior est cantus animae quam corporis.16 Die von der Mehrheit der Autoren ständig eingeschärfte Direktive lautet daher: non voce, sed verbis. Wenigstens vereinzelt wird in der Karolingerzeit aber auch der ästhetische Gesichtspunkt geltend gemacht. So wird in den Beschlüssen des 816 von Ludwig dem Frommen einberufenen Aachener Konzils konstatiert, die von den cantores gesungenen melodiae erzielten ihre Wirkung auf die Hörer non solum sublimitate verborum, sed etiam suavitate sonorum. Und das Singen eines Textes wird hier sogar unter dem stimmlich-klanglichen Aspekt eines schönen Ertönenlassens der in dem Text enthaltenen Vokale beschrieben: Sonum etiam vocalium litterarum bene atque ornate perstrepant17 – ein Lob der vocales als der Laute der vox. Wie auch immer er bewertet

14 Anders Ekenberg, Cur cantatur? Die Funktionen des liturgischen Gesangs nach den Autoren der Karolingerzeit, Stockholm 1987, S. 125–132. 15 Agobard von Lyon, De modo recte canendi (Epistola 18), in: Epistolae Karolini aevi, Bd. 3, hrsg. v. Ernst Dümmler (MGH Epistolae 5), Berlin 1899, S. 232–238, hier S. 235. 16 Amalarius von Metz, Liber officialis, in: Amalarii episcopi opera liturgica omnia, 3 Bde., hrsg. v. Michael Hanssens, Città del Vaticano 1948–1950, Bd. 2, hier S. 433 (IV 7). 17 Concilium Aquisgranense a. 816, in: Concilia aevi Karolini, Bd. 1, 1, hrsg. v. Albert Werminghoff (MGH Concilia 2, 1), Hannover, Leipzig 1906, S. 307–464, hier S. 414 (Art. 137: ‚De cantoribus‘).



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wird, in jedem Fall äußert sich auch im „körperlichen Gesang“ ein „vernünftiges Lob“ und ein „geistiges Opfer“, und auch wenn dem materiellen cantus corporis geringere Geltung zugesprochen wird als dem immateriellen cantus animae, ist er allemal dem materiellen Opfer überlegen. 3. Wenn wir bei unseren Überlegungen, statt die vorhin aufgezählten Bezeichnungen zu verwenden, von „vokaler Performanz“ sprechen, dann im Bewusstsein der aktuellen Implikationen der Begriffe des Vokalen und des Performativen. Der Begriff des Performativen impliziert in Übereinstimmung mit neueren Forschungen auf dem Feld der Performativität, dass Performanz sich prinzipiell nicht auf eine sinnerfassende, sinnvermittelnde und sinnerzeugende Reproduktion von Texten reduzieren lässt.18 Und der Begriff des Vokalen setzt jene Unterscheidung zwischen Vokalität und Oralität voraus, die der Romanist Paul Zumthor einst getroffen hat: Mit Oralität meint er die „Geschichtlichkeit der Stimme“, ihren kulturell organisierten und historischem Wandel unterworfenen Gebrauch.19 Hingegen zielt Zumthors Begriff der Vokalität auf die menschliche Stimme nicht als Trägerin der Sprache, sondern als Ausübung einer leiblichen Kraft, auf das Vermögen, einen Laut hervorzubringen, der, wie Zumthor sagt, „nicht unmittelbar mit Sinn verbunden“ ist, sondern dem Sinn „nur den Ort bereitet, wo er sich aussprechen wird.“ Diese Auffassung von Stimme mache auf die Existenzweise von Texten „als Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung“ aufmerksam. Wenn Zumthor behauptet, das gesprochene Wort „konstituiere als Laut ein allgemeines und zugleich einzigartiges Zeichen: im selben Augenblick vernichtet und wahrgenommen“, so trifft das erst recht auf die singende Stimme zu.20 Denn beim Singen tritt zur Sprache und zum sprachlich Bezeichneten als ein Drittes der musikalische Ton hinzu, den zwar die menschliche Stimme hervorbringt, der aber nicht der menschlichen Sprache angehört.21 Weit davon entfernt, nur seine sprachliche Bedeutung zu vermitteln, macht ihre vokale Performanz die sakralen Texte zu Gegenständen sinnlicher Wahrnehmung. 4. Als – vielleicht recht schmale – Grundlage für einen Vergleich der Praxis zwischen den Religionen mag die Gemeinsamkeit genügen, dass der Text der Offen­ barungsschriften in allen drei Religionen in medialer Doppelgestalt auftritt, elementar gesprochen: visuell und akustisch. Visuell als das, was ‚geschrieben steht‘, akustisch als etwas, was ‚gesungen‘ wird. Als heilige Schrift gelesen und ausgelegt

18 Hierzu allgemein Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt 2004. 19 Hierzu und zum Folgenden s. Paul Zumthor, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1994, S. 12f. 20 Ebd. 21 Thrasybulos Georgiades, Musik, I.  Religion und Musik, grundsätzlich, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. Bd. 4 (1957), Sp. 1195–1197.





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gehört das Wort dem Buch, unterliegt es Praktiken, die Jan Assmann als ‚Textpflege‘ und ‚Sinnpflege‘ bezeichnet und erläutert hat.22 Als gesungenes Wort gehört es der Stimme, wird es im Ritus durch wiederholte stimmliche Reproduktion vergegenwärtigt, unterliegt es einer Praxis, die sich (mit dem bereits schon gebrauchten, von Hans Ulrich Gumbrecht in so regen Umlauf gebrachten Begriff) als eine Praxis der ‚Präsenzproduktion‘ bezeichnen ließe.23 Die Gleichzeitigkeit und das Wechselspiel von Kodifizieren und Repetieren, von sinnzentriertem Lesen und klangzentriertem Singen erzeugt eine Art permanente Grundspannung zwischen Hermeneutik und Performa­ tivität. Für die vokale Performanz sakraler Text ist diese Spannung konstitutiv. 5. Dass auch im Mittelalter keineswegs die Vorstellung bestand, bei der vokalen Performanz von Texten handle es sich ausschließlich um eine textvermittelnde und sinn­ erschließende Praxis, zeigt ein (spätestens) um 990 entstandenes Dokument, von dem die musikhistorische Forschung, weithin in der Doktrin befangen, der liturgische Gesang sei eine ‚Musik der Textaussprache‘, bezeichnenderweise bislang so gut wie keine Notiz genommen hat. Es handelt sich um den Prolog zu einem Gesangbuch, der von den Singenden folgendes fordert: „Richtet euren aufmerksamen Sinn auf die richtigen Töne; lernt voranzuschreiten durch die rechtmäßigen Gassen der Wörter (verborum legales calles), und verbindet die lieblichen Texte so mit den vorzüglichen Melodien, dass weder die Sorge um die Wörter (cura verborum) die Töne (soni), noch (umgekehrt) die Sorge um die Töne (cura sonorum) die Gesetze der Wörter (normas verborum) zunichte macht (nullificare queat).“24 Hier werden Eigengesetzlichkeit und Eigenwert der Melodien gegenüber den grammatischen und semantischen Belangen der Texte postuliert, die ‚Rechtsansprüche‘ beider Komponenten gegeneinander ausgeglichen. 6. Die gleichbleibenden, schriftlich stillgestellten Worte wurde in den drei mittelalterlichen Buchreligionen nach gleichbleibenden Regeln, aber nicht auf gleichermaßen stillgestellte Tonverläufe vorgetragen. Unsere Vorstellung von dieser Praxis gründet auf Einsichten, die der Musikhistoriker Leo Treitler gewonnen hat: Die Performanz der Texte erfolgt nicht unter tongetreuer Reproduktion konkreter Melodien, sondern als konkretisierende Realisationen aufgrund einer ‚generativen‘ melodischen Matrix. Überliefert wurden die Melodien durch ein wiederholtes Realisieren, nicht durch das

22 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 88. 23 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt 2004. 24 Prolog zum (um 990 in Sankt Gallen entstandenen) sogenannten ‚Hartker-Antiphonar‘, St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 390, S. 12; Edition bei Bruno Stäblein, ‚Gregorius Praesul‘, der Prolog zum römischen Antiphonale, in: Richard Baum u. Wolfgang Rehm (Hgg.), Musik und Verlag. Karl Vötterle zum 65. Geburtstag am 12. April 1968, Kassel 1968, S. 537–561, hier S. 546.



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Wiederholen einer bestimmten Realisation.25 Max Haas hat diesen Unterschied verdeutlicht, indem er ihn mit einer von dem Germanisten Franz Bäuml aufgebrachten Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Formen literarischer Überlieferung verglich, die Bäuml „stofflich“ und „wörtlich“ nannte.26 Das wiederholte Aufführen nach bestimmten Regeln entspräche dabei der stofflichen, das tongetreue Wieder­ holen einer bestimmten Aufführung der wörtlichen Überlieferung von Texten. 7. Dass wir zwischen den unterschiedlichen Ausprägungen der Praxis vokaler Performanz sakraler Texte und ihrer unterschiedlich akzentuierten theologischen Fundierung zwischen den verschiedenen Religionen mehr als nur oberflächliche Parallelen zu erkennen meinen, veranlasst den gemeinsam unternommenen Versuch, sie mit­ einander zu vergleichen. Es ist jedoch nicht klar, wo die Vergleichbarkeit beginnt und endet: Wenn wir Praktiken einer der Religionen allzu unbefangen aus der Optik einer anderen interpretieren, riskieren wir, zugunsten des Verbindenden das Trennende und jeweils Exklusive zu übersehen. Davor hat im Hinblick auf eine Übertragung christlicher Sichtweisen auf islamische Phänomene Angelika Neuwirth gewarnt.27 Auch bei dem hier thematisierten Phänomen der vokalen Performanz sakraler Texte werden außer fundamentalen Gemeinsamkeiten und einer Vielzahl von Berührungspunkten, die auf ein gemeinsames ‚abrahamitisches‘ Erbe oder eine wechselseitige Beeinflussung der Erben Abrahams verweisen können, zugleich Unterschiede erkennbar, in denen, wie es scheint, fundamentale Differenzen zwischen den Religionen zum Ausdruck kommen. Ist die Andersartigkeit der Praxis einer anderen Religion aber erst einmal erkannt, kann der Vergleich zu neuen Fragen führen. Nimmt man Dinge beim Gegenüber als anders wahr und realisiert die Möglichkeit alterna­ tiver Praktiken, so verlieren auch die Elemente der vorgeblich eigenen Kultur ihre ­trügerische Selbstverständlichkeit. Sie erweisen sich als Resultat von geschichtlichen Entscheidungen, die auch anders hätten ausfallen können; sie deuten vielleicht auf Spuren nicht beschrittener Wege, versäumter oder verworfener historischer Optionen. Eine musikgeschichtlich besonders folgenreiche Differenz betrifft die Praxis des Notierens: Im Mittelalter haben nur die Christen begonnen, die melodischen Parameter der vokalen Performanz ihrer sakralen Texte – also die ‚Melodien‘ oder die Kantilene – zu notieren und die Texte aus notierten Büchern zu singen. Juden und Muslime waren dazu nicht bereit. Sie haben auf einen so gravierenden Eingriff in

25 Leo Treitler, Homer and Gregory. The Transmission of Epic Poetry and Plainchant, in: Musical Quarterly 60 (1974), S. 333–372. 26 Max Haas, Musikalisches Denken im Mittelalter, Berlin u.  a. 2005, S.  228, 267f.; vgl. Franz  H. Bäuml: Der Übergang von mündlicher zu artes-bestimmter Literatur des Mittelalters, in: Gundolf Keil (Hg.), Fachliteratur des Mittelalters. Festschrift für Gerhard Eis, Stuttgart 1968, S. 1–10. 27 Vgl. Neuwirth (Anm. 4).





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ihre münd­liche Tradition verzichtet, eine interreligiöse Differenz, auf die Max Haas aufmerksam gemacht hat.28 Hier wird nicht nur die Frage zum historischen Problem, wie es kommt, dass die Angehörigen zweier Religionen nicht notierten und die einer dritten es tun, sondern auch die Frage, ob hier eigentlich das Aufkommen oder das Ausbleiben einer Praxis, der kulturelle Verzicht auf sie, nach Erklärung verlangt. Vielleicht sind die Idee einer Gleichwertigkeit der Worte und der Töne und die Idee, auch die Töne im Buch zu notieren, vor dem Hintergrund der von den Karolingern aufgebrachten Idee zu sehen, wonach nicht nur die der Bibel entnommenen Texte des Kirchengesangs, sondern auch seine Melodien göttlicher Herkunft sind. Ein bekanntes Bildnis Papst Gregors I. zeigt einen Schreiber, der die dem Papst von einer Taube eingegebenen Töne in Gestalt von Notenzeichen auf einer Wachstafel festhält.29 Vielleicht hat der Gedanke einer ‚Ko-Sakralität‘ der Melodien mit den Texten den Wunsch nach ihrer visuellen ‚Ko-Präsenz‘ im Buch und damit einen kulturellen Sonderweg der Christen bedingt. Und vielleicht hätte die im Islam bestehende Auffassung des sakralen Textes nicht als heilige Schrift, sondern als göttliche Rede, als genuin oral-auditives Phänomen, den Gedanken, die melodischen Para­ meter einer stimmlichen, gesungenen Wiedergabe und Weitergabe dieser Rede zu verschriftlichen, als abwegig erscheinen lassen. 8. Gelingt es, den Gefahren unzulässiger Vereinfachung und Vereinnahmung zu entgehen, bietet die vokale Performanz sakraler Texte innerhalb (und außerhalb) des räumlichen Horizonts von ‚Europa‘ und innerhalb (und außerhalb) des historischen Beobachtungszeitraums ‚Mittelalter‘ einer fächer- und kultsprachenübergreifenden vergleichenden Betrachtung unter mediävistischen, musikwissenschaftlichen und religionsphänomenologischen Gesichtspunkten ein aufschlussreiches Material. Dabei interessieren in einer interdisziplinären Diskussion, wie der von uns initiierten, weniger die konkreten melodischen Prozeduren der vokalen Performanz. Sie sind ohnedies nur innerhalb des Christentums historisch-philologisch rekonstruierbar, das aufgrund seiner notiert überlieferten Melodien eine solche Rekonstruktion erlaubt, auf sie aber auch angewiesen ist. Denn seine Melodien sind infolge des Notierens sozusagen verstummt: Die Melodien des sogenannten Gregorianischen Gesangs sind ein musikphilologisches Konstrukt und Gegenstand musikhistorischer Forschung. Dagegen sind die melodischen Modalitäten der vokalen Performanz innerhalb von Judentum und Islam Objekte einer ‚ethnomusikologischen‘ Untersuchung rezenter Praktiken, was wiederum nur deshalb möglich ist, weil diese Religionen im Mittelalter eben niemals mit der mündlichen Tradition ihrer Melodien gebrochen haben.

28 Haas (Anm. 13), S. 32f. 29 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 390, S. 13 (vgl. Anm. 24).



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Mehr als den uns teils verschieden, teils als verwandt erscheinenden klanglichen Prozeduren gilt unser Augenmerk in dieser Sektion daher den jeweils unterschiedlichen theologischen Prämissen der Rezitation, den sie betreffenden religiösen Ambivalenzen, den sie problematisierenden und legitimierenden Diskurse sowie den innerhalb von Judentum, Christentum und Islam in gleichem Maße, aber in unterschiedlicher Hinsicht, komplexen und pluralen ‚Medialitäten des Gotteswortes‘.



Felix Heinzer (Freiburg i. Br.)

Buch und Präsenz im Ritus der lateinischen Kirche Abstract: In der spätantiken und mittelalterlichen Tradition christlicher Kultpraxis beansprucht das liturgische Buch eine sakrale, ja nahezu sakramentale Dignität, die sich nicht nur im Modus sprechender oder singender Nutzung, sondern auch in Kontexten „stimm-loser“ Inszenierung beobachten lässt. Allerdings zeigt sich gegen Ende des Mittelalters eine zunehmende Konterkarierung dieses Befunds im Sinn einer grundsätzlichen Relativierung von Text und Buch – ja von Sprache überhaupt – durch eine verstärkt auf Emotionalisierung und Interiorisierung ausgerichtete Frömmigkeitskultur, die auf eine über mediale Verweisung hinausgehende, unmittelbare Begegnung mit dem eigentlichen Gegenstand des Religiösen zielt. Geschichte und Status des mittelalterlichen Liturgiebuchs erweisen sich daher deutlich geprägt von präsenzkulturell bestimmter Ambivalenz.

„Viel lebendiger als in seiner mit den anderen heiligen Schriften geteilten textuellen Erscheinungsform war und ist [der Koran] im täglichen Leben klanglich präsent, wo er in verschiedenen Formen der Kantilene verlautbar wird“ – so Angelika Neuwirth in ihrem rezenten Buch über den Koran als „Text der Spätantike“.1 Textualität in Gestalt von Schrift und stummer Lektüre versus Klangpräsenz – in diesem ambivalenten Status, ja genauer noch: im Vorrang des Klanglichen und dem damit verbundenen ästhetischen und zugleich emotionalen Potential also erkennt Angelika Neuwirth, wenn ich recht sehe, den medialen Sonderstatus des Korans im Vergleich zur jüdischen wie zur christlichen „Heiligen Schrift“.

1 Meine eigenen Überlegungen sollen speziell der christlichen Tradition gelten, wobei ich mich auf die westkirchliche, also lateinische Situation der Zeit bis zum aus­ gehenden Mittelalter konzentriere. Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen nach Rolle und Status des liturgischen Buchs. Es geht daher nicht, oder zumindest nicht direkt, um die Heilige Schrift selbst, wobei die Einschränkung verdeutlichen soll, wie stark insgesamt die Verbindungen des Repertoires an gesprochenen und gesungenen Texten der Liturgie mit der Bibel sind. Das gilt im Übrigen für beide Bereiche des Kultes, Messe (Eucharistie) wie Offizium (Tagzeiten- oder Stundengebet), und zwar insbesondere für zwei der drei Säulen des christlichen Gottesdienstes: die Lectio ohnehin, aber auch

1 Angelika Neuwirth, Der Koran als spätantiker Text. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010, S. 34.

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den Cantus. Die Oratio hingegen, die wesentlich in der Tradition römischer Rechtssprache wurzelt, ist anderen Regeln und Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Für den Bereich der Lesetexte mag der Hinweis auf Biblizität trivial erscheinen, zumal für den Messgottesdienst, der ausschließlich biblische Perikopen kennt, während im großen nächtlichen Leseprogramm des Offiziums zwar auch die Bibel dominiert, die in ihren wichtigsten Teilen im Laufe des kirchlichen Jahres in einer Art Bandlesung zum Vortrag kommt, daneben aber zunehmend auch patristische Bibelkommentare sowie hagiographische Texte ihren festen Platz erobern.2 Diese hege­ moniale Position der Bibel zeigt sich übrigens auch darin, dass manche Bibelhandschriften auf den Blatträndern mit Ziffernfolgen versehen sind, die der Aufteilung in die vorgesehenen Leseabschnitte entsprechen und somit auf liturgische Verwendung des Codex anstelle eines speziellen liturgischen Lektionars verweisen. Aber auch der liturgische Gesang ist textlich zu einem großen Teil der Bibel verpflichtet. Absolut dominierend ist in diesem Zusammenhang das Buch der Psalmen. Die Psalmodie selbst bildet, anknüpfend an die jüdische Praxis, das Rückgrat des Chorgebets, beansprucht also in der Welt von Kloster, Stift und Kathedrale eine permanente Präsenz. Dabei setzt sich das schon in der Benediktregel propagierte Grundprinzip durch, den ganzen Psalter (alle 150 Psalmen also) im Lauf der Woche zu rezitieren beziehungsweise zu singen – letztlich eine reduzierte Form der alten Laus perennis, die aber noch immer eine gar nicht hoch genug einzuschätzende Präsenz und Wirkung des Psalmentexts als spiritueller und ästhetischer Resonanz- und Assoziationsraum mittelalterlicher Kloster- und Kleriker-Kultur impliziert.3 Texte der Bibel, und zwar vor allem aus dem – typologisch gedeuteten – Alten Testament und auch hier wiederum in erster Linie aus dem Psalter, bilden aber auch die Hauptquelle für das Repertoire der so genannten Propriumsgesänge der Messe.4 So sind in dem im Kontext der karolingischen Reform kodifizierten, als „gregorianisch“ bezeichneten Kernbestand etwa drei Viertel aller Introitusgesänge textlich dem Psalter entnommen, die Offertoria sind sogar fast komplett psalmodisch, die Gradualien auch immer noch zu über 90 %.5

2 Vgl. Eric Palazzo, Histoire des livres liturgiques: le Moyen Âge. Des origines au XIIIe siècle, Paris 1993, S. 103–119, 163–172. 3 Vgl. zusammenfassend auch Felix Heinzer, „Wondrous Machine“. Rollen und Funktionen des Psalters in der mittelalterlichen Kultur, in: Jochen Bepler u. Christian Heitzmann (Hgg.), Der AlbaniPsalter. Stand und Perspektiven der Forschung (Hildesheimer Forschungen 4), Hildesheim u. a. 2013, S. 15–31. 4 Dazu Felix Heinzer, Figura zwischen Präsenz und Diskurs. Das Verhältnis des „gregorianischen“ Messgesangs zu seiner dichterischen Erweiterung (Tropus und Sequenz), in: Christian Kiening u. ­Katharina Mertens Fleury (Hgg.), Figura. Dynamiken der Zeichen und Zeiten im Mittelalter (Philo­ logie der Kultur 8), Würzburg 2013, S. 71–90, hier S. 72f. 5 Vgl. James McKinnon, The Advent Project. The Later-Seventh-Century Creation of the Roman Mass Proper, Berkeley u. a. 2000, S. 35–59.





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Die Präsenz der Bibel ist also zumindest im Bereich der klösterlichen Tradition des frühen und hohen Mittelalters möglicherweise gar nicht so sehr eine Angelegenheit des direkten und individuellen Textstudiums, sondern mindestens so sehr, wenn nicht sogar noch stärker, garantiert durch ihre Rolle im gemeinschaftlichen Kontext der Liturgie, und zwar eben nicht allein durch die Lesung biblischer Texte in Messe und Offizium, sondern vor allem im Zusammenhang mit dem liturgischen Gesang, und hier durch die Verbindung mit der Komponente des Musikalischen in gesteigerter medialer Komplexität und mit stärkerer emotionaler Wirkung. So gesehen, ist die Differenz zu dem für den Koran Diagnostizierten möglicherweise gar nicht so groß. Auch die Präsenz der Bibel ist, um die eingangs zitierte Formulierung Angelika Neuwirths noch einmal aufzugreifen, in der Lebenswirklichkeit zumindest des mittelalterlichen Christentums weniger im Textuellen als vielmehr im Klanglichen zu suchen. Die Bedeutung der über die Liturgie vermittelten Präsenz der Bibel lässt sich im Übrigen auch daran ablesen, dass in zahlreichen (nichtbiblischen) Texten des Mittelalters Bibelstellen nicht selten in einer Version zitiert werden, die nicht der Vulgata entspricht, sondern der altlateinischen, unter dem Etikett ‚Vetus Latina‘ subsumierten Version, die vielfach die liturgische Fassung der Texte bestimmt.6 Für die Liturgiebücher, die im Zentrum meiner Überlegungen stehen, ist dies von erheblicher Tragweite: Wenn diese Bücher als Medien der kultischen Antwort auf die göttliche Selbstmitteilung so bemerkenswert hohe Schnittmengen mit deren buchgewordener Konkretisierung aufweisen, dem Text der Bibel selbst also, dann partizipieren sie auch in ganz erheblichem Ausmaß an ihrer Dignität und ihrem sakralen Status. Am deutlichsten manifestiert sich dies natürlich im Fall des für die EvangelienLesung während der Messliturgie bestimmten Buches, des Evangeliars, das als Teil des Neuen Testaments und damit der Bibel mit dieser selbst textlich ganz und gar zusammenfällt. Es vertritt den Logos selbst, das fleischgewordene Wort, und auf diese Christusrepräsentanz verweisen die Kostbarkeiten seiner Materialität und die Qualität der künstlerischen Ausstattung von Buchseiten und Einband, aber auch die Behandlung,

6 Zur Präsenz der ‚Vetus Latina‘ im gregorianischen Grundstock vgl. z. B. Andreas Pfisterer, Cantilena Romana. Untersuchungen zur Überlieferung des gregorianischen Chorals (Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 11), Paderborn 2002, S. 221–232, mit dem Fazit, dass offenbar mit Ausnahme der Adventsliturgie „der Rest des Kirchenjahrs“ altlateinische Texte verwendet (Zitat S. 229). Ein geradezu klassisches Beispiel dafür ist der berühmte, Jes 9 entnommene Introitus zur dritten Weihnachtsmesse Puer natus est nobis, vgl. dazu Heinzer (Anm. 4), S. 74. Wenn etwa Johannes Scotus Eriugena Jes 9,5 in seiner Übersetzung von ‚De coelesti hierarchia‘ des Ps. Dionysius Areopagita nicht nach der Vulgata zitiert, sondern die altlateinische Junktur angelus magni consili verwendet, darf man darin wohl eine Wirkung genau dieses alljährlich bei so prominenter liturgischer Gelegenheit gesungenen Introitus vermuten (freundlicher Hinweis auf die Stelle von Peter Walter, Freiburg).



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die es im liturgischen Zeremoniell erfährt.7 Hier, im Kontext der kultischen Inszenierung, ist eine Beobachtung besonders auffällig und entsprechend wichtig: Zwar funktioniert das Evangeliar im Augenblick des Vortrags der Perikope durch den Liturgen im primären Gebrauchsmodus des Gelesen-Werdens (wenn auch nicht in Form privater Lektüre, sondern der öffentlichen, also lauten lectio), im Rahmen der rituellen Choreographie hingegen ist es bemerkenswerterweise gerade nicht der vorgetragene Text, sondern der Codex als mediale Präsenz dieses Texts und seines eigentlichen Autors, der eine Fülle von Gesten der Verehrung auf sich zieht. Diese reichen von der prozessionalen Bewegung des Buchs im Kirchenraum – im römischen Stationsgottesdienst darüber hinaus sogar im öffentlichen Raum der Stadt – und seiner ostentativen exaltatio durch den Vortrag auf dem Ambo über körpersprachliche Signale wie das Stehen während des Vortrags, den Buchkuss und die Verhüllung der Hände derer, die das Buch tragen, bis hin zur Aufbietung von Kerzenlicht und Weihrauch im Rekurs auf imperiale Huldigungsformen. All diese Aspekte der Bewegung im Raum und der sinnlichen und emotionalen Aufladung beziehen sich auf das Buch qua Buch, auf das ‚geschlossene‘ Buch eben. Konsequenterweise kann so, wie Thomas Lentes betont hat, der Evangelien­ codex als „materieller Textkörper“ zum Signum der Präsenz Christi werden, das diesen auch außerhalb der Messe etwa bei Prozessionen, beim Herrscheradventus, im klösterlichen Kapitelsaal usw. repräsentiert, häufig zusammen mit weiteren repräsentierenden Signa wie Kreuz und Reliquien.8 Dies bringt präsenzkulturelle Aspekte ins Spiel, die zumal in frühmittelalterlicher Zeit auch magische Aspekte zumindest nicht ausschließen, und in der Tat sind solche Momente magischen Verständnisses ‚heiliger‘ Bücher in vormoderner Zeit immer wieder nachweisbar, natürlich für die Bibel als ganze, aber nicht selten für einzelne ihrer Teile, besonders den Psalter, aber eben auch für die Evangelien oder Teile derselben.9 Zu fragen ist nun, inwieweit eine solche exzeptionelle Sakralisierung auch für jene liturgischen Bücher zu beobachten ist, die anders als das Evangelienbuch gerade

7 Vgl. für Einzelheiten und Belegstellen Felix Heinzer, Die Inszenierung des Evangelienbuchs in der Liturgie, in: Stephan Müller (Hg.), Codex und Raum (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 21), Wiesbaden 2009, S. 43–58. 8 Thomas Lentes, Textus Evangelii. Materialität und Inszenierung des textus in der Liturgie, in: Forschungsgruppe KultBild – SFB 496. Missa Mediaevalis, URL http://www.uni-muenster.de/Kultbild/ missa/themen/textus.html (einges. 7.6.2014). 9 Zahlreiche Hinweise bieten u. a. Florentine Mütherich, Der Psalter von St. Peter in Salzburg, in: Sigrid Krämer u. Michael Bernhard (Hgg.), Scire Litteras. Forschungen zum mittelalterlichen Geistesleben, München 1988, S. 291–297, hier S. 295; Klaus Schreiner, Psalmen in Liturgie, Frömmigkeit und Alltag des Mittelalters, in: Felix Heinzer (Hg.), Der Landgrafenpsalter. Vollständige FaksimileAusgabe im Original-Format der Handschrift HB II 24 der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, Kommentarband (Codices Selecti 93), Graz, Bielefeld 1992, S. 141–183, bes. S. 154–179; Jean Vezin, Les livres utilisés comme amulettes et comme reliques, in: Peter Ganz (Hg.), Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 5), Wiesbaden 1992, S. 101–115.





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nicht der Verkündigung dienen, sondern der kultischen Antwort auf diese: für jenes elaborierte und zunehmend ausdifferenzierte System kultischer Bücher also, die der Gegenbewegung in Dank und Lobpreis dienen, das heißt insbesondere auch für die Gesangbücher. Diese Bücher, die uns hier besonders interessieren, können selbstredend nicht in gleichem Maß wie das Evangelienbuch Christusrepräsentation für sich in Anspruch nehmen. Aber auch sie partizipieren am sakralen Status der Bibel, von deren Text sie entscheidend bestimmt sind, auch wenn sie sich – und das ist ein ganz entscheidendes Merkmal der christlichen Liturgie und ihres Repertoires – schon bald auch nichtbiblischen Elementen öffnen. Das gilt von Anfang an für den Bereich der liturgischen Gebetspraxis, den das so genannte Sakramentar repräsentiert, das Buch des der Messfeier vorstehenden Zelebranten, das ohnehin eine Sonderstellung einnimmt. Aber auch im Bereich des Gesangs – und dies sowohl in der Messliturgie wie im Offizium – ist zu beobachten, wie sich freie dichterische, also bibelfremde Elemente in einem faszinierenden und kulturell höchst folgenreichen Prozess gegen die Vorbehalte von Vertretern rigoristischer Tendenzen, die auf dem ausschließlich biblischen Charakter der in der Liturgie zu singenden Texte beharren, ihren Platz erobern.10 Insbesondere der strophische Hymnus mit dem 397 verstorbenen Ambrosius von Mailand als noch spätantiker Referenzfigur wird geradezu zum Präzedenzfall sakraler compositio; Sequenz und Tropen sowie die Offiziendichtung folgen dann im frühen Mittelalter als weitere Formen liturgischer Dichtung. Die kaum abzuschätzende Tragweite dieser Entwicklung, die, wenn ich recht sehe, die Kultpraxis des Christentums von der des Islams radikal unterscheidet, kann hier nur angedeutet werden: Die zugleich mit einer musikalischen Erweiterung verbundene dichterische Öffnung des liturgischen Repertoires bewirkt eine kulturelle Steigerung des Kultischen, die freilich ihren Preis hat: ein zur Verselbständigung tendierendes Potential an ästhetischer Unterströmung und damit auch an kultureller Störungs- und Sprengkraft.11 Solche Öffnungen zum Nicht-Biblischen hin schmälern allerdings keineswegs die bleibende Geltung eines ausgeprägt sakralen Status für liturgische Gesang­ bücher. Dieser ist nicht zuletzt ablesbar an der künstlerischen Ausschmückung, die

10 Vgl. Heinzer (Anm. 4), hier S. 71–73; s. a. demnächst Felix Heinzer, The Poet as Historian. ­Walahfrid Strabo on the Shaping of Office Repertory, in: Graeme Boonen (Hg.), Music in the Carolingian World. Witnesses to a Metadiscipline. Festschrift in honour of Charles Atkinson (im Druck); ders., Eingebettet ins gefügte Ganze. Zur Referenzialität von Notkers Sequenzendichtung, in: Jeremy Llewellyn (Hg.), Notkers Hand (im Druck). 11 Bernhard von Clairvaux hat diese Grundspannung von Kult und Kultur in seiner ‚Apologia‘ im Blick auf eine andere Form sakralen Schmucks, nämlich das Bildkünstlerische, problematisiert und in die Form einer provozierenden, ein Persius–Zitat aufnehmenden Frage gekleidet: In sancto quid facit aurum? Bernhard von Clairvaux, Apologia ad Guillelmum abbatem, in: ders., Opera, Bd. 3: Tractatus et opuscula, hrsg. v. Jean Leclercq u. Henri Rochais, Rom 1963, S. 61–108, hier S. 104.



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Choralhandschriften im Mittelalter zuteilwurde. Ihre künstlerische Aufladung steht in manchen Fällen den Evangeliaren und Sakramentaren kaum nach, und dies nicht nur bei so frühen Beispielen wie dem im beginnenden 9. Jahrhundert entstandenen, in Gold- und Silbertinte auf Purpurgrund geschriebenen Cantatorium von Monza mit seinen wundervollen Elfenbeintafeln.12 In diese Richtung weist zudem auch die allgemein verbreitete Praxis einer von den nicht liturgischen Buchbeständen getrennten Aufbewahrung der für den Kult bestimmten Codices im Kontext des dezidiert sakral konnotierten Kirchenschatzes, zusammen mit Paramenten, liturgischen Gefäßen und Reliquiaren.13 Ein kursorischer Blick in die Register des ersten Bands der ‚Mittelalterlichen Schatzverzeichnisse‘, der die Zeit von Karl dem Großen bis um etwa 1250 abdeckt, ist dafür sehr aufschlussreich: Sucht man nach Lemmata für Bücher, so dominieren an der Zahl der Verweisungen gemessen – erwartungsgemäß – Biblia und hier speziell Evangelium sowie Plenarium (für das Lektionar, aber vor allem in jüngeren Verzeichnissen zum Teil sicherlich auch für das Voll-Missale); doch auch Stichworte wie Missalis selbst sowie Antiphonarium und Graduale als die beiden wichtigsten Gesangbücher für Offizium und Messe (mit den bekannten terminologischen Unschärfen bei Antiphonarium) versammeln jeweils eine durchaus beachtliche Zahl von Einträgen.14 Exemplarisch sei das umfangreiche Verzeichnis aus der Benediktinerabtei Prüm von 1003 angeführt, das neben mehreren mit kostbaren Einbänden verzierten Evan­geliaren, einem Messbuch (Sakramentar?) und einem Lektionar auch ein Antiphonar und ein Tropar auflistet und im Übrigen für beide Gesangbücher spezifiziert, dass sie diptychonartig von Elfenbein-Tafeln umschlossen, also ebenfalls sehr aufwendig gebunden waren.15

12 Vgl. zuletzt die Beschreibung und Abbildungen in Christoph Stiegemann u. Matthias Wemhoff (Hgg.), 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, Bd. 2, Mainz 1999, S. 831–834. 13 Generell zum Status der Schatzhandschrift vgl. Eric Palazzo, Le livre dans les trésors du Moyen Âge. Contribution à l’histoire de la Memoria médiévale, in: Annales. Histoire, Sciences sociales 52 (1997), S. 93–118. 14 Mittelalterliche Schatzverzeichnisse, Bd. 1: Von der Zeit Karls des Großen bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, hrsg. v. Zentralinstitut für Kunstgeschichte in Zusammenarbeit mit Bernhard Bischoff, München 1967, S. 159, 163, 179, 185, 190. Ein noch stärkeres Übergewicht des Evangeliars zeigt sich übrigens auf der Ebene der kostbaren Einbände, aber auch hier sind andere liturgische Buchtypen einschließlich Antiphonar und Graduale vertreten. Vgl. Frauke Steenbock, Der kirchliche Pracht­ einband, Berlin 1965, S. 233. 15 ‚Mittelalterliche Schatzverzeichnisse‘ (Anm. 14), S. 8, 154–59: Evangelia IIIIor cum eo quod dominus Lotharius dedit, ex quibus unum totum interius et exterius aureum, argenteum… Missalem 1 cum auro et gemmis. Lectionarium 1 cum auro et gemmis paratum. Antiphonarium 1 cum tabulis eburneis. Troparium 1 similiter cum tabulis eburneis. Das berühmte Lothar-Evangeliar hat sich erhalten, jetzt Berlin, SBPK, Ms. theol. lat. fol. 260, s. Andreas Fingernagel, Die illuminierten lateinischen Handschriften deutscher Provenienz der Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz Berlin, 8.–12. Jahrhundert, Teil 1: Text, Wiesbaden 1991, S. xiii, 73–76; das zweite der genannten Evangelienbücher ist vermutlich identisch mit der aus Tours stammenden Hs. Berlin, SBPK, Ms. theol. lat. fol. 733. Von den beiden Ge-





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2 Allerdings ist nicht zu übersehen – und damit komme ich zu einer entscheidenden Zäsur in meinen Überlegungen –, dass sich das liturgische Buch trotz dieser sakral aufgeladenen Wertschätzung, ja Verehrung, wie sie sich in Ausstattung, Zeremoniell und Aufbewahrung manifestiert, einem mehrfachen Vorbehalt ausgesetzt sieht, und dies, was zunächst überraschend erscheinen mag, durchaus auch schon im Mittel­ alter selbst. Die Symptome dafür sind vielfältig und lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen erkennen. Generell ist zu bedenken, dass Liturgie niemals nur auf ihre Bücher zu reduzieren ist, auch wenn gerade in Epochen verstärkter Anstrengungen um Kodifizierung die Sicherung der Uniformität von Gebets- und Gesangstexten bis hin zu ihrem Wortlaut im Vordergrund steht.16 Vielmehr ist Liturgie, wie Angelus Häussling zu Recht formuliert hat, „nicht bloß und [...] vielleicht nicht einmal in erster Linie als Text“ zu fassen, „sondern als ein Geschehen, in dem sich in Rollenverteilung gesungenes und vorgetragenes Wort und rituelle Handlung [...] vereinen“.17 So haben in der liturgischen Praxis des Mittelalters insbesondere die Gesangbücher stets eine primär referentielle Funktion. Das ‚Eigentliche‘, dem das Buch als Medium der schriftlichen Aufzeichnung dient, ist die vokale Performanz, der Gesang selbst. Pointiert formuliert: Die Stimme hat den Vorrang vor dem Buch! Das zeigt sich etwa, wenn ich das in einigermaßen riskanter Verkürzung andeuten darf, auch in der komplexen Frage nach der Funktion der Notation in liturgischen Handschriften insbesondere in der Anfangszeit solcher musikalischen Aufzeichnungen – eine Funktion, die von modernen Erwartungen an den präskriptiven Charakter von Musiknota-

sangbüchern ist nur noch das heute in Paris liegende Tropar greifbar, allerdings ohne die Elfenbeintafeln (Paris, BnF, ms. lat. 9448), vgl. Susanne Wittekind, Bild – Text – Gesang. Überlegungen zum Prümer Tropar-Sequentiar (Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. lat. 9448), in: Barbara Schellewald u. Karin Krause (Hgg.), Bild und Text im Mittelalter (Sensus 2), Köln, Weimar, Wien 2011, S. 99–124. 16 Zu den damit verbundenen wortmagischen und ritualistischen Aspekten zumal in frühmittel­ alterlicher Zeit s. Arnold Angenendt, Libelli bene correcti. Der „richtige Kult“ als ein Motiv der ­karolingischen Reform, in: Peter Ganz (Hg.), Das Buch als magisches und als Repräsentations­objekt (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 5), Wiesbaden 1992, S. 117–135. Speziell zu den Gebetstexten, also zum Sakramentar: Felix Heinzer, „Ex authentico scriptus“. Zur liturgiehistorischen Stellung des ­Sakramentars, in: Herrad Spilling (Hg.), Die karolingische Sakramentarhandschrift Cod. Donau­ eschingen 191 der WLB Stuttgart (Patrimonia 85), Berlin 1996, S. 63–83. Für einen generellen Überblick: ders., Kodifizierung und Vereinheitlichung liturgischer Traditionen. Historisches Phänomen und Interpretationsschlüssel handschriftlicher Überlieferung, in: Karl Heller (Hg.), Musik in Mecklenburg. Beiträge eines Kolloquiums zur mecklenburgischen Musikgeschichte (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 21), Hildesheim 2000, S. 85–106. 17 Angelus A. Häussling, Mönchskonvent und Eucharistiefeier. Eine Studie über die Messe in der abendländischen Klosterliturgie des frühen Mittelalters und zur Geschichte der Meßhäufigkeit (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 58), Münster i. W. 1973, S. 178.



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tion so irritierend abzuweichen scheint, weil sie, wie jüngst Susan Rankin die lange und subtile Debatte zu diesem Thema zusammengefasst hat, im Rahmen einer primär performanzorientierten Praxis zu sehen ist, und notatorische Schriftlichkeit weniger als präskriptives Instrument, sondern eher im Sinn einer Gedächtnis- oder Speicherfunktion („a practice stored in memory“) zu verstehen ist: „These notations remind the reader of sounds that he has heard, but do not provide primary instructions as to how make those sounds [Hervorhebungen durch den Verfasser].“18 Auch das Narrativ zur Entstehung und Bedeutung des berühmten Sankt Galler Cantatoriums (Hs. 359 der Stiftsbibliothek) – übrigens wie das Monzaer Exemplar ebenfalls im Diptychonformat mit Elfenbeintafeln angelegt –, die als die älteste durchgängig notierte Aufzeichnung der gregorianischen Messgesänge gilt, thematisiert genau dieses Verhältnis von Stimme und Buch: Nach dem Vorbild Roms sei die Handschrift, wie Ekkehart IV. in seinen ‚Casus sancti Galli‘ berichtet, in St. Gallen im Chor auf einem Pultgestell aufbewahrt worden – nicht um daraus zu singen, sondern um den angeblich aus Rom selbst nach Sankt Gallen transferierten, als Abschrift des als authenticum apostrophierten, originalen, entsprechend hoch verehrten Gregorianischen Antiphonar in Zweifelsfällen – in cantu si quid dissentitur – zu konsultieren.19 Eine andere Relativierung des liturgischen Buchs scheint mir fast noch bedeutsamer, denn sie betrifft über das Moment der Performanz hinaus die Wirkung oder genauer vielleicht: die verinnerlichende Aneignung des im Sprechen und Singen Vollzogenen. Zu tun hat dies wohl vor allem mit jener zunehmenden Tendenz einer Privatisierung und Individualisierung liturgischer Frömmigkeit, die nicht zuletzt im klösterlichen Bereich zu beobachten ist, von dort aus aber auch in laikale Milieus hineinstrahlt. Dies lässt sich beispielsweise am verstärkten Aufkommen individueller Sammlungen von Gebeten beobachten, aber auch an Verschiebungen im Bereich der künstlerischen Ausstattung religiöser Bücher. So schieben sich für vornehme Laien, vor allem Frauen bestimmte Luxuspsalterien spätestens im 13. Jahrhundert als Hauptaufgabe der sakralen Buchkunst in den Vordergrund und lösen so Evangeliar und Sakramentar ab, die in der karolingischen und vor allem in der ottonischen und salischen Zeit im Vordergrund standen.20 Dabei schlägt der Psalter aufgrund seiner Ambiguität – er ist Teil der Bibel und zugleich von alters her Gebetbuch par excellence – eine Brücke zwischen dem amtlich-gemeinschaftlichen Raum der Liturgie

18 Susan Rankin, On the Treatment of Pitch in Early Music Writing, in: Early Music History 30 (2011), S. 105–175, hier S. 111. 19 Ekkehard IV., St. Galler Klostergeschichten, übers. von Hans F. Haefele (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 10), Darmstadt 1980, S. 106–109. Vgl. dazu Susan Rankin, Ways of Telling Stories, in: Graeme M. Boone (Hg.), Essays on Medieval Music in Honor of David G. Hughes (Isham Library Papers 4), Cambridge Mass. 1995, S. 371–394, hier S. 371–376. 20 Vgl. etwa Harald Wolter von dem Knesebeck, Der Elisabethpsalter in Cividale del Friuli. Buchmalerei für den Thüringer Landgrafenhof zu Beginn des 13. Jahrhunderts, Berlin 2001, S. 84.





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und dem Bereich privater Frömmigkeit und Repräsentation: eine Tendenz, die später das Stundenbuch noch zuspitzen wird. Vielleicht darf in diesem Zusammenhang an einen wichtigen, aber fast vergessenen Aufsatz von Jean Leclercq von 1944 erinnert werden, der die geradezu dialektische Reziprozität von Kult und Spiritualität, von Buch und Aneignung im Blick auf die Situation des Mittelalters eindringlich diskutiert. Gerade mittelalterliche Frömmigkeit tendiert dazu, das, was man als liturgische ,Klausur‘ bezeichnen könnte, als einengend und letztlich ungenügend zu erfahren: „La liturgie n’a jamais suffi à l’expression de la piété“, obwohl sie ohne diese gar nicht funktionierte: „À travers tout le moyen âge, la dévotion privée demande à la liturgie les cadres, à l’intérieur desquelles elle s’épanouit.“21 Nun sind Phänomene solcher Verinnerlichung zweifellos sehr viel schwerer zu erkennen und zu beschreiben als der normative (und schriftliche) Rahmen selbst, der sie umschließt und zugleich in sich hervorruft. Der evangelische Theologe und Kirchenhistoriker Christoph Markschies hat dies vor einigen Jahren zu Beginn eines Vortrags über „Liturgisches Lesen und die Hermeneutik der Schrift“ im Zusammenhang mit der liturgischen lectio diskutiert: „Natürlich existiert Literatur zu Art und Geschichte der speziellen Lesungsform, zur Geschichte der Lesezyklen in Gottesdiensten und Stundengebeten – aber praktisch kein einziger Titel, der die schlichte Frage stellt, was es eigentlich für das Verständnis der Texte bedeutet, wenn sie öffentlich in der Kirche […] verlesen wurden und werden.“22 Diese Feststellung gilt wohl erst recht für den Bereich der gesungenen Teile der Liturgie! Mit dieser „schlichten“ Frage, um die Formulierung von Markschies noch einmal aufzunehmen, betritt man also kaum erforschtes Neuland. Ich kann hier nur exemplarische Hinweise geben, in welcher Richtung solche Momente einer personalen Aneignung des im liturgischen Sprechen und Singen Vollzogenen – das, was ich versuchsweise den ‚Innenraum‘ von Buch und Schriftlichkeit nennen möchte – zu suchen wären. Zu denken ist an Miniaturen und figürliche Initialen liturgischer Handschriften, aber auch an textliche Erweiterungen und Interpolationen des liturgischen Grundbestands (insbesondere Tropen und Sequenzen). Hier wie dort sind Momente verdeutlichender „Ausmalung“ (wenn auch mit jeweils anderen Mitteln) auszumachen, und beide Spielformen solcher Interpolationen sind durchaus ambivalent zu sehen. Sie sind eben nicht nur als kultureller Schmuck und damit als potentielle Momente einer Dynamik der Veräußerlichung, also wie oben schon angedeutet: als potentieller Störfaktor des Kultes möglicher Diskreditierung ausgesetzt, sondern auch als protokollartige Reflexe dessen lesbar, was buchgebun-

21 Jean Leclercq, Dévotion privée, piété populaire et liturgie au moyen âge, in: Études de pastorale liturgique (Lex Orandi 1), Paris 1944, S. 149–183, hier S. 151, 154. 22 Christoph Markschies, Liturgisches Lesen und die Hermeneutik der Schrift, in: Peter Gemeinhardt u. Uwe Kühneweg (Hgg.), Patristica et Oecumenica. Festschrift für Wolfgang A. Bienert zum 65. Geburtstag (Marburger theologische Studien 85), Marburg 2004, S. 77–88, hier S. 77.



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dene Kodifizierung des Kultes in dessen Akteuren an Spiritualisierung und Personalisierung auslösen und freisetzen konnte. Das heißt zugleich auch, sie als Angebote zum Nachvollzug solcher Aneignungen des liturgisch Vorgegebenen aufzufassen. Auf eine Diskussion von Einzelbeispielen kann hier verzichtet werden, zumal ich diesen Entwicklungen wie den im Folgenden angesprochenen Aspekten an anderer Stelle schon eingehender nachgegangen bin.23 Womöglich noch interessanter sind allerdings Hinweise auf eine Aktualisierung, die über diese letztlich immer noch schriftgebundene Ebene hinaus in den Bereich der inneren, buchlosen Imagination führen könnte. Wenn sich solche Spuren finden lassen, dann begegnen sie naturgemäß nicht in den liturgischen Büchern selbst, wohl aber in Berichten über Interaktionsphänomene im Spiel von liturgischer Performanz und visionärer Schau. Ich sehe sie insbesondere in einer zwar schmalen, aber doch greifbaren Tradition einer Interaktion von gemeinschaftlicher liturgischer Performanz und dadurch ausgelösten subjektiven, als visionäre Vergegenwärtigung beschriebenen Erlebnissen.24 Diese Tradition setzt, wenn ich recht sehe, im 12. Jahrhundert ein, und zwar mit Elisabeth von Schönau, deren frühe Visionen in geradezu systematischer Weise liturgiereferenziell funktionieren und daher wie ein Tagebuch persönlicher Aneignung der gemeinschaftlichen klösterlichen Liturgie gelesen werden können.25 Visionen dieses Typs werden in der Regel von liturgischen Gesängen ausgelöst, und entsprechend ist der Chorraum – die ‚innere Kirche‘ des Klosters – der privilegierte Ort solcher Vorgänge. Im 13. Jahrhundert findet sich Vergleichbares bei Gertrud von Helfta und Mechthild von Magdeburg, oder beispielsweise auch  – wenn auch weniger beachtet – in den Collationes des 1270 verstorbenen Dominikaners Wichmann von Arnstein. Steht bei Elisabeth von Schönau das Moment des Schauens im Vordergrund, so finden sich bei Gertrud und ähnlich auch bei Mechthild immer wieder Hinweise auf oft sehr detailliert referierte Zwiegespräche mit den in der Schau begegnenden Personen: mit Christus selbst, aber auch mit Maria, Johannes und anderen Heiligen. Ähnliches gilt auch für die Dominikanerinnen in Engeltal, Töss, St. Katharinenthal oder Colmar, wobei in diesen Belege aus den so genannten Schwesternbüchern die Interaktion der Visionen mit der Liturgie, vor allem mit liturgischen Gesängen, ohnehin nur noch punktuell eine Rolle spielt, also nicht mehr jenen systematischen Status hat wie bei Elisabeth oder Gertrud.

23 Felix Heinzer, Claustrum non manufactum – Innenräume normativer Schriftlichkeit, in: Patrizia Carmassi u. Eva Schlotheuber (Hgg.), Schriftkultur und religiöse Zentren im norddeutschen Raum (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 24), Wiesbaden 2014, S. 141–161. 24 Einzelbelege auch hierfür in ebd. 25 Dazu Felix Heinzer, Unequal Twins. Visionary Attitude and Monastic Culture in Elisabeth of Schönau and Hildegard of Bingen, in: Beverly M. Kienzle, Debra Stoudt u. George Ferzoco (Hgg.), A Companion to Hildegard of Bingen (Brill’s Companions to the Christian Tradition 45), Leiden 2014, S. 85–108, bes. S. 85–94.





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Eine Gemeinsamkeit bleibt aber bestehen, und sie ist das eigentlich Bemerkenswerte: All diese Narrative verbindet zumindest die Tendenz zu einer gewissen Abwertung der gemeinschaftlichen, textzentrierten Liturgie – und damit des liturgischen Buchs – zugunsten einer persönlichen Verinnerlichung und affektiv geprägten Frömmigkeitserfahrung. „Die liturgische Feier bietet […] nur noch die Gelegenheit zu freier Betrachtung, die keinerlei Beziehung mehr zu den liturgischen Funktionen noch den Gebeten der Liturgie hat“, so hat 1938 der Maria Laacher Benediktiner Stephanus Hilpisch solche Formen latenter Subversion, die nicht zuletzt im Milieu spätmittelalterlicher Frauenkonvente zu beobachten sind, pointiert beschrieben.26 Symptomatisch für diesen Paradigmenwechsel sind jene ‚Störungen‘ der Liturgie durch visionäre Steigerungsvorgänge, die mehrfach in den dominikanischen Schwesternbüchern referiert werden. So wird von den Dominikanerinnen des bei Nürnberg gelegenen Klosters Engelthal berichtet, es hätten während des Requiems für eine verstorbene Konventualin etlich swester die Engel im Chor mitsingen hören, und zwar so laut, dass sie mit ihrem Gesang die messe uber sungen;27 auch sei eine Schwester beim Singen des Salve Regina wie von Sinnen durch den Chor geeilt, um ihre Mitschwestern anzustoßen und mit dem Ruf Singent, singent, Gottes mutter ist hie! aufzuschrecken.28 Es geht, und daher ist dieses letzte Beispiel so instruktiv, um ein Überspringen von Raum und Zeit durch die Behauptung einer Präsenz der im Text des liturgischen Gesangs angesprochenen Personen selbst. Das heißt: Die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit der Wahrnehmung scheint hier danach zu drängen, die diskursive Distanz außer Kraft zu setzen, die das Medium des Buches – ja der Sprache überhaupt – niemals abzuschütteln vermag. In extremer Zuspitzung läuft diese Tendenz in die Richtung eines Anspruchs auf Antizipation dessen, was man als eschatologische Präsenzerfahrung bezeichnen könnte: auf unmittelbare Begegnung also mit dem Göttlichen, zu der sich die Liturgie immer nur im Modus der Verweisung oder allenfalls Vor­ahnung verhält. Dass dabei in extremen Fällen sogar der Anspruch einer Überbietung der realpräsentischen Gegenwart Christi im eucharistischen Sakrament erhoben wird – die Erfahrung einer Kommunion ohne Liturgie, wenn man so will –, zeigt, wie weit solche Subversion geregelter kultischer Norm vorstoßen kann: „The alliance of Christ and recipient not only bypassed but also directly challenged the authority of the priest and the monastic discipline“, wie Caroline Walker Bynum in ihrem wichti-

26 Stephanus Hilpisch, Chorgebet und Frömmigkeit, in: Odo Casel (Hg.), Heilige Überlieferung. Ausschnitte aus der Geschichte des Mönchtums und des heiligen Kultes. Ildefons Herwegen zum ­silbernen Abtsjubiläum dargeboten, Münster i. W. 1938, S. 263–284, hier S. 274. 27 Vgl. ebd., S. 271. Der exakte Text in Der Nonnen von Engelthal Buechlein von der genaden Uberlast, hrsg. v. Karl Schröder, Stuttgart 1871, S. 38. 28 Elsbeth Stagel, Das Leben der Schwestern zu Töss, hrsg. v. Ferdinand Vetter (Deutsche Texte des Mittelalters 6), Berlin 1906, S. 28.



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gen Buch „Fragmentation and Redemption“ formuliert hat.29 Über das Buch hinaus kann also durch solche Gegenentwürfe innerer Erfahrungsmöglichkeiten die gesetzte Liturgie überhaupt in Frage gestellt, ja geradezu gesprengt werden – um noch einmal Hilpisch zu zitieren: „die Seele erlebte ja alles innerlich“.30 Womöglich wäre sogar zu überlegen, ob hier nicht auch bereits Zusammenhänge in den Blick geraten, die im 16. Jahrhundert im Kontext der Reformation zu einer sehr viel radikaleren Relativierung, ja Infragestellung der herkömmlichen Liturgie und nicht zuletzt des liturgischen Buchs führen konnten.31

29 Caroline W. Bynum, Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York 1991, S. 139. Einzelne Beispiele erneut in Heinzer (Anm. 23). 30 Hilpisch (Anm. 26), S. 270. 31 Dazu auch einige Überlegungen in Felix Heinzer, Cutting the Tradition. Changing Attitudes towards Liturgy, in: Jan Brunius (Hg.), Medieval Book Fragments in Sweden. An International Seminar in Stockholm, 13–16 November 2003 (Kungl. Vitterhets och Antikvitets Akademien, Konferenser 58), Stockholm 2005, S. 18–26.



Heidy Zimmermann (Basel)

Die Kantillation der Tora – Schlüsselritual im Schnittpunkt von mündlicher und schriftlicher Überlieferung Abstract: Der gesungene Vortrag der Tora ist seit der Spätantike zentraler Bestandteil des Synagogenkultes. Als kulturelles Schlüsselritual par excellence wird er in den einschlägigen Quellen theoretisch differenziert begründet, aber auch praktisch und lebensweltlich determiniert, wobei das Musikalische als integrierte Kategorie facettenreich aufscheint. Setzt man das im 8./9. Jahrhundert entwickelte Zeichensystem der masoretischen Akzente in Bezug mit aktuellen Beispielen praktischer Realisierung, lassen sich weitreichende Aufschlüsse über die sprachähnlichen Prinzipien und die spezifischen Bedingungen dieser Tradition vokaler Performanz gewinnen; daraus ergeben sich auch Ansatzpunkte für den Vergleich mit entsprechenden Praktiken der anderen Buchreligionen, insbesondere der Koranrezitation und der christlichen Psalmodie.

Die Kantillation der hebräischen Bibel in der kultischen Praxis der jüdischen Tradition gehört eindeutig zu den besser dokumentierten kultischen Lesungen innerhalb der Buchreligionen. Nicht nur stützt sie sich auf ein differenziertes Zeichensystem, das seit dem Mittelalter von Grammatikern kommentiert und reflektiert worden ist. Sie wird auch begleitet von weitreichenden konzeptionellen Überlegungen, die im rabbinischen Schrifttum, in halakhischen Erörterungen der beiden Talmudim und in der Midraschliteratur aufgehoben sind.1 Gleichwohl ist die musikalisch manifeste Oberfläche der Torakantillation nur über rezente Praktiken greifbar, die seit dem Beginn des 20.  Jahrhunderts ethnographisch erfasst worden sind. Dabei ist an Bestandsaufnahmen, die Jahrzehnte auseinanderliegen und ein vergleichbares Korpus untersuchen, sichtbar geworden, dass einzelne lokale Traditionen in ihrer melodischen Ausformung bemerkenswert konstant sind.2 Vorsicht ist aber dennoch geboten beim Versuch, Rückschlüsse auf Alter und Originalität dieser Melodien zu ziehen.3 Immerhin können wir mit plausiblen Gründen annehmen, dass sich struk-

1 Weiterführend hierzu Heidy Zimmermann, Tora und Shira. Untersuchungen zur Musikauffassung des rabbinischen Judentums, Bern u. a. 2000, S. 91–108. 2 Vgl. die Untersuchungen an phongraphischem Material vom Anfang bis zum Ende des 20. Jhs., die über mehrere Generationen von Ausführenden eine hohe Überlieferungstreue nachweisen: Reinhard Flender, Hebrew Psalmody. A Structural Investigation, Jerusalem 1992, S.  101; Avishai Ya’ar, The Cantillation of the Bible. The Aleppo Tradition (Pentateuch), Diss. New York 1996. 3 Stellvertretend genannt sei hier wegen seiner ebenso prominenten wie problematischen Thesen lediglich Eric Werner, The Sacred Bridge. The Interdependence of Liturgy and Music in Synagogue and Church during the First Millennium, London, New York 1959, ND New York 1984.

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turelle, rituelle und ästhetische Merkmale erschliessen lassen, die auch für Ver­ gleiche mit anderen Überlieferungen ergiebig sind (besonders etwa den Taǧwīd in der Koranrezitation, aber auch für große Teile der schriftlich überlieferten christ­ lichen Psalmodie). Im Folgenden werden die charakteristischen Eigenheiten der Torakantillation von zwei Seiten her beleuchtet: Zum einen werden die spezifischen Rahmenbedingungen rekapituliert, die dieses Schlüsselritual der jüdischen Tradition hinsichtlich ihrer Performanz ausmachen; zum andern möchte ich an ausgewählten Beispielen die strukturellen Eigenschaften des masoretischen Akzentsystems skizzieren und daraus einige Beobachtungen über die Wechselwirkungen von schriftlicher und mündlicher Überlieferung ableiten. Was landläufig als ‚Kantillation‘ bezeichnet wird und mithin als Gesang – wenn auch eine inferiore Art von Gesang – aufgefasst wird, heißt im Hebräischen qeriʿat ha-torā, „Lesung“ oder „Ausrufung der Tora“. Die Tora selbst wird in dieser Funktion zu miqra, „dem Gelesenen“, also einem genuin zu proklamierenden Text, wie es auch der Koran ist. Die Zeichen schließlich, und ihre Realisierung im Rahmen der Lesung im Einzelnen, werden teʿamīm oder – spezifischer – taʿamē ha-miqra genannt. Der für den hier interessierenden Zusammenhang der vokalen Performanz zen­ trale Begriff taʿam gehört ursprünglich in das semantische Feld sinnlicher Wahrnehmungen, im biblischen Hebräisch bedeutet er „Geschmack“ von Speisen im Mund und auf der Zunge, aber auch „Vernunft“, „Grund“ oder „Ursache“. Auf das Gehör und die übrigen Sinne erweitert meint taʿam später ebenfalls „Geschmack“. Im Sinn von „Bedeutung“ erscheint taʿam im rabbinischen Diskurs schließlich öfter als hermeneutische Kategorie bezogen auf den Sinn einer Auslegung von Schriftversen. Etliche Forschungsmeinungen tendieren dazu, aus einigen frühen Belegen des Begriffs taʿam bereits auf das Vorkommen von schriftlichen Akzentzeichen in talmudischer Zeit zu schließen.4 Eindeutige Hinweise auf schriftliche Zeichen lassen sich aber erst in den masoretischen Texten, unbestritten dann auch in den Kommentaren von Raschi (Rabbi Schlomo ben Jizchak, 1040–1105) und anderen seit dem 11. Jahrhundert ausmachen. Entscheidend für den Begriff taʿam ist, dass er sinnliche und rationale Aspekte insofern vereint, als er die verständliche, richtige Aussprache und Betonung wie auch die sinnstiftende Intonation und die korrekte Gliederung des Schrifttextes meint. Damit geht einher – und eine Auswertung der frühen Belege bestätigt dies – dass taʿam bzw. teʿamīm auf das Ganze zielt und sowohl die Zeichen­ ebene als auch die exegetische und performative Realisierung einschließt. Ein zweiter zentraler Apekt der Lesung ist die stimmliche Verlautbarung; neben dem neutraleren qerīʾā signalisiert der Begriff neʿīmā eindeutig Musikalisches. Der klassische Beleg dafür stammt aus dem Traktat Megilla, „Schriftrolle“, des babylonischen Talmuds:

4 Zur Diskussion der Belege vgl. Zimmermann (Anm. 1), S. 91–108.





Die Kantillation der Tora 

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R. Shefatya sagt im Namen R. Yochanans: Jeder, der die Schrift [die Tora] liest ohne Melodie (neʿīmā) und die Traditionsliteratur lernt ohne Gesang (zimrā), über den sagt die Schrift: So habe ich ihnen Gesetze gegeben, die nicht gut waren Satzungen, durch die sie nicht leben (Ez 20,25). Abbaye erwiderte: weil einer nicht versteht, die Stimme zu versüßen (li-bsōmē qalā), willst du über ihn herauslesen Satzungen, durch die sie nicht leben!5

Das Dictum folgt der typischen Methode des rabbinischen Diskurses, ein Argument aus einem Bibelvers abzuleiten oder es mit einem solchen zu begründen. Der Terminus neʿīmā ist deswegen besonders aufschlussreich, weil in ihm zwei Bedeutungsebenen sich überlagern. (Die öfter erhobene, wenig überzeugende Vermutung einer semantischen Beziehung zwischen neʿīmā und dem griechischen neuma, welche die Annahme direkter melodischer Abhängigkeiten zwischen jüdischer und christlicher Liturgie stützen sollte, sei hier ausgeklammert. Während das griechische neuma sehr wohl „Wink, Zeichen“ meint, ist neʿīmā semantisch nicht auf Graphisches zu be­ziehen, sondern auf den sinnlichen Aspekt von Gesang und dessen Wirkung.)6 Interessant ist dabei der innersemitische Bedeutungszusammenhang: Die hebräische Wurzel n-ʿ-m, „angenehm sein“, ist als Substantiv biblisch nicht belegt (als solches erscheint sie erstmals im apokryphen ‚Buch Ben Sira‘ für „angenehmen Laut / Klang“).7 Im rabbinischen Schrifttum erfährt n-ʿ-m eine Bedeutungskontamination mit dem syrischen Lehnwort naʾem bzw. neʿemta, das übersetzt wird mit „Laut, Stimme, Lied“. Daraus ergibt sich die an manchen Stellen im Zusammenhang mit Kantillation belegte Ver­ wendung von neʿīmā für „Melodie, Gesang“ mit eindeutig positiver ästhetischer Konnotation.8 So heißt es etwa in einem frühen Midrasch zur Erzählung von Moses Empfang der Tora: „Mose vernahm die Tora am Sinai; und mit der Melodie (neʿīmā), mit der er sie gehört hatte, brachte er sie den Israeliten zu Gehör“.9 Vor diesem semantischen Hintergrund wird in der rabbinischen Literatur immer wieder betont, dass die Schriftlesung ihre kultische Rolle als Proklamation des verbindlichen Rechts-, Moral- und Geschichtskodex nur erfüllt, wenn sie auch auf sinnlich ansprechende

5 Talmud bavli, Megilla, fol. 32a; zit. nach Der Babylonische Talmud, 12 Bde., übers. v. Lazarus Goldschmidt, Berlin 1929–1936, Bd. 4, S. 132. 6 Vgl. Zimmermann (Anm. 1), S. 47, Anm. 81. 7 Ben Sira 45,9: „Und er [Gott] brachte eine Menge Glöckchen und Granatäpfel an ringsum [am Kleid Aarons, des Priesters]. Sie sollten bei seinen Schritten lieblichen Klang geben, damit er im Heiligtum zu hören war und sein Volk aufmerksam wurde.“ Vgl. Jesus Sirach/Ben Sira, übers. u. erkl. v. Georg Sauer (Das Alte Testament Deutsch. Apokryphen 1), Göttingen 2000, S. 308. 8 Zu rechnen ist möglicherweise auch mit einer Verbindung zu naġma als Bezeichnung für Koranrezitation; vgl. Nehemia Allony, neʿīmā – naġma bi-yemē ha-benayyim (neʿīmā – naġma in Medieval Hebrew Literature), in: Yuval. Studies of the Jewish Music Research Centre 2 (1971), S. 9–27 (hebr.), 181 (engl. Zusammenfassung); Lois Ibsen al-Faruqi, An Annotated Glossary of Arabic Musical Terms, Westport, London 1981, S. 153, 225. 9 Mekhilta des Rabbi Yishma’el zu Ex 19,19 [Übers. HZ]; vgl. Wilhelm Bacher, Die Agada der Tan­ naiten, 2. Aufl. Straßburg 1903, S. 313, Nr. 6, sowie Mekhilta de-Rabbi Jishma’el. Ein früher Midrasch zum Buch Exodus, übers. u. hrsg. v. Günter Stemberger, Berlin 2010, S. 264.



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Art vorgetragen wird. So gehören zum Anforderungsprofil eines geeigneten Vorlesers neben untadeligem Lebenswandel und fachlicher Kompetenz auch Anmut und eine angenehme Stimme: [Mischna:] Stellt man sich zum Beten hin, so lässt man einen Greis [und Geübten als Vorbeter vor die Lade treten, der Kinder hat und dessen Haus leer ist, damit sein Herz sich ganz dem Gebet hingebe]. Die Rabbanan lehrten: Stellt man sich zum Beten hin, so läßt man nur einen Geübten vor die Lade treten, auch wenn ein Greis und ein Gelehrter anwesend sind. [Was für einen Geübten?] R. Yehuda sagt: Einen der mit Anhang [Familie] belastet ist und nichts besitzt, sich auf dem Felde abmüht und dessen Haus leer ist, von tadellosem Lebens­ wandel, demütig, beim Volk beliebt und der Anmut hat (yeš lō neʿīmā), eine angenehme Stimme (we-qōlō ʿarev)10 hat, im Lesen von Tora, Propheten und Hagiographen sowie im Studium von Midrasch, Halakha und Aggada bewandert und in allen Segenssprüchen kundig ist.11

Mit Rekurs auf den nicht explizit genannten Vers aus dem Hohenlied (Cant 2,14), in dem von der Stimme der Geliebten, von deren sinnlichem, auch erotischem Reiz die Rede ist, wird hier die Attraktivität der Stimme in ihrer Bedeutung für die Toralesung hervorgehoben. Bemerkenswert ist dabei, dass die praktische Rezitationskompetenz als Kriterium über die Würde des Alters und der Gelehrtheit gestellt wird. Darüber hinaus manifestiert sich hier auch ein Bewusstsein für die nichttextlichen, ‚soziokorporellen Elemente‘ der Performanz: Die Stimme projiziert den Körper in den Raum, wodurch der Text selbst eine fiktive Unmittelbarkeit erlangt.12 Wer demzufolge einen kultischen Text und zumal jenen der Tora zu Gehör bringen will, muss dies auch akustisch angemessen realisieren können, muss also über eine angenehme und ­flexible Stimme verfügen, damit die Hörer nicht nur verstehen, sondern sich dem Offen­barungstext mit Wohlgefallen und Interesse zuwenden. Andernfalls würde die Performanz missglücken, wie die folgende Spruchsammlung aus ‚Shir ha-Shirim Rabba‘, dem großen Midrasch zum Hohenlied ausführt (unter dem gleichen assoziativen Stichwort ʿarev übrigens, mit dem in anderem Zusammenhang der Ausschluss von Frauen vom Vorleseramt begründet wird): [Von Honigseim triefen Deine Lippen, Braut, unter deiner Zunge ist Honig und Milch (Cant 4,11). Was bedeutet das?] R. El’azar sagt: Jeder, der Worte der Tora öffentlich vorträgt und sie den Zuhörern nicht angenehm (ʿarevīn) sind, […] dem wäre besser, er hätte sie nicht gesagt. R. Yose sagt: Jeder, der Worte der Tora öffentlich vorträgt und sie den Hörern nicht angenehm sind wie Honig, […] dem wäre besser, er hätte sie nicht gesagt. Die Rabbanan sagen: Jeder, der Worte der Tora öffentlich vorträgt und sie den Hörern nicht angenehm sind wie Honig und Milch, […] dem wäre besser, er hätte sie nicht gesagt. […] R. Levi sagte: Aber wer die Schrift vorliest in

10 Vgl. Cant 2,14: qolekh ʿarev. 11 Talmud bavli, Taanit, fol. 16a [Übers. HZ]; vgl. ‚Der Babylonische Talmud‘ (Anm. 5), Bd. 3, S. 687. 12 Vgl. Paul Zumthor, Körper und Performanz, in: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hgg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. 1995, S. 703–713.





Die Kantillation der Tora 

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ihrer Süße und Melodie (be-ʿanūgō u-ve-niggūnō), über den heißt es: Honig und Milch sind unter deiner Zunge.13

Wenn die Verlesung in einer alle Sinne ansprechenden Weise geschieht, scheint also auch das Verständnis des Textsinns in seiner Vielschichtigkeit gewährleistet. Andererseits ist derjenige, der eine ‚schöne Stimme‘ hat, in stärkerem Maß verpflichtet, das Amt des Vorlesers zu übernehmen. Fragt man nach den Gründen für die Verschriftlichung der jüdischen Kantillationspraxis im ausgehenden ersten Jahrtausend, trifft man auf eine multifaktorielle Gemengelage. Neben handschriftlichen Quellen, deren früheste wie etwa der berühmte, aber nur fragmentarisch erhaltene ‚Codex Aleppo‘14 auf das späte neunte Jahrhundert zurückgehen, sind auch Aspekte kulturgeschichtlichen Wandels zu berücksichtigen. Ein erster Faktor, der hier eine Rolle spielt, ist die schwindende Hebräischkompetenz angesichts der fortdauernden Diasporasituation vieler jüdischer Gemeinden; denn damit schwand auch die Überlieferungssicherheit für den biblischen Konsonantentext, und es drohte ein Traditionsverlust für die Verlautbarung des Textes in phonetisch, grammatisch und rhetorisch korrekter Form. Entsprechende Mitteilungen über sprachliche Assimilationssymptome finden sich im zehnten Jahrhundert etwa bei dem Karäer Jacob al-Qirqisani, der in Jerusalem ansässig war,15 und in dem jemenitischen Traktat ‚Mahberet ha-Tiǧān‘. Dort heißt es über die Gründe für die Verschriftlichung der Lesepraxis: Und Mose pflegte ihnen den Text vorzulesen und lehrte sie verlässlich all die Unterschiede in der Vokalisation. Dies waren Bewegungen des Mundes und der Hand, wie die Weisen sagten: ‚Man wischt sich nicht mit der Rechten ab, weil man damit die Akzente der Tora zeigt.‘16 Dies ist der wirkliche Brauch, und so pflegte man auch alles zu diktieren. Aber als sie sahen, dass die Zerstreuung begann und dass die Sprache verwirrt [wörtlich ‚in Teile zerrissen‘] wurde, fürchteten sie, die Sprache könnte vom Volk abgeschnitten und vergessen werden. Darum begannen sie Zeichen und Markierungen zu setzen.17

13 Midrasch Shir ha-Shirim Rabba, Edition Wilna [1923], ND Jerusalem [s. a.], 4, 24 (zu Vers 4, 11) [Übers. HZ]; vgl. Der Midrasch Schir-Haschirim, ins Deutsche übertr. v. August Wünsche (Biblioteca Rabbinica Lfg. 6–7), Leipzig 1880, S. 124. 14 The Aleppo Codex. The Codex Considered Authoritative by Maimonides, Provided with Masoretic Notes and Pointed by Aaron Ben Asher, hrsg. v. Moshe H. Goshen-Gottstein, Jerusalem 1976; neuer­ dings digital zugänglich und kommentiert unter: The Aleppo Codex, URL http://www.aleppocodex. org/links/9.html (einges. 23.6.2014). 15 Jacob al-Qirqisani, Kitāb al-anwār w-al-marāqib (937); vgl. hierzu (mit Teiledition) Bruno Chiesa, The Emergence of Biblical Hebrew Pointing. The Indirect Sources, Frankfurt am Main 1979, S. 22, 26. 16 Zitat aus dem Talmud bavli, Berakhot, fol. 62a; vgl. ‚Der Babylonische Talmud‘ (Anm. 5), Bd. 1, S. 279. 17 Petite grammaire hébraïque provenant de Yemen. Texte arabe publié d’après les manuscrits connus, hrsg. v. Adolf Neubauer, Leipzig 1891, S. 23.



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 Heidy Zimmermann

Die Einführung eines Notationssystems, wie es die masoretischen Akzente darstellen, wäre demnach zumindest teilweise eine Maßnahme zur „Traditionssicherung“,18 reagierend auf die Wahrnehmung einer Krise in der Aussprachetradition. Ein zweiter Punkt betrifft die funktionale Materialgebundenheit des Toratextes. Für die kultische Lesung kommt aus halakhischer Sicht – spätestens seit den im Traktat ‚Soferim‘ (zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts) festgehaltenen Bestimmungen – nur eine taugliche Schriftrolle aus Pergament mit dem bloßen Konsonantentext in Frage.19 Das hatte zur Folge, dass sich die jüdische Schriftkultur – im Gegensatz zur christlichen und islamisch-arabischen – erst relativ spät, wohl gegen Ende des 8.  Jahrhunderts, auf das neue Medium der Codices in Buchform eingelassen hat. Damit standen nun aber zwei klar unterschiedene Medien zur Verfügung, die funktional in keiner Weise miteinander konkurrierten: Während Schriftrollen weiterhin für den Kult erforderlich waren, konnten Codices als Textbasis für Unterricht und Studium verwendet werden. In ihnen erfolgte dann auch seit dem späten achten Jahrhundert die systematische Verschriftlichung aller Ebenen der Masora (Vokalisation, Punktation und Akzentuation). Mit dieser funktionalen und situativen Trennung geht auch einher, dass Punkte und Akzente niemals zur Rezitation prima vista dienen, sondern lediglich den Kompetenzerwerb, die Memorisierung und die Rekapitulation für die kultische Lesung unterstützen. Als dritter Faktor ist zu berücksichtigen, dass für die Verschriftlichung der Aussprachetradition die Karäer eine bedeutende Rolle gespielt haben dürften. Diese antirabbinische Sekte hatte mit ihrem Ruf „Zurück zur Schrift“ ein verstärktes Bewusstsein für die Textgestalt der Tora und damit natürlich ein vitales Interesse, sich auf einen möglichst präzisen Text stützen zu können. Die bedeutendsten Figuren der Masoreten gehörten daher auch den Karäern an oder scheinen ihnen zumindest nahe gestanden zu haben. (Allerdings ist dieser Befund bis heute nicht unbestritten, da der Autoritätsanspruch des rabbinischen Mainstreams auch in die Forschungsliteratur hineinwirkt.) An dieser Stelle ist endlich noch eine konzeptionelle Prämisse ins Spiel zu bringen, die für den besonderen Stellenwert der Torakantillation fundamental ist: Gemeint ist die Vorstellung von mündlicher und schriftlicher Offenbarung und das damit gekoppelte Konzept von schriftlicher und mündlicher Tradition. Die Torakantillation lässt sich gleichsam im Fadenkreuz dieser beiden Über­ lieferungsachsen situieren. Die Auffassung, dass die Tora – im Gegensatz zum Neuen Testament oder zum Koran – ein in Schrift geoffenbarter Text sei, geht einher mit dem Postulat ihrer buchstabengetreuen schriftlichen Überlieferung (Achse 1–3). Das Kondensat des hebräischen Konsonantentextes, dessen Vokalqualitäten und Laut­

18 Vgl. Aleida Assmann u. Jan Assmann, Schrift, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8 (1992), S. 1417–1429, hier S. 1417f. 19 Vgl. Chiesa (Anm. 15), S. 7, 50.





Die Kantillation der Tora 

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1  2 mündliche   schriftliche Offenbarung Offenbarung

              Torakantillation

 3   4 mündliche   schriftliche Überlieferung                     Überlieferung

Abb. 1: Torakantillation im Schnittpunkt von mündlicher und schriftlicher Offenbarung bzw. Überlieferung.

varianten nicht festgelegt sind, bedarf aber wie gesagt einer mündlichen Begleitüberlieferung, der sogenannten Masora. Anders gewendet: Es ist erst die stimmliche Reali­sierung des defizitären Konsonantentextes, welche eine große Menge von dessen kommunikativer Information transportiert. Diese Aussprache- und Gesangstradition gilt nach rabbinischem Verständnis als mündliche Offenbarung, die von vornherein mit dem schriftlichen Kommunikat gekoppelt ist, um dessen Verlautbarung sicherzustellen (Achse 2–4). Das heißt, die vokale Performanz der Tora ist auf verschiedene Überlieferungsachsen angewiesen, mündliche wie schriftliche. Mit der Verschriftlichung der Masora tritt eine zweite Zeichenebene zum Konsonantentext hinzu. Die beiden Ebenen bleiben aber konzeptuell voneinander getrennt nach dem Grundsatz: Was schriftlich offenbart ist, muss im Medium der Schrift überliefert werden, was mündlich offenbart ist, auf mündlichem Weg.20 Dieses Prinzip mag auf der sprachspezifischen Einsicht gründen, dass die Konsonantenschrift nur einen sehr unzureichenden Speicher für sämtliche Aspekte der Aussprachetradition darstellt.

Abb. 2a (links) u. Abb. 2b (rechts): Gn 1,1–5: Konsonantentext, wie er in der Torarolle bei der kulti­ schen Lesung erscheint (Abb. 2a), und masoretischer Text in Codices und Drucken zur Verwendung beim Studium (Abb. 2b) (aus: Tiqqūn qor’īm li-qrīat ha-tōrā [ND der Ausgabe von Wolf Heidenheim], Bne-Braq 1990, S. 1).

20 Vgl. Talmud bavli, Temurot, fol. 14b; ‚Babylonische Talmud‘ (Anm. 5), Bd. 12, S. 44. Vgl. hierzu Peter Schäfer, Das ‚Dogma‘ von der mündlichen Torah im rabbinischen Judentum, in: ders. (Hg.), Studien zur Geschichte und Theologie des rabbinischen Judentums, Leiden 1978, S. 153–197.



216 

 Heidy Zimmermann

Der vollständig punktierte masoretische Text enthält neben den Diakritika für Vokale und anderen phonetischen Merkmalen die teʿamīm, die eigentlichen Akzentzeichen, je nach Zählung 26–30 an der Zahl. Diese Zeichen, die in sehr unterschiedlicher Häufigkeit in der Tora vorkommen, haben phonetische, syntaktische und melodische Funktionen und bilden ein hierarchisches System, das sprachähnliche Eigenschaften aufweist. Der Zeichenbestand gliedert sich in zwei syntaktische Kategorien: in Konjunktive, welche Wortverbindungen sicherstellen, und Disjunktive mit der Funktion, syntak­ tische Einheiten zu trennen. Während die Konjunktive strukturell gesehen ein­ander gleich sind und sich lediglich durch ihre stereotypen Kombinationsmöglichkeiten unterscheiden, bilden die Disjunktive hierarchische Klassen (Grad I–IV), die wiederum nach bestimmten Regeln kombiniert werden. Ohne dass hier auf Einzelheiten eingegangen werden kann, gibt die nebenstehende Tabelle einen Überblick über die Namen, Häufigkeiten und Hierarchien der Akzente sowie über die Kombinationsmöglichkeiten von Disjunktiven und Konjunktiven. Ebenso wie bei den einfacheren Protosystemen von Akzenten, die sich etwa in der jemenitischen Tradition erhalten haben, bildet auch im masoretischen System der Vers die Grundrezitationseinheit. Anders als jene aber, die mit ihrer einfachen zweiteiligen Struktur der Psalmodie gleichen, hat das masoretische System für die prosaischen Bücher hierarchische Regeln ausgebildet, nach denen stereotype Kombinationen auf den Text verteilt werden. Je nach Länge und syntaktischer Struktur eines Verses sind es demnach unterschiedliche Akzentfolgen, welche die Rezitation modulieren. Die Übersichtstabelle auf S. 218 zeigt die Verteilung der Akzente in den 31 Versen von Gn 1 (Disjunktive sind fett gesetzt, Konjunktive in normaler Type davor gelagert). Auf den ersten Blick sichtbar ist die generelle Zweiteiligkeit der Verse, markiert durch die Schlüsse auf 1 (Atnach, Versmitte) und 2 (Sof pasuq, Versende). Dabei können die Proportionen von Atnach- und Sof pasuq-Segment – abhängig von der grammatischen Struktur der Verse – sehr unterschiedlich ausfallen. Drei der hier aufgelisteten Verse (13, 19, 23) bestehen gar nur aus dem zweiten Segment: Es sind jene mit dem formelhaften Satz, der in der Schöpfungserzählung jeweils die Zäsur der Tage markiert (wa-yehi ʿerev wa-yehi voker yom shlishi bzw. reviʿi bzw. chamishi, „und es ward Abend und es ward Morgen, Tag drei / vier / fünf“). Darüber hinaus werden in dieser Darstellung die Regelmäßigkeiten und die rückläufige Struktur der Akzentverteilung deutlich. Beide Segmente weisen stereotype Kombinationen auf, die vom jeweiligen Ende her dem Text zugeordnet sind und deren Positionen auch ‚Null-Elemente‘ aufweisen können (das heißt fakultative Konstituenten, die je nach Länge und syntaktischer Konstruktion fehlen). Hinzu kommt, dass die Verschachtelung sich wiederholender Elemente einerseits und von Akzenten verschiedener Klassen andererseits besonders bei längeren Versen dazu dient, syntaktische Hierarchien zu verdeutlichen. In der Performanz transportieren diese Merkmale – und das ist ein entscheidender Punkt – sowohl für den Vorleser als auch für die Hörenden wichtige Informationen zur Orientierung im Text. 

Die Kantillation der Tora 

Abb. 3: Häufigkeiten und Kombinationsmöglichkeiten von Disjunktiven und Konjunktiven: X = zulässige Kombinationen; X̲ = zwingende Kombinationen; (X) = sekundäre Bindeakzente, die nur in Kombination mit anderen auftreten können; X2 = Indices geben an, wie oft der gleiche Akzent unmittelbar hintereinander wiederholt werden kann.

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19_7 19_17

19_7

20_10 10

24_20_10

21_10

19_7 7

20_10

10

24_20_10

24_13 20_10 10

10

20_10 20_10

20_10 24_20_10 7 11 19_5 19_14 20_10 17 19_20_10

7

19_9 3 24_13 7 25_24_13 19_19_7 24_13 19_19_7

19_25_24_13

23_12

21_12

20_10 24_13

19_7

19_7

3 23_12 24_13

19_9

23_12

7

Abb. 4: Gn 1,1–31: Akzentverteilung und Rekursivität.

Vers 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 8 8 8 21_12 8 12 21_8 21_12 8 21_8 21_12 21_8 12 21_8 21_8 8

19_5 19_5 19_5

5 5 19_5 5 19_5 24_19_5 19_5

19_5 5

6 21_8 8 21_8 8 21_8

19_5 19_5 19_5

19_5 5 5 5 23_12

5 19_5 19_5 19_5

5

20_10 19_5

20_10

20_10

2 2 2 19_2 2 19_2 2 2

14

25_24_13 19_7

20_10

10

19_2 10 2 19_19_19_15 25_24_13 7 24_20_10 2 19_7 20_10

19_2 2 2 19_2 19_2

Atnach-Segment 8 19_2 8 19_2 21_8 2 8 2 8 19_2 21_8 19_2 8 19_2 8 2 8 2 21_8 19_2 21_8 2 21_8 2

19_5

5

19_5 5 5

19_5

19_5

19_5

19_5

19_5

Sof Pasuq-Segment 21_8 21_1 8 21_1 1 21_8 21_1 21_8 21_1 21_8 1 1 21_8 21_1 1 21_8 1 1 21_8 1 21_8 21_1 8 1 1 8 1 8 1 21_8 1 21_8 21_1 8 21_1 21_8 1 8 21_1 21_8 21_1 1 21_8 1 8 21_1 21_8 21_1 8 21_1 21_8 1 1 21_8 21_1

218   Heidy Zimmermann

Abb. 5: Übertragung einer aschkenasischen Kantillation von Gn 1,1–5.

 Die Kantillation der Tora   219



220 

 Heidy Zimmermann

Die Übertragung der ersten Verse der Tora schließlich zeigt, wie die melodische Ebene der Akzente ausfallen kann – hier in einer Lesung nach aschkenasischer Tradition. In dieser Tradition ist jeder Akzent Träger einer melodischen Formel, deren Grundgestalt – je nachdem in welchem Kontext sie auftaucht – Varianten aufweist. Diese Adaption der melodischen Wendungen auf den Text erfolgt nach einem differenzierten sprachähnlichen System, das Aspekte wie Silbenzahl und Betonungsorte von Wörtern beziehungsweise Wortkomplexen berücksichtigt, aber auch auf den zu generierenden melodischen Verlauf Rücksicht nimmt. Die Übertragung beschränkt sich auf die Wiedergabe der Tonhöhen ohne den prosodisch freien Rhythmus. Die betonte Silbe ist jeweils unterstrichen, darüber findet sich die Akzentnummer. Schon in diesen wenigen Versen gibt es verschiedene Akzente, deren Gestalt aufgrund der sprachlichen Struktur und des melodischen Kontextes modifiziert wird – einige Beispiele: 1. Sof pasuq (1), dessen Grundgestalt die Töne a–f aufweist, kann syllabisch oder melismatisch ausfallen, je nachdem ob die letzte oder die zweitletzte Silbe betont. ist, wobei zusätzliche Silben auf dem Rezitationston g vorgelagert werden (vgl. v. 1, 3) 2. Tipcha (8) hat eine auf- oder absteigende Grundgestalt, je nachdem ob der Akzent in der Versmitte (vor 2) oder am Versende (vor 1) erscheint (vgl. vv. 4 u. 5). 3. Der ebenfalls häufige Akzent Zaqef qaton (5) kommt in den vv. 2, 4 und 5 vor und prägt verschiedene Varianten aus: Die Grundgestalt a–c–g (v. 2: elohim) wird im Anschluss an Pashta (10) – gleichsam einem Trägheitsgesetz folgend – adaptiert zu c–a–g in v. 2, Anfang bzw. auf dem einsilbigen yom in v. 5 verkürzt auf a–g. Diese wenigen Hinweise müssen genügen, um die masoretischen Akzente als flexibles Formelsystem zu beschreiben. Entscheidend ist, dass die Zeichen hier die Funktion konventioneller Indikatoren angenommen haben, die den assoziativen Zugriff auf Melodiewendungen sichern. Der Sänger ruft aufgrund bedingter Reflexe melodische Gestalten auf, die er am Text nach systemischen Regeln adaptiert. Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die Kantillation der Tora zwar nicht auswendig,21 aber allein aufgrund des Konsonantentextes vorgetragen wird, und sich weiter bewusst macht, dass mit gegen 6 000 Versen und bis zu fünf Kapitel umfassenden Perikopen ein zwar begrenztes, aber doch umfangreiches Korpus zu beherrschen ist, so wird die erstaunliche Konstruktionsleistung fasslich, die ein Vorleser im Zuge einer lectio continua des Pentateuchs erbringt. So verlangt die kultische Performation der Tora einen kompetenten Sänger, der nicht nur über ein ausgezeichnetes Gedächt-

21 Talmud yerushalmi, Megilla IV, 1 (fol. 74d); vgl. Megilla. Schriftrolle, übers. v. Frowald G. Hüttenmeister (Übersetzung des Talmud yerushalmi 2, 10), Tübingen 1987, S. 135. Die Bedingung, dass die Tora von einem schriftlichen Text verlesen werden muss, stellt einen der zentralen Unterschiede zur Koranrezitation dar, welche auswendig und nicht selten von blinden Rezitatoren vorgetragen wird; vgl. Zimmermann (Anm. 1), S. 125, 126–133.





Die Kantillation der Tora 

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nis verfügt, sondern ebenso über eine Sprachkompetenz, die die intuitive Beherrschung von Grammatik, Betonungsregeln und Textformeln einschließt, einen Sänger auch, der die Umsetzung der melodischen Formeln aufgrund internalisierter Modelle praktizieren kann. Die jüdische Tradition hat von vornherein auf eine diastematische Notation ihrer Kantillationspraxis verzichtet, wie sie auch in Abgrenzung zum Christentum die Verwendung von Instrumenten im Kult stets abgelehnt hat. Denn es geht bei der Rezitation auch und vor allem um die Bewahrung der Aussprachetradition jenes heiligen und kulturell verbindlichen Textes, dessen schriftliche Überlieferung durch das streng kontrollierte Abschreiben von Tora-Rollen gesichert ist. Indem parallel zum Konsonantentext der Offenbarungsschrift auf einen abstrakten Zeichenbestand gesetzt wurde und man im Übrigen danach strebte, die mündliche Überlieferung weiterhin zu pflegen, wurde ein offenes System geschaffen, das die Tradition flexibel zu halten und Varianten der Gesangspraxis sowohl diachron als auch synchron zu absorbieren vermag. Diese ‚Überlieferungspolitik‘ wurde zweifellos auch dadurch ermöglicht, dass das Judentum keine hierarchisch organisierte Religion ist, sondern sich als um einen heiligen Text gruppierte community versteht, eine textual community im Sinne Brian Stocks, in der alle (männlichen) Mitglieder zumindest potentiell über die Kompetenz zur gültigen kultischen Rezitation verfügen.22 So konnten Juden in allen Teilen der Diaspora sich über Jahrhunderte auf die gleiche Notation beziehen und dabei sehr unterschiedliche musikalische Gestalten hervorbringen. Anders gesagt: Weil die Zeichen selbst einen hohen Abstraktionsgrad aufweisen und ihre Intonierung im Bereich der mündlichen Überlieferung belassen wurde, ist die Tradition in hohem Maße flexibel geblieben und hat historische Veränderungen wie auch regionale Varianten zu absorbieren vermocht.

22 Vgl. Brian Stock, Listening for the Text in the Uses of the Past, Baltimore, London 1990, S. 140– 158; vgl. die Überlegungen zur „chant community“ bei Max Haas, Musikalisches Denken im Mittel­ alter. Eine Einführung, Bern 2005, S. 216–218.



Angelika Neuwirth (Berlin)

Die vielen Namen des Koran. „Offenbarung“, „Inlibration“ oder „Herabsendung“ und „Lesung“?1 Abstract: Das, was wir als ‚koranische Offenbarung‘ zu bezeichnen pflegen, verband sich bei seinem unmittelbaren Empfänger mit deutlich verschiedenen Erfahrungen. Neben der gleichsam vertikal erfahrenen Kommunikation, tanzīl, („Herabsendung“), und der geheimnisvollen „Eingebung“ (waḥy), die beide auch die Erfahrung früherer Propheten beschreiben, stand die ganz unmythisch begriffene Genese von Vortragstexten aus intensiver asketischer Praxis heraus. Hier war es ein Hör-Erlebnis, ebenfalls als waḥy begriffen, das sich im Anschluss an eigene Rezitationen bereits zuhandener Texte einstellte. Wichtig ist die noch vorsprachliche Qualität der Eingebungen, waḥy, die erst durch den Sprechakt des Propheten zu versprachlichen und zu de-kodieren waren, bevor sie an die Hörer weitergeleitet werden konnten – ein Offenbarungsverständnis, das für die islamische Theologie bis heute von Bedeutung ist. Die Hörer, die zu Lebzeiten des Propheten mit ihm gemeinsame Gottesdienste feierten, vollziehen seit dem Verstummen des lebendigen Vortrags durch seinen Tod mit ihrem gleichzeitigen ‚In-sich-Hineinhören‘ und ihrem Rezitieren des Koran eine imitatio des Propheten.

Wir sind gewohnt, den Koran ganz unproblematisiert als ‚Offenbarungsschrift‘ der Muslime zu bezeichnen. Damit nehmen wir eine Übertragung aus einem christlichen Diskurs der Neuzeit vor, die an der Wortbedeutung der koranischen Selbstbezeichnung als qurʼān („Lesung“) vorbei geht. Ich möchte im Folgenden einen Perspek­ tivenwechsel vornehmen und – anstelle der ‚koranischen Offenbarung‘ die ‚koranische Kommunikation‘ fokussieren, und damit für eine Lektüre des Koran nicht – wie üblich – als exklusiv-muslimischer Religionsurkunde, sondern als Dokument spät­ antiker theologischer Debatten plädieren; Debatten, aus denen nach dem Judentum und Christentum auch der Islam hervorgegangen ist.

1 Die hier dargelegten Beobachtungen werden bis in die Moderne hinein weiter verfolgt in Angelika Neuwirth, Offenbarung, Inlibration, Eingebung oder Herabsendung? Überlegungen zu den Medialitäten der koranischen Verkündigung, in: Joachim Negel/Margareta Gruber OSF (Hgg.), Figuren der Offenbarung biblisch, religionstheologisch, politisch. Ökumenische Beiträge aus dem Theologischen Studienjahr Jerusalem I. Münster 2012, S. 205–236. Für den sich wandelnden Status der koranischen Offenbarung und sein Verhältnis zu den biblischen Traditionen siehe Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang. Berlin 2010.



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Der Koran selbst gibt Auskunft über den Vorgang seiner Genese; wobei verschiedene Szenarien vorgestellt werden. Die heute so gängige Bezeichnung „Offenbarung“2 steht also für gleich mehrere koranische Begriffe: zum einen für waḥy („Eingebung“)3 und zum anderen für tanzīl („Herabsendung“),4 vor allem aber für qurʼān („Lesung“) aus einer himmlischen Vorlage (kitāb). Im Folgenden sollen daher zunächst die koranisch maßgeblichen Texte zu waḥy, tanzīl und qurʼān sowie kitāb kurz beleuchtet werden, bevor wir – nach einem Umweg über die Inlibrationsdebatte – versuchen wollen, ein Gesamtbild von den faktisch wesentlich komplexeren Medialitäten des Koran zu entwerfen.

1 „Offenbarung“ im Koran: Waḥy und tanzīl 1.1 Tanzīl Wenden wir uns zunächst dem Begriff tanzīl („Herabsendung“) zu, der das Bild einer vertikalen Vermittlung der göttlichen Botschaft evoziert. Die Idee der „Herabsendung“ der Botschaft durch den göttlichen Sender, die zunächst nur sporadisch, in den frühmekkanischen Suren  97:1, 69:43 und 56:80, begegnet, bleibt im Bild einer älteren Vorstellung von der Vermittlung übernatürlichen Wissens: Sie erscheint wie eine korrigierende Ersetzung einer vorislamisch geläufigen Erklärung außergewöhnlicher, d.  h. dichterischer Sprache, die man sich als vermittelt durch inspirierende Geister, Jinnen oder Shaytane, vorstellte, die ihr aus höheren Himmelssphären bezogenes Wissen5 auf die zu inspirierenden Individuen, d. h. die Dichter, ‚herabbringen‘. Ein früher Text, Sure  69:41–43, wendet sich gegen eben diese Unterstellung einer Inspiration Muhammads nach dem Muster der Dichter, deren ‚Musen‘ gewissermaßen die inspirierenden Dämonen sind. Der nicht transzendent verbürgten Rede, wird dabei das Gotteswort entgegengestellt:

2 Siehe dazu Siegfried Wiedenhofer, Offenbarung, in: Peter Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 4, München 1991, S. 98–115. 3 Nasr Hamid Abu Zayd, Mafhūm al-naṣṣ. Dirāsa fī ʿulūm al-Qurʾān (‚Der Begriff Text. Studie zu den koranischen Wissenschaften‘), Kairo 1990. Siehe dazu Navid Kermani, Offenbarung als Kommunikation. Das Konzept waḥy in Nasr Hamid Abu Zayds Mafhūm al-naṣṣ, Frankfurt 1996. 4 Siehe dazu Stefan Wild, ‚We have sent down to thee the Book with the truth…‘. Spacial and temporal implications of the Qurʾanic concepts of nuzūl, tanzīl and inzāl, in: ders. (Hg.), The Qurʾan as Text, Leiden 1996, S. 137–153. 5 Siehe Jacqueline Chabbi, Jinn, in: Encyclopaedia of the Qurʾan, Bd. 3 (2003), S. 43–50, und Gerald Hawting, Eavesdropping on the heavenly assembly and the protection of the revelation from demonic corruption, in: Stefan Wild (Hg.), Self-Referentiality in the Qurʾan. Wiesbaden 2006, S. 25–38.



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Es ist nicht die Rede eines Dichters – wie wenig ihr doch glaubt! Noch die eines Wahrsagers – wie wenig ihr euch doch besinnt! Es ist vielmehr eine Herabsendung vom Herrn der Welten.6

Die Herabsendungs-Metapher wird in späteren Korantexten identifiziert mit dem Modus der Vermittlung auch der bereits existierenden Heiligen Schriften, die alle als munazzal, („herabgesandt“) gelten, und gewissermaßen als Exzerpte aus der präexistenten Himmlischen Schrift vorgestellt sind. Angesichts dieser gemeinsamen Herkunft legt sich die Annahme nahe, dass tanzīl („Herabsendung“) vielleicht durch eine ältere monotheistische Formulierung geprägt worden sein könnte. Im Nicäischen Glaubensbekenntnis heißt es von Christus, nazala mina l-samāʾ („herabgestiegen vom Himmel“). Das Bild des Herabsendens könnte also in frühmekkanischer Zeit durchaus auf eine Manifestation des Wortes Gottes zielen, die über die verbal-semantische Vermittlung hinausgeht und als ‚vokale Verkörperung‘ neben den üblicherweise mit der Schrift gegebenen Erscheinungsformen von Lehre und Rechtleitung steht. Obwohl sich der Koran als dezidiert verbal-definiertes Gotteswort ausweist, zeigt er doch ausgeprägte strukturelle Analogien zu dem fleischgewordenen Gotteswort, so dass in neuerer Zeit sogar vom Koran als einer „Inlibration“ gesprochen worden ist.

1.2 Waḥy Wie die Botschaft an den Verkünder kommt, wird in den frühen Texten an zwei separaten Szenarien exemplifiziert. Das eine ist eine Vision. Hier wird die Botschaft selbst als „Eingebung“ (waḥy) bezeichnet (Sure 53:4–12): Er [der Koran] ist eine Eingebung, die ihm eingegeben wird (waḥyun yuḥā) die ihn ein Mächtiger lehrte groß an Ansehen, der hoch aufgerichtet stand am höchsten Horizont und näher kam und sich herabsenkte nur noch zwei Ellen entfernt oder noch näher und eingab seinem Diener, was er ihm eingab (awḥā ilā ʾabdihi mā awḥā). Nicht trog ihn das Herz über das was er schaute Wollt ihr ihm bestreiten was er schaute?7

Was heißt aber waḥy tatsächlich? Das Wort entstammt nicht der biblischen Tradition. Das bereits in der vorislamischen Dichtung geläufige Wort bezeichnet dort eine für

6 Die Übersetzungen sind die eigenen der Verfasserin. Für die frühmekkanischen Suren sind sie entnommen aus Angelika Neuwirth, Der Koran. Band I: Frühmekkanische Suren, Berlin 2011; s. den Kommentar zur Sure ebd., S. 448–568. 7 Siehe den Kommentar zur Sure ebd., S. 643–685.





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den Hörer nicht verständlich artikulierte Botschaft, die sich etwa im Zwitschern von Vögeln, im Einsatz einer fremden Sprache, vor allem aber – das ist die vorherrschende Bedeutung – in einer für den Betrachter unlesbaren Schrift auf Felswänden mitteilt. Beide – auf den ersten Blick schwer zu kombinierenden – Bedeutungen können zum Verständnis der koranischen Offenbarungsvorstellung beitragen. Da sich waḥy in der Bedeutung einer unlesbaren Schrift im Koran ganz offenbar reflektiert,8 ist ein kurzer Blick auf den Gebrauch von Schrift auf der Halbinsel instruktiv. Schrift genoss wenig Ansehen in den Augen jener Nomaden, die wir in der altarabischen Dichtung repräsentiert finden. Um deren Stellung zur Schrift zu dokumentieren, können wir auf einen umfangreichen Survey von James Montgomery zurückgreifen,9 der ein Corpus von vorislamischen (jāhilī) Versen gesammelt hat, die die Erscheinung der Schrift erwähnen – bezeichnet mit verschiedenen Namen etwa khaṭṭ zubur („das Schreiben eines Schriftstücks“), mā khuṭṭa bi-l-qalam („das mit der Rohrfeder Geschriebene“), khaṭṭ al-dawāt („Schreiben mit Tinte aus einem Tintenfass“) und rasm („Schriftzug“). Aus dem Rahmen fällt dabei die in der Poesie häufige Bezeichnung der Schrift mit waḥy. Waḥy ist kein technischer Terminus für Schreiben, sondern bezeichnet vielmehr eine nicht-verbale oder für Außenstehende unverständliche Kommunikation durch Zeichen. In der vor-islamischen Dichtung dient waḥy dagegen zur Bezeichnung einer Schrift, die der Beobachter, d.  h. die Persona des Dichters, in einen Felsen eingeritzt vorfindet, die aber auch auf andere Materialien wie Pergament geschrieben sein kann. Es ist eine Schrift, die er nicht entziffern kann, ein Zeichensystem, das für ihn keinen Sinn ergibt. Die Fremdheit dieser unverständ­ lichen Botschaft ist in zahlreichen Versen Thema, etwa demjenigen von Zuhayr, der die verwüstete Lagestätte seines Stammesverbands, ṭalal, die er nach langen Jahren der Abwesenheit wieder besucht, mit einer Schrift vergleicht. Das einstige Lager ist auf seine linearen Spuren, die Schriftzügen ähneln, reduziert: Wer bewohnt jetzt noch die Ruinen – wie eine Schrift (waḥy) – deren Wohnstätten ausgelöscht sind – ausgelöscht sind al-Rass, al-Rusays und ʿĀqil?10

Und nochmals Zuhayr: Wem gehören die Wohngebiete, auf die ich zufällig stieß, die aussehen wie Schrift (waḥy) auf dem immer-beständigen Fels im Flussbett?11

8 Siehe dazu im Einzelnen Angelika Neuwirth, The Discovery of Writing in the Qurʾan. Tracing an Epistemic Revolution in Late Antiquity, in: Nuha al-Shaar (Hg.), Qurʾan and Adab, Oxford 2014 (im Druck). 9 James Montgomery, The Deserted Encampment in Ancient Arabic Poetry. A Nexus of Topical Comparisons, in: Journal of Semitic Studies 40, 2 (1995), S. 283–316. 10 Ebd., S. 297. 11 Ebd.



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Vergleiche mit Schrift, oft bezeichnet als waḥy, finden sich stets in der Eingangssektion der altarabischen qaṣīda, im nasīb, die im Allgemeinen mit dem aṭlāl- Motiv: der Klage des Dichters an den verfallenen Lagerstätten, beginnt, wo er früher seine Zeit in Gesellschaft seiner Freunde und mit seiner Geliebten verbrachte. Der nostalgische erste Teil der qaṣīda ist einzigartig offen für poetische Selbstreflektion; er lädt ein zum Nachdenken über die Vergänglichkeit emotionaler Erfüllung und menschlichen Lebens als solchem. Das nasīb bringt – in den Worten von James Montgomery – einen Pessimismus und eine Traurigkeit zum Ausdruck, die die verhängnisvolle Saat des Zweifels an der Tragfähigkeit des beduinischen Ethos als solchem ausstreut. Welche Funktion hat Schrift, waḥy, in diesem Kontext? Suzanne Stetkevych hat in einer Monographie, „The Mute Immortals Speak“, versucht, die unverständliche Sprache auf den Felsen zu deuten: „Da die Felsen mit ihrer Inschrift nicht für sich selbst sprechen, dennoch aber Botschaften tragen, die entziffert werden müssen, bleiben die Dichter vor ihnen stehen, um die Felsen und Ruinen zu befragen, durchaus in dem Bewusstsein, dass die ‚stummen Unvergänglichen‘ nicht sprechen werden.“12 Dennoch – so argumentiert Stetkevych – halten sie eine Antwort auf die Aporie des Dichter-Helden – der vor dem Rätsel der „Dauerhaftigkeit der Natur und der Vergänglichkeit von Kultur, und damit der Sterblichkeit des Menschen“ steht, bereit.13 Die Felsinschriften wie auch die übrigen Formen der Schrift, die letztlich unentzifferbar zu sein scheinen, werden evoziert, um den trügerischen Charakter von Kultur zu illustrieren. Ihre Linien und Formen stellen in den Augen des Dichters kein gültiges Zeichensystem, sondern eine leere Bezeichnung dar, die den verwüsteten Zustand der Lagerstätten, die bis auf den Grund abgetragen sind und auf die linearen Spuren ihrer Umrisse reduziert sind, verbildlichen. Schrift – verkörpert in der Vorstellung von waḥy in der vor-islamischen Dichtung – spielt in der dem Koran vorausgehenden Dichtung also eine ambivalente Rolle, sie evoziert das Bewusstsein von Aporie und Verlust. Das pagane Verständnis von waḥy ist daher schwer zu vereinen mit dem, was wir gewöhnlich unter waḥy verstehen, nämlich die koranische Offenbarung selbst. Der gemeinsame Nenner von unlesbarer Schrift und Propheteninspiration dürfte das Enigmatische, Außenstehenden Verschlossene sein. Auch die Eingebung des Propheten ist rätselhaft, insofern sie ihm in nicht verbaler Sprache mitgeteilt wird. Anders als das waḥy in der Dichtung ist das prophetische waḥy aber nicht mehr statisch und stumm, es ist nicht mehr die zur Kommunikation untaugliche, unlesbare Schrift, sondern lebendige Kommunikation, die den Propheten erreicht. Ein stummes Zeichencluster ist in Kommunikation verwandelt.

12 Suzanne Stetkevych, The Mute Immortals Speak. Pre-Islamic Poetry and the Poetics of Ritual, Ithaca 2010, S. 21. 13 Ebd., S. 22.





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Wenn diese Refiguration des poetischen stummen waḥy, der „unverständlichen Schrift“, in Gestalt des koranischen kommunikativen waḥy keine bloße Koinzidenz, sondern eine beabsichtigte konzeptionelle Strategie ist, wie bereits Josef Horovitz erwogen hat,14 wäre das ein Hinweis darauf, dass es hier um eine beabsichtigte Drehung des paganen Weltbildes geht. Die koranischen Verweise auf Schrift wären dann nicht nur Indizien für eine Re-Lektüre früherer monotheistischer Traditionen, sondern ebenso Zeugnisse eines Neudenkens paganer arabischer Positionen. Vielfältige Intertextualität scheint am Werk zu sein, nicht nur bei der Textentstehung, sondern auch bei der gemeindlichen Konstruktion einer neuen Identität, wo ein neues Verständnis von waḥy die Inversion des tief pessimistischen Weltbildes des altarabischen Dichters einleitet, bei dem der nostalgische Blick auf die Vergangenheit einem zuversichtlichen Blick auf die Zukunft gewichen ist. Auch der ägyptische Koranwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zayd15 re-kontextualisiert das im kanonischen Diskurs für die göttliche Rede als solche reklamierte Koran-Wort waḥy mit dem altarabischen Gebrauch und deutet es als eine noch nicht versprachlichte Mitteilung, eine „Suggestion“, eine Eingebung, die erst durch die Prophetenbegabung des Empfängers verständlich gemacht, nämlich in Sprache umgesetzt wird, in der sie nun Hörern weiter vermittelt werden kann – ein Offenbarungsverständnis, das die historische Bedingtheit der koranischen Rede hervorhebt. Das auf horizontaler Ebene weiterwirkende waḥy lässt sich als ein Drama16 verstehen, das sich zwischen dem Propheten und seinen Hörern abspielt und das sich in den – vom Propheten in menschliche Sprache gefassten – koranischen Texten reflektiert. Gewiss, formal ist der Koran fast durchgehend die Rede eines göttlichen Ich oder Wir an ein Propheten-Du, aber wie bei einem mitgehörten Telefongespräch ist aus der einzig vernehmbaren Sprecher-Rede auch hier unschwer die Situation herauszuhören, in die hinein gesprochen wird. Angesichts seiner dramatischen Weitervermittlung ist der Text vielstimmig, denn neben dem angesprochenen-Sprecher Muhammad werden auch Gruppen und Individuen von Hörern im Text als präsent vorgestellt oder doch in ihrer Absenz besprochen.

14 Josef Horovitz, Koranische Untersuchungen, Berlin 1926, S. 67f.: „Muhammad scheint das Wort gewählt zu haben, um das Flüstern der geheimnisvollen Stimmen auszudrücken, die auf ihn eindrangen. Dagegen bedeutet das in der alten Poesie viel häufigere Nomen waḥj […] ‚Schrift oder Schrift­ zeichen‘, und wurde vielleicht ursprünglich für diese verwendet wegen ihres für die Beduinen geheimnisvollen Charakters.“ 15 Abu Zayd (Anm. 3) und Kermani (Anm. 3). 16 Siehe dazu Angelika Neuwirth, Structure and the Emergence of Community, in: Andrew Rippin (Hg.), The Blackwell Companion to the Qurʾan, Cambridge 2007, S. 140–158.



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1.3 tartīl: Textwachstum im Rahmen von Vigilien Zurück zum Vermittlungsvorgang, bei dem Visionen gewiss die seltene Ausnahme waren.17 Ein zweites Szenario stellt den Erhalt der Botschaft sehr viel undramatischer, nämlich als Frucht der Askese dar – als eine Art Herauswachsen neuer Texte aus nächtlich rezitierten, bereits vorliegenden Texten, als Ergebnis der vom Verkünder in seinen Vigilien mit großer Konzentration abgehaltenen Rezitationen, so heißt es in Sure 73:1–9: Oh Eingehüllter wache die Nacht über, den größten Teil die Hälfte oder zieh davon etwas ab oder füge etwas hinzu und rezitiere die Lesung klar und deutlich. Wir werden dir aufgeben gewichtige Rede. Wahrlich, der Anfang der Nacht ist geeigneter zur Einprägung und geeigneter zum Sprechen. Du hast am Tage langwierige Tätigkeit, so preise den Namen deines Herrn und wende dich ihm ganz zu! Er ist der Herr des Sonnenaufgangs und des Untergangs, kein Gott außer ihm! Nimm ihn zum Sachwalter!18

Wenn hier auch von einer göttlichen Intervention die Rede ist – Gott selbst gibt dem Verkünder Anweisungen für die richtige Prädisposition zum Erhalt der Botschaften, so entstehen diesem Szenario zufolge die neuen Texte doch nicht zuletzt durch menschliches Zutun, nämlich aus der Vigilien-Rezitation von schon bekannten Texten. Diese Vigilien-Rezitationen wiederum – das hört der biblisch gebildete Leser unschwer heraus – dürften nichts anderes als Psalmen-Rezitationen gewesen sein, wenn auch gewiss nicht wörtliche, sondern eher paraphrasierte: etwas wie psalmistisch geprägte liturgische Gesänge. Sure 73:2: Qumi l-layla („Wache des Nachts“) erinnert an Ps 119,62: hatsot layla aqum le-hodot lekha („Um Mitternacht stehe ich auf, dich zu preisen“); 73:8: wa-dhkur sma rabbika („Preise den Namen deines Herrn“) an Ps 113,1: hallelu et shem YHWH („Preiset den Namen des Herrn“); 73:9: rabbu l-mashriqi wa-lmaghribi („Herr des Aufgangs und des Untergangs“) erinnert an Ps 50,1: me-mizrah shemesh ad mebhoʾo („vom Aufgang bis Niedergang der Sonne“).

17 Der Koran berichtet von zwei Visionen, siehe Q 53:4–12, 53:13–18 u. Q 81:23–24. 18 Siehe den Kommentar zur Sure in Neuwirth (Anm. 6), S. 347–358. Zur Relation zwischen Textgenese und Kultentwicklung s. Angelika Neuwirth, Vom Rezitationstext über die Liturgie zum Kanon. Zu Entstehung und Wiederauflösung der Surenkomposition im Verlauf der Entwicklung eines islamischen Kultus, in: Wild, Qurʾan (Anm. 4), S. 69–106, sowie jetzt auch dies., Scripture Poetry and the Making of a Community. Reading the Qurʾan as a Literary Text, Oxford 2014.





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2 Der Koran als „Lesung“, qurʼān Der Durchbruch zu einem Selbstverständnis, das zugleich mehr als alle biblischen Referenzen dem sich neu manifestierenden Wort Gottes die entscheidende Autorität verleihen konnte, gelang mit einer direkten Vernetzung der Verkündigung mit dem himmlischen Buch. Was bedeutet eigentlich qurʼān? Frühere Übersetzer arbeiteten mit „Vortrag“, gingen von der Rezitation eines auswendig gekannten Textes aus. Hartmut Bobzin19 übersetzt jedoch richtig mit „Lesung“. Es geht nämlich, wie die Texte zeigen, nicht um die besondere Vortragsart – laut und zeremoniell mit einer Kantilene unterlegt – sondern um die Herkunft des Textes aus einer Lesevorlage. Die Selbstbezeichnung qurʼān ist anfangs noch selten, sie begegnet auch erst etwa in der Mitte der frühen mekkanischen Verkündigung. Ganz kurz einige Zeugnisse: Dass der Verkündigungsakt selbst einen Akt des Lesens bezeichnet, arabisch qaraʾa, geht zuerst aus Sure 87:6 hervor: Wir werden dich lesen lassen, und du wirst nicht vergessen.

Dieses ‚Lesen‘ wirft natürlich die Frage nach der besonderen Lesevorlage auf. Von welcher Schrift bezieht der ‚Leser‘ seinen Text? Diese Wissenslücke wird in der unmittelbar folgenden Sure 96, geschlossen, die eine überirdische Schrift als Quelle der Lesung des Propheten einführt. Die Sure beginnt (Q 96:1–5): Lies im Namen deines Herrn, der erschuf, Erschuf den Menschen aus geronnenem Blut. Lies, denn dein Herr ist der Großmütige, der mit dem Schreibrohr lehrte, lehrte den Menschen was er nicht wusste20.

Wenn der sein Wissen großmütig mit den Menschen teilende Gott mit dem Schreibrohr, al-qalam, lehrt, sollte die Textvorlage für das Lesen des Propheten von jenen himmlischen Schreibern erstellt worden sein, die mit dem Gebrauch des Schreibrohrs, qalam, betraut sind; solche Schreiber werden in den Einleitungsversen zu Sure 68 genannt, wo es heißt: Nūn. Beim Schreibrohr und dem was sie schreiben. (68:1–2.)

Der Prophet soll also seiner Gemeinde aus einer materiell abwesenden, transzendenten Schrift, dem Werk der himmlischen Schreiber, vorlesen.21

19 Der Koran. Neu übertr. v. Hartmut Bobzin, München 2010. 20 Siehe den Kommentar zur Sure bei Neuwirth (Anm. 6), S. 264–279. 21 Siehe zu den Schreibern auch surat ʿAbasa; Q  80:11–16, wird die Verkündigung als aus himm­ lischen Schriftrollen stammend vorgestellt: 11 kallā innahā tadhkirah | 12 fa-man shāʾa dhakarah | 13 fī



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Während es im Himmel – im Einklang mit einer langen altorientalischen und im Einklang mit der biblischen Tradition – auch noch die Register der menschlichen Taten gibt, ist die bedeutendste himmlische Schrift doch die Sammlung des göttlichen Wissens, das auf der „Bewahrten Tafel“ (al-lauḥ al-maḥfūẓ) aufgezeichnet ist. Es ist diese „Bewahrte Tafel“, von der der Prophet abliest. Sure 85:21–2222 endet: Bal innahu qurʾānun majīd fī lauḥin maḥfūẓ Es ist eine ruhmreiche Lesung aus der Bewahrten Tafel.

Es ist in diesem Zusammenhang, dass der Name qurʾān zum ersten Mal fällt. Aufgrund des vorher eingeführten Leseszenarios trägt er bereits die Bedeutung einer „Lesung von einem himmlischen Text“. Diese himmlische Schrift kehrt noch einmal wieder am Ende der frühmekkanischen Periode, Sure 55:1–423: Al-rahmān ʿallama l-qurʾān khalaqa l-insān ʿallamahu l-bayān. Der Barmherzige, Er lehrte den qurʾān, die Lesung, Er erschuf den Menschen, Er lehrte ihn klares Verstehen.

Dieser Text stellt die Erschaffung des Menschen an zweite Stelle; sie erfolgt nach der Verkündigung des Textes – ganz im Sinne der Vorstellung von der göttlichen Weisheit, von der es in Prov 8,22f. heißt: „Der Herr erschuf mich am Anfang seines Weges, als das erste seiner Werke“ (adonay qanani reshit darko qedem mifʾ alav meaz). Es ist letztlich diesem hohen Rang der „Lesung“ zu verdanken, ihrer Herkunft aus der himmlischen Schrift, aus dem prä-existenten Wort Gottes – in spätantiker Sprache: aus dem Logos – dass Schrift in den frühen mekkanischen Suren zum Rang der höchsten Autorität aufsteigt. Nimmt man hinzu, dass es auch die Schrift der Wächterengel gibt, die die Taten der Menschen registrieren, so kann man sagen, dass der Mensch dem Koran zufolge von Schrift umkreist ist: Er empfängt durch die Bot-

ṣuḥufin mukarramah | 14 marfūʿatin muṭahharah | 15 bi-aidī safarah | 16 kirāmin bararah – „Nein doch, es ist eine Ermahnung | Und wer will, lässt sich ermahnen | Auf in Ehren gehaltenen Schriftrollen | Erhabenen, reinen | Erstellt von den Händen von Schreibern | Vornehmen, frommen.“ Siehe den Kommentar bei Neuwirth (Anm. 6), S. 378–398. 22 Siehe den Kommentar zur Sure bei Neuwirth (Anm. 6), S. 264–279. 23 Kommentar ebd., S. 586–619.





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schaft des Propheten die himmlische Schrift mit ihren Anweisungen für sein irdisches Leben. Auf einer etwas niedrigeren Ebene begegnet ihm Schrift in Gestalt der Register der Wächterengel, die die Beherzigung oder Nicht-Beherzigung der Anweisungen aus der himmlischen Schrift festhalten. Diese doppelte Präsenz von Schrift, vor allem aber die Vorstellung der prophetischen Lesung von der himmlischen Schrift, bleibt für die gesamte weitere Verkündigung die eigentliche und mächtigste Autorisierung der koranischen Botschaft. Es kann einem nicht entgehen, dass der Koran so gesehen offenbar mehr ist als ein Schriftkorpus, dass er vielmehr das zur Erde herabgekommene Gotteswort ist, dass er – vergleichbar dem inkarnierten Gotteswort im Christentum – gleichsam als göttliche Kraft in der Welt präsent ist und wirkt. Er ist nicht menschgewordenes Wort Gottes, aber doch auch ein sinnlich verkörpertes, nämlich im Klang der Rezitation erfahrbares Wort Gottes.

3 Der Koran als Darlegung aus der himmlischen Schrift, kitāb Die in Frühmekka als lawḥ maḥfūẓ („Bewahrte Tafel“) oder als kitāb maknūn („verborgene Schrift“) evozierte Schrift, aus der der qur‘ān, die Rezitation des Verkünders, stammt, ist noch nicht als die Urschrift der Bibel im jüdischen oder christlichen Sinne identifizierbar. Die eine Tafel als unverbrüchlich verlässliche ‚Unterlage‘ himmlischer Schrift erinnert vielmehr deutlich an die – alle göttlichen Entscheide und vor allem die Heilsgeschichte enthaltende – Schrifttafel im Jubiläenbuch. Qurʾān, als ‚Lesung‘ von einer solchen transzendenten Vorlage – eine beispiellose Innovation der frühmekkanischen Suren, mit der die Verkündigung einzigartige Autorität gewann – wird jedoch wenig später – in mittelmekkanischer Zeit – einer neuen Vorstellung Platz machen, nämlich der Vorstellung von einer mit der Verkündigung präsent gemachten himmlischen Schrift (kitāb), die die Quelle aller prophetischen Offenbarungen ist. Von nun an werden fast alle Suren mit einem Verweis auf „die (himmlische) Schrift“ eingeleitet, oft entspricht dem eine weitere kitāb-Referenz am Surenende. Diese Affirmation des Ursprungs aus der Schrift – die Offenbarungsbestätigung – nimmt nun den Platz in der Sure ein, den vorher die rhythmischen Schwurserien behaupteten, die mit Schwüren bei einer Vielfalt von Gegenständen, darunter auch heiligen Orten und heiligen Zeiten, dem von ihnen eingeleiteten Text eine sakrale Dimension gaben. Anfangs wird noch „bei der Lesung“ geschworen, im Allgemeinen sorgt aber ein klarer Verweis auf die Herkunft des Vortrags aus „der Schrift“ für Eindeutigkeit: Die Texte berufen sich von nun an auf das kitāb als ihre eigentliche Autorität. Zugleich kommt dem kitāb eine historische Rolle zu: al-kitāb ist „die Schrift“, die vorher vor allem Mose vermittelt wurde, so dass sich der Koran zur Selbstbeglaubigung auf seine Übereinstimmung mit der auch Mose gegebenen Version der himmlischen Schrift berufen kann. Deshalb ist kitāb viel eher als lawḥ maḥfūẓ mit einer himmlischen Urschrift der Bibel gleichsetzbar, jedoch – da diese Urschrift nicht nur Inhalte der Hebräischen 

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Bibel, sondern auch solche des Neuen Testaments umfasst – am ehesten der christlichen Bibel. Al-kitāb bezeichnet – so könnte man mit Nicolai Sinai formulieren24 – den himmlischen „Modus der Speicherung“ des Wortes Gottes, während al-qurʾān auf die irdische Realisierung seiner Artikulation verweist. Dennoch sind beide ihrer Form nach niemals identisch, denn der Verkünder erhält die Exzerpte aus dem kitāb nicht unverändert, sie sind vielmehr im Zuge ihrer Überlieferung den besonderen Bedürfnissen der Rezipienten angepasst worden. Sinai betont diesen Unterschied, den der Koran selbst als besondere hermeneutische Kodierung der Verkündigung reklamiert, die sogar mit einem terminus technicus bezeichnet wird: tafṣīl. Der locus classicus für diese Wahrnehmung sind die mittelmekkanischen Verse Q 41:2–3: Herabsendung vom barmherzigen Erbarmer, eine Schrift, deren Zeichen klar dargelegt wurden als arabische Lesung, für Leute, die verständig sind.

Tafṣīl („klare Darlegung“) impliziert nach Sinai also eine Art Paraphrase aus dem kitāb, durch die die Texte dem Horizont der Hörer angepasst worden sind. Diese Beobachtung wirft zugleich Licht auf die – oft als irritierend wahrgenommene – Tatsache, dass im Koran einzelne Erzählungen mehr als einmal und in verschiedenen Versionen erzählt werden. Diese verschiedenen Geschichten sind im Lichte der tafṣīlHermeneutik als sukzessive Wiedergaben einer einzigen kitāb-Perikope zu sehen, die mehrfach neu formuliert und an die wechselnden gemeindlichen Situationen adaptiert worden ist. Sinai folgert: „Aus der koranischen Perspektive, kann das himmlische Buch den Menschen in keiner anderen Form als mufaṣṣalan, als durch tafṣīl adaptiert, Q  6:114, gegeben werden. Das kitāb kann durch göttliche Offenbarung zugänglich werden, aber angesichts der Notwendigkeit, solche Offenbarungen auf eine bestimmte Zielhörerschaft zuzuschneiden, ist das kitāb als solches zu niemandes Verfügung, nicht einmal in Form wörtlicher Exzerpte.“25 Damit hat in der spätmekkanischen Zeit Mündlichkeit der Heiligen Schrift den Rang eines koranischen Glaubensartikels, eines Theologumenon, angenommen – ein Phänomen, das von keiner anderen Schrift bekannt ist. Allerdings ist die hier zugrunde liegende Vorstellung von der Anpassungsfähigkeit der Schrift an die sich wandelnde Situation der Rezipienten nichts spezifisch Koranisches, sondern bereits eine biblische Errungenschaft. Auch das biblische Textwachstum hat mit dem Aufkommen neuer Erwartungen bei den Adressaten zu tun. Es entstehen mehrfach biblische Bücher, die Bekanntes unter neuen Aspekten

24 Nicolai Sinai, Qurʾanic Self-Referentiality as a Strategy of Self-Authorization, in: Wild (Anm. 5), S. 103–134, hier S. 126. 25 Ebd., S. 126.





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wieder erzählen. James Kugel sieht in dieser Fähigkeit der ‚Selbst-Aktualisierung‘ sogar eines der Entwicklungsprinzipien der Bibel.26 Der Koran stellt sich mit seiner Wiedererzählung von biblischen Geschichten in diese für den Umgang mit der Bibel bereits etablierte Tradition. Doch stellt er diese Praxis in den Dienst seiner besonderen mündlichen Medialität. Mündlich kommunizierte Versionen der biblischen Erzählungen sind flexibler als schriftliche Texte, sie lassen spätere Rückverweise und sogar – anlässlich des erneuten Vortrags eines schon verkündeten Textes – erklärende Erweiterungen zu, eine Art mündliche Glossierung. Aber erst in Medina wird das Medium der in Menschenhand befindlichen heiligen Schriften kritisch reflektiert.27 Die Angehörigen der beiden älteren Religionen werden nun als mit der koranischen Gemeinde konkurrierende Anwärter auf das Erbe jener monotheistischen Traditionen wahrgenommen, die bis dahin allgemein verfügbar waren und nicht konfessionell zugeordnet erschienen. In dieser Funktion als Rivalen in einem Erbstreit, aufgrund ihrer gewissermaßen als Besitzurkunden reklamierten heiligen Schriften, werden die Angehörigen der älteren Religionen – vielleicht schon seit spätmekkanischer Zeit – als ahl al-kitāb, („Schriftbesitzer“) bezeichnet. Bereits ihre erste Nennung in Q 29:46 steht im Kontext eines virtuellen Konflikts, der nur durch ‚faires Disputieren‘ abgewehrt werden kann: wa-lā tujādilū ahla l-kitābi illā bi-llatī hiya aḥsanu („Disputiert mit den Leuten der Schrift nur in freundlicher Weise!“). Die hier eingeführte Benennung der Angehörigen anderer Religionen als ahl al-kitāb muss erstaunen, da sie ein auch von der koranischen Gemeinde geteiltes Charakteristikum abzurufen scheint, doch dient der Ausdruck nie zur Selbstbezeichnung dieser Gemeinde. Weil an dieser Stelle noch keine abwertende Einschätzung mitschwingt, könnte der Ausdruck eine Selbstbezeichnung der Juden und/oder Christen wiedergeben, die vielleicht gerade als Hinweis auf den wichtigsten Unterschied gelegen kam: die jüdisch-christliche Schriftlichkeit gegenüber der koranischen Mündlichkeit des Gotteswortes. Denn der von ihnen materialiter verdinglicht reklamierten Schrift gegenüber bleibt der Koran zeitlebens des Propheten eine ‚virtuelle heilige Schrift‘, eine mündlich bewahrte Botschaft.

4 „Inlibration“? Den Schriften der älteren Religionen gegenüber stellt sich der Koran zunächst als eine Nachfolge-Botschaft dar, die zudem die früheren Schriften bestätigt. Vor allem aber

26 James Kugel, The Bible as it was, Harvard 1997, S. ix–xiii. Man könnte weiterhin auf die Targum­ literatur verweisen, die Bibeltexte nicht nur in eine neue Sprache, sondern auch in eine den Erwartungen späterer Hörer und Leser angepaßte Form überführt. 27 Zu der in dieser Zeit getroffenen Differenzierung zwischen verschiedenen Typen von Schriftversen, eindeutigen und mehrdeutigen, siehe Neuwirth, Koran (Anm. 1), S. 532–541.



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hat sich bereits in der ältesten Gemeinde die Vorstellung von der gleichen Herkunft der göttlichen Botschaften herausgebildet: alle bereits vorhandenen Schriften entstammen, wie auch der noch mündliche Koran selbst, gleichermaßen einer bei Gott bewahrten himmlischen Urschrift,28 aus der gewissermaßen Ausschnitte als göttliche Botschaften ‚herabgesandt‘ werden. Dennoch ist gerade der Begriff der ahl al-kitāb („Schriftbesitzer“) lange Zeit als ein idealer Anknüpfungspunkt für den interreligiösen Dialog betrachtet worden.29 In der Verfügung über Heilige Schriften mit monotheistischer Botschaft schien die essentielle Gemeinsamkeit zwischen den drei Religionen zu liegen. Muhammad wird in diesem Paradigma zu einer Christus entsprechenden Figur, insofern beide eine später zu einer Heiligen Schrift gewordene Botschaft überbrachten.30 Dass dies aber nicht wirklich trifft, ist seit langem erkannt.31 Was vielmehr in Parallele zu setzen ist, ist die Menschwerdung des Gotteswortes in Christus zum einen und die ‚KoranWerdung‘ des Gotteswortes zum anderen. Der amerikanische Philosophie-Historiker Harry Wolfson32 hat versucht, das Verhältnis beider mit dem eigens dafür geprägten Neologismus „Inlibration“ auf den Punkt zu bringen. Der Koran sei so sehr die – „libreske“ – Verkörperung des Wortes Gottes wie Christus seine – fleischliche – Verkörperung sei. Für den Philosophie-Historiker muss diese Abbreviatur besondere Suggestionskraft besitzen. Denn in der Tat erinnert die spätere Reflektion über die Ewigkeit des Koran an christologische Diskussionen, die mutatis mutandis in der frühen Kalam-Philosophie weitergeführt wurden33. Schon bald nach dem Tode des Propheten erschien muslimischen Theologen die Erschaffung des Koran auf der „Bewahrten Tafel“ als vor der Weltschöpfung erfolgt,34 später wurde die Präexistenz des Koran als eines ewigen göttlichen Attributs vertreten.35 Aber selbst außerhalb der theologischen Spekulationen geht die Parallelität zwischen der Menschwerdung und der ‚Koranwerdung‘ noch weiter: Bereits der iranische

28 Siehe dazu Arthur Jeffery, The Qurʾan as Scripture, New York 1952, und Daniel Madigan, The Qurʾan’s Self-Image. Writing and Authority in Islam’s Scripture, Princeton 2001. 29 Daniel Madigan, Gottes Botschaft an die Welt. Christen und Muslime, Jesus und der Koran, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio 32 (2003), S. 100–112. 30 Diese Parallelisierung ist Hauptinhalt der aus einem fast ausschließlich aus Koranversen zusammengesetzten Inschrift im Felsendom aus dem Jahr 691, siehe Angelika Neuwirth, The Spiritual ­Meaning of Jerusalem in Islam, in: Nitza Rosovsky (Hg.), City of the Great King. Jerusalem from David to the Present, Cambridge/Mass. u. a. 1996, S. 93–116, 483–495. 31 Siehe zuletzt Wild (Anm. 3). Die Erkenntnis der gesamten Problematik ist vor allem durch Madigan (Anm. 29) erheblich gefördert worden. 32 Harry A. Wolfson, The Philosophy of the Kalam, Cambridge 1976, S. 244ff., referiert nach Madigan (Anm. 29), S. 101. 33 Siehe Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, 6 Bde., Berlin 1991–1997, Bd. 4, S. 615 u. Bd. 6, S. 411. 34 Siehe Daniel Madigan, Preserved Tablet, in: Encyclopaedia of the Qurʾan, Bd. 4 (2004), S. 261–263. 35 Madigan (Anm. 29).





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Religionsphilosoph Seyyed Nasr hatte festgestellt: „Medium der göttlichen Botschaft im Christentum ist die Jungfrau Maria, im Islam ist es die Seele des Propheten“36, und dabei die Jungfräulichkeit Mariens und die traditionell vertretene Illiteratheit des Propheten in Parallele gesetzt. So wie Maria, die „keinen Mann gekannt hatte“, ein Kind gebar, das folglich vollkommen Gottes Werk war, so wird der islamischen Tradition zufolge Muhammad als gänzlich unberührt von früher erworbenem Schriftwissen dargestellt, der nabī al-ʼummī (Sure 7:157, 158) wird als „illiterater Prophet“37 verstanden, so dass der Koran als exklusiv Gottes Werk deutlich wird. Trotz dieser unbestreitbaren Parallelen38 ist mit Madigan Skepsis gegenüber der Abbreviatur „Inlibration“ gefordert. Denn diese Bezeichnung treibt nicht nur die weit verbreitete Lektüre islamischer Phänomene durch die christliche Linse auf die Spitze, indem sie die – im Christentum tief verankerte – mythische Denkfigur gött­ licher Annahme von Körperlichkeit auf den weitgehend a-mythischen, vor allem aber mythenkritischen Islam überträgt.39 Noch gravierender ist ein anderer Einwand: Die hier suggerierte Vorstellung von einer Entelechie ‚Buch‘ oder ‚Schrift‘ verleitet zu der Annahme, dass „während die Christen an ein lebendiges, aktives und persönliches Wort Gottes glauben, die Muslime nur einen geschlossenen Kanon, tote Buchstaben

36 Hossein Seyyed Nasr, Ideals and Realities of Islam, London 1966, ND London 1979, S. 43f.; zitiert nach Madigan (Anm. 29), S. 106. 37 Für die historisch-kritische Forschung ist diese Deutung nicht befriedigend. Es geht an den Stellen sachlich um die Zugehörigkeit zu den bereits von Paulus her bekannten ‚Gläubigen aus dem Heidentum‘. Ummī ist historisch als sprachlich hybride Formulierung dieser Zugehörigkeit zu verstehen; zugrunde liegt die im Hebräischen geläufige Bezeichnung der Heiden als ummot ha-‘olum, zu dem ummī das – neu geprägte – arabische Adjektiv ist. Gleichwohl mag das neu eingeführte Wort für die muttersprachlichen Hörer Assoziationen zu dem genuin arabischen umm erweckt haben und so die Konnotation „von Kultur unberührt wie gerade von der Mutter geboren“ angenommen haben. Diese Deutung hat sich in der exegetischen Literatur durchgesetzt. Siehe zu der hier zugrundeliegenden Auseinandersetzung der koranischen Gemeinde mit den medinischen Juden: Neuwirth, Koran (Anm. 1), S. 510–560. 38 Nicht immer ist die persona des Verkünders Vehikel der Wort-Vermittlung. In einer bestimmten Phase der medinischen Entwicklung steht die in gender-Kategorien eindeutig feminin wahrgenommene Urschrift umm al-kitāb, „Mutter der Schrift“, als Vermittler-Instanz im Vordergrund; s. zu einer Kontextualisierung von umm al-kitāb und dem Konzept der Theotokos: Angelika Neuwirth, Mary and Jesus – Conterbalancing the Biblical Patriarchs. A Re-reading of Sūrat Maryam in Sūrat Āl ʾImrān (Q 3.1–62), in: Parole de l’Orient (2005), S. 231–260. 39 Die solchen Analogien zugrundeliegende Unbefangenheit in der Vereinnahmung islamischer Phänomene ist auch sonst in der Islamforschung auffällig, siehe Angelika Neuwirth, De-Mythifying Islam: A Novel Hermeneutical Approach to the Relations between the Three Religious Traditions of Europe, in: Reuven Amitai u. Amikam Nachmani (Hgg.), Islam in Europe. Case Studies, Comparisons & Overviews, Jerusalem 2008, S. 119–132. Inzwischen liegt eine neue kritische Betrachtung der Koranforschung vor, s. Angelika Neuwirth, Koranforschung – eine politische Philologie? Bibel, Koran und Islamentstehung im Spiegel spätantiker Textpolitik und moderner Philologie, Berlin 2014.



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hätten.“40 Das klingt etwas nach der paulinischen Polemik gegen den „toten Buchstaben“ des Gesetzes, dem die „Herzensschrift“ des Neuen Bundes gegenübergestellt wird. Eine solche Herzensschrift reklamiert aber gerade der muslimische Religionsphilosoph Seyyed Nasr für den Islam, der die Analogie Christus-Koran vertritt, wenn er sagt: „Medium der göttlichen Botschaft im Christentum ist die Jungfrau Maria, im Islam ist es die Seele des Propheten.“41 Die Analogie Christus-Koran lässt sich also durchaus halten, nur ist das Wort ‚Koran‘ anders zu füllen. Was dem fleischgewordenen Gotteswort entspricht, ist vielmehr die – auswendig vorgetragene – Rezitation des Koran, seine lautliche Verkörperung.

5 Die Reinszenierung der „Herabsendung“ in der Rezitation Spätestens mit dem Abschluss der Kanonisierung des Koran wird also dem alttestamentlichen und dem christlichen Ursprungsmythos ein neuer, dritter Entstehungsmythos zur Seite gestellt. Nicht die Beschreibung der Tafeln des Gesetzes für Mose als Basis des Gottesbundes mit dem Erwählten Volk, noch die durch Christi Selbst­ opfer gewährleistete „Liebe als Erfüllung des Gesetzes“, wie es im Römerbrief heißt, sondern die sich kontinuierlich über viele Jahre hinziehende göttliche Lehre, sein Sprechen zu Muhammad und seiner Gemeinde, steht als das zentrale Ereignis im Mittelpunkt des islamischen Selbstverständnisses. Diesem Ereignis gegenüber verblasst das im Koran über andere Propheten Erzählte zu antitypischen Präzedenzen. Und da das Sprechen Gottes als ein entscheidendes Hör-Erlebnis erinnert wird, bleibt das Erleben des Koran auch späterhin vor allem akustisches Erleben. Eine prominente ‚Sprache‘ des Koran ist also von Anfang an seine akustische Realisierung. Navid Kermani hat mit Recht vom Koran-Text als einer „Partitur“42 gesprochen, die zu ihrer Realisierung einer musikalischen Umsetzung bedarf. Denn Gottes Sprechen ist kultisches Sprechen, das erst durch Unterlegung des Textes mit einer Kantilene angemessen vermittelt werden kann. – Das ist natürlich keine Neuentdeckung, sondern eine Auswirkung der pluralen Kulturen im Entstehungsmilieu des Koran, die für den Islam aber eine zentrale Bedeutung einnimmt. Schon seit der Zeit der Urgemeinde hat der rezitierte Koran seinen eigentlichen Sitz im Leben im rituellen Gebet, das aus einer Reihe von kurzen – gestisch begleiteten – Formeln und als wichtigstem Teil: mehreren Koranrezitationen besteht. Der Beter tritt in dieser Zeremonie aus dem profanen Ort-Zeit-Rahmen heraus und in einen sakralen Zustand ein, der ihm imaginäre Gleichzeitigkeit zu allen Mitbetern und räumliche Nähe zum Zentralheiligtum herstellt. Dieser sakrale Rahmen öffnet

40 Madigan (Anm. 29), S. 106. 41 Seyyed Nasr (Anm. 36), S. 43f. 42 Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2000, S. 197–205.





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den Raum für verschiedene Grade spiritueller Erfüllung, die der mittelalterliche Theologe Muhammad al-Ghazālī einmal so beschrieben hat: „Wenn ich rezitiere, höre ich den Koran zunächst so, wie wenn ein Vorbeter ihn mir vortrüge, dann bei größerer Vertiefung, wie wenn ihn der Prophet für mich rezitierte, und schließlich höre ich ihn, wie vorgesprochen von Gott selbst.“43 Die sich mit dem Rezitieren vollziehende geist-körperliche Vereinnahmung des Koran ist nicht zufällig mit dem Zu-sich-Nehmen der eucharistischen Gaben im christlichen Ritus verglichen worden. Nicht das Buch, sondern die Rezitation ist also die menschlich zugängliche Manifestation des Wort Gottes.44

6 Text, Klang und Körper Es ist also problematisch, sich auf der Suche nach dem Verbindenden zwischen den Religionen allzu sehr auf äußerliche Gemeinsamkeiten zu verlassen, wie sie sich in suggestiven Begriffsprägungen wie „abrahamitische Religionen“45 oder „Schriftbesitzer“46 oder auch „Offenbarungsreligionen“ anbieten. Solche SammelEtikettierungen laden im Gegenteil zu einer Reflexion über die bei aller Ähnlichkeit doch bestehenden Unterschiede zwischen den drei Religionskulturen ein, wie sie sich etwa in der verschiedenen Medialität der jeweiligen Verkündigung äußern. Wir konnten zunächst beobachten, dass das, was wir als ‚koranische Offenbarung‘ zu bezeichnen gewohnt sind, von ihrem unmittelbaren Empfänger durchaus mit verschiedenen Erfahrungen in Verbindung gebracht wurde. Neben der gleichsam vertikal erfahrenen Kommunikation, tanzīl („Herabsendung“), und der „Eingebung“ (waḥy), die beide auch die Erfahrung früherer Propheten beschreiben, stand die ganz un­mythisch begriffene Genese von Vortragstexten aus intensiver asketischer Praxis heraus. Hier war es ein Hör-Erlebnis, ebenfalls als waḥy begriffen, das sich im Anschluss an eigene Rezitationen von bereits erhaltenen Texten einstellte.47 Wichtig ist die noch vorsprachliche Qualität der „Eingebungen“ (waḥy), die erst durch den Sprechakt des Propheten zu versprachlichen und zu de-kodieren waren, bevor sie an die Hörer weitergeleitet werden konnten. Diese Hörer, die zu Lebzeiten des Propheten mit ihm gemeinsame Gottesdienste feierten, vollziehen seit seinem Tod mit

43 Abū Ḥāmid Muḥammad Al-Ghazālī, Ihyāʿ ʾulūm al-dīn, 4 Bde., Kairo 1939, hier Bd. I, S. 178. 44  André Lacocque, Apocalyptic Symbolism. A Ricoeurian Hermeneutical Approach, in: Biblical Research 26 (1981), S. 6–15, hier S. 8f. 45 Siehe dazu Tilman Nagel, Der erste Muslim. Abraham in Mekka, in: Reinhard G. Kratz u. Tilman Nagel (Hgg.), „Abraham, unser Vater“. Die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2003, S. 133–149. 46 Siehe oben 1.1 sowie Madigan (Anm. 29). 47 Siehe zu dieser Rezeption des Gründungsmythos in der islamischen Kultur die Monographie von Kermani (Anm. 42).



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ihrem gleichzeitigen In-sich-Hineinhören und Rezitieren des Textes eine imitatio des Propheten. Diese Propheten-imitatio bringt eine neue Lektüre mit sich; sie de-historisiert die Botschaft als solche: die einmal in eine bestimmte historische Zeit hinein gesprochene göttliche Mitteilung wird durch die Wiederanknüpfung des rezitierenden Hörers/Sprechers an das prophetische illud tempus zu einer zeitenthobenen sakralen Erinnerung. Sie wird zugleich muslimisch-exklusiv. Dagegen war im koranischen Selbstverständnis die auf der „Bewahrten Tafel“ verzeichnete göttliche Botschaft, aus der der Prophet seine Mitteilungen erhielt, noch universal, d. h. für die monotheistischen Gläubigen insgesamt bestimmt. Ihre dortige Manifestation als „Mutter der Schrift“ (umm al-kitāb) entspricht am ehesten der vom antiken Judentum her bekannten Hypostasierung der Weisheit als erstgeschaffenem Geschöpf Gottes. Trotz dieser Ähnlichkeit bleibt für die islamische Vorstellung der göttlichen Selbstmitteilung das verlautbarte und gehörte Wort gegenüber dem im Judentum zentralen geschriebenen Wort vorrangig. Will man auch im Islam von einer Verkörperung des Wortes sprechen, so wird man diese nicht, wie mit „Inlibration“ vorausgesetzt, in einem Schrift-repräsentierenden Buch suchen, sondern in einem organischen Resonanzraum, der – wie es sich für eine akustische Performanz wie die Koran-Rezitation gehört – gesprochenes Wort und Kantilene aufzunehmen vermag. Dieser Resonanzraum ist nicht in der Transzendenz, sondern in der menschlichen Natur selbst zu suchen, insofern spirituelle und ästhetische Erfahrung letztlich in der Geschöpflichkeit des Menschen angelegt ist.



Ulrike-Rebekka Nieten (Berlin)

Orientalischer Kirchengesang zwischen jüdischer und islamischer Tradition Abstract: Ähnlich der Toralesung wurde auch die Rezitation ‚Heiliger Texte‘ in den syrischen Riten durch Akzente geregelt. Diese Art der musikalischen Aufführungs­ praxis ist nicht nur von den anderen orientalischen Kirchen rezipiert worden, sondern war auch wegweisend für den islamischen Kulturkreis.

Einleitung Darauf, dass eine sprachliche Äußerung auch eine Performation hervorrufen kann, hat bereits John L. Austin in seinen Vorlesungen an der Harvard Universität 1955 hingewiesen.1 Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) schreibt in seiner Enzyklika ‚Spe Salvi‘, die Bibel sei nicht nur „informativ“ sondern auch „performativ“.2 Das heißt sprachliche Äußerungen beschreiben nicht nur einen Sachverhalt, sondern es können durch sie auch Handlungen vollzogen werden. Nach Angelika Neuwirth „bedarf der Koran immer der performance in einem rituellen Kontext.“3 Somit kann man sagen, dass die Leitlinien der Toralesung, der Psalmen und auch die Rezitation des Neuen Testamentes, nämlich die Akzente, als Zeichen einer Inszenierung angesehen werden können. Dies gilt besonders, da sie gerade im Syrischen, Samaritanischen und teilweise Äthiopischen die Sprechakte nicht nur nach syntaktischen Einheiten gliedern, sondern auch verschiedene Emotionen fordern. Ein Text wird somit, in Anwesenheit Anderer, zur Aufführung gebracht, wobei der Refrain die Funktion hat, die Gemeinde an der Aufführung partizipieren zu lassen.

Die jüdische Tradition Die Konzeption von Psalm 136 war speziell für die responsorische Aufführungs­praxis richtungsweisend. Denn in diesem Psalm, dem Refrainpsalm par excellence, ist jeweils die zweite Vershälfte gleichlautend: kī lə ʿolam ḥasdo („denn bis in Ewigkeit ist seine Güte“).

1 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 37. 2 Ebd., S. 136. 3 Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010, S. 173.

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Die Hemistichera-Anlage der Psalmen war nicht nur wegweisend für die Dichtungsformen des Syrischen, sondern lieferte auch die Struktur für die musikalische Aufführungspraxis. Bereits 1923 hatte Abraham Z. Idelsohn darauf hingewiesen, dass zwischen jüdischen Gesängen und den Gesängen des Gregorianischen Chorals auffällige Parallelen bestehen.4 Eric Werner hat in seinem Buch ‚The Sacred Bridge‘ die Gemeinsamkeiten der Aufführungspraxis und den Transfer von Formen und Notierungen erstmals zusammengestellt.5 In der jüdischen Tradition wurde der textus receptus mit den massoretischen Notierungen versehen, als die mündliche Weitergabe in Gefahr war, da Hebräisch nur noch als eine liturgische Sprache fungierte. Weil aber die meisten Juden in der Dia­ spora lebten, war zu befürchten, dass die richtige Aufführungspraxis des Bibeltextes in unzählige Einzeltraditionen zersplitterte. So wurde ein minutiös ausgearbeitetes System von Vokalen und Akzenten notwendig, damit das kulturelle Erbe nicht ver­ loren geht. Das in der ‚Biblia Hebraica‘ angewandte tiberische Akzentsystem (zwischen 780 und 930), welches dem babylonischen und palästinischen folgte, wird unterteilt in ein poetisches System – für die drei Bücher Psalmen, Sprüche und Hiob – und in ein prosaisches für die restlichen 21 Bücher. Die Akzente fungieren im Inneren eines Satzes als Trenner und Binder.

Abb 1: Hanoch Avenary u. Avigdor Herzog, Masoretic Accents, in: Encyclopedia Judaica, Bd. 11 (1971), Sp. 1101.

4 Abraham Z. Idelsohn, Parallelen zwischen gregorianischen und hebräisch-orientalischen Gesangsweisen, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 4 (1922), S. 515–524. 5 Eric Werner, The Sacred Bridge. The Interdependence of Liturgy and Music, London, New York 1959.





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Sie geben jedoch keine Hinweise über musikalische Parameter, wie Tonhöhe oder Intervalle. Diese bleiben Teil der mündlichen Überlieferung. Das Gemeinsame einer durch Akzente geregelten Rezitation ist aber nicht das Melodische, denn das musikalische Motiv wird in verschiedenen Traditionen unterschiedlich ausgeführt (siehe Beispiel), sondern die Textstrukturierung. In Bezug auf die musikalische Ausführung sind die konstituierenden Elemente eines Psalmverses Initium – Rezitationston – Mediante – Rezitationston – Finalis, die der Doppelstruktur der parallelistischen Anlage eines Psalmverses folgen.

Die syrische Tradition6 Im Syrischen werden die Halbverse jedoch nochmals unterteilt. Šuḏājā — Protasis ----------*Šwajjā----------: Taḥtājā

Purʿānā — Apodosis ----------ʿEllājā ----------: *Pāsōqā

Abb. 2: Selbst erstelltes Schema.

Die Bezeichnungen sind der syrischen Akzentlehre entnommen. Taḫtājā gibt bereits an, wie diese Halbversmarkierung musikalisch zu gestalten ist, nämlich mit Tiefton, so ebenfalls das Versende Pāsōqā; ʿEllājā bedeutet Hochton und Šwajjā gleichbleibend, das heißt die Tonhöhe wird nicht verändert. Da das syrische Akzentsystem bereits um 500 voll entwickelt war, geht Paul Kahle davon aus, dass es auch das Hebräische beeinflusst hat.7 Jåusep̄ Ḥūsåjå, der als einer der bedeutendsten Vertreter grammatikalischer Studien angesehen wird und an der Katechetenschule von Nisibis lehrte, wird die Einführung der Akzente zugeschrieben.8 Während in der h ­ ebräischen Massora die Performativität des Textes durch Trenn- und Bindeakzente geregelt ist, treten im Syrischen noch Sinnakzente hinzu, welche den Wahrnehmungsmodus bestimmter Textsegmente verstärken.

6 Ausführlicher habe ich dieses Thema behandelt in Ulrike-Rebekka Nieten, Das syrische Akzentsystem und seine Bedeutung für die Gesangstradition (Vortrag auf dem Deutschen Syrologentag, Universität Göttingen, 2011; Druck in Vorbereitung). 7 Axel Moberg, Über den griechischen Ursprung der syrischen Akzentuation, in: Le monde Oriental (1906), S. 87–100; Paul Kahle, Die Masoreten des Westens, Bd. 1, Stuttgart 1927, S. 51f. 8 Anton Baumstark, Geschichte der syrischen Literatur, Bonn 1922, S. 116f.



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Die Entwicklung der Akzente vom 7.–10. Jahrhundert in Westsyrien ist in engem Zusammenhang zu sehen mit den Werken verschiedener Grammatiker. Nach dem Bruch zwischen Ost und West machte sich, besonders im gräzisierten Westen, der Einfluss der griechischen Rhetorik auf die Akzente bemerkbar.9 Jakob von Edessa gilt als der Vertreter des „christlichen Hellenismus im aramäischen Sprachkleid“ und Anton Baumstark vergleicht ihn auch mit Hieronymus.10 Sein Werk ist der größte Beitrag, der je zu den Akzenten geleistet wurde; es übertrifft sogar das von Barhebräus, dem bedeutendsten Kirchengelehrten des 13.  Jahrhunderts, welches im Vergleich dazu nur etwas mehr als eine Wiederholung von Jakobs Methode und mehr oder weniger eine Zusammenfassung darstellt.11 Die unterschiedliche Notierung der Trenn-Akzente versuchte er zu uniformieren. Da er die meisten Akzente beibehielt, erklärt er seine Neuerung als Šuḫlåp̄ē („Varianten“), wobei er auch neue Sinnakzente einführt.12 Ihren höchsten Entwicklungsstand hatten die Akzente bereits vor dem 11. Jahrhundert erreicht. Den Grammatikern, die sich ihnen nun zuwenden, geht es mehr darum, diese zu systematisieren und zu erhalten, als neue Akzente und somit auch neue Ausdrucksformen zu kreieren. Barhebräus nennt für die Westsyrer vierzig Akzente. Die Kompliziertheit ihrer Anwendung ist ihm bewusst und er berichtet, dass sogar die bedeutenden Lehrer manches nicht erklären konnten und daher davon ausgingen, „dass die Punkte nicht der menschlichen Auffassungsgabe gemäß in den heiligen Schriften gesetzt seien, sondern nach dem Gutdünken des Heiligen Geistes, von dem ihre Verfasser inspiriert waren.“13 Somit kann man die Akzente nur erkennen und umsetzen, nicht aber erklären. Man wendet sie an, wie es die Lehrer vermitteln. Aus welchen Gründen die Syrer ein so kompliziertes, das heißt nach grammatikalischen Regeln erstelltes Akzentsystem schufen, ist vielleicht vor dem Hintergrund der Gnosis zu sehen, die den biblischen Text unterschiedlich interpretierte.14

9 Ernest J. Revell, Hebrew Accents and Greek Ekphonetic Neumes, in: Egon Wellesz u. Milos Velmirovic (Hgg.), Studies in Eastern Chant, Bd. 4, London 1975, S. 140–170, S. 162. 10 Baumstark (Anm. 8), S. 248. 11 Jehuda Ben Zion Segal, The Diacritical Points and the Accents in Syriac (London Oriental ­Series 2), London 1953, S. 136. 12 Ebd., S. 140. 13 Axel Moberg, Buch der Strahlen: Die grössere Grammatik des Barhebräus, Leipzig 1913, S. 110. 14 Adam H. Becker, Fear of God and the Beginning of Wisdom. The School of Nisibis and the Devel­ opment of Scholastic Culture in Late Antique Mesopotamia, Philadelphia 1972, S. 22f.





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Akzentnotierungen und ihre Berücksichtigung in der heutigen Gesangspraxis:

Abb. 3: Frage: ʾajkåų Håbel ʾaḥūḵ. („Wo ist dein Bruder Abel?“) Vgl. Segal (Anm. 11), S. 124; die den Noten unterlegten Textsilben repräsentieren die heutige Aussprache.

Der Akzent nach ʾajkåų wird durch einen Quartsprung hörbar gemacht. Die gleiche Formel steht jedoch auch bei ʾaḥūḵ. Hier muss ein rhetorischer Akzent wirken, der aber nicht notiert wurde, da das Beispiel anscheinend nur für Mšaʾʾlånå gilt.

Abb. 4: Befehl: w-ʾemar ʾalåhå nehwē nurå. („Und Gott sprach: Es werde Licht!“) Vgl. Segal (Anm. 11), S. 124.

Påqōḏå steht bei einem Imperativ oder Jussiv. Der Jussiv wird in diesem Beispiel durch Hochton (Ellåjå) mit Länge und einer zusätzlichen mit Murmelvokal ver­ sehenen Silbe hervorgehoben, welchem eine Hebung vorausgeht, die nicht mit dem Wortton zusammenfällt. Der Akzent Jåheb ṭūbå wird auch als Mqallsånå bezeichnet. Er gehört sicher zu den Akzenten, welche aus dem Griechischen entlehnt sind, denn Mqallsånå ist ein griechisches Lehnwort, welches von „schön machen“ abgeleitet ist. Hier soll eine ­besondere musikalische Vortragsweise beziehungsweise Verzierung eingesetzt werden. 

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Abb. 5: Schön machen: ṭuḇawhj l-gaḇrå ḏ-ḇʾurḥå ḏ-ʿåwwålē lå halleḵ. („Heil, dem Mann, der auf dem ̱ Weg der Gottlosen nicht geht.“) Vgl. Segal (Anm. 11), S. 126.

Die samaritanischen Akzente Es ist verwunderlich, dass die tiberische Massora nur Pausalakzente kennt, die Samaritaner jedoch dem syrischen Akzentsystem vergleichbare Sinnakzente besitzen.15  1. afsaq: Abschnitt, Absatz (= Punkt) = Pausalakzent  2. aengaed: Führer (= Doppelpunkt) = Pausalakzent  3. aennåʿu: Ruhepause (= Ruhepause oder Trennstrich) = Pausalakzent  4. erkånu: Demütigung (= ein Reverenzzeichen) = Sinnakzent  5. Šiyyåla: Frage = Sinnakzent  6. Za(aeʿ)īqa: Ruf = Sinnakzent  7. etmåʿu: Bewunderung = Sinnakzent  8. båʾu: Wunsch = Sinnakzent  9. zaʾef: Vorwurf = Sinnakzent 10. tūru: Verordnung = Sinnakzent Inwieweit hier syrischer Einfluss herrscht, muss noch erforscht werden. Die Möglichkeit eines Austausches bestand, denn es gab eine sehr große samaritanische Gemeinde in Damaskus. Generell sollte der syrische Einfluss auch nicht unterschätzt werden, denn die syrische Akzentnotierung fand ebenfalls Nachahmung bei den Kopten und in den aus dem Syrischen übersetzten soghdischen Texten.16 Sogar die äthiopischen Lektionszeichen, die Yäfidəl Qərs, sollen auf syrischen Einfluss zurückgehen.17

15 Vgl. Rudolf Macuch, Grammatik des samaritanischen Hebräisch, Berlin 1969, S. 77. 16 Vgl. die von Friedrich  W.  K. Müller veröffentlichte soghdische Hs. des Lukasevangeliums, s. ders., Neutestamentliche Bruchstücke in soghdischer Sprache, in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften 1907, 13, S. 260–270, hier S. 266. 17 Egon Wellesz, Studien zur äthiopischen Kirchenmusik, in: Oriens Christianus, N. S. 10/11 (1920), S. 75–106, hier S. 96.





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Abb. 6: Die äthiopischen Lektionszeichen (nach Michael Powne, Ethiopian Music. An Introduction. A Survey of Ecclesiastical and Secular Ethiopian Music and Instruments, London 1968, S. 91).

Im Gegensatz zur hebräischen (tiberischen) Massora aber, welche dem gesamten textus receptus Akzente zuordnet, sind diese im Syrischen, Samaritanischen und Äthiopischen nur in sogenannten ‚Schulbeispielen‘ notiert. Das gleiche Phänomen findet sich auch bei den prosodischen Zeichen der Spätantike. Als die Rezitationsart normiert war, galt die mündliche Überlieferung als kulturelles Gedächtnis.

Der syrische Oktoechos Die Performativität heiliger Texte in der Liturgie beschränkte sich aber nicht nur auf biblische Stellen. Auch die Hymnen, entstanden als Enjånē („Antworten“) auf einen einleitenden Psalmvers, also das Gotteswort, sollten so aufgeführt werden, dass sie Emotionen bewirken. Neben den einfachen, eng an den Text sich anbindenden Gušmē-Melodien (Sg. gušmå, „Körper“) unterliegen die meisten Melodien den Gesetzen des Oktoechos.



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Über diesen wird in der Wissenschaft sehr kontrovers diskutiert. In Ergänzung zu ihrer Ausgabe ‚Mélodies syriennes et chaldéennes‘ (1925, 1928)18 versuchten Jules C. Jeannin und Julien Puyade die Charakteristika der acht Echoi des syrischen Oktoechos zu analysieren. Dabei bezogen sie sich auf die syrisch-unierten Melodien des Priesterseminars in Sharfeh (Libanon), wo nach Jeannins Angaben die bedeutendsten Traditionen der Gesänge, die aus Aleppo (Syrien) und aus Edessa (heute Urfa, Türkei), verschmolzen sind. In ihrem Klassifizierungsversuch analysieren sie die Echoi nach byzantinischem Vorbild, das heißt die Zuordnung wird durch den Schlusston, die Finalis, bestimmt und jedem Modus sind spezifische Intonations­formeln eigen, die das Verhältnis der plagalen zu den authentischen Tonarten an­zeigen.19 Bezugnehmend auf seine Melodienausgaben von 1969 und 1972, die doch einige Varianten zur unierten Tradition aufweisen, versuchte auch Heinrich Husmann die Gesetzmäßigkeiten des syrischen Oktoechos zu ergründen. Er geht ebenfalls von Finaltönen aus, gibt aber zu, dass diese in einem Echos gelegentlich verschieden auftreten.20 Es wurde bisher von der Musikwissenschaft angenommen, dass auch die Zuordnung zu einem authentischen bzw. plagalen Ton mittels melodischer Formeln bestimmt wird.21 Eine Kategorisierung der Formeln hinsichtlich der acht Echoi des syrischen Oktoechos aber ist äußerst problematisch, da sogar prägnante Formeln nicht auf einen Echos beschränkt sind, sondern in verschiedenen Echoi erscheinen können. Auf diese Problematik hat bereits Josef Kuckertz hingewiesen, der sehr detailliert die einzelnen Formeln analysierte. Er fand heraus, dass es nicht die Melodiefiguren allein sein können, durch welche die Zugehörigkeit zu einem Echos festgelegt wird, denn alle Gesänge können „als Realisationen desselben Melodietyps betrachtet werden. Der Melodietyp als solcher entzieht sich jeder Fixierung. Er ist als ein Hintergrund aufzufassen, der durch den Vergleich einer Anzahl einander ähn­ licher Melodien wahrgenommen werden kann.“22 Auch sind es seiner Meinung nach nicht die Finaltöne, sondern eher die Schlussformeln, die eine Zuordnung ermög­ lichen.23

18 Jules C. Jeannin, Julien Puyade u. Anselme Chibas-Lasalle, Mélodies syriennes et chaldéennes I., Bd. 1, Paris 1925, Bd. 2, Beirut 1928. Die chaldäischen Melodien wurden nicht veröffentlicht. 19 Jules C. Jeannin u. Julien Puyade, L’Octoëchos Syrien, II. Étude musicale, in: Oriens Christianus N. S. 3 (1913), S. 277–298, hier S. 278f. 20 Heinrich Husmann, Syrischer und byzantinischer Oktoechos. Kanones und Qanune, in: Orientalia Christiana Periodica 44 (1978), S. 65–73, hier S. 69–73. 21 Ebd., S. 69–73. 22 Josef Kuckertz, Die Melodietypen der westsyrischen liturgischen Gesänge, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 53 (1969), S. 61–98, hier S. 65. 23 Ebd., S. 68.





Orientalischer Kirchengesang zwischen jüdischer und islamischer Tradition 

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Eine Beschreibung der ekådias, der acht syrischen Tonarten (griech. echoi), gibt uns Barhebräus (13. Jahrhundert) in seinem ‚Ethicon‘.24 Ihm zufolgde rufen sie Hitze/ Feuchtigkeit, Kälte/Feuchtigkeit, Hitze/Trockenheit, Kälte/Trockenheit hervor und veranlassen zur Demut, Furcht, Bedrängnis und zum Weinen.25 Eine ähnliche Beschreibung für die acht Töne der Koptischen Kirche findet sich etwa hundert Jahre später bei Abū l-Barakāt.26 Hier wurde die antike Ethoslehre mit der arabischen Musikauffassung verbunden, denn man ging davon aus, dass die Musik ein Mittel ist, welches auf die Affekte und durch diese auf den Körper wirkt. Trotz allem ist der Oktoechos ein nachträgliches Ordnungsprinzip, durch das alte Melodien systematisiert, aber auch verändert wurden, denn die Theorie lieferte ein Gerüst für ein Repertoire, das bereits vorhanden war. Was den syrischen Oktoechos ausmacht, ist primär eine spezifische Rhythmisierung.27 Hier scheint die Lösung zu liegen, denn Rhythmus hat größere Auswirkungen auf die Emotionen als Skalen oder Tonformeln. Natürlich haben nicht alle Gesänge im 1. Echos den gleichen Rhythmus, das hätte man schnell erkannt. Der Rhythmus steht in Bezug zum Text, sodass wir hier von einer musikalischen Metrik sprechen müssen, deren Grundgerüst das silbenzählende Prinzip ist, das heißt die feste Silbenzahl der einzelnen Verse. Diese sind zum Beispiel bei Ephräm meistens sieben, bei Balai fünf und bei Jakob von Sarūq zwölf. Das folgende Beispiel zeigt die unterschiedliche Rhythmisierung eines Hymnus in den acht Tönen.28 Um Rückschlüsse auf die Frühgeschichte des syrischen Oktoechos machen zu können, sollte nach Schnittstellen gesucht werden. Es ist davon auszugehen, dass die Araber sowohl den byzantinischen als auch den syrischen Oktoechos kannten. Inwieweit man hier von Rezeption sprechen kann, muss noch erforscht werden, aber dass Wechselbeziehungen bestanden, ist eindeutig. Ibn Misǧaḥ († um 710), der als der Erfinder des arabischen Kunstgesanges betrachtet wird, dem er syrische, byzantinische und persische Elemente zufügte, war ein Zeitgenosse von Johannes von Damaskus, dem die Tradition die Erfindung des Oktoechos zuschreibt.

24 Barhebräus, Ethicon, hrsg. v. Herman Teule (Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium 534/ 535 = 218/219), 2 Bde., Leuven 1993. 25 Ausführlicher siehe Ulrike-Rebekka Nieten, Die griechische Ethoslehre und ihr Einfluß auf den Orient, in: Bogdan Burtea, Josef Tropper u. Helen Younansardaroud (Hgg.), Studia Semitica et Semitohamitica. Festschrift für Rainer Voigt anlässlich seines 60. Geburtstages am 17. Januar 2004 (Alter Orient und Altes Testament 317), Münster 2005, S. 269–282. 26 Louis Villecourt, Les Observances liturgiques, Bd. 2 (Le Muséon 37), Paris 1924, S. 223–225. 27 Ausführlicher siehe Ulrike Rebekka Nieten, Byzantinischer und syrischer Oktoechos, in: Dorothea Weltecke (Hg.), Geschichte, Liturgie, Theologie und Gegenwartslage der syrischen Kirchen. Beiträge zum 6. deutschen Syrologensymposium in Konstanz, Juli 2009, Wiesbaden 2012, S. 115–126. 28 Die angegebene Rhythmisierung entstammt einer eigenen Transkription. Die Aufnahme wurde in Berlin in der Gemeinde Mor Ephräm gemacht. Der Sänger, Abuna Murat Üzel, war lange Jahre auch als Malfono („Gesangslehrer“) in Mor Gabriel tätig, einer der bedeutendsten Ausbildungsstätten der Syrisch-Orthodoxen Kirche im Ṭūr ʿAbdīn (Türkei).



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 Ulrike-Rebekka Nieten

Abb. 7: Selbst erstellte Notierung, entspricht Anm. 28.

Über ihn berichtet Abū l-Faraǧ al-Iṣfahånī in seinem ‚Kitåb al-Aġånī al-kabīr‘, dass er sich unter anderem die Melodien der Byzantiner (alḥån ar-rūm) und die des (syrischen) Oktoechos (al-uṣūḫūsīya) aneignete.29 Im Arabischen verwendet man für Echos den Terminus laḥn (Pl. luḥūn) sowohl zur Bezeichnung der syrisch-byzantinischen als auch der eigenen Modi bzw. Tonarten. Schon vor Al-Kindī († kurz nach 870), der die Unterschiede der musikalischen Art zwischen den Persern (turaq) und den Byzantinern (alhan thamaniyya) erwähnt,30 kannte bereits Isḥåq al-Mauṣilī (†  850) der Gründer der berühmten Mauṣilī-Schule acht Modi (Tonarten), die ihrerseits wieder in zwei Gruppen geteilt waren.31 Dass dies eine Parallelerscheinung zum syrischen und byzantinischen Oktoechos darstellt, ist nicht zu übersehen.32 Im Gegensatz aber zu den Byzantinern wird bei den Arabern

29 Henry G. Farmer, A History of Arab Music to the XIIIth Century, London 1929, S. 69f. 30 Ebd., S. 151. 31 Vgl. Eckhard Neubauer, Die acht Wege der arabischen Musiklehre. Arabische Musiktheorie von den Anfängen bis zum 6./12. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S. 381. 32 Byzantinischer Oktoechos: I.  Ton  = 1.  authentischer Echos; II.  Ton  = 2.  authentischer Echos; III. Ton = 3. authentischer Echos; IV. Ton = 4. authentischer Echos; V. Ton = 1. plagaler Echos; VI. Ton =



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die Zugehörigkeit zu einem Modus nicht durch die melodischen Formeln bestimmt, sondern durch das Metrum (īqåʿ). So stellt auch Al-Kindī in seiner Abhandlung ‚Risåla fī l-Luḥūn wa-n-naġam‘ dem Oktoechos der Byzantiner die acht Metren der arabischen Musik gegenüber.33 Hier könnte man die Schnittstelle zum syrischen Oktoechos sehen, dessen Echoi sich auch eher hinsichtlich der musikalischen Metrik voneinander abgrenzen denn von der Unterschiedlichkeit der melodischen Formeln.

Die islamische Tradition Nach Angelika Neuwirth ist der Koran ein Text der Spätantike,34 dessen Vortrags­ praxis wenig erforscht ist. Daher muss nach Parallelen und Austauschbewegungen gesucht werden. In Sure 73:4 heißt es: „rezitiere den Koran auf rechte Weise“. Dies wird erreicht, indem man die Regeln des Tadjwīd einhält. Die Hauptregeln sind: die richtige Aussprache der verschiedenen Buchstaben an unterschiedlichen Stellen des Wortes, die richtige Längung und Betonung der Vokale und das Pausieren an den entsprechenden Textstellen. Lamʾalif bedeutet, dass keine Zäsur erlaubt ist; mim, dass eine Zäsur vorgeschrieben ist. Die Zäsur bzw. Pause (qif) ist von großer Bedeutung, denn dadurch wird der Satz nach syntaktischen und semantischen Gesichtspunkten unterteilt. Nach A. Neuwirth „kann man die koranische Bestimmung zur Rezitation unschwer aus der Textstruktur selbst ablesen. […] Er ist auch weitgehend rhetorisch so strukturiert, dass Sinneinheiten mit Atemeinheiten kongruieren.“35 Ähnlich wie die hebräische und syrische Massora, welche den Text in allen Einzelheiten festhalten wollte, gilt für den Koran und die Tadjwīd-Regeln: „tadjwīd konserviert seinen archaischen Sprachzustand, der die Abstraktion der göttlichen Rede von der Umgangssprache garantiert“36 und nach Andreas Kellermann seine Intonation ansteuert.37 Ähnlich wie in der syrischen Tradition, in welcher zwei Gesangsstile unterschieden werden, nämlich die Gesangsart der Gušmē-Melodien und die nach den Regeln des Oktoechos, findet sich eine solche Unterteilung auch in Bezug auf die Koranrezitation. Es handelt sich um murattal und mudjawwad, das heißt nach Tartīl geformt, nach der Wurzel rattala („ordnen“), und nach dem Tadjwīd geformt, nach der Wurzel djawwada („schön machen“). Gemeint ist folglich eine Aufforderung zur melodischen Ornamentierung des Textes.

2. plagaler Echos; VII. Ton = 3. plagaler Echos; VIII. Ton = 4. plagaler Echos. Auch der syrische Okto­ echos kennt vier Hauptöne und vier Paralleltöne: 1 : 5, 2 : 6, 3 : 7, 4 : 8. 33 Amnon Shiloah, La perfection des connaissances musicales, Paris 1972, S. 202. 34 Neuwirth (Anm. 3). 35 Ebd., S. 170. 36 Ebd., S. 172. 37 Andreas Kellermann, Die Mündlichkeit des Koran. Ein forschungsgeschichtliches Problem der Arabistik, in: Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft 5 (1995), S. 1–34, hier S. 18.



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 Ulrike-Rebekka Nieten

Sowohl die Rezitationen im Gušmå-Stil als auch die im Murattal sind einfach und schlicht, es ist eher ein rhythmisierter Sprechgesang. Gušmå (Sg.) bedeutet „Körper“, das heißt die melodische Linie verläuft eng am Textcorpus. Auch Murattal ist eng an den Text gebunden; es ist die Standard-Koranrezitation für das tägliche Gebet. Ähnlich der Gušmē-Melodien, die fast nur in der Fastenzeit gesungen werden und daher immer mehr in Vergessenheit geraten, wird der Murattal-Stil wegen seiner Schlichtheit von den großen Rezitatoren kaum beachtet. Aber gerade hier wird die Lehre von der Ansetzung der Sprechpausen im Vortrag (waqf) besonders deutlich. Die Gliederung in kleinere Sinneinheiten unterliegt der mündlichen Überlieferung, syntaktisch kontroverse Stellen werden in den Koranausgaben mit unterschiedlichen Symbolen gekennzeichnet. Nach Neuwirth ist eine solche Untersuchung notwendig, denn das Wissen über die „Binnengliederung der Verse könnte wesentlich zu unserer Kenntnis der einheimischen Rezeption des Koran als eines sprachlichen Kunstwerkes beitragen.“38 Über die Binnengliederung der Sätze gibt es im Syrischen viele grammatikalische Abhandlungen,39 so dass man häufig von Musik und Grammatik sprechen kann und diesbezüglich vielleicht Rückschlüsse zur Koranrezitation ziehen könnte. Eine Parallele zum syrischen Oktoechos, wenn auch die Kantillenen sehr viel kunstvoller und ornamentierter ausgeführt werden, ist der Mudjawwad-Stil. Er ist der performative Stil.40 Neben den Regeln des Tadjwīd kommen ebenso Melodieformeln aus Maqāmen und melodische Kadenzen (qaflah) zur Aufführung.41 Wie in der jüdischen und syrischen Tradition werden auch, speziell im Mudjawwad-Stil, die melodischen Formeln nicht einheitlich überliefert. Aber hier wie dort besitzen sie keinen Selbstzweck, sondern dienen, ähnlich der Pausen, der Deutlichmachung bestimmter Textstellen, und haben somit die Funktion der Textausdeutung. Die rhetorische Tradition der Spätantike wirkte im Syrischen noch Jahrhunderte fort. Dies ist ersichtlich an den rhetorischen Akzenten, den Satzstrukturen der Dichtung und auch der rhythmisierten Metrik. Die frühe syrische Dichtung versteht sich als Exegese auf die einen Hymnus einleitenden Psalmverse. Schon deshalb ist sie, wie Neuwirth es auch über den Koran sagt, „praktizierte Rhetorik“.42 Der hohe Stellenwert, welche der Lesung beziehungsweise Rezitation im Syrischen und Arabischen zukam, zeigt, dass trotz der religiösen Verschiedenheit auch das Entstehungsmilieu des Koran nach Neuwirth in einer „gemeinsamen hellenistisch geprägten Kultur anzusetzen ist.“43

38  Ebd., S. 264. 39  Segal (Anm. 11), S. 63f. 40 Kristina Nelson, The Art of Reciting the Qurʾan (Modern Middle East Series 11), Austin 1985, S. 110. 41  Ebd., S. 133. 42 Neuwirth (Anm. 3), S. 727. 43 Ebd., S. 731.



Max Haas (Basel)

Traditionssicherung oder Traditionsbruch: Ambiguitäten des Notierens Abstract: In der gängigen Auslegeordnung der Musikgeschichtsschreibung hat das Thema „Erbe Abrahams“ keinen Platz, da diese sich an den notierten Zeugnissen orientiert. Man muss die Optik wechseln und einer Überlieferungs- und nicht einer Notationsgeschichte nachgehen, um die Musikgeschichte der drei Schriftreligionen in den Blick zu bekommen. Dann aber zeigen sich als wesentliche Gemeinsamkeiten: die Verwendung einer mit dem Begriff ‚Musik‘ signalisierten Reflexionsform und eine Überlieferung mit der zentralen Frage nach der Abstraktion vom Klangbild beziehungsweise dessen getreulicher Tradierung.

In der überaus beliebten und auch längst als Taschenbuch vorliegenden Musikgeschichte von Hans Heinrich Eggebrecht mit dem Titel „Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ gilt das Abendland geographisch als Teilbereich von Europa. Anders steht es um den Begriff, der dem Autor zufolge eine „geistige und kulturelle Einheit“ bezeichnet. Dabei heißt es: Im Begriff Abendland indessen ist das ideelle Moment das Wesentliche, dasjenige, das den Begriff konstituiert. Es sind Prinzipien des Denkens, geschichtlich gewachsene Wertvorstellungen und Leitbilder, die das Erscheinen von Kultur und Gesittung, die Strukturen des Strebens und Handelns als dem Abendland zugehörig ausprägen.1

Folgt man diesen ja nicht gänzlich unbekannten Vorstellungen weiter, so lernt man, dass zu diesem Abendland das Mönchstum, die Kreuzzüge, die Universitäten, der Humanismus et cetera gehören, „die aber besonders dann“, so fährt Eggebrecht fort, „als abendländisch ins Bewusstsein treten, wenn sie geschichtlich etwa durch islamische, osmanische, heidnische, barbarische oder durch extrem materialistische, entseelt zivilisatorische, zerstörerische technische Kräfte bedrängt und bedroht wurden.“ Wer sich nach dieser Grundlegung einer Musikgeschichte im Mittelalter umsieht, hat es Eggebrecht zufolge mit artifizieller oder usueller Musik zu tun. Artifizielle Musik ist von expliziter Theorie abhängig und durch sie bestimmt. Dergleichen adelt die usuelle Musik nicht; denn „wo das Klingende nur Praxis bleibt, naturwüchsig und usuell, ist seine Sprache Magie oder Ekstase, sein Ort das Brauchtum, seine Lehre die

1 Hans Heinrich Eggebrecht, Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2. Aufl. München 1998, S. 37. Die hier verwendeten Textstellen gehören zusammen zu dem mit „Abendländische Musik“ überschriebenen und als „Reflexion I“ vorgelegten Abschnitt (ebd., S. 36–43).

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blinde Nachahmung, seine Ausübung das Verharren im Geheiligten und Gewohnten, seine Geschichte wie Naturgeschichte.“2 Schließlich kommt nach diesem Mittelalter die Wendung zur Neuzeit dann zu Stande, wenn Musik in Form eines eigenständigen Werkes proklamiert wird. Eggebrecht und andere sahen in der Wendung von einem opus perfectum et absolutum in der ‚Musica‘ von Nicolaus Listenius (1537 beziehungsweise 1533) einen Beleg für diese neue Ausrichtung.3 Gegen diese dreifache Montierung einer abendländischen Musikgeschichte ist durchaus votiert worden. Die Kernpunkte der Kritik seien wiederholt: Mit Max Weber als Kronzeuge einer abendländischen Besonderheit der Rationalität lässt sich schlecht fechten, da ihm zufolge jede Kultur ihre spezifischen Rationalitätsmomente kennt.4 Die Sache mit „artifiziell“ und „usuell“ krankt an einer zweifelhaften Auffassung von Theorie, denn die Existenz von Theorie sagt noch nichts darüber, ob und wie sie die Praxis bestimmt.5 Und die Hoffnung auf das Werk bei Listenius schwindet, wenn man sich – bei einem lutherischen Kantor durchaus naheliegend – an die Verwendung des Ausdrucks opus perfectum zu Beginn des Jakobus-Briefes (Jak 1,4) erinnert. Listenius konstatiert im Einklang mit dem Zitat, seine ‚Musica‘ sei ein „vollständiges Werk“.6 Mit dem Werk im Sinne einer bestimmten Komposition hat die Wendung nichts zu tun. Es dürfte in der Musikwissenschaft wenige Kolleginnen und Kollegen geben, die dem Eggebrechtschen Bild vom Abendland beipflichten. Dennoch war es hier zu zitieren, denn erstens ist diese Musikgeschichte tatsächlich, wie bereits gesagt, überaus beliebt und wird von Studierenden gerne gelesen; zweitens ist sie eine der ganz wenigen Übersichtsdarstellungen in deutscher Sprache. Dass die Eggebrecht-

2 Hans Heinrich Eggebrecht, Musik als Tonsprache, in: Archiv für Musikwissenschaft 18 (1961), S. 73–100, hier S. 77; erneut in ders., Musikalisches Denken. Aufsätze zur Theorie und Ästhetik der Musik (Taschenbücher zur Musikwissenschaft 46), Wilhelmshaven 1977, S. 7–53. 3 Hans Heinrich Eggebrecht, Opusmusik, in: Schweizerische Musikzeitung 115 (1975), S.  2–11; erneut in ders., Musikalisches (Anm. 2), S. 219–242. 4 Zum Aspekt der Rationalität bei Max Weber vgl. Wolfgang Schluchter, Die Entstehung des ­modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents, Frankfurt a.  M. 1998, S.  59–68; zu den spezifischen musiksoziologischen Ausführungen Webers lese man jetzt mit Gewinn die Einleitung von Christoph Braun u. Ludwig Finscher, Einleitung, in: Max Weber, Zur Musiksoziologie, Nachlass 1921 (Max Weber-Gesamtausgabe 1, 14), Tübingen 2004, S. 1–126. 5 Eine ausführliche kritische Stellungnahme bei Max Haas, Studien zur mittelalterlichen Musik­ lehre I. Eine Übersicht über die Musiklehre im Kontext der Philosophie des 13. und frühen 14. Jahrhunderts, in: Wulf Arlt (Hg.), Aktuelle Fragen der musikbezogenen Mittelalterforschung (Forum Musicologicum 3), Winterthur 1982, S. 323–456, hier S. 373–375. 6 Viel komplizierter als meine auf der Vulgata-Stelle beruhende Interpretation ist jene, die Heinz von Loesch bietet, vgl. Heinz von Loesch, Der Werkbegriff in der protestantischen Musiktheorie des 16.  und 17.  Jahrhunderts. Ein Missverständnis (Studien zur Geschichte der Musiktheorie  1), Hildesheim, Zürich, New York 2001.





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sche Abendlandsvorstellung bis heute recht unangefochten geblieben ist, verdankt sich dem Umstand, dass wir in der Musikgeschichtsschreibung recht selten unsere Ränder untersuchen: Wir reden mehr über unsere Themen, unsere Spezialgebiete, die, wenigstens auf den ersten Blick, mehr Fachlichkeit und weniger Ideologie bieten, als über den Kontext, in dem unsere Feststellungen sinnvoll werden. Daher kann in einem Fach ein Konstrukt verbleiben, das recht große Ähnlichkeiten zur Dramaturgie der Romane von Rosamunde Pilcher aufweist: Man ist gehalten, an den guten Verlauf zu glauben und keine Fragen zu stellen. Wenn es nun im Rahmen eines Symposiums um „Abrahams Erbe“ geht, sind Fragen zu stellen, auf die hin eine solche Abendland-Konstruktion gar nicht entworfen ist. Seit Rémi Brague die „voie romaine“ vorgeschlagen und diskutiert hat, ist eine europäische Konstruktion ohne Reflexion über das Verhältnis der drei Schrift­ religionen zueinander – das für die Frage nach „Abrahams Erbe“ grundlegende Konstrukt – ein Unding.7 Statt nun den Begriff „Abendland“ kritisch zu sichten, sei hier versucht, nach Musik in der Geschichte der drei Schriftreligionen zu fahnden. Dabei verschwinden die von Eggebrecht eingezeichneten Konturen eines Geschichtsbildes und andere werden sichtbar. Hier sei folglich versucht, eine Auslegeordnung der Probleme vorzulegen, die so ausgerichtet ist, dass neu zu entdeckende Probleme und Schwierigkeiten Platz haben, auch wenn vielleicht noch unklar bleibt, wie sie anzugehen sind. * * * Als Ausgangspunkt für Sondierungsarbeiten sei der Begriff „Musik“ gewählt, denn an ihm zeigt sich recht schnell innerhalb der drei Schriftreligionen eine interessante Symmetrie in der Begriffsbildung.8 Bekanntlich ist „Musik“ ein griechischstämmiges Wort: Wenn wir für den Moment das, was wir heute „Musik“ nennen, durch den Neologismus „Klangorganisationen“ ersetzen, wird klarer, worum es geht. „Klangorganisation“ soll Dinge bezeichnen, die als Organisation von Klängen gelten können, wie sie Menschen hervorbringen. „Musik“ dagegen wird in einer Tradition, die etwa von Aristoteles bis Leibniz reicht, als Name einer einschlägigen Reflexionsform verwendet, bezeichnet also eine bestimmte Art, über Klangorganisationen nachzudenken und zu reden. Sie hat ihren Fokus in der Untersuchung der Relation zwischen „Ton“ und „Zahl“, also zwischen einem physikalischen Begriff, nämlich „Ton“, und der Zahl als einem mathematischen Terminus. Diese Verwendung von „Musik“ ist den

7 Siehe zum Beispiel Rémi Brague, Europe. La Voie Romaine (Edition Pandora 13), Paris 1993; in letzter deutscher Auflage ders., Europa – seine Kultur, seine Barbarei. Exzentrische Identität und römische Sekundarität, 2. Aufl. Wiesbaden 2012. 8 Materialien zu diesem Abschnitt finden sich in Max Haas, Musikalisches Denken im Mittelalter. Eine Einführung, 2. Aufl. Bern u. a. 2007.



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 Max Haas

drei Schriftreligionen, also dem Judentum, dem Christentum und dem arabischen Islam, gemeinsam. Man erwähnt sie, indem man den griechischstämmigen Terminus als Zeiger verwendet: musica lateinisch, mūsīqī oder mūsīqā arabisch, syrisch und hebräisch, musiké griechisch. Damit ist allerdings das Projekt einer „Musik“ genannten Reflexionsform noch nicht ausreichend umschrieben. Die Gegenüberstellung einer physikalischen und einer mathematischen Komponente ist angelegt in der Reflexionsschicht, die gleichsam in Form einer reflexiven Sedimentbildung auf die philosophischen Bemühungen von Aristoteles zurückweist. Dazu gehört eine Vorstellung von Physik, die es mit der Gesamtheit der Sinneswahrnehmungen zu tun hat, damit mit der Gesamtheit der Erscheinungen, die einem Werden (generatio) und Vergehen (corruptio) unterliegen, gefasst unter motus als dem Oberbegriff der Physik, interpretierbar als „Bewegung“ oder „Prozess“. In erster und grober Annäherung ist gemeint: Wenn drei Blumen verdorren und schließlich zerfallen, sind die physikalischen Objekte, die Blumen, verschwunden, sicher aber nicht der mathematische Term, die Zahl „Drei“. Die Aufgabe, im Sinne einer Reflexionsform das Verhältnis von „Ton“ und „Zahl“ zu prüfen, ist demnach der Spezialfall der allgemeinen Fragestellung nach dem Verhältnis zwischen Physik und Mathematik oder nach dem Verhältnis zwischen Sinneswahrnehmung und davon unabhängigen Kriterien. Wird die einschlägige Produktion an Theorie unter dem Thema „Musik“ verglichen, zeigt sich eine gewisse Asymmetrie. Im arabischen Islam findet sich zunächst bei Farabi, dann auch bei Avicenna (Ibn Sina) ein reflexives Niveau, das der lateinische Westen erst im Verlaufe des 13.  und 14.  Jahrhunderts erreicht. Vom Judentum muss nicht eigens gesprochen werden, da dessen Vertreter immer wieder arabische Texte lesen und sie auch gelegentlich ins Hebräische übersetzten. Man kann die Bedeutung dieser theoretischen Bemühungen im Zusammenhang mit der Frage nach Abrahams Erbe besser verstehen, wenn man sich nochmals dem Eggebrechtschen Modell zuwendet. Darin fungiert Theorie als Voraussetzung für die Entstehung von Notation, von „Tonschrift“, wie Eggebrecht gerne hervorhebt. Dass Klangorganisationen weder im Judentum noch im Islam notiert werden, ist bekannt. Wird allerdings hochstehende Theorie als Zeichen von Rationalität verstanden, fragt man sich natürlich, warum dort, wo entsprechende Rationalität sehr hoch ausgebildet ist, Notation fehlt. An einem Mangel an reflexiver Befähigung liegt es sicher nicht. Was geht hier also vor? * * * Die Frage nach Notation ist geeignet, das Verhältnis im Umgang mit Klangorganisationen innerhalb der drei Schriftreligionen in den Vordergrund zu rücken. Man kommt dem Phänomen des Notierens wie der fehlenden Notation näher, wenn man sich klarmacht, dass keine Schrift das Gesprochene wiedergibt, weil jede Schrift abstrahiert. Wie phonologische Untersuchen zeigen, entsteht beim Aussprechen des Wortes 



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„Tisch“ eine Reihe von i-Lauten, die nur dank Abstraktion zu einem Phonem und zu einem Graphem /i/ werden.9 Im Islam wie im Judentum wird diese Abstraktion intensiv in der Theorie untersucht; doch entsteht keine Notation, da es um die Bewahrung des Klangbildes geht. Die Frage nach der getreulichen Weitergabe des Klangbilds ist keine Frage der Theorie, sondern eine Frage der Tradierung. In roher Zusammenfassung lässt sich sagen, dass Notation im lateinischen Westen dann entsteht, wenn ein Traditionsbruch zu kitten ist. Nach der Zerstörung der lokalen Idiome, der gallikanischen Weisen, gilt es, das heute „gregorianischer Choral“ genannte Corpus auf dem Wege einer musikalischen Missionierung als Einheitsidiom durchzusetzen. Gerade im arabischen Islam aber lässt sich aufgrund des Anekdotenschatzes im ‚Buch der Lieder‘ (Kitab ­al-aghani) nachvollziehen, dass das Tradieren von Melodien nicht darin besteht, Tonfolgen zu erlernen, sondern Klangbilder zu verinnerlichen.10 Es geht um die Übernahme eines Klangbilds: Der künftige Tradent wird vom Sänger/Komponisten so lange unter­wiesen, bis die intendierte Tongebung erlernt ist. Anders gesagt: Egge­ brechts Abendland-Vorstellung ist das Ergebnis einer bestimmten, meines Erachtens falschen Lektürepraxis in Bezug auf mittelalterliche Texte, bei der „jeder Blick über den Tellerrand [...] mehr oder weniger ausgespart“ blieb.11 Sobald die Frage nach Musik in einer elementaren historischen Weise, also unter Berücksichtigung lebensweltlicher Aspekte gestellt wird, verändert sich die Optik grundlegend. Allerdings bleibt bei dieser Zuspitzung von „Notation“ als Mittel der Abstraktion gegenüber der Bewahrung des Klangbilds merkwürdig unklar, was denn durch Notation abstrahiert wird. Der Frage sei hier nachgegangen, weil sich dadurch Eigenheiten der Rationalität des lateinischen Westens konturieren. In einem der sehr häufig überlieferten Lehrtexte, der aus dem Ende des neunten oder aus dem Anfang des zehnten Jahrhunderts stammt, der sogenannten ‚Musica enchiriadis‘, wird ein Zusammenhang zwischen Musik und Sprache postuliert. In beiden Fällen entsteht ein Ganzes, so heißt es, durch das Eruieren des kleinsten Elements, aus dem dann im Falle der Sprache Silben, Wörter und Sätze bestehen. Dieses Element ist das Phonem oder – als Schriftzeichen verstanden – der Buchstabe. Analog dazu bildet die Musik Einheiten, deren kleinstes Element der Einzelton ist. Die Grundidee zur Analogie stammt aus dem Kommentar des Chalcidius zu Platons ‚Timaios‘.12

9 Siehe Elmar Ternes, Einführung in die Phonologie, 2. Aufl. Darmstadt 1999, S. 47–52. 10 Proben aus dieser Textsammlung finden sich bei Gernot Rotter, Abu l-Faradsch. Und der Kalif beschenkte ihn reichlich. Auszüge aus dem „Buch der Lieder“, Tübingen, Basel 1977; Jacques Berque, Musiques sur le fleuve. Les plus belles pages du Kitâb al-Aghâni, Paris 1995. 11 So Elmar Budde, Der Hochschullehrer Eggebrecht. Ein Gespräch, in: Freiburger Universitätsblätter 195 (2012), S. 87. 12 Eine ausführliche Analyse des Materials bietet Klaus-Jürgen Sachs, Musikalische Elementarlehre im Mittelalter, in: Frieder Zaminer (Hg.), Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter (Geschichte der Musiktheorie 3), Darmstadt 1990, S. 105–161.



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Bereits die frühen Notationsentwürfe im lateinischen Westen, bekannt unter dem Sammelnamen „Neumen“, sind auf den Einzelton bezogen. Dem Modus der Abstraktion nach geht es um die Ausbildung von Tonleitern: Das melodische Material wird zu Skalenmaterial. Ein Gegenentwurf dazu findet sich in byzantinischen Notationen. Bereits in den ältesten Notationsformen finden sich Zeichen, die Wendungen und ganze Formeln anzeigen. Es ist klar, dass entsprechende Lehr- und Lernverfahren sehr aufwendig sind, da man melodische Segmente und deren symbolische Entsprechungen zu lernen hat. Doch ist ein Sänger dabei sehr viel näher an der Melodie, deren melodische und nicht nur deren skalare Eigenheiten ihm nun auch graphisch vermittelt geläufig werden. Eine am Einzelton orientierte Notation ist ein sehr viel ökonomischeres Verfahren, entfernt sich aber auf der Zeichenebene sehr viel weiter vom Gesang als eine byzantinische Notierung. Völlig unökonomisch dagegen sind Lehr- und Lernverfahren in Judentum und Islam, da auf jegliche Abstraktion verzichtet wird. Solche Bemerkungen legen bei aller Vorläufigkeit eine systemische, Zusammenhänge vermittelnden Optik nahe. Die Grade an Ökonomie einer Schrift hängen mit Graden der Abstraktion zusammen. Diese wiederum spiegeln Aspekte der Traditionssicherung und der Traditionsbewahrung. Die an Aristoteles orientierte Optik einer „Musik“, die einen physikalischen und einen mathematischen Aspekt untersucht, scheint direkt weder mit der Abstraktion noch mit der Ökonomie verknüpft. In den drei Schriftreligionen sind beide Aspekte gleichermaßen als Potential vorhanden; doch heißt das eben nicht, dass sie notwendigerweise genutzt werden müssen. * * * Nun scheint mir, dass die Konstruktion, der zufolge es einen Zusammenhang zwischen Rationalitätsstandards und Notation gibt, nur die ‚akademische Rückendeckung‘ für ein ganz anderes Motiv sein dürfte. In der mündlichen Tradition des Faches ist das Argument geläufig, dass Geschichte zu schreiben nur dann möglich ist, wenn notierte Quellen vorliegen, entlang derer sich diese Geschichte entwickeln lässt. Daran ist interessant, dass als Quellen nur Aufzeichnungen gelten, nicht aber Zeugnisse anderer Art. Was könnten das für Zeugnisse sein? Im bereits erwähnten ‚Kitab al-aghani‘, das nur ausschnittsweise übersetzt vorliegt, finden sich Hunderte von Anekdoten, die Usanzen im Singen und Tradieren beleuchten. Wie die Klangorganisationen tönten, lässt sich ihnen nicht entnehmen, doch ergeben sie ein sehr anschauliches Bild von der Bedeutung der Lieder, von deren möglichen Funktionen, von Problemen des Schaffens, des Tradierens und des Lernens. Zudem sind mannigfache Quellen zur Musiklehre und -theorie erhalten. Sie bieten deskriptive Elemente – Analytisches zur Tontheorie oder zur Reihenbildung etwa –, vor allem aber auch Produktionshinweise, reagieren also auf die Frage, wie man Klangorganisationen erzeugt. Wird auch hier Elmar Buddes bonmot von der nur bis zum Tellerrand reichenden Reflexion reaktiviert, fragt es sich, warum Quellen dieser Art zwar heran



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gezogen werden, wenn sie „Klingendes“, dem notierten Bestand Entnommenes illuminieren, nur sehr selten aber als Zeugnisse sui generis in Betracht gezogen werden. Ein Hinweis auf mögliche Motive liefert vielleicht eine neuere Produktion. Unter der Leitung des Musikwissenschafters Stefan Morent und unterstützt durch weitere Gelehrte entstand ein „auf Interessenten ohne besondere Fachkenntnisse als auch auf wissenschaftliche Benutzer“ zielendes Projekt, in dem St. Galler Handschriften mit Sequenzen von Notker Balbulus gezeigt werden, auditiv vergegenwärtigt durch eine Version des Ensemble „Ordo Virtutum“ unter Leitung von Morent. Im Fachtext dazu heißt es, die entprechende CD sei „im Januar 2011 erschienen und seither von der Fachpresse bereits mit besten Kritiken und Preisen bedacht worden, wobei besonders die wissenschaftliche Sorgfalt und künstlerische Umsetzung der in den Handschriften notierten Musik hervorgehoben werden.“13 Die Stoßrichtung des Projektes ist klar: Es wird bestätigt, dass „die Musik, die im 9. und 10. Jahrhundert das Kloster St.  Gallen erfüllte, längst verklungen ist“, dass dieses Verklungene aber dank der St. Galler Handschriften wieder „zum Leben“ erweckt wird. Zu dieser Erweckungsaktion bemerkt Morent: „Besonderes Augenmerk galt hierbei der Rekonstruktion der Melodien durch Vergleich zahlreicher Handschriften und der Umsetzung von Feinheiten der gesanglichen Interpretation, wie sie von speziellen Neumenzeichen angezeigt werden.“ Möglicherweise führt auch hier die Zielsetzung, ein möglichst breites Publikum anzusprechen, zur sinngemäßen Übernahme des Diktums von John Maynard Keynes: „It is better to be roughly right than precisely wrong.“ So mag man als Musikwissenschaftler vermuten, dass die Neumierung für die performativen Aspekte gewinnbringend war; doch bietet der Text keine erhellenden Angaben. Und so mag man einmal mehr den so oft zitierten Satz des Isidor von Sevilla zu Schrift und Gedächtnis lesen: „Wenn sie nämlich nicht vom Menschen im Gedächtnis behalten werden, vergehen die Töne, weil man sie nicht aufschreiben kann.“14 Morent versieht den Satz mit der Interpretation, dass zwar eine Notenschrift, die einzelne Tonorte in Bezug auf ein Tonsystem benennen konnte, seit der Antike bekannt war, der genaue agogische Verlauf der Melodielinie jedoch nicht notiert werden konnte. Im Zeitalter der Karolinger im 9. Jahrhundert wurde mit den Neumen eine solche Notenschrift entwickelt, die den liturgischen Gesang, den so genannten Gregorianischen Choral und seine Erweiterungen in Dichtung und Musik wie Tropus und Sequenz, erstmals in entscheidend neuer Weise, nämlich dem genauen agogischen Verlauf entsprechend, aufzeichnen konnte.

13 Alle einschlägigen Zitate im laufenden Text entstammen Stefan Morent, Audiovisuelle digitale Repräsentation von Sequenzen Notkers des Stammlers, s. URL http://www.e-sequence.eu/de/about (einges. 20.7.2013). 14 Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, 2 Bde., hrsg. v. Wallace M. Lindsay, Oxford 1911, ND Oxford 1987, III xv 2: Nisi enim ab homine memoria teneantur, soni pereunt, quia scribi non possunt.



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Das tönt sehr plausibel und dürfte eine fassliche, geradezu kundenfreundliche Interpretation sein; doch ist sie wohl eher exactly wrong statt roughly right. Isidor meint, wie Oliver Strunk und dann Lawrence Gushee herausgearbeitet haben, dass (gesungene) Töne als Vertreter der Klasse der voces inarticulatae nicht schreibbar sind. Es geht, Isidor zufolge, um voces inarticulatae et illitteratae.15 Was ich hier recht flüchtig kritisiere, ist in sich recht belanglos. Interessant in unserem Zusammenhang ist die Tatsache, dass im Rahmen von roughly right darauf bestanden wird, eine in diesem Rahmen weder von Laien noch von Fachleuten interpretierbare Neumierung vorzulegen, auditiv zu erhellen und mit Hilfe eines IsidorZitaten schmackhaft zu machen. Notation als Fetisch kann gar nicht überzeugender dargelegt werden. Wenn Notation genau dieses Gewicht erhält – ich wiederhole, dass sie auch völlig uninterpretiert und unverstanden für etwas eintritt –, dann können jene Ethnien und Sozietäten, die ohne sie überliefern, bei uns nicht punkten. Genauso wie eingangs im Geschichtsbild eines Hans Heinrich Eggebrecht ist es unwesentlich, was erhellt werden und was aufgrund angemessener Untersuchungen überhaupt behauptet werden kann – es geht um das Vorlegen von Versatzstücken, die den zu erwartenden kulturellen Ambitus füllen. Das kulturbezeugende Hintergrundgeräusch muss nicht stimmen. Es reicht, wenn es vorhanden ist. * * * Ich schlage vor, dass wir die ehrwürdige Begriffssammlung, die im Rahmen der aufs Abendland konzentrierten Beflissenheit erarbeitet wurde und die Ausdrücke wie Notation, Theorie, Komposition, Mehrstimmigkeit, Geschichtlichkeit, Transportabilität als Proprium einer westlichen, einer europäischen Kunstmusik unter dem Oberbegriff der Rationalität zusammenfasst, aufgeben und unsere Notationsgeschichte einbinden in eine Überlieferungsgeschichte. Mein Vorschlag ist etwas überfällig; denn es kann unter uns kein Gespräch entstehen, wenn wir als Westeuropäer und Notationsbesitzer die Geschäfte der anderen verhandeln, indem wir sie als nicht geschäftsfähig stigmatisieren, einfach darum, weil sie ‚Habenichtse‘ im Gebiet der Notationen sind. Es sei hier gestattet, den moralischen Schluss mit Hilfe des englischen Ethnologen Nigel Barley etwas amüsant und damit als Medizin besser schluckfähig zuzubereiten. Barley erzählt von einem afrikanischen Stamm, dessen Mitglieder überzeugt seien, dass der weiße Mann nachts seine Haut abziehe, worunter dann die schwarze zum Vorschein komme – und er erzählt, wie die weisen Männer des Stammes über dem Phänomen der bislang unbekannten Gattung „Landkarte“ rätseln, denn offen-

15 Lawrence Gushee, Questions of Genre in Medieval Treatises on Music, in: Wulf Arlt, Ernst Lichtenhahn u. Hans Oesch (Hgg.), Gattungen der Musik in Einzeldarstellungen. Gedenkschrift für Leo Schrade, Bd. 1, Bern, München 1973, S. 382–388.





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sichtlich kann Barley ihnen mit Hilfe dieses Dokuments sagen, wo ein Dorf liegt, obgleich er nie dort war. Aber er kann, trotz Karte, auch nach hartnäckigem Insistieren nicht sagen, wer dort wohnt.16 Diese Asymmetrie in Sachen Kartenauskunft bleibt den Stammesmitgliedern ein Rätsel. Es ist klar: Aufgrund unserer antrainierten Selbstverständlichkeiten können wir über das Andere lachen. Die Umkehrung sei erlaubt: Wie komisch müssen für die­ jenigen, die Melodien im ganzen Spektrum der Klangmöglichkeit erlernen und weitergeben, jene erscheinen, die zuerst notieren und damit das Klangspektrum, die ganze sinnliche Welt der Klangorganisationen, weglassen? Das Nachdenken über das „Erbe Abrahams“ erlaubt es uns, herauszufinden, wie wir das Thema so angehen, dass kein Mitglied der Erbengemeinschaft ausgeschlossen wird.

16 Nigel Barley, Traumatische Tropen. Notizen aus meiner Lehmhütte (dtv 12399), 9. Aufl. München 2008, S.  166: „Ich brachte eine Karte von Poli an, die ich in der Hauptstadt erstanden hatte. Über diese Karte konnten sich die Dawayos nicht genug verwundern. Sie verstanden ihre Konstruktionsprinzipien nicht, und ließen sich von mir immer wieder die Lage von Dörfern angeben, die ich noch nie besucht hatte. Wenn ich das erfolgreich getan hatte, forderten sie mich auf, ihnen die Leute zu nennen, die dort lebten, und konnten einfach nicht begreifen, warum ich zu ersterem imstande war und zu letzterem nicht.“



Medialität – Architektur und Kirchenraum

Simon Paulus (Bet Tfila/Braunschweig/Stuttgart)

Gebautes Miteinander? Mittelalterliche Synagogenarchitektur zwischen Civitas und Eruw

Abstract: In der Topografie der mittelalterlichen abendländischen Stadt war die judenschule oder scola iudeorum ein bauliches Zeichen der Präsenz einer jüdischen Gemeinde und diente nicht nur architektonisch als Orientierungspunkt. Hier über­ lagerten sich verschiedene Raumvorstellungen, so auch der christliche Rechtsraum der Civitas und der von halachischen Vorschriften gebildete rituelle Raum des jüdischen Eruw. Das Verhältnis christlich-jüdischer Nachbarschaft mit ihren Grenzziehungen und Kontaktzonen manifestierte sich daher paradigmatisch an der ‚Platzierung‘ dieser Bauten und ihrem Erscheinungsbild. Die baulich aufwendigen Monumental­ synagogen des Hohen Mittelalters und die oftmals kommunal betriebenen Zweckbauten des Spätmittelalters spiegeln unterschiedliche Umgebungsbedingungen wider. Diese wirken bis in die architektonische Struktur, die sich einerseits durch eine pragmatische Interpretation unter funktional-konstruktiven Gesichtspunkten, andererseits auch in einer bild- und textorientierten Semantik als Bedeutungsträger erschließen lässt.

Mit den beiden Begriffen der Civitas und des Eruw stehen sich in der abendländischen und mediterranen Kulturgeschichte zwei unterschiedliche raum- und grenzbezogene Phänomene gegenüber, die einerseits als rechtliche und andererseits als rituell-symbolische Sphären zueinander in Beziehung treten. Die beiden Formen von Raumauffassung und Raumwahrnehmung können stellvertretend für Verbindendes und Trennendes in der urbanen jüdisch-christlichen Koexistenz des Mittelalters herausgestellt werden. Innerhalb der Civitas und des Eruw nimmt jeweils die als Judenschule oder scola judeorum benannte Synagoge einen verortbaren Fixpunkt ein. In der Lage, Architektur und Bedeutung dieser Einrichtung verschneiden sich gleichsam die beiden Sphären christlicher und jüdischer Wahrnehmungsräume. Der komplexe und durchaus nicht unproblematische Begriff der Civitas soll hier im Sinne eines säkularen, christlich geprägten Rechtsraumes verstanden sein, der ein von einer Mauer umschlossenes, städtisch organisiertes Gemeinwesen umschließt.1

1 Dazu einführend Gerhard Köbler, Civitas, in: Lexikon des Mittelalters 2 (1983), Sp. 2113f. Dabei ist der in den Definitionsversuchen immer wieder herausgearbeitete Bezug zwischen der antik-­ römischen civitas zur frühmittelalterlichen Bischofsstadt durchaus auch für die jüdische Siedlungsgeschichte relevant: Nicht zuletzt sind es eben jene Bischofsstädte kolonialrömischen Ursprungs, in denen erste und bedeutende jüdische Zentren entstehen.

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In ihm ist die Synagoge als Versammlungsraum der jüdischen Gemeinde sowohl Gerichtsort und administratives Zentrum als auch Mittelpunkt des spirituellen Lebens. Die Verschneidung weltlicher und sakraler Nutzung zeichnet sie als eigenständigen Baugattungstypus aus, der ähnlich wie etwa das mittelalterliche Hospital verschiedenste rituelle und funktionale Anforderungen aus beiden Nutzungssphären in sich zu vereinen hatte.2 Neben Rathaus, Gilde- und Zunfthäusern gehört sie damit einerseits zum festen Bestandteil der weltlichen städtischen Infrastruktur, zugleich aber bildet sie wie die benachbarten Pfarrkirchen, Kapellen und Klöster auch einen Fixpunkt in der städtischen Sakrallandschaft. Wie die anderen exponierten ‚öffent­ lichen‘ Bauten einer mittelalterlichen Stadt findet die Synagoge als stadttopografisch markierter Orientierungspunkt vielfach in den städtischen Urkunden, Zins- und Schoßregistern Erwähnung – also in jenen Schriftdokumenten, in denen sich der Raum der Civitas definiert. Nennungen und Beschreibungen wie bey der Judenschull, in der judenschuel, apud synagogam iudeorum etc. bieten bei einer Vielzahl der über vierhundert überlieferten mittelalterlichen Synagogenstandorte auf dem Gebiet des aschkenasischen Judentums oftmals die einzigen Hinweise zur Lokalisierung und Identifizierung dieser Bauten.3 Dem christlich-weltlichen Raumbegriff der Civitas steht der jüdisch-rituelle Raumbegriff des Eruw (Vermischung, Vermengung) gegenüber. Samuel Krauss und Wilhelm Lewy definieren im 1928 erschienenen Band des ‚Jüdischen Lexikon‘ den Begriff als Bezeichnung für eine Verbindung oder Verschmelzung von Gebietsteilen […], Grenzen […], von Zeiträumen, die zur Sabbatvorbereitung dienen […], sowie von Schriftabschnitten […] wodurch an sich getrennte Dinge zu einer ideellen Einheit verbunden werden. Insbesondere sollen durch diese Verbindung […] manche Erleichterungen bezügl. der für Sabbat und Feiertag geltenden Verbote ermöglicht werden.4

Von Interesse sind insbesondere jene raumbezogenen Vorstellungen des Begriffs: Grundlegend gilt hier der Eruw als das Mittel, zwei getrennte Gebiete, wie das im privaten Machtbereiche (Rĕschut hajachid […]) befindliche mit dem im öffentlichen Machtbereich (Rĕschut harabbim […]) befindlichen, ideell zu vereinen. Nach der rabbinischen Tradition (vgl. Ex 16,29 und Jer 17,22) ist es nämlich verboten, am Sabbat eine Sache von einem umschlossenen privaten Bezirk in einen freien öffentlichen Bezirk über 4 Ellen (= etwa 2 m) weit zu tragen. Der E[ruw] nun verwandelt den freien Bezirk in einen geschlossenen.5

2 Dazu weiterführend Simon Paulus, Die Architektur der Synagoge im Mittelalter. Überlieferung und Bestand, Petersberg 2007. 3 Vgl. ebd., S. 55–61. 4 Wilhelm Lewy u. Samuel Krauss, Eruw, in: Jüdisches Lexikon 2 (1928), Sp. 486–489, hier Sp. 486. 5 Ebd.





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Im Hinblick auf ein jüdisches Gemeinwesen in der Stadt des Mittelalters sind zwei Arten des Eruw zu unterscheiden. Bei dem Eruw chazerot (Hof-Eruw) handelt es sich laut der Definition von Krauss und Lewy um die Vereinigung der Häuser um einen Hof zu einem ideellen Gesamthof. Ein Gehöft ist zwar an sich geschlossen, doch wohnen in ihm gewöhnlich mehrere Haushaltungen oder Parteien, sodaß es aufhört, Privatbesitz zu sein. Um so alle Anwohner eines Hofes ideell zu einer Haushaltung zu vereinigen, läßt man alle etwas zu einem Brot beitragen, das, in einem allen zugänglichen Raum niedergelegt, sie symbolisch zu einer Familie vereinigt. In derselben Weise können alle in einer Gasse gelegenen Höfe zu einem Privatbezirk vereinigt werden. Das nennt man schittufe mĕworot [= gemeinsame Passage, Privatstraße].6

Bei der zweiten Form des Eruw werden größere räumliche Dimensionen geregelt. Der Eruw tĕchumin bezeichnet die „Vereinigung der Sabbatgrenzen“. Dazu heißt es bei Krauss und Lewy ausführend: Die Grenze, bis zu der man sich am Sabbat von der Peripherie seines Wohnortes aus zu Fuß hinaus begeben darf, beträgt 2000 Ellen (alpajim amma = etwa 1000 m) im Radius bzw. 4000 Ellen im Durchmesser. Soll der Weg weiter hinausführen, so muß man innerhalb der bezeichneten Grenze sich eine neue ‚Wohnstätte‘ oder ‚Niederlassung‘ (schĕwita, […]) schaffen, von der aus jene Grenze neuerdings gilt. Zu diesem Zwecke legt man (evtl. auch durch einen Beauftragten) vor Sabbat am geeigneten Punkte mit einem Segensspruch (Bĕchara) etwas Speise nieder, wodurch die neue Wohnstätte markiert wird. Die Veranlassung hierzu muß in einer Mizwa liegen, z.B. wenn man zur Synagoge, Beschneidung oder dgl. geht.7

Die ausdifferenzierten halachischen Bestimmungen für die Bildung und Einhaltung des Eruw sind vielgestaltig und umfassen auch konkrete bauliche Vorgaben und Hinweise, die an historische Entwicklungen und wechselnde Umgebungsbedingungen angeglichen werden mussten.8 So war es ab dem 14. Jahrhundert Brauch, das für den Eruw geforderte Gemeinschaftsbrot wegen der Haltbarkeit als Mazza (ungesäuertes Fladenbrot) zu backen und es nicht privat in einem Kästchen zu bewahren, sondern in der Synagoge öffentlich auszustellen. Damit wurde die nun ‚privatisierte‘ Synagoge zum Mittelpunkt beider Räume des Eruw. Von christlicher Seite führte dieser Brauch zu Missverständnissen – oft mit verhängnisvollen Folgen, wie die zunehmende Zahl von Hostienschändungsvorwürfen jener Zeit vermuten lässt.9 Es ist leicht nachvollziehbar, dass der Gedanke des Eruw die Bildung und Struktur jüdischer Wohnquartiere seit der Antike wesentlich mitbestimmt hat. Auch heute

6 Ebd., Sp. 487f. 7 Ebd., Sp. 489. 8 Hierzu stellvertretend Shimon D. Eider, Summary of Halachos of the Eruv, Jerusalem, New York 1973. 9 Vgl. Israel Yuval, Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter, Göttingen 2007, S. 237–239.



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noch hat er in orthodoxen Kreisen eine hohe Bedeutung.10 Allerdings ist erst in der jüngeren Forschung sein prägender Einfluss auf das Siedlungsverhalten und die Quartierbildung der Juden in der Stadt des Mittelalters deutlicher herausgearbeitet worden.11 Vor allem die Form des Eruw chazerot begründet neben dem auch im christlichen Umfeld vorherrschenden Phänomen der berufs- und standesbedingten Bildung eigener Wohnbezirke eine zusätzliche Motivation für die Entstehung und Organisation jüdischer Wohnquartiere. Das Phänomen der Judengasse und des Judenhofs, deren in ihrer Parzellierung planmäßig organisierte Areale sich durch Ketten, Tore, Zäune, Balken, Mauern oder Hecken leicht abgrenzen ließen, ist damit auch von jüdischer Seite ausdrücklich intendiert. Die in diesem Zusammenhang oftmals genannten Judenpforten oder Judentore markierten hier die Zugänge zum abgegrenzten Bereich des Eruw. Die Befolgung der zweiten Form, des Eruw techumin, dürfte dabei im Mittel­alter weniger problematisch gewesen sein. Die Vorgabe der 2000 Ellen für den Sabbatweg ließ auch von der Synagoge getrennte Wohnplätze zu. Die Stadtmauer konnte in diesem Fall nicht nur die Begrenzung der Civitas, sondern auch die rituelle Grenze des Eruw techumin darstellen und mitunter auch eine Grenze des Hof-Eruw bilden, wenn das Wohnquartier an diese angrenzte (zum Beispiel in Worms, Frankfurt am Main).12 In den stark verdichteten Wohnquartieren jüdischer Viertel wie Regensburg, Köln, Trier oder Wien barg die Befolgung des Eruw ein gewisses Konfliktpotential – zumal diese Quartiere in der Regel auch von Christen bewohnt wurden. In der rabbinischen Responsenliteratur des Hohen Mittelalters zeigen überlieferte Fälle aus Mainz und Köln, hier besonders aus dem Wirkungszeitraum des Eliezer Ben Joel ha-Levi (1140– 1225), dass die Thematik des Eruw im jüdischen Alltag präsent war.13 Der wesentliche

10 Als Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit hat die Einrichtung eines Eruw in Wien das öffent­ liche Interesse für diesen rituellen Raum in Europa erneut geweckt. In den USA und Israel existieren einige hundert dieser symbolisch mit Drähten ‚eingezäunten‘ Areale. 11 In der deutschsprachigen Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte zur jüdischen Siedlungs­ geschichte ist der Begriff kaum berücksichtigt worden. Erst in jüngster Zeit ist die Bedeutung des Eruw besonders in der angloamerikanischen Forschungsliteratur zunehmend thematisiert worden, vgl. Barbara E. Mann, Space and place in Jewish studies, New Brunswick u. a. 2012; Steven Fine (Hg.), Visualizing the eruv [A symposium] (Images 5), Leiden u. a 2011; Roger W. Stump, The geography of religion. Faith, place, and space, Lanham 2008; Charlotte E. Fonrobert, Neighborhood as Ritual Space. The Case of the Rabbinic Eruv, in: Archiv für Religionsgeschichte 10 (2008), S. 239–258; J­ oachim Schlör, Religiöse Praxis als räumliche Ordnung der Stadt. Die jüdische „Sabbatgrenze“ (Eruv), in: Cornelia Jöchner (Hg.), Räume der Stadt, von der Antike bis heute, Berlin 2008, S. 241–252; Wilfried Krings, „Eruv – The Wire“ – Judentore einst auch in Bamberg. Ein historisch-geographischer Beitrag zur Konstruktion von Räumen, in: Berichte des Historischen Vereins Bamberg 143 (2007), S. 533–579. 12 Siehe auch Yuval (Anm. 9), S. 237–239. 13 Kommentare zum Eruw sind auch bereits von Judah ben Nathan (RIBaN) aus der Zeit um 1100 überliefert. Zu Mainz siehe Ephraim Kanarfogel, Jewish Education and Society in the High Middle Ages, Detroit 1992, S.  60. Zu Köln und Eliezer ben Joel siehe Micha J. Perry, Imaginary





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Wandel in der Definition des Eruw chazerot bestand darin, die auf den ursprünglichen antiken Wohntypus des Hauses mit (Vor-)Hof (chazer) bezogenen Vorschriften hermeneutisch auf die konkrete Wohnsituation der Juden in der Stadt des Mittelalters anzupassen. Der chazer wurde nun dem „Privatweg“ (mavoi) gleichgesetzt, womit die Bildung des Eruw um und über die Judengasse/Judenstraße hinweg ermöglicht war.14 Eine neue Relevanz erhielt die Einhaltung und Einrichtung des Eruw einerseits mit den Vertreibungen der Juden aus den Städten und den vielen ländlichen Ansiedlungen kleinerer und größerer jüdischer Gemeinden in der Frühen Neuzeit und andererseits durch die Umwandlung und Schleifung vieler Befestigungsanlagen, Stadtmauern und Stadttore. Sie wird daher erstmals im Verlauf des 18. Jahrhunderts auch im vermehrten Aufscheinen von Gerichts- und Verwaltungsfällen thematisiert. Wie im Fall des Altonaer Eruw, der seit Ende des 17. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre existierte, zeigt sich eine Vielfalt von pragmatischen Ansätzen, mit denen man Konflikte im nachbarschaftlichen und administrativen Verhältnis von Christen und Juden zu lösen suchte, teils aber auch erst auslöste.15 In den christlichen Quellen des Hohen Mittelalters wird die rituell geforderte Einrichtung des Eruw nur indirekt angesprochen. Die kaiserlichen Schutzprivilegien, so etwa das auf Heinrich IV. zurückgehende Privileg (1090) Friedrichs I. Barbarossa für Worms 1157, gewähren einen ‚Freiraum‘ innerhalb des jüdischen Gemeinwesen, wenn es heißt: in comoditate, quam habent in edificiis in muro civitatis infra vel extra, nullus eos impediat.16 Im 1283 erlassenen Judenedikt König Philipps  III. von Frankreich klingt das rituell bedingte Siedlungsverhalten in einem kurzen Passus an: „[…] sie sollen […] ihre traditionelle Art des Wohnens in größeren Städten beibehalten.“17 Einer dem rituellen Raum des Eruw geschuldeten Abgrenzung durch Mauern, Zäune, Ketten, Gräben, Hecken oder Wälle steht die Intention der Obrigkeit bei der Zuweisung des Siedlungsplatzes keineswegs ablehnend gegenüber. Schon in der frühesten bekannten Erwähnung eines planmäßig angelegten, abgegrenzten Wohnbezirks für Juden, im 1084 erstellten Privileg des Speyerer Bischofs, ist von einer Eingrenzung des vor der Stadt liegenden Areals (communionem et habitationem ceterorum civium) mit einer eigenen Mauer die Rede. Sie sollte je nach Übersetzungsvariante als

Space meets Actual Space in Thirteenth-Century Cologne. Eliezer Ben Joel and the Eruv, in: Fine (Anm. 11), S. 26–36. 14 Vgl. Perry (Anm. 13), S. 32f. 15 Dazu Peter Freimark, Eruw/„Judentore“. Zur Geschichte einer rituellen Institution im Hamburger Raum (und anderswo), in: ders., Ina Lorenz u. Günter Marwedel (Hgg.), Judentore, Kuggel, Steuer­ konten. Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Juden, vornehmlich im Hamburger Raum, Hamburg 1983, S. 10–69. 16 Heinz Schreckenberg übersetzt den Begriff der com(m)oditas mit „Freiraum“ und suggeriert da­ mit auch einen materiellen Raum – alternativ wäre „Annehmlichkeit“ denkbar, s. Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1982–1994, Bd. 2, S. 301. 17 Zitiert nach Schreckenberg (Anm. 16), Bd. 3, S. 309.



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Schutz entweder vor der Menge des „Pöbels“ (peioris) oder aber des „Viehs“ (pecoris) fungieren,18 sicherte indirekt aber auch den rituell geforderten Raum des Eruw. Von Seiten der Kirche wird eine Trennung der Wohnbereiche aus theologischen Gründen erstmals 1267 in der Provinzialsynode von Breslau gefordert: Die Synode formuliert, dass die Juden „nicht mit den Christen wohnen sollen, sondern in einem abgesonderten Teil der Stadt oder des Dorfes ihre Häuser nebeneinander und beieinander haben sollen, so dass das Judenquartier vom Wohnbereich der Christen durch einen Zaun, eine Mauer oder einen Graben (bzw. Wall) getrennt werde.“19 Ferner wird verfügt, „daß nach der Durchführung dieser Trennung die Juden in einer Stadt oder in einem Dorf (jeweils nur) eine einzige Synagoge haben sollen.“20 Die in Breslau formulierte Trennung der Wohnbereiche wird erst wieder durch einen Beschluss des ab 1431 einberufenen Konzils zu Basel erneuert – mit dem Zusatz, dass die Wohnbereiche „von den Kirchen nach Möglichkeit recht weit entfernt sind (et ab ecclesiis longius quantū fieri potest).“21 Jene Forderung nach Distanz zu den städtischen und klösterlichen Kirchen konnte sich zu diesem Zeitpunkt auf eine Reihe von Präzedenzfällen berufen, bei denen besonders Standortwahl und bauliche Erscheinung der Synagoge eine Rolle spielten. Generell ist zu beobachten, dass das seit der Spätantike wiederholt geforderte und auch ausgesprochene Bauverbot für neue Synagogen in der gängigen Praxis meist unbeachtet blieb.22 Die kanonischen Bestimmungen forderten zudem anfänglich nur bedingt Einschränkungen in der Standortwahl und der baulichen Ausführung der Synagogen: Sie sollten – wie es im Beschluss des Baseler Konzils anklang – nicht in der Nähe von Kirchen errichtet werden. In ihrer Gebäudehöhe und Fassadengestaltung sollten sie nicht übermäßig in Erscheinung treten. Diese Bestimmungen reagierten auf eine Reihe von konkreten Konfliktfällen, von denen stellvertretend jener 1335 sich in Preßburg zugetragene genannt sei: Aus einem in diesem Jahr verfassten Schreiben Papst Benedikts XII. an den Erzbischof von Gran (Esztergom) geht hervor, dass die Juden von Preßburg „böswillig“ (maligno spiritu concitati) eine Synagoge an einer

18 Vgl. Karl Heinz Debus, Geschichte der Juden in Speyer bis zum Beginn der Neuzeit, in: Historischer Verein der Pfalz, Bezirksgruppe Speyer (Hg.), Die Juden von Speyer (Beiträge zur Speyerer Stadt­ geschichte 9), 3. Aufl. Speyer 2004, S. 1–62, hier S. 4f. Zur Übersetzungsproblematik s. Das Speye­rer Judenprivileg 1084. Lesart, Überlieferung, Interpretation… mit einem Faksimile der Handschrift, in: AG Deutsch-Jüdische Geschichte im Verband der Geschichtslehrer Deutschlands, URL http://www. juedischegeschichte.de/html/speyer_1084.html (einges. 23.06.2014). 19 Schreckenberg (Anm. 16), Bd. 3, S. 224. 20 Ebd., S. 225. 21 Zitiert nach ebd., S. 495. 22 Eine im Rahmen meiner Arbeit erstellte Analyse der Erlasse zum Synagogenbau im kanonischen Recht sowie in den Regesten und Urkunden der weltlichen Jurisdiktion zeigt einige grundsätzliche Positionen, die das Verhältnis von Obrigkeit, Bürgerschaft und jüdischer Gemeinde das Mittelalter über bestimmten, s. Paulus (Anm. 2), S. 33–42.





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Stelle erbaut hätten, wo der von den Juden in ihrer Synagoge gemachte Lärm (clamor) die Zisterzienser einer benachbarten Klosterkapelle beim Chorgebet störe.23 Er forderte daraufhin den Abriss der Synagoge, der anscheinend jedoch nicht vollzogen wurde. Reste dieses vermutlich erst um 1360 aufgegebenen und in eine Corpus-Christi-Kapelle umgewandelten Gebäudes, darunter das Eingangsportal, sind heute noch erhalten.24 Einen ähnlichen Präzedenzfall hatte es schon 591 in Terracina in Latium gegeben: Hier waren die Juden zweimal durch den Bischof Petrus von Terracina zur Verlegung ihrer Synagoge genötigt worden, weil ihre Nähe zu einer christlichen Kirche angeblich den Gottesdienst störte.25 Lärmbelästigung und Störung christlicher Gottesdienste und klösterlicher Andachten, wie 1205 aus Sens und 1295 aus Wetzlar überliefert, erscheinen immer wieder als Argumente für ein Vorgehen gegen geplante oder bestehende bauliche Einrichtungen der Juden. Nicht zuletzt basiert auch die 1462 vorgenommene Umsiedlung der Frankfurter Juden auf einer solchen Begründung.26 Der Fall Frankfurt zeigt auch, dass im Verlauf des 14. Jahrhunderts, besonders nach den Pogromwellen von 1348/49 und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Verwaltung des Judenregals, die Stadtobrigkeit zunehmend Kontrolle über die Verteilung jüdischer Wohnplätze gewinnen konnte. Neben der Zuweisung der Siedlungsplätze wurden auch die baulichen Einrichtungen, hier vor allem die Synagoge, zu städtischen Verwaltungsaufgaben. Beispiele für Synagogen im Ratsbesitz finden sich ab 1350 zahlreich in den städtischen Verwaltungsakten.27 Vielfach griff der Rat bei gemeindeinternen Konflikten ein: Der Züricher Rat sprach in einem solchen Fall 1383 ein Verbot des Besuchs von anderen Synagogen aus.28 Auch in Hameln gab es ab 1344 zeitweise zwei Synagogen, wovon eine sich im Besitz der Stadt befand.29 Die Verwaltungshoheit über die Synagoge veranlasste bereits 1338 den Rat in Goslar anlässlich von Streitigkeiten in der jüdischen Gemeinde, die zeitweise die Existenz von zwei Synagogen zur Folge hatten, eigens eine neue Synagoge einzurichten.30 Die Verwaltungshoheit betraf daher nicht nur die vielfach nach 1350 in den Besitz der Städte übergegangenen und nun erneut genutzten Synagogen, sondern in vielen Fällen auch Neubauten, die damit zu städtischen Bauaufgaben wurden.

23 Schreckenberg (Anm. 16), Bd.  3, S.  373; Emil Portisch, Geschichte der Stadt Pressburg, Bra­ tislava 1933, S. 304. 24 Vgl. Paulus (Anm. 2), S. 420f. 25 Vgl. Schreckenberg (Anm. 16), Bd. 1, S. 427. 26 Paulus (Anm. 2), S. 38. Ob eine 1428 erfolgte Umsiedlung in Genf auf ähnlichen Argumenten ­basiert, wäre noch nachzuprüfen. 27 So z. B. in Hildesheim (1379–1457), Nordhausen und Spandau (15. Jh.), vgl. Paulus (Anm. 2), S. 296, 270, 320. 28 Ebd., S. 327. 29 Ebd., S. 294. 30 Ebd., S. 291f.: Auch in Göttingen gab es wegen eines Streits in den Jahren 1450–1452 zeitweise zwei Synagogen.



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Diese ‚städtischen Synagogen‘ in planmäßig angelegten Quartieren mit Judenhäusern sind eine gesonderte Erscheinung des Spätmittelalters, die sich wie in Frankfurt am Main auch gut an einigen weiteren Beispielen erläutern lässt: Wie in Frankfurt, wo der Rat die Baukosten der zwischen 1460 und 1464 errichteten neuen Synagoge und einiger weiterer unterkellerter Judenhäuser übernahm, war bereits 1357 in Erfurt eine Synagoge in einem planmäßig mit schmalen Wohnhäusern bebauten Areal von der Stadt neu errichtet worden. Auch in Naumburg ließ der Rat 1384 die bei einem Stadtbrand zerstörte Synagoge neu erbauen, kam später auch für die Instandsetzung auf und konnte nach Vertreibung der Juden 1494 aus der Stadt auch für sich in Anspruch nehmen, die Steine des Gebäudes als Baumaterial zu versilbern.31 Inwieweit die betroffenen Gemeinden auch gestalterisch Einfluss auf die Planungs- und Bauprozesse nehmen konnten, ist bisher kaum untersucht. Hinweise wie im Frankfurter Fall, wo neben dem christlichen Baumeister Heinrich auch ein offensichtlich jüdischer Baumeister Maneschin32 an den Arbeiten beteiligt war, lassen eine aktive Mitwirkung der Gemeinden als sehr wahrscheinlich gelten. Jüdische Bauherren, die über ihre Kreditgeschäfte auch sehr guten Einblick in die Großbauprojekte ihrer christlichen Nachbarn hatten, dürften zumindest bei den repräsentativen Synagogenbauprojekten des hohen Mittelalters in Worms, Speyer, Regensburg, Erfurt oder Köln maßgeblich am Bauprozess beteiligt gewesen sein, auch wenn die Ausführung bei christlichen Bauhütten lag.33 Wie aus Nürnberg bekannt, wurden wohl zumindest die bauverwalterischen Aufgaben von Juden übernommen. So ist in Nürnberg die Person des Mar Simson überliefert, über den es in der Einleitung des 1296 angelegten ‚Memorbuches‘ heißt, er habe „dieses Haus [Synagoge] gebaut“ und „die Arbeit von der Grundsteinlegung bis zur Krönung des Gebäudes“ beschleunigt.34 Auf die Bedürfnisse der Nutzer wurde mitunter auch in städtebaulicher Hinsicht eingegangen. Zum Beispiel ist die Einrichtung eines Weges zur Erleichterung der Zugänglichkeit der Synagoge durch einen Fall aus Schaffhausen belegbar.35 Auch Bauerlasse, die eine zu enge und hohe Bebauung rund um die Synagoge verhindern und damit eine ausreichende Tageslichtbeleuchtung gewährleisten sollten, sind beispielsweise aus Trier (1331) oder Weißenfels bekannt, wo aus dem Jahr 1402 eine landesherrliche

31 Das Besitzrecht war zuvor vom Bischof zur Stadt zurückgeführt worden, vgl. Paulus (Anm. 2), S. 306. 32 Richard Krautheimer, Mittelalterliche Synagogen, Berlin 1927, S. 228. 33 Vgl. Annette Weber, Der Streit zwischen Kaiser Heinrich und Rabbi Kalonymos um den neuerrichteten Dom von Speyer, in: TrumaH 14 (2005), S. 167–184. 34 Übers. nach Moritz Stern, Die israelitische Bevölkerung der deutschen Städte. Ein Beitrag zur deutschen Stadtgeschichte, Bd. 3: Nürnberg im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1896, S. 99; s. a. Paulus (Anm. 2), S. 166. 35 Paulus (Anm. 2), S. 325





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Verfügung überliefert ist, dass ouch nymand kein gebuede tun daz yn Hindernisse an den lichte zcu irer schule brengen moge.36 Dies führt letztendlich zu der Frage, inwieweit neben den Faktoren, die die Standortwahl bestimmten, vor allem jene Vorfälle und daraus abgeleitete Bestimmungen aussagekräftig sind, die sich auf das Erscheinungsbild der Synagogen bezogen. Klagen über Synagogenbauten, die in christlichen Augen unangemessen prächtig in Erscheinung traten, stammen überwiegend aus dem 13. Jahrhundert (Sens 1205, Cordoba 1250, Breslau 1267).37 Dabei wurden als Gründe des Anstoßes die kostenaufwendigere Dacheindeckung aus Blei, farbige Bemalung und in allen Fällen besonders die Gebäudehöhe angeführt; immer wieder wird auch der Vergleich zu benachbarten Kirchen gezogen. Noch 1479 billigte der Würzburger Bischof den wiederangesiedelten Juden in Schweinfurt die Nutzung ihrer alten Synagoge nur unter der Bedingung zu, sie nicht kosparlich zu erheben oder von neuem machen zu lassen.38 Der Umstand, diese Vorstellungen mit denen der jüdischen Seite zusammenzubringen, bedingte letztendlich jene bekannten eigentümlichen Erscheinungsbilder mittelalterlicher Synagogenbauten. Denn den einschränkenden christlichen Vor­ gaben stand die Forderung der Tosefta gegenüber, dass die Synagoge an der höchsten Stelle errichtet werden oder zumindest das höchste Gebäude seiner Umgebung bilden sollte. Nach einer im ‚Sefer Chassidim‘ (entstanden im 13. Jahrhundert) ge­äußerten Bestimmung sollte die Synagoge zudem das schönste jüdische Haus in der Stadt sein.39 Angesichts der argwöhnischen Umgebung war diese Forderung nur bedingt und in begrenzten Zeiträumen und Regionen umsetzbar. Hier ist besonders eine nur wenige Jahrzehnte währende Zeitspanne in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auffällig, in der Synagogen auch nach außen hin baulich repräsentativ in Erscheinung traten (Erfurt, Prager Altneuschul, Speyer). Diese stehen offensichtlich in Korrelation mit den ebenfalls in diesem Zeitraum aufkommenden Klagen über die an­maßende Repräsentanz der Synagogen (zum Beispiel in Breslau). In der Regel finden sich die Synagogenbauten jedoch durchgehend bis in die Neuzeit in Hofanlagen, umgeben von Gebäuden, die sie aber oftmals an Höhe übertreffen konnten, ohne aus dem Straßen- und Platzraum wahrgenommen werden zu können – wobei eine solche Lage sicher auch günstigere Voraussetzungen für die Einrichtung und Einhaltung des Eruw bot. Die Bauten des wesentlich repressiveren Spätmittelalters, zumal vielfach

36 Urkunde vom 18. Juli 1402; zit. nach Isidor Kaim, Geschichte der Juden in Sachsen mit besonderer Rücksicht auf ihre Rechtsverhältnisse, Leipzig 1840, S. 140f.; s. a. für Trier Paulus (Anm. 2), S. 42, 85. 37 Paulus (Anm. 2), S. 34. 38 Zitiert nach ebd., S. 42. 39 Nach Katrin Kessler, Ritus und Raum der Synagoge. Liturgische und religionsgesetzliche Vo­ raus­setzungen für den neuzeitlichen Synagogenbau in Mitteleuropa, Braunschweig 2007, S. 46; vgl. Paulus (Anm. 2), S. 502, 542.



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von der Stadt finanziert und kontrolliert, waren zumeist reine Zweckbauten.40 Bau­ lichen Luxus gab es nur gegen Aufpreis. In Frankfurt am Main musste beispielweise die Gemeinde für die Kosten der Einwölbung selbst aufkommen.41 Im ‚Sefer Chassidim‘ wurde jedoch auch eine andere Forderung aufgestellt. Unter dem Verweis auf den innen vergoldeten salomonischen Tempel war es nicht statthaft, dass „man die Synagoge außen mit schöneren Zeichnungen bemalt als innen“, sondern man sie dagegen „innen schöner als von außen“ gestalten solle.42 Diese Vorstellung bestimmte das Erscheinungsbild der Synagoge des Mittelalters maßgeblich – sie erklärt die Architektur rituell und gestalterisch somit von innen heraus. Diesem Bedürfnis nach einer architektonischen Auszeichnung der Synagoge als Gotteshaus wurde im Innenraum durch die Ausstattung, die Raumproportionierung als hoher Saal oder Halle und durch die Einwölbung genüge geleistet. Zahlreiche Beispiele belegen die Sorgfalt, die neben der Ausstattung gerade dem Gewölbe gewidmet wurde. Sowohl unter den großen Synagogen, beispielsweise in Prag (Altschul) und Krakau (Alte Synagoge), als auch bei kleinen Gemeindebauten wie Bruck a. d. Leitha, Sopron oder Korneuburg finden sich qualitätsvolle Beispiele gotischer Wölbsysteme auf der Höhe ihrer Zeit.43 Raumproportionen, Gewölbe- und Stützengliederungen, Fensteranordnungen und Fassadenstrukturen gehören in erster Linie in den Bereich einer materiellen, tektonischen Wahrnehmung. In einem zweiten Schritt wurde Ihnen eine immaterielle Bedeutungsdimension zugesprochen, die mit wechselnden Mustern bis heute Architektur wirken lässt. In se magna quidem sunt, sed maiora figurant heißt es in dem beschreibenden Gedicht ‚De allegoria singulorum‘ zur Kathedrale von Lincoln aus der um 1225 abgefassten Vita des Bischofs Hugo von Lincoln.44 Wie im christlichen Sakralbau ist die allegorisch-metaphorische Bedeutung des Bauwerks und seiner einzelnen Bauteile als ‚Abbild‘ auch in der jüdischen Vorstellung präsent.45 Die Synagoge wird in der halachischen Literatur als heiliger Ort eingestuft. In einer Response des Joseph ben Moses heißt es dementsprechend auch, dass die Synagoge ein „kleines Heiligtum, von der Heiligkeit wie der Vorhof (des Tempels), in welchem geopfert wurde,

40 Neuere Befunde wie in Erfurt, wo bei Sondierungen auf dem Gelände der spätmittelalterlichen Synagoge Reste eines nur schlicht gefertigten, unregelmäßigen Gewölbeschlusssteines zutage traten, weisen auf eine solche Intention bei der Gestaltung und Qualität der städtischen Synagogenbauten hin (freundlicher Hinweis von Frau Dr.  Maria Stürzebecher, Stadt Erfurt, vom 10.  September 2012; eine Publikation der Grabungsergebnisse der im Herbst 2012 vorgenommenen Sondierungen steht noch aus). 41 Paulus (Anm. 2), S. 228. 42 Nach Kessler (Anm. 39), S. 46; vgl. Paulus (Anm. 2), S. 502, 542. 43 Paulus (Anm. 2), S. 521–531. 44 Zitiert nach Günther Binding, Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als sapiens architectus, Darmstadt 1996, S. 6f. 45 Vgl. ebd., S. 145–367, die Ausführungen zu „Similitudo, exemplar“.





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sei.“46 Der Bezug zum Tempel findet sich besonders in der Ausstattung der Synagoge immer wieder. Zumeist sind es ikonographische oder inschriftliche Bezüge (Mödling, Worms). Vivian Mann und Annette Weber haben diesbezüglich auf die mehrdimensionalen Bedeutungsebenen dieser Tempelmetaphorik hingewiesen.47 Spätestens mit Günter Bandmanns 1951 erstmals erschienenem Standardwerk ‚Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger‘ wird von kunsthistorischer Seite nicht mehr eine rein typologisch-topographisch betrachtete Genese von Architekturformen verfolgt; jüngere Forschungen haben zusätzlich zu den von Bandmann angesprochenen Aspekten besonders zur Memorialkultur neue Erkenntnisse gebracht. Mittelalterliche Architektur als ‚Gedächnisorte‘ durch Spolien, architektonische Zitate oder typologische Bezüge zu kennzeichnen, dafür finden sich auch im Synagogenbau Hinweise. Der bewusste Einbau älterer Bauteile als Spolien bei Neu- oder Umbauten lässt sich bauarchäologisch in Erfurt und Speyer belegen.48 In Worms wurden mehrere Stifterinschriften eines Vorgängerbaus von 1034 gut sichtbar im Neubau von 1174/75 platziert.49 Nur im Fall der Wormser Synagoge greift die Tempelmetaphorik auch auf die Tektonik des Bauwerks über. Die auf den Kapitellen der beiden Mittelstützen eingebrachten Inschriften aus dem 1. Buch der Könige setzen diese in unmittelbaren Bezug zu den beiden flankierenden Säulen des Tempels Jachin und Boas.50 In der Genese des Entwurfs können daher zwei unterschiedliche Ausgangsüberlegungen ursächlich gewesen sein. Das Motiv der beiden Säulen, oder aber die Raumgröße und ihre Begrenzungen. Inwieweit die Entwurfsidee zwischen christlichem Baumeister und jüdischem Bauherren dabei motivisch oder strukturell motiviert war und sich dann auf eine weitere Entwicklung im Synagogenbau auswirkte, bleibt spekulativ. Möglich,

46 Die Response ist im ‚Sefer Leket Yosher‘ überliefert; zit. nach Brigitte Kern-Ulmer, Rabbinische Responsen zum Synagogenbau, Bd. 1: Die Responsentexte (Studien zur Kunstgeschichte 56), Hildesheim 1990, S. 104f.; ebd., S. 157, zur Bedeutung des Vorhofes nach RaMBaM. 47 Vivian B. Mann, Jewish Texts on the Visual Arts, New York 2000; dies., Zu einer Ikonografie der mittelalterlichen Diaspora-Synagogen, in: Christoph Cluse (Hg.), Europas Juden im Mittelalter. Beiträge des internationalen Symposiums in Speyer vom 20.–25. Oktober 2002, Trier 2004, S. 365–376; Weber (Anm. 33), S. 167–184; dies., Neue Monumente für das mittelalterliche Aschkenas. Zur Sakraltypologie der Ritualbauten in den SchUM-Gemeinden, in: Pia Heberer u. Ursula Reuter (Hgg.), Die SchUM-Gemeinden Speyer – Worms – Mainz. Auf dem Weg zum Welterbe, Regensburg 2013, S. 24–37. 48 Elmar Altwasser, Die Baugeschichte der Alten Synagoge Erfurt vom 11.–20.  Jahrhundert, in: Sven Ostritz (Hg.), Die Alte Synagoge. Die Mittelalterliche Jüdische Kultur in Erfurt, Bd. 4, Weimar 2009, S. 8–193, hier S. 26–28. Zu Speyer siehe zuletzt Pia Heberer, „…war gezieret an den getünchten ­Mauern mit Gemählden.“ Die Synagoge in Speyer, in: Frank Bussert (Hg.), Die jüdische Gemeinde von Erfurt und die SchUM-Gemeinden. Kulturelles Erbe und Vernetzung (Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte 1), Jena 2012, S. 42–51; dies., Die mittelalterliche Synagoge in Speyer. Bauforschung und Rekonstruktion, in: Alfred Haverkamp (Hg.), Europas Juden im Mittelalter, Speyer 2004, S. 77–81. 49 Vgl. Otto Böcher, Die alte Synagoge zu Worms, Worms 1960, S. 98–100. 50 Vgl. ebd., S. 102f.; Paulus (Anm. 2), S. 102, 514; Weber (Anm. 33), S. 181.



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dass die eigentliche impulsgebende Intention in dem Wunsch nach Einwölbung bestand und daher die Zahl und Position der Säulen zunächst konstruktiv begründet war und dann allegorisch besetzt wurde. Eine generelle allegorisch-metaphorische Herleitung der Zweischiffigkeit im Synagogenbau erlaubt das Bildmotiv der Säulen jedoch nicht. Die bekannten Beispiele zweischiffiger Synagogen in Regensburg, Wien, Eger, Prag, Krakau, Oels und Budapest zeigen vielmehr, dass sich die zwischen einer und drei schwankende Stützenanzahl auch rein rational aus den Raumgrößen und Maßverhältnissen ermitteln lässt, und zugleich parallel eine ähnliche Entwicklung im Kirchenbau stattfand.51 Wir müssen vielfach davon ausgehen, dass im Synagogenbau (und nicht nur dort) immer auch ein pragmatischer Ansatz eine Rolle spielte. Dabei darf man die unterschiedlichen Sichtweisen nicht bis zur Einseitigkeit überstrapazieren: Das metaphorische Verknüpfen und Herleiten von räumlichen Strukturen, architektonischen Gliederungen etc. ausschließlich aus einem textbezogenen oder ikonographischen Verständnis heraus, erklärt vielfach nicht die strukturellen ‚architektonischen‘ Merkmale und Motive eines Bauwerks des Mittelalters. Es lässt leicht übersehen, dass auch die Baumeister jener Zeit rational-strukturell dachten und konstruktiv, statisch und funktional bedingte Entscheidungen im Sinne der artes mechanicae zu treffen hatten.52 Man ist daher geneigt, neben der ‚genetischen Methode‘ und der mit Bandmann etablierten ‚bedeutungsorientierten Methode‘ auch eine ‚pragmatische Methode‘ in der kunstgeschichtlichen Deutung von Architektur anzuwenden. Diese hinterfragt ein architektonisches Ergebnis nach konstruktiven, gestalterischen und funktionalen Voraussetzungen – freilich unter der Prämisse, dass sich am Ende die drei methodischen Ansätze letztendlich zu einer komplexen kontextuellen Gesamt­ interpretation zusammenfügen lassen müssen. Damit werden gleichsam die Folien topographisch und metaphorisch-symbolisch wahrgenommener Räume wie jener einer Civitas und eines Eruw übereinandergelegt. Wir müssen hier von einem gebauten Miteinander und nicht von einem Gegeneinander ausgehen. Künftige Forschungen und Fragestellungen zum Einfluss jüdischer Bauherren auf den Entwurfsprozess und zur jüdischen Vorstellungswelt und Wahrnehmung von Architektur im Mittel­ alter sind in diesem Sinne zu begrüßen.

51 Siehe dazu den Exkurs über die Typologie und Verbreitung des zweischiffigen Anlageschemas in Paulus (Anm. 2), S. 512f., 557–575. 52 Vgl. Binding (Anm. 44), S. 203–213.





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Abb. 1: Kupferstichillustration zum Eruw in Johann Christoph Georg Bodenschatz, Aufrichtig teutsch redender Hebräer, Frankfurt a. M. 1756. Nach: Jüdisches Lexikon2 (1928), Sp. 487f.



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Abb. 2: Abgrenzung eines Eruw chazerot durch ‚Juden­ pforten‘ am Beispiel des mittelalterlichen Judenviertels in Trier; Grafik: Simon Paulus 2007/2013.

Abb. 3: Rekonstruktionsversuch des Innenraums der Wormser Synagoge im Zustand des späten 14. Jahrhunderts; Grafik: Simon Paulus, Carolin Sauer u. Oliver Sohn 2002.



Sarah Keller (Bern)

Zeichen des Triumphes: architektonische Aneignungsprozesse auf der Iberischen Halbinsel im 12. Jahrhundert Abstract: Zwei im Umfeld der Reconquista erfolgte architektonische Aneignungsprozesse sollen hier diskutiert werden. Einen ersten Aspekt stellt das im machtpolitischen Zentrum Santiago de Compostela anfangs des 12. Jahrhunderts aus der islamischen Architektur rezipierte Motiv des polyloben Bogens dar. Da die Verbreitung des Bogens deutlich umrissen werden kann und es sich um ein charakteristisches und klar definiertes Motiv handelt, eignet es sich besonders gut, Rezeptionsvorgänge zu analysieren. Markant am identitätsstiftenden und repräsentativen Sakralbau eingesetzt, wird es in der vom Konflikt zwischen christlichem und islamischen Spanien geprägten Gesellschaft als Bedeutungsträger eingesetzt. Nach der Bestimmung des Bezugsfeldes des Motivs soll vor dem spezifischen historischen Hintergrund nach seiner Aussagekraft gefragt werden. Den zweiten Aspekt bildet die Aneignung der Moschee am Bāb al-Mardūm in Toledo. Nach ihrer Umwandlung zur Heilig-KreuzKirche 1186 erhielt sie einen Anbau, der eine neue architektonische Sprache entwickelte. Die Einordnung dieser Formen, insbesondere des polyloben Bogens, gibt unter Berücksichtigung der historischen Umstände Aufschluss über die Intentionen der Bauherren.

An bezeichnenden Stellen der Kathedrale von Santiago de Compostela erscheint ein Motiv der islamischen Architektur: der polylobe Bogen.1 Da weder die antike, noch die westgotische oder die mozarabische2 Architektur dieses aus mehreren Pässen gebildete Motiv zu ihrem Repertoire zählen, ist er besonders geeignet, Transferprozesse zu

1 Auch Vielpassbogen, Zackenbogen oder Fächerbogen genannt. Meine Dissertation widmet sich ausführlich diesem Motiv und dessen Verbreitung im Norden Spaniens, s. Sarah A. Keller, Zeichen christlichen Triumphes. Ein Motiv der islamischen Architektur zwischen Aneignung und Akkultura­ tion, Bern 2014, URL http://bauforschungonline.ch/dissertation/zeichen-christlichen-triumphes-einmotiv.html (einges. 5.6.2014). 2 Im ursprünglichen Sinn meinte „mozarabisch“ nur die Kultur der christlichen Minderheit unter islamischer Herrschaft, der Begriff wurde jedoch zu einer allgemeinen Bezeichnung der christlichen, aber durch die Koexistenz mit dem Islam geprägten Kultur des frühmittelalterlichen Spaniens ausgeweitet.

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analysieren.3 Vor dem durch die Reconquista, dem ideologisierten christ­lichen Eroberungsprozess der Iberischen Halbinsel, geprägten historischen Hintergrund wirft diese kurz nach 1100 erfolgte Aneignung Fragen nach den Gründen dieser Rezeption auf.

Der polylobe Bogen in Santiago de Compostela Die Kathedrale von Santiago de Compostela zählt mehrere polylobe Bögen zu ihrem Bestand. Zwischen 1100 und 11124 entstanden fünfgliedrige polylobe Bögen an der Südquerhausfassade (Abb. 1), an den beiden Querhausgiebeln und an der Scheitelkapelle des Chorumgangs. Zwei dreigliedrige polylobe Bögen schmücken das Chorhaupt und ein dritter Bogen befindet sich auf dem Dach über dem Chor.5 Die Auftraggeber des Kathedralbaus von Santiago führten den polyloben Bogen bewusst als charakteristisches Motiv ein und setzten ihn gezielt an markante Stellen des Bauwerkes. Die Vorläufer für die polyloben Bögen in Santiago entstammen der islamischen Architektur und lassen sich relativ genau bestimmen. Der dreigliedrige Bogentypus des Chorhauptes entspricht in seiner Ausformung einem Fragment aus einem unter islamischer Herrschaft entstandenen Palastbau, der Alcazaba von Málaga.6 Ohne dass dieses Fragment als direktes Vorbild angesehen werden soll, zeigt es den kulturellen und geographischen Ursprung des dreigliedrigen Bogen­typus in Santiago.

3 In der frühchristlichen Architektur Syriens sowie auf Altartafeln aus derselben Region sind polylobe Motive bekannt, für die Kathedrale von Santiago spielen sie jedoch keine Rolle. Vgl. zur Problematik kultureller Zuschreibungen Ulrike Ritzerfeld, Zu Problematik und Erkenntnispotential der Untersuchung materieller bzw. visueller Kulturen im Mittelmeerraum, in: Margit Mersch u. Ulrike Ritzerfeld (Hgg.), Lateinisch-griechisch-arabische Begegnungen (Europa im Mittelalter 15), Berlin, 2009, S. 19–38, hier S. 23. 4 1112 wurde die sich im Bereich der heutigen Vierung befindliche Basilika Alfonsos III. abgerissen. Dies setzte die Existenz der Querhausarme voraus. Vgl. Historia Compostellana, hrsg. von Emma Falque Rey (CCCM 70), Turnhout 1988, I 78; s. a. Jens Rüffer, Die Kathedrale von Santiago de Compostela (1075–1211): eine Quellenstudie (Quellen zur Kunst 31), Freiburg i. Br. 2010, S. 55–66. Die dreigliedrigen Bögen des Chorhauptes und der Bogen der Salvatorkapelle wurden ebenfalls in dieser Zeitspanne errichtet, da es sich dabei um spätere Eingriffe in das ab 1078 errichtete Chorhaupt handelt, s. Corinna Rohn, Die Choranlage unter Pelaez und Gelmírez – Bau- und Planungsabschnitte, in: Santiago de Compostela. Pilgerarchitektur und bildliche Repräsentation in neuer Perspektive [Akten des Kolloquiums, Bern, 25.–27.3.2010], Bern (im Druck). 5 Die 1656–57 verfasste ‚Memoria sobre obras en la Catedral de Santiago‘ des Kanonikers Vega y Verdugo enthält eine Zeichnung des polyloben Bogen an der heute zerstörten Außenwand der Scheitelkapelle, s. Miguel Taín Guzmán, Trazas, planos y proyectos del archivo de la catedral de Santiago, A Coruña 1999, S. 139. 6 Funktion und ursprüngliche Verortung des Fragments aus dem 10. Jh. sind unbekannt, s. Leopoldo Torres Balbás, Arte Califal, in: Ramón Menéndez Pidal (Hg.), España Musulmana hasta la Caída del Califato de Córdoba (Historia de España 5), Madrid 1957, S. 331–788, hier S. 715.





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Der andere Typus polylober Bögen in Santiago bestätigt die Verbindung zur islamischen Architektur. Er weist auffällige Parallelen zum heiligsten Bereich der im 9. Jahrhundert erbauten Hauptmoschee von Kairouan auf. Dort flankieren oberhalb der Gebetsnische, des Mihrabs, zwei fünfgliedrige polylobe Bögen und zwei Nischen einen größeren ebenfalls fünfgliedrigen polyloben Bogen (Abb. 2). Über dieser Wand schließt sich ein neungliedriger polylober Blendbogen an. Mit dieser Wandgestaltung weist die Südquerhausfassade in Santiago, die Puerta de las Platerías, große Ähnlichkeit auf. Vorab ist zu berücksichtigen, dass letztere mehrere Umgestaltungen erfuhr. Der obere Bereich der Fassade erhielt Ende des 12. Jahrhunderts mehrere die poly­ loben Bögen umfassende Archivolten mit Säulen. Ein zweites ursprünglich vorhandenes Rundbogenfenster zur rechten Seite ist heute gänzlich durch einen Turm verbaut. Ebenso ist die Balustrade ein späterer Zusatz. Diese verdeckt heute den etwas zurückgesetzten Südquerhausgiebel mit seinem polyloben Bogen, dessen Rundfenster ebenfalls nachträglich entstand. Im ursprünglichen Zustand dagegen war das Giebelfeld über der Südquerhausfassade zumindest aus der Ferne gut sichtbar. In Santiago und in Kairouan schmücken polylobe Bögen, flankiert von Rund­ bögen, den oberen Bereich einer Wandfläche und werden von einem weiteren polyloben Bogen gekrönt. Sowohl die halbkreisförmige Grundlinie als auch das Stützen des Bogens durch Säulen mit Blattkapitell und schlichtem Kämpfer stimmen überein. Besonders deutlich zeigt sich die Verwandtschaft darin, dass bei den Bögen in San­ tiago sowie beim mittleren Bogen in Kairouan die Pässe akzentuiert werden und nicht die Bogenlinie, wie dies sonst in der islamischen Architektur, etwa in der Großen Moschee von Córdoba, meist der Fall ist. In der Moschee umfängt ein Fries den mittleren Bogen und die beiden Nischen. Der polylobe Bogen des Nordquerhausgiebels der Kathedrale von Santiago verfügt über dasselbe Schmuckelement. Friese gehörten wahrscheinlich auch zum ursprünglichen Erscheinungsbild des Südgiebels und zu den polyloben Bögen der Puerta de las Platerías, wie Friesansätze und Bruchsteinfüllungen vermuten lassen. Der Südgiebel schließlich wiederholt mit dem polyloben Bogen und den etwas niedrigeren, flankierenden Rundbögen bis ins Detail und in demselben Größenverhältnis die Wandgestaltung des Vormihrabraums von Kairouan (Abb. 3). Die weite Entfernung der Moschee von Kairouan von Santiago sowie deren Status als heiligste Moschee des islamischen Westens sprechen dafür, dass eine bewusste Überlegung der Rezeption der Bögen der Moschee in Santiago vorausging. Insbesondere aufgrund von Handelsbeziehungen sind die möglichen Übermittlungswege von Informationen aus Tunesien bis in den Norden Spaniens zahlreich.7 Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass die Bevölkerung Santiagos sowie die Pilger in den poly­loben

7 Einen anderen direkten Kontaktmoment stellen die Ziriden dar, die bis in die Mitte des 11. Jhs. die Herrschaft in „Ifriqiya“ innehatten und zu Beginn des Jahrhunderts begonnen hatten, sich dauerhaft in Granada anzusiedeln, vgl. Bilal Sarr Marocco, La Granada zirí, in: Arqueología y Territorio 4



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Bögen Santiagos mehr als ein allgemeines Motiv der islamischen Architektur und damit einen Verweis auf den Islam erkannten. Vorstellbar ist zwar eine mündliche Überlieferung der Herkunft der Bögen, sie ist jedoch nicht belegbar. Einleuchtender wird die Ähnlichkeit zwischen den Bögen Kairouans und denjenigen Santiagos, wenn nicht die Perspektive des rezipierenden Publikums eingenommen wird, sondern diejenige der compostelanischen Produzenten, der Bauherren. Bei deren Beschluss, polylobe Bögen als Verweis auf die islamische Architektur in den Bau der Kathe­drale einzufügen, spielt der Ursprung des rezipierten Motivs eine entscheidende Rolle. Mit der Rezeption der Großen Moschee von Kairouan wird nicht ein beliebiger Bau, sondern die bedeutendste Moschee des islamischen Westens rezipiert und bezeichnenderweise von diesem Bau der heiligste Bereich: die Mihrabfassade.

Akkulturation und Aneignung als Erklärungsmodelle Es stellt sich nun die Frage, weswegen an einer Kathedrale als Materialisierung des christlichen Glaubens ein islamisches Motiv aus einer Moschee, dem symbolträchtigen Bau eines aus Sicht des Christentums ketzerischen Glaubens, eingefügt wurde. Die Erklärungsmodelle hierfür lassen sich zwischen den beiden Polen Akkulturation8  – relativ unbewusste Angleichung an die islamische Kultur und die damit verbundene Übernahme von Kulturgut – und repräsentativ-politisch motivierte, triumphale Aneignung – Plünderung des islamischen Kulturgutes und dessen Inkorporation in ein christliches Umfeld – verorten. Sie implizieren die Frage nach den soziokulturellen Umständen und der Beschaffenheit des muslimisch-christlichen Verhältnisses auf der Iberischen Halbinsel im 12. Jahrhundert. Die kunst- und kulturhistorische Forschung diskutiert dieses Verhältnis kontrovers. Einerseits übt eine Reihe jüngerer Publikationen Kritik an der Idee einer ausschließlichen Opposition zwischen Islam und Christentum und stellt dem ein mediterranes Interaktionsfeld

(2007), S. 165–180, hier S. 167; Anette Hettinger, Die Beziehungen des Papsttums zu Afrika von der Mitte des 11. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 1993, S. 87. 8 Akkulturation bezeichnet die Übernahme fremden Kulturgutes und die Angleichung an eine ­fremde Kultur. Dabei wird das Übernommene (Wissensbestände, Methoden und Techniken) adaptiert, es findet eine Rekontextualisierung statt. Wird die Gesamtheit der Austauschprozesse auf der Iberischen Halbinsel betrachtet, handelt es sich um eine Transkulturation, d. h. um Kulturaustausch oder -transfer nach beiden Richtungen. Da hier jedoch nur die Rezeption der Christen betrachtet wird, wird der Begriff Akkulturation verwendet; vgl. Andreas Speer, Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter, in: Andreas Speer u. Lydia Wegener (Hgg.), Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 33), Berlin, New York 2006, S. xiii–xxiii, hier S. xv; Rainer Barzen u. a., Arbeitsforum B: Kontakt und Austausch zwischen Kulturen im europäischen Mittelalter, in: Michael Borgolte u. a. (Hgg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft (Europa im Mittelalter 10), Berlin 2008, S. 195–304, hier S. 204–209.





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verschiedener Parteien gegenüber.9 Andererseits macht insbesondere die historische Forschung die Intentionalität des christlichen Kampfes gegen die islamischen Reiche mit einer Reconquista-Politik, einer islamfeindlichen Propaganda sowie alltäglichen Diskriminierungen deutlich.10 In einem Umfeld des alltäglichen Zusammenlebens, geprägt von freundschaftlichem Austausch, wäre eine Akkulturation trotz gleichzeitig kriegerischen Auseinandersetzungen auch in der Kunst denkbar, d. h. die unbewusste Vermischung von künstlerischen Elementen aus dem islamischen und aus dem christlichen Raum. Aufgrund des Vorhandenseins eines Motivs in räumlicher Nähe, aus ästhetischen Gründen oder aus Interesse an einer neuen Form wären Motive, wie der polylobe Bogen, übernommen worden, ohne dass es eine Rolle spielte, dass sie der islamischen Kultur entstammten. In einem vorwiegend kriegerischen, durch die religiöse Grenze geprägten Umfeld jedoch, ist dies nur beschränkt denkbar. Dies insbesondere, da es sich bei den meisten künstlerischen Schöpfungen, gerade bei der Architektur, um unter großem Aufwand geschaffene, überlegte Produkte, die grundsätzlich repräsentative Zwecke verfolgen, handelt. Deutlich wird, dass nach den soziokulturellen Umständen und nach dem historischen und ideologischen Hintergrund gefragt werden muss, um die Rezeption des polyloben Bogens zu verstehen.

9 María R. Menocal, The Castilian Context of the Arabic Translation Movement, in: Speer u. Wegener (Anm. 8), S. 119–125; Jerrilynn D. Dodds, María Rosa Menocal u. Abigail Krasner Balbale, The Arts of Intimacy: Christians, Jews, and Muslims in the Making of Castilian Culture, New Haven 2008; Christiane Kothe, Comercio, Razzia, Cultura cortesana: su papel en el desarrollo histórico (-artístico) alrededor de 1100, in: Achim Arbeiter u. a. (Hgg.), Hispaniens Norden im 11. Jahrhundert. Christliche Kunst im Umbruch, Petersberg 2010, S. 85–96; Cynthia Robinson, La cuestión de ‚influencia islámica‘ en la formación del ‚Románico‘, in: ebd., S. 97–108. Vgl. in allgemeinerer Hinsicht Stefan Burkhardt u. a., Hybridisierung von Zeichen und Formen durch mediterrane Eliten, in: Michael Borgolte u. a. (Hgg.), Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter (Europa im Mittel­ alter 18), Berlin 2011, S. 467–560, hier S. 467–474. 10 Norman Daniel, The Arabs and Mediaeval Europe, 2. Aufl. London, New York 1979; John V. Tolan, Saracens. Islam in the Medieval European Imagination, New York 2002; Richard A. Fletcher, Reconquest and Crusade in Spain c. 1050–1150, in: Transactions of the Royal Historical Society 5, 37 (1987), S. 31–48; Alexander P. Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg, Münster 1998; Joseph F. O’Callaghan, Reconquest and Crusade in Medieval Spain, Philadelphia 2003; James M. Powell, The Papacy and the Muslim Frontier, in: ders. (Hg.), Muslims under Latin Rule 1100–1300, Princeton 1990, S. 175–203; María J. Feliciano und Leyla Rouhi, Introduction: Interrogating Iberian Frontiers, in: Medieval Encounters 12, 3 (2006), S. 318–238; Klaus Herbers u. Nikolas Jaspert (Hgg.), Grenz­ räume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa, Berlin 2007; Matthias M. Tischler u. Alexander Fidora (Hgg.), Christlicher Norden – Muslimischer Süden. Ansprüche und Wirklichkeiten von Christen, Juden und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel im Hoch- und Spätmittelalter, Münster 2011.



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Der historisch-kulturelle Hintergrund in Santiago de Compostela Die Aspekte des muslimisch-christlichen Verhältnisses auf der Iberischen Halbinsel waren vielfältig und bewegten sich zwischen den Extremen freundschaftlicher Austausch und religiöser Krieg. Dabei lässt sich seit Ende des 9. Jahrhunderts eine durch die Kirche und die Königshäuser wiederholt aufgegriffene, zielgerichtete Politik und Ideologie beobachten. Im Verlauf dieser Reconquista entwickelte sich im 11. Jahrhundert eine zunehmende religiöse Rechtfertigung der Kriege, die sich gegen den Islam richtete und durch die beginnenden Kreuzzüge verstärkt wurde. Die Sakralisierung des Krieges stellte die Kirche als wichtige Trägerin der Reconquista ins Zentrum der kriegerischen Auseinandersetzungen. Santiago, das neu definierte zentrale Heiligtum der Christenheit neben Rom und Jerusalem, nahm dabei eine besondere Rolle ein. Als apostolischer Sitz übernahm der Ort seit der Entdeckung des Apostelgrabes im 9. Jahrhundert eine identitätsbildende Funktion für die erstarkenden christlichen Reiche in Nordspanien.11 Ein entscheidender Faktor dieser Identitätsbildung war, neben der Berufung auf die westgotischen Vorfahren und der Anbindung an das Papsttum, der Kampf gegen einen äußeren Feind, gegen die ‚Sarazenen‘. Dieser Aspekt wurde unter Erzbischof Diego Gelmírez († 1140) instrumentalisiert, um die Machtposition San­tiagos zu sichern. Unter dessen langer Amtszeit erfolgte der Aufstieg Santiagos von einer kleinen Stadt zu einem machtpolitisch bedeutenden Zentrum der Christenheit. Ab 1100 als Bischof und ab 1120 als Erzbischof lenkte er die Geschicke der Apostelkirche und der Stadt.12 Der 1075/1078 begonnene Bau der romanischen Kathedrale von San­tiago entstand abgesehen von einem ersten Chorbau unter seiner Leitung.13 Gelmírez nutzte zur Festigung der Machtposition Santiagos das Papsttum als wichtigsten Verbündeten. Im Jahr 1120 gelang es ihm durch dessen Förderung sein Ziel, die Erhebung San­ tiagos zum Metropolitansitz, zu erreichen. Jakobus, Legitimationsfigur für den Aufstieg Santiagos, war nicht mehr nur Pilgerziel für tausende von Personen, sondern auch integrativer Patron eines neu definierten Zentrums der Christenheit. In dieser

11 Vgl. Klaus Herbers, Politik und Heiligenverehrung auf der Iberischen Halbinsel. Die Entwicklung des ,politischen Jakobus‘, in: Jürgen Petersohn (Hg.), Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, Sigmaringen 1994, S. 177–276; Richard A. Fletcher, Saint James’s Catapult. The Life and Times of Diego Gelmírez of Santiago de Compostela, Oxford 1984. 12 Herbers (Anm. 11), S. 247; Karen R. Mathews, ,They wished to destroy the temple of God‘. Responses to the Construction of Diego Gelmírez’s Cathedral Construction in Santiago de Compostela, 1100–1140, 2 Bde., Diss. University of Chicago 1996, Bd. 1, S. 40. 13 Serafín Moralejo, El patronazgo artístico del arzobispo Gelmírez (1100–1140). Su reflejo en la obra e imagen de Santiago, in: Lucia Gai (Hg.), Atti del Convegno Internazionale di Studi ,Pistoia e il Cammino di Santiago‘, Neapel 1984, S. 245–272 (wieder abgedr. in Patrimonio artístico de Galicia y otros estudios, Bd. 1, Santiago de Compostela 2004, S. 289–299, hier S. 289); Manuel A. Castiñeiras, ,Didacus Gelmirius‘, Patron of the Arts, in: ders. (Hg.), Compostela and Europe. The Story of Diego Gelmírez, Milano 2010, S. 32–99, hier S. 63.





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Position war seine Funktion jedoch nicht nur schützender, sondern auch aktiv kriegerischer Natur. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts konkretisierte sich ein Aspekt der Jakobusfigur, der bereits in den Anfängen seines Kults angelegt war und sich im Verlauf der folgenden Jahrhunderte noch verstärken sollte. Jakobus war nicht nur wichtigster Apostel neben Petrus und Johannes und Integrationsfigur der spanischen Reiche, sondern auch miles Christi, ein „Ritter Christi“, und fungierte in dieser Funktion als Patron der Reconquista. Die ersten schriftlichen Nennungen des Jakobi als Ritter Christi begegnen in Mirakelerzählungen, die um 1110 in Santiago und León entstanden, und schildern, wie Jakobus als weißer Ritter die Christen in der Schlacht von Coimbra 1064 gegen die Sarazenen zum Sieg führte.14 In dieser Funktion diente der Apostel Jakobus wiederum dem zentralen Interesse des Papsttums für die Iberische Halbinsel: der Expansion des Christentums in Verbindung mit den Kreuzzügen und der Eroberung der Halbinsel.15 Um Jakobus wurde ein Kult geschaffen, der die Legitimation der Machtposition Santiagos innerhalb der christlichen Welt mit der Reconquista verband. Neben dem Ausbau des Jakobuskultes zeigt ein zweiter Punkt deutlich, wie Santiago eine aktive Rolle in der Reconquista einnahm: Gelmírez’ Aufruf zu einer „Wegbefreiung nach Jerusalem“. 1123/25 hielt Gelmírez als Legat des Papstes ein Konzil in Santiago, auf dem er zu einer militärischen Expedition gegen die Mauren im Sinn eines Kreuzzuges aufrief. Er verfasste ein Schreiben, worin er das gesamte christ­liche Volk aufforderte, nach dem Rat des Apostels Jakobus zu milites Christi zu werden und die pessimis Sarracenis in Spanien zu besiegen, ad depressionem et confusionem paganismi et ad exaltationem atque edificationem Christianismi. So könne ein kürzerer und weniger anstrengender Weg zum Heiligen Grab in Jerusalem über die Iberische Halbinsel gewonnen werden. Anschließend legte er den durch die Teilnahme an dieser Expedition erreichten Sündenablass dar.16 Bemerkenswert ist auch hier Gelmírez’ Instrumentalisierung des Jakobi als Patron seines Unternehmens. Der Grund für dieses kriegerische Engagement ist derselbe, der Gelmírez’ allgemeines Handeln bestimmte: die Förderung und Sicherung Santiagos als Metropolitansitz.17 Die beiden zentralen Punkte zur Erreichung dieses Ziels – Ausbau des Jako-

14 Historia Silense, in: Simon Barton u. Richard A. Fletcher (Hgg.), The World of El Cid. Chronicles of the Reconquest, Manchester, New York 2000, S. 24–63, hier S. 50; Liber Sancti Jacobi: Codex Calixtinus, hrsg. von Klaus Herbers u. Manuel Santos Noia, Santiago de Compostela 1998, S. 175 (II 19). 15 Vgl. Ludwig Vones, Die päpstliche Einflussnahme im iberischen Raum zur Förderung von Integrations- und Desintegrationsprozessen, in: Tischler u. Fidora (Anm. 10), S. 389–402, hier S. 390–396. 16 ‚Historia Compostellana‘ (Anm. 4), I 78. Vgl. Klaus Herbers, Der Jakobuskult des 12. Jahrhunderts und der ,Liber Sancti Jacobi‘. Studien über das Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft im hohen Mittelalter (Historische Forschungen 7), Wiesbaden 1984, S. 68; Ludwig Vones, Die ,Historia Compostellana‘ und die Kirchenpolitik des nordwestspanischen Raumes 1070–1130, Köln, Wien 1980, S. 441; Jaime Justo Fernández, Die Konzilien von Compostela 1120–1563, Paderborn 2002, S. 51–55. 17 Fletcher (Anm. 11), S. 195–212; Herbers (Anm. 11), S. 210–214.



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buskultes und Anbindung an das Papsttum – ließen sich mit der Idee der Reconquista und den Kreuzzügen bestens verbinden. In seinem Bemühen um eine unumstrittene Vormachtstellung Santiagos machte er das Ziel, welches das Papsttum für die Iberische Halbinsel anstrebte, zu seinem eigenen: eine vereinte Christenheit im Kampf gegen die Sarazenen.

Die polyloben Bögen als Zeichen des Triumphes Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Einfügung des polyloben Bogens an der Kathedrale und damit der Verweis auf die islamische Architektur keinem ästhetischen Interesse geschuldet ist. Die Bauherren von Santiago führten mit ihm ein in der christlichen Architektur bislang unbekanntes Motiv ein, das jedoch keine Neuschöpfung war. Rezipiert wurde die weit entfernt gelegene bedeutendste Moschee des islamischen Westens, die Große Moschee von Kairouan. Der Bogen ist eine einfache, aber charakteristische, leicht wiedererkennbare Formel mit einem klaren Verweischarakter. In Santiago wurde er sehr prominent am Chorhaupt, an der Scheitelkapelle und am Querhaus eingesetzt und sogar in bereits bestehende Bestandteile der Kathedrale eingefügt. Diese Punkte sprechen für einen bewussten Einsatz des Motivs durch die Bauherren und eine damit verbundene Aussage: der Bogen wird zum Bedeutungsträger. Am christlichen Bau platziert wird er zu einem auf den Islam verweisenden Zeichen. Die aktive Rolle, die Santiago de Compostela und Gelmírez im Kampf gegen die islamischen Reiche und für die christ­liche Expansion übernahmen, lassen darauf schließen, dass die Aneignung des polyloben Bogens als Machtdemonstration gedacht war, als Triumph der spanischen Christenheit über die islamischen Reiche im Rahmen der Reconquista. Die Architektur San­ tiagos mit dem polyloben Bogen vermittelte so die Überlegenheit der Christenheit mit dem Verweis auf den dominierten Islam, der durch den in Besitz genommenen polyloben Bogen versinnbildlicht wurde. So wie Jakobus in der Mirakelerzählung verspricht, siegreich über die Sarazenen zu sein – victorem existere18 –, verspricht auch die bereits erfolgte Aneignung der Bögen den zukünftigen Triumph der Christen über die islamischen Reiche. Gelmírez selbst unternahm konkrete Schritte zur Erreichung dieses Ziels als er zum Kampf gegen die Mauren und zur „Wegbefreiung nach Jerusalem“ aufrief. Die stetig mündlich und schriftlich verbreitete Siegesbotschaft fand ihren visuellen Ausdruck an der Kathedrale von Santiago in den als Triumphzeichen eingesetzten polyloben Bögen.19

18 ‚Liber Sancti Jacobi‘ (Anm. 14), S. 175 (II 19). 19 Für die polyloben Bögen in San Isidoro in León lässt sich ein ähnlicher historischer Hintergrund und dieselbe ikonologische Aussagekraft feststellen. Dass sowohl in Santiago als auch in León zwei zwar miteinander bekannte, aber doch unterschiedliche Auftraggeberschaften fast zeitgleich be-





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Aneignungsprozesse Die Inbesitznahme des polyloben Bogens in der romanischen Architektur bettet sich in ein Umfeld verschiedener Aneignungsprozesse während den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen muslimischen und christlichen Reichen ein. Dazu gehören Tributzahlungen der muslimischen Herrscher und der Beutegewinn aus den Kämpfen, die eine immense materielle Bereicherung der christlichen Reiche bedeutete.20 Kunstgegenstände aus Al-Andalus wurden seit dem 11. Jahrhundert in Kirchen und Königshöfe in den Dienst der Christenheit gestellt. Die übernommenen Güter erhöhten nicht nur den Reichtum, sondern dienten gleichzeitig der Machtdemonstration gegenüber den islamischen Reichen und als Erinnerung des stetigen Kampfes.21 Ebenso ideologisch aufgeladen wurde die Eroberung und Weihe von Moscheen. Die Weihe der Hauptmoschee nach dem Sieg war zentraler demonstrativer Akt der neuen Macht. Die Umwandlung der kleineren Moscheen machte die Inbesitznahme des Territoriums und die Implementierung des christlichen Glaubens deutlich.22 Toledo, dem ehemaligen kirchlichen und königlichen Zentrum des Westgotischen Reiches und unter muslimischer Herrschaft Hauptstadt des gleichnamigen Königreiches, fiel dabei eine besondere Rolle zu. Sie war die erste große Stadt, die Kastilien-León eroberte, und gibt als Ort in der islamische und christliche Kultur direkt aufeinander trafen und den christlichen Eroberern ein umfangreicher architektonischer Bestand zufiel, Aufschluss über die Folgen dieses direkten Kontaktes. Kurz nach der Eroberung 1085 weihte König Alfonso VI. die Hauptmoschee entgegen einem früheren Versprechen zur Kathedrale. Die entsprechende Stiftungsurkunde formuliert deutlich die Idee der Reconquista: Durch ein verborgenes Urteil Gottes sei die Stadt während 376 Jahren durch die Mauren besetzt gewesen, die sich in Schande und Verachtung der Blasphemie des Namen Gottes schuldig gemacht und die Christen unterdrückt sowie einige durch das Messer, durch Durst, Hunger oder andere Folterungen getötet hätten, damit am Ort, an dem Väter und Vorfahren den wahrhaftigen Gott mit heiligem Glauben verehrten, der Name des maledicti Mahometh angerufen werden könne. Die der Macht

schlossen, polylobe Bögen einzusetzen spricht deutlich für einen bewussten Vorgang und für eine damit verbundene Absicht. Für eine ausführliche Diskussion vgl. Keller (Anm. 1), S. 156–166. 20 O’Callaghan (Anm. 10), S. 166f.; James F. Powers, A Society Organized for War. The Iberian ­Municipal Militias in 
the Central Middle Ages, Berkeley, Los Angeles, London 1987, S. 162–188. 21 Avinoam Shalem, Islam Christianized: Islamic Portable Objects in the Medieval Church Treasuries of the Latin West, Bloomington 1996, S. 79; Nikolas Jaspert, Zeichen und Symbole in den christlichmuslimischen Beziehungen des Mittelalters, in: Giancarlo Andenna u. Elisabetta Filippini (Hgg.), Religiosità e civiltà: le comunicazioni simboliche, Mailand 2009, S. 293–342, hier S. 304–312. 22 Vgl. Pascal Buresi, Les conversions d’églises et de mosquées en Espagne aux XIe–XIIIe siècles, in: Patrick Boucheron u. Jacques Chiffoleau (Hgg.), Religion et société urbaine au moyen âge, Paris 2000, S. 333–350, hier S. 341–350; Julie A. Harris, Mosque to Church Conversions in the Spanish Reconquest, in: Medieval Encounters 3 (1997), S. 158–172, hier S. 165.



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des Teufels entrissene und als Habitat von Dämonen dienende Moschee solle nun zur heiligen Kirche Gottes geweiht werden.23

Santa Cruz in Toledo: eine angeeignete Moschee Die umgewandelte Hauptmoschee von Toledo ist heute gänzlich einem Neubau ge­wichen. Ein anderer Bau zeigt aber eine architektonische Umsetzung einer Umwandlung. Die kleine Kirche Santa Cruz (heute Cristo de la Luz, Abb. 4) integriert die um 1000 erbaute Moschee am Bāb al-Mardūm. 1186 wurde die Moschee zur Kirche umgewandelt und dem ausschließlichen Gebrauch durch den Ritterorden der Johanniter überschrieben.24 Die Umwandlung fand ihren architektonischen Ausdruck dadurch, dass der Moschee im Osten eine als Chor dienende Apsis angebaut wurde. Santa Cruz gilt als Bauwerk, an dem exemplarisch die Ideologie der christlichen Eroberer abgelesen werden kann. Nach Noehles-Doerk macht der Anbau der Apsis, der in den gleichen Materialien und in derselben Formensprache wie die Moschee erbaut sei, deutlich, dass die Christen einen harmonisierenden Anschluss an das Bestehende, an das islamische Erbe, anstrebten.25 Raizman bestätigt dies in Bezug auf die Fresken in der Apsis, die auf die Perspektive eines Betrachters im Langhaus, der ehemaligen Moschee, ausgerichtet sind. Der Anbau visualisiere sowohl Aneignung als auch die kreative Umsetzung der islamischen Techniken und Dekorationsweisen für neue Zwecke.26 Nach Dodds, Menocal und Balbale Krasner zeigt der Anbau das Gegenteil eines harmonisierenden Anschlusses. Die größere Apsis umfasse die Moschee mit ihrem burgähnlichen, geschlossenen Mauerwerk, als würde das neue Bauwerk das ältere langsam verschlingen. Die Moschee würde zur symbolischen Kriegsspolie, zur Trophäe, mit der die Johanniter ihre ideologische Herrschaft über den islamischen Glauben demonstrieren konnten.27 Zwischen der Moschee und dem Anbau lassen sich sowohl gemeinsame Elemente in der Formensprache als auch klare Unterschiede feststellen. Im unteren Bereich der Moschee umfassen große Rundbögen Hufeisenbögen. Die Rundbögen des Anbaus nehmen darauf Bezug. Weder die polyloben Bögen noch die Hufeisen­bögen des Anbaus gleichen denjenigen der Moschee; das Grundmotiv der überlagerten Bögen

23 José Antonio García Luján, Privilegios reales de la Catedral de Toledo (1086–1462), 2 Bde., Gra­ nada 1982, Bd. 2, S. 15–20 (Doc. 1). 24 Susana Calvo Capilla, La mezquita de Bab al-Mardum y el proceso de consagración de pequeñas mezquitas en Toledo (s. XII–XIII), in: Al-Qantara 20, 2 (1999), S. 299–330, hier S. 322. 25 Gisela Noehles-Doerk, Mudéjar-Kunst, in: Sylvaine Hänsel u. Henrik Karge (Hgg.), Spanische Kunstgeschichte. Eine Einführung, 2 Bde., Berlin 1992, Bd. 1, S. 173–189, hier S. 179. 26 David Raizman, The Church of Santa Cruz and the Beginnings of Mudéjar Architecture in Toledo, in: Gesta 38, 2 (1999), S. 128–141, hier S. 133, 138. 27 Dodds, Menocal u. Krasner Balbale (Anm. 9), S. 121.





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ist jedoch dasselbe. Diese Bezugnahme, die Zweiteilung der Fassade sowie der fortlaufende Ziegelfries und das Konsolgesims unter dem Dach zeigen ganz klar den Willen, den Anbau der Apsis in gewisser Weise der Moschee anzugleichen. Gleichzeitig wird aber eine neue Formensprache entwickelt, welche die Ornamentik des Minaretts der Kutubiya rezipiert.28 Die Hufeisenbögen umfassenden polyloben Bögen im oberen Bereich der Apsis von Santa Cruz waren am Minarett der Kutubiya-Moschee in Marrakesch vorgebildet. Die 1146/47 gegründete Moschee war eine der wichtigsten und repräsentativsten Bauten der Berberdynastie der Almohaden.29 Rezipiert wurde also auch die Architektur der Almohaden, die Ende des 12. Jahrhunderts Al-Andalus beherrschten. Noch 1195 hatten die Almohaden dem kastilischen Heer Alfonsos VIII. in der Schlacht von Alarcos eine verheerende Niederlage beigebracht, die sie wieder bis ins Umland Toledos führte.30 Dieser Bezug zu den jüngeren und weit entfernten Repräsentationsbauten der gegenwärtigen Feindesmacht spricht dafür, dass die Rezeption der almohadischen Formensprache für Kirchen zur Visualisierung christ­ licher Souveränität diente. Apsis und Vorchorjoch von Santa Cruz sind länger als die Moschee und ihr gegenüber erhöht. Die Beschreibung von Dodds, Menocal und Balbale Krasner als burg­ ähnliches, geschlossenes Mauerwerk31 widerspricht der feingliedrigen Strukturierung der Fassade. Die Apsis ist zwar grösser als die Moschee, das ‚Verschlingen‘ lässt sich aber nicht beobachten. Vielmehr ist zu konstatieren, dass auf die Formensprache der Moschee Bezug genommen wird. Auch im Inneren wirkt der Anbau, in den vier Treppenstufen führen, größer und höher. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die massive Wand, welche die Moschee vom Anbau trennt und nur von drei niedrigen Hufeisenbögen durchbrochen wird. Die ehemalige Moschee am Bāb al-Mardūm wird nicht zum Langhaus, wie das Raizman formuliert,32 sondern in der dem Heiligen Kreuz geweihten neuen Kirche zur prächtigen Vorhalle im Dienst der neuen christlichen Macht. Prägnanter und für die Bevölkerung Toledos einfacher verständlich als ein Neubau visualisierte die Annexion der Moschee die Reconquista. Der islamischen Bevölkerung Toledos wurde der Verlust ihrer Moscheen und damit ihrer Macht vor Augen geführt, der christlichen Bevölkerung die Überlegenheit des Christentums über den Islam.

28 Basilio Pavón Maldonado, El Cristo de la Luz de Toledo: dos supuestas mezquitas en una, in: Al-Qantara 21, 1 (2000), S. 155–184, hier S. 175. 29 Christian Ewert u. a., Denkmäler des Islam. Von den Anfängen bis zum 12. Jahrhundert (Hispania Antiqua), Mainz a. Rhein 1997, S. 114. 30 Bernard F. Reilly, The Medieval Spains, Cambridge 1993, S. 135. 31 Dodds, Menocal u. Krasner Balbale (Anm. 9), S. 121. 32 Raizman (Anm. 26), S. 133.



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Aneignung als konstante Rezeptionshaltung während der Reconquista Die Iberische Halbinsel war im 12. Jahrhundert hart umkämpft. Propagandistische Schriften, kämpferische Predigten und die Kreuzzugsbewegung machten den expansionistischen Krieg zum Heiligen Krieg im Namen der Christenheit. Der Kampfgeist gegen die islamischen Reiche wurde wiederholt geschürt und ein Weg dazu war die Triumphversicherung und die Herausstellung der Überlegenheit der Christenheit, wie dies polemische Schriften seit dem 9. Jahrhundert verbreiteten.33 Die christlichen Reiche im Norden Spaniens eigneten sich in diesem Prozess unterschiedliche Güter der islamischen Reiche an. Neben der Eroberung und Inbesitznahme ganzer Städte wie Toledo gelangten zahlreiche Kunstgegenstände in die Kirchenschätze und an die christlichen Höfe. Moscheen wurden umgewandelt, Wissensbestände und eben auch architektonische Motive transferiert. Diese Aneignungsprozesse dienten nicht nur der Bereicherung der Könige, sondern auch der christlichen Triumphversicherung. Alfonsos VII. Befehl an die Statthalter Toledos und an „all the inhabitants from the whole frontier“ drückt die besitzergreifende Haltung deutlich aus: „to form armies con­ tinually, to make war on the infidel Saracens every year and not to spare their cities or fortresses, but to claim them all for God and Christian law“.34 Nicht die Vernichtung des Islams oder dessen Kultur wurde verfolgt, sondern dessen Beherrschung. So war auch die Konversion der unterjochten Muslime bis ins 13. Jahrhundert kein vorrangiges Ziel.35 In demselben Geist wurde in Santiago das Motiv des polyloben Bogens und in Toledo die Moschee am Bāb al-Mardūm angeeignet und der dominierenden christlichen Sakralarchitektur untergeordnet. So vermitteln diese architektonischen Elemente, einfach ausgedrückt, ‚was euch gehörte, gehört nun uns‘. Zum Verständnis dieser einfachen Aussage reicht das Wissen um ihre Herkunft aus der islamischen Architektur. Sie wirken nicht nur als Demonstration einer erfolgten Inbesitznahme, sondern auch als Versprechen für die zukünftige Dominanz des Christentums über den Islam, die durch die Reconquista erreicht wird.

33 Tolan (Anm. 10), S. 171. 34 Chronica Adefonsi Imperatoris, in: Barton u. Fletcher (Anm. 14), S. 194 (I 72). 35 Tolan (Anm. 10), S. 171; Thomas Haas u. a., Arbeitsforum A: Wahrnehmung von Differenz – Differenz der Wahrnehmung, in: Borgolte u. a. (Anm. 8), S. 25–194, hier S. 96.





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Abb. 1: Santiago de Compo­ stela, Kathedrale, Südquerhausfassade (Roland Wieczorek, BTU Cottbus, 2008)

Abb. 2: Kairouan, Große Moschee, Mihrabfassade (Lessing, Photo Archive)



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Abb. 3: Santiago de Compostela, Kathedrale, Südquerhausgiebel (Roland Wieczorek, BTU Cottbus, 2008)

Abb. 4: Toledo, Santa Cruz (Sarah Keller, 2010) 

Hanns Peter Neuheuser (Köln)

Christliches Gottesbild und Kirchenbild aus der Jüdischen Bibel. Die Quellen der hochmittelalterlichen Kirchweihliturgie Abstract: Die hochmittelalterliche Kirchweihliturgie stellt durch ihre Weihehandlung den neu konstituierten Sakralraum nicht nur allererst für weitere gottesdienstliche Akte bereit, sie deutet vielmehr das Kirchen- und Gottesbild substanziell. Es erscheint daher in besonderem Maße aufschlussreich, dass die christliche Sakralkonzeption seit der Spätantike in auffallender Weise Bezug auf die Aussagen der Jüdischen Bibel nimmt und deren Aussagen rezipiert. Dies betrifft nicht nur memorative Hinweise, sondern auch Gebets- und Gesangstexte sowie vor allem die Zeichenhandlungen.

Nach Hugo von St. Viktor schafft der Akt der Kirchweihe die Voraussetzung dafür, dass in dem soeben konstituierten Sakralraum „alle anderen Instrumente des Heils gefeiert werden können“.1 Der Kirchenbau erscheint insoweit als äußere Bedingung für den Vollzug der Heilsmittel und Heilszeichen, aber auch selbst als „Träger sichtbarer Zeichen (figura), deren Gehalt dem Glaubenden unsichtbare Wahrheit vermittelt“.2 Das konsekrierte Bauwerk soll somit einschließlich seiner Einrichtungen nicht nur funktional die Vermittlung des Heils materiell unterstützen, sondern durch die hier eingebrachten Zeichen und Bedeutungszumessungen wirkmächtig Kunde vom Heil geben. Die Kirchweihliturgie bietet also in ihrem Bilderreichtum und den begleitenden Worten sowohl die Deutung des Instrumentariums als auch die Einordnung und Charakterisierung von kirchlichen Handlungen überhaupt; sie bereitet gleichsam im gebauten Raum eine geistig, spirituell und ästhetisch wirkende Umhüllung des aktuellen und des künftigen Geschehens – von transzendenten Erfahrungen bis hin

1 Hugo von Sankt Viktor, De Sacramentis Christiane fidei, hrsg. v. Rainer Berndt (Corpus Victorinum. Textus historici 1), Münster 2008, S. 369 (2, 5, 1): in qua cetera omnia sacramenta celebrantur. Zur Bedeutung der Kirchweihliturgie bei Hugo vgl. Hanns Peter Neuheuser, Ritus und Theologie der Kirchweihe bei Hugo von St. Viktor, in: Ralf M. W. Stammberger u. Claudia Sticher (Hgg.), Das Haus Gottes, das seid ihr selbst. Mittelalterliches und barockes Kirchenverständnis im Spiegel der Kirch­ weihe, Berlin 2006, S. 251–292. – Der folgende Text beruht auf dem zweiten Teil meines Referates beim 15. Symposium des Mediävistenverbands 2013 in Heidelberg. Das Manuskript wurde 2013 abgeschlossen. 2 Hugo von Sankt Viktor (Anm. 1), S. 369.

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zum äußerlich sichtbaren Wirken der Kirche.3 Der Kirchweihakt erweist sich insofern als theologisch eminent wichtige Realisierung der Sakralkonzeption und Entfaltung des ekklesialen Selbstverständnisses, sodass den Zeichen und Worten große Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Es ist dabei evident, dass die vorgenannte christliche Sakralkonzeption und die Kirchweihliturgie in einem erheblichen Maße von Wort und Geist der Jüdischen Bibel geprägt sind.4 Im Folgenden sollen zunächst jene Anknüpfungspunkte in den Blick genommen werden, welche die Entwicklung einer christlichen Sakralkonzeption förderten (1.). Sodann ist exemplarisch der Kirchweihritus mit seinen einzelnen liturgischen Elementen in Bezug auf Texte aus der Jüdischen Bibel zu betrachten (2.). Hieraus soll dann deutlich werden, welcher Art jene „sichtbaren Zeichen“ sind, die den Sakralbau prägen und welche Bedeutungen der spirituellen und materiellen Liturgiegestalt im hohen Mittelalter zugrunde liegen und durch die Texte der Jüdischen Bibel vermittelt werden sollten. Schließlich wird zusammenfassend der Ertrag der Studie für die Rekonstruktion des Gottes- und Kirchenbildes im hohen Mittelalter formuliert (3.).

1 Anknüpfungspunkte der christlichen Sakralkonzeption in der Jüdischen Bibel Zu den prägnantesten literarischen Zeugnissen überhaupt gehören die Schilderungen von der je aktuellen und punktuellen Gegenwart Gottes vor den Menschen sowie dem Bedürfnis der Menschen, Orte der Erinnerung an die Gottesbegegnung zu schaffen. Mit dem Ausbau einer dauerhaften Memorialstätte glaubt vor allem der nomadische Mensch eben dieses Ereignis perpetuieren zu können. Jene Absicht fällt zudem durchaus mit dem Heilsplan des biblischen Gottes und dessen Selbstentäußerung als der Schlechthin-Seiende gegenüber Mose am Horeb (Ex 3,1–15) zusammen. Gott bekundet nicht nur seine Existenz, sondern sein lokal zu verstehendes ‚Da‘-Sein für die Menschen (Ex 3,14). Ubiquität und lokale Manifestation der göttlichen Präsenz werden

3 Zur Einordnung und zu den Bestandteilen des Kirchweihritus vgl. Hanns Peter Neuheuser, Mundum consecrare. Die Kirchweihliturgie als Spiegel der mittelalterlichen Raumwahrnehmung und Weltaneignung, in: Elisabeth Vavra (Hg.), Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter, Berlin 2005, S. 259–280, hier S. 271; Torsten-Christian Forneck, Die Feier der Dedicatio ecclesiae im Römischen Ritus, Aachen 1999; Peter Wünsche, Quomodo ecclesia debeat dedi­cari. Zur Feiergestalt der westlichen Kirchweihliturgie vom Frühmittelalter bis zum nachtridentinischen Pontifikale von 1596, in: Stammberger u. Sticher (Anm. 1), S. 113–141; Miriam Czock, Gottes Haus. Untersuchungen zur Kirche als heiligem Raum, Berlin 2012. Zur Forschungsliteratur vgl. Didier Méhu (Hg.), Mises en scène et mémoires de la consécration de l’église dans l’occident médiéval, Turnhout 2007, S. 365–380. 4 Der Verfasser bereitet zur Grundlegung der christlichen Sakralkonzeption in der Jüdischen Bibel eine ausführliche Studie vor.





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miteinander versöhnt. Durch die Gegenwart Gottes wird der Ort geheiligt: „der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“ (Ex 3,5; vgl. auch Jos 5,15). Dies bedeutet die Legitimierung zur Errichtung von Sakralbezirken in allen Zeiten, angefangen von den Altären respektive Steinmalen Noahs (Gn 8,20), Abrahams (Gn 12,7–8), Jakobs (Gn 28,16–19), Moses (Ex 17,15; 24,4), Samuels (1 Sam 7,17) sowie Josuas (Jos 4,20; 8,30–31; 24,26). Erschrocken stellte etwa Jakob fest: „Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels“, nahm einen Stein als Mazzebe (Masseba) und goss Öl darüber. Dann gab Jakob dem Ort den Namen Bet-El, das heißt Haus Gottes (Gn 28,17–19). Vom Altar des Elija heißt es: „Elija zog rings um den Altar einen Graben und grenzte eine Fläche ab“ (1 Kön 18,32). Die Altäre und Mazzebot5 der Patriarchen und die an ihnen vollzogenen Handlungen lehren uns das biblische Verständnis vom gleichermaßen räumlichen wie nicht-räumlichen Umgang mit dem Heiligen6 und das Entstehen einer – nach Graesser – gleichermaßen rechtlichen, kommemorativen und kultischen Infrastruktur, letztere „to mark the sacred area where the deity might be found […], where worship and sacrifice will reach the deity“.7 Der umherziehende Abram erinnert sich später des Ortes, „wo er früher den Altar erbaut hatte. Dort rief Abram den Namen des Herrn an“ (Gn 13,3–4). Eine religionsgeschichtlich aufschlussreiche Weiterentwicklung führte von der Vielzahl im Land verstreuter Altäre zu einem zentralen, wenngleich ‚umherziehenden‘ Kult (vgl. 2 Sam 7,6; 1 Chr 17,5), entsprechend der göttlichen Ansprache: „Macht mir ein Heiligtum! Dann werde ich in ihrer Mitte wohnen“ (Ex 25,8). Sowohl das Wüstenzelt des Mose als auch der von dem zwischen 967 respektive 964 bis 922 vor Christus regierenden König Salomo errichtete Tempel in Jerusalem gelten fortan als Inbegriffe des jüdischen Sakralkomplexes, und die Sakraltopografie reicht gemäß der freilich viel jüngeren Mischna in Dignitätsstufen von Eretz Israel über die heilige Stadt bis zum letzten Tempelgerät.8 Die Konstituierung des Heiligtums und seiner Sakralität besteht gemäß den Zeugnissen der Jüdischen Bibel aus einem komplexen Geschehen und setzt Aktivitäten in Bezug auf bauliche Arbeiten und auf die Realisation der Einrichtung voraus, mehr

5 Vgl. Carl F. Graesser, Standing stones in ancient Palestine, in: Biblical Archeologist 35 (1972), S. 34–63; Albert de Pury, Promesse divine et légende culturelle dans le cycle de Jacob. Genèse 28 et les traditions patriarcales, Bd. 2, Paris 1975, S. 409–422. 6 Vgl. Manfred Görg, Der Altar. Theologische Dimensionen im Alten Testament, in: Josef Schreiner (Hg.), Freude am Gottesdienst. Aspekte ursprünglicher Liturgie, Stuttgart 1983, S. 291–306; Wolfgang Zwickel, Der Altarbau Abrahams zwischen Bethel und Ai, in: Biblische Zeitschrift N. F. 36 (1992), S. 207–219 (zur angeblichen Gründung von ‚Heiligtümern‘ in der Frühzeit vgl. ebd., S. 208f.); ders., Der Tempelkult in Kanaan und Israel. Studien zur Kultgeschichte Palästinas von der Mittelbronzezeit bis zum Untergang Judas, Tübingen 1994, bes. S. 281, Anm. 239 (zu Bet-El). 7 Graesser (Anm. 5), S. 37, 44–48. 8 Vgl. die (zehn) Sakralitätsgrade nach der Mischna VI 1: Kelim 1,6–9, bearb. v. Wolfgang Bunte, Berlin u. a. 1972, S. 77–87.



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noch aber hinsichtlich des Konsekrationsakts, der zugleich eine funktionale, sakra­ lisierende und deutende Funktion erfüllt. Die Bibel schildert die Vorgänge bis ins kleinste Ritual: vor allem die Salbung (Ex 29,36–37; 30,29; 40,10; Lev 8,11), aber auch etwa den Lustrationsakt, das Rauchopfer (Ex 29,13; 30,7–9; 30,34–38; Lev 8,16; 8,21; 8,28; 9,10), das Tieropfer; auch die Ausstattung, das Gefäß- und Geräteensemble des Tempels, erhält eine Weihe (vgl. u. a. Lev 8,10–11; Ex 30,26–29; 40,9–11). Das Gebet, das König Salomo während des Sukkot-Festes bei der Weihe des Jerusalemer Tempels sprach (1 Kön 8,2),9 stellt diesen Sakralakt, aber mehr noch das Tempelgebäude und die jüdische Sakralkonzeption in den Kontext des von der Jüdischen Bibel vermittelten Gottesbildes (1 Kön 8,23–53; 2 Chr 6,14–40). Wesentlich ist die Bitte, dass Gott in diesem Tempel wohnen und die dort vorgetragenen Bitten erhören möge. Der Beginn des Tempelkultes wird mit dem Erscheinen der Herrlichkeit des Herrn (Schekina) im Tempel (2 Chr 7,1) bestätigt.10 Gott konfirmiert die Erwählung, die Heiligung und Weihe des Ortes (2 Chr 7,12; 7,16; 7,20; vgl. 1 Kön 9,3; 9,7), erneuert seine Heilszusage und sichert die Erhörung der im Tempel gesprochenen Bitten zu. Aus der bereits im oben erwähnten Weihegebet Salomos zum Ausdruck gebrachten Skepsis über die Eignung eines irdischen Tempelbaus als Wohnstätte des universal wirkenden Gottes (1 Kön 8,27; 2 Chr 6,18) hat sich mit dem Erscheinen Jesu in neutestamentlicher Zeit die Spiritualisierung der Sakralkonzeption entwickelt. Aus dem Wirken des historischen Jesus lassen sich folgende Merkmale einer Umdeutung der Sakralkonzeption gewinnen: 1. Jesus bezieht eine kritische Position zum Jerusalemer Tempel, vollzieht die spektakuläre Tempelaktion (Mt 21,12–17; Mk 11,15–19; Lk 19,45–48; Joh 2,13–16)11 und äußert die Prophetie von der bevorstehenden Zerstörung des Tempels (Mt 24,2; Mk 13,2).12

9 Vgl. Arnold Gamper, Die heilsgeschichtliche Bedeutung des salomonischen Tempelweihegebets, in: Zeitschrift für katholische Theologie 85 (1963), S. 55–61; Eep Talstra, Het gebed van Salomo. Synchronie en diachronie in de kompositie van I Kon. 8,14–61, Amsterdam 1988; Gary N. Knoppers, Prayer and Propaganda. Solomon’s dedication of the temple and the Deuteronomist’s program, in: ders. (Hg.), Reconsidering Israel and Judah. Recent studies on the Deuteronomistic history (Sources for Biblical and Theological study 8), Winona Lake 2000, S. 370–396. 10 Vgl. Arnold Maria Goldberg, Untersuchungen über die Vorstellung von der Schekinah in der frühen rabbinischen Literatur, Berlin 1969, S. 26–82, 471–480. 11 Vgl. Jostein Ådna, Jerusalemer Tempel und Tempelmarkt im 1. Jahrhundert n. Chr., Wiesbaden 1999, bes. S. 91–139 (zum Marktbetrieb); ders., Jesu Stellung zum Tempel. Die Tempelaktion und das Tempelwort als Ausdruck seiner messianischen Sendung, Tübingen 2000, bes. S. 157–430; Timothy C. Gray, The temple in the gospel of Mark, Tübingen 2008; Solomon Hon-fai Wong, The temple incident in Mark 11,15–19, Frankfurt a. M. 2009. 12 Vgl. Kurt Paesler, Das Tempelwort Jesu. Die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament, Göttingen 1999; vgl. auch Lars Hartman, Prophecy interpreted. The formation of some Jewish apocalyptic texts and of eschatological discourse Mark 13, Lund 1966, S. 219– 226, 240f. (zum prophetischen Kontext); Jacques Dupont, La ruine du temple et la fin des temps dans





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2. Jesus beteiligt sich aktiv am nichtkultischen, aber gleichwohl liturgischen Syna­ gogengottesdienst, sein Vortrag aus der Haftara (Lk 4,16–30) bildet mitsamt seiner zitathaften Kennzeichnung des Tempels als Bethaus (Mt 21,13; Mk 11,17; Lk 19,46; entsprechend Jes 56,7) eine Umschreibung seines Heilsauftrages. 3. Die Bewunderung des steinernen Gebäudes erscheint inhaltsleer (Mt 24,1–2; Mk  13,1–2; Lk 21,5–6), das Schwören auf den materiellen Tempel allein wird wertlos (Mt 23,16–22). Zu Jesu Zeit war nach seinen Worten die Stunde gekommen, da es nicht mehr auf den topographischen Ort des Betens ankam (Berg Garizim oder Jerusalem), sondern auf Akt und Habitus des Betens selbst (Joh 4,20–24). Freilich ist damit keiner Kultfeindlichkeit das Wort geredet.13 4. Jesu Redeweise vom „Tempel seines Leibes“ (Joh 2,21) deutet in ihrer Metaphorik das Opfer Jesu und damit eine neue kultische Grundlegung an.14 5. Jesus ersetzt das in der Tempellade aufbewahrte Manna durch sein Opfer als „Brot des Lebens“ (Joh 6,35; 6,41; 6,48; 6,51); durch seinen Tod am Pessach-Fest der Juden wird Jesus selbst zum geschlachteten Osterlamm (1 Kor 5,7; vgl. 1 Petr 1,19). 6. Das Zerreißen des Tempelvorhangs beim Tode Jesu (Mt 27,51; Mk 15,38; Lk 23,45) wurde von den Christen als äußeres Zeichen für das Ende des jüdischen Tempelkultes angesehen. 7. Die neutestamentliche Theologie hat durch die Spiritualisierung des Tempelbegriffs den letzteren auf das Corpus der Gemeinde übertragen: von der Absage Stefans an den vom Menschen geschaffenen Tempel (Apg 7,48; 17,24)15 bis hin zur Charakterisierung der Gemeinde als „lebendige Steine“ eines „geistigen Hauses“ (1 Petr 2,5) und als „Tempel Gottes“ selbst im Rahmen der paulinischen Theologie (1 Kor 3,16–17; 6,19).16 8. Das neue Corpus der christlichen Gemeinde konstituiert auch die Liturgie neu – und damit die Einstellung zu den liturgischen Orten: Die Gemeinde besucht den Tempel zum Gebet und bricht „in ihren Häusern“ das Brot (Apg 2,46, vgl.

le discours de Marc 13, in: Louis Monloubou (Hg.), Apocalypses et théologie de l’espérance, Paris 1977, S. 207–269. 13 Vgl. Paul Corby Finney, Topos hieros und christlicher Sakralbau in vorkonstantinischer Überlieferung, in: Boreas. Münstersche Beiträge zur Archäologie 7 (1984), S. 193–225, bes. S. 198–200. 14 Vgl. Franz Mussner, Jesus und das Haus des Vaters – Jesus als Tempel, in: Schreiner (Anm. 6), S. 291–306, hier S. 267–275; Bruce Chilton, The temple of Jesus. His sacrificial program within a cultural history of sacrifice, University Park 1992, bes. S. 91–159. 15 Vgl. Marcel Simon, Saint Stephen and the Jerusalem temple, in: The Journal of ecclesiastical ­history 2 (1951), S. 127–142. 16 Vgl. Christfried Böttrich, Ihr seid der Tempel Gottes. Tempelmetaphorik und Gemeinde bei Paulus, in: Beate Ego, Armin Lange u. Peter Pilhofer (Hgg.), Gemeinde ohne Tempel. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum, Tübingen 1999, S. 411–425.



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Apg 2,42). Erst durch dieses Wirken entsteht der dichotome Kirchenbegriff, der Gemeinde und Bau zugleich bezeichnet.  9. Der Hebräerbrief, welcher die Jüdische Bibel als Wort Gottes und des Heiligen Geistes achtet (Hebr 1,1; 1,3; 1,7; 9,8; 10,15), entfaltet die Prädikatisierung Christi als den Neuen Hohenpriester und schafft die Grundlage für einen neuen Sakralitätsbegriff ohne zentrales Tempelgebäude und jüdische Sakralkonzeption. 10. Auch die Offenbarung des Johannes, deren Jerusalembild keinen Tempel mehr kennt (Offb 21,22; vgl. Jer 31,38–40), wird von der heutigen Forschung mit Nachdruck als Relecture des Buches Ezechiel gedeutet.17 Die hochmittelalterliche Liturgiehermeneutik christlicher Provenienz hat zu keinem Zeitpunkt die spirituelle und kulturelle Leistung der Jüdischen Bibel im Blick auf die Sakralkonzeption vergessen. Doch auch in den Details, etwa im Bereich der Sakralgewandung, pflegte die Liturgik den Rückblick auf Gewandformen und Gewandfarben des jüdischen Kontextes, der vom neuen Regelwerk geschieden wurde.18 Auch im Hinblick auf die materielle Sakralausstattung hatten sich die Formen der Gebäude und Gebäudeausstattungen seit der Spätantike längst zu einem eigenen Kanon formiert, der die jüdischen Vorbilder assimiliert hatte, ohne dass dies den Zeitgenossen noch bewusst war.

2 Der Kirchweihakt und seine auf der Jüdischen Bibel beruhenden Textelemente Im Akt der Konsekration eines neuen christlichen Sakralraumes19 wird in hohem Maße an Bauten und Gegenstände, aber auch an den utilitaristischen und kultischen Umgang mit dem Kosmos jüdischer Kultformen erinnert und dabei der alten Konnotation gedacht. Dies erfolgt durchgängig ehrfürchtig, wenngleich im Geiste des Neuen Testamentes. Scheinbar unabhängig von theologischen Reflexionen zeichnet der Kirchweihritus die ‚neutralen‘ Bestandteile des konsensualen ‚Architektur­typus

17 Vgl. Beate Kowalski, Die Rezeption des Propheten Ezechiel in der Offenbarung des Johannes, Stuttgart 2004, bes. S. 345–357; Michael Bachmann, Ausmessung von Tempel und Stadt. Apk 11,1f. und 21,15ff. auf dem Hintergrund des Buches Ezechiel, in: Dieter Sänger (Hg.), Das Ezechielbuch in der Johannesoffenbarung, Neukirchen-Vluyn 2006, S. 61–83. 18 Vgl. Hanns Peter Neuheuser, Auf dem Weg zum liturgischen Farbenkanon. Die Farbenbedeutungen im liturgischen Zeichensystem des Mittelalters, in: Andrea Schindler u. Ingrid Bennewitz (Hgg.), Farbe im Mittelalter. Materialität, Medialität, Semantik, Bd. 2, Berlin 2011, S. 727–748. 19 Vgl. Forneck (Anm. 3); Hanno Schmitt, Mache dieses Haus zu einem Haus der Gnade und des Heiles. Der Kirchweihritus in Geschichte und Gegenwart als Spiegel des jeweiligen Kirchen- und ­Liturgieverständnisses im 2. Jahrtausend, Paderborn u. a. 2004; Neuheuser (Anm. 3); Wünsche (Anm. 3), S. 114–141; Méhu (Anm. 3), mit umfassendem Literaturverzeichnis.





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des Sakralbaus‘ – das ‚Bild‘ der Kirche – nach: Zielort, Fassade, Umfassungsmauern, Verhältnis von Außen und Innen, Binnenparzellierung, Achse, Symmetrie und Diagonale, schließlich das Zentrum. Es ist daher höchst aufschlussreich zu sehen, wie gerade die beim Kirchweihakt verwendeten Gesangs- und Gebetstexte ihre Quellen zu einem erheblichen, ja auffälligen Anteil der Jüdischen Bibel entnehmen, obwohl gerade im Hinblick auf das zentrale eucharistische Geschehen eine Verbindung zur jüdischen Ritualität fehlt.20 Von hier aus leitet sich auch die theologische Einschätzung des wiederum zentralen Gegenstandes, des eucharistischen Altars, in distinkter Weise ab; lediglich im Bereich des Ambo für die Wortliturgie21 wäre ge­gebenenfalls eine formale Anknüpfung an den Almemor der Synagoge denkbar – doch gerade zu diesem Instrumentarium schweigen die Quellen des Kirchweihritus. Im Zeitalter der Kodifizierung liturgischer Bücher sind auch die bis dahin vereinzelten Quellen zur Kirchweihliturgie zu jenem Corpus zusammengefasst worden, das entsprechend der vom Bischof geleiteten Handlung als Pontifikale bezeichnet wurde. Zeitlich zuerst tritt in der Mitte des 10. Jahrhunderts das wahrscheinlich in der Mainzer Abtei St. Alban geschaffene, höchst einflussreiche ‚Pontificale Romano Germanicum‘ (im Folgenden: PRG) auf. Es handelt sich hierbei um einen von Cyrille Vogel und Reinhard Elze rekonstruierten Pontifikaltyp,22 dessen Textbestand aus mehreren Ritenkomplexen besteht, welche wiederum in teilweise abweichenden Handschriftenüberlieferungen dokumentiert sind. Nachstehend sollen jeweils zunächst die liturgischen Elemente des kürzeren und textgeschichtlich älteren ‚Ordo romanus ad dedicandam ecclesiam‘ (PRG 33) und des ‚Ordo ad benedicendam ecclesiam‘ (PRG 40) Betrachtung finden23 und hierbei die Heranziehung von Texten aus der Jüdischen Bibel benannt werden. Hinsichtlich der Textsorten kann – wie gewöhnlich – auch bei der Kirchweihliturgie unterschieden werden zwischen den feierlichen Vorstehergebeten, den die Zeichenhandlung begleitenden Gebeten und den Gesangstexten.

20 Gerard Rouwhorst, The roots of the early Christian eucharist. Jewish blessings or Hellenistic symposia, in: Albert Gerhards u. Clemens Leonhard (Hgg.), Jewish and christian liturgy. New insights into its history and interaction, Leiden u. a. 2007, S. 295–308. 21 Zum bislang frühesten literarischen Nachweis in einer syrischen Kirchenordnung aus der 2. H. des 4. Jhs. vgl. Reinhard Messner, Die „Lehre der Apostel“ – eine syrische Kirchenordnung, in: Konrad Breitsching u. Wilhelm Rees (Hgg.), Recht – Bürge der Freiheit, Berlin 2006, S. 305–335, hier S. 320. 22 Vgl. Le Pontifical Romano-Germanique du dixième siècle, 3 Bde., hrsg. v. Cyrille Vogel u. Reinhard Elze, Città del Vaticano 1963–1972 [im Folgenden: PRG]. Bei der Zitation bezeichnet die erste Ziffer die Nummer des Ritenelements und die zweite Ziffer die Seitenzahl. 23 Zum Verhältnis der beiden Ordines vgl. besonders Karl Josef Benz, Untersuchungen zur politischen Bedeutung der Kirchweihe unter Teilnahme der deutschen Herrscher im hohen Mittelalter, Kallmünz 1975, S. 12–20.



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2.1 Die Texte der Gebete Innerhalb des Ritus zur Herstellung des Gregorianischen Wassers aus Wasser, Salz, Asche und Wein nimmt das Vorstehergebet des PRG 33 zum Exorzismus des Salzes ausdrücklich Bezug auf Elischa und Paulus: Exorcizo te, creatura salis […], qui te per Heliseum prophetam in aquam mitti iussit, ut sanaretur sterilitas aquae, qui per apostolum Paulum dicere dignatus est: Sit cor vestrum sale conditum.24 Das Salz wird somit sowohl gemäß 2 Kön 2,19–22 in seiner realen Gestalt als natürliches und reinigendes Element als auch gemäß Kol 4,6 in seiner metaphorischen Bedeutung erfasst. Die Verwendung der Asche als Reinigungsmittel ist in der Jüdischen Bibel bereits in Num 19 ausführlich geschildert worden. In unserem Zusammenhang ist unter den folgenden, eigentlichen Konsekra­ tionsgebeten in PRG 33 vor allem das Segensgebet Singulare und die Präfation Deus, qui post offendicula zu erwähnen,25 die theologisch weit ausholen, von dem Sündenfall der ersten Menschen bis zu den Patriarchenaltären. Insbesondere das in PRG 40 überlieferte Gebet Deus sanctificationum erinnert seit seiner Aufnahme in das altgelasianische Textcorpus26 an die Bitte Salomos im Tempelweihegebet, ut sint oculi tui aperti super domum istam die ac nocte (PRG 40, 47/142; nach 1 Kön 8,9) und die Gebete derjenigen, die auf dem Weg vor Gottes Angesicht wandeln, ambulanti ante conspectum gloriae tuae, zu erhören (1 Kön 8,25; vgl. 1 Kön 6,12; Ps EÜ 11,7). Salomos Gebet hatte nicht nur innerhalb der Tempelweihe eine Funktion, sondern wurde – wie oben schon erwähnt – im Kontext des jüdischen Festkreises an Sukkot memoriert,27 zumal an Sukkot die historische Weihe stattfand (1 Kön 8,2). Der Rekurs ist wichtig, da das Gebet bereits zwischen dem Tempel als Gebetsstätte und dem Himmel als Wohnort Gottes unterscheidet. Mit dem Text der Präfation Et ut propensiori greift PRG 40 diese Tradition auf und erinnert an die Grundlegung des Weiheaktes in den Vorbildern der Jüdischen Bibel.28 Die Präfation evoziert zum Beispiel das Bild vom Altar, auf welchem Abraham seinen Sohn Isaak zu opfern sich anschickte (Gn 22,9), ferner die Altäre des Isaak (Gn 26,25) und des Jakob (Gn 28,18); in diese Tradition wird nunmehr ausdrücklich der neue christliche Altar gestellt. Einen ähnlichen Befund konstatieren wir, wenn wir die Gebete zur Segnung des Altargerätes betrachten: PRG 40 greift hier in vielen Fällen auf die Protagonisten der Jüdischen Bibel zurück, etwa bei den

24 Vgl. PRG 33, 12/84. 25 Vgl. PRG 33, 31/86, 34/87. 26 Vgl. Liber sacramentorum Romanae aecclesiae ordinis anni circuli, hrsg. v. Leo Cunibert Mohlberg, Rom 1960, hier S. 108, Nr. 690. 27 Vgl. Talmud-Traktat Megilla 4,5 (31a), in: Der Babylonische Talmud, Bd. 3, hrsg. v. Lazarus Goldschmidt, Den Haag 1933, hier S. 666. 28 Vgl. PRG 40, 61/146.





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Altarsteinen,29 bei den Tüchern und instrumenta,30 ferner bei den abweichenden Paramenten31 sowie beim eucharistischen Kelch (PRG 40, 95/157). Das erste Segensgebet über den Weihrauch (PRG 40, 108/162) wird sogar mit der Anrede Deus Abraham, Deus Isaac et Deus Iacob eingeleitet (wörtliches Zitat aus Ex 3,16).

2.2 Die Texte der Gesänge Fast alle ‚stillen‘, das heißt nicht mit Begleitgebeten kombinierten Zeichenhandlungen des Kirchweihritus werden mit Gesängen verbunden; sie sind wegen ihrer Fülle und Deutungsmacht von der Forschung als eigenes Corpus erkannt worden32 und spiegeln die intendierte Bildhaltigkeit und Bildhaftigkeit der Vollzüge. Insoweit ist es aufschlussreich zu sehen, dass diese die jeweiligen Ritenelemente zugleich interpretierenden Gesangstexte – hier zitiert nach den Initien des PRG – fast ausschließlich der Jüdischen Bibel entnommen sind und in der Form von isolierten Bibelzitaten oder ganzen Psalmen in den mittelalterlichen Ritenhandschriften erscheinen. Das Christentum hat jedoch lediglich die Texte der Psalmen übernommen,33 eine Verbindung zur jüdischen Musiktradition konnte bislang nicht nachgewiesen werden.34 In der nachfolgenden Auflistung erscheinen exemplarisch die Ritenelemente des PGR 40 nach Vogel und Elze, der in den Ordo-Handschriften stets nur als Initium gebotene Gesangstext, die Bibelstelle und der Nachweis der mittelalterlichen Quelle nach dem ‚Corpus antiphonalium officii‘ sowie nach dem ‚Antiphonale missarum sextuplex‘ jeweils nach René-Jean Hesbert.35 Die traditionell im Initium abgekürzte Bibelstelle sowie die in der liturgischen Praxis erforderliche sprachliche Adaption des Bibeltextes führen gelegentlich zu Unsicherheiten bei der Identifikation.

29 Vgl. PRG 40, 67/148, 121/167. 30 Vgl. PRG 40, 74/150, 77/151–152, 106/161, 108/162, 110/162. 31  Vgl. PRG 40, 79/152, 82/154. 32  Vgl. Thomas Davies Kozachek, The repertory of chant for dedicating churches in the middle ages, Cambridge Mass. 1995; vgl. auch die geografisch eingeschränkte Studie von Carmen Rodríguez Suso, Les chants pour la dédicace des églises dans les anciennes liturgies de la septimanie, in: ChristianJacques Demollière (Hg.), L’art du chantre carolingien, Metz 2004, S. 91–101. 33  Zu der von der herrschenden Meinung differenziert angenommenen Herleitung der christlichen Psalmenverwendung aus dem Judentum vgl. Peter Fiedler, Zur Herkunft des gottesdienstlichen Gebrauchs von Psalmen aus dem Frühjudentum, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 30 (1988), S. 229– 237; vgl. auch André Rose, Les psaumes – voix du Christ et de l’église, Paris 1981. 34  Vgl. vor allem Regina Randhofer, Psalmen in einstimmigen vokalen Überlieferungen. Eine vergleichende Untersuchung jüdischer und christlicher Traditionen, Bd. 1, Frankfurt u. a. 1995, v. a. S. 267–269. 35  Vgl. Corpus antiphonalium officii, hrsg. v. René-Jean Hesbert, Rom 1963–1979 [im Folgenden CAO]; Antiphonale missarum sextuplex, hrsg. v. René-Jean Hesbert, Rom 1935 [im Folgenden AMS].



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– Zum Türdialog: Attollite portas mit Psalm Domini est terra (Ps EÜ 24,7.10);36 In circuitu tuo, Domine, lumen est mit Versus Magnus Dominus (vgl. Ps EÜ 56,13b, Ps  EÜ  48,2);37 Fundata est domus Domini mit Versus Benedic Domine domum istam (Jes 2,2 und 2 Sam 7,29)38 – zum Alphabetritus: O quam metuendum est locus iste mit Versus Benedictus Dominus, Deus Israel (Gen 28,17)39 – zur Aspersion des Altares: Asperges me mit Psalm Miserere mei Deus (Ps EÜ 51,9)40 – zur Aspersion der Wände: Asperges me mit Psalm Miserere (Ps EÜ 51,9);41 Exsurgat Deus et dissipentur inimici mit Psalm (Ps EÜ 68,2);42 Tu Domine universorum mit Versus Tu, Domine, cui humilium (2 Makk 14,35–36 und Jdt 9,17);43 Qui habitat in adiutorio altissimi mit Psalm Haec est domus Domini (Ps EÜ 91, 1)44 – zum Inzens des Innenraums und des Fußbodens: Domus mea mit Versus Narrabo nomen tuum (Ps EÜ 22,23)45 – zum Hinzutritt zum Altar: Introibo ad altare mit Psalm Iudica me Deus (Ps EÜ 43,4)46 – zur dreifachen Altarsalbung: Erexit Iacob lapidem in titulum fundens oleum desuper mit Psalm Quam dilecta (Gn 28,18 und Ps EÜ 84,2);47 Mane surgens Iacob erigebat lapidem mit Psalm Fundamenta (Gn 28, 18 und Ps EÜ 87);48 Aedificavit Moyses altare mit Psalm Deus noster refugium (Ex 17,15 und Ps EÜ 46,2);49 Unxit te Dominus oleo mit Psalm Eructavit (Ps EÜ 45,8)50 – zur Salbung der Apostelkreuze: Sanctificavit Dominus tabernaculum suum, haec est domus Dei (PsG 46,5)51 – zum Altarinzens: Ecce odor filii mei mit Psalm Fundamenta (Gn 27,27 und PsG 87,1)52

36 Vgl. CAO 5159; vgl. ebd., 6517; PRG 40, 11–20/131–133. 37   Vgl. CAO 3208; vgl. ebd., 3680, 689; PRG 40, 11–20/131–133. 38 Vgl. CAO 6756; vgl. ebd., 1683; PRG 40, 11–20/131–133. 39 Vgl. CAO 4065; vgl. AMS 182; PRG 40, 26/136. 40 Vgl. CAO 1494; vgl. ebd., 3773; PRG 40, 43/141. 41 Vgl. CAO 1494; vgl. ebd., 3773; PRG 40, 44/141. 42 Vgl. AMS 183; PRG 40, 44/141. 43 Vgl. CAO 5199, 5200; vgl. ebd., 6488; PRG 40, 44/141. 44  Vgl. CAO 4474; vgl. ebd., 2998; PRG 40, 44/141. 45 Vgl. CAO 2428, 7194; PRG 40, 45/141. 46 Vgl. CAO 3388; vgl. ebd., 3516; PRG 40, 49/143. 47 Vgl. CAO 2665; vgl. ebd., 7458; PRG 40, 52/144, 54/144, 55/144. 48  Vgl. CAO 3691; vgl. ebd., 2911, 2912; PRG 40, 52/144, 54/144, 55/144. 49 Vgl. CAO 1299. PRG 40, 52/144, 54/144, 55/144. 50 Vgl. CAO 6450; vgl. auch AMS 3, 101, 169bis, 2673; PRG 40, 52/144, 54/144, 55/144. 51  Vgl. CAO 4748; PRG 40, 57/145. 52   Vgl. CAO 2533; vgl. ebd., 2911; PRG 40, 58/145.





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– zum Abschluss der Präfation: Confirma hoc Deus quod operatus es (Ps EÜ 68,29– 30)53 – zur Entgegennahme der Reliquien: Benedicta gloria Domini de loco suo (Ez 3,12)54 – zur Altarsetzung der Reliquien: Exsultabunt sancti in gloria mit Psalm Cantate Domino canticum novum (PsG 149,5)55 – zum Verschluss und zur Salbung des Sepulkrums: Corpora sanctorum in pace sepulta sunt (Sir 44,14)56 – zur Bekleidung des Altars: Benedictus es, Deus mit Vers Mirabilis Deus in sanctis suis (PsG 67,36)57 – zum Schlussinzens: Omnis terra adoret te, Deus (Ps EÜ 66, 4)58 Diesen ausschließlich auf der Jüdischen Bibel beruhenden Antiphonen und Psalmgesängen stehen innerhalb der Kirchweihliturgie nach PRG 40 nur drei Texte gegenüber, die dem Neuen Testament entlehnt sind: – Similabo eum viro sapienti qui aedificat domum suam supra petram (Mt 7,24)59 – Lapides pretiosi omnes muri tui mit Psalm Lauda Ierusalem Dominum (vgl. Offb 21,19; Ps EÜ 147,12)60 – Sub altare Domini sedes accepistis mit Psalm Exsultabunt sancti (vgl. Offb 6,9; PsG 149,5)61 Gerade zur Reliquieneinholung bediente man sich eher freier Texte,62 deren Praxis aber – wie Codex 339 der St. Galler Stiftsbibliothek zeigt63 – durchaus eine vor das Jahr 1000 zurückgreifende Tradition aufweist. Die den Ritus abschließende Messliturgie knüpft nach PRG 40 mit ihrer Introitusantiphon Terribilis est locus iste, non est hic aliud nisi domus Dei et porta coeli (Gn 28,17) an die Jakobsgeschichte der Jüdischen Bibel an, abgeschlossen mit dem Psalmvers Quam dilecta tabernacula tua (Ps EÜ 84,2), sodass im Kontrast das neue Sakralgebäude als gleichermaßen furchterregend und liebenswert geschildert wird (PRG 40, 148/173). Im Hinblick auf die Quellenbezüge der Texte nimmt das Mess­

53 Vgl. CAO 1873; PRG 40, 64/147. 54  Vgl. CAO 1706; PRG 40, 132/170. 55 Vgl. CAO 2812; vgl. auch ebd., 1762; PRG 40, 133/170. 56  Vgl. CAO 1935; PRG 40, 142/171–172. 57 Vgl. CAO 7157; PRG 40, 143/172. 58  Vgl. CAO 4155; PRG 40, 144/172. 59  Vgl. CAO 4952; PRG 40, 44/141. 60 Vgl. CAO 3578; vgl. ebd., 3582; PRG 40, 57/145. 61 Vgl. CAO 7713, 2812; PRG 40, 137/171. 62 Vgl. CAO 1367, 4299, 2084, 3284. 63 Sankt Gallen, Stiftsbibliothek, Codex 339, S. 170f.; vgl. Anton von Euw, Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jhs., Bd. 1, St. Gallen 2008, S. 496–499, Nr. 142.



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 Hanns Peter Neuheuser

formular allerdings an der geläufigen Tradition der Proprien teil und ist formal nicht spezifisch von der Kirchweihliturgie inspiriert.64 Im Grunde liefert die Introitusantiphon mit ihrem dichotomen Gottes- und Kirchenbild die Gesamtdeutung der Kirchweihliturgie aus der Jüdischen Bibel: das tremendum und das fascinosum. Ein modifizierter, in der Tendenz jedoch ähnlicher Befund erweist sich in den jüngeren Traditionen der Kirchweihliturgie, wie sie in den anderen Pontifikaltypen der nachfolgenden Zeit, also des hohen und späten Mittelalters überliefert sind. Nur äußerst zaghaft kommt es dort zu einer gewissen Öffnung zu Texten des Neuen Testamentes; durch die allgemeine Vermehrung des Textangebots tritt jedoch wiederum eine Relativierung dieses Eindrucks ein. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Aufnahme der Antiphon Zachaee festinans in den Pontifikaltyp des 12. Jahrhunderts:65 Die Antiphon zum Eintritt des Bischofs in die Kirche66 korrespondiert zudem mit dem Evangelium der Weihemesse (Lk 19,1–10).67 Es handelt sich um eine fast neuzeitlich zu nennende Deutung von Jesu Mahl in dem Haus eines Sünders.

2.3 Die Texte der Kirchweihpredigten Die Predigten innerhalb der Kirchweihliturgie stellen im (hohen) Mittelalter eine eigene Literaturgattung dar, die auch einer separaten Analyse ihrer Quellen bedürfte. Daher genügt vielleicht der allgemeine Hinweis, dass sie im Wesentlichen der gleichen Theologie und Bildhaftigkeit verpflichtet sind wie die eigentlichen liturgischen Texte. Bereits bei der Einweihung der Kirche von Tyrus konnte Eusebius um 315 eine Predigt überliefern,68 die Personennamen aus der Jüdischen Bibel aufgreift: Die Protagonisten des neuen Gotteshauses werden darin mit Bezalel, Salomo und Zorobabel verglichen.69 Der Rekurs auf die Patriarchen wird sodann seit dem Frühmittelalter obligatorisch.70 Bischof Jonas von Orleans beruft sich ausdrücklich auf die Tradition der Patriarchen, wenn er im Jahre 836 deren Bemühungen in Erinnerung ruft, Altäre

64 Zu den Gesängen der Kirchweihemesse vgl. ausführlich Kozachek (Anm. 32), S. 75–111. 65 Vgl. insbesondere Le pontifical Romain au moyen âge, Bd. 1, hrsg. v. Michel Andrieu, Città del Vaticano 1938 [im Folgenden: PontRom], u. a. S. 176–195 (zum Ordo 17); vgl. auch die Zusammenstellung bei Forneck (Anm. 3), S. 97–145. 66 Vgl. CAO 5515; PontRom 17, 17/180. 67 Vgl. PontRom 17, 75/193. 68 Vgl. Eusebius von Kaisareia, Historia ecclesiastica 10, 4, 3, hrsg. v. Eduard Schwartz u. Theodor Mommsen, Berlin 1999, S. 862–864. 69 Vgl. zu dieser Predigt zuletzt Katharina Heyden, Die Sakralisierung der christlichen Basilika in Eusebs Kirchweihrede für Tyros, in: Peter Gemeinhardt u. Katharina Heyden (Hgg.), Heilige, Heiliges und Heiligkeit in spätantiken Religionskulturen, Berlin 2012, S. 85–110. 70 Vgl. Avitus von Vienne, Ex sermone in dedicatione ecclesiae archangeli Michahelis, in: Alcimi Ecdicii Aviti Viennensis episcopi opera quae supersunt, hrsg. von Rudolf Pieper (MGH Auctores antiquissimi VI 2), Berlin 1883, S. 125f., hier S. 125.





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und Tempel zu errichten und diese mit Öl und Chrisam zu salben, und seine Zeitgenossen auffordert, Gottesdienste in gleicher Weise zu begehen.71 Man vergleiche auch die ausführliche Nacherzählung der Jakobsgeschichte in der Kirchweihpredigt, die Petrus Abaelardus für die Kirche seines Paraklet-Klosters gehalten hat.72 Andere Autoren stellen einzelne Begriffe und Bibelverse in den Mittelpunkt ihrer Ansprachen, wie etwa Richard von St. Viktor die Verse Ps EÜ 46,4–6 sowie das tabernaculum und andere Bilder der Jüdischen Bibel.73

2.4 Die auf der Jüdischen Bibel beruhenden nonverbalen Zeichenhandlungen Neben den sprachlich oder gesanglich vorgetragenen Texten sind auch jene dynamischen Handlungen der Kirchweihliturgie zu erwähnen, die in ihrer gebärdenhaften Gestaltung auf den Aussagen der Jüdischen Bibel beruhen. Diese Tatsache ist nicht allein Frucht einer spirituellen memoria, sondern der gezielten historischen Annäherung, wie sie Walafrid Strabo betrieb.74 Bereits bei der Sichtung ritueller Einzelheiten fällt auf, dass die performativen Elemente der hochmittelalterlichen Kirchweihliturgie an Zeichen und Handlungen erinnern, die schon den Zeitgenossen aus der Jüdischen Bibel bekannt waren. Die Bildhaftigkeit der Vollzüge war jedoch nicht nur dem PRG vertraut, sie erweisen sich auch bei der Gegenüberstellung mit dem Pontifikaltyp des 12. Jahrhunderts: – Das ausgespannte Tuch respektive das Zelt zur provisorischen Aufbewahrung der christlichen Reliquien erinnert an die vorübergehende Deponierung der Bundeslade in einem Zelt vor der Einweihung des Jerusalemer Tempels (vgl. 2 Sam 6,17; 7,2; 1 Chr 16,1).75 – Der Alphabetritus, der auf einem den Fußboden bedeckenden Andreaskreuz (crux decussata) das ganze Kircheninnere umfasst, erinnert an die Vermessung des Tempels nach der Ezechielvision (Ez 40,3–43,17).76 Die Liturgieallegorese hat

71 Vgl. Jonas von Orleans, Epistola concilii Aquisgranensis ad Pippinum regem directa, in: Concilia aevi Carolini, Bd. 1, 2, hrsg. v. Albert Werminghoff (MGH Concilia II 2), Hannover, Leipzig 1908, S. 724–767, hier S. 724–746. 72 Vgl. Petrus Abaelardus, In dedicatione ecclesiae (Sermo 28), in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 178, Sp. 551A–555A. 73 Vgl. Hideki Nakamura, Talem vitam agamus, ut Dei lapides esse possimus. Die Kirchweihpredigten Richards von St. Viktor, in: Stammberger u. Sticher (Anm. 1), S. 293–327. 74 Vgl. Walafrid Strabo, Libellus de exordiis et incrementis quarundam in observationibus eccle­ siasticis rerum, hrsg. v. Alice L. Harting–Correa, Leiden u. a. 1996, bes. S. 80–84 (zur Kirchweihe). 75 Vgl. PRG 40, 1/124, 133/170; PontRom 17, 1/176, 48/186. 76 Vgl. PRG 40, 25–26/135–136; PontRom 17, 20/180–181; vgl. Klaus Schreiner, Abecedarium. Die Symbolik des Alphabets in der Liturgie der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirchweihe, in: Stammberger u. Sticher (Anm. 1), S. 143–187, und Bachmann (Anm. 17).



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die Form der Alphabetschreibung cancellatis manibus zusätzlich mit der Gestik des Jakobssegens (Gn 48,14) in Verbindung gebracht.77 Aus den Reinigungsvorschriften der Tora wissen wir, dass dem Lustrationswasser Asche beigemischt wird (Num 19,9; 19,17),78 was auch der Jungen Kirche noch bewusst ist (Hebr 9,13): Das bei der Kirchweihe verwendete Gregorianische Wasser beinhaltet ebenfalls Asche.79 Siebenmal wird Blut ringsum gegen den Tempelaltar gespritzt (Lev 8,19 und o. a. Parallelen), ein auch in der Kirchweihliturgie aufgenommenes Zeichen in Bezug auf Wasser.80 Die Aspersion (des Tempelaltars) erfolgt nach der Tora mit dem Ysop (Num 19,18). Dieser wird auch bei der Kirchweihe eingesetzt.81 Die so genannten Altarhörner des Tempelaltars werden nach der Tora mit einem von Blut benetzten Finger bezeichnet (Lev 8,15a und o. a. Parallelen), so auch die Wasserverwendung im Kirchweihritus, wo zudem der Begriff der cornua übernommen wird;82 vgl. Lev 8,15: et tincto digito tetigit cornua altaris per gyrum […]. Das restliche Blut wird gemäß der Tora am Fuß des Tempelaltartisches ausgegossen (Lev 4,7b und o. a. Parallelen),83 so auch das Wasser im Kirchweihritus am Fuße des christlichen Altars;84 vgl. Lev 4,7b: fundet in basim altaris.

77 Vgl. Ivo von Chartres, Sermones, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 162, Sp. 505–610, hier Sp. 531 (Sermo IV); Hugo von St. Viktor (Anm. 1), S. 372 (2, 5, 3). Zum Verhältnis der Texte vgl. Hanns Peter Neuheuser, Domus dedicanda, anima sanctificanda est. Rezeption des Ivo von Chartres und Neuprägung der hochmittelalterlichen Kirchweihliturgie durch Hugo von St. Viktor, in: Ecclesia orans 18 (2001), S. 373–396 u. 19 (2002), S. 7–44. 78 Vgl. Theodoor Christiaan Vriezen, The term „Hizza“. Lustration and consecration (Oudtestamentische studiën 7), Leiden 1950, S. 201–235; Paul-Eugène Dion, Early evidence for the ritual significance of the ‚base of the altar‘, in: Journal of biblical literature 106 (1987), S. 487–490. Zum Kontext s. William K. Gilders, Blood ritual in the Hebrew Bible. Meaning and power, Baltimore 2004. 79   Vgl. PRG 40, 36–38/139–140; PontRom 17, 26–27/181–182. 80 Vgl. PRG 40, 43/141; 33, 16/84; PontRom 17, 33/182. 81 Vgl. PRG 40, 43/141; PontRom 17, 33/182; vgl. hierzu Éric Palazzo, Le végétal et le sacré. L’hysope dans le rite de la dédicace de l’église, in: Kathleen G. Cushing u. Richard F. Gyug (Hgg.), Ritual, text and law. Studies in medieval canon law and liturgy, presented to Roger E. Reynolds, Aldershot 2004, S. 41–49. 82   Vgl. PRG 33, 15/84; vgl. PontRom 17, 33/182. Siehe a. PRG 33, 15/84: Inde faciat crucem digito suo cum ipsa aqua in dextera parte et per quatuor cornua. 83   Vgl. Dion (Anm. 78). Zur Wasserspende am Laubhüttenfest vgl. den Mischna-Traktat Sukka IV 9–10 in Die Mischna, Bd. 2, 6, hrsg. v. Hans Bornhäuser, Berlin 1935, Nr. 5, S. 128–137; zu diesem Zusammenhang s. David Feuchtwang, Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 54, 6 (1910), S. 713–729. 84 Vgl. PRG 40, 50/144; 33, 22c/85; PontRom 17, 40/184. Siehe a. PRG 40, 50/144: […] fundat ad basim altaris.





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– Siebenmal wird der Tempelaltar mit Öl gesalbt, um ihn zu weihen (Lev 8,11 und o. a. Parallelen),85 so auch die mehrfache Salbung der Mensa in der Kirchweih­ liturgie.86 – Zusätzlich zur üblichen Inzensgabe wird Weihrauch auf der Tempelaltarmensa verbrannt (Lev 8,16 und o. a. Parallelen), so auch im Kirchweihritus auf dem christlichen Altartisch.87 – Im Anschluss an die Weihe des Baus und des Altars erfolgt nach der Tora die Konsekration der Tempelausstattung, der Gefäße und Geräte (vgl. u. a. Lev 8,10–11 und o. a. Parallelen). Dies gilt auch im kirchlichen Kontext bezüglich der vasa sacra und non sacra.88 Die Altarweihen in Ex 29 und Lev 8 scheinen nachgerade einen erheblichen Teil des rituellen Instrumentariums für die hochmittelalterliche Kirchweihliturgie bereitgestellt zu haben, freilich mit der substantiellen Abweichung, dass alle Elemente des Opferns ausgemerzt sind (vgl. Hebr 9,13–14), und dass Blut durch Weihwasser sowie das Verbrennen des Fleisches durch Weihrauch ersetzt wurden. Gerade Hrabanus Maurus und die Liturgiker des hohen Mittelalters betonen nachdrücklich, wie wichtig ihnen die Rückbindung der Kirchweihtheologie an den Tanach erschien, was auch an eher marginalen Akten wie dem Zeltritus deutlich wird.89 Neben der bloßen Textverwendung dürfte somit der Beweis angetreten sein, dass die Jüdische Bibel s­ peziell hinsichtlich der performativen Darstellungen den Ritenkreis der hochmittelalter­ lichen Kirchweihliturgie in einem erheblichen Anteil bestimmte.

3 Adaption und Hermeneutik Die Reflexion über die aus der Jüdischen Bibel erzeugten ‚Bilder‘ für Gott und dessen ‚Wohnen auf Erden‘ musste bei der geschilderten rituellen Realisierung durch die

85 Vgl. Ernst Kutsch, Salbung als Rechtsakt im Alten Testament und im Alten Orient, Berlin 1963, S. 69f. (zur Kultlegitimation). 86 Vgl. PRG 40, 52–55/144; PontRom 17, 55–57/188–189. 87 Vgl. PRG 40, 51/144; 40, 58/145; PontRom 17, 60/190. Vgl. hierzu Cathérine Gauthier, L’odeur et la lumière des dédicaces. L’encens et le luminaire dans le rituel de la dédicace d’église au haut moyen âge, in: Méhu (Anm. 3), S. 75–90. 88 Vgl. PRG 40, 73–78/150–152; PontRom 17, 66–67/192. 89 Vgl. Hrabanus Maurus, De institutione clericorum, 2 Bde., hrsg. von Detlev Zimpel (Fontes christiani 61), Turnhout 2006, S. 378–387 (2, 45), insb. 378–379; vgl. auch Mayke de Jong, Old Law and New-Found Power. Hrabanus Maurus and the Old Testament, in: Jan Willem Drijvers u. Alasdair A. MacDonald (Hgg.), Centres of Learning. Learning and Location in Pre-modern Europe and the Near East, Leiden 1995, S. 161–176. – Vgl. auch Bruno von Segni, Expositio in Exodum, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 164, Sp. 233–378, hier v. a. Sp. 346D–351C (29).



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jeweils zeitgenössischen Christen hinsichtlich zentraler Glaubenswahrheiten als distinkt erkannt werden: Der dreifaltige Gott, der inkarnierte Messias, das eucharistische Opfer und alle sakramentalen Handlungen sowie ekklesialen Strukturen waren unaufgebbare Glaubensinhalte, die in einer christlichen Liturgiefeier hätten aufscheinen sollen. Das christliche Heilswirken künftig instrumentell zu ermöglichen, war aber – schon nach dem eingangs zitierten Hugo-Wort – Aufgabe gerade dieser Kirchweihliturgie. Die evozierten ‚Bilder‘ des Kirchweihaktes90 mussten daher den nicht unproblematischen ‚Christianisierungsprozess‘ der Jüdischen Bibel durchlaufen, in welchem die früh- und hochmittelalterlichen Protagonisten in eklektizistischer Manier Einzeltexte aus dem Tanach heranzogen und ihrer jüdischen Hermeneutik entkleideten.91 Auf diese Weise entstand eine unvollständige Adaption aus literarisch tradierten Texten und neu gedeuteten Zeichenhandlungen – nicht ohne „Missachtung des objektiven Aspekts der Worte“92. Das Motiv zu diesem idealisierenden Vor­ gehen war bereits in der spätantiken und karolingischen Religionsgesetzgebung bis hin zum hochmittelalterlichen Staat-Kirche-Ordo entwickelt worden.93 Diese Sakralitätsauffassung betonte die materielle Form der Heilsinstrumente und die systematisch-juridischen Strukturen einer amtlichen Glaubensdarstellung. In diesem Prozess sind jedoch nicht nur Elemente der jüdischen Hermeneutik eliminiert, sondern auch viele Aspekte der jesuanischen Vorstellung von der Spiritualisierung des Tempelbegriffes angetastet worden.

90 Vgl. Fabio Trudu, Haec aedes mysterium adumbrat ecclesiae. Immagini simboliche dell’ecclesia nel rito di dedicazione della chiesa, Rom 2001; Schmitt (Anm. 19); Markus Eham, Sie schreiten dahin mit wachsender Kraft (Ps 84,8). Kirchenbilder, Liturgie- und Psalmendeutung in Prozessionsgesängen der Kirch- und Altarweihe, in: Winfried Haunerland u. a. (Hgg.), Manifestatio ecclesiae. Studien zu Pontifikale und bischöflicher Liturgie, Regensburg 2004, S. 351–380. 91 Vgl. Czock (Anm. 3), S. 246–259, 300. 92 Vgl. Ottmar Fuchs, Sprechen in Gegensätzen, München 1978, S. 70–73, nach Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt 1964, S. 51. 93 Vgl. Benz (Anm. 23), S. 5–7, 218–220.



Zusammenleben – Klöster als Begegnungsräume der Kulturen

Stefan Burkhardt (Heidelberg)

Iuxta regulam sancti patris Benedicti atque Basilii. Die Klöster Süditaliens als Begegnungsräume zwischen West und Ost Abstract: In den vergangenen Jahren wurden die Fragen nach den Spezifika einer einheitlich verstandenen ‚europäischen Kultur‘ und ihrer Wurzeln zugunsten der Vorstellung eines pluralen Europas verworfen. Die Rolle von Klöstern und Orden als Vermittler und Träger kultureller und religiöser Vielfalt des mittelalterlichen Europa wurde in diesem Zusammenhang jedoch häufig unterschätzt. Klöster könnten aber die entscheidende Schnittstelle gewesen sein, die – abseits von diffusen Ausgleichsströmungen und Austauschbeziehungen – für die Abklärung kultureller und religiöser Bestände sorgten, Kontaktzonen zwischen den Kulturbereichen definierten, legitimierten und verstetigten. Möglicherweise ist eine Differenz von Bedeutung, die sich durch die gesamte Geschichte des Mönchtums zieht: diejenige zwischen östlichen und westlichen monastischen Traditionen. Die orthodoxen und benediktinischen Klöster Süditaliens trugen dazu bei, diese Differenz zu überwinden.

1 Einleitung Im Museo Nazionale di Palermo wird ein Grabstein aufbewahrt, der gleichsam als Ikone des Multikulturalismus dienen kann. Der 1148 in Palermo hergestellte Stein versinnbildlicht die unterschiedlichen Religionen und Traditionen, die in verschiedenen Sprachen das kulturelle Erbe Süditaliens prägten. In lateinischer, griechischer, hebräischer und arabischer Schrift berichtet die Steinmetzarbeit vom Begräbnis Annas, der Mutter eines Klerikers Grisandus, der mit dem normannischen Königshof in engerem Kontakt stand.1 Wenngleich der Inhalt der Inschriften rein christlich ist, gilt er als „ein einzigartiges Dokument der toleranten Kultur des 12. Jahrhunderts im Mehr-Völker-Staat des normannischen Siziliens“.2 Die dem Grabstein zugemessene Bedeutung speist sich nicht nur aus seinem Wert als Quelle für personengeschichtliche Überlegungen, sondern vor allem aus der Tatsache, dass in den vergangenen Jahren die Fragen nach den Spezifika einer einheitlich verstandenen ‚europäischen Kultur‘ und ihrer Wurzeln

1 Wolfgang Krönig, Der viersprachige Grabstein von 1148 in Palermo, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 52 (1989), S. 550–558. 2 Ebd., S. 550.

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zugunsten der Vorstellung eines pluralen Europa verworfen wurden.3 Gerade Süditalien gilt zusammen mit Al Andalus vielen als Paradigma eines Zusammenlebens verschiedener Kulturen und Religionen in der Erbengemeinschaft Abrahams.4 Inwiefern diese zum Teil idealistischen Aussagen berechtigt sind, wie dieses interkulturelle Zusammenleben ausgestaltetet wurde, welche Strukturen, Arenen und Inhalte sich ergaben, welche Traditionen entwickelt und weitergegeben, aber auch vergessen, reaktiviert und neu kombiniert wurden, soll nur zum Teil im Zentrum dieses Beitrags stehen. Mein Fokus soll ein anderer sein: Ich will die Rolle von Klöstern und Orden in diesem Zusammenhang betrachten. Klöster und Orden werden nämlich häufig nur im Inneren der Kirche in ihrer Pluralität akzeptiert, während sie im Kontakt mit anderen Religionen meist als Exponenten eines recht homogenen Glaubens- und Herrschaftsanspruchs angesehen werden. Ihre Rolle als Vermittler und Träger kultureller und religiöser Vielfalt des mittelalterlichen Europas wurde häufig unterschätzt. Ausnahmen bilden hier etwa die Forschungen zur monastischen Übersetzungstätigkeit und zur Mission von Franziskanern, Dominikanern und später Jesuiten.5

3 Vgl. etwa Bernd Schneidmüller, Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. Europa 1200–1500, München 2011; vgl. auch die Ergebnisbände des Schwerpunktprogramms 1173: Michael Borgolte u. a. (Hgg.), Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa. Vorträge und Workshops einer internationalen Frühlingsschule (Europa im Mittelalter 16), Berlin 2010; Michael Borgolte u. a. (Hgg.), Integra­ tion und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter (Europa im Mittelalter 18), Berlin 2011; Michael Borgolte u. a. (Hgg.), Europa im Geflecht der Welt. Mittelalterliche Migrationen in globalen Bezügen (Europa im Mittelalter 20), Berlin 2012. 4 Vgl. etwa die Beiträge in David Engels, Lioba Geis u. Michael Kleu (Hgg.), Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Herrschaft auf Sizilien von der Antike bis zum Spätmittelalter, Stuttgart 2010; Georg Bossong, Das Maurische Spanien. Geschichte und Kultur, 2. Aufl. München 2010. 5 Vgl. Anne Müller, Bettelmönche in islamischer Fremde. Institutionelle Rahmenbedingungen franziskanischer und dominikanischer Mission in muslimischen Räumen des 13. Jahrhunderts (Vita regularis 15), Berlin 2001; Ramona Sickert, Wenn Klosterbrüder zu Jahrmarktsbrüdern werden. Studien zur Wahrnehmung der Franziskaner und Dominikaner im 13. Jahrhundert (Vita regularis 28), Berlin 2006; vgl. als Überblick Odulphus van der Vat, Die Anfänge der Franziskanermissionen und ihre ­Weiterentwicklung im nahen Orient und in den mohammedanischen Ländern während des 13. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Internationalen Institutes für Missionswissenschaftliche Forschungen; Missionswissenschaftliche Studien N.R. 6), Werl 1934; Berthold Altaner, Die Dominikanermissionen des 13. Jahrhunderts. Forschungen zur Geschichte der kirchlichen Unionen und der ­Mohammedaner- und Heidenmission des Mittelalters (Breslauer Studien zur historischen Theo­ logie 3), Habelschwerdt 1924; Bernd Hausberger, Für Gott und König. Die Mission der Jesuiten im ­kolonialen Mexiko (Studien zur Geschichte und Kultur der iberischen und iberoamerikanischen Länder 6), Wien 2000.





Die Klöster Süditaliens als Begegnungsräume zwischen West und Ost 

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2 Innen und Außen Dieses mitunter mangelnde Zugeständnis von ‚Offenheit‘ ist auch eine Folge der grundlegenden Konzeption des abgeschlossenen claustrum: Insbesondere Klöster und Orden waren und sind durch eine Art Leitdifferenz, einen Gegensatz zwischen Innen und Außen, geprägt.6 Diese Leitdifferenz durchzieht faktisch alle Bereiche monastischen Lebens, in ihrer Ausgestaltung und Bewältigung sind wichtige Elemente bei der Genese und Identität unterschiedlicher Orden zu sehen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an das eremitische Mönchtum, das klassische benediktinische Mönchtum, inklusive seiner verschiedenen reformerischen Zweige, und die unterschiedlichen Ausformungen der Prediger- und Bettelorden. In ihrer Interpretation der jeweiligen monastischen Regelwerke und ihren jeweiligen Gewohnheiten, den consuetudines, wurden die Grundlagen dafür gelegt, wie diese unterschiedlichen Kongregationen ihre jeweiligen spirituellen, geistlichen und seelsorgerischen Ideale ausgestalteten, welche architektonischen Formen ihnen zur Verfügung standen, wie sie aber auch die für sie lebensnotwendigen Strukturen klösterlicher Wirtschaft und Herrschaft organisierten.7 Deutlich wird dies gerade mit einem Blick auf die eremitischen Gemeinschaften der Kartäuser, die eine weitgehende Isolation und ein weitgehendes Zurückgeworfensein auf das ‚Innere‘ der eigenen Gemeinschaft und die sie zusammensetzenden Individuen suchten, im Vergleich zu den Bettelorden, die gerade die Auseinandersetzung und Öffnung zum ‚Außen‘ anstrebten. Auch gab es Elemente einer Abstufung und Filterung zum Schutz des ‚Inneren‘, ohne alle Kontakte nach außen abzubrechen. Gerade das Beispiel der Zisterzienser verdeutlicht dies durch ihre Wahl und die Schaffung einer eigenen Umwelt in der wüstenartigen eremus und durch den Aufbau eines mit Konversen bewirtschafteten Systems der Grangien, der Außenhöfe.8

6 Vgl. hierzu etwa auch Gert Melville, Inside and Outside. Some Considerations about Cloistral Boundaries in the Central Middle Ages, in: Brigitte Meijns u. Steven Vanderputten (Hgg.), Ecclesia in medio nationis. Reflections on the Study of Monasticism in the Central Middle Ages, Leuven 2011, S. 167–182. 7 Kaspar Elm, Die Bedeutung historischer Legitimation für Entstehung, Funktion und Bestand des mittelalterlichen Ordenswesens, in: Peter Wunderli (Hg.), Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation, Sigmaringen 1994, S. 71–90; Wolfgang Braunfels, Abendländische Klosterbaukunst. Kunstgeschichte, Deutung, Dokumente, 5. Aufl. Köln 1985; Carola Jäggi, Ordensarchitektur als Kommunikation von Ordnung. Zisterziensische Baukunst zwischen Vielfalt und Einheit, in: Christina Andenna, Klaus Herbers u. Gert Melville (Hgg.), Die Ordnung der Kommunikation und die Kommunikation der Ordnungen im mittelalterlichen Europa, Bd. 1: Netzwerke. Klöster und Orden im 12. und 13. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 203–225; Matthias Untermann, Gebaute „Unanimitas“. Zu den Bauvorschriften der Zisterzienser, in: Ulrich Knefelkamp (Hg.), Zisterzienser. Norm, Kultur, Reform. 900 Jahre Zisterzienser, Berlin 2001, S. 239–266. 8 Immo Eberl, Die Zisterzienser. Geschichte eines europäischen Ordens, Stuttgart 2002, S. 227–255; vgl. auch Werner Rösener, Die Agrarwirtschaft der Zisterzienser. Innovation und Anpassung, in:



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Das ‚Außen‘ setzte sich aus mehreren Komponenten zusammen, die das ‚Innen‘ der klösterlichen Gemeinschaft in unterschiedlichem Maße prägen konnten. Die christlich oder nicht-christlich dominierte laikale Umwelt hatte in zweierlei Hinsicht Einfluss auf die monastischen Kommunitäten: Erstens bezogen die Klöster von hier die für ihren Lebensunterhalt unentbehrlichen Ressourcen, die sie im Normalfall nicht selbst produzieren konnten, sei es in Form von Abgaben, Stiftungen oder eben auch in Form von Handelsbeziehungen.9 Die Umwelt konnte sicherlich aber auch bedrohlich erscheinen, sei es durch Entfremdungstendenzen und mehr oder minder gewalttätige Übergriffe auf die klösterlichen Besitzungen oder die Integrität der internen Struktur. Zweitens war die laikale Umwelt in doppelter Hinsicht Adressat klösterlichen Wirkens: Zum einen übten Klöster etwa durch Mission und Seelsorge, Landesausbau und Lehnswesen einen mehr oder minder entschiedenen Einfluss auf die laikale Umwelt aus, zum anderen war die volle Vielfalt des Gebetsgedenkens integraler Bestandteil monastischen Daseins.10 Zur klösterlichen Umwelt gehörten allerdings auch die Elemente der kirchlichen und monastischen Hierarchie wie etwa Pfarreien, Bistümer, Erzbistümer. Auch die Einflüsse der päpstlichen Kurie, anderer Orden und der eigenen Ordensorganisation standen in einem Spannungsverhältnis zu den Regeln und der Ausgestaltung des Zusammenlebens der jeweiligen Kommunität.11 Hier konnte auch die Dimension der Ressourcenausstattung betroffen sein – etwa wenn der zuständige Ortsbischof seinen Anteil am klösterlichen Wohlstand forderte. Wichtig sind jedoch wohl vor allem die Einflüsse übergeordneter Instanzen auf die interne klösterliche Organisation, auf Obödienzen und Regelanpassungen. Durch das spannungsreiche Wechselverhältnis der Aufrechterhaltung interner Strukturen und der Reaktion auf äußere Einflüsse konnten Klöster als Instanzen dienen, in denen ein ‚Dazwischen‘ entstand, in denen neue Formen des Zusammen-

Franz Felten u. Werner Rösener (Hgg.), Norm und Realität. Kontinuität und Wandel der Zisterzienser im Mittelalter, Berlin 2009, S. 67–95. 9 Vgl. etwa Berthold Jäger, Zur wirtschaftlichen und rechtlichen Entwicklung des Klosters Fulda in seiner Frühzeit, in: Marc-Aeilko Aris u. Susanna Bullido del Barrio (Hgg.), Hrabanus Maurus in Fulda. Mit einer Hrabanus Maurus-Bibliographie (1979–2009), Freiburg i. Br. 2010, S. 81–120. 10 Vgl. grundlegend Nathalie Kruppa (Hg.), Adlige – Stifter – Mönche. Zum Verhältnis zwischen Klöstern und mittelalterlichem Adel, Göttingen 2007. 11 Vgl. für päpstliche Einwirkungen Horst Fuhrmann, Papst Urban II. und der Stand der Regularkanoniker (Bayerische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte 1984, 2), München 1984; Franz J. Felten, Gregor IX. als Reformer von Orden und Klöstern, in: Gregorio IX e gli ordini mendicanti. Atti del XXXVIII Convegno internazionale, Assisi, 7–9 ottobre 2010, Spoleto 2011, S. 3–71; Jan Ballweg, Konziliare und päpstliche Ordensreform. Benedikt XII. und die Reformdiskus­ sion im frühen 14. Jahrhundert, Tübingen 2001; Jürgen Miethke, Der „theoretische Armutstreit“ im 14. Jahrhundert. Papst und Franziskanerorden im Konflikt um die Armut, in: Heinz-Dieter Heimann u. a. (Hgg.), Gelobte Armut. Armutskonzepte der franziskanischen Ordensfamilie vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Paderborn u. a. 2012, S. 243–284.





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lebens erdacht und mitunter erprobt wurden.12 Ja, mehr noch: Über Verschriftlichung und Institutionalisierung konnten diese Neukombinationen auch verstetigt werden.13 Ob die Neuerungen allerdings auf allgemeines Wohlwollen stießen oder – etwa durch die Kirchenoberen – als Verfallstendenzen gewertet wurden, steht auf einem anderen Blatt. Es gilt zu berücksichtigen, dass stets die Möglichkeit des Scheiterns gegeben war.

3 Die Kontaktzone Süditalien Es ergeben sich hier auch weitere Perspektiven: Die Betrachtung der einzelnen klösterlichen Kommunitäten kann dazu beitragen, sowohl die vermeintlich strikten Gegensätze und Grenzziehungen zwischen einzelnen Kulturbereichen als auch die mitunter dominierende Vorstellung innerhalb der lateinischen Christenheit von Zentrum und Peripherie zugunsten eines Netzwerkes akzeptierter Pluralität und Diversität einzelner Akteure aufzugeben.14 Klöster könnten die entscheidende Schnittstelle gewesen sein, die – abseits von diffusen Ausgleichsströmungen und Austauschbeziehungen – für die Abklärung kultureller und religiöser Bestände sorgten, Kontaktzonen zwischen den Kulturbereichen definierten, legitimierten und verstetigten und die Offenheit, unseren Eindruck von ‚Toleranz‘ bestimmter Herrschaften, Regionen und Reiche beeinflussten.15 Gerade Süditalien war und ist als kulturelle Kontaktzone geradezu prädestiniert. Die italienische Halbinsel und Sizilien liegen gleichsam in doppelter Hinsicht im

12 Vgl. im breiteren Zusammenhang Martin Kintzinger, Keine große Stille – Wissenskulturen zwischen Kloster und Welt, in: Anne-Marie Hecker u. Susanne Röhl (Hgg.), Monastisches Leben im ­urbanen Kontext (Mittelalterstudien 24), Paderborn u. a. 2010, S. 109–130; Hans-Joachim Schmidt, Legitimität und Innovation. Geschichte, Kirche und neue Orden im 13. Jahrhundert, in: Franz J. Felten u. Nikolas Jaspert (Hgg.), Vita religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70.  Geburtstag, Berlin 1999, S. 371–391. 13 Klaus Schreiner, Verschriftlichung als Faktor monastischer Reform. Funktionen von Schriftlichkeit im Ordenswesen des hohen und späten Mittelalters, in: Hagen Keller, Klaus Grubmüller u. Nikolaus Staubach (Hgg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, München 1992, S. 37–75. 14 Vgl. etwa Jochen Johrendt u. Harald Müller (Hgg.), Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III. (Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, N.F. 2), Berlin, New York 2008. 15 Vgl. zur ‚Toleranz‘ im Mittelalter Hubert Houben, Möglichkeiten und Grenzen religiöser Toleranz im normannisch-staufischen Königreich Sizilien, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittel­ alters 50 (1994), S. 159–198; Walter Koller, Toleranz im Königreich Sizilien zur Zeit der Normannen, in: Alexander Patschovsky u. Harald Zimmermann (Hgg.), Toleranz im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 45), Sigmaringen 1998, S. 159–185.



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Zentrum des Mittelmeeres: Die Insel ist ein entscheidender Trittstein auf dem Weg von Süden nach Norden, aber auch von Norden nach Süden. Die Halbinsel lässt sich recht einfach vom Balkan und über die Adria erreichen und auch der Weg nach Westen ist aufgrund der beiden großen Inseln Korsika und Sardinien recht einfach zu beschreiten. Die Straße von Sizilien kann als das entscheidende Nadelöhr des westöstlichen Schiffverkehrs gelten.16 Bedeutende Chronisten stammten aus dem klösterlichen Bereich. Nun ist jedoch Kloster nicht gleich Kloster, ja auch Mönche sind nicht gleich Mönche. Möglicherweise ist eine Differenz für unsere Fragestellung von Bedeutung, die sich durch die gesamte Geschichte des Mönchtums zieht: diejenige zwischen östlichen und west­ lichen monastischen Traditionen. Die Wurzeln des Mönchtums liegen bekanntlich im Ägypten des 3. Jahrhunderts nach Christus, als sich Männer und Frauen in die Wüsten beiderseits des Nils zurückzogen, um sich in der Einsamkeit einem Gott geweihten Leben zu widmen.17 Stellvertretend für diese Traditionen steht die Gestalt des Eremiten Antonius. Das anachoretische Mönchtum sollte im orthodoxen Raum lange Zeit hochgeschätzt werden. Kurze Zeit später schlossen sich aber auch die ersten Menschen in Klöstern zusammen um zönobitisch, ‚gemeinschaftlich‘ zu leben.18 Alle Aussagen zu Süditalien stehen aber unter dem Vorbehalt der Quellenlage: Für Spätantike und Frühmittelalter sind häufig nicht mehr als Skizzen der groben Linien möglich.19 Es scheint so zu sein, dass die Integration Süditaliens in den byzantinischen Machtbereich nach der sogenannten Völkerwanderung mit einer intensivierten Ansiedelung des griechischen Mönchtums einherging. Gerade im Bereich des nördlichen Süditaliens kam es wohl zu frühen und fruchtbaren Austauschbeziehungen zwischen westlichen und östlichen Ausprägungen des Christentum: Orthodoxe Christen standen unter lateinischer Oberherrschaft, lateinische Christen unter orthodoxer. Mit dem Aufbau des Kapitanats in Apulien konzentrierte sich dort das Zentrum der byzantinischen Herrschaft, sodass es zu einer intensivierten Ansammlung griechischer Bevölkerungsteile kam. Vor allem vor dem Hintergrund einer Zunahme der Sarazeneneinfälle breitete sich im 10. und 11. Jahrhundert das griechische Mönch-

16 Engels, Geis u. Kleu (Anm. 4). 17 William Harmless, Desert Christians. An Introduction to the Literature of Early Monasticism, Oxford 2004. 18 Andreas E. J. Grote, ‚Anachorese‘ und ‚Zönobitentum‘. Der Rekurs des frühen westlichen Mönchtums auf monastische Konzepte des Ostens, Stuttgart 2001; Gert Melville, Die Welt der mittelalter­ lichen Klöster. Geschichte und Lebensformen, München 2012, S. 17. 19 Vgl. den Versuch bei Vivien Prigent, La Sicile byzantine, entre papes et empereurs (6ème–8ème siècle), in: Engels, Geis u. Kleu (Anm. 4), S. 201–230.





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tum bis nach Amalfi, Neapel und Rom aus.20 In dieser Gegend scheint es zu frühen Kontakten und Austauschbeziehungen zwischen griechischen und benediktinischen Mönchen – insbesondere in der Gegend um Montecassino – gekommen zu sein.21 Darüber hinaus übten die griechischen Mönche wohl bedeutenden Einfluss auf die lateinischen Eremiten aus, die wiederum eine wichtige Rolle in der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts spielten.22 Auf Sizilien hingegen scheinen nach der arabischen Eroberung griechische Klöster – soweit wir es beurteilen können, die Quellenlage ist hier besonders schlecht – im Zeitverlauf ebenso wie andere kirchliche Institutionen marginalisiert worden zu sein. Migrationsbewegungen von der Insel kamen hier wohl den orthodoxen kirchlichen Institutionen auf dem Festland zugute. Die Beziehungen zwischen Festland und Insel blieben gleichwohl eng.23

4 Die normannische Eroberung Die normannische Eroberung Süditaliens eröffnete vielfältige Möglichkeitsräume für das griechische, aber auch das lateinische Mönchtum. Die Normannen trafen bei ihren Eroberungszügen in den langobardisch, byzantinisch und arabisch beherrschten Gebieten auf hinsichtlich Sprache, Religion, Wirtschaftsform und Rechtssystem hoch fragmentierte Bevölkerungsstrukturen: Neben lateinisch-christlichen romanischsprachigen Langobarden in Kampanien und im nördlichen Apulien fanden sich im südlichen Apulien, in Kalabrien, der südöstlichen Basilikata und auf Sizilien orthodoxe Griechen, die kirchenrechtlich dem Patriarchen von Konstantinopel unterstanden.24 Die Frage nach Ethnien und Identitäten ist in diesem Raum – wie fast überall im Mittelmeerraum – nicht einfach und vor allem nicht eindeutig zu beantworten. Sizilien war hingegen wohl bis auf kleinere Residuen weitgehend muslimisch-arabisch geprägt. Jüngere Forschungsergebnisse legen jedoch nahe, dass sich auch auf der Insel noch manches im Fluss befand, und die einzelnen Gruppen nicht so ein-

20 Vgl. als Überblick Silvano Borsari, Il Monachesimo bizantino nella Sicilia e nell’Italia meridio­ nale prenormanne (Istituto Italiano per gli Studi Storici 14), Neapel 1963, S. 23–76. 21 Vgl. zu Montecassino auch Gert Melville, Montecassino, in: Christoph Markschies u. Hubert Wolf (Hgg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, S. 322–244. 22 Vera von Falkenhausen, Il monachesimo italo-greco e i suoi rapporti con il monachesimo benedettino, in: Cosimo Damiano Fonseca (Hg.), L’esperienza monastica benedettina e la Puglia, Bd. 1, Galatina 1983, S. 119–135. 23 Vgl. zu Süditalien in muslimischer Zeit Alex Metcalfe, The Muslims of medieval Italy (The new Edinburgh Islamic surveys), Edinburgh 2009, S. 1–87. 24 Vera von Falkenhausen, Friedrich II. und die Griechen im Königreich Sizilien, in: Arnold Esch u. Norbert Kamp (Hgg.), Friedrich II. Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Rom im Gedenkjahr 1994, Tübingen 1996, S. 235–262.



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deutig identifizierbar sind, wie es die ältere Forschung meinte.25 Man muss vielmehr davon ausgehen, dass zu dieser Zeit Dinge vereinbar waren, die nicht in gelegentlich binäre Wertungen moderner Wissenschaft gepresst werden können.26 Mit der normannischen Eroberung kam es zu zwei Entwicklungen, die in Wechsel­ wirkung zu den klösterlichen Institutionen stehen: Zum einen ergaben sich migrationsbedingte Verschiebungen der Bevölkerungsstruktur, zum anderen aber auch Konversionen aufgrund intensivierter Missionsbestrebungen. In Kampanien und in Nord- und Zentralapulien verschwanden allmählich die griechischen Bevölkerungsschichten. In Kalabrien belehnten die Normannen ihre Gefolgsleute mit beachtlichen Ländereien; parallel zu diesem Prozess einer allmählichen Latinisierung wurden große Benediktinerabteien gegründet.27 Sizilien wurde hingegen Einwanderungsprovinz für Griechen aus Kalabrien. Diese Griechen wurden durch die normannischen Herrscher offensichtlich umworben, um sie als Gegengewicht zur überwiegend muslimischen Bevölkerung Siziliens dienstbar zu machen.28 Von einem intendiert ge­steuerten Prozess kann jedoch offensichtlich keine Rede sein.29 Vor allem änderte sich jedoch die übergeordnete kirchliche Struktur: Ganz so wie später auch hinsichtlich der verschiedenen lateinischen Kreuzfahrerstaaten wurde entweder eine lateinische Bistumsorganisation erst geschaffen oder aber – was viel häufiger geschah – die orthodoxe durch eine lateinische ersetzt.30 Alle Bistümer, die im 8. Jahrhundert dem Patriarchen von Konstantinopel unterstellt worden waren, wurden jetzt wieder Rom zugeordnet. Mitunter gingen diese Prozesse mit einer personalen Latinisierung einher, teilweise – vor allem bei kleineren Bistümern – konnten sich jedoch griechische Bischöfe bis ins 13. Jahrhundert halten. Der subalterne ortho-

25 Vgl. grundlegend Alex Metcalfe, Muslims and Christians in Norman Sicily. Arabic Speakers and the End of Islam (Culture and Civilization in the Middle East), London u. a. 2003. 26 Vgl. Vera von Falkenhausen, I monasteri greci dell’Italia meridionale e della Sicilia dopo l’avvento dei Normanni: continuità e mutamenti, in: Cosimo Damiano Fonseca (Hg.), Il passaggio dal dominio bizantino allo stato normanno nell’Italia meridionale. Atti del II Convegno internazionale sulla civiltà rupestre medievale nel Mezzogiorno d’Italia (Taranto-Mottola, 31.10.–4.11.1973), Taranto 1977, S. 197–219, hier S. 214; vgl. auch exemplarisch Vera von Falkenhausen, Il popolamento. Etnie, fedi, insediamenti, in: Giosuè Musca (Hg.), Terra e uomini nel Mezzogiorno normanno-svevo. Atti delle settime Giornate normanno-sveve, Bari, 15–17 ottobre 1985, Bari 1987, S. 39–73. 27 von Falkenhausen (Anm. 24), S. 236. 28 Vgl. etwa Mario Scaduto, Il monachesimo basiliano nella Sicilia medievale. Rinascita e deca­ denza (sec. XI–XIV) (Storia e Letteratura 18), 2. Aufl. Rom 1982, S. 69–143. 29 Peter Herde, The Papacy and the Greek Church in Southern Italy between the Eleventh and the Thirteenth Century, in: Graham A. Loud u. Alex Metcalfe (Hgg.), The Society of Norman Italy (The Medieval Mediterranean 38), Leiden, Boston, Köln 2002, S. 213–251, hier S. 217. 30 Vgl. hierzu Julia Becker, Archimandrit und Bischof. Kirchliche Verwaltung in Süditalien, in: ­Alfried Wieczorek, Bernd Schneidmüller u. Stefan Weinfurter (Hgg.), Die Staufer und Italien. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa, Bd. 1: Essays, Darmstadt 2010, S. 239–246.





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doxe Klerus blieb häufig größtenteils griechisch.31 Auf Sizilien musste hingegen erst eine Bistumsstruktur wieder aufgebaut werden. Dies geschah vor allem mit Hilfe der durch die Normannen gegründeten lateinischen Abteien. Entsprechend folgten diese Klostergründungen auch den Eroberungszügen der Normannen.32 Bezeichnend für diese Entwicklungen ist die Karriere von Ansgerius, des ersten Abtes von S. Agata di Catania: Er war zuvor Mönch in Sant’Eufemia gewesen und wurde nun Bischof von Catania.33 Die Wertung dieses Befundes sollte jedoch behutsam erfolgen. Wie normannisch oder auch an der lateinischen Kirche orientiert die Normannen Süditaliens waren, ist ja eine noch immer nicht abschließend beantwortete Frage.34 Das Eintreffen der Normannen eröffnete nämlich auch Möglichkeiten vielgestaltiger Abschichtungen und Zwischenräume, in denen es zu vielfältigen Austauschprozessen kommen konnte. Arenen dieser Austauschprozesse konnten auch Klöster sein. Das griechische Mönchtum scheint von den neuen Herrschern weitgehend respektiert worden zu sein. Zwar kam es auch hier zu Überordnungstendenzen der lateinischen Obödienz: Vor allem kleinere griechische Eigenklöster wurden größeren benediktinischen Abteien unterstellt. Allerdings waren wohl nicht nur hierarchische, sondern auch wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend: Diese kleinen Klöster waren durch die Kriegsauseinandersetzungen auch stark in Mitleidenschaft gezogen worden.35 Die Normannen der Anfangszeit waren auf Beute aus, und Klöster und Kirchen versprachen diese ohne größeren Aufwand. Ebenso hatten einige griechische Klöster bereits um 1100 erhebliche Nachwuchsprobleme. Es ist allerdings zu beachten, dass auch die lateinischen Klöster diesen Maßnahmen unterworfen wurden.36 Und die normannischen Herrscher bemühten sich auch um eine intensive Förderung des orthodoxen Mönchtums. Sie waren – knapp zusammengefasst – nicht – wie Léon-Robert Ménager meinte37 – an einer Latinisierung, sondern an einer Christianisierung Süditaliens unter päpst­ licher Obödienz interessiert.

31 von Falkenhausen (Anm. 24), S. 236f. 32 Hubert Houben, Die Abtei Venosa und das Mönchtum im normannisch-staufischen Süditalien ­(Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 80), Tübingen 1995, S. 43f. 33 Lynn Townsend White Jr., Latin Monasticism in Norman Sicily (The Medieval Academy of Ame­ rica 31), Cambridge Mass. 1938, S. 105. 34 Vgl. hierzu Graham A. Loud, The Latin Church in Norman Italy, Cambridge 2007. 35 von Falkenhausen (Anm. 24), S. 237. 36 von Falkenhausen, I monasteri (Anm. 26), S. 209–210. 37 Léon-Robert Ménager, La „byzantinisation“ religieuse de l’Italie méridionale (IXe–Xlle siècles) et la politique monastique des Normands d’Italie, in: Revue d’histoire ecclesiastique 53 (1958), S. 747–777, und 54 (1959), S. 5–40; ders., Les fondations monastiques de Robert Guiscard, duc de Pouille et de Calabre, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 39 (1959), S. 1–116.



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5 Normannische Herrschaftsverfestigung und griechische Klöster Differenzen wurden zunächst akzeptiert. Ihren klassischen Ausdruck fand diese Anerkennung in einer Urkunde aus dem Jahre 1060, in der ein normannischer Herr in Apulien dem Kloster S. Maria di Tremiti die Kirche S. Andrea di Silpoli schenkte und dem Abt das Recht bescheinigte regendi eam et cunctos qui ubi manent et mansuri sunt in ea iuxta regulam sancti patris Benedicti atque Basilii, quomodo vobis Deus largierit.38 Mitunter konnten die griechischen Klöster ihre Bedeutung trotz aller Schwierigkeiten der Umbrüche auch über die normannische Eroberung hinaus wahrnehmen. Manche Klöster und die ihnen zugeordneten Verbände stiegen unter normannischer Herrschaft sogar erst auf. Dies ging jedoch manchmal auch mit einem ‚Vergessen‘ der eigenen byzantinischen Vergangenheit einher: Man sah sich als Griechen, die Gründung der eigenen Institution wurde nun aber den normannischen Herrschern zugewiesen.39 Insofern zeigt sich hier deutlich eine Offenheit des Inneren, des kollektiven Gedächtnisses der Klostergemeinschaft gegenüber äußeren, politischen Einflüssen. Zugleich waren die griechischen Klöster jedoch auch Ankerpunkte einer weiterhin starken griechischsprachigen Bevölkerung und in ihr tief verwurzelt. Die Klöster dienten somit auch – möglicherweise aber eben nicht intendiert! – dazu, die normannische Herrschaft in der Breite Süditaliens zu verankern. Darüber hinaus entstand hier in Süditalien aber auch eine interessante Mischform: Klosterverbände, die sich ganz in die lateinische Hierarchie integrierten und sich dem Papsttum unterordneten, jedoch weiterhin lebhafte Kontakte in den byzantinischen Raum pflegten. Der Abt Bartholomäus von S. Maria del Patir bei Rossano reiste etwa im 12. Jahrhundert nach Byzanz und auf den Berg Athos und brachte mehrere Handschriften in sein Heimatkloster.40 Und auch auf den Herrscherhof hatte die Stärkung des griechischen Elements und die Blüte des orthodoxen Mönchtums wohl Auswirkungen: Noch unter Roger II. dominierte am Hof eine griechische Gruppe, wie auch in der Grafschaft KalabrienSizilien die einheimischen Beamten weiterhin für die Verwaltung zuständig blieben.41 Zwar nahm mit der Gründung des Königreichs die kulturelle Dominanz der

38 Codice Diplomatico di S. Maria di Tremiti (1005–1237), hrsg. v. Armando Petrucci (Fonti per la storia d’Italia 98), 3 Bde., Rom 1960, S. 212f., Nr. 69. 39 Francesco Panarelli, Aspekte der ethnischen Vielfalt im Mönchtum des normannischen Süditalien, in: Uwe Israel (Hg.), Vita communis und ethnische Vielfalt. Multinational zusammengesetzte Klöster im Mittelalter. Akten des internationalen Studientags vom 26. Januar 2005 im Deutschen Historischen Institut in Rom (Vita regularis 29), Berlin 2006, S. 179–204, hier S. 183–185. 40 Mario Re, Sul viaggio di Bartolomeo da Simeri a Costantinopoli, in: Rivista di studi bizantini e ­neoellenici 34 (1997), S. 71–76; Gastone Breccia, Alle origini del Patir. Ancora sul viaggio di Bartolomeo da Simeri a Costantinopoli, in: Rivista di studi bizantini e neoellenici 35 (1998), S. 37–43. 41 Vgl. hierzu wie zum Kontext Hubert Houben, Roger II. von Sizilien. Herrscher zwischen Orient und Okzident, 2. Aufl. Darmstadt 2010. S. 149–162.





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griechischen Bevölkerung ab. In der Region blieb das Griechische jedoch weiterhin tief verwurzelt.42 Auch die latinisierten Beamten traten mitunter am Ende ihrer Kar­ riere als Mönche in griechische Klöster ein oder gründeten auf ihren Besitzungen entsprechende Institutionen. Vera von Falkenhausen bilanziert: „Überhaupt war wohl der religiöse Ritus das entscheidende Element, das der griechischen Bevölkerungsgruppe ihre Identität erhielt.“43 Trotz aller Kontakte in das byzantinische Reich wurden die Griechen Süditaliens aber von vielen literarischen Entwicklungen der Komnenenzeit abgeschnitten: In Süditalien gab es keine griechische Geschichtsschreibung mehr und keine Preisreden auf den Herrscher – die ‚Verkirchlichung‘ der byzantinischen Identität sollte in Süditalien zeitlich bereits vor dem byzantinischen Reich selbst erfolgen. Homiletik und Hagiographie standen im Mittelpunkt des literarischen Schaffens, keine spitz­findige Theologie.44 Viele der griechischen Mönche waren allerdings hochgebildet und in ihrem vorherigen Leben Lehrer für Philosophie und Rhetorik. Griechische Mönche übersetzten bereits zu normannischer Zeit wichtige Werke aus dem Griechischen oder Arabischen ins Lateinische. Hier ist etwa an Nikolaos von Otranto zu denken, den späteren Abt Nektarios von Casole, der – auch dies bezeichnend für die Verbindung von griechischem Mönchtum und lateinischer Kirchenhierarchie – auf Anregung des Erzbischofs Wilhelm von Otranto arbeitete.45 Eine dritte Dimension des Verhältnisses von griechischem Mönchtum und normannischen Herrschern wird beim Blick auf den äußersten Süden deutlich: Im Gegensatz zu Kalabrien und der Basilikata wurden in Südapulien und auf Sizilien neben lateinischen auch griechische Klöster neu gegründet – etwa in der Nähe von Otranto die Abtei S. Nicola di Casole.46 Die stärkste Zunahme von griechischen Klöstern hatte die Insel Sizilien zu verzeichnen, „so daß der Eindruck einer vorwiegend auf die Förderung des griechischen Mönchtums ausgerichteten normannischen Klosterpolitik auf Sizilien entstehen kann“.47 Die kalabresischen Mönche stellten nicht nur das Personal für die Klostergründungen auf Sizilien, mit den süditalienischen Religiosen kamen auch Codices, die das geistige Leben befruchteten.48 Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass die neu

42 von Falkenhausen (Anm. 24), S. 239f. 43 Ebd., S. 241. 44 Ebd., S. 244. 45 Johannes M. Hoeck u. Raymond J. Loenertz, Nikolaos-Nektarios von Otranto, Abt von Casole. Beiträge zur Geschichte der ost-westlichen Beziehungen unter Innozenz III. und Friedrich II. (Studia patristica et Byzantina 11), Ettal 1965, S. 25–29 (zum Lebenslauf), 74–82 (zu den Übersetzungen). 46 Theo Kölzer, Zur Geschichte des Klosters S. Nicola di Casole, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 65 (1985), S. 418–426. 47 Houben (Anm. 32), S. 35. 48 Vera von Falkenhausen, Il monachesimo greco in Sicilia, in: Cosimo Damiano Fonseca (Hg.), La Sicilia rupestre nel contesto delle civiltà mediterranee. Atti dei sesto Convegno internazionale di



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gegründeten griechischen Klöster zwar zahlreich, aber meist sehr klein waren, die lateinischen Abteien hingegen nicht zahlreich, aber von beachtlicher Größe. Allerdings wurden unter Roger II. auch bedeutende Institutionen gegründet wie etwa das Kloster S. Salvatore de Messina, das zum Zentrum einer Art Klosterverband wurde, der sich über Sizilien und Kalabrien erstreckte; der Abt erhielt den Titel eines Archimandriten. Diese Gründung ist wahrscheinlich Ausdruck der Bemühungen Rogers – oder vielmehr seines griechischen Beraterstabs – um die Bewahrung der griechischen Kultur und klösterlichen Infrastruktur.49 Für die Herrschaftserfassung und Rechristianisierung des eroberten Gebiets gewann nämlich nicht nur das Personalreservoir der lateinischen Abteien überragende Bedeutung: Missioniert wurde auf Sizilien unter der Ägide franko-normannischer Bischöfe bei starkem Engagement griechischer Kleriker und Mönche.50 Bedeutend ist, dass die sizilischen Araber offensichtlich eher die orthodoxe als die lateinische Form des Christentums annahmen.51 Die griechischen Klöster hatten sich in die Herrschaftskonfiguration unter den normannischen Herrschern – zum Teil wohl schmerzlich – eingepasst, sich im Äuße­ ren umorientiert, den identitären Kern im Inneren aber beibehalten können. Hierdurch konnten sie beiden Seiten – Griechen und ‚Franken‘ – Raum bieten und als integrierende Kontaktstellen dienen.

6 Die benediktinischen Klöster Richten wir unseren Blick aber auf die lateinischen Klöster. Allgemein kann man wohl davon ausgehen, dass mittlere und größere Abteien die Schwierigkeiten der normannischen Herrschaftsbildung besser überstanden haben als kleinere. Mit der Stabilisierung der Herrschaft begann dann auch eine Blüte des benediktinischen Mönchtums, die allerdings immer wieder auch von Rückschlägen begleitet wurde. Die Abtei Montecassino stand stets im Spannungsfeld ihrer Eigenschaft als Reichskloster und ihrer faktischen engen Verbindung zu ihren Schutzherren, den Herzögen von Benevent und den Fürsten von Capua. Auch mit den Normannen stand die Abtei anfangs in einem durchaus konfliktgeprägten Verhältnis.52 Zwar war es auch normannischen Schenkungen zu verdanken, dass Montecassino im 11. Jahrhundert dem Höhepunkt seiner Machtstellung zustrebte. Der Hauptgrund lag jedoch in

studio sulla civiltà rupestre (Catania-Pantalica-Ispica, 7–12 settembre 1981), Università degli Studi di Lecce, Dipartimento di Scienze Storiche e Sociali (Saggi e Ricerche 18), Galatina 1986, S. 135–174, hier S. 170–174. 49 von Falkenhausen, I monasteri (Anm. 26), S. 214–217. 50 von Falkenhausen (Anm. 24), S. 238. 51 Jeremy Johns, The Greek Church and the Conversion of the Muslims in Norman Sicily, in: Byzantinische Forschungen 21 (1995), S. 133–157, hier S. 144–153. 52 Houben (Anm. 32), S. 16f.





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der als vorbildlich angesehenen Lebensweise der benediktinischen Mönche, mithin in ‚inneren Faktoren‘. Im frühen 12. Jahrhundert führten dann jedoch Änderungen im ‚Außenbereich‘ – des politischen Umfeldes Süditaliens und der Beziehungen zur Papstkirche – dazu, dass die Abtei unter Druck geriet.53 In diesen Entwicklungstendenzen steht Montecassino stellvertretend für viele Benediktinerklöster des nörd­ lichen Süd­italiens. Auch die Abtei S. Maria di Tremiti zog zunächst Nutzen aus der normannischen Eroberung: Sie erhielt nicht nur Schenkungen durch die neuen Herren, sondern auch durch den lokalen Adel, der so seinen Besitz vor Begehrlichkeiten schützen wollte. Die massiven Einwirkungen durch Reformbestrebungen aus Montecassino führten dann jedoch zu erheblichen inneren Schwierigkeiten.54 Hin­ gegen blieb das Kloster Cava bei Salerno nicht nur unbehelligt, sondern erfreute sich auch der Förderung durch die normannischen Herrscher und konnte seinen Besitz in Kampanien, Kalabrien und Apulien mehren.55 Anders sah die Situation aus, wenn man noch weiter südlich vordrang. Hier wird auch die Rolle benediktinischer Klöster als Kontakträume deutlich. Ich will in diesem Zusammenhang nicht in extenso auf die erste durch die Normannen bei Melfi gegründete bedeutende Abtei SS. Trinità di Venosa eingehen. Das Kloster fand an anderer Stelle eingehende Behandlung.56 Hier fanden Mönche aus der Normandie eine neue Heimat. Sie brachten von dort auch ihre eigenen Traditionen und Gewohnheiten mit, die sie – streng auf die normannische Dynastie ausgerichtet – auch zulasten einer Integration in ihr griechisches Umfeld aufrecht erhielten.57 Ebenso waren es Normannen, die der Abtei S. Michele/SS. Trinità di Mileto Schenkungen machten, keine Angehörigen der lokalen Bevölkerung; mit Abt Bartolomeos von S. Maria del Patir (bei Rossano) kam es zu Auseinandersetzungen. Hubert Houben bilanziert: „Die lateinischen Benediktinerklöster normannischer Gründung oder Prägung blieben in der stark vom griechisch-byzantinischen Mönchtum geprägten, vorwiegend griechischsprachigen Gesellschaft Kalabriens ein fremdes Element und hatten daher auf die Dauer wenig Erfolg.“58 Großen Erfolg fand hingegen eine klösterliche Organisationsform, deren innere Konfiguration und deren Beziehung zur Außenwelt sich besser als das traditionelle benediktinische Mönchtum in die griechischen Traditionen einfügten: der durch

53 Vgl. zur Geschichte Montecassinos Heinrich Dormeier, Montecassino und die Laien im 11. und 12. Jahrhundert (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 27), Stuttgart 1979, insb. S. 1–20; grundsätzlich Walter Pohl, Werkstätte der Erinnerung. Montecassino und die Gestaltung der langobardischen Vergangenheit (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 39), Wien, München 2001. 54 Houben (Anm. 32), S. 28–30. 55 Ebd., S. 27. 56 Vgl. Houben (Anm. 32). 57 Panarelli (Anm. 39), S. 188f. 58 Houben (Anm. 32), S. 41f., das Zitat auf S. 42.



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Bruno von Köln gegründete Kartäuserorden. Stellvertretend kann hier die Kartause S. Maria di Turri genannt werden.59 Besser waren auch jene Benediktinerabteien aufgestellt, die – wie S. Michele di Montescaglioso (Provinz Matera) – in einem durch Griechen und Lateiner bzw. Langobarden gemischt besiedelten Gebiet gegründet worden waren.60 In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts nahm die religiöse Ausstrahlung der lateinischen Klöster im normannischen Königreich offensichtlich generell ab: Die Schenkungen von Laien gingen zurück, die Abteien dienten auch nicht mehr als Personalreservoir für die Bistümer.61 Die Regierung Rogers II. brachte auch manche Belastungen, indem der König schonungslos die Ressourcen der Abteien für seine kriegerische Politik heranzog.62 Die starke Stellung der normannischen Könige in der sizilischen Kirche blieb im klösterlichen Bereich auch in anderer Hinsicht nicht ohne Wirkung: Sie beanspruchten die Kontrolle über die Abtwahlen in den bedeutenden Klöstern.63 Die Abtei Monreale wurde 1183 zu einem Erzbistum erhoben; der Abt-Erzbischof wurde durch die Verleihung von großen Ländereien mit überwiegend arabisch-muslimischer Bevölkerung zu einer Art Vorkämpfer der intensivierten Mis­ sionsbestrebungen, die nun in einem Klima religiöser Verhärtung stattfanden.64 Diese Verhärtung bekamen auch die orthodoxen Christen zu spüren.

59 Vgl. von Falkenhausen, Il popolamento (Anm. 26), S. 57. 60  Houben (Anm. 32), S. 42. 61   Ebd., S. 52. 62   Vgl. etwa für die Plünderungen Rogers in Montecassino Annales Casinenses a. 1000–1212, hrsg. v. Georg Heinrich Pertz (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores in folio 19), Hannover 1866, S. 303–320, hier S. 310: Thaesaurum huius loci omnem cum tabula ante altare tollit, praeter crucem maiorem cum cyburio et tribus tabulis altaris. Vgl. auch die Chronik von Montecassino, hrsg. v. Hartmut Hoffmann (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores in folio 34), Hannover 1980, S. 561 (IV 99): Nos vero prefatam visionem pertractantes atque in memoriam retinentes iam pene totam impletam esse videmus, quando fere omnem huius loci thesaurum Rogerii regis factione sublatum esse videmus. 63 Horst Enzensberger, Der „böse“ und der „gute“ Wilhelm. Zur Kirchenpolitik der normannischen Könige von Sizilien nach dem Vertrag von Benevent (1156), in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 36 (1980), S. 385–432, hier S. 402–412. 64 Hubert Houben, Die Tolerierung Andersgläubiger im normannisch-staufischen Süditalien, in: Odilo Engels u. Peter Schreiner (Hgg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposion des Mediävistenverbandes (Köln, 10.–13. März 1991), Sigmaringen 1993, S. 75–87, hier S. 81f.





Die Klöster Süditaliens als Begegnungsräume zwischen West und Ost 

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7 Das Schwinden der griechischen Klosterlandschaften Auch zu Zeiten Friedrichs II., 150 Jahre nach der normannischen Eroberung, war die griechische Sprache in Kalabrien und Sizilien weit verbreitet. In monastischen Skriptorien wurden noch immer theologische und liturgische Texte abgeschrieben. Bis 1250 kam es dann aber zu einem erheblichen Einbruch der Kontinuität.65 Dieser Befund erscheint umso überraschender, als die Zeit Friedrichs II. als eine der letzten Blüten der griechischen Kultur im lateinischen Europa gilt.66 Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es keine Hinweise auf eine besondere Förderung der Griechen durch Friedrich gibt. Ja, Friedrich könnte durch sein – wohl vor allem für den griechischen Klerus verheerendes – Verbot für Priester, das Notarenamt auszuüben, nicht unerheblich zur Erwerbsminderung des griechischen Klerus und einem abnehmenden Interesse an griechischer Bildung beigetragen haben. Hinzu trat, dass sich auch in Süditalien die höhere Bildung von den Klöstern zu den Universitäten verschob – und hier wurde auf Latein unterrichtet. Im Laufe der Zeit kam es – bedingt durch die zunehmende Latinisierung – zu einem intellektuellen Aderlass des süditalienischen Griechentums.67 Rufen wir uns die große Bedeutung der griechischen Klöster für die Aufrecht­ erhaltung der griechischen Kultur ins Gedächtnis, so muss es auch im monastischen Bereich wohl zu nicht unerheblichen Umbrüchen gekommen sein. Bereits bis 1100 hatten viele griechische Klöster auf dem Festland enorme Nachwuchsprobleme.68 Sicherlich gilt es aber auch zu berücksichtigen, dass 1204 mit der Eroberung Kon­ stantinopels die eigentlich bereits faktisch unabhängigen Griechen Süditaliens ihres ideellen Zentrums beraubt wurden.69 Gerade die dort feststellbare rigide Politik der römischen Kirche in Bezug auf Theologie, Liturgie und Kanonistik sollte ebenso Auswirkungen auf die orthodoxen Christen Süditaliens haben. Erst mit der Gründung des lateinischen Kaiserreichs war die Kurie mit den Feinheiten der orthodoxen Dogmatik und ihren Unterschieden zu den lateinischen Überzeugungen wirklich vertraut geworden.70 Zwar erkannte Innozenz IV. die griechische Prägung der Bistümer

65 André Jacob, Culture grecque et manuscrits en Terre d’Otrante, in: Atti del III° congresso Internazionale di Studi Salentini e del Io Congresso Storico di Terra d’Otranto, Lecce 22–25 ottobre 1976, Lecce 1980, S. 53–77; von Falkenhausen (Anm. 24), S. 247. 66 Vgl. Michael B. Wellas, Griechisches aus dem Umkreis Friedrichs II. (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 33), München 1983. 67 Vgl. von Falkenhausen (Anm. 24), S. 254–257. 68 Herde (Anm. 29), S. 223. 69 Vgl. Stefan Burkhardt, Mediterranes Kaisertum und imperiale Ordnungen. Das Lateinische Kaiserreich von Konstantinopel (Europa im Mittelalter 25), Berlin 2014. 70 Herde (Anm. 29), S. 224.



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 Stefan Burkhardt

Crotone und Gerace an.71 Noch kam es zu freundschaftlichen, ‚kollegialen‘ Beziehungen zwischen orthodoxen Mönchen, Zisterziensern und Franziskanern. Aber bereits 1231 dekretierte Papst Gregor IX. die Ungültigkeit der griechischen Taufformel.72 Diese Änderung des päpstlichen Verhaltens bedrohte die labile Situation der griechischen Klöster gleich mehrfach: Die Eingriffe in liturgische Formeln hatten nicht nur negative Folgen für den Kernbestand des ‚Inneren‘ der orthodoxen Klöster, sondern führten auch zu Verwerfungen ihrer Beziehung zur Außenwelt. Zum einen waren die Griechen – wie bereits dargestellt – wohl besonders ‚staatstragend‘ und vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen Friedrichs II. mit den Päpsten vielleicht auch deshalb ein bevorzugtes Ziel päpstlicher Maßnahmen; zum anderen zeitigten die liturgischen Vereinheitlichungstendenzen auch negative Auswirkungen auf die Identität der orthodoxen Christen vor Ort, drohten also das fördernde Milieu der Klöster auszutrocknen. Die Rolle der griechischen Klöster als Kontakträume war essentiell bedroht. Bald schon waren es nicht mehr die Klöster, die in der Terra d’Otranto jahrhundertelang als Kontinuitätsträger fungiert hatten, sondern Kleriker, die griechische Handschriften sammelten und kopierten. 73 Mit den sterbenden griechischen Klosterlandschaften wurde der Süden ein Stück ärmer.

71 Vgl. von Falkenhausen (Anm. 24), S. 255, in Auswertung von Norbert Kamp, Kirche und Monarchie, Bd. 1, 2 (Münstersche Mittelalter-Schriften 10), München 1975, S. 958–963, 971–973. 72 Thomas Hofmann, Papsttum und griechische Kirche in Süditalien in nachnormannischer Zeit (13.–15. Jahrhundert). Ein Beitrag zur Geschichte Süditaliens im Hoch- und Spätmittelalter, Diss. Würzburg 1994, S. 81f. 73 von Falkenhausen (Anm. 24), S. 261.



Margit Mersch (Kassel)

Zyperns Mendikanten zwischen den Konfessionen Abstract: Im spätmittelalterlichen Zypern, wo eine multikonfessionelle und transkulturelle Bevölkerung unter der Herrschaft der ursprünglich französischen Lusignan lebte, spielten die Mitglieder der vier großen Mendikantenorden, der Dominikaner, Franziskaner, Karmeliter und Augustiner-Eremiten, eine bedeutende Rolle als Seelsorger der lateinischen Christen sowie als Beichtväter, Berater und Diplomaten im Dienste der Könige. Zugleich erwarteten die Päpste wie auch die Ordensoberen und Ordensgelehrten, dass die Brüder die Missionierung der ‚griechischen Schismatiker‘ durchführten. Dieser Aufgabe widmeten sich jedoch offensichtlich ausschließlich auswärtige Prediger, die zeitweilig als päpstliche Legaten, Missionare oder Prälaten nach Zypern kamen. Des Öfteren kam es aufgrund ihres provokanten Vorgehens gegen die nicht-lateinischen Christen der Insel zu Eklats oder gar Aufständen. Demgegenüber scheinen sich die lokalen, aus der Region stammenden oder langfristig in Zypern lebenden Mendikanten nicht an Bekehrungsversuchen beteiligt zu haben. Vielmehr sprechen einige Indizien für gute Kontakte zur griechischen Bevölkerung. Zurückzuführen ist diese Konstellation auf die pragmatische Toleranz der Lusignankönige gegenüber ihren orthodoxen und ostkirchlichen Untertanen, die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts zu einer im lateinischen Osten singulären rechtlich abgesicherten, friedlichen Koexistenz der verschiedenen Glaubensgruppen geführt hatte und der sich die vom König großzügig geförderten Mendikanten anschlossen, während die auswärtigen Prediger ihre Missionsabsichten oft auf königliche Intervention hin aufgeben mussten.

Zypern, die östlichste Insel des Mittelmeeres, hat bis 1191 zum Byzantinischen Reich gehört. Dann wurde sie quasi en passant von Richard Löwenherz erobert, der auf dem Weg zum Dritten Kreuzzug nach Syrien war. Er verkaufte die Insel im folgenden Jahr an Guido von Lusignan, der kurz zuvor als König von Jerusalem in der Schlacht bei Hattin sein Reich an Saladin verloren hatte. In der Folge installierten die ursprünglich aus Frankreich stammenden Lusignan in Zypern ein etwa 300 Jahre währendes fränkisches Königreich mit einer äußerst heterogenen Bevölkerungsstruktur. Neben einer Mehrheit von Griechisch sprechenden byzantinisch-orthodoxen Christen existierten mehr oder weniger große Minderheiten von Aramäisch, Arabisch oder Armenisch sprechenden Christen (Nestorianer, Jakobiten, Maroniten und Armenier) sowie von Juden, Muslimen und hauptsächlich Französisch sprechenden römisch-lateinischen

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 Margit Mersch

Christen. Hinzu kamen vor allem in den Hafenstädten Fernhandelsleute aus dem gesamten Mittelmeerraum und Heiliges-Land-Pilger.1 Der zypriotische Dominikaner Stefan von Lusignan beschrieb in seiner 1572 verfassten Chronik Zyperns die komplexe religiöse Situation auf der Insel. Ein Kapitel über die diversen christlichen Konfessionen, namentlich „Griechen, Inder, Nestorianer, Jacobiten, Maroniten, Kopten, Armenier“ und lateinische Christen, schloss er mit den Worten: „Und es ist eine wirklich schöne Sache, so viele Gruppen von Christen mit unterschiedlichen Riten und Namen zu sehen.“2 Damit entsprach er freilich bei weitem nicht der offiziellen Position seines Ordens, der die nicht-lateinischen beziehungsweise nicht den Primat des Papstes anerkennenden Christen immer noch als Schismatiker auffasste. Vielmehr handelte es sich bei Stefan de Lusignans Freude über christliche Vielfalt wohl um die spezifisch zypriotische Perspektive eines Dominikanerbruders, der aus der ehemaligen königlichen Familie stammte. Die Dominikaner und Franziskaner kamen bereits in den 1220er Jahren nach Zypern, seit den 1230er Jahren wechselten Karmeliter vom benachbarten syrischen Festland auf die Insel, und am Ende des 13. Jahrhunderts erreichten auch die Augustiner-Eremiten Zypern.3 Die vier großen Bettelorden spielten mit ihren Niederlassungen in Nikosia, Famagusta, Limassol und Paphos eine wichtige Rolle innerhalb der römisch-lateinischen Bevölkerungsgruppe. Sie sicherten die Seelsorge in dem mit lateinischen Säkularklerikern unterbesetzten Land, ihre Kirchen waren bevorzugte Begräbnisstätten der Laien, und die Konvente stellten mit ihren Schulen und Ordensstudia die Hauptbildungsinstitutionen. Des Öfteren kamen Ordensgelehrte aus dem Westen für einige Monate als Lehrer in die zypriotischen Konvente, darunter wohl um 1267/68 Thomas von Aquin, der seinen Traktat über königliche Herrschaft dem König (Hugo II. oder III.) von Zypern widmete.4 Zudem wurden die Bischofssitze des Landes häufig mit Dominikanern und Franziskanern besetzt. Und schließlich waren Brüder aus allen vier Orden stets am Königshof zu finden, als Beichtväter, Berater und Übersetzer. Besonders enge persönliche Beziehungen bestanden offensichtlich zwischen den Königen und

1 Zur politischen Geschichte Zyperns unter den Lusignan vgl. Peter W. Edbury, The Kingdom of ­Cyprus and the Crusades, 1191–1374, Cambridge 1991. Einen profunden Überblick über die soziokulturellen Verhältnisse der Lusignan-Zeit bietet der Sammelband von Angel Nicolaou-Konnari u. Chris Schabel (Hgg.), Cyprus. Society and Culture 1191–1374 (The Medieval Mediterranean 58), Leiden 2005. 2 Steffano Lusignano, Chorograffia et breve historia universale dell’isola di Cipro, Bologna 1573, S. 35: Si che l’è vna bella cosa da vedere tante sette e generationi di Christiani di diuersi riti & nome 3 Vgl. Nicholas Coureas, The Latin Church in Cyprus 1195–1312, Aldershot 1997, S. 205–241; ders., The Latin Church in Cyprus 1313–1378 (Texts and Studies in the History of Cyprus 65), Nikosia 2010, S. 325–389. 4 Thomas von Aquin, De regno ad regem Cypri, hrsg. v. Hyacinthe-Françoise Dondaine, in: Sancti Thomae de Aquino Opera omnia, Bd. 42: Compendium Theologiae. De Articulis Fidei et Ecclesiae Sacramentis, Rom 1979, S. 447–471. Zu den Entstehungsumständen des unvollendeten Traktats vgl. Gilles Grivaud, Literature, in: Nicolaou-Konnari u. Schabel (Anm. 1), S. 219–284, hier S. 247–249.





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den Dominikanern, deren Kirche in Nikosia als Begräbniskirche der Lusignans diente. Heinrich II. (1285–1324) hingegen bevorzugte die Franziskaner, die allerdings unter seinem Nachfolger Hugo IV. (1324–1359) zwischen die Fronten einer ‚innerfamiliären‘ Auseinandersetzung gerieten und die königliche Gunst wieder verloren.5 König Peter I. (1358–1369) wiederum war mit dem Karmeliter und Papstlegaten Peter Thomas eng befreundet und förderte auch diverse zypriotische Karmeliter­brüder.6 Ob die Mendikantenkonvente Zyperns darüber hinaus auch eine bedeutende Rolle für die nicht-lateinischen Bevölkerungsgruppen spielten, ist demgegenüber nicht so leicht festzustellen. Das mag ein wenig verwundern, gelten die Bettel­ordensbrüder doch noch immer als eifrige Missionare im Auftrag der Päpste und ihrer eigenen Orden.7 Gerade im östlichen Mittelmeerraum, im Schnittfeld von Heiden­mission, SchismatikerBekämpfung und Kirchenunionsbestrebungen mit heftigen theologischen Disputen um

5 Zu dem Streit zwischen Hugo IV. und seinem Schwiegersohn Ferdinand von Mallorca und der damit einhergehenden Entfremdung des Königs von den Franziskanern, die er der Komplizenschaft mit Ferdinand bezichtigte, vgl. Chris Schabel, Hugh the Just. The further Rehabilitation of King Hugh IV Lusignan of Cyprus, in: Επετηρίδα του Κέντρου Επιστημονικών Ερευνών (Annual Review of the Cyprus Research Centre) 29 (2004), S. 123–152, hier bes. S. 150; ND in: ders. (Hg.), Greeks, Latins, and the Church in early Frankish Cyprus (Variorum collected studies series 949), Farnham 2010, S. 123–152. 6 So geht es zumindest aus der Biographie Peters hervor, die kurz nach seinem Tod von dem ­königlichen Kanzler und Schüler Peters, Philippe de Mézières, verfasst wurde; vgl. The Life of Saint Peter Thomas by Philippe de Mézières, hrsg. v. Joachim Smet (Textus et studia historica Carmeli­ tana 2), Rom 1954. Anscheinend verband die beiden eine gewisse Kreuzzugsbegeisterung. So machte sich König Peter I. 1362 zusammen mit Peter Thomas und Philippe de Mézières auf den Weg nach Westeuropa, um für einen neuen Kreuzzug zu werben, den der König 1365 gegen Alexandria realisieren konnte. Vgl. auch unten bei Anm. 16. 7 Missionsaufrufe der Päpste und Missionsbeschlüsse der Ordenskapitel von Dominikanern und Franziskanern sind v. a. von der älteren Ordensgeschichtsschreibung zusammengestellt worden; vgl. Berthold Altaner, Die Dominikanermissionen des 13. Jahrhunderts. Forschungen zur Geschichte der kirchlichen Unionen und der Mohammedaner- und Heidenmission des Mittelalters (Breslauer Stu­ dien zur historischen Theologie 3), Breslau 1924; Girolamo Golubovich, Biblioteca bio-bibliografica della Terra Santa e dell’Oriente francescano, 6 Bände, Quaracchi 1906–1927; Odolphus van der Vat, Die Anfänge der Franziskanermissionen und ihre Weiterentwicklung im nahen Orient und in den mohammedanischen Ländern während des 13. Jahrhunderts (Missionswissenschaftliche Studien N. S. 6), Werl 1934. Hier wie auch in jüngeren Publikationen liegen die Schwerpunkte der Darstellung einerseits auf Papstbullen und -briefen und andererseits auf der Rolle einzelner herausgehobener Mendikantenbrüder als päpstliche Legaten und Inquisitoren; vgl. etwa Michael Angold, Greeks and Latins after 1204. The Perspective of Exile, in: Benjamin Arbel, Bernard Hamilton u. David Jacoby (Hgg.), Latins and Greeks in the Eastern Mediterranean after 1204, London 1989, S. 63–86; Claudine Delacroix-Besnier, Les Dominicains et la Chrétienté grecque aux XIVe et XVe Siècles (Collection de L’École française de Rome 237), Rom 1997. Einen neuen Ansatz verfolgt hingegen Robin J. Vose, Dominicans, Muslims and Jews in the Medieval Crown of Aragon (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought Series 4, 74), Cambridge 2009, der für die mittelalterliche Dominikanermission postuliert, dass sie insgesamt nur aus den schriftlichen Auseinandersetzungen einiger Ordensgelehrter bestand, die eher zum Schutz der lateinischen Christen vor Häresien als zur Bekehrung von Ungläubigen verfasst wurden, und keinerlei Verankerung in der Praxis besaß.



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 Margit Mersch

filioque und Azymen ist eine nennenswerte Beteiligung der Bettelorden zu erwarten.8 Deshalb will ich im Folgenden versuchen, die Positionen der zypriotischen Mendikanten gegenüber den nicht-lateinischen Konfessionen zu beleuchten. Im Gegensatz zu anderen ehemaligen Gebieten des byzantinischen Reichs, die nach 1204 unter lateinische Herrschaft kamen, wie zum Beispiel Kreta, Achaia oder Euböa, blieb in Zypern die Hierarchie des orthodoxen Klerus weitgehend intakt und die griechisch-orthodoxen wie auch die syrisch-ostkirchlichen Christen – Armenier ebenso wie Nestorianer, Jakobiten und Maroniten – genossen zumeist den Schutz, wenn nicht gar die tatkräftige Unterstützung des Königshauses.9 Die ursprünglich 14 Bischofssitze der seit dem Konzil von Ephesus 431 autokephalen griechisch-orthodoxen Kirche Zyperns durften zunächst unbehelligt weiterbestehen, wurden aber 1222 auf vier reduziert und mit dem gesamten griechischen Klerus dem lateinischen Erzbischof und seinen Suffraganen unterstellt.10 Die daraufhin entstandenen Streitigkeiten zwischen lateinischen und griechischen Geistlichen konnten 1260 durch einen Kompromiss geschlichtet werden, dem beide Seiten zustimmten und der in der ,Bulla Cypria‘ Papst Alexanders IV. zum Ausdruck kam: Die griechische Kirche Zyperns wurde unter die Jurisdiktion des Papstes und des lateinischen Erzbischofs von Nikosia gestellt, erhielt jedoch weitreichende Autonomie in inneren Angelegenheiten.11 Damit war ein Status transkonfessioneller Koexistenz erreicht, der im lateinischen Osten zu dieser Zeit singulär war und für den Rest des Spätmittelalters zu überwiegend friedlichen und sogar kooperativen Beziehungen zwischen Lateinern und Nicht-Lateinern in Zypern führte. Dennoch traten im 14. Jahrhundert vereinzelt ‚griechisch-lateinische‘ Spannungen auf. Sie werden von der jüngeren Forschung auf die Tätigkeit päpstlicher Legaten

8 Hier wäre insbesondere an die Bulle ‚Cum hora decima‘ Gregors IX. von 1235 zu denken, die als päpstliche Grundlegung der Missionarsfunktion der Bettelorden gilt – adressiert an den Dominikaner Wilhelm von Montferrat, der als Diplomat und Prediger bei den Nestorianern und Jakobiten weilte, geschrieben in Erwartung der Union von West- und Ostkirche, in apokalyptischen Worten zur Bekehrung der plenitudo gentium aufrufend und zugleich allgemein genug gehalten, um sowohl innere als auch äußere Mission zu kennzeichnen. Vgl. Jean Richard, La papauté et les Missions d’Orient au Moyen Age, Rom 1977, S. 56f.; Altaner (Anm. 7), S. 4. 9 Vgl. Coureas, Latin Church ... 1195–1312 (Anm. 3), S. 251–317; ders., Latin Church ... 1313–1378 (Anm. 3), S. 425–493; Schabel, Religion, in: Nicolaou-Konnari u. Schabel (Anm. 1), S. 157–218. 10 Über die Hintergründe des Pakts zwischen Königin Alice, den fränkischen Adligen und dem ­lateinischen Erzbischof zur Reduzierung der griechischen Bistümer vgl. Chris Schabel, The Myth of Queen Alice and the Subjugation of the Greek Clergy on Cyprus, in: Sabine Fourrier u. Gilles Grivaud (Hgg.), Identités croisées en un milieu méditerranéen, le cas de Chypre (Publications des Universités de Rouen et du Havre 391), Mont-Saint-Aignan 2006, S. 257–277. 11 Die Papstbulle ist jetzt in neuer kritischer Edition zugänglich in: Bullarium Cyprium. Papal Letters concerning Cyprus 1196–1261, hrsg. v. Chris Schabel (Texts and Studies in the History of Cyprus 64, 1), Nikosia 2010, S. 502–515.





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zurückgeführt, die mit der lokalen Situation und der ,Bulla Cypria‘ nicht vertraut gewesen seien.12 So bekamen 1313 die vier griechischen Bischöfe Schwierigkeiten mit dem Franziskaner Peter von Pleine Chassaigne, der als päpstlicher Legat und Patriarch von Jerusalem mit Sitz in Nikosia während der Abwesenheit des lateinischen Erzbischofs dessen Amtsgeschäfte führte.13 Er erließ nicht nur neue Bestimmungen, die über die Regelungen der ,Bulla Cypria‘ hinausgingen, sondern monierte auch Details der orthodoxen liturgischen Praxis. Insbesondere die Verehrung der Hostie vor der Konsekration beziehungsweise Wandlung hielt er für Idolatrie. Während die Bischöfe deswegen vor dem Legaten vorstellig werden wollten, entwickelte sich der Protest der griechischen Laien in den Straßen Nikosias zu einem Angriff auf den Erzbischofspalast. Peter von Pleine Chassaigne ließ daraufhin die griechischen Bischöfe ohne ordentlichen Prozess für mehrere Jahre einkerkern und ihre Bistümer unter Zwangsverwaltung stellen. Nach der Abreise des franziskanischen Legaten aus Zypern gelang es den Bischöfen, eine Petition an Papst Johannes XXII. zu senden. Der Papst ordnete ihre Freilassung an und erklärte zudem die Bestimmungen, die sein Legat in Zypern erlassen hatte, für ungültig, da sie der ,Bulla Cypria‘ widersprachen.14 Ein anderer päpstlicher Legat, der französische Karmeliter Peter Thomas, kam 1360 zum wiederholten Male nach Zypern.15 Er war einer der wichtigsten Diplomaten im Dienste der Kurie, mit weitreichenden rechtlichen Vollmachten für den östlichen Mittelmeerraum ausgestattet, und sollte in jenem Jahr den neuen zypriotischen König Peter I. zum König von Jerusalem krönen. Er nutzte seinen Aufenthalt aber auch zu einem – gelinde gesagt – unsensiblen Missionierungsversuch beim griechischen Klerus und löste damit einen nicht geringen Eklat aus. Über die Ereignisse in Nikosia sind wir durch zwei zeitnahe Chroniken unterrichtet, eine lateinische aus der Feder Philippes de Mézières, Kanzler des Königs von Zypern und Hagiograph von Peter Thomas, und eine griechische von dem zyprischen Chronisten Leontios Makhairas.16

12 Vgl. z. B. Schabel (Anm. 9), S. 207. 13 Über den französischen Franziskaner vgl. Girolamo Golubovich, Fr. Pietro da Pleine-Chassaigne, O.F.M. Legato apostolico in Oriente e Patriarca di Gerusalemme (1309–1319), in: Archivum Franciscanum Historicum 9 (1916), S. 51–90. 14 Siehe den Brief Johannes’ XXII. vom 30. Januar 1321 in Acta Ioannis XXII, hrsg. v. Aloysius L. Tautu (Pontificia Commissio ad redigendum codicem iuris canonici orientalis 7, 2), Rom 1952, Nr. 19. Zu den Vorgängen in Nikosia vgl. Coureas, Latin Church ... 1313–1378 (Anm. 3), S. 426–431. 15 Über die Karriere des Karmeliterprokurators Peter Thomas und seine Aufenthalte im östlichen Mittelmeerraum als Papstlegat, Bischof von Patti und Lipari sowie Koroni, Erzbischof von Kreta und Lateinischer Patriarch von Jerusalem vgl. die Einleitung von Smet in ‚Life of Saint Peter Thomas‘ (Anm. 6), S. 27–33. 16 Ebd., S. 92–94; Leontios Makairas, Recital Concerning the Sweet Land of Cyprus Entitled ‚Chronicle‘, hrsg. v. Richard M. Dawkins, Oxford 1932, S. 91.



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Die beiden Berichte stimmen darin überein, dass Peter Thomas eine Reihe griechischer Kleriker (episcopum maiorem Graecorum et omnes sacerdotes eius)17 in der Kathedrale von Nikosia versammelte und die Türen von innen verschloss. Sodann begann er, den orthodoxen Priestern die Heilige Schrift auszulegen, ihnen ihre theologischen Fehler vorzuhalten und sie zum Gehorsam gegenüber dem wahren Glauben der römischen Kirche aufzurufen. Es handelte sich also um einen Akt der Schismatikerbekehrung, wie ihn sich die Kurie nach ihrem Verständnis von Kirchenunion vorstellte und von den Bettelorden einforderte.18 Erwartungsgemäß ging Peter Thomas’ Versuch nicht ohne Widerspruch von statten und bald war ein lautstarker Disput im Gange, der durch die verschlossenen Türen der Kathedrale nach außen drang und dort eine besorgte Volksmenge zusammenströmen ließ. Mit dem Ruf moriatur legatus („Der Legat soll sterben!“) versuchte man die Türen in Brand zu stecken und die Kirche zu stürmen. Laut Philippe de Mézières hat Peter Thomas mit großer Tapferkeit und Entschlossenheit zum Martyrium dem Ansturm standgehalten, bis endlich der Bruder des Königs mit einer Gruppe bewaffneter Krieger zur Rettung des künftigen Heiligen heraneilte. Leontios Makhairas hingegen gibt eine abweichende Version des Geschehens, indem er berichtet, dass der Bruder des Königs mit seinen Kriegern die eingeschlossenen griechischen Priester befreit habe, und dass der König den Legaten zu sich bringen ließ und ihn aufforderte die Insel zu verlassen. Zudem habe der König dem Papst geschrieben, dass er in Zukunft nicht mehr solche Unruhestifter nach Zypern schicken möge. Freilich verdienen beide Chronisten mit Skepsis behandelt zu werden, da sie ihre mehr oder weniger guten Gründe zur Voreingenommenheit hatten. Philippe de Mézières schrieb seinen Bericht unmittelbar nach dem Tod Peter Thomas’ 1366 mit dem Ziel, die Heiligsprechung des Karmeliters zu unterstützen (und die Wallfahrt zu seinem Sterbeort im Karmeliterkonvent von Famagusta zu befördern), weshalb ihm an einer Betonung der lebensgefährlichen Situation durch die dramatische Rettungsaktion gelegen war. Leontios Makhairas wiederum versuchte der schwierigen Aufgabe gerecht zu werden, als orthodoxer Grieche und zyprischer Patriot die Lusignan-Herrschaft zu verteidigen, und mag deshalb bemüht gewesen sein, die Rolle des Königs

17 ‚Life of Saint Peter Thomas‘ (Anm. 6), S. 92. Philippe de Mézières stellt an derselben Stelle klar, dass episcopi et sacerdotes Graeci et omnis populus Graecus Cypriensis schismatici erant. Interessanterweise spricht er bei der protestierenden Volksmenge nicht vom populus Graecus, sondern mehrfach vom totus populus Nicosiensis. Man wird dennoch diese Formulierung nicht als Beleg für eine Beteiligung lateinischer Christen werten können. 18 Papst Innozenz VI. etwa hat Peter Thomas in einer Reihe von Briefen, die auf den 11. Mai 1359 datiert sind, explizit dazu aufgefordert, das Kreuz zu predigen, Kreuzzugsablässe zu verkünden und in Zypern, Kreta, Rhodos, Achaia und Konstantinopel gegen Häretiker und Schismatiker vorzugehen. Bullarium Carmelitanum, Bd. 1, hrsg. v. E. Monsignano, Rom 1715, S. 101–105; vgl. Coureas, Latin Church ... 1313–1378 (Anm. 3), S. 373.





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als Beschützer seiner griechischen Untertanen hervorzuheben.19 Insbesondere die Freundschaft zwischen Peter Thomas und König Peter I. beziehungsweise ihre in die Zeit dieser Ereignisse fallende Kreuzzugsallianz lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass der König den Legaten des Landes verwiesen haben soll. Möglicherweise hat er aber dennoch den Karmeliter wegen seines radikalen, den sozialen Frieden ge­fährdenden Missionseifers zurechtgewiesen. So vermutet Nicholas Coureas, dass der König tatsächlich einen Beschwerdebrief an den Papst geschickt hat, weil der Legat vermutlich ohne königliche Erlaubnis gepredigt hatte.20 Justine Andrews hingegen nimmt an, dass es hauptsächlich die unsensible Ortswahl für den Bekehrungsversuch, nämlich die Krönungskathedrale desselben Jahres war, die den König erzürnte und so hart gegen Thomas durchgreifen ließ.21 Weitere Vorstöße dieser Art sind von Peter Thomas auf jeden Fall für Zypern nicht überliefert. Es kamen aber nicht nur päpstliche Legaten, sondern auch andere Auswärtige als Unruhestifter in Frage. Der berühmte katalanische Prediger und Franziskaner-Tertiar Raymundus Llullus22 machte 1301 auf seiner Missionsreise von Mallorca nach Syrien in Zypern Halt und war offensichtlich voller Tatendrang. In der ‚Vita Beati Raimundi Lulli‘ von ca. 1311 wird berichtet: Und so wandte er sich an den König von Zypern und flehte ihn leidenschaftlich an, er möge einige Ungläubige und Schismatiker – nämlich Jakobiten, Nestorianer und Maroniten – zwingen, zu seiner Predigt und seinem Streitgespräch zu kommen; zugleich bat er inständig darum, dass, nachdem er dort getan habe, was möglich sei, der König von Zypern ihn nach Soldanum ­schicken möge, das muslimisch ist, und auch zum König von Ägypten und Syrien, damit er ihnen den heiligen katholischen Glauben darlege. Der König aber wollte von all dem nichts wissen.23

19 Zu Makhairas’ Selbstverständnis vgl. Angel Nicolaou-Konnari, Apologists or Critics? The Reign of Peter I of Lusignan (1359–1369) Viewed by Philippe de Mezieres (1327–1405) and Leontios Makhairas (ca. 1360/80–after 1432), in: Renate Blumenfeld-Kosinski u. Kiril Petkov (Hgg.), Philippe de Mézières and his Age. Piety and Politics in the Fourteenth Century (The Medieval Mediterranean 91), Leiden 2012, S. 359–402; Teresa Shawcross, The chronicle of Morea. Historiography in Crusader Greece, Oxford 2009, S. 224. 20 Coureas, Latin Church ... 1313–1378 (Anm. 3), S. 449. 21 Justine M. Andrews, Santa Sophia in Nicosia: The Sculpture of the Western Portals and its Reception, in: Comitatus. A Journal of Medieval and Renaissance Studies 30 (1999), S. 63–90, hier S. 67, URL http://repositories.cdlib.org/cmrs/comitatus/vol30/iss1/art4 (einges. 7.6.2014). 22 Raymundus Llullus war einer der bedeutendsten Verfechter der Missionierung von Schismatikern und Muslimen durch Wort und Beispiel (verbo et exemplo), das heißt insbesondere durch volkssprachliche Predigten. Sein Vorschlag, an allen wichtigen Universitäten ein Griechisch- und Arabischstudium einzurichten, wurde 1311 beim Konzil von Vienne aufgegriffen und als ‚Sprachenkanon‘ (Hebräisch, Griechisch, Arabisch, Chaldäisch) an den Universitäten Rom, Paris, Oxford, Bologna und Salamanca realisiert. Vgl. Wolfram E. Platzeck, Raimund Lull. Sein Leben, seine Werke, die Grundlagen seines Denkens, Bd. 1, Düsseldorf 1962, S. 127. 23 Vita Beati Raymundi Lulli, c. 5: Accessit itaque Raymundus ad Regem Cypri, affectu multo supplicans ei, quatenus quosdam infideles atque schismaticos, videlicet Jacobinos, Nestorinos, Momminas coarctaret ad suam praedicationem nec non disputationem venire; cum hoc etiam supplicavit, quod



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Die strikte Ablehnungshaltung des Herrschers ist umso bemerkenswerter, da es sich um König Heinrich II. handelte, der ansonsten einer der größten Förderer der zypriotischen Franziskaner war. Vermutlich befürchtete er aber zu Recht, dass solch aggressive Zwangspredigten in den ausgesprochen multiethnischen und multireligiö­sen Stadtgesellschaften soziale Unruhen auslösen und den regen internationalen Handel in Famagusta und Nikosia stören könnten.24 Bei den bisher hier vorgestellten auswärtigen Unruhestiftern handelte es sich jeweils um Mitglieder der Bettelorden – bezeichnenderweise, möchte man in Anbetracht der den Mendikanten zugeschriebenen Rolle als Träger der päpstlichen Mission annehmen. Aber die Verhältnisse in Zypern stellen sich doch wesentlich komplexer dar und lassen eine Generalisierung wie ‚die Bettelorden‘ kaum zu. Zu unterscheiden wäre nicht nur zwischen den einzelnen Orden, wenn es um das Verhältnis zur ‚griechischen’ Bevölkerung geht, sondern auch innerhalb der Orden zwischen einzelnen Personen sowie zwischen ihrer Eigenschaft als Bettelordensbrüder und ihren anderweitigen Rollen als Legaten, Bischöfe oder Erzbischöfe. Vor einer einseitigen Sichtweise mögen die folgenden Beispiele warnen. Zwischen 1292 und 1295 visitierte der lateinische Bischof Berard von Limassol, ein Dominikaner, das griechische Bistum Lefkara. In absichtlich provokanter Weise befragte er den orthodoxen Bischof Matthäus und sein Priesterkollegium, was sie von der lateinischen Art der Kommunion in Form ungesäuerten Brotes (Azymen) hielten. Die griechischen Kleriker zogen es vor zu schweigen. Es war durchaus vernünftig, dass sie sich weigerten, diesen brenzligen Hauptstreitpunkt zwischen den beiden Konfessionen zu thematisieren, um weder den lateinischen Vorgesetzten beleidigen noch die eigenen Überzeugungen verraten zu müssen. Der Dominikaner aber ließ nicht locker und verhängte schließlich, da die griechischen Kleriker ebenfalls hartnäckig blieben, die Exkommunikation über den griechischen Bischof Matthäus. Insgesamt ergingen an Matthäus drei Exkommunikationen und eine Aufforderung zur Stellungnahme vor dem Patriarchen von Jerusalem, die der Bischof allesamt ignorierte, weshalb Berard von Limassol die Absetzung und Gefangennahme des Griechen anordnete. Der aber konnte sich dieser Gefahr entziehen, indem er Schutz in Nikosia suchte und dort die Unterstützung des lateinischen Erzbischofs fand. Es handelte sich dabei um den Franziskaner Johannes von Ancona, der sich schlichtweg weigerte, den angeklagten Griechen an seinen dominikanischen Suffragan in Limassol auszuliefern.

facte eo, quod ibi posset, ad aedificationem praedictorum Rex Cypri vellet eum mittere ad Soldanum, qui saracenus est, atque ad regem Aegypti et Syriae, ut eos sancta fide catholica informaret. Rex autem di iis omnibus non curavit; hier zitiert nach Golubovich (Anm. 7), Bd. 1, S. 368f. 24 Zu Zwangspredigten der Mendikanten (im westlichen Mittelmeerraum) vgl. Benjamin Scheller, Die Bettelorden und die Juden. Mission, Inquisition und Konversion im Südwesteuropa des 13. Jahrhunderts: ein Vergleich, in: Wolfgang Huschner u. Frank Rexroth (Hgg.), Gestiftete Zukunft im ­mittelalterlichen Europa. Festschrift für Michael Borgolte zum 60. Geburtstag, Berlin 2008, S. 89–121.





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Der genaue Ausgang der Sache ist nicht bekannt, doch scheint sich Berard von Limassol nicht durchgesetzt zu haben, obwohl Papst Bonifatius VIII. auf seine Bitte hin in einem Brief dazu aufforderte, gegen die orthodoxen Kleriker vorzugehen und sie mit Unterstützung des Königs und Adels von Zypern gefangen zu nehmen.25 Offensichtlich bestanden schon zuvor persönliche Animositäten zwischen dem dominikanischen Bischof Berard und dem franziskanischen Erzbischof Johannes, worauf die Tatsache hindeutet, dass Berard seinen Vorgesetzten überging, als er den Fall des griechischen Bischofs an den Patriarchen von Jerusalem weiterleitete. Möglicherweise wusste er im Vorhinein, dass der Erzbischof ihn nicht in seinem Kampf gegen Matthäus unterstützen würde.26 Die unterschiedlichen Herangehensweisen des dominikanischen Bischofs von Limassol und des franziskanischen Erzbischofs von Nikosia können insofern mit einer Konkurrenzsituation zwischen den beiden Orden in Zusammenhang gestanden haben. Gleichwohl muss vorerst offen bleiben, ob diese Konkurrenz mit einer prinzipiell unterschiedlichen Position der beiden Orden zu den orthodoxen Zyprioten einherging. Konkurrenzprobleme zwischen Franziskanern und Dominikanern in Zypern sind auch für die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts anzunehmen, als nacheinander die Dominikaner Raymond Bequini (gest. 1328) und Peter de Palude (1328–1342), die an der Pariser Universität die Franziskaner bekämpft hatten, zum Patriarchen von Jerusalem (mit Sitz in Nikosia) und Bischof von Limassol ernannt wurden. In der visio-beatifica-Kontroverse um Papst Johannes XXII. spielten zypriotische Mendikanten eine große Rolle: Der franziskanische Erzbischof von Nikosia, Elias de Nabinaux (1332– 1342), hielt zu Papst Johannes XXII., mit dem er in lebenslanger Freundschaft verbunden war, während der dominikanische Bischof von Limassol, Peter de Palude, an der Spitze jener Liste von Theologen stand, die 1334 gegen den Papst Stellung bezogen.27 Andererseits fanden in jener Zeit in Zypern schwere Auseinandersetzungen innerhalb der Orden statt: etwa 1330 die Inquisition gegen den dominikanischen Provinzvikar des Heiligen Landes, Peter de Castro, durchgeführt von den beiden Dominikanern Peter de Palude und Markus von Famagusta und Tortosa, oder die Spaltung zwischen Franziskaner-Konventualen in Paphos und Spiritualen in Famagusta, die in den Streit zwischen Hugo IV. und Ferdinand hineinspielte, während Elias de Nabinaux sein Amt

25 Vgl. auch für die Quellennachweise Coureas, Latin Church ... 1195–1312 (Anm. 3), S. 311f. Zur Auseinandersetzung um Azymen und Enzymen im zypriotischen Kontext vgl. Chris Schabel, Martyrs and Heretics, Intolerance of Intolerance. The Execution of Thirteen Monks in Cyprus in 1231, in: ders., Greeks (Anm. 5), III, S. 1–33. 26 So Coureas, Latin Church ... 1195–1312 (Anm. 3), S. 312. 27 Vgl. Chris Schabel, Elias of Nabinaux, Archbishop of Nicosia, and the Intellectual History of Later Medieval Cyprus, in: Cahiers de l‘Institut du Moyen-Âge Grec et Latin 68 (1998), S. 35–52, hier S. 49.



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als Erzbischof von Nikosia von Papst Johannes XXII. als Belohnung für seine Erfolge gegen französische Spirituale erhalten hatte.28 Derselbe Franziskaner, Elias de Nabinaux, war es auch, der die dogmatischen Streitigkeiten zwischen Lateinern und Nicht-Lateinern auf Dauer beendete. Als Erzbischof von Nikosia berief er zum 17. Januar 1340 eine Synode aller christlichen Glaubensgruppen in Zypern ein – eine in der zypriotischen Geschichte einmalige transkonfessionelle Versammlung von mehr als 100 Prälaten, bei der mindestens drei Dolmetscher die Verhandlungen ins Griechische, Arabische und Armenische übersetzten.29 Offensichtlich konnte der Franziskaner die nicht-lateinischen Kleriker überzeugen, die lateinischen Glaubensgrundsätze (inklusive filioque und Azymen) offiziell anzuerkennen. Im Gegenzug erhielten sie das Versprechen, dass sie ihre eigenen Riten unbehelligt befolgen dürften. Diese Einigung auf gegenseitige Toleranz, die auf den Kompromissbestimmungen der ,Bulla Cypria‘ von 1260 aufbauen konnte, war zugleich Bedingung und Folge einer sich im 14. und 15. Jahrhundert stetig verstärkenden Assimilation zwischen lateinischen und griechischen Laien auf dem Gebiet der Frömmigkeitskultur. Der Besuch griechischer und anderer nicht-lateinischer Kirchen durch lateinische Christen und vice versa die Teilnahme orthodoxer und ostkirchlicher Christen an lateinischen Gottesdiensten wie auch wechselseitige Übernahmen spezifisch lateinischer und griechischer Memorialriten sind mehrfach belegt, ebenso wie steigende Zahlen an transkonfessionellen Eheschließungen.30 Diese Entwicklung im Laiensektor scheint von den Bettelorden – trotz der erwähnten Maßnahmen einzelner auswärtiger Brüder – weder in nennenswertem Maße verhindert noch gefördert worden zu sein. Gefördert wurde die transkonfessionelle Vermischung allerdings vom Königshaus, insbesondere seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, als Königin Alice und König Hugo IV. in geradezu propagandistischer Weise den griechischen Kult des „wahren Kreuzes von Tochni“ übernahmen und auch für die Franken hoffähig machten.31

28 Vgl. Christina Kaoulla u. Chris Schabel, The Inquisition Against Peter de Castro, Vicar of the Dominican Province of the Holy Land in Nicosia, Cyprus, 1330, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 77 (2007), S. 121–198; Schabel (Anm. 5), S. 150. 29 Concilium Nicosiense, in: The Synodicum Nicosiense and Other Documents ot the Latin Church of Cyprus, 1196–1373, hrsg. v. Chris Schabel (Texts and Studies in the History of Cyprus 39), Nikosia 2001, S. 248–267. Die Zeugenliste auf S. 258 nennt neben mehreren Personen mit Griechisch- und ­Lateinkenntnissen auch drei spezielle Übersetzer: Iacobo de sancto Prospero, canonico Nimociensi et dicti domini archiepiscopi officiali, inter Latinos et Graecos, et Ioanne Mahe presbytero, Tarsensi canonico, inter Latinos et Maronitas, Iacobitas et Nestorinos, et presbytero Petro de Ascalona, inter eosdem Latinos et Armenos interpretibus. 30 Vgl. demnächst Margit Mersch, Churches as ‚Shared Spaces‘ of Latin and Orthodox Christians in the Eastern Mediterranean (14th–15th Cent.), in: Georg Christ u. a. (Hgg.), Union in Separation. Diasporas and Diasporic Groups in the Wider Mediterranean (1100–1800), Rom 2015 (im Druck). 31 Vgl. Gilles Grivaud, Les Lusignan patrons d’églises grècques, in: Astérios Argyriou (Hg.), L’Église dans le monde byzantin de la IVe croisade (1204) à la chute de Constantinople (1453). VIIIe Symposion





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In auffälligem Gegensatz zu den Berichten über außerordentliche Missionsaktivitäten ‚fremder‘ Mendikanten in Zypern stehen Meldungen über die lokalen Mendikantenkonvente beziehungsweise die Einstellungen der Brüder vor Ort gegenüber der nicht-lateinischen Bevölkerung. Missionierungsversuche sind von ihnen überhaupt nicht überliefert. Allerdings berichten die schriftlichen Quellen insgesamt kaum etwas über das normale Konventsleben und über die weniger berühmten Brüder. Einige von ihnen werden in Urkunden, Verträgen und Edikten als Zeugen genannt, des Öfteren mit dem qualifizierenden Zusatz, dass sie des Griechischen mächtig seien. Die überlieferten Namensformen deuten dabei auf diverse Herkunftsregionen in Frankreich, Italien und Spanien und vereinzelt auch auf eine deutsche, byzantinische oder syrische Herkunft der Brüder hin, womit freilich noch nicht gesagt ist, ob die Brüder direkt aus diesen Ländern kamen oder ihre Familien bereits seit längerer Zeit in Zypern (und vielleicht vor 1291 in Syrien-Palästina) heimisch waren. Selten lässt sich Genaueres sagen, wie in dem Fall eines Angehörigen der griechisch-zypriotischen Mistachiel-Familie, der 1367 als Dominikanerbruder überliefert ist.32 Es handelt sich aber insgesamt um so wenige Namensnennungen im Verhältnis zu den mutmaßlich hohen Brüderzahlen in Zypern, dass derzeit nicht zu entscheiden ist, in welchem Umfang die Konvente tatsächlich international besetzt waren, oder ob sich Herkunftsschwerpunkte in einzelnen Konventen gebildet hatten.33 Aufschluss über die Haltung der lokalen Mendikanten zur nicht-lateinischen Bevölkerung vermögen auch Nachrichten über griechische Familiaren und Benefaktoren zu geben. Die Beschäftigung von griechischen Laien als Dienstpersonal der Konvente scheint in Mendikantenniederlassungen ebenso üblich gewesen zu sein wie beim Säkularklerus, obwohl

Byzantinon; Strasbourg, 7, 8 et 9 novembre 2002 (Byzantinische Forschungen 29), Amsterdam 2007, S. 257–270, hier S. 267. 32 Wipertus H. Rudt-de-Collenberg, Etudes de prosopographie généalogique des Chypriotes mentionnés dans les registres du Vatican, 1378–1471, in: Μελέται καì ὑπομνήματα (Studies and Records of the Department of Scientific Studies and Publications of the Archbishop Makarios III Founda­tion) 1 (1984), S. 521–678, hier S. 658. Benjamin Arbel, The Cypriot Nobility from the Fourteenth to the Sixteenth Century. A New Interpretation, in: ders., Bernard Hamilton u. David Jacoby (Hgg.), L ­ atins and Greeks in the Eastern Mediterranean after 1204, London 1989, S. 175–197, hier S. 181, hält diese Erwähnung eines Mistachiel als Dominikaner offensichtlich für ein Argument gegen die angenommene griechische Herkunft der Familie, obwohl er selbst konzediert, dass umgekehrt ein griechischer Kirchenmann für die ethnische Herkunft des Familiennamens, den er (im 16. Jh.) trägt, keine Aus­sagekraft habe, da z. B. auch ein Abkömmling der königlichen Lusignan-Familie, ein Bruder des ­Dominikaners und Historiographen Stefan Lusignan, Basilianer Mönch wurde. 33 Zeugenlisten wie jene aus dem Vertrag zwischen Zypern und Genua vom 21. Februar 1338 mit den Brüdern Jakob der Normanne, Johannes der Deutsche, Friedrich von Monte Vico und Raymund von Albaterra aus dem Franziskanerkonvent in Nikosia deuten allerdings auf eine internationale Zusammensetzung hin, jedoch handelte es sich auch hier um höherrangige Prälaten (Protektor des Ordens, Guardian oder Lektor), während von den schätzungsweise 50 bis 100 weiteren Brüdern der Niederlassung nichts bekannt ist; vgl. Coureas, Latin Church ... 1313–1378 (Anm. 3), S. 331.



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die allgemeine Quellenarmut für diese Personengruppe zahlenmäßige Angaben nicht zulässt. Immerhin ist im Prozess gegen den Dominikaner Peter de Castro im Jahr 1330 ein griechischer Diener des Dominikanerkonvents von Nikosia, ein gewisser Carnavabus, als Zeuge aufgeführt, der diverse Dialoge der Prälaten zitieren konnte und zum Teil sehr guten Einblick in die Interna des Konvents hatte.34 Zudem ist für das Jahr 1323 belegt, dass der Franziskaner Aimery de Nabinaux als Bischof von Paphos griechische Kleriker als Notare (tabellionati) beschäftigte.35 Lateinisch-griechisch gemischt waren interessanterweise auch die Bestattungen beziehungsweise Gedenksteine in den Bettelordenskirchen. So sind zur selben Zeit, da der Karmeliter Peter Thomas mit seinem radikalen Versuch einer Schismatikerbekehrung in Nikosia einen Eklat erzeugte, für die Karmeliterkirche der Stadt unter den 35 überlieferten Grabplatten acht Grabmale für Griechen und Syrer nachgewiesen.36 Die Kirche barg zudem die Familienkapelle der Syncliticos, einer griechischorthodoxen Adelsfamilie syrischer Abstammung,37 sodass anzunehmen ist, dass die Karmeliter in Nikosia enge Beziehungen zumindest zu einigen griechischen Familien pflegten. Möglicherweise war dies mit ein Grund dafür, dass Peter Thomas es vorzog, während seiner Aufenthalte in Zypern nicht im Konvent der Hauptstadt, sondern im Karmeliter-Konvent von Famagusta zu wohnen. Auch die Augustinerkirche in Nikosia hatte mehrere griechische Grabsteine aufzuweisen.38 Ob es sich dabei um konvertierte Griechen handelte, ist nicht sicher zu sagen. Einem erzbischöflichen Edikt von 1251 zufolge scheint es auf jeden Fall bereits im 13. Jahrhundert vorgekommen zu sein, dass Griechen sich zwar in einer lateinischen Kirche in Nikosia firmen und trauen ließen, dann aber weiterhin dem griechischen Ritus folgten und eventuell ihre Kinder nach griechischem Ritus taufen ließen.39 Stifterbilder auf Ikonen und in Wandmalereien des 15. Jahrhunderts legen zudem nahe, dass innerhalb einer Familie lateinische und griechische Riten nebeneinander befolgt wurden.40 Insofern können die griechischen Grabmäler an Mendi-

34 Kaoulla u. Schabel (Anm. 28), S. 130–132. 35 Coureas, Latin Church ... 1313–1378 (Anm. 3), S. 196. 36 Tankerville J. Chamberlayne, Lacrimae Nicossienses. Recueil d’inscriptions funéraires la plupart françaises existant encore dans l‘île de Chypre suivi d’un armorial chypriote et d’une Description Topogr. et Archéol. de la ville de Nicosie, Bd. 1, Paris 1894, S. 119–135. 37 Chris Schabel, Frankish & Venetian Nicosia 1191–1570. Ecclesiastical Monuments and Topo­graphy, in: Demetrios Michaelides (Hg.), Historic Nicosia, Nikosia 2012, S. 152–199, hier S. 192. Zu den Syncliticos vgl. Angel Nicolaou-Konnari, Greeks, in: dies. u. Schabel (Anm. 1), S. 13–62, hier S. 49–51. 38 Brunhilde Imhaus (Hg.), Lacrimae Cypriae. Les armes de Chypre. Ou recueil des inscriptions lapidaires pour la plupart funéraires de la période franque et vénitienne de l’île de Chypre, Bd. 1, Nikosia 2004, S. 247–258, Fiches Nr. 481, 482, 490, 497, 500. 39 Constitutio recitat anno MCCLI, in: ‚Synodicum Nicosiense‘ (Anm. 29), S. 154 (cap. 6). 40 Neben den (unpublizierten) Ikonen Nr. 8 und 14 im Byzantinischen Museum, Erzbischof ­Makharius III. Stiftung, in Nikosia sei das besonders anschauliche Beispiel der griechisch-lateinischen Stifter­familie Zacharias im Deesis-Fresko der Theotokos bzw. Erzengel Michael Kirche in Galata er-





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kantenkirchen durchaus auch ein Zeichen für die gegenseitige Wertschätzung ohne Mission und Konversion sein. Von besonderer Aussagekraft über das Verhältnis zwischen zypriotischen Mendikanten und nicht-lateinischen Christen sind Beschwerden über die ‚Laxheit‘ der Brüder gegenüber Schismatikern, die im 14. und 15. Jahrhundert von Amtsträgern der römisch-katholischen Kirche geäußert wurden. Der Ulmer Dominikaner Felix Fabri etwa, der Zypern im Rahmen seiner zweiten Reise ins Heilige Land 1483/84 besuchte, berichtet über seine Ordensbrüder in Nikosia: In dieser Stadt gibt es zudem einen schönen Konvent unseres Ordens; es ist der letzte Predigerkonvent gegen Osten und liegt innerhalb der Burg über dem Fluss; ein zyprischer König brachte den Brüdern nämlich so viel Zuneigung entgegen, dass er sie an keinem anderen Ort haben wollte als innerhalb jener Burg [...]. Jener Konvent hat die schönsten Gärten im Kreuzgang und auf der Rückseite und ist insgesamt ein prächtiger Ort. Aber wie die Brüder sind und wie viele und wie eifrig im Mönchs­leben und wie gelehrt, wie sorgfältig im Gottesdienst, wie gastfreundlich und barmherzig sie sind – ach, wenn ich es doch nicht wüsste, denn das was ich weiß, schäme ich mich aufzuschreiben. Es ist ja auch kein Wunder, dass der Glauben gering ist in jenen entfernten Gegenden, die niemals von den Praelaten visitiert werden, und wo die Brüder für ihre Fehler nicht zurechtgewiesen werden und vom schlechtem Beispiel der griechischen Priester korrumpiert werden, obwohl doch nur das Gegenteil geschehen sollte. Denn die Mendikanten sind an jene Orte geschickt worden, damit sie durch ihr Wort und Vorbild die Griechen geistlich erbauen und zum Gehorsam gegenüber der römischen Kirche führen. Alle Brüder jenes Konventes sind bärtig wie Griechen und haben einen weltlichen Prokurator, der jedem Bruder jeden Monat acht marcelli gibt, mit denen sich jeder kauft, was ihm gefällt; eine andere Versorgung des Konventes gibt es nicht.41

Laut Felix Fabri hatten also die Dominikaner in Zypern keineswegs nach Vorgabe des Ordens und des Papstes verbo et exemplo die Griechen missioniert und der römisch-

wähnt; vgl. Andreas Stylianou u. Judith A. Stylianou, The Painted Churches of Cyprus. Treasures of Byzantine Art, 2. Aufl. Nikosia 1997, S. 90–97. 41 Felix Fabri, Evagatorium in Terrae Sanctae, Arabiae et Egypti peregrinationem, Bd. 3, hrsg. v. Conrad Dieter Hassler (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 2), Stuttgart 1843, ND Innsbruck 2007, S. 234f.: In ea insuper urbe est conventus pulcher ordinis nostri, et est ultimus conventus Praedicatorum contra orientem situsque est in regio castello supra torrentem, siquidem rex quidam Cypri tanto ad fratres inclinabat affectu, ut noluerit eos habere locum nisi in ipso castello (…) habet enim conventus ille pulcherrimos hortos in ambitu et retro et est omnino pretiosus locus. Sed quales sint fratres et quanti et quam zelosi pro regulari vita et quam docti, quam diligentes im divinis officiis, quam hospitales et charitativi, ne dum nescio, sed ea quae scio scribere erubesco. Nec est mirum, si parva sit religio in illis locis remotissimis, quae a praelatis numquam visitantur, et fratres pro excessibus non corriguntur, et malo exemplo graecorum sacerdotum corrumpuntur, cum tamen modo contratio fieri deberet. Nam mendicantes ad illa loca sunt missi, ut verbo et exemplo Graecos aedificarent et eos in romanae ecclesiae obedientiam ducerent. Omnes fratres illius conventus sunt barbati, sicut graeci, et habent procuratorem saecularem, qui cuilibet fratri omni mense dat octo marcellos, de quibus sibi quilibet procurat hoc quod placet, alias provisio conventus est nulla.



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lateinischen Welt zugeführt, sondern sie hatten sich – ganz im Gegenteil – selbst den griechischen Sitten angepasst. Den Grund dafür sieht Fabri in der mangelnden Aufsicht durch die Ordenszentrale aufgrund der entfernten Lage Zyperns – ein Sachverhalt, der tatsächlich auch in den Generalkapitelakten aufscheint, die kaum einmal Visitatoren für die Provinzen Griechenland/Heiliges Land erwähnen, aber häufig den Kontrollverlust über die dortigen Provinziale und Prioren bemängeln.42 Felix Fabris Bericht reflektiert zudem die Königsnähe der Dominikaner und dürfte damit (implizit) einen weiteren Hintergrund der angepassten Haltung zypriotischer Mendikanten aufgespürt haben. Die meisten der Lusignan-Könige schätzten ihre Bettelordensbrüder als geistliche und politische Berater, aber sie hielten gar nichts von Missionsoder Bekehrungsversuchen, die den prekären Zustand sozialer Ruhe in der transkulturellen und multikonfessionellen Gesellschaft gefährdeten, wie die Reaktionen Heinrichs II. und Peters I. auf Zwangspredigten zeigen. Die auch mate­riell groß­zügige Unterstützung der zypriotischen Mendikantenniederlassungen durch die Könige vergalten ihnen die lokalen Brüder mit besonderer Treue, zu der wohl auch eine weitgehende Toleranz der nicht-lateinischen Christen gehörte. Auswärtige Ordensbrüder hin­gegen, die als Legaten, Missionare oder vom Papst eingesetzte Bischöfe nach Zypern kamen, mussten sich an diese besonderen Verhältnisse erst gewöhnen, was einigen (zum Beispiel Peter Thomas und Raymundus Lullus) deutlich schlechter gelang als anderen (etwa Johannes von Ancona). Die Päpste wie auch die Ordensoberen und Gelehrten der Bettelorden haben während des gesamten Spätmittelalters in zahlreichen Schriften, Reden und Rechtsdokumenten die angebliche Verwerflichkeit der orthodoxen und ostkirchlichen Kulte angeprangert und die Notwendigkeit betont, die so genannten Schismatiker zu bekehren und zur Unterordnung unter die römische Kirche zu zwingen. Doch scheint sich, analog zu den Erkenntnissen Robin Voses über die spanischen Mendikanten,43 auch für das östliche Mittelmeer der Verdacht zu bestätigen, dass die große Mis­

42 Vgl. dazu Coureas, Latin Church ... 1313–1378 (Anm. 3), S. 355–367. 43 Vose (Anm. 7), S. 59, über das grundlegende Missionskonzept der Dominikaner: „Proselytism among the infidel was ideally part of the Dominicans’ universal goal of saving souls, and it was ex­ plicitly advocated as a desirable vocation by leaders such as Humbert of Romans for a brief time in the mid-thirteenth century, but it was also understood to be an inherently very difficult and even a danger­ous task. Some friars, especially in the East but also in the western Mediterranean, might find ways to communicate with Muslims and/or Jews and eventually to invite their conversion. Their efforts would be more profitably expended, however, in a defensive posture as pastors and moral guides among Christians living in regions where non-Christian religious beliefs proliferated.“ Vgl. ebd., S. 251f.: „If Dominican friars had relatively few occasions to proceed against Jews or Muslims in the context of conversionary preaching or inquisitorial hearings, they did inevitably share space with non-Christian neighbors in the Crown of Aragon on a more or less regular basis. [...] Far from being constantly at odds with their Jewish and Muslim neighbors, or seeking ways to bring about their ­conversion, it seems that friars simply accepted these non-Christians’ presence as a normal and even a useful fact of life in the medieval Crown of Aragon.“





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sionsrhetorik der Ordenszentralen nicht unbedingt bis in die lokalen Niederlassungen durchdrang. In Zypern waren die Mendikanten vielmehr mit der lateinischen Seelsorge in den Städten und mit den geistlichen und diplomatischen Diensten am Königshof beschäftigt. Dabei scheint die pragmatische Toleranz der Herrscher gegenüber ihren multikonfessionellen Untertanen und die stetig wachsende Verflechtung lateinischer, griechischer und nahöstlicher Laienfrömmigkeit auf die Alltagspraxis der Bettelordensbrüder abgefärbt zu haben.



Julia Burkhardt (Heidelberg)

Allerchristlichste Könige und Mindere Brüder. Franziskanische Klöster als Begegnungsräume im angevinischen Königreich Ungarn Abstract: Im 14. Jahrhundert hatte sich das Königreich Ungarn fest im Gefüge der ‚christlichen Mächte‘ Europas verankert: Die angevinische Herrscherfamilie verfügte nicht nur über einflussreiche dynastische Verbindungen, sondern bemühte sich in Südosteuropa um eine politische Vorrangstellung und deren religiöse Begründung mit dem Argument der ‚Verteidigung des rechten Glaubens‘. Gleichsam am Schnittpunkt zwischen katholisch und orthodox geprägten Gebieten gelegen, stellte das Königreich Ungarn den idealen Ausgangspunkt für umfassende Missionsvorhaben in vermeintlich ‚häretische‘ Gebiete dar. Der von der Kurie mit der Mission beauftragte Orden der Franziskaner erfuhr hierbei nachhaltige Unterstützung durch die ungarischen Herrscher. Die wirkmächtige Verbindung der ungarischen Anjou und der Minderbrüder zeigte sich auch in anderen Bereichen (königliche Klosterpolitik, Ämtervergabe oder Memorialstiftung). Anhand ausgewählter Beispiele beleuchtet der Beitrag das Beziehungsgeflecht von franziskanischen Ordensangehörigen, Mitgliedern der angevinischen Herrscherfamilie sowie Vertretern der römischen Kirche zwischen 1308–1382.

Im ausgehenden 15. Jahrhundert veröffentlichte der italienische Dominikaner Petrus Ransanus, nachdem er als Legat Papst Innozenz’ VIII. für einige Jahre am Hof des ungarischen Königs Matthias „Corvinus“ gelebt hatte, mit seinen „Auszügen aus der ungarischen Geschichte“ (,Epithoma rerum hungararum‘) eine kurze Abhandlung über bedeutende Personen und Ereignisse in der Geschichte des ungarischen Königreichs. Im Mittelpunkt seines Werks stand die Frage, wie die Christenheit gegenüber jedweder Bedrohung zu verteidigen sei, und so vermag es kaum zu erstaunen, dass Ransanus ein besonderes Augenmerk auf die christlichen Tugenden und Dienste großer Herrscher und Persönlichkeiten legte. Über Karl I., der als erster Herrscher aus dem Hause der Anjou von 1308 bis 1342 das Königreich Ungarn regiert hatte, urteilte er beispielweise Folgendes: „Er lebte auf allerchristlichste Weise. Er war derart mit allen Tugenden ausgezeichnet, derer ein christlicher Mensch würdig ist, dass er in nicht nur mäßiger Weise unter allen Fürsten der Welt hervorleuchtete.“1 Karls Sohn

1 Petrus Ransanus, Epithoma rerum Hungaricarum, Id est Annalium Omnium Temporum liber primus et sexagesimus, hrsg. v. Peter Kulcsár (Bibliotheca Scriptorum Medii Recentisque Aevorum, ­Series Nova 2), Budapest 1977, Index XIX, S. 136: Vixit Christianissime, ideoque multis Christiano homine dignis virtutibus ornatus inter orbis principes non mediocriter enituit. Zu Petrus Ransanus vgl. Erzsébet Galántai, Über den Sprachgebrauch von Petrus Ransanus anhand seiner Epithoma rerum



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Ludwig I., ungarischer König von 1342–1382, wurde als ein Mensch „von allergrößtem Glauben“ gewürdigt, der viele heidnische Völker wie die Kumanen oder Bosnier zum christlichen Glauben (zurück)geführt habe.2 Mit dieser panegyrischen Beschreibung der ungarischen Herrscher als fromme Vorkämpfer und Verfechter des christlichen Glaubens griff Ransanus eine Vorstellung königlicher Herrschaft auf, die sich im 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Konfrontation mit nicht-christlichen Völkern herausgebildet hatte. Unter dem Eindruck der Mongoleninvasion der Jahre 1241 und 1242 hatte König Béla IV. gegenüber der päpstlichen Kurie mit dem Hinweis auf die Grenzlage Ungarns am Schnittpunkt von katholischer und byzantinischer Christenheit argumentiert, dass mit dem Schutz des ungarischen Königreichs auch die Verteidigung des Christentums verbunden sei. Diese Vorstellung einer territorial verstandenen Christenheit oder auch „frontier ideology“ (N. Berend) ermöglichte nicht nur die Stilisierung der ungarischen Könige als Verteidiger der Christenheit, sondern bildete zugleich die Grundlage für eine aktive und auch expansive Verteidigung des Königreiches.3 Analog zu ihrem Selbstbild eines unabhängig und eigenständig agierenden ‚christlichen Vorpostens‘ entwickelten die ungarischen Könige ‚Feindbilder‘ abtrünniger oder gar gottloser Fürsten, die sie gleichsam als Kontrastfolie je nach politischer Sach- und Koalitionslage den Potentaten der Region zuschrieben.4 Aber nicht nur gegenüber den benachbarten Herrschaftsgebieten, sondern auch in den königlich-päpstlichen Beziehungen erzeugte die Inanspruchnahme einer machtpolitischen und religiösen Vorrangstellung an der ‚Grenze der Christenheit‘ Reibungen.5 Hatten Kontroversen zwischen der Kurie und dem ungarischen Königshof Mitte des 13. Jahrhunderts noch vor allem die Frage

Hungararum, in: Rhoda Schnur (Hg.), Acta Conventus Neo-Latini Bonnensis. Proceedings of the Twelfth International Congress of Neo-Latin Studies, Bonn, 3.–9. August 2003 (Medieval and Renaissance Texts and Studies 315), Arizona 2006, S. 325–329. 2 Petrus Ransanus (Anm. 1), Index XX, S. 136f.: Fuit animi magnitudine religioneque atque aliis multis christiano principe dignis virtutibus parenti non modo simillimus: set etiam par […] Navavit et operam, ut Patareni Bosnensis natio abiecta execrabili illa Manicheorum haeresi, cui perdiu inhaeserant, ad fidei veritatem redierent. 3 Nora Berend, At the Gate of Christendom. Jews, Muslims and ,Pagans‘ in Medieval Hungary, c. 1000–c. 1300 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought), Cambridge 2001, bes. S. 163–189. 4 Enikő Csukovits, Zvíjajúci sa had a Satanov zbrojnoš. Obraz nepriatel’a v naráciách stredovekých uhorských král’ovských donácií [= Eine sich windende Schlange und Satans Knecht. Feindbilder in den Narrationen mittelalterlicher Schenkungsurkunden ungarischer Könige], in: Vladimír Segeš u. Božena Šed’ová (Hgg.), Miles semper honestus. Zborník štúdií vydaný pri príležitosti životného jubilea Vojtecha Dangla [= Sammelband anlässlich des Geburtstages von Vojtech Dangl], Bratislava 2007, S. 27–36. 5 Oliver Jens Schmitt u. Daniel Ursprung, Das Spätmittelalter in Südosteuropa, in: Konrad Clewing u. Oliver Jens Schmitt (Hgg.), Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2011, S. 142–213. Siehe außerdem Jürgen Schmitt, Die Balkanpolitik der Arpaden in den Jahren 1180–1241, in: Ungarn-Jahrbuch 17 (1989), S. 25–52.



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berührt, wie mit den Nicht-Christen, insbesondere aber den Kumanen im Königreich umzugehen war, so verbanden sie sich im späten 13. Jahrhundert mit grundlegenden Fragen nach politischer Souveränität sowie innenpolitischen Konflikten in Ungarn.6 Gleichzeitig fungierte das Königreich Ungarn als Ausgangspunkt für die Bemühungen der römischen Kurie um den Aufbau, die Erhaltung und den Ausbau römisch-christlicher Kirchenstrukturen im multireligiösen Südosten Europas. Eine entscheidende Rolle kam dabei den Bettelorden zu, zunächst den Dominikanern und später auch den Franziskanern, die im Auftrag der römischen Kurie umfassende Missionsvorhaben in vermeintlich ‚häretischen‘ Gebieten wie etwa Bosnien trugen. Besonders im 14. Jahrhundert erfuhren sie durch die ungarischen Könige nachhaltige Unter­stützung, die durch die Gründung oder Förderung verschiedener Klöster symbolträchtig die Ver­ ankerung ihrer Herrschaft im christlichen und mithin ‚rechten‘ Glauben zu untermauern suchten. Dieses Zusammenspiel aus territorialen Interessen, Bemühungen um kirchenpolitische Einflussnahme und schließlich individueller Spiritualität registrierte auch der Chronist Petrus Ransanus, als er in seinen „Auszügen aus der ungarischen Geschichte“ konkrete Beispiele für die Tugenden der angevinischen Herrscher Karl I. und Ludwig I. benannte: war Karl I. vor allem als Gründer und Förderer klösterlicher Einrichtungen hervorgetreten, zeichnete sich Ludwig I. zudem als tapferer Kriegsherr zum Wohl seines Reiches aus.7 Tatsächlich hatte Ludwig I. selbst seine Politik immer wieder in den Kontext der Verteidigung der Christenheit gegenüber Abweichlern, Falschgläubigen oder Heiden gestellt und sich als „wahrhaft katholischen Fürst und Eiferer der Kirche“ beschrieben.8 Solche Selbstzuschreibungen (und auch die analog verwendeten ‚Feindbilder‘) waren freilich programmatische Marken in politischen Auseinandersetzungen. Tatsächlich aber zeigten sich die ungarischen Könige und Königinnen des 14. Jahrhunderts als ausgesprochen stiftungs- und förderungsfreudig gegenüber klösterlichen und besonders franziskanischen Gemeinschaften: sie gründeten zahlreiche Klöster, unterstützten bereits existierende Konvente mit finanziellen Zuwendungen, versorgten sie mit Besitz oder bestimmten Rechten oder holten Mönche als Amtsträger an ihren Hof.9

6 Berend (Anm. 3), S. 183; siehe auch István Vásáry, Cumans and Tatars. Oriental Military in the PreOttoman Balkans, 1185–1365, Cambridge 2005. 7 Petrus Ransanus (Anm. 1), Index XIX, S. 136: [Karl] erexit aedem apud Lippam in honorem sancti Lodouici ordinis fratrum minorum. Constituit et ibidem coenobium, in quo eiusdem ordinis sacerdotes deo famularentur. Zu Lippa vgl. Abschnitt 2 dieses Beitrags. Über Ludwig heißt es ebd., Index XX, S. 136: paternum regnum et gloriam conservavit et auxit, bello et terribilis et fortunatissimus, pace mitissimus. 8 Vetera Monumenta Historica Hungariam Sacram Illustrantia, Bd. 2: Ab Innocentio pp. VI. usque ad Clementem pp. VII. 1352–1526, hrsg. v. Augustin Theiner, Rom 1860, S. 45f., Nr. 82. 9 Marie-Madeleine de Cevins u. László Koszta, Noblesse et ordres religieux en Hongrie sous les rois angevins (vers 1323–vers 1382), in: Noël Coulet u. Jean-Michel Matz (Hgg.), La Noblesse dans les territoires angevins à la fin du Moyen Âge. Actes du colloque international organisé par l’Université





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Vor dem Hintergrund des hier skizzierten Beziehungsgeflechts zwischen den angevinischen Königen Ungarns und Angehörigen bzw. Klöstern des Franziskanerordens fragt die folgende Darstellung nach der Bedeutung franziskanischer Klöster im Königreich Ungarn als ‚Begegnungsräumen‘ in einer religiös differenten Region. Anhand ausgewählter Beispiele werden dabei 1. Stiftungs- bzw. Förderungsmaßnahmen ungarischer Anjou-Könige zugunsten franziskanischer Klöster beschrieben, 2. die Bedeutung von Klöstern und Ordensheiligen für die Bewahrung dynastischer Ansprüche eruiert und schließlich 3. mittels der Bosnienmission des 14. Jahrhunderts ein Blick auf die Begegnung bzw. Konfrontation mit anderen Religionsformen geworfen.

1 Die ungarischen Anjou als Patrone und Mäzene von Klöstern Bereits im frühen 14. Jahrhundert, genauer: in der Herrschaftszeit Karls I. sprechen personelle Konstellationen für eine enge Bindung der ungarischen Anjou an den Orden der Minderbrüder. Karl I., der 1308 dem letzten Herrscher aus der männlichen Linie der Arpaden (Andreas III.) auf den Thron folgte, erwirkte die Anerkennung seines Königtums gegen den Widerstand zahlreicher ungarischer Magnaten auf dem zähen (und Jahrzehnte andauernden) Weg politischer Verhandlungen und militärischer Auseinandersetzungen.10 Zur Stabilisierung seiner Königsherrschaft besetzte er systematisch zahlreiche bedeutende politische Ämter mit getreuen Gefolgsleuten und erreichte die Vergabe wichtiger kirchlicher Würden an ‚königsnahe‘ Geistliche – unter ihnen verschiedentlich auch Mitglieder des Franziskanerordens.11 1317 und 1334 etwa setzte Papst Johannes XXII. auf dezidierten Wunsch des Königs hin zwei Franziskaner in bischöfliche Würden ein: Ladislaus von Jank wurde Erzbischof von Kalocsa und Vitus von Monteferro Bischof von Nyitra.12 Ganz konkret ließen sich die ungarischen

d’Angers. Angers-Saumur, 3–6 juin 1998 (Collection de l’École Française de Rome 275), Rom 2000, S. 586–606. 10 Vgl. hierzu Gyula Kristó, Les bases du pouvoir royal de Charles Ier en Hongrie, in: Coulet u. Matz (Anm. 9), S. 423–429 sowie Pál Engel, Az ország újraegyesítése. I. Károly küzdelmei az oligarchák ellen (1310–1323) [Die erneute Vereinigung des Landes. Die Kämpfe Karls I. gegen die Oligarchen 1310–1323], in: Enikő Csukovits (Hg.), Honor, vár, ispánság: Válogatott tanulmányok [Honor, Burg, Herrschaft: Ausgewählte Studien von Pál Engel], Budapest 2003, S. 320–408. 11 Pál Engel, The Realm of St Stephen. A History of Medieval Hungary 895–1526, hrsg. v. Andrew Ayton (International Library of Historical Studies 19), London 2001, S. 142f. 12 Codex diplomaticus Hungariae ecclesiasticus ac civilis, Bd. 8,2: Ab Anno Christi 1317–1325, hrsg. v. Georgius Fejér, Buda 1832, S. 86–88, Nr. 27: ad te, ordinem fratrum professum, […] quem etiam c­harissimus in Christo filius noster, rex Carolus Hungariae illustris, per suas litteras de praemissis et aliis multiplicibus probitatis documentis commendauit, direximus aciem mentis nostrae. Vgl. auch die Besetzung des Bistums Nitra mit Vitus de Monteferro, in: Codex diplomaticus Hungariae ecclesiasticus ac civilis, Bd. 8,3: Ab Anno Christi 1326–1334, hrsg. v. Georgius Fejér, Buda 1832, S. 736–738, Nr. 346.



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Könige außerdem in verschiedenen politischen Angelegenheiten von Franziskanerbrüdern begleiten und beraten. Als Königin Elisabeth beispielsweise 1343 nach Süditalien reiste, um die Krönung ihres zweiten Sohnes Andreas zum König von Neapel durchzusetzen, reiste Vitus von Monteferro nicht nur mit; er gehörte sogar der Delegation an, welche die delikaten Verhandlungen mit Papst Clemens VI. über die mögliche Krönung führen sollte.13 Immer wieder fungierten Mendikanten und besonders Franziskaner überdies als Gesandte der ungarischen Könige (die damit freilich ganz der Politik ihrer neapolitanischen Verwandten entsprachen). Dieses besondere Vertrauen in die Franziskaner zeigte sich auch in der Person des Minoriten Dénes Lackfi, Abkömmling einer einflussreichen Magnatenfamilie, der in den 1340er Jahren mit der Erziehung des Thronfolgers Ludwig betraut und einige Jahre später zum Erzbischof von Kalocsa ernannt wurde. In gewisser Weise wurden mit der Wahl dieses geistlichen Lehrers familiäre Traditionen von mütterlicher Seite aufgegriffen, denn auch Elisabeth, die Tochter des polnischen Königs Władysławs I. „Ellenlang“, war in ihrer Jugend durch die engen Kontakte ihrer Mutter Hedwig von Kalisch zu den Klarissen im südpolnischen Stary Sącz nachhaltig geprägt worden.14 Tatsächlich traten im Ungarn des 14. Jahrhunderts neben Karl I. vor allem seine Frau Elisabeth und sein Sohn Ludwig I. als Patrone klösterlicher Einrichtungen hervor. Zwischen 1340 und 1380 stifteten und förderten beide etliche Kirchen und Klöster in Ungarn und begünstigten dabei in auffallender Weise den Orden der Franziskaner. Schon die zeitgenössischen Quellen berichten von einer tiefen Religiosität, die Mutter und Sohn motiviert habe; der ungarische Historiker Pál Engel sprach in diesem Zusammenhang gar von einem „altmodischen religiösen Eifer“ und schrieb sowohl Ludwig als auch Elisabeth einen „katholischen Fanatismus“ zu, der ihre gesamte Politik wie auch die Führung des königlichen Hofes stark beeinflusst habe.15 Vor diesem Hintergrund vermag es kaum zu erstaunen, dass

13 Chronicon Dubnicense cum codicibus Sambuci Acephalo et Vaticano, cronicisque Vindobonensi Picto et Budensi accurate collatum, hrsg. v. Mátyás Florianus (Historiae Hungaricae Fontes Do­ mestici I. Scriptores III), Lipsiae 1884, S. 1–207, hier S. 139: Cum igitur Neapoli hec regina resideret, ducto consilio ad apostolicam sedem solemnes nuncios […] Fratrem Vitum episcopum Nitriensem […] destinauit ut dominus apostolicus sua benedictione dominum Andream regem faceret corona regia decorari. Vgl. dazu auch László Szende, Mitherrscherin oder einfache Königinmutter: Elisabeth von Łokietek in Ungarn (1320–1380), in: Majestas 13 (2005), S. 47–63, sowie Jan Dąbrowski, Elżbieta Łokietkówna 1305–1380 [Elisabeth von Polen, Frau des Władysław „Ellenlang“ 1305–1380] (Władcy polscy), Kraków 1914, ND 2007, bes. S. 48–64. 14 Stanisław A. Sroka, Elżbieta Łokietkówna [Elisabeth von Polen, Frau des Władysław „Ellenlang“], Bydgoszcz 1999, S. 52. 15 Engel (Anm. 11), S. 170f., zählt dreizehn Kirchen, zehn Franziskaner- und zahlreiche weitere Klöster zu den Stiftungen Elisabeths und Ludwigs. Vgl. außerdem de Cevins u. Koszta (Anm. 9), bes. S. 590–596. In tabellarischen Anhängen verzeichnen sie die Gründung von 7 franziskanischen Klöstern durch die ungarischen HerrscherInnen sowie zahlreiche finanzielle und materielle Begünstigungen. Einen Katalog ungarischer Klöster erstellte Beatrix F. Romhányi, Kolostorok és társaskáptalanok





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Elisabeth kurz vor ihrem Tod 1380 die Leib-Christi-Kapelle im Klarissenkloster zu Óbuda testamentarisch zu ihrer Grabstätte bestimmte und überdies etliche Klostergemeinschaften mit großzügigen Geldspenden oder kostbaren liturgischen Gegenständen bedachte.16 Das Klarissenkloster in Óbuda wurde, wie eine 1334 ausgestellte Genehmigung Papst Johannes’ XXII. für den Bau einer Kirche, eines Klosters, eines Friedhofs und weiterer Gebäude belegt, auf Initiative Elisabeths hin errichtet, die sich damit des Seelenheils für sich und ihre Familie zu versichern suchte.17 Bereits 1346 scheinen die ersten Nonnen im Kloster angesiedelt worden zu sein, und auch in den folgenden Jahren bemühte sich die Königin in verschiedenen Bittschreiben an die Kurie, die Rechte des Klosters konfirmieren zu lassen; sie selbst vermachte den Klarissen, in deren Reihen neben Damen aus adeligen Familien auch Frauen aus den bürgerlichen Häusern von Buda zu finden waren, zur Absicherung ihrer Gemeinschaft verschiedene Grundstücke und Gebäude.18

2 Klöster und Ordensheilige als Garanten dynastischer Ansprüche Neben persönlichen spirituellen Beweggründen, welche die nachdrückliche Förderung einzelner Klöster wie etwa im Falle der Klarissen von Óbuda motiviert haben mögen, lässt sich in der Bindung der ungarischen Anjou an die Franziskaner auch eine gewisse Programmatik erkennen, mit der die Traditionen gleich zwei großer Dynastien aufgegriffen wurden – der Arpaden in Ungarn und der französischen bzw. süditalienischen Anjou. Schon im frühen 13. Jahrhundert hatten die ungarischen Arpaden die Orden sowohl der Dominikaner als auch der Franziskaner gefördert, und mit der Unter-

a közepkori Magyarországon [Klöster und Kollegiatkapitel im mittelalterlichen Ungarn], Budapest 2000. 16 Das Testament ist gedruckt in Ernő Marosi, A 14. századi Magyarország udvari művészete és közép-Európa [Die höfische Kunst Ungarns im 14. Jahrhundert und Mitteleuropa], in: Ernő Marosi, Melinda Tóth u. Lívia Varga (Hgg.), Művészet I. Lajos király korában 1342–1382. Katalógus [= Die Kunst zur Zeit Ludwigs I. 1342–1382. Katalog], Budapest 1982, S. 51–77, hier S. 73, Anm. 32: Primo et principaliter sepulturam elegimus in capella Corporis Christi in claustro Beate virginis de Veteri Buda, in quo religiose domine domino famulantur, quodque per dominum regem et nos est constructum habita. 17 ‚Codex diplomaticus VIII.3‘ (Anm. 12), S. 735f., Nr. 345: Tu […] ad B. Clarae laudem et gloriam vnum monasterium cum ecclesia, coemeterio, domibus et aliis officinis necessariis […] in oppido Budae […] pro tuae ac Progenitorum tuorum animarum salute de bonis propriis fundare, constituere ac aedificare proponas. 18 Einen Überblick über die (gut erforschte) Geschichte des Klosters bieten Herta Bertalan, Das Klarissinnenkloster von Óbuda aus dem 14. Jahrhundert, in: Acta Archaeologica Academiae Scientia­ rum Hungaricae 34 (1982), S. 151–176, und Ewa Śnieżyńska-Stolot, Queen Elizabeth as a patron of architecture, in: Acta Historiae Artium Academiae Scientiarum Hungaricae 20 (1974), S. 13–36.



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stützung der Herrscher gelang beiden Orden nach der verheerenden Erfahrung der Mongoleninvasion schließlich die Etablierung eines wirkmächtigen Klosternetzes, welches beinahe das gesamte Königreich umfasste.19 Die gezielte Anbindung an die Arpaden, die wegen des Heiligenkults um die Könige Stefan, Emmerich, Ladislaus oder die Prinzessinnen Elisabeth oder Margarethe schon im 13. Jahrhundert als ‚Dynastie der Heiligen‘ galten, sollte die Idoneität, Rechtmäßigkeit und historische Verwurzelung der noch jungen Anjou-Herrschaft in Ungarn unterstreichen. Inmitten der Auseinandersetzungen um die Thronfolge und Anerkennung Karls I. als ungarischer König zog deshalb der Dominikaner und Zagreber Bischof Augustinus Kažotić, als er 1310 eine Rede vor ungarischen Adeligen hielt, eine direkte Abstammungslinie von den arpadischen sanctissimi reges nostri zu Karl I.20 Auch Königin Elisabeth vermochte an die Kontinuität des ungarischen Königtums von den Arpaden zu den Anjou zu erinnern, als sie im Jahre 1361 durch eine großzügige Zuwendung für das St. Gerhard-Kloster von Csanád dessen Ausschmückung und die Errichtung eines Reliquiengrabes ermöglichte. Wie es in der „Legende vom Heiligen Bischof Gerhard“ heißt, sei Elisabeth nach langer Krankheit durch das Verdienst Gerhards genesen und habe die Zuwendung aufgrund ihrer Verehrung für Gerhard entrichtet.21 Bei Gerhard handelte es sich nach Stephan I. und Emmerich um den dritten ‚Arpaden-Heiligen‘: Der venezianische Benediktinermönch, der zunächst als Erzieher Prinz Emmerichs gewirkt hatte und später Bischof von Csanád geworden war, war im 11. Jahrhundert von heidnischen Gegnern des Königs ermordet und einige Jahrzehnte später heiliggesprochen worden.22 Um diesen Sinnzusammenhang wusste auch Elisabeth, und sie nutzte ihn durch ihre Zuwendung geschickt: auf diese Weise wurden die Anjou nicht nur als Königsfamilie mit eigenen (französischen/neapolitanischen) Traditionen, sondern als rechtmäßige ungarische Herrscher präsentiert.

19 József Lászlovszky u. Beatrix Romhányi, Cathedrals, Monasteries and Churches. The Archeo­logy of Ecclesiastic Monuments, in: Zsolt Visy (Hg.), Hungarian Archeology at the Turn of the Millennium, Budapest 2003, S. 372–377; vgl. auch Marie-Madeleine de Cevins, Les religieux et la ville au bas Moyen Âge: moines et frères mendiants dans les villes du royaume de Hongrie des années 1320 aux années 1490, in: Revue Mabillon 9 (1998), S. 97–126. 20 Oratio S. Augustini Gazotti. Dicta in Campo Rákos pro Carolo. Anno 1310, in: Historia cathedralis Ecclesiae Zagrabiensis, Bd. 1, hrsg. v. Balthasar A. Kercselich, Zagreb 1776, S. 111–114, hier S. 114: Sed Caroli juribus illud quoque, idque rarum in terris additur, quod ipsius stemma, Coelo teste, ex Sanctissimis Regibus nostris profluere comprobatur. Vgl. dazu auch Gábor Klaniczay, La nobles et le culte des saints dynastiques sous les rois Angevins, in: Coulet u. Matz (Anm. 9), S. 511–526. 21 Legenda de S. Gerhardi Episcopi, hrsg. u. bearbeitet v. Emericus Madzsar, in: Scriptores rerum Hungaricarum tempore ducum regumque stirpis Arpadianae gestarum, Bd. 2, hrsg. v. Emericus Szentpétery, Budapest 1938, S. 461–506, hier S. 506: ideo eadem domina ex devotione, quam ad ipsum Sanctum Gerhardum habebat, monasterium ipsius viri Dei in edificiis extendit et pluribus ornamentis pretiosis et calicibus decoravit. 22 Gábor Klaniczay, Holy Rulers and Blessed Princesses. Dynastic Cults in Medieval Central ­Europe, Cambridge 2002, bes. S. 123–134.





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In Süditalien war es die Gestalt des franziskanischen ‚Haus-Heiligen‘ Ludwig von Toulouse, die der Herrschaft der Anjou Würde und Rechtmäßigkeit zu verleihen vermochte.23 Ludwig, ein Sohn Karls II. von Neapel und mithin der Onkel Karls I. von Ungarn, war in den frühen 1290er Jahren während einer Haft, die er mit seinen Brüdern als Geiseln für seinen Vater hatte antreten müssen, nachhaltig von der Begegnung mit zwei Franziskanern geprägt worden. 1296 erreichte er die Aufnahme in den Orden der Minderbrüder unter der Bedingung des Verzichts auf seine Thronrechte und der Übernahme des Bistums Toulouse. Als sich nach seinem Tod und seiner Beisetzung im Franziskanerkloster zu Marseille Berichte über Wundertaten an seinem Grab häuften, wurde ein Kanonisationsprozess eröffnet, der 1317 in der Heiligsprechung des Tolosaners durch Papst Johannes XXII. mündete.24 Der Kult um Ludwig von Toulouse verbreitete sich unter franziskanischem Einfluss zunächst in Italien, wo zahlreiche bildliche Darstellungen – allen voran das berühmte Wandfresko des Simone Martini in der Unterkirche San Francesco in Assisi – von der Verbindung franziskanischer Religiosität und angevinischer ‚Heiligkeit‘ zeugten.25 Auch in Ungarn entfaltete die repräsentative Inanspruchnahme franziskanischer Heiliger und namentlich Ludwigs ihre Wirkmacht, wie das Beispiel des Klosters Lippa zeigt, das 1325 von König Karl I. von Ungarn und seiner Frau Elisabeth gestiftet wurde. Über die Stiftung berichtet die anonyme „Bilderchronik“ aus dem 14. Jahrhundert Folgendes: Im Jahre 1325 begann der Herr König für die Minderbrüder die Kirche in Lippa erbauen zu lassen. Diese Kirche wurde zu Ehren des neuen Heiligen, des seligen Ludwig, des Bischofs von Toulouse, des Bekenners, gegründet. Dieser war nämlich ein leiblicher Bruder seines Vaters, der erst­ geborene Sohn des Königs von Sizilien, der Sohn der Königin Maria, der Tochter des ungarischen Königs Stephan, des Sohns von Bela IV., der – seinem Gelübde und seiner Neigung gemäß – dem Orden der Minderbrüder angehört hatte.26

23 Stefan Türr, Die Rückwirkungen der Herrschaft der neapolitanischen Anjous auf Ungarn, in: Ungarisches Jahrbuch 12 (1982/83), S. 51–69; Pál Lővei, Anjou-magyar síremlékek és címeres emlékek Nápolyban [Grabdenkmäler und Wappen der ungarischen Anjou in Neapel], in: Ars Hungarica 26 (1998), S. 18–51. 24 Vgl. neuerdings Melanie Brunner, Poverty and charity: Pope John XXII and the canonization of Louis of Anjou, in: Franciscan Studies 69 (2011), S. 231–256, und Ernő Marosi, Saints at Home and Abroad: Some Observations on the Creation of Iconographic Types in Hungary in the Fourteenth and Fifteenth Centuries, in: Ottó Gecser u. a. (Hgg.), Promoting the Saints: Cults and their Contexts from Late Antiquity until the Early Modern Period. Essays in Honor of Gábor Klaniczay for his 60th Birthday (Medievalia 12), Budapest 2011, S. 175–206. 25 Julian Gardner, The Cult of a Fourteenth-Century Saint. The Iconography of Louis of Toulouse, in: I Francescani nel trecento. Atti del XIV convegno internazionale, Assisi 16–18 ottobre 1986 (Società internazionale di studi francescani), Perugia 1988, S. 168–193, hier S. 178. 26 Chronici Hungarici compositio saeculi XIV, hrsg. u. bearbeitet v. Alexander Domanovszky, in: Scriptores rerum Hungaricarum tempore ducum regumque stirpis Arpadianae gestarum, Bd. 1, hrsg. v. Emericus Szentpétery, Budapest 1937, S. 217–505, hier S. 491: Anno Domini M-o CCC-o XXV-o in-



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Lippa war die erste klösterliche Anlage, die dem angevinischen Minoriten-Heiligen acht Jahre nach seiner Heiligsprechung gewidmet wurde. Schon durch die Terminierung der Grundsteinlegung erhielt die Bezugnahme zu den Franziskanern, denen das Kloster überlassen wurde, zusätzliche Akzentuierung, denn mit dem Fest der Übertragung der Gebeine des Heiligen Franziskus hatte man einen für die franziskanische Memoria zentralen Tag ausgewählt. In deutlichem Gegensatz zu dieser symbolträchtigen Anknüpfung stand der schleppende Verlauf des eigentlichen Baus: der im ost­ ungarischen Komitat Arad (heute: Rumänien) im Mureştal begründete Komplex, der eine Kirche und ein Kloster umfassen sollte, konnte wohl erst nach dem Tod Karls I., auf Initiative seiner Frau Elisabeth, fertiggestellt werden.27 Über die Gründe Karls und Elisabeths für die Wahl der ostungarischen Peripherie zur Errichtung des Klosters schweigen die zeitgenössischen Quellen. Zumindest kursorische Rückschlüsse lassen allerdings die zeitlichen Umstände der Klosterstiftung zu: die beiden Herrscher stifteten Lippa kurz nachdem Karl I. seine Herrschaft gegen die Machtansprüche der Magnaten hatte durchsetzen können – 1321 war die Befriedung Siebenbürgens gegen die Familie des einstigen Wojewoden Ladislaus Kán gelungen, wenig später starb mit Matthäus Csák einer der mächtigsten Widersacher des Königs und Herrscher über weite Gebiete in Nordwestungarn. Karl selbst hatte sich in der Phase der intensiven Auseinandersetzungen mit den ‚Oligarchen‘ (ca. 1315–1323) mitsamt seinem Hof vornehmlich in Temeswar und mehrfach auch in Lippa aufgehalten. Als er im Jahre 1323 in das Zentrum des Königreichs zurückkehrte und seinen Hof nach Visegrád verlegte, demonstrierte er damit auf „triumphale Weise“ das Ende

coavit dominus rex Fratribus Minoribus edificare ecclesiam in Lyppua ad honorem Beati Lays novi sancti, episcope Tholosani et confessoris, qui fuit frater carnalis patris sui, scilicet primogenitus regis Sycilie, filiuis Marie regine, filie Stephani regis Hungarie, filii Bele quarti, professor voto et habitu ordinis Fratrum Minorum, et positum est fundamentum pro sanctuario in festo Translationis Sancti Francisci. Deutsche Übersetzung zitiert nach: Die ungarische Bilderchronik. Chronica de gestis Hungarorum, hrsg. v. Tibor Kardos, Berlin 1961, hier S. 253. 27 János Karácsonyi, Szt. Ferencz Rendjének Története Magyarországon 1711-ig. I. Kötet [Die Geschichte des Franziskanerordens in Ungarn bis 1711. Bd. 1], Budapest 1922, S. 197. 1349 erteilte Papst Clemens VI. allen Besuchern der Kirche der Minderbrüder in Lippa, quam Elisabeth Regina Ungariae Illustris in loco de Lipna, Cenadiensis diocesis, in honore et sub vocabulo S. Ludovici Episcopi et confessoris construi fecit, den Ablass, s. Vetera Monumenta Historica Hungariam Sacram Illustrantia, Bd. 1: Ab Honorio PP. III usque ad Clementem PP. VI. 1216–1352, hrsg. v. Augustinus Theiner, Rom 1859, S. 773, Nr. 1173. Vgl. außerdem den Artikel „Lipova“, in: Dumitru Ţeicu, Geografia ecleziastică a Banatului medieval [Kirchengeographie des mittelalterlichen Banats], Cluj-Napoca 2007, S. 102f. In seiner ursprünglichen Form bestand das Minoritenkloster in der Diözese Csanád bis 1551, als osmanische Truppen begannen, auch das Temescher Banat anzugreifen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts machte dann eine weitere franziskanische Niederlassung in einem Ortsteil Lippas von sich reden – die Gründung des Barockklosters Maria Radna, das zu dem wohl bedeutendsten Wallfahrtsort im Banat von Temeswar avancierte. Vgl. dazu Swantje Volkmann, Die Architektur des 18. Jahrhunderts im Temescher Banat, Phil. Diss., Heidelberg 2001, S. 260f.





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des „Bürgerkrieges“ (P. Engel).28 Temeswar und auch Lippa blieben als bedeutende Basis in politisch entscheidenden Zeiten in Erinnerung, und so erscheint es plausibel, dass der König in eben jener Gegend eine Stiftung tätigen wollte. Auch Karls Sohn Ludwig diente Lippa mit seinem Kloster offenbar immer wieder als Aufenthaltsort und darüber gewissermaßen Ausgangspunkt für seine expansive Missionspolitik – ein Zusammenhang, auf den im letzten Abschnitt noch zurückzukommen sein wird. Neben solchen politischen Zusammenhängen macht ein weiterer Aspekt die Stiftung des Klosters Lippa und besonders dessen Widmung für den Heiligen Ludwig von Toulouse plausibel: auf diese Weise unterstrichen Karl und Elisabeth nämlich auch den Anspruch der beata stirps der Anjou auf die Königsherrschaft, denn durch die Ludwigs-Memoria wurde auch ein dezidiertes Traditionsbewusstsein angevinischer Herrschaft kommuniziert.29 Illuminiert wurde diese Verbindung in der „Bilderchronik“, die noch zu Lebzeiten Ludwigs I. entstand und deren Text wohl auf der Chronik eines Franziskaners basierte.30 Folio 70 (Abb. 1) enthält neben dem bereits zitierten Text über die Stiftung des Klosters Lippa Vermerke über die Eheschließung Karls I. mit Elisabeth, die Geburt des ersten, noch im Kindesalter verstorbenen Sohnes und schließlich die Nachricht von der Geburt Ludwigs I. Der in zwei Spalten angeordnete Text wird von vier Miniaturen eingerahmt, von denen diejenige im linken unteren Seitenrand Karl I. und Elisabeth in einer klassischen Stiftungspose demütig kniend mit einem Modell des Klosters Lippa zeigt. Die weiteren Miniaturen stellen in zwei Initialen Elisabeth samt ihren Kindern (oben links) und Ludwig von Toulouse (oben rechts) und schließlich die Szene der Geburt Ludwigs dar (unten rechts). Die Auswahl und prachtvolle bildliche Ausgestaltung dieser Ereignisse war weniger als Illustration einzelner Episoden, sondern eher als Gesamtkomposition zu verstehen. Auf einer Seite wurden das herrschaftliche und geistige Erbe der gesamten Anjou (Erinnerung an Ludwig von Toulouse) gemeinsam mit der Gegenwart und Zukunft der ungarischen Anjou (verbildlicht in Gestalt der Königin und ihrer Kinder) präsentiert – dynastisches Selbstverständnis und religiöse Verpflichtung erschienen somit als Grundlage angevinischen Königtums in Ungarn.31

28 Vgl. hierzu das Itinerar Karls bei Engel (Anm. 10), S. 361–367, sowie Engel (Anm. 11), S. 133. 29 Zum beata-stirps-Verständnis bei den Anjou vgl. Tanja Michalsky, Memoria und Repräsentation. Die Grabmäler des Königshauses Anjou in Italien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 157), Göttingen 2000, bes. S. 61–84. 30 Vgl. Tibor Kardos, Über die Bilderchronik des Markus von Kált, in: Kardos (Anm. 26), S. 5–30, hier S. 9, sowie Ilona Berkovits, Die kunsthistorische Bedeutung der Bilderchronik, in: ebd., S. 31–61. 31 Ein Zusammenhang zwischen dynastischen Ansprüchen, herrscherlicher Religiosität und der Bindung an die Franziskaner wurde auch in dem wohl unter Karl I. in Auftrag gegebenen „Anjou-­ Legendarium“ hergestellt. Die Sammlung, die in Text und Bild biblische Inhalte und Heiligenlegenden vermittelte, enthält unter anderem eine Bildergruppe zum Leben Ludwigs von Toulouse, die unmittelbar an die Franziskuslegende anschließt. In der Forschung wurden Umfang und Verbindung beider Legenden als Nachweis für die „franziskanische Ausrichtung“ des Kodex gedeutet. Gyöngyi



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3 Wider die Abweichler: Die ungarischen Könige und die Bosnienmission Neben politischen und dynastischen Verbindungen suchten die ungarischen Könige sich über die Unterstützung monastischer Strukturen auch kirchenpolitischer Einflussnahme zu versichern, wie die Geschichte der franziskanischen Bosnienmission und ihrer Institutionalisierung in Form der sogenannten Vicaria Bosnae zeigt. In einer Chronik des 16. Jahrhunderts wurden deren Ursprünge folgendermaßen beschrieben: Im Jahre 1339 machte sich der Ordensgeneral Gerard von Eudes durch Slawonien in die Provinz Ungarn auf; er reiste durch Bosnien, welches er gleichsam vollkommen von Häretikern besiedelt sah; entflammt vom Eifer des Glaubens kam er zum Herrn Ban, dem Fürsten jenes Bosnien, bekehrte ihn zum Glauben und führte ihn zur Einheit der römischen Kirche zurück. Dann bestimmte er dorthin viele Brüder aus verschiedenen Gebieten des Ordens, damit sie den Häretikern predigten; und sie bekehrten dort viele und errichteten Kirchen; und als sie viele Orte in Besitz genommen hatten, wurde die erste Vikarie der Gemeinschaft der Minderbrüder gegründet, die heute ‚bosnische Vikarie‘ heißt; ihr guter Ruf wuchs so stark an, dass später – d. h. zur Zeit König Ludwigs von Ungarn – die Herren Ungarns, welche der Gemeinschaft der Minderbrüder sehr ergeben waren, mehrere [Kirchen] errichteten.32

Das hier gezeichnete Bild mutet freilich allzu stringent an: Im 14. Jahrhundert, so lernt der Leser, wimmelte es in Bosnien bis hin zum dortigen Fürsten nur so von Häretikern – eine prekäre Situation, deren sich die Franziskaner annahmen, indem sie voller Glaubenseifer die bosnischen Häretiker bekehrten, in den Schoß der römischkatholischen Kirche zurückführten und mit der erwähnten Vikarie ihren Missions­ bestrebungen eine institutionelle Grundlage verliehen. Freilich lässt sich die so programmatisch erzählte Geschichte der Bosnienmission auch aus anderen Blickwinkeln beschreiben – nicht nur als Erfolgsstory, sondern auch als beständiges Ringen der Päpste um kirchenpolitische Einflussnahme im multireligiösen Südosten Europas, als energisches Streben der ungarischen Könige nach territorialer Suzeränität in den südlichen ‚Randgebieten‘ des Königreichs oder

Török, Problems of the Hungarian Anjou Legendary. A New Folio in the Louvre, in: Arte Cristiana 89 (2001), S. 417–426. 32 Blasius de Zalka, Chronica fratrum minorum de observantia provinciae Boznae et Hungariae, in: Analecta Monumentorum Hungariae, Bd. 1, hrsg. v. Ferenc Toldy, Pest 1862, S. 215–316, hier S. 230: Anno igitur 13XXXIX […] idem generalis ad Provinciam Hungariae pergeret per Sclavoniam, transivit per Boznam, quam videns quasi totam haereticis populatam, zelo fidei succensus ad Dominum Banum, eiusdem Bozniae Principem accessit, et ipsum ad fidem convertit, et ad Ecclesiae Romanae unitatem reduxit. Deinde multos fratres illuc ad praedicandum haereticis de diversis partibus ordinis destinavit, qui ibidem multos ad fidem Christi converterunt, et Ecclesias erexerunt, et diversis ibi captis locis facta est una et prima familiae minorum Vicaria, quae hodie Boznensis appellatur, cuius bona fama crevit in tantum, ut posta, scilicet Ludovici Regis Hungariae, devoti domini Hungari eiusdem familiae fratribus […] in Hungaria plurima construxerunt.





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auch als Verteidigung einer eigenen Kirchenform durch die Vertreter der so oft als ‚häretisch‘ bezeichneten bosnischen Kirche. Klagen, Vorwürfe und Beschuldigungen gegen haeretici oder schismatici in Bosnien finden sich in zahlreichen spätmittel­ alterlichen Quellen. Was genau aber unter diesen Häretikern der ‚bosnischen Kirche‘ eigentlich zu verstehen war, ist in der Forschung seit langem umstritten – waren hier Bogomilen gemeint oder eine osteuropäische Form der Katharer-Bewegung, eine eher orthodoxe oder eine eher katholische Glaubensgemeinschaft? Als Grundkonsens lässt sich festhalten, dass mit haeretici zumeist die Mitglieder jener bosnischen Kirche gemeint sind, die sich vor allem im 13. Jahrhundert als unabhängige Kirche mit einer an das östliche Mönchtum angelehnten Organisation herausgebildet hatte und ihre Liturgie und Seelsorge in slawischer Sprache durchführte.33 Obgleich der katholische Bischof von Bosnien als Suffragan dem Erzbischof von Ragusa unterstand, erwiesen sich Bemühungen um eine Reform der bosnischen Kirche und ihre Eingliederung in die Strukturen der römisch-katholischen Kirche als weitgehend erfolglos. Vor allem seitens der päpstlichen Kurie mehrten sich deshalb auch die Vorwürfe der Ketzerei und bildeten die argumentative Grundlage für erste Missionszüge nach Bosnien, die in erster Linie von ungarischen Dominikanern getragen wurden.34 Zwar ließen die Missionsbemühungen nach der Invasion Ungarns durch die Mongolen deutlich nach, doch die ungarischen Herrscher hielten ihre territorialen und kirchenpolitischen Ansprüche auf Bosnien aufrecht. Dieser Entwicklung trug die Kurie 1247 Rechnung, als sie angesichts ausbleibender Missionserfolge das katholische bosnische Bistum auf ungarisches Territorium nach Đakovo verlegte.35 Neben der päpstlichen Kurie und den mendikantischen Orden – denn auch die Franziskaner waren seit den 1290er Jahren in Bosnien aktiv36 – spielten die ungarischen Herrscher und die Bischöfe von

33 Vgl. aus der Fülle der Literatur John V. A. Fine Jr., The Bosnian Church: A New Interpretation. A Study of the Bosnian Church and Its Place in State and Society from the 13th to the 15th Centuries (East European Monographs 10), New York, London 1975; Manuel Lorenz, Bogomilen, Katharer und bosnische „Christen“. Der Transfer dualistischer Häresien zwischen Orient und Okzident (11.–13. Jh.), in: Balázs J. Nemes (Hg.), Vermitteln – Übersetzen – Begegnen. Transferphänomene im europäischen Mittelalter und der frühen Neuzeit – eine interdisziplinäre Annäherung (Nova mediaevalia 8), Göttingen 2011, S. 87–136; Yuri Stoyanov, Between Heresiology and Political Theology. The Rise of the Paradigm of the Medieval Heretical „Bosnian Church“, in: Giovanni Filoramo (Hg.), Teologie politiche: modelli a confronto, Brescia 2005, S. 163–180. Eine kritische Würdigung der Forschungsdebatten bietet Dubrenko Lovrenović, Modelle ideologischer Ausgrenzung. Ungarn und Bosnien als ideologische Gegner auf der Basis verschiedener Bekenntnisse des Christentums, in: Südost-Forschungen 63/64 (2004/2005), S. 18–55. 34 Nach wie vor grundlegend zu diesem Thema ist die Studie von Jozo Džambo, Die Franziskaner im mittelalterlichen Bosnien (Franziskanische Forschungen 31), Werl 1991. 35 Djuro Basler, Ungarn und das bosnische Bistum (1181/85–1247), in: Ungarn-Jahrbuch 5 (1973), S. 9–15. 36 1291 beauftragte Papst Nikolaus IV. den Provinzialmeister von Sclavonia, zwei für die Inquisition Bosniens „geeignete“ Brüder aus seiner Provinz zu entsenden und benannte dabei auch Vorausset-



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Bosnien eine bedeutende Rolle bei Missionsunternehmungen. Überdies konkurrierten in der Zeit der ungarischen Thronstreitigkeiten, in deren Verlauf sich Karl I. zu Beginn des 14. Jahrhunderts durchsetzen sollte, Oligarchen wie die Bani von Kroatien, Bosnien und Macsó um den Einfluss in Bosnien.37 Gewissermaßen neuen Schwung und damit auch ein anderes Maß an Nachhaltigkeit erhielt die Bosnienmission im 14. Jahrhundert, als Papst Johannes XXII. angesichts erster franziskanischer Inquisitionserfolge im Jahr 1327 das mendikantische Ringen um päpstliche Privilegien beendete, den Dominikanern ihre bisherige Missionstätigkeit verbot und diese Aufgabe allein den Franziskanern zusprach.38 Einflussreiche Fürsprecher und Förderer der Missionsvorhaben fand der Papst in Ungarn in Karl I. sowie auch im bosnischen Ban Stefan II. Kotromanić: Schon zwei Jahre, nachdem er dem ungarischen König und seinen Erzbischöfen die Unterstützung der Franziskaner ans Herz gelegt hatte, dankte Johannes XXII. dem König 1329 wortreich für dessen Gunst.39 Das königliche Wohlwollen gegenüber der franziskanischen Mission ist auch mit den außenpolitischen Aspirationen Karls I. zu erklären: Nachdem ihm mit der Befriedung und Unterwerfung ungarischer Magnaten in den 1320er Jahren die Anerkennung seiner Königsherrschaft im Binnenreich gelungen war, verfocht Karl eine nach Süden und Südosten hin expansive Politik, die auf die Eingliederung verschiedener Balkanprovinzen in das ungarische Königreich zielte.40 Angesichts des angevinischen Engagements wird häufig wenig beachtet, dass für den Erfolg der Franziskaner in Bosnien auch die Unterstützung des bosnischen Bans Stephan Kotromanić maßgeblich war.41 Freilich meint ‚Erfolg‘ weniger die konkrete Missionierungspraxis der Franziskaner, die aus den Quellen ohnehin schwer ersicht-

zungen für die Auswahl (wie z. B. Sprachkenntnisse), vgl. ‚Vetera Monumenta I‘ (Anm. 27), S. 378f., Nr. 611. 37 Zur ungarischen Politik in Südosteuropa vgl. István Petrovics, Hungary and the Adriatic Coast in the Middle Ages – Power Aspirations and Dynastic Contacts of the Árpádian and Angevin Kings in the Adriatic Region, in: Chronica 5 (2005), S. 62–73, sowie Pál Engel, Zur Frage der bosnisch-ungarischen Beziehungen im 14.–15. Jahrhundert, in: Südost-Forschungen 56 (1997), S. 27–42. 38 Schreiben Papst Johannes’ XXII. an den Dominikanerprior von Ungarn und Sclavonia, in: ‚Vetera Monumenta I‘ (Anm. 27), S. 514f., Nr. 794: tibi ac universis et singulis fratribus ordinis vestri predicte Inquisitionis officium in dictis provintiis seu partibus, que in dictis privilegiis seu litteris apostolicis dictis fratribus Minorum concessis specialiter exprimuntur, interdicimus exercendum. Vgl. dazu auch Džambo (Anm. 34), S. 75f. 39 Schreiben an Karl I. und die Erzbischöfe von Kalocsa und Esztergom, in: ‚Vetera Monumenta I‘ (Anm. 27), S. 515f., Nr. 795 und 796; Dankesschreiben an Karl I., in: ebd., S. 516f., Nr. 797. 40 Zu den Balkankriegen der ungarischen Anjoukönige als Forschungsdesiderat vgl. Pál Engel, Die Monarchie der Anjoukönige in Ungarn, in: Marc Löwener (Hg.), Die „Blüte“ der Staaten des öst­lichen Europa im 14. Jahrhundert (Deutsches Historisches Institut Warschau – Quellen und Studien 14), Wiesbaden 2004, S. 169–181. 41 Schon 1329 betonte Johannes XXII., wie sehr sich der bosnische Ban Stefan (dilectus filius nobilis vor Stephanus princeps Bosnensis) bei der Bekämpfung des „Irrglaubens“ in seinem Fürstentum (ad  eliminandum de sui principatus finibus errores et haereses) hervorgetan hatte. Schreiben vom





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lich ist, sondern vielmehr die Institutionalisierung der franziskanischen Mission in Form der Vicaria Bosnae. Zur Gründung dieser Vikarie kam es in den Jahren 1339 und 1340, im Rahmen einer Reise des franziskanischen Generalvikars Gerardus von Eudes nach Bosnien und Ungarn. Zum ersten Vikar ernannte Gerardus Peregrinus von Sachsen, der zudem rasch in den Kreis der Berater Stefans Kotromanić aufgenommen werden sollte. Auch weitere Vikare Bosniens finden sich verschiedentlich als Zeugen in Urkunden der bosnischen Herrscher, und es ist sicher kein Zufall, dass eine der ersten franziskanischen Niederlassungen in unmittelbarer Nähe einer bosnischen Herrscher­ residenz (Visoko) errichtet wurde, nämlich in Mile, wo schon das katholische Bistum Bosniens beherbergt war.42 Als Stifter des Klosters und der Kirche des Heiligen Nikolaus in Mile gilt Stefan Kotromanić, der mit der Anlage offenbar auch einen zentralen Bestattungsort für die bosnischen Herrscher schaffen wollte.43 Tatsächlich wurden sowohl Stefan Kotromanić als auch sein Nachfolger Tvrtko I. in St. Nikolaus bestattet, und die Kirche scheint überdies Ende des 14. Jahrhunderts als Krönungsort des jung etablierten Königreichs Bosnien fungiert zu haben. Die beharrlichen Bemühungen Stefans Kotromanić, den eigenen Rechtglauben und die Bindung an die katholische Kirche zu demonstrieren, scheinen dabei auch eine Form der Abgrenzung von jenen Häresie-Vorwürfen gewesen zu sein, welche die Zeitgenossen ihm gegenüber nach wie vor aufrechterhielten. Dass seine Tochter Elisabeth Kotromanić, die 1353 Ludwig I. von Ungarn heiratete, auf dem von ihr gestifteten Schrein für den katholischen Heiligen St.  Simeon eine Trauerszene mit dem Totenbett ihres Vaters darstellen ließ, dürfte somit auch als Reverenz an die Rechtgläubigkeit ihres Vaters zu deuten sein.44 Auf die Gründung von St. Nikolaus in Mile folgten weitere franziskanische Niederlassungen, die mit päpstlicher Erlaubnis in Bosnien errichtet und mit der Zeit auch mit lokalen Minderbrüdern besetzt wurden.45 Auch räumlich und strukturell ent­ wickelte sich die bosnische Vikarie weiter, wie ein Verzeichnis der Räume und Klöster franziskanischer Provinzen aus dem Jahr 1380 erkennen lässt. Demnach hatte sich die gesamte Vikarie Bosniens binnen etwa 40 Jahren auf einen Raum ausgedehnt, der

22. November 1329, in: Codex diplomaticus regni Croatiae, Dalmatiae et Slavoniae, Bd. 9: Diplomata annorum 1321–1331 continens, hrsg. v. Tadija Smičiklas, Zagreb 1911, S. 492f., Nr. 402. 42 Vgl. dazu Džambo (Anm. 34), S. 160f. Einzelnachweise franziskanischer Urkundenzeugen finden sich in: Acta Bosnae Potissimum Ecclesiastica cum insertis editorum documentorum regestis ab anno 925 usque ad annum 1752, hrsg. v. Eusebius Fermendžin (Monumenta spectantia Historiam Slavorum Meridionalium 23), Zagreb 1892, z. B. S. 562, Nr. 1503 (Schreiben Trvtkos vom 13. Februar 1355). 43 Mladen Ančić, Gje je bio podignut prvi franjevački samostan u srednjovjekovnoj Bosni [= Wo das erste franziskanische Kloster im mittelalterlichen Bosnien errichtet wurde], in: Prilozi 20 (1985), S. 95–114. 44 Marina Vidas, Elizabeth of Bosnia, Queen of Hungary, and the Tomb-Shrine of St. Simeon in Zadar: Power and Relics in Fourteenth-Century Dalmatia, in: Studies in Iconography 29 (2008), S. 136–175. 45 Vgl. das Schreiben Urbans V. an Bartholomäus von Alverna aus dem Jahre 1368, in dem gezielt der Einsatz bosnischer Franziskaner (fratres ex nacione Bosnensi) für die Mission empfohlen wurde: ‚Acta Bosnae‘ (Anm. 42), S. 36, Nr. 195.



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von Kroatien bis an das Schwarze Meer reichte.46 Entsprechend lassen sich umfassende Missionsbestrebungen auch nicht nur für Bosnien nachweisen; mit der Unterstützung des ungarischen Königs wirkten die Franziskaner auch in den serbischen und rumänischen Gebieten des Königreiches sowie in Bulgarien. Einen Eindruck davon, wie die Mission in diesen Gebieten begründet und gerechtfertigt wurde, vermitteln die Missionsschriften des Bartholomäus von Alverna, der zwischen 1368 und 1408 Franziskanervikar in Bosnien war.47 In einer thesenhaften Zusammenstellung benannte Bartholomäus die zehn bedeutendsten Merkmale der östlichen Häresie, welche er vor allem bei Bosniern, Bulgaren und Walachen zu erkennen glaubte: diese verweigerten sich einer einheitlichen katholischen Kirche und erkannten den Papst nicht als Haupt der Kirche an. Darüber hinaus vollzögen sie einen andersartigen Taufritus und hätten ein abweichendes Eucharistieverständnis. Damit waren die entscheidenden Merkmale benannt – für Bartholomäus waren die „Häretiker“ keine Juden oder Heiden, sondern „Christen“, die sich von der rechten Glaubensform unterschieden und von ihrem Irrweg abzubringen seien.48 Auf dieser Grundlage erläuterte er in einem Rundbrief an die bosnischen Franziskaner, der wohl zwischen 1378 und 1382 verfasst wurde, die Prinzipien, Begründung und Legimitation der franziskanischen Mission. Bemerkenswerterweise führte Bartholomäus dabei sowohl die lateinische als auch die griechische Form der Taufe, die er als gleichwertig verstand, als Argument und gleichsam als Maßstab an, um „abweichende“ Taufriten zu bekämpfen und zu Missionsgegenständen zu erklären: Zu taufen waren demnach jene Personen, die nicht eindeutig nach lateinischem oder griechischem Ritus getauft worden waren und deren Taufe keiner festen und anerkannten Form folge.49 Bartholomäus zählte zu dieser Gruppe vor allem Slawen und Walachen, die samt ihrer Priester wegen ihres abweichenden Kultes zu bekehren seien. Deutlich schien in seiner Darstellung auch ein enger Zusammenhang mit der Expansionspolitik Ludwigs I. auf dem Balkan auf, denn Bartholomäus erachtete die Macht und Dominanz des Königs auch über lokale

46 Zur Vikarie Bosnien gehörten die Kustodien Dulma, Greben, Bosnia, Ussera, Machovia, Bulgaria und Chevin. Vgl. Bartholomäus Pisanus, De conformitate vitae beati Francisci ad vitam domini Iesu, Lib. I, in: Analecta Franciscana, Quaracchi 1906, hier S. 555f. 47 Dionysius Lasić OFM, Fr. Bartholomaei de Alverna, Vicarii Bosnae 1367–1407, quaedam scripta hucusque inedita, in: Archivum Franciscanum Historicum 55 (1962), S. 59–81. Vgl. zu Bartholomäus: Bonicije Rupčić, Značenje „Dubia“ Fra Bartola iz Alverne god. 1372/73 za povijest Bosne [= Die Bedeutung der „Dubia“ des Frater Bartholomäus von Alverna aus dem Jahr 1372/73 für die Geschichte Bosniens], in: Zbornik Zavoda za Povijesne Znanosti Istrazivackog 15 (1988), S. 65–90. 48 Lasić (Anm. 47), S. 71: Non enim sunt sicut Iudaei vel pagani, sed christiani a nobis divisi, et oves errantes, quae non solum vocibus sed flagellis ad ovile veri pastoris reduci habent. 49 Sexta Ratio, ebd., S. 74–76. Die Argumentation erhielt zusätzliches Gewicht durch ein programmatisches Diktum, das Bartholomäus dem byzantinischen Kaiser Johannes V. Palaiologos, der sich mit Ludwig I. 1366 in Buda getroffen hatte, zuschrieb: Bene facit rex baptizare istos Sclavos, quia nec Graecam nec Romanam formam sequuntur (S. 75). Vgl. dazu John Gill, John V Palaeologus at the court of Louis I of Hungary (1366), in: Byzantinoslavica 38 (1977), S. 31–38.





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Potentaten der Region für die Voraussetzung einer umfassenden Missionspolitik. Überdies schrieb er dem König immense ‚Bekehrungserfolge‘ mit Taufen von mehreren hunderttausend Personen zu.50 Tatsächlich dürfte für die Ausdehnung der bosnischen Vikarie neben der politischen und finanziellen Förderung durch die bosnischen Herrscher und Adeligen vor allem auch das Engagement des ungarischen Königs Ludwig I. entscheidend gewesen sein, der in mehreren Kriegszügen politischen Einfluss vor allem in Bosnien und Bulgarien geltend zu machen suchte. Die Grundlage seiner Bosnienpolitik bildeten Gebietsansprüche, die Ludwig aus der Heirat mit Elisabeth Kotromanić geltend machen konnte. Da die betreffenden Territorien von bosnischen und kroatischen Magnaten beherrscht wurden, zog Ludwig I. seit 1363 (erfolglos) gegen lokale Adelige in Bosnien. Schon drei Jahre später engagierte sich der König erneut militärisch in Bosnien, um dem gestürzten bosnischen Ban Tvrtko bei der Rückeroberung seines Landes beizustehen.51 Vielleicht noch stärker als sein Vater Karl stellte Ludwig I. sein Vorgehen in den Dienst der Heiden- und Häretikerbekämpfung und stilisierte das ungarische Königreich zum ‚Bollwerk des Christentums‘. Die mit der Mission in jenen Gebieten beauftragten Franziskaner waren für ihn dabei wichtige Kooperationspartner, und so vermag es kaum zu erstaunen, dass in die Zeit der Balkanzüge Ludwigs I. auch die Errichtung neuer Klöster fiel: Zwischen 1366 und 1368 förderte der König mit den franziskanischen Niederlassungen Cseri, Haram, Orsova und Karánsebes die Gründung von vier Klöstern, die im Grenzbereich zum Banat Macsó lagen und mithin wohl der Absicherung seiner Regionalpolitik dienen sollten.52 Um die Bedeutung seines Engagements in Südosteuropa zu unterstreichen, ließ der König die Namen der ‚Bekehrten‘ in Listen zusammenstellen und sandte zudem regelmäßig Mitteilungen über die Erfolge seiner Missionspolitik an die Kurie; mithin ist zu vermuten, dass sich Ludwig I. in seinem Selbstverständnis bestätigt sah, als Papst Urban VI. ihm 1368 mit überschwänglichen Worten zu seiner Balkan-Politik und der Bekehrung „vieler tausend Personen“ in Bosnien und Bulgarien gratulierte.53 Obgleich Berichte von

50 Lasić (Anm. 47), S. 74: ad conversionem istorum, dico, quod ante tempora istius Ludovici regis nullus regum habuerat opportunitatem et potestatem faciendi pro eo. Ebd., S. 75: Immo altero anno, quando rex ccccta milia baptizavit inter quadringentos sacerdotes schismaticos non fuerunt inventi, [qui] formam servarent. 51 Vgl. dazu Engel (Anm. 37), sowie Norman Housley, King Louis the Great of Hungary and the Crusades, 1342–1382, in: Slavonic and East European Review 62 (1984), S. 192–208. 52 Vgl. dazu auch den Eintrag zu dem Jahr 1366 im Chronicon observantis provinciae Bosnae Argentinae s. Francisci Seraphici, hrsg. v. Eusebius Fermendžin, in: Starine 22 (1890), S. 1–67, hier S. 12. 53 Codex diplomaticus Hungariae ecclesiasticus ac civilis, Bd. 9,4: Ab Anno 1367–1374, hrsg. v. Georgius Fejér, Buda 1834, S. 141f., Nr. 69: Repleuit ingenti gaudio mentem nostram […], quod […] ad tuam inductionem et cooperationem piissimam, ac fratrum dicti ordinis in dictis partibus commorantium ­praedicationem, multa millia personarum […] ad lumen verae fidei ac vnitatem et obedientiam sacrosancte Romanae Ecclesiae matris ac magistrae cunctorum fidelium redierunt.



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solch umfangreichen Bekehrungen oder auch die Erwähnung von Namenslisten der Bekehrten überzogen erscheinen, wenn man berücksichtigt, dass die Vikarie personell nicht eben stark aufgestellt war, dienten sie nicht nur der Rechtfertigung gegenwärtiger Politik, sondern auch ihrer künftigen Gestaltung: In jenem Jahr 1366 etwa, aus dem zahlreiche Berichte über die Missionsbestrebungen des ungarischen Königs überliefert sind, bat Ludwig I. den Generalminister der Franziskaner unter Verweis auf die bisherigen Erfolge in Bulgarien und Bosnien um die Aufstockung des lokalen Missionskontingents.54 Aus dem gleichen Jahr datiert ein königlicher Befehl, alle „schismatischen slawischen Priester mit ihren Frauen, Kindern und ihrem Besitz“ zu versammeln.55 In der Chronik des Johannes von Thurócz findet sich dazu der lakonische Hinweis, dass vom Bezirk Lippa aus zunächst alle „halsstarrigen Slawen“ bekehrt worden waren, nach Ludwigs Tod aber wieder zu ihrem Irrglauben zurückgekehrt seien.56 Interessant hieran ist neben dem Bericht über die Bekehrung vor allem, dass die Maßnahmen von Lippa ausgingen – jenem Ort, der die erste angevinische Klosterstiftung zugunsten der Franziskaner beherbergte.

3 Franziskanische Klöster als Begegnungsräume im angevinischen Königreich Ungarn Die angevinischen Könige Ungarns demonstrierten im 14. Jahrhundert kontinuierlich eine enge Verbundenheit mit Klöstern und Orden – durch die Stiftung kostbarer Kodizes und Miniaturen, den gezielten Einsatz von Klosterbrüdern in königsnahen Ämtern oder die Stiftung bzw. Förderung von Klöstern. Die hier offensichtliche Vorliebe für den Orden der Franziskaner kann sicherlich auf Prägungen durch Traditionen der französischen und neapolitanischen Anjou zurückgeführt werden. Auch individuelle Frömmigkeitsbestrebungen, wie sie etwa im Falle von Ludwig I. und seiner Mutter Elisabeth belegt sind, mögen eine wichtige Rolle gespielt haben. Neben spirituellen Funktionen dienten die entstehenden monastischen Zentren oder Netzwerke auch dazu, die angevinische Herrschaft programmatisch zu legitimieren oder konkret politisch abzusichern. Ein eindrückliches Fallbeispiel dafür war die von

54 Codex diplomaticus Hungariae ecclesiasticus ac civilis, Bd. 9,3: Ab Anno 1359–1366, hrsg. v. Georgius Fejér, Buda 1834, S. 602f., Nr. 322. Der Hinweis auf die geringe personelle Besetzung der Vikarie findet sich auch in: ‚Chronicon observantis‘ (Anm. 52), S. 9. 55 ‚Codex Diplomaticus IX.3‘ (Anm. 54), S. 543f., Nr. 296. 56 Johannes de Thurocz, Chronica Hungarorum, Bd. 1: Textus, hrsg. v. Elisabeth Galántai u. Julius Kristó (Bibliotheca Scriptorum Medii Recentisque Aevorum, Series Nova 7), Budapest 1985, S. 185 (cap. 178): Item Sclaui districtus de Lippua dure cervicis populus ad fidem erat conversus et baptizatus, cui sacerdotes secundum translationem beati Hieronimi doctoris sancte matris ecclesie sacramenta ­ecclesiastica ministrabant, sed nunc, ut narratur, in apostasiam et pristinum errorem sunt relapsi, et multo peiores effecti.





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Ungarn maßgeblich beeinflusste franziskanische Bosnienmission. Ihre Förderung und Unterstützung eröffnete Karl I. und Ludwig I. neben politischen Verbindungen und dynastischen Verflechtungen auch den Weg kirchenpolitischer Einflussnahme im multireligiösen Südosten Europas. Programmatische Quellen wie die Schriften des Bartholomäus von Alverna lassen erkennen, dass die Konfrontation mit einem als ‚anders‘ wahrgenommenen und als ‚häretisch‘ stigmatisierten Glauben in Bosnien, Rumänien oder Bulgarien mit einer dezidierten Selbstpositionierung einherging. Auf diese Weise gelang es, die ungarische Königsherrschaft im ‚rechten Glauben‘ zu verankern und gegenüber anderen christlichen Reichen Europas zum ‚Vorkämpfer‘ des westlichen Christentums zu stilisieren. Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hatte das enge und wirkmächtige Verhältnis angevinischer Herrscher und franziskanischer Klöster, die sich vor diesem Hintergrund in doppeltem Sinne als ‚Begegnungsräume‘ beschreiben lassen – als Orte des Kontakts mit differenten Religionsgruppen ebenso wie als Stätten der Memoria und spirituellen Verortung königlicher Herrschaft in Ungarn.



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Abb. 1: Ungarische Bilderchronik. Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. Lat. 404, fol. 70r.



Ekaterini Mitsiou (Athen)

Die Netzwerke einer kulturellen Begegnung: byzantinische und lateinische Klöster in Konstantinopel im 13. und 14. Jahrhundert Abstract: Nach 1204 erlebte die byzantinische Hauptstadt bedeutende kulturelle Änderungen. Dazu gehörte die stärkere (auch räumliche) Präsenz lateinischer Mönche  in Konstantinopel und seiner unmittelbaren Umgebung. Dieser Beitrag untersucht zunächst den monastischen Raum Konstantinopels nach 1204, auch mit Hilfe einer kartographischen Darstellung. Anhand der Theorie der Transkulturalität werden Personen identifiziert, die auf einer literarischen Ebene den Austausch und das Verständnis zwischen West und Ost unterstützten. Schließlich widmet sich der Beitrag der Visualisierung des Netzwerks dieser Akteure mithilfe der Konzepte und Instrumente der Sozialnetzwerkanalyse.

Einführung Das Verhältnis der Byzantiner zu Gruppen ‚westlicher‘ Herkunft weckt seit langem das Interesse der Forschung. Frühere Untersuchungen widmeten sich den diplomatischen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen; neuere Studien hingegen legten den Schwerpunkt auf die kulturellen Aspekte dieser Beziehungen.1 Komplexe historische Ereignisse wie das Schisma von 1054, das Vordringen westlicher Händler im östlichen Mittelmeerraum und die Kreuzzüge trugen zur Intensivierung der byzantinischen Vorurteile gegenüber den Westeuropäern bei. Die antilateinischen Gefühle artikulierten sich besonders ab dem 12. Jahrhundert in den sogenannten ‚Listen der Fehler der Lateiner‘, die Versuche zur Definition ‚kultureller Grenzen‘ darstellen.2 Mittlerweile konzentriert sich die Forschung auf die Komplexität interkulturellen beziehungsweise transkulturellen Austauschs. Aus den verfügbaren theoretischen Konzepten ist jenes der Transkulturalität besonders nützlich. Wolfgang Welsch, der

1 Anthony Kaldellis, Ethnography after antiquity. Foreign Lands and Peoples in Byzantine Literature (Empire and after), Philadelphia 2013, S. 166–183. 2 Tia Kolbaba, The Byzantine lists. Errors of the Latins, Urbana 2000; dies., The Orthodoxy of the Latins in the Twelfth century, in: Andrew Louth u. Augustin Casiday (Hgg.), Byzantine Orthodoxies. Papers From the Thirty-sixth Spring Symposium of Byzantine Studies, University of Durham, 23–25 March 2002 (Society for the Promotion of Byzantine Studies 12), Aldershot 2006, S. 199–214; dies., Byzantine Perceptions of Latin Religious ‚Errors‘. Themes and Changes from 850 to 1350, in: Angeliki E. Laiou u. Roy Parviz Mottahedeh (Hgg.), The Crusades from the Perspective of Byzantium and the Muslim World, Washington D.C. 2001, S. 117–143; Marie-Hélène Blanchet, Les listes antilatines à Byzance aux XIVe–XVe siècles, in: Medioevo greco 12 (2012), S. 11–38.

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dieses Konzept stark geprägt hat, verstand Transkulturalität als das Verwischen oder die Aufhebung von Barrieren, wenn Kulturen aufeinander treffen. Für ihn sind alle Kulturen und Individuen transkulturelle Formationen.3 Die Identität jeder Gemeinschaft steht jedoch immer in Zusammenhang mit dem Raum ihrer Aktivität. Die Eroberung Konstantinopels (1204) begründete auch eine neue räumliche Dynamik in der Stadt,4 in welcher verschiedene kulturelle Elemente unter der Herrschaft des Lateinischen Kaiserreiches standen.5 Von Belang sind die Änderungen in der monastischen Landschaft und der Einfluss des neu entstandenen Klosternetzwerkes auf die kulturellen Entwicklungen im 13. und 14. Jahrhundert. Die westlichen Ordensgemeinschaften in Konstantinopel und in der Ägäis dienten generell zur Unterstützung der Lateinischen Kirche, sei es durch die Teilnahme ihrer Mitglieder an den Unionverhandlungen mit den Byzantinern oder als wichtige Knotenpunkte der Missionsrouten weiter nach Osten.6 Diese und weitere Aspekte jener Präsenz sind mittlerweile sehr gut erforscht.7 Die vorliegende Studie fokussiert allerdings die monastische Landschaft Konstantinopels nach 1204, die kulturellen Folgen der Koexistenz westlicher und orthodoxer Klöster in dieser Landschaft und die Anwendung moderner Instrumente (Netzwerkanalyse), um ein besseres Verständnis der Intensität der entstandenen Interaktion zu erwerben.

3 Wolfgang Welsch, Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, in: Information Philosophie 20, 2 (1992), S. 5–20; ders., Transkulturalität – Die veränderte Verfassung heutiger Kulturen. Ein Diskurs mit Johann Gottfried Herder, in: VIA REGIA. Blätter für internationale kulturelle Kommunikation 20 (1994), URL http://via-regia-kulturstrasse.org/bibliothek/pdf/heft20/ welsch_transkulti.pdf (einges. 10.6.2014) [ohne Paginierung]; ders., Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt am Main 1996. 4 Michael Angold, The Fourth Crusade. Event and Context, Harlow 2003; Ralph-Johannes Lilie, ­Byzanz und die Kreuzzüge, Stuttgart 2004. 5 Jean Longnon, L’empire latin de Constantinople, Paris 1949; Filip van Tricht, The Latin Renovatio of Byzantium. The Empire of Constantinople (1204–1228) (The Medieval Mediterranean. People, Economies and Cultures, 400–1500 90), Leiden, Boston 2011. 6 Das theoretische Konzept dieser ‚Mission‘ stammt von dem Ordensgeneral Humbertus de Romanis, der die Vorbedingungen einer Kirchenunion in einer Denkschrift für das Konzil von Lyon (1274) behandelt; s. dazu Michael Rackl, Thomas von Aquin im Werturteil eines byzantinischen Theologen, in: Albert Lang, Joseph Lechner u. Michael Schmaus (Hgg.), Geisteswelt des Mittelalters (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen), Münster i. W. 1935, S. 1361–1372, hier S. 1361–1363; Berthold Altaner, Die Dominikanermissionen des 13. Jahrhunderts. Forschungen zur Geschichte der kirchlichen Unionen und der Mohammedaner- und Heidenmission des Mittelalters (Breslauer Studien zur historischen Theologie 3), Habelschwerdt 1924; ders., Die Kenntnis des Griechischen in den Missionsorden während des 13. und 14. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 53 (1934), S. 436–493. 7 Nickiphoros I. Tsougarakis, The Latin Religious Orders in Medieval Greece, 1204–1500 (Medieval Church Studies 18), Turnhout 2012; Marina Koumanoude, Όψεις του Δυτικού Μοναχισμού στην Ελληνολατινική Ανατολή κατά το Μεσαίωνα, in: Elias Kolobos (Hg.), Μοναστήρια, Οικονομία και Πολιτική. Από τους μεσαιωνικούς στους νεώτερους χρόνους, Herakleion 2012, S. 69–115.





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Die monastische Landschaft Konstantinopels (1204–Mitte des 14. Jahrhunderts) Die Transformation der monastischen Landschaft Konstantinopels nach 1204 ist eng mit dem Schicksal der orthodoxen Klöster und der Präsenz der Zisterzienser, Benediktiner, später der Dominikaner und Franziskaner verbunden.8 Nach Berechnungen von R. Janin, V. Kidonopoulos und D. d’Alessio wurden im Zeitraum zwischen 1203 und 1261 circa 19 byzantinische Klöster in Konstantinopel verlassen und dem Verfall preisgegeben, während die Lateinern circa 13 Klöster übernahmen.9 Eine räumliche Vorstellung dieser Entwicklung kann die hier beigefügte Karte vermitteln, auf der zusätzlich zu den verlassenen (schwarz markiert) und übernommenen (weiß markiert) Klöstern auch die neuen lateinischen Gründungen (grau markiert) dieser Jahrzehnte verzeichnet sind (Abb. 1).10 Auf jeden Fall handelt es sich um ein unvollständiges Bild, da die Bauten nicht berücksichtigt wurden, die außerhalb der Mauern Konstantinopels liegen. Darüber hinaus ist die genaue Lage vieler Klöster unsicher, während es für manche byzantinischen Klöster überhaupt ungenügende Informationen über die Zeit nach 1204 gibt. In einigen Fällen kann man die Lage dieser Klöster immerhin auf eine bestimmte Region eingrenzen. Die Kategorie der übernommenen Klöster (weiß) erweist sich auf diese Karte als eine der interessantesten, weil sie unter anderem bestimmte Interessensregionen der Lateiner aufzeigt, wie zum Beispiel das Mangana-Viertel. Generell folgten die lateinischen Klöster den Orten der byzantinischen Gründungen, wobei viele in der Nähe des Großen Palastes und der Hagia Sophia (politisches und kirchliches Zentrum) lagen.11 Unter den in der Abbildung 1 aufgelisteten Klöstern, findet man die Schwerpunkte der Zisterzienser wie St. Angelus in Pera (Nr. 24) und de Percheio (Nr. 31). Die

8 Brenda M. Bolton, A mission to the Orthodox? The Cistercians in Romania, in: Studies in Church History 13 (1976), S. 169–181; Claudine Delacroix-Besnier, Les Dominicains et la chrétienté grecque aux XIVe et XVe siècles (Collection de l’École Française de Rome 237), Rom 1997, S. 185–200, hier S. 186– 197; Tommaso M. Violante, La provincia domenicana in Grecia (Dissertationes historicae 25), Rom 1999; Peter Lock, The Franks in the Aegean, 1204–1500, London, New York 1995, S. 222–239; Chrysa Maltezou, Monjes Latinos en Romania: un programa religioso, in: Pedro Bádenas, Antonio Bravo u. Inmaculada Pérez Matín (Hgg.), Επίγειος Ουρανός. El cielo en la tierra. Estudios sobre el monasterio bizantino, Madrid 1997, S. 47–57. 9 Raymond Janin, La géographie ecclésiastique de l’Empire byzantin, Bd. 1: Le siège de Constantinople et le Patriarcat oecuménique, Bd. III: Les églises et les monastères, 2. Aufl. Paris 1969, S. 579– 582; Vassilios Kidonopoulos, Bauten in Konstantinopel 1204–1328 (Mainzer Veröffentlichungen zur ­Byzantinistik 1), Wiesbaden 1994, S. 229; Daleggio Ε. D’Alessio, Les sanctuaires urbains et suburbains de Byzance sous la domination latine, 1204–1261, in: Revue des Études Byzantines 11 (1953), S. 50–61. 10 Ich möchte hier J. Preiser-Kapeller (Wien) für seine Hilfe bei der Erstellung der Karte danken. 11 van Tricht (Anm. 5), S. 103.



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Mönche von St. Angelus in Pera erhielten das byzantinische Kloster de Rufiniano,12 aber das Verhältnis der orthodoxen Mönche zu den Zisterziensern blieb angespannt. Da die griechische Gemeinde die päpstliche Autorität nicht anerkannte, mussten die orthodoxen Mönche das Kloster verlassen. Nach 1261 gaben hingegen die Zisterzienser aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Kloster auf.13 Ähnliches passierte auch mit dem Frauenkloster de Percheio. Es war vielleicht die wichtigste und finanziell stärkste Gemeinschaft der Zisterzienser in Konstantinopel und lag nahe der Hagia Sophia. De Percheio stellt den seltenen Fall dar, wo eine lateinische Klostergründung später von einem byzantinischen Frauenkloster (tu Pertze) benutzt wurde.14 Was die Benediktiner angeht, erhielt die Gemeinde von San Giorgio Maggiore in Venedig um 1205 das Christos Pantepoptes-Kloster (Nr. 20).15 Einer bewährten Strate­gie folgend übergab San Giorgio 1244 das Pantepoptes-Kloster samt der San MarcoKirche in Konstantinopel an Benedikt, Bischof von Herakleia, für eine Miete von 33  Hyperpyra.16 In benediktinische Hände fiel ebenso das Kloster Maria Virgiottis (Theotokos Evergetis), welches allerdings außerhalb Konstantinopels zu suchen ist.17 Das Peribleptos-Kloster (Nr. 22), dessen Kirche entsprechend den Bedürfnissen der lateinischen Liturgie umgewandelt wurde, kam in Besitz der venezianischen Benediktiner; leider ist sehr wenig über diese Phase seiner Geschichte bekannt.18 Die monastische Dynamik und ihre Topographie änderten sich erneut, als Franziskaner und Dominikaner ihre ersten Gemeinden gründeten. Das erste Franzis­ kanerkloster in Konstantinopel wurde 1220 errichtet. Es verfügte auch über eine Schule, doch generell ist nicht viel über das Kloster bekannt.19 Ein stabilerer Punkt war das Kloster des Heiligen Franziskus in Pera (Nr. 34), aber es ist nicht sicher, ob es

12 Zu Rufinianae siehe Raymond Janin, Les églises et les monastères des grands centres byzantins (Bithynie, Hellespont, Latros, Galésios, Trébizonde, Athènes, Thessalonique), Paris 1975, S. 38–40. 13 Tsougarakis (Anm. 7), S. 53–55. 14 Guillaume Saint-Guillain, Propriétés et bienfaiteurs de l’abbaye constantinopolitaine de SainteMarie du Perchay, in: Thesaurismata 41/42 (2011/2012), S. 9–40; Tsougarakis (Anm. 7), S. 61–67, 288, 293; Janin (Anm. 9), S. 396–397; Kidonopoulos (Anm. 9), S. 61–62. 15 Anonymi monachi beatissimi Pauli martyris de Constantinopoli Venetias, Bd. 1: Exuviæ sacræ constantinopolitanæ, hrsg. v. Paul Raint, Genf 1877, ND Paris 2004, S. 141–149. Zum Christos PantepoptesKloster s. Janin (Anm. 9), S. 513–515; Kidonopoulos (Anm. 9), S. 28–30. 16 Für dieses Thema und die relevanten Quellen siehe Marina Koumanoude, Μονή του Αγ. Γεωργίου Μείζονος (San Giorgio Maggiore) Βενετίας και οι σχέσεις της με την ελληνολατινική Ανατολή (Ελληνικό Ινστιτούτο Βυζαντινών και Μεταβυζαντινών Σπουδών, Θωμάς Φλαγγίνης 6), Athen, Venedig 2011, S. 167–169; Janin (Anm. 9), S. 571–572. 17 Für das Evergetis-Kloster und die für seine Geschichte relevanten lateinischen Urkunden siehe Robert H. Jordan u. Rosemary Morris, The Hypotyposis of the Monastery of the Theotokos Evergetis, Constantinople (11th–12th Centuries). Introduction, Translation and Commentary, Farnham 2012, S. 14f., 275–279; s.a. Tsougarakis (Anm. 7), S. 85f., und Janin (Anm. 9), S. 178–183. 18 Tsougarakis (Anm. 7), S. 82; Janin (Anm. 9), S. 218–222; Kidonopoulos (Anm. 9), S. 91–93. 19 Tsougarakis (Anm. 7), S. 106; Robert Lee Wolff, The Latin Empire of Constantinople and the Franciscans, in: Traditio 2 (1944), S. 213–237, hier S. 214.





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bereits vor 1261 erbaut wurde. Die Kirche verfügte über Mosaiken und Wand­malereien mit Szenen aus den Evangelien und einem Bild der Dormitio beim Eingang, der byzantinischen Tradition folgend.20 Die erste dominikanische Klostergemeinde in Konstantinopel ist ab dem Jahr 1233 belegt, doch bleiben ihr Name und ihre Lage unbekannt.21 Hingegen sind die Namen zweier ihrer Prioren überliefert, und ein Mitglied dieser Gemeinde verfasste 1252 einen Traktat gegen die Fehler der Griechen.22 Die byzantinischen Quellen präsentieren nach 1261 eine Stadt in Ruinen.23 Wie D. Jacoby sehr korrekt bemerkt hat, ist Vorsicht gegenüber solchen Verallgemeinerungen angebracht, die ein sehr negatives Bild der Verhältnisse in der Stadt nach 1204 präsentieren.24 Kaiser Michael VIII. Palaiologos renovierte Kirchen sowie drei Klöster, Andronikos II. sorgte für den Wiederaufbau der Heiligen Apostel, der Hagia Sophia und der Blachernai.25 Zwischen 1261 und 1328 wurden circa 17 Klöster durch Aristokraten neu gegründet.26 Die renovierten und neuen Bauten sind vor allem in der sogenannten ‚Zehnten Region‘ und in den Mangana-, Blanga-, Xerolophos-, Krisis- und Perama-Gebieten lokalisiert.27 Die westlichen Klöster, wie das franziskanische auf der Agora (Nr. 33), waren nach 1261 nicht willkommen. Trotzdem kam Guillaume Bernard von Gaillac 1299 nach Konstantinopel und gründete ein Kloster in einer heute unbekannten Lage. Die

20 Gualberto Matteucci, Un glorioso convento francescano sulle rive del Bosforo. Il S. Francesco di Galata in Constantinopoli, c. 1230–1697 (Biblioteca di studi francescani 7), Florence 1967; ders., La missione francescana di Constantinopol, Bd. 1: La sua antica origine e premi secoli di storia (1217– 1587), Florenz 1971; Catherine Jolivet-Lévy, La peinture à Constantinople au XIIIe siècle. Contacts et échanges avec l’Occident, in: Jean-Pierre Caillet u. Fabienne Joubert (Hgg.), Orient et occident ­méditerranéens au XIIIe siècle. Les programmes picturaux, Paris 2012, S. 21–40, hier S. 28; Tsougarakis (Anm. 7), S. 106–108. 21 Raymond J. Loenertz, Les etablissements dominicains de Pera-Constantinople, in: Echos d’Orient 34 (1935), S. 332–349, hier S. 334. 22 Loenertz (Anm. 21), S. 334f. 23 Νicephorus Gregoras, Historiae Byzantinae, Bd. 1, hrsg. v. Ludwig Schopen (Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae 29), Bonn 1829, S. 106, 107, 127; vgl. auch Gregorii Cyprii Oratio Laudatoria in imp. D. Michaelem Palaeologum novum Constantinum, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Graeca, Bd. 142, Sp. 345–385, hier Sp. 376. 24 David Jacoby, The Urban Evolution of Latin Constantinople (1204–1261), in: Nevra Nečipoglu (Hg.), Byzantine Constantinople. Monuments, Topography and everyday Life, Leiden, Boston, Köln 2001, S. 277–297. 25 Kidonopoulos (Anm. 9), S. 237–240. 26 Alice-Mary Talbot, The Restoration of Constantinople under Michael VIII., in: Dumbarton Oaks Papers 47 (1993), S. 243–261; dies., Building activity in Constantinople under Αndronikos II. The Role of women patrons in the construction of monasteries, in: Nečipoglu (Anm. 24), S. 329–343. 27 Vassilios Kidonopoulos, The urban Physiognomy of Constantinople from the Latin Conquest through the Palaiologan Era, in: Sarah T. Brooks (Hg.), Byzantium, Faith, and Power (1261–1557). Perspectives on Late Byzantine Art and Culture (The Metropolitan Museum of Art Symposia), New York 2006, S. 98–117, hier S. 107.



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monastische Gemeinde wurde allerdings am Anfang des 14. Jahrhunderts nach Pera verlegt.28 Circa 1307 wurde das Kloster zum Heiligen Dominikus oder Paulus von Pera (Arap Camii) (Nr. 30) gegründet,29 welches sich zu einem der bedeutendsten Zentren lateinischer Kultur in der Stadt entwickelte. Dort entdeckte Wandmalereien stellen die Geburt und die Taufe Christi dar, eine zweite Gruppe besteht aus Propheten, Evangelisten und Kirchenvätern. Das benutzte Baumaterial stammte wahrscheinlich aus einer byzantinischen Kirche. Sicher ist, dass trotz der lateinischen Inschriften griechische Künstler in der Kirche am Werk waren.30

Kulturelle Interaktion und ihre Agenten (vom 13. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts) Solche Beispiele aus der Kunstgeschichte stellen einen wichtigen Beleg für den kulturellen Austausch und das Interesse an der Produktion des ‚Anderen‘ dar. Interesse existierte ebenfalls für die literarische Produktion. Anstatt nur die Tapferkeit und die militärischen Fähigkeiten der Lateiner zu loben,31 erkannten manche Byzantiner im 13. Jahrhundert die Fortschritte in der Gelehrsamkeit und in den Wissenschaften, die im hohen und späten Mittelalter in Westeuropa erzielt wurden. Unionsverhandlungen, bei denen vor allem Franziskaner und Dominikaner teilnahmen, boten eine exzellente Gelegenheit, die Stärken der Gegner festzustellen. So bemerkte Theodoros II., dass auch die Philosophie im Westen Fortschritte gemacht hatte, und war in Sorge über eine translatio studiorum.32

28 Tsougarakis (Anm. 7), S. 186. 29 Benedetto Palazzo, L’Arap-Djami ou Église Saint-Paul à Galata, Istanbul 1946; Violante (Anm. 8), S. 151. 30 Jolivet-Lévy (Anm. 20), S. 26–28; Stephan Westfahlen, Pittori greci nella chiesa domenicana dei Genovesi a Pera (Arap Camii). Per la genesi di una cultura figurativa levantina nel Trecento, in: Anna Rosa Calderoni Masetti, Colette Dufour Bozzo u. Gerhard Wolf (Hgg.), Intorno al Sacro Volto. Genova, Bisanzio e il Mediterraneo (secoli XI–XIV), Venedig 2007, S. 51–62. 31 Charis Messis, Lectures sexuées de l’altérité. Les Latins et identité romaine menacée pendant les derniers siècles de Byzance, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 61 (2011), S. 151–170, hier S. 152; Dimiter Angelov, Byzantine Ideological Reactions to the Latin Conquest of Constantinople, in: Angeliki Laiou (Hg.), Urbs Capta. The Fourth Crusade and its Consequences. La IVe croisade et ses conséquences (Réalités Byzantines 10), Paris 2005, S. 292–310. 32 Theodoros II. Laskaris, Briefe, hrsg. v. Nicolaus Festa, Florenz 1898, S. 8, Nr. 5; Krijnie N. Ciggaar, Western Travellers to Constantinople. The West and Byzantium, 962–1204. Cultural and Political Relations (The Medieval Mediterrean 10), Leiden, New York, Köln 1996, S. 94–95; Börje Bydén, „Strangle Them with Theses Meshes of Syllogisms!“, in: Jan Olof Rosenqvist (Hg.), Interaction and Isolation in Late Byzantine Culture. Papers Read at a Colloquium Held at the Swedish Research Institute in Istanbul, 1–5 December, 1999 (Swedish Research Institute in Istanbul Transactions 13), Stockholm 2004, S. 133–157, hier S. 146.





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Eine solche translatio war in der Mitte des 14. Jahrhunderts bereits vollzogen. Demetrios Kydones,33 eine der wichtigsten Figuren des griechischen Thomismus, lernte Latein, studierte und übersetzte Thomas von Aquin (1225–1274) sowie weitere lateinische Theologen.34 Er vertrat die Meinung, dass es bei den Lateinern sehr wohl Personen gebe, die zu höchsten geistigen Errungenschaften fähig waren.35 Kydones gehört zu den sogenannten transkulturellen Persönlichkeiten, „Individuen, die einen Weg finden, über die Kulturen, in die sie hineingeboren sind, hinauszugehen, um neue, anscheinend fremde Kulturen zu erkunden, erproben und aufzunehmen.“36 Er fühlte sich aber gezwungen, sich für seine Beschäftigung mit der lateinischen Sprache und seine Übersetzungen zu rechtfertigen. Ihm zufolge hatten die Byzantiner die gesamte Menschheit in zwei Gruppen geteilt, in Griechen und Barbaren. Zu den Barbaren zählten sie die Lateiner, welchen sie „zur Not das Waffenhandwerk und einige zweifelhafte Handelsgeschäfte und Schankbetriebe zubilligten.“37 Für Demetrios Kydones waren es die alten Vorurteile und die fehlenden Sprachkenntnisse, die zu einer generellen Ablehnung der Lateiner als Barbaren beigetragen hatten. Trotzdem zeigten die Byzantiner am Ende des 13. Jahrhunderts ein größeres Interesse für Latein, das eng mit der Union von Lyon (1274) verbunden ist. Im Rahmen der Verhandlungen waren Sprachkenntnisse notwendig, um Argumente für die Dispute und Diskussionen zu erhalten. Darüber hinaus mussten die westlichen theologischen Werke durch Übersetzungen für ein breiteres byzantinisches Publikum

33 Judith R. Ryder, The Career and Writings of Demetrius Kydones. A Study of Fourteenth-Century Byzantine Politics, Religion and Society (The Medieval Mediterranean 85), Leiden u. a. 2010; dies., Divided Loyalties? The Career and Writings of Demetrius Kydones, in: Martin Hinterberger u. Chris Schabel (Hgg.), Greek, Latins and the Intellectual History 1204–1500 (Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 11), Leuven 2011, S. 243–261; Franz Tinnefeld, Das Niveau der abendländischen Wissenschaft aus der Sicht der gebildeten Byzantiner im 13. und 14. Jh, in: Byzantinische Forschungen 6 (1979), S. 241–280; ders., Die Briefe des Demetrios Kydones (Mainzer Veröffentlichungen zur Byzantinistik), Wiesbaden 2010. 34 Δημητρίου Κυδώνη, Θωμά Ἀκυϊνάτου: Σούμα Θεολογική Ἑξελληνισθεῖσα, hrsg. v. George Leontsinis, Αthanasia Glykofrydou-Leontsini u. Evangelos Mutsopulos (Ἵδρυμα Ἐρεύνης Ἐκδόσεων Νεοελληνικῆς Φιλοσοφίας 650), Athen 1976; Michael Rackl, Die griechischen Augustinusübersetzungen. Miscellanea Francesco Ehrle. Scritti di storia e paleografia, Bd. 1 (Studi e Testi, 37), Città del Vaticano 1924, S. 1–38; Antonis Fyrigos, Tomismo e anti-Tomismo a Bisanzio (con una nota sulla „Defensio S. Thomae adversus Nilum Cabasilam“ di Demetrio Cidone), in: Angelo Molle (Hg.), Tommaso d’Aquino e il mondo bizantino, Venafro 2004, S. 27–72; Marcus Plested, Orthodox Readings of Aquinas. Changing Paradigms in Historical and Systematic Theology, Oxford 2012. 35 Demetrios Kydones, Apologie della propria fede, Bd. 1: Ai Greci Ortodossi, hrsg. v. Giovanni Mercati (Studi e Testi 56), Città del Vaticano 1973, S. 359–403, 403–425, 425–435, hier S. 366, 87–99; für eine deutsche Übersetzung siehe Hans-Georg Beck, Die „Apologia pro vita sua“ des Demetrios Kydones, in: Ostkirchliche Studien 1 (1952), S. 208–225, 264–282. 36 Wolfgang Berg u. Aoileann Ní Éigeartaigh, Exploring Transculturalism. A Biographical Appro­ ach, Wiesbaden 2010, S. 10–12. 37 Mercati (Anm. 35), S. 365; für die deutsche Übersetzung siehe Beck (Anm. 35), S. 213f.



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verständlich gemacht werden. Dadurch erhoffte die kaiserliche Macht eine breitere Unterstützung ihrer Unionspolitik.38 Dazu war es erstrebenswert, wenn Byzantiner und nicht ausschließlich lateinische Mönche die Übersetzungen durchführen konnten.39 Tatsächlich kann man in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine byzantinische „Wissensgemeinschaft“40 mit Gelehrten aus dem monastischen und kirchlichen Milieu identifizieren. Maximos Planudes übersetzte Augustinus und Boethius.41 Manuel Holobolos übersetzte ebenfalls Werke des Boethius, wahrscheinlich während seiner Tätigkeit in der patriarchalen Schule.42 Auch ein weiterer Lehrer in derselben Schule, Georgios Pachymeres, konnte möglicherweise Latein.43 Schließlich wissen wir, dass Patriarch Gregorios II. in seiner Heimat (Zypern) eine lateinische Schule besucht hatte.44 Unklar bleibt jedoch, auf welche Weise Planudes, Holobolos und Pachymeres ihre Lateinkenntnisse erwarben, und wer ihre Lehrer waren.45 Im 14. Jahrhundert stieg die Zahl der byzantinischen Gelehrten, die sich Kenntnisse des Latein aneigneten, an; jetzt aber konvertierten viele von ihnen und began-

38 Gerhard Podskalsky, Theologie und Philosophie in Byzanz. Der Streit um die theologische Methodik in der spätbyzantinischen Geistesgeschichte (14./15. Jh.), seine systematischen Grundlagen und seine historische Entwicklung, München 1977, S. 176; Burkhard Roberg, Die Union zwischen der griechischen und der lateinischen Kirche auf dem II. Konzil von Lyon (1274), Bonn 1964. 39 Daniele Bianconi, Le traduzioni in greco di testi Latini, in: Guglielmo Cavallo (Hg.), Lo spazio letterario del Medioevo, 3. Le culture Circostanti, 1. La cultura Bizantina, Rome 2004, S. 519–568. 40 Zum Konzept der „Wissensgemeinschaft“ siehe auch Niels Gaul, Thomas Magistros und die spätbyzantinische Sophistik, Wiesbaden 2011. 41 Manoles Papathomopulos, Isabella Tsabare u. Gianpaolo Rigotti, Αὐγουστίνου Περί Τριάδος. Βιβλία Πέντεκαιδεκα ἅπερ ἐκ τῆς Λατίνων διαλέκτου εἰς τὴν Ἑλλάδα μετήνεγκε Μάξιμος ὁ Πλανούδης, 2 Bde. (Βιβλιοθήκη Α. Μανούση 3), Athen 1995; Manoles Papathomopulos, Βοηθίου, Βίβλος Περί παραμυθίας τῆς φιλοσοφίας, ἣν μετήνεγκεν εἰς τὴν ἑλλάδα διάλεκτον Μάξιμος ὁ Πλανούδης (Corpus Philosophorum Medii Aevi 9), Athen, Paris, Brüssel 1999; Sirio Valoriani, Massimo Planude traduttore di S. Agostino, in: Atti del VIII Congresso internazionale di studi bizantini (Palermo 3–10 April 1951), Bd. 1, Rom 1953, S. 234; Enrico V. Maltese, Massimo Planude interprete del De Trinitate di Agostino, in: Padri graeci e latini a confronto (secoli XIII–XV) (Millennio Medievale 51 / Atti do Con­ vegni 15), Florenz 2004, S. 207–219. Für Planudes siehe Costas N. Constantinides, Higher Education in Byzantium in the Thirteenth and Early Fourteenth Centuries (1204–ca. 1310) (Texts and Studies of the History of Cyprus 11), Nicosia 1982, S. 42–45, 66–89. 42 Demetrios Z. Niketas, Boethius, De Topicis differentiis και οι βυζαντινές μεταφράσεις των Μανουήλ Ολοβώλου και Προχόρου Κυδώνη, Anhang: Eine Pachymeres-Weiterbearbeitung der Holobolos-Übersetzung Boethius’ De topicis differentiis und die byzantinische Rezeption dieses Werkes (Corpus philosophorum medii aevi 5), Athen 1990. 43 Bydén (Anm. 32), S. 155–157. 44 Inmaculada Pérez-Martin, Le conflit de l’Union des Églises (1274) et son reflet dans l’enseignement supérieur de Constantinople, in: Byzantinoslavica 56, 2 (1995), S. 411–422, hier S. 417–419. 45 Pérez-Martin (Anm. 44), S. 415, 421 u. Anm. 66: Holobolos erlernte während seiner Gefangenschaft im Petra-Kloster Latein, während Planudes die Sprache in seiner Jugend bei lateinischen Mönchen in Pera lernte.





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nen, die Rolle der Dolmetscher am kaiserlichen Hof zu übernehmen.46 Die offizielle Kommunikation zwischen Byzantinern und Lateinern übernahmen traditionell die­ jenigen, die beider Sprachen mächtig waren. Es handelte sich um Personen aus Süditalien (wie Nikolaos von Otranto oder Barlaam Kalabros), aber auch um Lateiner, die wie Ogerio Boccanegra als offizielle Dolmetscher nach 1261 in Konstantinopel geblieben waren.47 Daneben dienten auch Franziskaner in dieser Funktion. Der wichtigste unter ihnen war Johannes Parastron, der aktiv an den Unionsverhandlungen von 1274 teilgenommen hatte und angeblich für die Konversion des Bekkos verantwortlich war.48 Vor allem die Dominikaner wurden von ihren Klöstern aus zur treibenden Kraft hinter der Verbreitung der lateinischen Kultur im byzantinischen Raum. Im Rahmen ihres missionarischen Werkes im Orient erlernten sie Griechisch. Bereits im 13. Jahrhundert übersetzten sie lateinische Werke ins Griechische, welche sie an Byzantiner sandten. Wir kennen auch mehrere Franziskaner, die ähnliche Aktivität zeigten, darunter Jakob, der einen Brief an Kaiser Andronikos II. (1318–1325) adressierte.49 Allerdings war die Anzahl der Autoren von polemischen Schriften und Übersetzungen unter den Dominikanern höher.50 Zu den einflussreichsten unter diesen Werken gehörte der anonyme Traktat ‚Contra errores Graecorum‘.51 Die lateinische Wissensgemeinschaft bestand aus bedeutenden Persönlichkeiten wie Guillaume Bernard de Gaillac, Gründer des Dominikaner-Klosters in Pera,52 der profecit […] in lingua Graeca ita quod eam plene scivit et libros Latinos fratris Thomae in Graecam transtulit, sicut audivi a sociis suis, qui ibidem eum fuerunt conversati,

46 Claudine Delacroix-Besnier, Conversions constantinopolitaines au XIVe siècle, in: Mélanges de l’Ecole française de Rome 105, 2 (1993), S. 715–761; Delacroix-Besnier (Anm. 8), S. 186–197; Tia Kolbaba, Conversion from Greek Orthodoxy to Roman Catholicism in the fourteenth Century, in: Byzantine and Modern Greek Studies 19 (1995), S. 120–134. 47 Podskalsky (Anm. 38), S. 195; Luca Pieralli, La corrispondenza diplomatica dell’imperatore ­bizantino con le potenze estere nel tredicesimo secolo (1204–1282). Studio storico-diplomatistico ed edizione critica (Collectanea Archivi Vaticani 54), Città del Vaticano 2006, S. 88–95. Zum Dolmetschen im Mittelalter siehe Reinhard Schneider, Vom Dolmetschen im Mittelalter. Sprachliche Vermittlung in weltlichen und kirchlichen Zusammenhängen (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 72), Wien, Köln, Weimar 2012, bes. S. 117. 48 Für Parastron siehe Girolamo Golubovich, Cenni storici su Fra Giovanni Parastron, Minorita Greco di Constantinopoli, Legato dell’imperatori greco al Papa, interprete al Concilio di Lione, ecc. (1272–1275), in: Bessarione 10 (1906), S. 295–304. 49 Raymond J. Loenertz, La Société des Frères Pérégrinants (Dissertationes historicae 7), Rome 1937, S. 80f. 50 Tsougarakis (Anm. 7), S. 207–209. 51 Violante (Anm. 8), S. 327f. 52 Marie-Hélène Congourdeau, Note sur les Dominicains de Constantinople au début du 14e siècle, in: Revue des Études Byzantines 45 (1987), S. 175–181; Delacroix-Besnier (Anm. 8), S. 9f., 187.



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quos ego postmodum vidi.53 Seine Übersetzungen beeinflussten wiederum Simon von Konstantinopel († ca. 1325) und später Manuel Moschopoulos.54 Simon von Konstantinopel war einer der ersten Dominikaner, der Kontakte mit orthodoxen Mönchen pflegte. Allem Anschein nach stand er in Kontakt mit Bernhard Gui und gehörte zum Kreis von Guillaume Bernard de Gaillac. Er verfasste verschiedene Traktate über das Filioque und korrespondierte mit dem Mönch Sophonias,55 der konvertierte und dann im dominikanischen Kloster in Pera lebte.56 Bernhard Gui (ca. 1261–1331) fertigte nach 1305 Übersetzungen thomischer Werke an.57 Philipp de Bindo Incontri (oder Philipp von Pera) († nach 1362) war ein junger Novize, als Simon von Pera bereits 90 Jahre alt war.58 Als Inquisitor interessierte er sich sehr für die Werke von Bernhard Gui, da er in die Polemik gegen die Griechen involviert war. Anscheinend diente Philipp von Pera auch als Lateinlehrer von Demetrios Kydones. Ein Teil des Unterrichts bestand für Kydones in der Übersetzung von Aquinas’ ‚Summa contra Gentiles‘.59 Schließlich schrieb Johannes de Fontibus einen Text über die Union, den er an ein unbekanntes griechisches Kloster adressierte. Interessanterweise besaß Demetrios Kydones die Handschrift Vat. Graec. 1115 mit diesem Text.60

53 Bernardus Guidonis, Compilatio historica Ordinis Praedicatorum, ediert bei Raymond J. Loenertz, Les missions dominicaines en Orient au XIVe siècle et la Société des Frères Pérégrinants pour le Christ, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 2 (1932), S. 1–83, bes. S. 66 (Appendix I); Thomas Kaeppeli, Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi, Bd. 2: G-I, Rome 1975, S. 91. 54 Ioannis D. Polemis, An Unpublished Anti-Latin Treatise of Manuel Moschopoulos, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 46 (1996), S. 251–264, bes. S. 253f. 55 Konstantinos A. Manaphes, Ὁ παραφραστὴς τοῦ Ἀριστοτέλους ἱερομόναχος Σοφονίας (δεύτερον ἥμισυ ιγ’/ἀρχαί ιδ’ αι.). Παραλήπτης τῆς ἐπιστολῆς ριγ’ τοῦ Κωνσταντίνου Ἀκροπολίτου, in: Ἐπιστημονική Ἐπετηρὶς τῆς Φιλοσοφικῆς Σχολῆς τοῦ Πανεπιστημίου Ἀθηνῶν 26 (1977/1978), S. 295– 305, hier S. 297. 56 Antoine Dondaine, „Contra Graecos“. Premiers écrits polémiques des Dominicains d’Orient, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 21 (1951), S. 320–446, bes. S. 405f.; Delacroix-Besnier (Anm. 8), S. 212; Marie-Hélène Congourdeau, Frère Simon le Constantinopolitain, O. P. (1235?–1325?), in: Revue des Études Byzantines 45 (1987), S. 167–174. 57 Loenertz (Anm. 53), S. 77f.; Gerardo Cioffari, Domenicani nella storia. Breve storia dell’Ordine attraverso i suoi protagonisti, Bd. 1: Il Medioevo (Memorie e Documenti 27), Bari 2005, S. 194–196. 58 Raymond J. Loenertz, Fr. Philippe de Bindo Incontri O.P. du couvent de Pera, Inquisiteur en Orient, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 18 (1948), S. 265–280. 59 Philipp Incontri, De oboedientia Ecclesiae Romanae debita, ediert bei Thomas Kaeppeli, Deux nouveaux ouvrages de Fr. Philippe Incontri de Péra, O.P., in: Archivum Fratrum praedicatorum 23 (1953), S. 163–183, hier S. 170; Mercati (Anm. 35), S. 361 (63–74), 362 (98–100), 362 (6)–363 (9), sowie bes. S. 514; s. Loenertz (Anm. 49), S. 271f.; Franz Tinnefeld, Demetrios Kydones. ­Briefe, Bd. 1, 1: Einleitung und 47 Briefe (Bibliothek der griechischen Literatur 12), Stuttgart 1981, S. 12, Anm. 58; ­Kianka (Anm. 46), S. 155f.; Delacroix-Besnier (Anm. 8), S. 189f., 444; Delacroix-Besnier (Anm. 46), S. 737. 60 Loenertz (Anm. 49), S. 82f.; Mercati (Anm. 35), S. 67.





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Die Netzwerke einer kulturellen Begegnung Wichtige Erfolgsfaktoren für das Wirken der Dominikaner waren die Existenz eines Raumes transkultureller Kontakte in Konstantinopel (die Klöster), ihre griechischen Sprachkenntnisse und ihre Kontakte mit bedeutenden Intellektuellen und dem byzantinischen Kaiser selbst. Eine Aussage Philipps von Pera verdeutlicht die Art und Weise, auf welche diese Interaktion stattfand, und welche Hindernisse dabei zu überwinden waren: Am Anfang, wenn ich mit ihnen sprach, flohen ihre Bischöfe, Mönche, Priester und Menschen vor uns, als ob wir exkommuniziert oder Ketzer wären, und es gab eine große Aufregung sogar wegen der Erlaubnis, in ihre Kirchen und Klöstern schauen zu können…. Als ich begann, mich ihnen mehr vertraut zu machen durch Besuche in ihren Klöstern, durch informelle Treffen, durch Debatten mit ihnen und durch Antworten auf ihre Fragen, habe ich sie so gezähmt, dass sie uns innerhalb von zehn Jahren nicht mehr vermieden; wirklich, sie essen und trinken zusammen mit uns und wir mit ihnen.61

Philipp von Pera benötigte also ein Jahrzehnt, um das Vertrauen byzantinischer Mönche zu gewinnen. In seinem Text stellt er aber gleichzeitig den Aufbau eines Netzwerkes der Klöster und Mönche dar. Einige dieser Akteure, die Orte ihrer Tätigkeit und ihre Werke haben wir bereits dargestellt. Abschließend wollen wir die Verbindungen zwischen ihnen mit der Hilfe eines Netzwerkgraphen visualisieren. Die Sozialnetzwerkanalyse (SNA) ermöglicht wie kein anderes Instrument die Erstellung eines eindrücklicheren Bildes der Beziehungen und der Intensität der Interaktion zwischen verschiedenen Personen beziehungsweise Gruppen. Sie stellt die Akteure und ihre Beziehungen in den Mittelpunkt der Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene. Dass diese Methode auch auf historische Beispiele und insbesondere auf Byzanz angewandt werden kann, beweisen unter anderem die bahn­ brechenden Publikationen von J. Preiser-Kapeller.62 In unserem Beispiel haben wir uns darauf beschränkt, die in diesem Beitrag erhaltenen Informationen als ein multimode network mit drei Kategorien von Knoten (Personen, Orte und Werke) zu visualisieren (Abb. 2 und 3), um das Potenzial der Methode zu präsentieren. Diese Visualisierungen verdeutlichen nicht nur, wie das Wissen (ein Kulturprodukt) von einer Person zu einer anderen transferiert werden konnte, sondern auch die Bedeutung von Klöstern als Knotenpunkte, welche die Interaktion ermöglichten. Darüber hinaus

61 Philipp Incontri (Anm. 59), S. 179. 62 Johannes Preiser-Kapeller, Visualising Communities. Möglichkeiten der Netzwerkanalyse und der relationalen Soziologie für die Erfassung und Analyse mittelalterlicher Gemeinschaften, Working Paper for a presentation for the SFB „Visions of Community“, May 22nd 2012, in: Academia.edu, URL http://oeaw.academia.edu/JohannesPreiserKapeller/Papers (einges. 1.6.2014); s. a. Eva Jullien, Netzwerkanalyse in der Mediävistik. Probleme und Perspektiven im Umgang mit mittelalterlichen Quellen, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 100, 2 (2013), S. 135–153.



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wird auch für diesen kleinen Teil eines größeren Netzwerkes die Differenzierung zwischen Zentren und Peripherien deutlich. Gleichzeitig zeigt die Abbildung 3 die verschiedenen Akteure anhand ihrer Degree-Zentralität. Degree ist eines von mehreren Zentralitätsmaßen der SNA, welches die Zahl der Verbindungen jedes Akteurs als Grundlage der Ermittlung seiner relativen Bedeutung in der Struktur des Netzwerks heranzieht. Man kann daraus auch erschließen, dass einige Mitglieder des Netzwerkes, wie etwa Simon von Konstantinopel, eine größere Rolle bei der Verbreitung von Ideen spielten als andere, da sie eine zentralere Position innerhalb des Geflechts der Beziehungen einnahmen.

Desiderata Unser Beitrag ist ein erster und deswegen unvollständiger Versuch, die Interaktion lateinischer und griechischer Gelehrter im spätmittelalterlichen Konstantinopel bildlich darzustellen. Ich hoffe, in der nächsten Zeit eine detailliertere Analyse dieser Phänomene vorlegen zu können. Dabei soll die Netzwerkanalyse in Kombination mit Instrumenten der Geographischen Informationssysteme (GIS) auch die räumliche Komponente kultureller Interaktionen und die Verortung dieser Verflechtungen erfassen. Dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten der Erforschung Konstantinopels als eines Raumes interreligiöser und transkultureller Kommunikation.

Schlussfolgerungen Die oben ausgeführte Untersuchung versuchte anhand des Konzepts der Transkulturalität und der Methodik der Netzwerkanalyse die Interaktion der westlichen und orthodoxen Klöster in Konstantinopel im 13. und 14. Jahrhundert aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Es ergab sich, dass die Verbindungen komplexer waren, als wir oft denken, wobei transkulturelle Individuen eine enorme Rolle für den kulturellen Austausch spielten. Schließlich hat uns die Netzwerkanalyse erlaubt, einen ersten Blick auf die Komplexität der unterschiedlichen Beziehungen zwischen orthodoxen und lateinischen Klöstern zu werfen und das, was Wolfgang Welsch „net­ working“ der Kulturen nennt, zu visualisieren.





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Abb. 1: Karte: Klöster im lateinisch beherrschten Konstantinopel, 1204–1261.

(Karte erstellt von Johannes Preiser-Kapeller, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien, 2013; Punktlayer erstellt auf Grundlage der Daten der Autorin; Kartenerstellung mit der Software QuantumGIS 1.8.0*)

Schwarz: Verlassene byzantinische Klöster. (Zahlen in Klammern: unsichere Lokalisierung) 1 Aristenes 2 Dalmatou 3 Anastasis-Kloster 4 Andreas en te krisei 5 Antonios-Kloster 6 Chora Evergetis Kloster 7 8 Demetrios v. Palaiologoi 9 Prodromos v. Petra (in byz. Händen) 10 Stoudiou 11 Myrelaiou 12 Nikolaos Opaines 13 Bebaias Elpidos 14 Pammakaristos 15 Panagiotisses 16 Hg. Trias 17 Anargyroi 18 Hodegetria Unlokalisiert: Gorgoepekoos, Trapezes

Weiß: von lateinischen Gemeinschaften genutzte Klöster. (Zahlen in Klammern: unsichere Lokalisierung) 19 Angourion 20 Pantepoptes 21 Pantokrator 22 Peribleptos 23 Psychosostra(-is) 24 Angelos v. Pe(t)ra 25 Mangana 26 Hg. Lazaros 27 Kyriotissa 28 Nea Ekklesia 29 Akataleptos Grau: von lateinischen Gemeinschaften gegründete Klöster. (Zahlen in Klammern: unsichere Lokalisierung) 30 Arap Camii 31 Percheio 32 Kloster in Agora 33 1. Franziskaner-Kloster 34 Hl. Franziskus in Pera



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Abb. 2: Byzantinische und westliche Gelehrte (Ende 13. – Anfang 14. Jh.) als Netzwerk: Bild erstellt von der Autorin auf der Basis der im Beitrag präsentierten Informationen; Visualisierung mithilfe der Software Ora 3.0.0.2.

Abb. 3: Byzantinische und westliche Gelehrte (Ende 13. – Anfang 14. Jh.) als Netzwerk. Die Knoten sind in ihrer Größe nach ihrer Degree-Zentralität unterschieden; Visualisierung erstellt von der Autorin auf der Basis der im Beitrag präsentierten Informationen mithilfe der Software Ora 3.0.0.2.



Zusammenleben – Kontakt und Konflikt

Georg Jostkleigrewe (Münster)

Konfessionelle Polemik und politische Opportunität. Die Konstantinopelpolitik Karls von Valois (1301–1313) im innerlateinischen Diskurs Abstract: Seit 1301 betrieb der französische Königsbruder Karl von Valois als Gatte der Katharina von Courtenay, Erbin des ‚lateinischen‘ Kaisertitels von Konstantinopel, die Eroberung der Kaiserstadt am Bosporus, die nach dem Intermezzo der Kreuzfahrerherrschaft seit 1261 wieder von griechischen Herrschern regiert wurde. Vom Papsttum wurde sein Unternehmen als Kreuzzug gegen die byzantinischen Schismatiker unterstützt. Karls Bündnispolitik passte freilich nicht überall zum Bild eines konfessionell geordneten Konfliktes. Der lateinische Prätendent kooperierte nicht nur mit kleinasiatischen Griechen, sondern schloss auch eine Allianz mit dem orthodoxen Serbenkönig Stefan Uroš Milutin. Bei den Zeitgenossen stieß diese Bündnispolitik auf Kritik. Der dominikanische Autor der um 1308 verfassten ‚Descriptio Europae Orientalis‘ warnte Karl davor, dem rex Urosius zu trauen. In der nicht allzu umfangreichen Forschung führt man die antiserbischen Invektiven auf die religiöse Unduldsamkeit des anonymen Verfassers und seine persönlichen Erfahrungen mit dem Serbenkönig zurück. Liest man den Text freilich genauer, so wird klar, dass hinter der konfessionellen Polemik auch hier ein politisches Projekt verborgen ist: Der Anonymus möchte Karl auf eine Bündnispolitik festlegen, die stärker den Interessen des französisch-angevinischen Herrscherhauses in Neapel verpflichtet ist. Ausgehend von der Untersuchung dieses Fallbeispiels er­örtert der Beitrag das komplexe Verhältnis von religiösen Differenzkonstruktionen und pragmatischen Opportunitätserwägungen.

Vorüberlegungen: Politischer Konflikt und konfessionelle Identität im spätmittelalterlichen Ägäisraum Seit dem 13. Jahrhundert bildet der Ägäisraum eine Kontaktzone, in der drei der vier abrahamitischen Großkulturen des mittelalterlichen Mediterraneums miteinander interagieren. Griechische, lateinisch-fränkische und in zunehmendem Maße auch muslimische Herrschafts- und Siedlungsgebiete existieren teils friedlich, teils konflikthaft, immer aber in enger Verflechtung nebeneinander: Neben den Überresten des byzantinischen Reiches, den seit dem vierten Kreuzzug bestehenden fränkischen Fürstentümern auf der Peloponnes und in Mittelgriechenland sowie den Kolonien und Kontoren der italienischen Seerepubliken bilden sich seit etwa 1300 an der kleinasiatischen Ägäisküste auch türkische Emirate.

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Angesichts dieser spezifischen Situation liegt es nahe, zunächst vor allem die Bedeutung kultureller Differenz als Konfliktgenerator in den Blick zu nehmen. In den Quellen finden sich zahlreiche Anhaltspunkte für einen solchen Ansatz: So erscheint der Ägäisraum in Verlautbarungen des Papsttums, aber auch des französischen Königtums und weiterer lateinischer Akteure in erster Linie als ein Ort, an dem griechische Schismatiker und muslimische ‚Heiden‘ zu bekämpfen sind. Die genaue Analyse der tatsächlich stattfindenden politischen Interaktionen lässt zugleich jedoch auch andere – machtpolitische, ökonomische und dynastische – Konfliktlinien hervortreten, die nicht nur kategorial auf einer anderen Ebene angesiedelt sind, sondern oft genug quer zu den kulturell beziehungsweise religiös fundierten Identitätsgrenzen verlaufen. Der vorliegende Beitrag wurde während des Heidelberger Symposiums des Mediävistenverbands gemeinsam mit jenen von Mike Carr und Lutz Rickelt in einer Sektion diskutiert. Alle drei Untersuchungen haben sich zum Ziel gesetzt, die Wechselwirkungen zwischen den politischen und den religiös fundierten Identitäten und Konfliktlinien dieses Raumes genauer in den Blick zu nehmen. Eine solche Analyse ist umso wichtiger, als die politischen Verhältnisse hochkomplex und ausgesprochen volatil sind, während sich die religiös fundierten Konfliktlinien als relativ konstant erweisen. Was impliziert dies für deren jeweilige Bedeutung und für ihr Verhältnis? Diese Fragen lassen sich zunächst nur anhand einzelner Fallstudien beantworten. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Dechiffrierung der religiösen Kodierung von politischen oder ökonomischen Gegensätzen und noch weniger um eine Dekonstruktion konfessionell fundierter Identitäten, deren historische Bedeutung durch den Rückgriff auf Basis-Überbau-Schemata ebenso wenig wie durch das postmoderne Konzept der Fluidität erschöpfend analysiert werden kann. Vielmehr fragen die folgenden Beiträge danach, wo konfessionelle Gegensätze und kulturelle Differenz das Handeln der Akteure unter Zugzwang beeinflussen – sei es, dass sie selbst ihre Politik modifizieren, sei es, dass sie potentielle Unterstützer durch den Rekurs auf die gemeinsame religiöse Identität zu disziplinieren versuchen. Wer ist also der Adressat konfessioneller Polemik? Und welchen konkreten politischen Zielen wird die ideologisch aufgeladene kulturelle Differenz in situ nutzbar gemacht? Der vorliegende Beitrag diskutiert diese Fragen im Hinblick auf die Krisenzeit des byzantinischen Reichs am Beginn des 14.  Jahrhunderts, die durch das Vordringen türkischer Gruppen an die Ägäisküste und die zeitgleichen Aktivitäten verschiedener lateinischer Kräfte auf dem Gebiet des Reiches gekennzeichnet ist. Diese Zeit brachte eine verwirrende Vielfalt wechselnder Bündnisse und Interaktionen hervor – und eine konfessionelle Polemik gegen die griechischen Schismatiker und ihren Kaiser.





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1 Ein Memorandum zur Wiedereroberung Konstantinopels: Die ‚Descriptio Europae orientalis’ Obgleich der byzantinische Kaiser Andronikus ein erhabener Herrscher ist, besitzt er doch nur geringe Macht, weil die Griechen im allgemeinen verweichlicht und durchaus nicht waffenkundig sind. Sie sind allerdings listenreich und verschlagen; wenn sie also einmal siegen, so erreichen sie den Sieg durch List und Tücke. Sie sind sämtlich falschgläubige Schismatiker, und von ihrem Schisma leiten sich alle anderen Schismata unter den übrigen schismatischen Völkern her  – in Serbien, Bulgarien, Ruthenien, Georgien und bei den übrigen östlichen Völkern, die Christi Namen anrufen [...]. Da nun der vorgenannte Griechenkaiser ein weibischer Mann ohne Tapferkeit und militärische Erfahrung ist – und weil er durch die Türken sehr geschwächt ist – darum ist jetzt wahrscheinlich ein besserer Zeitpunkt als je für die Eroberung dieses Reiches durch Herrn Karl. [...] Wenn dieser nämlich unter Christi Führung so übersetzte, wie es ihm geziemt und nach Meinung aller nützt, so würde er innerhalb eines Jahres das Reich und die oben genannten schismatischen Völkerschaften unterwerfen.1

Mit diesen Sätzen umreißt der anonyme Verfasser der ‚Descriptio Europae Orientalis‘ von 1308 das Maximalprogramm des Konstantinopel-Feldzuges, den der französische Königsbruder Karl von Valois seit 1306 tatkräftig vorbereiten ließ. Wie alle vergleichbaren Unternehmungen scheiterte auch dieser Versuch, die Kaiserstadt mittels eines Kreuzzuges den Händen der griechischen Schismatiker zu entreißen; doch zählt er zu denjenigen, die ins Stadium der tatsächlichen Ausführung gelangten. Der Autor der ‚Descriptio‘ durfte daher mit einiger Berechtigung hoffen, dass die kommenden Jahre eine Wiederherstellung der lateinischen Herrschaft über weite Teile der orthodoxen Welt bringen würden. Da die Vorgeschichte des spätmittelalterlichen griechisch-lateinischen Konfliktes auch den Nicht-Spezialisten weitgehend bekannt ist, seien hier nur einige Eckpunkte genannt. Die Einnahme Konstantinopels durch die Teilnehmer des vierten Kreuz­ zuges hatte 1204 zur Errichtung des sogenannten lateinischen Kaiserreichs geführt. An den Rändern des lateinischen Machtbereichs bildeten sich griechische Reiche, die

1 Anonymi Descriptio Europae Orientalis. „Imperium Constantinopolitanum, Albania, Serbia, Bulgaria, Ruthenia, Ungaria, Polonia, Bohemia“. Anno MCCCVIII exarata, hrsg. v. Olgierd Górka, Krakau 1916, S. 23–25: Licet sit ita magnificus idem imperator, est tamen ualde inbecillis in potentia, eo quod greci communiter sunt effeminati et in nullo ad arma apti, sunt tamen astuti et dolosi, et ideo si contingat eos quandoque uincere, malicia et astucia dictam uictoriam assecuntur. Omnes sunt scismatici perfidi et ab eorum scismate diriuantur omnia scismata inter ceteras nationes scismaticas, videlicet in Rasia, seruia, bulgaria, Ruthenia, georgia, et omnes nationes orientales que christi nomen inuocant […]. Quia enim imperator grecorum prefatus homo est muliebris et nullius ualoris nec consilii in armis, et iterum quia per turcos est nimium debilitatus, idcirco ad presens est melius tempus ipsum imperium per dominum karulum recuperandi, quia fortassis umquam erit. […] Quia, si christo duce transiret, eo modo quo ipsum decet et expedit secundum credulitatem omnium, infra unum annum occuparet dictum imperium et prefatas nationes scismaticas.



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sich auf die byzantinische Tradition beriefen. Deren wichtigstes, das Kaiserreich von Nikaia, eroberte 1261 die alte Hauptstadt zurück.2 Seither residierten wieder griechische Kaiser aus der Dynastie der Palaiologen in Konstantinopel, was eine Reihe westlicher Rückeroberungsprojekte auslöste. Die vertriebenen lateinischen Prätendenten Balduin und Philipp von Courtenay schlossen dazu mehrfach Bündnisse mit Venedig, das durch den vierten Kreuzzug eine dominierende Stellung im griechischen Raum errungen hatte, sowie mit den Anjous in Sizilien bzw. Neapel, die auf dem Balkan territoriale und dynastische Ziele verfolgten.3 1285 erbte Katharina von Courtenay den lateinischen Kaisertitel; seither suchten der Papst, die Anjous und der französische König nach einem geeigneten Ehemann, der ihre Ansprüche auf Konstantinopel zur Geltung bringen konnte. Nachdem mehrere Projekte aus verschiedenen Gründen gescheitert waren, heiratete Katharina 1301 schließlich Karl von Valois, den Bruder Philipps IV. von Frankreich. Durch eine donatio inter vivos übertrug sie ihm im Ehevertrag sämtliche Besitztitel,4 so dass Karl auch nach ihrem Tod im Jahre 1307 (oder 1308) die Ansprüche auf das östliche Kaisertum aufrechterhalten konnte.5

2 Zur byzantinischen Krisenperiode in der Zeit des Lateinischen Kaiserreichs vgl. den Überblick bei Peter Schreiner, Byzanz. 565–1453, München 2008, S.  34–38, 176f.; zu den einzelnen Nachfolge­ reichen vgl. auch die einschlägigen Beiträge in Judith Herrin u. Guillaume Saint-Guillain, Identities and Allegiances in the Eastern Mediterranean after 1204, Farnham (Surrey), Burlington (VT) 2011. Die Herrschaft der lateinischen (Titular-)Kaiser ist seit Charles Du Fresne Du Cange, Histoire de l’Empire de Constantinople sous les empereurs français jusqu’à la conquête des Turcs. Nouv. éd. rev. par Jean A. Buchon, Paris 1826, Gegenstand der Geschichtsforschung und beschäftigt die Historiker weiterhin. Vgl. jetzt auch die einschlägige Habilitationsschrift von Stefan Burkhardt, Mediterranes Kaisertum und imperiale Ordnungen. Das lateinische Kaiserreich von Konstantinopel (Europa im Mittelalter 25), Berlin 2014. 3 Einen immer noch nützlichen Überblick über die einzelnen Rückeroberungsprojekte bietet Erwin Dade, Versuche zur Wiedererrichtung der lateinischen Herrschaft in Konstantinopel im Rahmen der abendländischen Politik. 1261 bis etwa 1310, Jena 1938. Hinsichtlich der Kontakte und Konflikte ­zwischen Byzanz und den Lateinern in der Zeit Andronikos’ II. vgl. grundlegend Angeliki Laiou, Constantinople and the Latins. The Foreign Policy of Andronicus II, 1282–1328, Cambridge (Mass.) 1972. 4 Paris, Archives Nationales de France (AN), J 167, Nr. 3. 5 Das Datum des Todes der Katharina von Courtenay ist unsicher; das Memorialbuch ‚Noster‘ der Pariser Chambre des Comptes überliefert als Datum den 3. Januar 1308 (n. s.), vgl. AN P 2289, S. 314: Domina Caterina Comitissa Valesii Imperatrix Constantinopol. obiit Mercur. post Sanctum Silvestrum 1307; eine Reihe zum Teil voneinander abhängiger Chroniken nennt hingegen den 10. Oktober 1307, vgl. Joseph Petit, Charles de Valois (1270–1325), Paris 1900, S. 120. Petit hält das letztere Datum für richtig, da dieselben Chroniken auch davon berichten, dass der Templermeister Jacques de Molay an den Obsequien der Kaiserin teilgenommen habe und in der folgenden Nacht von den Schergen des französischen Königs verhaftet worden sei. Ob dieses Argument stichhaltig ist, ist hier nicht zu entscheiden.





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Der ereignisgeschichtliche Rahmen von Karls Konstantinopel-Politik bildet freilich nicht den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Vielmehr geht es darum, anhand dieses Beispiels das Verhältnis von Politik und kultureller bzw. konfessioneller Differenz im Sinne der oben skizzierten Fragestellung zu diskutieren. Im Mittelpunkt steht dabei die anonyme ‚Descriptio Europae Orientalis‘, die gewissermaßen ein geostrategisches Memorandum bezüglich der auf dem Balkan und in Griechenland einzuschlagenden Politik darstellt.6 Indem wir die politischen und konfessionellen Argumentationslinien dieses Textes aus drei unterschiedlichen Perspektiven analysieren, gelangen wir zugleich zu einem genaueren Verständnis seiner Funktion und Intention. Ein erster Untersuchungsschritt gilt der Perspektive des konfessionellen Gegensatzes, die der anonyme Autor seinem Publikum zu vermitteln sucht. In einem zweiten Schritt messen wir dieses Bild an der tatsächlichen Politik Karls von Valois und seiner Repräsentanten und fragen schließlich im letzten Abschnitt nach den konkreten – und vielleicht überraschenden – politischen Zielsetzungen, die der Anonymus mit seiner konfessionellen Polemik verfolgte.

2 Die ‚kulturalistische‘ Perspektive: Eine konfessionell geordnete Beschreibung Südosteuropas Der literarischen Gattung nach ist die ‚Descriptio‘ kein politisches Memorandum wie etwa die zeitgleichen Kreuzzugstraktate des Templer- und Hospitalitermeisters.7 Vielmehr ordnet sich der Text in die ethnographische Tradition des Mittelalters ein. Er beginnt mit einem klassischen Überblick über die Aufteilung der Kontinente und gibt dann eine detaillierte Beschreibung Südosteuropas. Die Gliederung orientiert sich auf der obersten Ebene an der zeitgenössischen politischen Struktur dieses Raumes, d. h. der Autor beschreibt sukzessive den byzantinischen Raum mit seinen griechischen und fränkischen Teilherrschaften, Albanien, Raszien bzw. Serbien, Bulgarien und Ruthenien, Ungarn sowie Polen und Böhmen. Er unterfüttert diese Darstellung mit Angaben zur spätantiken Provinzstruktur und weiteren, durchaus nuancierten Informationen aus gängigen Enzyklopädien des 13. Jahrhunderts – in erster Linie aus Vinzenz’ ‚Speculum historiale‘, aber z. B. auch aus Bartholomaeus Anglicus.8

6 Olgierd Górka, der Herausgeber der ‚Descriptio‘, vermutet mit guten Gründen, dass dieses Dokument für den direkten Gebrauch entweder der Kurie oder Karls von Valois geschrieben ist; vgl. ‚Descriptio‘ (Anm. 1), S. xxxi (Praefatio des Herausgebers). 7 Eine Zusammenstellung dieser und anderer Kreuzzugstraktate bietet Projets de croisade (v. 1290– v. 1330) (Documents relatifs à l’histoire des croisades, 20), hrsg. v. Jacques Paviot, Paris 2008, hier S. 183–198; vgl. zu den zeitgenössischen Kreuzzugstraktaten auch Sylvia Schein, Fideles crucis. The Papacy, the West, and the Recovery of the Holy Land. 1274–1314, Oxford 1991, S. 200–218. 8 Der Herausgeber weist an verschiedenen Stellen die Benutzung des ersten Buches des ‚Speculum historiale‘, insbesondere Kapitel 63, 70–73, sowie des 14. und 15. Buches ‚De rerum proprietatibus‘



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Unter dieser durch und durch traditionellen Oberfläche scheint jedoch eine andere, sehr politische Funktion durch. Bereits die wenigen Worte, mit denen der Autor am Beginn des Werkes seinen Gegenstand umreißt, lassen vermuten, dass es um mehr geht als um die Geographie eines Erdteils. Der Anonymus bezieht sich hier auf ein literarisches Vorbild, das ebenfalls ethnographische Darstellung mit politischem Rat verbindet. Er selbst, so sagt er, wolle nur Kleinasien und einige Teile Europas beschreiben; denn über Asien habe der dominus de kurco bereits alles Wesentliche berichtet.9 Er verweist damit auf den armenischen Adligen und Prämonstratenser Hayton oder Hethum von Korykos, der im Jahre 1307 die sogenannte ‚Flor des estoires de la terre d’Orient‘ für den Papst zusammengestellt hatte. Dieses Werk enthält in der Tat eine geographische Beschreibung weiter Teile Asiens und gibt in zwei weiteren Büchern auch einen Überblick über die muslimische und mongolische Geschichte. Vor allem aber entwickelt sein Autor im letzten Buch einen detaillierten Plan für die Rückeroberung des Heiligen Landes.10 Ebenso wie Hethum besitzt auch der anonyme Verfasser der ‚Descriptio’ genaue Kenntnisse über die politischen Belange der von ihm beschriebenen Länder. Zugleich ist er ungewöhnlich gut über das Umfeld und die politischen Absichten Karls von Valois informiert – so gut, dass der Herausgeber Górka das Werk trotz des Fehlens expliziter Angaben mit großer Sicherheit auf den Februar oder März 1308 datieren kann.11 Die Mischung aus scholastischer Bildung und genauer, vielleicht persönlich erworbener geographischer Kenntnisse lässt Górka weiterhin vermuten, dass der Anonymus dem Franziskaner- oder wahrscheinlicher dem Predigerorden angehörte,

des Bartholomaeus Anglicus durch den Anonymus nach; vgl. dazu ‚Descriptio‘ (Anm. 1), S. xvii–xx (Praefatio). 9 Vgl. ‚Descriptio‘ (Anm. 1), S. 2: Asia autem dividitur in maiorem et minorem; de asia maiori dominus de kurco satis bene tractavit. De asia autem minori et de aliquibus partibus europe est hic pertractandum. 10 Flor des estoires de la terre d’Orient, hrsg. v. Charles Kohler, in: Recueil des Historiens des Croisades. Documents arméniens, Bd. 2, Paris 1906, S. 110–259 (französische Fassung) und 261–363 (lateinische Fassung); vgl. dazu den Überblick bei Gillette Tyl Labory, Hayton, in: Geneviève Hasenohr u. Michel Zink (Hg.), Dictionnaire des lettres françaises. Le Moyen Âge, Paris 1992, S. 662f. 11 ‚Descriptio‘ (Anm.  1), S.  iv–ix (Praefatio). Der Autor kennt Haytons Werk; er weiß vom Tod der Katharina von Courtenay im Oktober 1307 oder Januar 1308; er besitzt Kenntnisse über den Feldzug einer katalanischen Söldnerkompagnie gegen Thessaloniki im Winter 1307/1308; schließlich weiß er um eine Gesandtschaft des serbisch-raszischen Königs Stefan Uroš Milutin an Karl von Valois bzw. nach Frankreich, geht aber davon aus, dass noch kein Vertrag geschlossen worden ist, was am 27. März 1308 geschehen sollte. Kritik an dem von Górka angenommen terminus ante quem bei Laiou (Anm. 3), S. 355. Laiou selbst tendiert zu einer Datierung in die letzten Monate des Jahres 1308; vor dem Hintergrund der unten ausgeführten Überlegungen scheint dies allerdings weniger plausibel.





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dessen Mitglieder vom Papsttum häufig für Missions- und Legationsreisen in den Osten verwendet wurden.12 Eine letzte Beobachtung hebt die ‚Descriptio‘ endgültig aus der ‚nur‘ enzyklopädischen Tradition heraus. Der Text ist durchflochten mit Informationen, die für die Eroberung Konstantinopels durch ein lateinisches Heer von Belang sind. Dabei handelt es sich oft um implizite Hinweise: Bei der Beschreibung Albaniens merkt der Autor beiläufig an, dass man von Brindisi aus in einer Nacht nach Durazzo übersetzen und von dort unter Nutzung der Römerstraße valde faciliter mit einem Heer auf Konstantinopel vorrücken könne;13 tatsächlich ist die alte via Egnatia im Mittelalter mehrfach für solche Angriffe genutzt worden.14 Bisweilen aber verdichten sich solche Hinweise sogar zu expliziten Ratschlägen an „Herrn Karl“, wie etwa in dem eingangs angeführten Zitat. Der Herausgeber hat aus diesen und ähnlichen Beobachtungen geschlossen, dass es sich bei dem Anonymus um einen italienischen oder wahrscheinlicher galloromanischen Autor handeln müsse, der dem französischen Königshaus nahestehe.15 Angesichts der offenkundigen Parteinahme des Verfassers für die Gallici im allgemeinen und Karl von Valois im besonderen besteht kein Grund, an dieser plausiblen Annahme zu zweifeln; wir werden aber noch sehen, dass mit dieser Interpretation das politische Potential des Textes keineswegs gehoben ist. Die praktisch-politische Ausrichtung des Textes impliziert indes keineswegs einen ideologischen Relativismus. Vielmehr entspricht das Weltbild des Autors nicht nur auf den ersten Blick ganz jenen Erwartungen, die heute vielfach den öffentlichen Diskurs prägen: Kulturelle Differenz, insbesondere aber religiöse und konfessionelle Ausschließlichkeitsansprüche erscheinen dabei wesentlich als Wurzeln politischer Konflikte und gewalttätiger Auseinandersetzungen.16 Tatsächlich beschreibt der

12 ‚Descriptio‘ (Anm.  1), S.  ix–xii (Praefatio). Die Kenntnis bestimmter dominikanischer Interna – Beteiligung des Ordens an Kanonisationsverfahren für Mitglieder des arpadischen Königshauses in Ungarn – führen Górka zu der Annahme, dass der Anonymus tatsächlich Dominikaner war, vgl. ebd., S. xif. 13 ,Descriptio‘ (Anm. 1), S. 26: De Apulia et de civitate brundensima [una] nocte potest transiri in dura­ cium et de duracio per albaniam potest iri in greciam et in Constantinopolim valde faciliter et bene ­absque difficultate viarum et periculo aquarum et hanc viam faciebant antiquitus imperatores romanorum. 14 Vgl. Jean-Claude Cheynet, Pouvoir et Contestations à Byzance (963–1210), Paris 1990, S.  389 (hinsichtlich der Angriffe Robert Guiskards). Die spätere Expansion der süditalienischen Anjou auf dem Balkan stützte sich ebenfalls auf den Besitz von Durazzo, vgl. John V. A. Fine, The Late Medieval Balkans. A Critical Survey from the Late Twelfth Century to Ottoman Conquest, Ann Arbor 1987, S. 184–186. 15 ‚Descriptio‘ (Anm. 1), S. xii–xiv (Praefatio). 16 Diese – sicher auch zeithistorisch zu erklärende – besondere Aufmerksamkeit für das Konflikt­ potential kultureller und religiöser Differenz dominiert den öffentlichen Diskurs stärker als die wissenschaftliche Diskussion, besitzt aber selbstverständlich auch dort große Bedeutung; an dieser Stelle sei exemplarisch auf Assmanns These vom besonderen Gewaltpotential der Monotheismen



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anonyme Verfasser der ‚Descriptio‘ den südosteuropäischen Raum als eine konfes­ sionell geordnete bzw. geschiedene Welt. Die Rangordnung der verschiedenen Völker entspricht dabei ihrer Nähe zum lateinischen Katholizismus. Den schismatischen Gegenpol besetzen Griechen, Bulgaren und Ruthenen. Näher an den Lateinern stehen die Albaner, die ein naturalis amor mit den Gallici verbinde;17 sie seien zwar keine Katholiken, doch sind mehrere ihrer Stämme auch keine echten Schismatiker: nec sunt pure catholici, nec sunt pure schismatici.18 Noch engere Bindungen bestehen zu den Bewohnern der adriatischen Küstenregion zwischen Antivari und Ragusa (also etwa der heutigen montenegrinischen Küste): Diese sind echte Katholiken und quasi Latini, stehen aber unter der Herrschaft der schismatischen Könige Rasziens bzw. Serbiens.19 Das Idealbild eines katholischen Reiches stellt Ungarn dar. Obwohl Volk und Könige erst vor 300 Jahren zum Christentum bekehrt worden sind, umfasst das Reich eine große Zahl von Bistümern; die arpadische Herrscherdynastie hat eine Vielzahl bedeutender Heiliger hervorgebracht.20 Zusammen mit den albanischen, epirotischen und griechischen Besitzungen der neapolitanischen Anjou spielt Ungarn, wo sich um 1308 ein angevinischer Thronprätendent mehr und mehr durchsetzt, denn auch eine besondere Rolle in der Argumentation des Anonymus. Schließlich weist das Werk auch ein spezifisches Feindbild auf. Schlimmer noch als die griechischen Schismatiker sind die Serben und insbesondere ihr König, Stefan Uroš II. Milutin: Sie sind nicht nur scismatici perfidi, sondern auch heretici pessimi und verfolgen daher alle echten Christen und Katholiken – nicht zuletzt deshalb, weil Serbien auch ein Sammelbecken für all jene Häretiker ist, die vor der Inquisition fliehen.21

verwiesen: Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003. 17 ‚Descriptio‘ (Anm. 1), S. 26 (im Blick auf die angevinischen Besitzungen in Albanien): Partem huius regni cum civitate duracena [predicta] tenet nunc princeps tarentinus filius regis sycilie et hoc ex voluntate libera [illorum] dominorum de terra, qui ipsum propter naturalem amorem, quem habent ad gallicos, sponte et libere eum [sic!] in dominum receperunt. Der Anonymus führt diese Vorliebe darauf zurück, dass die Albaner weder der griechischen noch der slawischen Sprachfamilie angehören, vgl. ebd., S. 28: Naturaliter diligunt latinos ut dictum est; habent enim albani prefati linguam distinctam a latinis, grecis et sclavis ita quod in nullo se inteligunt cum aliis nationibus. 18 Ebd., S. 28. 19 Ebd., S. 30: In hac maritima regione [= sc. circum Antibarum, G. J.] habitatores [eiusdem] sunt puri catholici et quasi latini. Ceteri autem eiusdem regni et rex sunt scismatici perfidi. 20 Ebd., S.  48f. (zu den Bistümern), 49f. (zur ungarischen Frömmigkeit und Katholizität), 52 (zur Königsdynastie und ihren Heiligen). 21 Ebd., S. 30f.: [Habitatores] autem eiusdem regni et rex sunt scismatici perfidi et ideo nimium persequntur dictos katholicos, et permaxime ecclesias latinorum destruunt, disipant, et invadunt prelatos et captiuant et plura inexquisita mala faciunt et ideo dicte ecclesie sunt pauperes; preter [!] hoc eciam, quod scismatici sunt et heretici pessimi, infecti ab hereticis, qui fugiunt ad partes illas a facie inquisitorum et ideo magis sunt infesti christianis et catholicis.





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Vor dem Hintergrund dieser Beschreibung einer konfessionell tief gespaltenen Welt plädiert der Anonymus ganz offen für eine militärische Beseitigung des Schismas – oder zumindest für die Unterwerfung jener schismatischen und barbarischen Völkerschaften, die so reiche und vorzügliche Reiche unrechtmäßig besetzt halten. Sobald Karl von Valois das griechische Reich erobert habe, könne er im Bündnis mit Ungarn die Bulgaren, Ruthenen und serbischen Raszier unterwerfen;22 die Lateiner Rasziens – d. h. des südöstlichen Serbiens – würden ihn jedenfalls mit offenen Armen willkommen heißen.23

3 Die ideologiekritische Perspektive: Ein politischer Kreuzzug zur Eroberung Konstantinopels Es sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, dass der Anonymus die Perspektive des konfessionellen Gegensatzes und der konsequenten Unterwerfung aller Schismatiker nicht vollständig durchhält. So bezeichnet er die Dodekanes als eine Gruppe von Inseln que sunt et debent esse imperatoris grecorum – die dem griechischen Kaiser also zu Recht gehören.24 Tatsächlich wird an dieser einen Stelle deutlich, dass der anonyme Autor ebenso wie seine Zeitgenossen das vorrangige Ziel von Karls Konstantinopel-Politik allen anderslautenden Behauptungen zum Trotz wohl doch weniger in der vollständigen Unterwerfung der Schismatiker als vielmehr in der Wiederherstellung des lateinischen Kaisertums in Konstantinopel sah; dessen Herrscher aber hatten jahrzehntelang politische und dynastische Beziehungen mit den umgebenden griechischen Reichen gepflegt und deren grundsätzliche Existenzberechtigung nicht angezweifelt.25 Die Forschung hat die Kreuzzugsrhetorik, mit denen Karl und seine Unterstützer ihre Pläne zur Rückeroberung Konstantinopels verbrämten, denn auch von jeher aus ideologiekritischer Perspektive betrachtet. Gewiß förderten Benedikt XI. und Clemens V. das Unternehmen durch Kreuzpredigt, Kreuzzugsindulgenzen, franzö-

22 Ebd., S.  42: Ex hiis satis aduerti potest, quod bulgaria et ruthenia et Rasia sunt inter greciam et vngariam, et ideo ubi dominus karulus haberet grecorum imperium, confederacione facta cum rege vngarie, idem dominus Karolus ex vna parte et rex Vngarie Karolus ex altera parte de facili haberent et subiugarent omnes illas scismaticas et barbaras nationes, que tam opulenta et delicata regna, sicut iniusti possesores occupant. 23 Ebd., S. 37 (im Blick auf die Küstenregionen des serbisch-raszischen Königreiches): Oportet quod [= totus exercitus dicti domini karuli, G. J.] transeat per terram illam, et tunc si uellet facilime totam […] occuparet et homines de terra, quia [sunt] catholici et latini esse dinoscuntur, hoc libenter uellent. 24 Ebd., S. 17f. 25 Vgl. dazu Michael Angold, The Latin Empire of Constantinople, 1204–1261: Marriage Strategies, in: Herrin u. Saint-Guillain (Anm. 2), S. 47–67, besonders S. 49–56.



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sische Kirchen­ zehnten und weitere Kreuzzugsgelder.26 Zudem exkommunizierte Clemens im Juni 1307 den griechischen Kaiser Andronikos II. feierlich und verbot jedes Bündnis mit ihm.27 Eine ernsthafte religiöse Motivierung des Kampfes gegen die paläologischen Usurpatoren hat gleichwohl kaum ein Historiker angenommen, wenngleich nicht jeder so weit ging wie Joseph Petit, der in Karls Konstantinopelkreuzzug nur einen Vorwand zur Erhebung von Zehnten sah.28 Jedenfalls kann man das Unternehmen zweifellos in den Kontext der ‚politischen‘ Kreuzzüge des späten 13. und 14. Jahrhunderts stellen.29 Aus dieser Perspektive kommt der Eroberung der Kaiserstadt allenfalls als Vorstufe eines allgemeinen Kreuzzuges zur Rückeroberung des Heiligen Landes eine über politisch-dynastische Partikularinteressen hinausgehende Bedeutung zu.30

26 Vgl. den Überblick über einschlägige Unterstützungsmaßnahmen bei Dade (Anm. 3), S. 112f.; ausführlicher Mike Carr, Motivations and Response to Crusades in the Aegean: c. 1300–1350, S. 33–40. Die Seitenangaben beziehen sich auf die im Internet veröffentlichte Manuskriptversion dieser Londoner Dissertation, s. URL http://pure.rhul.ac.uk/portal/en/persons/mike-carr%28941e59d3-2957-4bb9bb63-bb4b9f746cd8%29.html (einges. 7.6.2014). 27 Vgl. Carr (Anm. 26), S. 39. 28 Petit (Anm. 5), S. 108; vgl. dazu die Gegenposition Górkas in ‚Descriptio‘ (Anm. 1), S. xxx (Prae­ fatio). Eine vergleichbare zeitgenössische Äußerung zur fiskalischen Umnutzung von Kreuzzugsprojekten enthalten z. B. die Grandes Chroniques de France, hrsg. v. Jules Viard, Bd. 9, Paris 1937, S. 134 (zum Kreuzzugsprojekt der Jahre 1333–1336): Pou se croisierent au regart que l’en cuidoit, car il doubtoient ce dont autrefoiz avoient esté eschaudez, c’est à savoir que les sermons qui estoient faiz ou nom de la croiz ne fussent faiz pour avoir argent. Zu kurialer Kritik an der Umnutzung von Kreuzzugszehnten vgl. Heinrich Finke, Acta Aragonensia. Quellen [...] aus der diplomatischen Korrespondenz Jaymes II. (1291–1327), Bd. 1, Berlin, Leipzig 1908, Nr. 314, S. 471f. (Bericht eines aragonesischen Gewährsmannes über die abschlägige Antwort Johannes’ XXII. auf eine französische Bitte um Kreuzzugsgelder): Pluries reges Francie fincxerunt se fecisse viagium predictum et inffinitum tesaurum ab ecclesia habuerant et penitus omnia viagia dimiserant. 29 Vgl. zu diesem Themenkomplex Norman Housley, The Italian Crusades. The Papal-Angevin Alliance and the Crusades against Christian Lay Powers, 1254–1343, Oxford 1982. 30 Der Gedanke, Konstantinopel als vorgeschobene Basis für die Verteidigung des Hl. Landes zu ­nutzen, findet sich etwa zeitgleich bei Pierre Dubois, De recuperatione Terre Sancte, hrsg. v. Charles V. Langlois, Paris 1891, S. 89: Videtur optime facturos principes si redirent […] per Greciam, pro domino Karolo contra Peryalogum injustum detentorem, nisi cedere vellet, cum consilio ecclesie romane fortiter pugnaturi; eo pacto quod ipse dominus Karolus, habita victoria et possessione Imperii, ad defensionem Terre Sancte tamquam ei ceteris proximior […] subsididum faciet opportunum; vgl. dazu Schein (Anm.  7), S.  209. Der etwa zehn Jahre jüngere Traktat des Guillelmus Adae, De modo Saracenos extirpandi, Recueil des historiens des croisades. Documents arméniens, Bd. 2, S. 521–555, hier S. 536– 548, plädiert ebenfalls für die Nutzung Konstantinopels als Basis eines Kreuzzuges; zugleich wird die Berechtigung eines Vorgehens gegen den schismatischen Paläologenkaiser unter Verweis auf dessen Maßnahmen gegen die Kirchenunion hervorgehoben. Eine Nutzung der Neuedition dieses Traktates: William of Adam, How to Defeat the Saracens. Guillelmus Ade, Tractatus quomodo Sarraceni sunt expugnandi, hrsg. u. übers. v. Giles Constable, Cambridge 2012, war mir wegen Verzögerungen im Anschaffungsvorgang nicht möglich; vgl. dazu die Rezension von Patrick Gautier-Dalché, in: Fran-





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Vielleicht wird eine solche ideologiekritische Deutung, die in der antigriechischen Kreuzzugspolemik vor allem die – bewusste oder unbewusste – Verschleierung politischer Zielsetzungen sieht, dem zugleich pragmatischeren wie umfassenderen Religionsverständnis des Mittelalters nicht gerecht. Sie kann sich indes darauf berufen, dass Karl und seine Bevollmächtigten über alle konfessionellen Trennlinien hinweg eine ausgesprochen pragmatische Bündnispolitik führten. Durch zwei Rechnungsdokumente ist nachgewiesen, dass Karl im griechischen Raum nicht nur die Unterstützung fränkischer Herren suchte, sondern auch mit Exponenten der griechischen Bevölkerung – darunter dem Metropoliten von Adrianopel und thessalischen Machthabern – kooperierte.31 Zudem enthalten die Archives Nationales die teilweise ins Lateinische übersetzten Briefe dreier anatolischer Griechen, die den Prätendenten und seine Gattin Katharina von Courtenay als ihren dominus naturalis ansprechen und um Hilfe gegen die Türken ersuchen.32 Darüber hinaus schloß Karl am 27. März 1308 einen Vertrag mit Gesandten des serbisch-raszischen Königs Stefan Uroš Milutin, den dieser am 25. Juli desselben Jahres

cia-Recensio 2013/4 – Mittelalter, URL http://www.perspectivia.net/content/publikationen/francia/ francia-recensio/2013-4/MA/adam_dalche (einges. 7.6.2014). 31 Das geht hervor aus der Endrechnung ‚Mises et despens pour le voiage de Constentinoble‘, s. Henri Moranvillé, Les projets de Charles de Valois sur l’Empire de Constantinople, in: Bibliothèque de l’École des Chartes 51 (1890), S. 63–86. Wir verfügen darüber hinaus über ein Rechnungsdokument von Karls Bevollmächtigtem Thibaut de Chepoy, s. Chroniques étrangères relatives aux expéditions françaises pendant le XIIe siècle, hrsg. v. Jean A. Buchon, Paris 1840, S. 467–469, Anm. 2; ebd., S. 469, wird z. B. ein Bote des Votemite grant mareschal de Blaquie genannt. Der in den ‚Mises et despens‘ genannte Theoktist von Adrianopel (s. Moranvillé, S. 74) war ein Anhänger der auf dem zweiten Konzil von Lyon 1274 wiederhergestellten lateinisch-griechischen Kirchenunion; er hielt sich nach dem Regierungsantritt Andronikos’ II. zumeist im Westen auf, vgl. eine entsprechende Erwähnung im Briefwechsel des Patriarchen Athanasios I., s. The Correspondence of Athanasius I, Patriarch of Constantinople. Letters to the Emperor Andronicus II, Members of the Imperial Family, and Officials, hrsg. v. Alice-Mary Talbot, Washington D.C. 1975, Nr. 69, S. 172. Für den Hinweis danke ich Ekaterini Mitsiou (Athen). 32 Es handelt sich um je zwei Briefe des Konstantinos Limpidaris und des Johannes Monomachos an Karl und seine Gemahlin sowie um einen Brief eines Hieromonachos Sophronias an Karl, s. AN, J 510, Nr. 251-3, 7-8. Zur Interpretation der Briefe vgl. mit unterschiedlicher Ausrichtung Hélène Constantinidi-Bibikou, Documents concernant l’histoire byzantine déposés aux Archives Nationales de France, in: Mélanges […] Octave et Melpo Merlier, Bd. 1, Athen 1956, S. 119–132, hier S. 129; Léonidas Mavromatis, La Serbie de Milutin entre Byzance et l’Occident, in: Byzantion. Revue internationale des études byzantines 43 (1972), S.  120–150, hier S.  133f.; Laiou (Anm.  3), S.  212–220; Georg Jostkleigrewe, heres imperii Constantinopolitani – frater regis Franciae – defensor populi christiani. Zur Deutung konkurrierender Legitimitätskonstruktionen im Umfeld der französischen Mittelmeerpolitik des frühen 14. Jahrhunderts, in: Hartwin Brandt, Katrin Köhler u. Ulrike Siewert (Hgg.), Genealogisches Bewusstsein als Legitimation. Inter- und intragenerationelle Auseinandersetzungen sowie die Bedeutung von Verwandtschaft bei Amtswechseln, Bamberg 2009, S. 167–192.



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bestätigte.33 Darin verspricht dieser Karl seine Unterstützung bei der Eroberung Konstantinopels; im Gegenzug wird ihm der ungestörte Besitz mehrerer makedonischer Städte sowie Hilfe gegen seine Feinde zugesichert, wobei die angevinischen Besitzungen auf dem Balkan von dieser Zusage ausdrücklich ausgenommen sind. Schließlich wird auch ein Heiratsbündnis für den Fall in Aussicht genommen, dass Uroš zur Obödienz der römischen Kirche zurückkehrt. Obgleich man an der Aufrichtigkeit von Uroš’ Bündnisangebot mit guten Gründen zweifeln kann, waren Karl und seine Berater am Zustandekommen des Vertrags doch genug interessiert, um ihre lateinische Identität mittels eines gewissen Maßes an kultureller bzw. konfessioneller Mimikry zu verschleiern. Die Vertragsurkunde gehört nicht nur zu den wenigen Dokumenten, in denen Karl den griechisch-lateinischen Mischtitel des lateinischen Kaisertums führt (Nos Karolus, Dei gratia Constantinopolitanus imperator, Romeorum moderator, semper Augustus); sie beginnt auch mit einer in Frankreich unüblichen Anrufung Gottes und der Gottesmutter, die ausdrücklich auf die Ausbreitung des orthodoxen Glaubens Bezug nimmt: Ad honorem Dei et gloriose virginis, matris ejus, orthodoxe fidei divinique cultus augmentum et perpetuam rei memoriam.34 Ebenso wie der Titel begegnet diese Formel, an der im Grundsatz aus römischer Sicht natürlich nichts auszusetzen ist, auch in früheren Urkunden der lateinischen Kaiser; dort wird die exaltatio fidei orthodoxe freilich unmittelbar mit der reintegratio potestatis Apostolice und der Beseitigung des scisma iam antiquatum verbunden35. Dass gerade diese anti-schismatischen Präzisierungen im Vertrag zwischen Karl von Valois und dem Serbenkönig fortgelassen werden, lässt die propagierte Förderung von orthodoxem Glauben und Gottesdienst dann allerdings doch in einem besonderen Licht erscheinen.

33 AN J 510, Nr. 17 und 17bis; Registerüberlieferung einer vidimierten Fassung der serbischen Ratifikationsurkunde (J 510, 17bis) in AN JJ 49, fol. 108v–110r, Nr. 244, vgl. Robert Fawtier, Registres du trésor des chartes. Inventaire analytique, Bd. 1, Paris 1958, Nr. 2166, S. 447; Edition und diplomatische Beschreibung bei Mavromatis (Anm. 32), S. 142–148, 149f. 34 AN J 510, Nr. 17; ediert bei Mavromatis (Anm. 32), S. 142. 35 Vgl. hierzu den Text des Vertrages von Orvieto zwischen Karl von Anjou und dem lateinischen Kaiser Philipp von Courtenay sowie dem Dogen von Venedig (1281): Urkunden zur älteren Handelsund Staatsgeschichte der Republik Venedig, 3 Bde., hrsg. v. Gottlieb Tafel u. Georg Thomas, Wien 1856–1857, Bd. 3, S. 289: Ad honorem sancte et individue Trinitatis, […] intemerate et gloriose virginis Marie matris Dei […] et ad exaltationem fidei orthodoxe, reintegrationem potestatis Apostolice, que de subtractione Imperij Romanie, quod se ab ipsius obedientia scismate iam antiquato subtraxit, gravem in corpore mistico ecclesiastice unitatis tam nobilis membri mutilacionem sensisse dinoscitur.





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4 Die diplomatiegeschichtliche Perspektive: Die ‚Descriptio‘ als politisches Memorandum für Karl von Valois Nach den bisherigen Ausführungen wird es nicht erstaunen, dass der anonyme Verfasser der ‚Descriptio‘ von dem Projekt eines Bündnisses mit Stefan Uroš Milutin nicht begeistert war. Seine anti-serbische Haltung macht ihn zudem sensibler für die machtpolitischen Hintergründe von Uroš’ Angebot. Dieser sehe durch Karls KonstantinopelZug vitale Interessen gefährdet – zum einen in der reichen adriatischen Küstenregion, die Karls Heer durchqueren werde, zum anderen im Hinterland von Thessaloniki, das seit 1307 durch eine mit Karl verbündete Söldnerarmee – die sogenannte ‚Katalanische Kompanie‘ – geplündert wurde.36 Auf etwaige Zeichen der Freundschaft und Devotion gegenüber der römischen Kirche sei daher nichts zu geben: Tatsächlich ist alles Lippenbekenntnis, und der Serbenkönig wird seine Versprechen nicht einlösen, es sei denn aus übergroßer Furcht.37 Die bisherige Forschung hat die Ablehnung des serbischen Bündnisses durch den Anonymus auf dessen Schismatiker-Hass und schlechte persönliche Erfahrungen anlässlich eines Aufenthalts in Serbien zurückgeführt. Aufgrund seiner konfessionellen Unduldsamkeit wende er sich nachdrücklich gegen jede Verbindung mit einem nicht-lateinischen Herrscher, auch wenn die machtpolitischen Vorteile einer solchen Allianz auf der Hand liegen.38 Auf den ersten Blick besteht der historische Gehalt des Textes daher in der Spannung zwischen der pragmatischen Bündnispolitik Karls und einer konsequent konfessionellen, anti-schismatischen Position – oder anders ausgedrückt: in der Spannung zwischen denen, die die anti-schismatische Ideologie nur benutzen, und denen, die wirklich an sie glauben. Tatsächlich bleibt aber auch der Anonymus nicht bei einer konfessionellen Argumentation stehen – was zusammen mit der Wiederaufnahme des Uroš-MilutinProblems in anderen Textzusammenhängen die Vermutung nahelegt, dass er neben der anti-schismatischen Polemik weitere Zielsetzungen verfolgt. Um das geplante

36 ‚Descriptio‘ (Anm. 1), S. 36f.: Timet enim dominum karulum ex duplici causa, primo ex parte maritime regionis, quia totus exercitus dicti domini karuli oportet quod transeat per terram illam […]. Secundo quia regnum rasie dictum immediate est coniunctum grecie, nec distat a thesalonica. Videns quod exercitus dicti domini karuli est sibi prope […] petit pacem atque concordiam. 37 Ebd., S. 36: Propter timorem tamen domini karoli aliquod signum deuotionis nititur ostendere versus romanam ecclesiam, vt ecclesia romana dominum karulum prohibeat, ut eumdem non impugnet, ac eadem causa [tam diu] [domini] karuli amiciciam petit. Sed re vera totum est figmentum nec aliquid servabit de promissis, nisi nimio terrore perterritus. 38 Diese Einschätzungen gehen auf den Herausgeber Górka zurück, vgl. ‚Descriptio‘ (Anm. 1), S.  xxxii: „A sua in Serbia mansione auctor odium in regem Serbiae Urosium nutriebat; cum ergo ­videret, Carolum foedus cum sibi tam inviso schismatico inire, omnibus argumentis huic rei obstare conatus est.“ Dade (Anm. 3), S. 144, vermutet ebenfalls, dass die Meinung des Anonymus über Stefan Uroš Milutin auf die Enttäuschung des „Anhänger[s] und vielleicht sogar Abgesandte[n] der römischen Kirche“ zurückgeht.



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Bündnis zu torpedieren, bemüht er sich in erster Linie darum, den Serbenkönig dynastisch unmöglich zu machen. Dieser halte sich einen Harem, zu dem die Tochter des griechischen Kaisers gehört. Er habe eine einzige Tochter, sowie einen Bastard von einer „gemeinen“ Frau; beide sind bereits mit jeweils zwei Gatten verheiratet. Die Tochter hat er mit Elisabeth von Ungarn gezeugt, die zuvor 34 (oder 32) Jahre Nonne gewesen sei.39 Die Geschichte dieser ungarischen Königstochter, gewissermaßen des schwarzen Schafes der Arpaden, wird im Ungarn-Kapitel wieder aufgegriffen. Stephan V. hatte vier Töchter. Zwei davon verheiratete er mit Schismatikern, eine gab er Karl II. von Sizilien-Neapel; von dieser Tochter leitet sich der angevinische Anspruch auf Ungarn her. Die vierte entfloh aus dem Kloster, in dem sie lebte, und heiratete einen böhmischen Adligen. Nach dessen Tod nahm sie Uroš Milutin zum Mann und zeugte mit ihm jene Zariza, die nun mit einem Sohn Karls von Valois verheiratet werden soll.40 Die Perversität einer solchen dynastischen Verbindung tritt umso deutlicher hervor, als der Autor unmittelbar zuvor den ansonsten heiligmäßigen Charakter der Arpadendynastie würdigt, mit der Karl von Valois überdies durch seine Mutter verwandt ist.41 Durch die Allianz mit dem Serbenkönig verbindet sich Karl nicht nur mit einem völlig degenerierten Zweig des ungarischen Königshauses, sondern entscheidet sich zugleich gegen eine viel natürlichere und auch viel nützlichere Politik. Er entscheidet sich gegen das Bündnis mit demjenigen, der weit glaubhafter die Tradition der arpadischen stirps sacra weiterführen kann und ihm zudem von mütterlicher wie väterlicher Seite aus verwandt ist – mit dem angevinischen Prätendenten Caroberto nämlich, der sich seit 1308 in Ungarn durchzusetzen beginnt.42

39 ‚Descriptio‘ (Anm. 1), S. 35f.: Rex vero vrosius […] homo est versutus et mendax […], multitudinem uxorum simul actu habens, inter quas habet nunc filiam imperatoris constantinopolitani, cum qua habet magnam terram in grecia circa thesalonicam. filium nullum habet, sed tamen quendam bastardum a quadam comuni muliercula et vnam filiam [quam] habuit a filia regis vngarie [et] sorore regine sycilie, que fuit monialis professa et uelata XXXIIII. annis et in monasterio inclusa; filie enim sue iam [dicte] dedit [duos] maritos, bastardo eciam duas uxores. 40 Ebd., S.  53f., hier S.  54: Quartam posuit in monasterio […] in quo stetit per triginta duos annos, postmodum apostatauit et nobilem quendam de bohemia duxit in maritum, quo mortuo duxit regem rasie in uirum et ex ea dictus rex rasie habet filiam, quam uellet tradere domino karolo uel filio suo. Die aus gender-Perspektive unübliche Formulierung ducere in maritum (statt uxorem ducere bzw. in matrimonium ducere) soll vermutlich den perversen Charakter der beiden ehelichen Verbindungen dieser ungarischen Königstochter betonen. 41 Vgl. ebd., S. 52f., und oben Anm. 20. Isabella von Aragón, die Mutter Philipps des Schönen und Karls von Valois, ist eine Enkelin Bélas IV. von Ungarn. 42 Zu Caroberto vgl. Erik Fügedi, Karl I. König von Ungarn, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5 (1991), Sp. 987f. Die angevinische Vorbereitung des ungarischen Erbfalles in der Regierungszeit Karls II. bespricht Andreas Kiesewetter, Die Anfänge der Regierung König Karls II. von Anjou (1278–1295). Das Königreich Neapel, die Grafschaft Provence und der Mittelmeerraum zu Ausgang des 13. Jahrhunderts, Husum 1999, S. 371–384.





Konfessionelle Polemik und politische Opportunität 

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Die dynastische Argumentation rundet der Anonymus schließlich durch ein handfestes geostrategisches Argument ab. Schon Karl I. von Anjou habe als König von Sizilien ein Bündnis mit Ungarn geschlossen, um Konstantinopel zu erobern. Auch weiterhin gebe es keinen besseren Weg, um dieses Ziel zu erreichen. Sofern der Valois einen Teil Griechenlands besetzen könne, werde er mit ungarischer Unterstützung auch den Rest unterwerfen – unter der Voraussetzung selbstverständlich, dass der ungarische Thronstreit glücklich beigelegt werde.43 Angesichts dieser Ausführungen lässt sich die ‚Descriptio‘ ziemlich genau in den politischen Konstellationen des Jahres 1308 verorten. Löst man sich von der Fixierung auf die konfessionelle Polemik, so erscheint das Werk als ein Text, der vor allem die Interessen der Anjou-Dynastie im Auge hat. Letztlich forderte der anonyme Autor nicht weniger als die französische Unterstützung bei der Konsolidierung der angevinischen Position auf dem Balkan – worin er, vermutlich aufrichtig, den besten Weg zur Eroberung Konstantinopels sah. Karls tatsächliche Politik und insbesondere seine Allianz mit Uroš Milutin entsprachen diesen Vorstellungen indes nicht. Zwar lässt der Vertragstext die Absicht erkennen, eine Verletzung angevinischer Interessen auf dem Balkan zu vermeiden.44 Doch schwächte das Bündnis die Position eines serbischen Gegenkönigs, der bis dahin mit den Anjou kooperiert hatte,45 und hinderte wohl auch diese selbst an einer nachdrücklichen Verfolgung ihrer Ansprüche auf die südöstliche Adriaküste.46 Zudem hielt es die politischen Verhältnisse im Adriaraum offen – was nicht den Interessen der Anjou, wohl aber denen von Karls zweitem Bündnispartner Venedig entsprach. Und tatsächlich lässt sich ein Einfluß Venedigs auf den Abschluss des Vertrags mit Uroš Milutin nachweisen: Nicht nur fungiert ein Bürger der Venedig unterstellten Stadt Ragusa als Bevollmächtigter des serbischen Königs – mit Petrus Quirino nimmt

43 ‚Descriptio‘ (Anm. 1), S. 42f.: Et posito quod idem dominus karolus dictum imperium grecorum non haberet totum, ipse ex vna parte et dictus rex vngarie ex altera [parte] preoccuparent imperium pre­ fatum et omnes nationes dictas; nam rex karolus frater sancti lodewici, pater regis sycilie, quia ad imperium Constantinopolitanum hauelabat [= anhelabat, G. J.] et per consequens omnes prefatas nationes faciliter occuparet, fortissimo vinculo se coniunxit regi vngarie, eo quod filiam eius recepit pro filio suo, et filiam suam dedit filio illius, ut ex duplici parte imperium dictum et nationes prefate, que facilime occuparentur, impugnarentur. Nec adhuc nobilior et efficatior modus prouendiendi et subiugandi dictum imperium et nationes dictas, est isto, dum tamen memoratum regnum vngarie haberet pacem. 44 Die einschlägige Vertragsbestimmung nimmt Philipp von Tarent und seine Besitzungen ausdrücklich aus dem Hilfsversprechen Karls für Uroš Milutin aus, vgl. den ‚Traité entre Charles de Valois, ­„empereur“ de Constantinople, et le roi de Serbie Stefan Uroš Milutin‘ in Mavromatis (Anm.  32), S. 145. 45 Vgl. Fine (Anm. 14), S. 256. Bei dem Gegenkönig handelt es sich um Stefan Dragutin, den älteren Bruder Uroš Milutins, der – möglicherweise infolge des Milutinschen Bündnisses mit Karl von Valois – im Jahre 1308 oder 1309 das Bündnis mit Caroberto aufgab und vielleicht seinen eigenen Sohn als ungarischen Thronkandidaten ins Spiel brachte. 46 Vgl. ‚Descriptio‘ (Anm. 1), S. xxxiiif. (Praefatio); Dade (Anm. 3), S. 144f.



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 Georg Jostkleigrewe

auch ein Repräsentant der Serenissima am serbischen Ratifikationsakt teil.47 Die Quirini sind im Übrigen eng in die Verhandlungen mit Karl eingebunden; zwei weitere Mitglieder der Familie fungieren 1307 als Gesandter in Frankreich bzw. als Kommandant der venezianischen Hilfsflotte für Karl.48 In ihrem zeitgeschichtlichen Kontext stellt die ‚Descriptio‘, deren Darstellung auf den ersten Blick vom griechisch-lateinischen Gegensatz beherrscht wird, also das Dokument eines innerlateinischen Konfliktes dar. Die beiden Hauptverbündeten Karls von Valois ringen darum, dessen Bündnispolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Aus der Perspektive dieses machtpolitischen Gegensatzes dient die ganze interkonfessionelle Polemik der ‚Descriptio‘ allein dazu, den lateinischen Titularkaiser von einem venezianisch inspirierten Bündnis mit Serbien, das den Interessen der Anjou nicht gerade förderlich ist, abzubringen. Ein Erfolg ist den Bemühungen des anonymen Autors allerdings nicht beschieden. Bleibt noch nachzutragen, dass sich die Anjou am Ende doch durchsetzen. Bei der Abwicklung seiner Konstantinopel-Politik begünstigt Karl ab 1310 konsequent die süditalienische Schwesterdynastie; der venezianische Einfluß auf den Valois nimmt beständig ab. Aber das geschieht aus Gründen, die mit der ‚Descriptio‘ nichts mehr zu tun haben.

5 Konklusion Bei der Analyse dieses Beispielfalles haben wir unterschiedliche Sichtweisen auf das Verhältnis von Politik und religiöser Differenz erprobt: die kulturalistische, die ideologiekritische und schließlich auch eine eher klassische, diplomatiegeschichtliche Perspektive. All diese Ansätze haben wichtige Einsichten erbracht. Der kulturalistische Blick auf die ‚Descriptio‘ hat gezeigt, dass deren anonymer Verfasser und vermutlich auch seine Zeitgenossen in der konfessionellen Unterscheidung zwischen griechischen und lateinischen Christen ein ganz und gar grundlegendes Faktum

47 Der von Mavromatis edierte Vertrag zwischen Karl von Valois und Stefan Uroš Milutin, s. Anm. 32, nennt als Bevollmächtigte des serbisch-raszischen Königs neben Triphon Michaelis aus Kotor den Marchus de Luquari, Bürger von Ragusa (ebd., S. 142); die ebenfalls von Mavromatis edierte Ratifikationsurkunde führt unter den Zeugen auch Petrus Quirini de domo maiore cives Veneciarum auf (ebd., S. 150). 48 Es handelt sich um Jakob Quirino, der Karl zusammen mit Andreas Zane und Marinus Badoer in Poitiers aufsucht, vgl. Dade (Anm. 3), S. 138f., sowie um Johannes Quirino, der mit Marcus Minotto zusammen die zehn venezianischen Galeeren des in die Romania vorausgesandten Expeditionskorps befehligte, vgl. ebd., S. 118, bei Anmerkung 638. Petrus Quirino selber fungierte 1306 auch als venezianischer Gesandter in Konstantinopel, vgl. Deliberazioni del consiglio dei Rogati (Senato). Serie „mixtorum“, Bd. 1: Libri 1–14, hrsg. v. Roberto Cessi u. Paolo Sambin, Venedig 1960, S.  118 (lib. 2, Nr. 181, 186–188).





Konfessionelle Polemik und politische Opportunität 

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sahen: Zwischen einem Katholiken und einem Schismatiker bestand ein unübersehbarer Gegensatz. Aus ideologiekritischer Perspektive haben wir gesehen, wie dieser Gegensatz für politische Zwecke funktionalisiert werden konnte. Ohne eine genuin historische Perspektive aber bleiben alle diese Einsichten steril; erst die genaue historische Untersuchung zeigt, welchen Zwecken der konfes­sionelle Gegensatz tatsächlich dienstbar gemacht worden ist. Und hier ist das Ergebnis vielleicht überraschend. Denn die anti-schismatische Polemik der ‚Descriptio‘ zielt gar nicht auf das konfessionelle Gegenüber, sondern in erster Linie auf den Gegner im eigenen Lager. Vielleicht lässt sich dieses Ergebnis in gewissem Maße verallgemeinern; auch die Beispiele antilateinischer Polemik in Byzanz, die Lutz Rickelt in diesem Band analysiert,49 weisen ja in eine ähnliche Richtung. Aller säbelrasselnden Rhetorik zum Trotz liegt die Vermutung nahe, dass religiöse Differenz seltener als angenommen einen Konfliktgenerator darstellte. Man schlug sich nicht die Köpfe ein, nur weil man Grieche und Lateiner war; tat man es doch, hatte man andere Gründe. In der internen Auseinandersetzung aber stellte das konfessionelle Argument eine beliebte Waffe dar.

49 Vgl. Lutz Rickelt, David und die Andersstämmigen (allophyloi). Byzantinische Perspektiven auf die ‚Lateiner‘ im späten 12. und im 13. Jahrhundert, S. 392–406.



Lutz Rickelt (Münster)

David und die Andersstämmigen (allophyloi). Byzantinische Perspektiven auf die ‚Lateiner‘ im späten 12. und im 13. Jahrhundert Abstract: Der Ausdruck allophylos („andersstämmig“) bezeichnet in der ‚Septuaginta‘ die heidnischen Feinde Israels, in erster Linie die Philister des hebräischen Textes – die Gegenspieler Samsons und Davids. In byzantinischen Quellen beschreibt er zunächst allgemein feindliche Mächte, aber auch ‚fremde‘ Sünden und Häresien. In der Zeit des Vierten Kreuzzugs identifizierten byzantinische Autoren die westlichen Kreuzfahrer als Nachfolger der biblischen allophyloi und betrachteten ihre Angriffe und die Eroberung Konstantinopels aus einer typologischen Perspektive heraus, die an das Bild des byzantinischen Kaisers als ‚neuem David‘ anschloss. Durch den Vergleich des Konflikts mit dem Kampf Davids gegen die allophyloi im Alten Testament vergewisserte man sich einerseits des schlussendlichen Sieges, charakterisierte andererseits die Lateiner mit schlagwortartiger Prägnanz als Gottesfeinde und schloss eine Verständigung mit ihnen aus. Der massive Widerstand gegen die Unionspolitik Michaels VIII. Palaiologos (1259– 1282) mag auch dieser Perspektive auf die Lateiner geschuldet gewesen sein.

Der diesem Text zugrunde liegende Symposiums-Vortrag hatte den Titel „Zum Franken geworden. Zum Franken gemacht? Der Vorwurf der Frankophilie im spät­ byzantinischen Binnendiskurs“, und wurde in einer gemeinsamen Sektion unter dem Titel „Clash of Cultures? Kulturelle Identität und politischer Konflikt im spätmittel­ alterlichen Ägäisraum“ zusammen mit den Beiträgen von Georg Jostkleigrewe und Mike Carr eingebracht. Alle im Vortrag skizzierten Aspekte (etwa zur Konstruktion vermeintlicher Lateinerfreundlichkeit durch Verweise auf Kleidung, Sprache, Aus­ sehen und Auftreten) angemessen zu würdigen, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.1 Ich behandle daher hier nur eines dieser Themen, die Bezeichnung der

1 Die Publikation eines einschlägigen Beitrags ist in Vorbereitung; s. zu dieser Thematik u. a. Dion C. Smythe (Hg.), Strangers to themselves: The Byzantine Outsider. Papers from the Thirty-second Spring Symposium of Byzantine Studies, University of Sussex, Brighton, March 1998 (Society for the Promotion of Byzantine Studies Publications 8), Aldershot 2000; Jonathan Harris, Catherine Holmes u. Eugenia Russell (Hgg.), Byzantines, Latins, and Turks in the eastern mediterranean World after 1150 (Oxford Studies in Byzantium), Oxford 2013. Eine ausführliche Bibliographie bietet Theodora Papa­ dopoulou, Niketas Choniates and the Image of the Enemy after the Latin Capture of Constantinople, in: Johannes Koder u. Ioannis Stouraitis (Hgg.), Byzantine War Ideology between Roman imperial Concept and Christian Religion. Akten des Internationalen Symposiums (Wien, 19.–21. Mai 2011) ­(Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. Denkschriften 452 / Veröffentlichungen zur Byzanzforschung 30), Wien 2012, S. 87–98, hier S. 87, Anm. 1. Das Thema des vorliegenden Bei-



Byzantinische Perspektiven auf die ‚Lateiner‘ 

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‚Lateiner‘ (als Oberbegriff für Westeuropäer und Angehörige der römischen Kirche) als allophyloi (Andersstämmige) durch die Byzantiner. Über die Zuschreibung von Fremdheit hinaus konnte der Ausdruck eine heilsgeschichtliche Dimension annehmen, die sein ideologisches Potenzial erheblich verstärkte. Aus dem zugrundeliegenden alttestamentlichen Kontext ließen sich zudem machtpolitische Argumente ableiten, da er konkrete Erwartungshaltungen an den byzantinischen Kaiser implizierte, von denen abzuweichen schwere Verwerfungen nach sich ziehen konnte. Beginnen wir mit dem Begriff: Der Terminus allophylos (andersstämmig) diente in der antiken Literatur zunächst zur Bezeichnung fremder, barbarischer Völker.2 In der ‚Septuaginta‘ benennt er nicht zu Israel gehörende Fremdvölker;3 die Andersstämmigen sind im Gegensatz zu den Stämmen Israels stets Heiden, damit Feinde Gottes und Israels.4 Im Buch Exodus spricht Gott das Verbot eines Bundes zwischen den Israeliten und den im verheißenen Land ansässigen allophyloi aus; vielmehr

trags entsprang dem Forschungsprojekt B2-8 „Moses und David: Ambige Typologien für Patriarchen und Kaiser in Byzanz“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2 Zur Illustration ein Beispiel aus Appian, Historia Romana, Bd.  4, hrsg.  v. Horace White (Loeb Classcial Library), Cambridge, London 1913, ND 2000, S. 370–372 (App. civ. IV 17, 137): ἀλλόφυλα ἢ βάρβαρα ἔθνη. Weitere Belegstellen (von Thukydides über Polybios, Flavios Josephos und Plutarch bis Cassius Dio, Libanios und Eutropios) lassen sich schnell über den ‚Thesaurus Linguae Graecae‘ finden. Im Text werden griechische Quellenzitate in griechischer Schrift, allgemein verwendete griechische Ausdrücke sowie Literaturtitel transkribiert wiedergegeben. 3 Für die im Folgenden hauptsächlich erwähnten Bücher Richter und Königtümer (Abkürzungen nach den Richtlinien des Projektes Septuaginta Deutsch, d. h.: Kön ILXX = 1. SamMT, Kön IILXX = 2. SamMT, Kön  IIILXX  = 1.  KönMT, Kön  IVLXX  = 2.  KönMT) liegen keine kritischen Einzelausgaben des Göttinger Septua­ginta-Unternehmens vor, daher wird herangezogen: Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes, hrsg. v. Alfred Rahlfs, 3. Aufl. Stuttgart 1962. Die Edition der Samuels- und Königsbücher sowie Chroniken in: El Texto antioqueno de la Biblia griega, 3 Bde., hrsg. v. Natalio Fernández Marcos u. José R. Busto Saiz, Madrid 1989–1996, war mir nicht zugänglich. Von den kaum mehr überschaubaren Publikationen der Septuagintaforschung wurden u. a. konsultiert Jennifer M. Dines, The Septuagint, London, New York 2004; Gilles Dorival, Marguerite Harl u. Olivier Munnich, La Bible grecque des Septante. Du Judaïsme hellénistique au Christianisme ancien (Initiations au Christianisme ancien), Paris 1988; Karen H. Jobes u. Moisés Silva, Invitation to the Septuagint, Carlisle 2000 (mit nach Kapiteln gegliederten weiterführenden Lit.-hinweisen); Natalio Fernández Marcos, The Septuagint in Context. Introduction to the Greek Version of the Bible, Leiden u.  a. 2000; Nikolaus Walter, Die griechische Übersetzung der „Schriften“ Israels und die christliche „Septuaginta“ als Forschungs- und Übersetzungsgegenstand, in: Heinz-Josef Fabry u. Ulrich Offerhaus (Hgg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Griechischen Bibel (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament 153), Stuttgart u. a. 2001, S. 71–96; Kristin De Troyer, The Septuagint, in: James C. Paget u. Joachim Schaper (Hgg.), The New Cambridge History of the Bible, Bd. 1: From the Beginnings to 600, Cambridge 2013, S. 267–288. 4 Vgl. Wolfgang Speyer, Gottesfeind, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 11 (1981), Sp. 996–1043, hier Sp. 1024f.



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 Lutz Rickelt

sollen sie deren Kultorte und -bilder zerstören (Ex 34,13–15).5 Hier steht der Begriff noch allgemein für Fremde und Heiden; erst im Richterbuch treten die allophyloi stärker konturiert in Erscheinung, weil die griechischen Übersetzer des Bibeltextes den Terminus zur Übertragung des hebräischen pelištīm (Philister) nutzten:6 Da die Israeliten nach dem Tod Josuas nachlässig werden, stellt Gott sie auf die Probe, indem er (unter anderem) „die fünf Fürsten der Andersstämmigen“ (τὰς πέντε σατραπείας τῶν ἀλλοφύλων) gegen sie ziehen lässt (Ri 3,3–4). Die allophyloi der ‚Septuaginta‘ werden hier erstmals als konkret identifizierbare Gemeinschaft charakterisiert (herrschaftlich organisiert in einem Fünf-Städte-Bund),7 deren Angriffe die Entwicklung des Volkes Israel maßgeblich beeinflussen. In der Schlacht von Eben-Ezer erbeuten sie gar die Bundeslade, die sie jedoch wieder zurückbringen, nachdem die Lade das Bildnis ihres Gottes Dagon zu Fall brachte (Kön I 4–5). Die Niederlage und der zeitweilige Verlust des Heiligtums erschüttern das Vertrauen der Israeliten in das Richteramt, so dass sie schließlich Saul zum König machen (Kön I 9–10). Dieser siegt zwar anfangs über die allophyloi (Kön  I 14), verspielt dann aber Gottes Gnade, wird ver-

5 Vgl. parallele Verbote in Ex  23,23–24, Dtn 7,2–3, u. Ri 2,2, in denen allerdings in der ‚Septuaginta‘ der Terminus allophylos nicht verwendet wird, im Gegensatz zu Ex 34,15: μήποτε θῇς διαθήκην τοῖς ἐγκαθημένοις πρὸς ἀλλοφύλους ἐπὶ τῆς γῆς; siehe dazu Götz Schmitt, Du sollst keinen Frieden schließen mit den Bewohnern des Landes. Die Weisungen gegen die Kanaanäer in Israels Geschichte und Geschichtsschreibung (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament 91), Stuttgart u. a. 1970. 6 Φυλιστιείμ (phylistieim) begegnet (verhältnismäßig selten) im Pentateuch; in den Königtümern kein einziges Mal. In einigen Handschriften wurde im Buch der Richter an mehreren frühen Stellen (nicht durchgehend) der Begriff phylistieim durch allophyloi ersetzt (Ri 10,6–7; 10,11; 13,1; 13,5; 14,2), der Text also vereinheitlicht (die Samson bedrängenden Feinde werden in den anschließenden K ­ apiteln stets als allophyloi bezeichnet); s. Edwin Hatch u. Henry A. Redpath, A Concordance to the Septuagint and the other Greek Versions of the Old Testament (including the Apocryphal Books), Bd. 3, Oxford 1897– 1906, ND Graz 1954, S. 155. Paul de Lagarde, Librorum Veteris Testamenti c­ anonicorum pars prior, Göttingen 1883, sah in diesen Handschriften durchgehende Zeugen der sogenannten lukianischen Rezension der ‚Septuaginta‘, allerdings bewertete die spätere Forschung den Nachweis einer lukianischen Bearbeitung des Richterbuchs als „problematisch“, s. zusammenfassend Kristin De Troyer, Der lukianische Text. Mit einer Diskussion des A-Textes des Estherbuches, in: Siegfried Kreuzer u. Jürgen P. Lesch (Hgg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Griechischen Bibel, Bd. 2 (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament 161), Stuttgart 2004, S. 229–246, hier S. 236. Siehe auch Natalio Fernández Marcos, Der antiochenische Text der griechischen Bibel in den Samuels- und Königsbüchern (1–4  Kön LXX), in: ebd., S.  177–213; Bruce M. Metzger, Chapters of the History of New Testament textual Criticism (New Testament Tools and Studies 4), Leiden 1963, S. 1–41, bes. S. 7–14. 7 Der Kern der Siedlungsgebiete der Philister lag im heutigen Gaza-Gebiet; s. zu den historischen Philistern Truda Dothan u. Moshe Dothan (Hgg.), Die Philister. Zivilisation und Kultur eines Seevolkes, München 1995; Carl Stephan Ehrlich, The Philistines in Transition. A History of the Philistines from ca. 1000–730 B.C.E (Studies in the History and Culture of the Ancient Near East 10), Leiden, New York 1996. Eine gehaltvolle Zusammenfassung bietet John C. Greenfield, Philistines, in: George A. Butt­ rick (Hg.), The Interpreter’s Dictionary of the Bible. An illustrated Encyclopedia, Bd. 3, New York, Nashville 1962, S. 791–795.





Byzantinische Perspektiven auf die ‚Lateiner‘ 

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worfen und findet den Tod in der Schlacht gegen jene (Kön I 31; 1 Chr 10). Erst sein Nachfolger David bewährt sich dauerhaft als Sieger über die allophyloi,8 die in den die nachdavidische Königszeit betreffenden Bibeltexten nur selten Erwähnung finden.9 Paradigmatisch für Davids Siege steht natürlich die Überwindung Goliaths (auch er in der ‚Septuaginta‘ stets als allophylos bezeichnet) noch zur Regierungszeit Sauls (Kön I 17). In den Makkabäerbüchern treten die Feinde Israels ebenfalls einige Male als allophyloi in Erscheinung, hier allerdings wieder in der allgemeineren Anwendung des Begriffs als Fremde und Heiden.10 Allgemein lässt sich in den byzantinischen Quellen eine dem biblischen Sprachgebrauch vergleichbare Semantik feststellen: allophylos/allophyloi beschreibt auch hier Fremdes oder Fremde, das in aller Regel feindlich ist beziehungsweise die Feinde sind. Dies lässt sich exemplarisch in den Homilien des Photios (858–867 / 877–886) erkennen, in denen der Patriarch feindliche Mächte, Sünder und Sünden, Häretiker und Häresien als allophylos charakterisierte.11 Der Kontext akzentuiert die einzelnen Bedeutungsebenen (Fremdheit, Sündhaftigkeit, Unglauben/Häresie) unterschiedlich – gemeinsam ist allen Belegen, dass allophylos jemanden oder etwas als antagonistisch zur ihnen gegenübergestellten Gemeinschaft (der Rhomäer, der Rechtgläubigen) kennzeichnet, also als nicht-zugehörig exkludiert. Das Beispiel des Sieges Davids gegen den allophylos Goliath spornte die Byzantiner zudem stets zur Standhaftigkeit angesichts übermächtiger, hochmütiger Feinde an.12 In einer Predigt über die

8 Kön II 5, 8, 19, 21, 23; 1 Chr 11, 14, 18, 20. 9 Diese und alle weiteren Belegstellen bei Hatch u. Redpath (Anm. 6), Bd. 1, S. 57–59. 10 Siehe allgemein Robert Hanhart, Zum Text des 2. und 3. Makkabäerbuches. Probleme der Überlieferung, der Auslegung und der Ausgabe (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Kl. 13), Göttingen 1961. 11 Phōtiu homiliai, hrsg. v. Basileios Laourdas (Hellēnika. Parartēma 12), Thessaloniki 1959. Im Einzelnen hier Hom. 1, 4 (ebd., S. 8): Rekapitulation von Ri 3,2–5 (Illustration göttlicher Strafe für ein sündhaftes Volk); 4, 6 (ebd., S. 50): die Rus als „fremde Macht“ (τῶν ἀλλοφύλων τὴν ἰσχύν), die Kon­ stantinopel bedrohen – der alttestamentliche Tenor der Predigt könnte darauf deuten, dass hier auch ein konkreter Bezug zu den biblischen allophyloi hergestellt werden soll; 6, 6 (ebd., S. 69): der Gottgefällige verdunkelt seine Abkunft nicht durch die „falsche und fremde Saat des Menschenhasses“ (νόθῳ καὶ ἀλλοφύλῳ μισανθρωπίας σπέρματι), wie es der Sünder tut; 10, 2 (ebd., S. 100): der Kaiser hat die Barbaren besiegt und unterworfen, den „frechen und hochmütigen fremden Geist gedemütigt“ (ταπεινώσας ὑψηλὸν καὶ γαῦρον ἀλλόφυλον φρόνημα); 11,  3 (ebd., S.  108): biblische allophyloi als Feinde Israels; 14,  5 (ebd., S.  138): ein Verleumder ist „Fremder unter Menschen gemeinsamer Herkunft“ (τὸν ἐν ὁμοφύλοις ἀλλόφυλον); 16, 6 (ebd., S. 158): die Arianer folgten „fremden Lehren“ (ἀλλοφύλους δόξας); 17, 4 (ebd., S. 169): eine „fremde und unreine Hand“ (ἀλλόφυλος καὶ μιαρὰ χείρ) befleckte die Gottesmutter (gemeint sind die Ikonoklasten); 18,  4 (ebd., S.  179): wird im Haupttext besprochen. Engl. Übersetzung in: The Homilies of Photius, Patriarch of Constantinople, hrsg. v. Cyril Mango (Dumbarton Oaks Studies 3), Cambridge, Mass. 1958. 12 Siehe einleitend Stefan  A. Nitsche, David gegen Goliath. Die Geschichte der Geschichten einer Geschichte. Zur fächerübergreifenden Rezeption einer biblischen Story (Altes Testament und Mo­ derne 4), Münster 1998, S. 159–204.



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Be­lagerung Konstantinopels durch Awaren und Perser im Jahr 626 setzte Theodoros Synkellos Angriffe auf das biblische Jerusalem typologisch mit den aktuellen Ereignissen in Zusammenhang, stellte also durchgehend Bezüge zur alttestamentlichen Heilsgeschichte her. Allophylos diente ihm als Sammelbegriff für die zeitgeschicht­ lichen Antitypoi der alttestamentlichen Feinde, verwies aber auch explizit auf die biblischen Andersstämmigen selbst.13 Der allophylos ist also (von Ausnahmen abgesehen) auch in byzantinischen Texten nicht nur fremd, sondern auch feindlich, sei es gegenüber dem Reich oder der Rechtgläubigkeit (oder beides, weil beides zusammenfällt: Wer die Gemeinschaft der Orthodoxen bedroht, bedroht auch das Reich und vice versa).14 So schrieb Ioannes Kaminiates im zehnten Jahrhundert von „häretischem, fremdem Unkraut“, welches in Thessaloniki nie Einzug gehalten habe, und verband so Fremdheit mit dem Häresievorwurf; später bezeichnete er arabische Angreifer als „barbarische und fremde Völker“, die Gott nicht kennen. Hier diente der Ausdruck allophylos also zur Bestärkung der Distanz zu den Ungläubigen.15

13 Traduction et Commentaire de l’Homélie écrite probablement par Théodore le Syncelle sur le Siège de Constantinople en 626. Appendice: Analecta Avarica, de Leo Sternbach [Ed. d. griech. Textes], hrsg.  v. Ferenc Makk (Acta Antiqua et Archaeologica  19  / Opuscula Byzantina  3), Szeged 1975: in Abschnitt 15 (Sternbach, S. 80) werden die Feinde vom Patriarchen Sergios zusammen als ὦ ἔθνη ἀλλόφυλα („oh, andersstämmige Völker“) angesprochen, im folgenden Abschnitt 16 (ebd.) zitiert Sergios im Gebet Ps 82,6–9 (nach ‚Septuaginta‘ [Anm. 3]), der die einzelnen Feinde Gottes aufzählt, darunter die allophyloi, hier also nicht verallgemeinernd, sondern als eigenständiges Volk (Philister) angesprochen. Ιn Abschnitt 17 (ebd., S. 305), Zitat Ps 67,3, wird im Text des Synkellos die im Bibeltext angekündigte Vernichtung der ἁμαρτωλοί (Frevler) umgewandelt in die der ἔθνη ἀλλόφυλα (andersstämmigen Völker). Da der Psalm von David stammt, wie der Verfasser ausdrücklich erwähnt, möchte er durch diese Änderung wohl auch auf die Feinde Davids verweisen. Im Bericht über den Angriff der Slawen zu Wasser bezeichnet er diese ebenfalls als ἔθνη ἀλλόφυλα (Abschnitt 24: ebd., S. 84; vgl. Abschnitt 47: ebd., S. 94). Hier steht eher die Fremdheit der Feinde im Vordergrund, aber die durch­ gehenden Bibelbezüge in diesem Text legen die Vermutung nahe, dass die Verwendung des Begriffs allophyla auch hier einen Schriftzusammenhang herstellen und an das abgewandelte Psalmenzitat anschließen soll. Im Abschnitt 26 (ebd., S.  85) dient der Begriff zum Verweis auf die neubabylonischen Eroberer Jerusalems und deren Antitypoi, Awaren und Perser; gleiches gilt für das „fremde Land“, in das als Gefangene zu ziehen den Byzantinern im Gegensatz zu den Juden (Babylonisches Exil) erspart blieb (Abschnitt 49: ebd., S. 95). 14 Eine dieser Ausnahmen findet sich in den Heeresanweisungen Leons VI. (886–912), vgl. The Taktika of Leo VI., hrsg. v. George T. Dennis (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 49), Washington D.C. 2012, S. 90. Dort werden Söldnertruppen des byzantinischen Heeres allophyloi genannt. Doch wird die Sorge ausgesprochen, diese könnten im Kampf zu ihnen gegenüberstehenden Stammesgenossen (homophyloi) überlaufen, sie werden also ebenfalls als außerhalb der eigentlichen Gemeinschaft der Rhomäer stehend betrachtet. Das Suida-Lexikon definiert allophylos wörtlich als von anderer ­Abstammung bzw. Herkunft seiend, s. Suidae Lexicon, 5 Bde., hrsg.  v. Ada Adler (Lexicographi Graeci 1), Stuttgart 1928–1938, Bd. 1, S. 123, Nr. 1365: ὁ ἀπὸ ἄλλης φυλῆς, ὁ ἀλλογενῆς. 15 Ioannes Kameniates, De Expugnatione Thessalonicae, hrsg. v. Gertrud Böhlig (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 4), Berlin, New York 1973, S. 5: πᾶν ζιζιανιῶδες φυτὸν καὶ αἱρετικὸν καὶ ἀλλόφυλον (3, 5); ebd., S. 21: ἔθνη βάρβαρα καὶ ἀλλόφυλα (22, 5); vgl. Appians Formulierung in Anm. 2. Deutsche





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Eine frühe, indirekte Bezeichnung der Lateiner beziehungsweise ihrer Dogmen als allophyloi entnehmen wir einer Predigt des erwähnten Photios, die er anlässlich des Abschlusses der konstantinopolitanischen Synode von 867 vortrug und in der er den Triumph Michaels III. (843–867) und seines damaligen Mitkaisers Basileios I. (867–886) über „alle Häresien“ enkomiastisch ausbreitete. Er verglich den kaiserlichen Triumph mit Davids Sieg: Durch das Erschlagen eines Andersstämmigen entriss er das gesamte Volk (to homophylon) der Gefangenschaft, den Wunden und den Schwertern der Feinde […]. Aber weil er nur einen erschlug und viele Andersstämmige übrig ließ, blühte durch sie der unversöhnliche Krieg gegen Israel […]. Die kaiserliche Hand freilich zog nicht nur gegen eine der fremden Häresien (tōn allophylōn haireseōn) das Schwert des Kreuzes […]. Νachdem sie zugleich alle ihre Schlachtordnungen durchbrochen hat […], beschert sie der gesamten Kirche einen tiefen und ungestörten Frieden und dem gesamten Gemeinwesen dieselbe Eintracht.16

Weder die Auseinandersetzungen mit Papst Nikolaus  I. (858–867) um Photios’ An­erkennung und die Bulgarenmission noch der bereits länger schwelende Streit um das Filioque werden in der Predigt erwähnt; doch in einer ebenfalls 867 noch vor der Synode verfassten ‚Encyclica‘ hatte Photios den Vorwurf häretischer Dogmen und Praktiken gegen die westliche Kirche nachdrücklich vorgetragen.17 Auch in der kirchenslawischen Vita des ‚Slawenapostels‘ Konstantinos-Kyrillos heißt es, dass Kyrillos am Hof des Fürsten Rastislav in Mähren mit lateinischen Klerikern rang „wie David

Übersetzung bei: Die Einnahme Thessalonikes durch die Araber, hrsg. v. Gertrud Böhlig (Byzantinische Geschichtsschreiber 12), Graz, Wien, Köln 1975. 16 ‚Phōtiu homiliai‘ (Anm. 11), S. 179 (18, 4): σφαγῇ γὰρ ἀλλοφύλου ἑνὸς ὅλον ἥρπασε τὸ ὁμόφυλον αἰχμαλωσίας καὶ τραυμάτων καὶ μαχαίρας ἐχθρῶν […] ἕνα δὲ μόνον βαλὼν καὶ πολλοὺς τῶν ἀλλοφύλων λιπών, οἷς ἄσπονδος ὁ κατὰ τῶν Ἰσραηλιτῶν ἤκμαζε πόλεμος […] Ἡ δέ γε βασιλικὴ παλάμη οὐ κατὰ μιᾶς τῶν ἀλλοφύλων αἱρέσεων τὴν σταυρικὴν ῥομφαίαν ἐσπάσατο […] ἅμα πάσας αὐτῶν τὰς παρατάξεις συγκόψασα […] βαθεῖαν μὲν εἰρήνην καὶ ἀστασίαστον παντὶ τῷ τῆς ἐκκλησίας βραβεύει πληρώματι, παραπλησίαν δὲ τὴν ὁμοφροσύνην καὶ ὁμοίαν παντὶ πρυτανεύει τῷ πολιτεύματι. 17 Photius Constantinopolitanu, Epistulae et Amphilochia, Bd.  1, hrsg. v. Basileios Laourdas u. Leendert G. Westerink (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), Leipzig 1983, S. 40–53; Josef Hergenröther, Photius, Patriarch von Konstantinopel. Sein Leben, seine Schriften und das griechische Schisma, Bd. 1, Regensburg 1867, ND Darmstadt 1966, S. 642–652. Angezweifelt werden muss, ob diese Encyclica jemals abgesandt wurde; siehe dazu Juan Signes Codoñer, Die melkitischen Patriarchen, Konstantinopel und der Bilderkult in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Mit besonderer Berücksichtigung von Brief 2 des Photios und dem sogenannten Brief der drei Patriarchen an Theophilos, in: Michael Grünbart, Lutz Rickelt u. Martin Marko Vučetić (Hgg.), Zwei Sonnen am Goldenen Horn? Kaiserliche und patriarchale Macht im byzantinischen Mittelalter. Akten der Internationalen Tagung vom 3. bis 5. November 2010, Teilbd. 2 (Byzantinistische Studien und Texte 4), Münster 2013, S. 99–136. Unabhängig davon belegt der Text den Häresievorwurf gegen die westliche Kirche durch Photios. Zur Synode (die Nikolaus für abgesetzt erklärte) s. Francis Dvornik, The Photian Schism. History and Legend, Cambridge 1948, S. 120–129.



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mit den Andersstämmigen.“18 Der Urtext dieses Bios wird in das späte neunte oder frühe zehnte Jahrhundert datiert.19 Man kann wohl annehmen, dass auch Photios in seiner Predigt die ‚lateinische Häresie‘ zumindest mit anspricht. Doch erst in Quellen ab dem Ende des 12.  Jahrhunderts werden die Lateiner regelmäßig als allophyloi bezeichnet. Die spannungsreichen und konfliktgeladenen Erfahrungen der Kreuzfahrerzeit führten dazu, dass vermehrt auch Angehörige westlicher Reiche unter dieser antagonistischen Benennung subsumiert wurden, etwa die normannischen Eroberer von Thessaloniki (auch wenn er weiterhin zur Bezeichnung anderer Fremder oder Gegner zur Verfügung stand).20 Mit der zunehmenden Schwäche des Reichs während der Herrschaft der Angeloi wurde David als Typos des siegreichen Kaisers wichtig, um der erhofften Abwehr der vielfältigen Bedrohungen Ausdruck zu verleihen. Niketas Choniates verglich um 1200 die Bemühungen Alexios’ III. (1195–1203), das von Alemannen (Kreuzfahrer Friedrichs I. Barbarossa), Persern ­(Seldschuken), Vlachen und Skythen (Bulgaren oder Kumanen) zerrissene

18 Constantinus et Methodius Thessalonicenses. Fontes [Konstantin i Metodije Solujani. Izvori], hrsg. v. Franciscus Grivec u. Franciscus Tomšič (Radovi Staroslavenskog Instituta 4), Zagreb 1960, S. 131 (Vit. Konst. 15, 7–9); lat. Übers. ebd., S. 203, dt. Übers. in: Zwischen Rom und Byzanz. Leben und Wirken der Slavenapostel Kyrillos und Methodios nach den Pannonischen Legenden und der Klemensvita, hrsg. v. Josef Bujnoch (Slavische Geschichtsschreiber 1), Graz, Wien, Köln 1958. Zu den griechischen Quellen von Teilen der Vita siehe Ihor Ševčenko, The Greek source of the inscription on Solomon’s chalice in the Vita Constantini, in: To honor Roman Jakobson. Essays on the occasion of his seventieth Birthday, Bd. 3 (Janua linguarum. Series maior 33), Den Haag, Paris 1967, S. 1806–1817. 19 Vgl. Francis Dvornik, Les légendes de Constantin et de Méthode vues de Byzance (Byzantinoslavica. Supplementa 1), Prag 1933, S. 339; zur Mission in Großmähren ebd., S. 126–235. Siehe zur Aus­ einandersetzung mit der lateinischen Hierarchie kurz ders., Byzantine Missions among the Slavs. SS. Constantine-Cyril and Methodius, New Brunswick 1979, S. 115. 20 Einige Beispiele: Constantini Manassis brevarium chronicum, Bd.  1, hrsg.  v. Odysseus Lampsides (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 36), Athen 1996, S. 352, Z. 6495; Robert Browning, A new Source on Byzantine-Hungarian Relations in the Twelfth Century. The inaugural Lecture of Michael ho tu Archialu as Hypatos tōn philosophōn, in: Balkan Studies 2 (1961), S. 173–214, hier S. 197; Michael Italikos, Lettres et Discours, hrsg. v. Paul Gautier (Archives de l’Orient Chrétien 14), Paris 1972, S. 261 (or. 43), 288 (or 44); Nicephorus Basilaces, Orationes et Epistulae, hrsg. v. Antonius Garzya (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), Leipzig 1984, S. 24 (or. 1), 45 (or. 2); 61f. (or. 3), 86f. (or. 5); Eustathius Thessalonicensis, Opera minora, hrsg. v. Peter Wirth (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 32), Berlin, New York 2000, S. 209 (or. 13), 231, 238 (beide or. 14), 269 (or. 16); Nicetas Choniates, Historia, Bd. 1, hrsg. v. Jan Louis Van Dieten (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 11), Berlin, New York 1975, S. 69, 100, 117f., 184, 209, 220, 308, 368, 496; ders., Orationes et Epistulae, hrsg. v. Jan Louis Van Dieten (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 3), Berlin, New York 1972, S. 112 (or. 11), 146 (or. 14). Natürlich galten die Lateiner weiterhin als barbaroi, s. Dieter R. Reinsch, Ausländer und Byzantiner im Werk der Anna Komnene, in: Rechtshistorisches Journal 8 (1989), S. 257–274; andere, allophylos verwandte Begriffe waren allotrios, allodapos, allogenēs und alloethnēs; vgl. Ninoslava Radošević, Les allophyloi dans la correspondance des intellectuels byzantins du XIIe siècle, in: Zbornik Radova Vizantološkog Instituta 39 (2001/2002), S. 89–101, die die Zuschreibungen von Fremdheit in der Briefliteratur des 12. Jhs. untersucht.





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Reich zusammenzufügen mit denen Davids,21 „als die Bundeslade unter den Andersstämmigen umherirrte.“22 Obwohl der Raub der Lade durch die Andersstämmigen in vordavidische Zeit fiel, schrieb Niketas ihre Rettung David zu, da er es war, der sie schließlich nach Jerusalem in Sicherheit brachte (Kön  II 6). Der Sieg über die allophyloi war in der Königsherrschaft Davids vorgebildet und oblag in zeitgenössischer Deutung dem ‚neuen David‘, dem byzantinischen Kaiser.23 Auch Siege über Usur­ patoren konnten in dieser Art gedeutet werden. Ioannes Syropulos berichtete über die Niederschlagung der Erhebung des Alexios Branas durch Isaakios II. im Jahr 1187: Denn wie einen harten Stein gegen ihn schleudernd hast du ihm die allen unvermeidbare Strafe bei erster Gelegenheit auferlegt, dann mit dem Schwert seinen gottlosen Kopf abgehauen; und nicht weniger als das alte Jerusalem den rötlichen König, der den Andersstämmigen getötet hatte, pries das neue Jerusalem dich, unseren König – rötlich wie er –, der den Kopf des bösartigen Rebellen abschlug, des vollkommenen neuen Goliath.24

21 1185 brach eine Revolte der Vlachen und Bulgaren aus, s. ausführlich Max Ritter, Die vlacho-bulgarische Rebellion und die Versuche ihrer Niederschlagung durch Kaiser Isaakios II. (1185–1195), in: Byzantinoslavica 71 (2013), S. 162–210. Die Kumanen werden in der Folge als Verbündete der Bulgaren erwähnt. 1189 durchzog Friedrich Barbarossa mit seinem Heer den Balkan, dabei kam es zu erheblichen Spannungen und bewaffneten Auseinandersetzungen mit den Byzantinern. Friedrich erwog schließlich einen Angriff auf Konstantinopel, konnte aber im Frühjahr 1190 das Übersetzen seiner Truppen nach Kleinasien durchsetzen, siehe Paul Stephenson, Byzantium’s Balkan Frontier. A political study of the northern Balkans, 900–1204, Cambridge 2000, S. 288–300. In Kleinasien nutzten die Seldschuken nach 1185 die Schwäche des Reichs zu etlichen Einfällen, dazu erhob sich 1188 in Philadelphia Theodoros Mankaphas, der später von den Seldschuken unterstützt wurde. 1196 erreichte Alexios III. seine Auslieferung durch den Sultan von Ikonion, vgl. Jean-Claude Cheynet, Pouvoir et Contestations à Byzance (963–1210) (Publications de la Sorbonne, Série Byzantina Sorbonensia 9), Paris 1990, S. 123, 454–458; Charles M. Brand, Byzantium confronts the West, 1180–1204, Cambridge, Mass. 1968, S. 85–87, sowie Die Rede des Ioannes Syropulos an den Kaiser Isaakios II. Angelos (1185– 1195) (Text und Kommentar), nebst Beiträgen zur Geschichte des Kaisers aus zeitgenössischen rhetorischen Quellen, hrsg. v. Max Bachmann, München 1935, S. 55–58. 22 Nicetas Choniates, Orationes (Anm. 20), S. 57 (or. 7): συναρμόσασθαι τὸ ἀνάρμοστον καθὰ καὶ Δαυὶδ πρότερον, ἡνίκα ἡ κιβωτὸς ἐν ἀλλοφύλοις ἐπλάζετο. Dt. Übers. in: Kaisertaten und Menschenschicksale im Spiegel der schönen Rede. Reden und Briefe des Niketas Choniates, hrsg. v. Franz Grabler (Byzantinische Geschichtsschreiber 11), Graz, Wien, Köln 1966, S. 105. Auch an zwei weiteren Stellen der siebten Rede wird Alexios als ‚neuer David‘ präsentiert, s. Nicetas Choniates, Orationes (Anm. 20), S. 58, 64. 23 Als ‚neuer David‘ erscheint schon Alexios’ Vorgänger Isaakios II. Angelos (1185–1195 / 1203–1204) in der neunten Rede des Niketas, gehalten am 5. Januar 1190 auf dem Höhepunkt der Krise zwischen Byzanz und Friedrich Barbarossa, der hier als gefährlichster Feind des Reiches behandelt wird, s. Nicetas Choniates, Orationes (Anm. 20), S. 98f. 24 ‚Ioannes Syropulos‘ (Anm. 21), S. 15: καὶ γὰρ ὅσα καὶ λίθον στερρὸν κατ’ ἐκείνου σφενδονησάμενος τὸ τοῖς πᾶσιν ἄλυτον ἐπιτίμιον ἐκείνῳ τὰ πρῶτα τὴν καιρίαν ἐπέπληξας, εἶτα καὶ σπάθῃ τὴν κεφαλὴν ἐκείνου τὴν ἀνοσίαν ἐθέρισας, ὁπότ’ οὐχ’ ἧττον ἤπερ ἡ παλαιὰ Ἰερουσαλὴμ ἐπὶ πυρράκῃ τῷ βασιλεῖ ἀποκτείναντι τὸν ἀλλόφυλον ἡ νέα αὕτη ἐπὶ σοὶ τῷ ἡμετέρῳ βασιλεῖ τῷ κατ’ ἐκεῖνον πυρράκῃ ἐκρότησε τὴν κεφαλὴν τοῦ σκαιογνώμονος ἀποστάτου ὡς Γολιὰθ ἄντικρυς ἄλλου ἀποθερίσαντι. Dass David „röt-



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Syropulos machte den Usurpator zum ‚neuen allophylos Goliath‘, besiegt durch den ‚neuen David‘; sehr klar bringt er außerdem zum Ausdruck, dass die Byzantiner ihre Hauptstadt als Neues Jerusalem betrachteten, und sich selbst als das auserwählte Volk des Neuen Bundes in der Nachfolge Israels.25 Die Anbindung an König David blieb ein wichtiges Instrument der Legitimation des Exilkaisertums nach dem vierten Kreuzzug (nicht zufällig spielten bei Niketas Choniates auch Moses und Zorobabel eine Rolle26 – Moses führte die Israeliten aus Ägypten ins verheißene Land, Zorobabel, ein Davidide, aus dem babylonischen Exil zurück nach Jerusalem). In einer von Niketas geschriebenen Fastenpredigt beschrieb Theodoros I. Laskaris (1204–1221) seine Erwählung zum Kaiser analog zu der Davids und gab seiner Zuversicht Ausdruck, er werde bald über alle Rhomäer herrschen – wie David, der zunächst König von Juda wurde, dann auch von den anderen Stämmen anerkannt wurde, und schließlich Jerusalem gewann.27 David eroberte Jerusalem von den kanaaitischen Jebusitern (Kön II 5,6–7); Niketas’ Bruder, der Metropolit von Athen Michael Choniates, hoffte in einem an Theodoros gerichteten Brief, dieser möge die Lateiner aus Konstantinopel („den heiligen Bezirken des unsrigen Jerusalems“)28 verjagen wie einst David jene Jebusiter. In weiteren Reden des Niketas Choniates erscheint

lich“ (πυρράκης) war, berichtet Kön I 16,12 (Auswahl Davids); auch Niketas Choniates benutzt diesen Ausdruck für Isaakios II., s. Nicetas Choniates, Orationes (Anm. 20), S. 32 (or. 4), 37 (or. 5), 98 (or. 9), sowie für Alexios III., s. ebd., S. 58 (or. 7). Es handelt sich also wohl nicht um eine Beschreibung der realen Haarfarbe, sondern eine Umschreibung für die den Herrscher anzeigende Farbe Purpur, die Niketas häufig hervorhebt, auch im Anschluss an die letztgenannte Textstelle; s. Alexander Kazhdan, Nicetas Choniates and Others. Aspects of the Art of Literature, in: ders. u. a. (Hgg.), Studies on Byzantine Literature of the Eleventh and Twelfth Centuries (Past and Present Publications), Cambridge u. a. 1984, S. 256–286, hier S. 257–263. Bei Bezug auf die Haarfarbe wäre auch eine Übersetzung mit „blond“ möglich, folgte man ‚Suidae Lexicon‘ (Anm. 14), Bd. 4, S. 273, Nr. 3187: Πυρράκης: ξανθός. Ansonsten überwiegt die Bedeutung „feuerfarben, rötlich“, s. Erich Trapp, Lexikon zur byzantinischen Gräzität besonders des 9.–12. Jahrhunderts (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 417 / Veröffentlichungen zur Byzanzforschung 6), 7. Fasz., S. 1489; zum Branas-Aufstand siehe Cheynet (Anm. 21), S. 121–123, 437–439, sowie Brand (Anm. 21), S. 80–82. 25 Siehe dazu Endre von Ivánka u. a. (Hgg.), Handbuch der Ostkirchenkunde, Düsseldorf 1971, S. 35–49. 26 Nicetas Choniates, Historia (Anm. 20), S. 578: Τίς ἐπιστήσεταί σοι Μωσῆς καινουργὸς ἢ ἐπανάγων ἐποφθήσεται Ζοροβάβελ; dt. Übers. ebd., S. 155: „Wer wird dich als neuer Moses erneuern? Wer wird dich als Zorobabel zurückführen?“ Ähnlich Nicetas Choniates, Orationes (Anm. 20), S. 160 (or. 15). Die Antwort gab Theodoros Laskaris höchstpersönlich in einer von Niketas geschriebenen Fastenpredigt, s. ebd., S. 128 (or. 13): εἰ δὲ καὶ τὰ εἰσιτήρια ἑορτάσομεν ἧς ἐκπεπτώκειμεν πόλεως εἰς ἐλευθερωτὴν Μωσῆν καὶ τὸν ἐπανάγοντα τὴν αἰχμαλωσίαν Σιὼν Ζοροβάβελ κριθείσης τῆς βασιλείας μου; dt. Übers. ebd., S. 218f.: „Wenn wir auch den Einzug in die Stadt feiern werden, aus der wir vertrieben sind, und mein Kaisertum für den Befreier Moses und den die Gefangenenschar Sions zurückführenden Zorobabel gehalten werden wird“. Siehe auch ebd., S. 147 (or. 14), 160 (or. 15), 175 (or. 16). 27 Nicetas Choniates, Orationes (Anm. 20), S. 127 (or. 13). 28 Michael Choniates, Epistulae, hrsg. v. Foteini Kolovou (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 41), Berlin, New York 2001, S. 124 (ep. 94, 6): ἀπελάσαι τῶν ἱερῶν περιβόλων τῆς καθ’ ἡμᾶς Ἱερουσαλὴμ ὡς





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Theodoros als ,neuer David‘, der über die allophyloi siegt, womit hier sowohl Lateiner als auch Seldschuken angesprochen werden.29 Auch dem Hauptkonkurrenten des Laskariden, Theodoros I. Angelos Dukas (Herrscher von Epiros 1215–1230, seit 1224 Kaiser in Thessaloniki), wünschte man sich in seinem Herrschaftsgebiet als ‚neuen David‘. In einem unvollständig überlieferten Brief an Theodoros Dukas schrieb der Metropolit von Naupaktos, Ioannes Apokaukos: Werde dem Volk der Andersstämmigen zum neuen David, lege in deine Kriegertasche drei Steine, die Macht der gleichwertigen Dreifaltigkeit, schleudere sie gegen den Andersstämmigen, treffe ihn, der Gottes Ordnung verhöhnt, auf seiner abscheulichen Stirn, töte ihn sogleich, hebe hinfort von uns die Schande, wie jener von den Söhnen Israels, und es sollen für dich tanzen die jungfräulichen Seelen, singend: Unser König hat Zehntausende erschlagen und nicht Tausende.30

Nikolaos Mesarites, ein hoher kirchlicher Amtsträger in Konstantinopel und später Metropolit von Ephesos, berichtete in der Grabrede auf seinen 1207 verstorbenen Bruder Ioannes über bereits Ende 1204 in der Hagia Sophia stattgefundene Religionsgespräche zwischen dem päpstlichen Legaten Petrus Capuanus und einer Versammlung byzantinischer Kleriker. Auch er verglich den (aus seiner Sicht) Sieg seines Bruders über Capuanus mit der Niederwerfung Goliaths: Was ist größer als die vortreffliche Tat Davids gegen Goliath, der unverschämt gegenüber der gesamten Versammlung der Söhne Israels war, der durch drei Steine von David auf der Stirn

τοὺς Ἰεβουσαίους ἐκ τῆς ἀρχαιοτέρας ὁ μέγας Δαυὶδ. Im Deuteronomium verbietet Gott explizit einen Bund mit den Jebusitern und verspricht ihre Vertreibung (Dt 7,1–11), vgl. Anm. 5. 29 Nicetas Choniates, Orationes (Anm. 20) S. 126 (or. 13); 134, 138f., 146 (jeweils or. 14), 160 (or. 15), 171 (or. 16). Der ins Herrschaftsgebiet des Theodoros eingefallene Bruder des ebenfalls den Kaisertitel beanspruchenden Alexios I. Komnenos (1204–1222) von Trapezunt, David, sei dagegen nur ein ‚PseudoDavid‘, s. ebd., S. 145 (or. 14): ὁ ψευδώνυμος οὗτος Δαυίδ; vgl. ebd., S. 139). 30 Nikos  A. Bees, Unedierte Schriftstücke aus der Kanzlei des Ioannes Apokaukos des Metropoliten von Naupaktos, in: Byzantinisch-Neugriechische Jahrbücher 21 (1971/1974), S.  57–160, hier S. 130 (ep. 71): γίνου τῷ ἀλλοφύλῳ ἔθνει νέος Δαυίδ, βάλε ἐν τῷ πολεμικῷ σου καδδίῳ τρεῖς λίθους, τῆς ἰσοσθενοῦς τριάδος τὴν δύναμιν, σφενδόνησον αὐτοὺς κατὰ τοῦ ἀλλοφύλου, πλῆξον τοῦτον ἐν τῷ ἀναισχύντῳ μετώπῳ, θεοῦ παράταξιν ὀνειδίζοντα, θανάτωσον αὐτὸν ἐκ τοῦ παρευθύ, ἆρον ὄνειδος ἐξ ἡμῶν, ὡς ἐκεῖνος τῶν υἱῶν Ἰσραήλ, καὶ χορευσάτωσαν ἐπί σοι παρθένοι ψυχαί, ἐπάταξεν, ἀναψάλλουσαι, ὁ βασιλεὺς ἡμῶν, ἐν μυριάσι κἂν οὐκ ἐν χιλιάσιν. Aus den fünf Steinen (πέντε λίθους) und der Hirtentasche (τῷ καδίῳ τῷ ποιμενικῷ) des Bibeltextes werden (wie durchaus üblich) drei Steine und eine „Kriegertasche“. Auch der Lobpreis der Frauen wird abgewandelt zitiert (Kön I 18,7: ἐπάταξεν σαουλ ἐν χιλιάσιν αὐτοῦ καὶ δαυιδ ἐν μυριάσιν αὐτοῦ, [„Saul hat Tausende erschlagen, David aber Zehntausende“]). Die Formulierung „jungfräuliche Seelen“ könnte auf Gregorios von Nyssa zurückgehen. Im Kommentar zum Hohenlied nennt er die Töchter Jerusalems parthenoi psychai, die der Lehrerin – der Gottesmutter – folgen, siehe Gregorii Nysseni in canticum canticorum, hrsg. v. Hermannus Langerbeck (Gregorius Nyssenus, Opera 6), Leiden 1960, S. 434. Da auch für David die Frauen Jerusalems tanzten und sangen, wäre die Übertragung dieser Bezeichnung problemlos möglich, vielleicht sogar geboten, um die spirituelle Ebene von Tanz und Gesang zu betonen.



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getroffen und unwiderruflich gefällt wurde? War nicht bei den gegen ihn [Petrus Capuanus] versammelten Brüdern auch mein kleiner Bruder, der den Andersstämmigen aus Italien stürzte (den man einen neuen hochmütigen Goliath nennen könnte, der lautstark gegen unsere Versammlung wütete), ihm dreifach seine Worte an die Stirn warf und den Stolzen unterwarf? Hat er nicht so den Hochmütigen zur Erde herabgezogen? Jener [David] wurde unterstützt von König Saul, und erhielt eine Rüstung und ein Kriegsgewand, dieser aber [Ioannes] hatte weder König, noch Herrscher, Heerführer oder General, sondern allein die allmächtige Dreifaltigkeit mit ihm verbündet, welche die Schurken niederwarf.31

Dazu gibt es Textstellen, in denen der Begriff allophylos wieder stärker im allgemeinen Sinn (fremd, feindlich) verwendet wird. Niketas Choniates beschwerte sich über die schlechte Behandlung durch die allophyloi nach der Einnahme von Konstantinopel; Michael Choniates betonte in einem Brief an den Patriarchen Manuel Sarantenos (1217–1222), Gott habe die „Königin der Städte“ (τὴν βασιλίδα τῶν πολέων) aus Zorn den allophyloi übergeben; in einem weiteren Brief beklagte er die „fremde Tyran-

31 Neue Quellen zur Geschichte des lateinischen Kaisertums und der Kirchenunion, Bd. 1: Der Epitaphios des Nikolaos Mesarites auf seinen Bruder Johannes, hrsg. v. Augustus Heisenberg (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 5), München 1923, S. 50 (Epitaph. 39): Τί τούτου μεῖζον τὸ Δαϊτικὸν ἐκεῖνο τὸ κατὰ τοῦ Γολιὰθ ἀριστούργημα τοῦ φρυαξαμένου κατὰ πάσης τῆς συναγωγῆς τῶν υἱῶν Ἰσραὴλ καὶ τρισὶ λίθοις παρὰ Δαῒδ βληθέντος ἐπὶ τὸ μέτωπον καὶ πτῶμα πεπτωκότος ἀνέγερτον; ἆρ’ οὐ τυτθὸς καὶ οὑμὸς ἀδελφὸς ἐν τοῖς κατ’ αὐτὸν ἀδελφοῖς, ὃς τὸν ἐξ Ἰταλίας ἀλλόφυλον περιέτρεψεν – ἄλλόν τις εἴπῃ τοῦτον ὑπερήφανον Γολιάθ, βρέμοντα μέγα κατὰ τοῦ ἡμετέρου πληρώματος – καὶ διὰ τοῦ τριττοῦ τουτωνὶ τῶν ῥημάτων τὴν ἐν τῷ μετώπῳ κατέβαλεν ὑποκαθημένην ὀφρύν; οὐκ εἰς γῆν οἷον κατέσπασε τὸ τοῦ φρονήματος ὀγκηρόν; ἐκεῖνος μὲν γὰρ καὶ συναιρόμενον εἶχεν εἰς τοῦτο τὸν βασιλέα Σαοὺλ καὶ πανοπλία προὐτέθη καὶ ἀρεϊκή τις ἀμφίασις, οὗτος δ’ οὐ βασιλέα οὐκ ἄρχοντα οὐ στρατηγὸν οὐ ταξίαρχον, ἀλλὰ τὴν παναλκῆ τριάδα μόνην ἔχων συμμαχοῦσαν αὐτῷ, τὴν καταβάλλουσαν τοὺς ἀλάστορας. Mesarites erwähnt nicht, dass auch David ohne die von Saul erhaltenen Waffen und Rüstung (Kön I 17,38) zum Kampf antrat, ihm geht es wohl eher um den Rückhalt, den der Hirtenjunge David durch die Unterstützung des Königs und seiner Heerführer erfuhr, während es zur Zeit der Gespräche keinen legitimen orthodoxen Kaiser gab. Die Formulierung πτῶμα ἀνέγερτον zur Umschreibung des unwiderruflichen Falls findet sich ähnlich im Sacharja-Kommentar von ­Didymos dem Blinden aus dem 4. Jh., in dem er die Christenverfolgungen beschrieb und m ­ einte, die Kirche sei so tief gefallen, dass ihr Sturz unwiderruflich schien, s. Didyme l’Aveugle, Sur ­Zacharie, Bd.  2, hrsg.  v. Louis Doutrelean (Sources Chrétiennes  84), Paris 1962, S.  560–562 (II 281): δοκεῖν πτῶμα ἀνέγερτον πεπτωκέναι, ἀδύνατον εἶναι ἀποκαταστῆναι αὐτήν. Vgl. zur Grabrede Alexander Sideras, Die byzantinischen Grabreden. Prosopographie, Datierung, Überlieferung. 142 Epitaphien und Monodien aus dem byzantinischen Jahrtausend (Wiener byzantinistische Studien 19), Wien 1994, S. 236–238; zu den Religionsgesprächen Johannes M. Hoeck u. Raimund J. Loenertz, Nikolaos-Nektarios von Otranto, Abt von Casole. Beiträger zur Geschichte der ost-westlichen Beziehungen unter Innozenz III. und Friedrich II., Ettal 1965, S. 31f.; Werner Maleczek, Petrus Capuanus. Kardinal, Legat am 4. Kreuzzug, Theologe († 1214) (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom Abt. 1, 8), Wien 1988, S. 197; Georgij Avvakumov, Die Entstehung des Unionsgedankens. Die lateinische Theologie des Hochmittelalters in der Auseinandersetzung mit dem Ritus der Ostkirche (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittel­alterlichen Theologie und Philosophie 47), Berlin 2002, S. 259.





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nis“ (ἡ ἀλλόφυλος τυραννίς) in Konstantinopel, und Nikephoros Gregoras berichtete schließlich von der Rückeroberung der Stadt von den „Fremden“.32 Allerdings lässt sich erwägen, ob in einem Diskurs, der von typologischem Denken (Typologie hier verstanden als Analogiebildung zwischen Heilsgeschichte und Zeitgeschehen) geradezu durchtränkt war,33 nicht auch derartige Äußerungen das Typologie-Potenzial des Begriffs allophylos transportierten – sei es, dass der Autor damit ‚spielte‘ und den Ausdruck bewusst zwischen der allgemeinen Grundbedeutung und dem konkreten Bezug zum Alten Testament oszillieren lässt, sei es, dass der Rezipient die entsprechende Textstelle auch ohne intendierten Schriftverweis heilsgeschichtlich interpretierte. Der Verlust Konstantinopels legte es nahe, in den Lateinern in Übernahme biblischer Paradigma die gegenwärtigen allophyloi zu sehen, deren alttestamentlichen Vorläufern die Eroberung der Bundeslade gelungen war.34 Ich halte es daher auch

32 Nicetas Choniates, Historia (Anm. 20), S. 592; dt. Übers. in: Die Kreuzfahrer erobern Konstantinopel. Die Regierungszeit der Kaiser Alexios Angelos, Isaak Angelos und Alexios Dukas, die Schicksale der Stadt nach der Einnahme, sowie das Buch von den Bildsäulen (1195–1206) aus dem Geschichtswerk des Niketas Choniates, hrsg. v. Franz Grabler (Byzantinische Geschichtsschreiber 9), 2. Aufl. Graz, Wien, Köln 1958, S. 171; Michael Choniates (Anm. 28), S. 270 (ep. 171, 1), 203 (ep. 123, 2); vgl. ebd., S. 139 (ep. 100, 29); Nicephorus Gregoras, Byzantina Historia, Bd. 1, hrsg. v. Ludwig Schopen (Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae 19), Bonn 1839, S. 84: οἱ δὲ καὶ τῷ τῶν Λατίνων πάλαι ἀχθόμενοι ζυγῷ καὶ ἄλλως τοῖς ὁμοφύλοις μᾶλλον ἢ τοῖς ἀλλοφύλοις συνδιαιτᾶσθαι ποθοῦντες. Für die dt. Übers. s. Nikephoros Gregoras, Rhomäische Geschichte. Historia Rhomaïke, Bd. 1, hrsg. v. Jan Louis Van Dieten (Bibliothek der griechischen Literatur 4), S. 105: „Die Männer [Konstantinopels] ertrugen das lateinische Joch schon lange mit Widerwillen und wollten auch ansonsten lieber mit ihren Stammesbrüdern denn mit Fremden zusammenleben“. Gregoras verwendet hier τοῖς ἀλλοφύλοις, um den Gegensatz „fremd, nicht zugehörig“ (allophylos) und „gemeinsamer Herkunft, zugehörig“ (homophylos) zu ­akzentuieren; dass er hier die biblischen allophyloi im Sinn hatte, ist nicht unbedingt anzunehmen. Das schließt aber nicht aus, dass ein Rezipient den Text auf diese beziehen konnte. 33 Siehe zur „Denkform Typologie“ Bernd Mohnhaupt, Beziehungsgeflechte. Typologische Kunst des Mittelalters (Vestigia Bibliae 22), Bern u. a. 2000, S. 19–23. 34 Im Geschichtswerk des Niketas resümiert Kaiser Ioannes II. Komnenos (1118–1143) kurz vor seinem Tod: „Vertreiben wollte ich die Feinde ringsum, die mehrmals schon das Heilige Grab in ihre Gewalt gebracht haben, wie einst die Andersstämmigen die Lade des Alten Bundes.“ Siehe Nicetas Choniates, Historia (Anm. 20), S. 42: μετελθεῖν δὲ πολέμου νόμῳ καὶ τὸ κύκλῳ πολέμιον, ὅπερ ὡς τὴν πάλαι κιβωτὸν οἱ ἀλλόφυλοι τὴν τοῦ Κυρίου σορὸν πολλάκις εἷλε δορύκτητον. Für die dt. Übers. s. Die Krone der Komnenen. Die Regierungszeit der Kaiser Joannes und Manuel Komnenos (1118–1180) aus dem Geschichtswerk des Niketas Choniates, hrsg. v. Franz Grabler (Byzantinische Geschichtsschreiber 7), Graz, Wien, Köln 1958, S. 76: allophyloi ist hier übers. als „fremde Heiden“. Im Text ist zuvor von den Söhnen Hagars die Rede und jenen, die mit diesen gemeinsame Sache machten. Auch wenn der geplante Feldzug des Ioannes die Unterwerfung der lateinischen Kreuzfahrerstaaten unter byzantinische Oberhoheit zum Ziel hatte, s. Paul Magdalino, The Empire of Manuel I Komnenos, 1143–1180, Cambridge u. a. 1993, S. 41, bezieht sich der Vergleich mit den allophyloi daher wohl auf die Araber. Die zugrunde liegende Analogie passte aber auch auf den Verlust Konstantinopels, zumal, wie ge­ sehen, die erhoffte Rettung des Reiches durch Alexios III. von Nicetas Choniates, Orationes (Anm. 20), S. 57 (or. 7), mit der Wiedergewinnung der Bundeslade verglichen wurde.



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 Lutz Rickelt

für keinen Zufall, dass in der patriarchalen Antwort (1273) auf die Unionswünsche Michaels  VIII. Palaiologos (1259–1282) die Lateiner erneut als allophyloi disqualifiziert wurden.35 Da sich der Kaiser durchaus betont an David anlehnte, könnte es sich um einen an ihn gerichteten Fingerzeig handeln, dass er durch die Annäherung an das Papsttum gegen eben dieses von ihm selbst propagierte Bild verstieß.36 Die Identifizierung der Lateiner als allophyloi konterkarierte potenziell den Anspruch des von mehreren Parteien bekämpften Usurpators Michael; wer mit den Gottesfeinden Kompromisse einging, konnte kein neuer David sein.37 In einem in Konstantinopel zur Zeit der Auseinandersetzung um die Kirchenunion zirkulierenden Traktat – ein fingierter Dialog zwischen Kaiser Manuel I. Komnenos (1143–1180) und Patriarch Michael III. Anchialos (1170–1178) – wird der Kaiser zum Widerstand gegen die Häresie der Lateiner aufgefordert, damit es ihm nicht ergehe wie Saul, der entgegen den Weisungen des Propheten Samuel die Amalekiter verschont hatte und die göttliche Gnade verlor (Kön  I 15).38 Auch hier werden die Lateiner in Bezug zu einem alttestamentlichen, gottesfeindlichen Volk gesetzt und dem Kaiser vor Augen geführt, dass er seine Herrschaftslegitimation verliert, wenn er nicht den Aufforderungen der Priesterschaft folgt, diese Gottesfeinde zu bekämpfen. Da Michael die Kirchenunion mit den Latei-

35 Vitalien Laurent u. Jean Darrouzès (Hgg.), Dossier grec de l’Union de Lyon (1273–1277) (Archives de l’Orient Chrétien 16), Paris 1976, S. 195. 36 Zu Michael als ‚David‘ s. Dimiter G. Angelov, The Confession of Michael VIII. Palaiologos and King David, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 56 (2006), S. 193–204. 37 Michael  VIII. hatte den legitimen Mitkaiser Ioannes  IV. Laskaris blenden und verbannen, den Patriarchen Arsenios (1254–1260  / 1261–1265), der Michael exkommunizierte, absetzen lassen. Die Anhänger sowohl der Laskariden als auch des Arsenios (die Arseniten) bekämpften Michael und sprachen ihm die Legitimation zur Herrschaft durchaus ab; dazu kamen nach dem Lyoner Konzil die Gegner der Kirchenunion, die sich auf den zurückgetretenen Patriarchen Josephos I. Galesiotes (1267–1275 / 1282–1283) beriefen (die Josephiten), s. Deno J. Geanakoplos, Emperor Michael Palaeologus and the West, 1258–1282. A Study in Byzantine-Latin Relations, Cambridge 1959, S.  258–403; Donald M. Nicol, The Greeks and the Union of the Churches. The Preliminaries to the Second Council of Lyon, 1261–1274, in: John A. Watt (Hg.) Medieval Studies presented to Aubrey Gwynn, Dublin 1961, S. 454–480; ders., The Byzantine Reaction to the Second Council of Lyon, 1274, in: Geoffrey J. Cuming (Hg.), Councils and Assemblies (Studies in Church History  7), Cambridge 1971, S.  113–146; Donald M. Nicol, The Greeks and the Union of the Churches. The Report of Ogerius, Protonotarius of Michael VIII. Palaiologos, in: Proceedings of the Royal Irish Academy 63 (1961), S. 1–16; alle drei erneut abgedruckt in: ders., Byzantium. Its Ecclesiastical History and Relations with the Western World (Collected Studies 12), London 1972; Vitalien Laurent, Les grandes crises religieuses à Byzance. La fin du schisme arsénite, in: Académie Roumaine. Bulletin de la Section Historique 26 (1945), S. 225–313, bes. S. 229–234; vgl. zum Konflikt zwischen Michael und Arsenios Lutz Rickelt, Die Exkommunikation Michaels VIII. Palaiologos durch den Patriarchen Arsenios, in: Grünbart, Rickelt u. Vučetić (Anm. 17), S. 97–126; zur Lagerbildung in der Aristokratie s. Vincent Puech, The Aristocracy of the Empire of Nicaea, in: Judith Herrin (Hg.), Identities and Allegiances in the Eastern Mediterranean after 1204, Farnham 2011, S. 69–79. 38 Laurent u. Darrouzès (Anm. 35), S. 353.





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nern anstrebte, stellte er sich in diesem Denk- und Deutungshorizont auf die Seite der ureigensten Feinde Davids und verwirkte damit seine göttliche Legitimation. Überspitzt ausgedrückt, wurde er zum Kontinuator der von Michael Choniates beklagten allophylos tyrannis, der Fremdherrschaft der Lateiner. Um vor der Kirchenunion zu warnen, benutzte der Mönch Lazaros in einem an den Metropoliten von Larissa gerichteten Brief zudem das Beispiel Samsons, der durch seine eigene Nachgiebigkeit in die Gewalt der allophyloi geriet.39 Der Terminus allophylos betonte also zunächst die tiefe Kluft zwischen den Byzantinern und den Lateinern, die als anders, fremd, feindlich-antagonistisch eingestuft wurden. Er konnte zusätzlich dazu dienen, eine Analogie zwischen Heils­ geschichte und Zeitgeschehen herzustellen. Dies bot sich umso mehr an, als die allophyloi der ‚Septuaginta‘ wesentlicher Bestandteil der Erzählung von Davids Königtum waren, welches als in jeder Hinsicht vorbildhaft für den byzantinischen Kaiser galt. Die Identifikation der Kreuzfahrer als zeitgenössische allophyloi versprach in einem typologischen Interpretationshorizont ihre zukünftige Überwindung und schloss jede Annäherung zwischen ihnen und den Byzantinern kategorisch aus. Dass diese ideologische Forderung realpolitisch nicht einhaltbar war, steht außer Frage, und rein politische Bündnisse zwischen byzantinischen und lateinischen Herrschern wurden

39 Ebd., S. 544. Bezogen auf Ri 16: Nachdem Samson die allophyloi mehrmals geschlagen hat, verliebt er sich in Dalida, die von den Andersstämmigen beauftragt wurde, das Geheimnis seiner Stärke herauszufinden; er offenbart ihr schließlich, dass seine Kraft in seinen Haaren liegt. Gott verlässt ihn, Dalida schert ihm die Haare im Schlaf ab, woraufhin die Andersstämmigen Samson überwältigen können (natürlich bewerkstelligt er schließlich dennoch ihren Untergang, wenn auch um den Preis des eigenen Todes). Im Fürstenspiegel des Nikephoros Blemmydes (13.  Jh.) steht Samson als Beispiel für einen Herrscher, der sich selbst gegenüber nachlässig wird; das ihm eigentlich „Fremde“ (τὸ ἀλλόφυλον), die Leidenschaft, gewinnt die Oberhand und bezwingt ihn, s. Herbert Hunger u. Ihor Ševčenko (Hgg.), Des Nikephoros Blemmydes Basilikos Andrias und dessen Metaphrase von Georgios Galesiotes und Georgios Oinaiotes. Ein weiterer Beitrag zum Verständnis der byzantinischen Schrift-Koine (Wiener byzantinistische Studien  18), Wien 1986, S.  70f. Im palamitischen Streit des 14. Jhs. griff auch Gregorios Palamas auf den Samson-Vergleich zurück, s. Grēgoriu tu Palama hapanta ta erga, Bd. 9: Homilies (1–20), hrsg. v. Panagiotes K. Chrestos (Hellēnes pateres tēs ekklēsias 72), Thessaloniki 1985, S. 163–165. Eine interessante Nebenbeobachtung: Die im Mäanderdelta nahe Milet gelegene Stadt Priene wird in einigen Quellen des 13. Jhs. unter dem Namen Samson (Σαμψών) geführt, s. Guillaume de Jerphanion, Sampson et Amisos. Une ville a déplacer de neuf cent kilomètres, in: ­Orientalia Christiana Periodica 1 (1935), S.  257–267; Paul Orgels, Sabas Asidénos. ­Dynaste des Samsôn, in: Byzantion 10 (1935), S. 67–80; Wolfgang Müller-Wiener, Mittelalter­ liche Befestigungen im südlichen Jonien, in: Istanbuler Mitteilungen 11 (1961), S. 5–122, hier S. 46–56. ­Orgels nimmt einen Bezug auf den Heiligen an, nach dem das gleichnamige xenodocheion in Konstantinopel benannt war. de Jerphanion erwähnt zwar, dass Victor Guérin, Description de l’Île de Patmos et de l’Île de Samos, Paris 1865, S. 257, in der Region verbreitete Legenden über den biblischen Samson knapp bezeugt, hält aber einen lokalen Dynasten als Namensgeber für wahrscheinlicher. Könnte es nicht sein, dass die Stadt den biblischen Heros zum Schutzpatron wählte, um sich gegen die zunehmende Bedrohung durch die Seldschuken – allophyloi auch sie – zu wappnen?



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daher auch nicht kritisiert, solange sie die östliche Orthodoxie nicht berührten. Auf dünnes Eis begab sich dagegen, wer als byzantinischer Kaiser die Kirchenunion mit dem Westen anstrebte, auch wenn dies aus überwiegend machtpolitischen Erwägungen heraus geschah. Die Lateiner wurden durch die Bezeichnung als allophyloi eben nicht mehr nur zu Fremden, sondern zu Gottesfeinden gemacht.40 Mochte man sich mit diesen zwar von Zeit zu Zeit – vor allem in Notlagen durchaus David folgend41 – politisch verständigen, verbot doch die Heilige Schrift ausdrücklich jeglichen reli­ giösen Umgang mit ihnen. Wer derartiges anstrebte, verspielte als Kaiser die von Gott verliehene Herrschaft über sein Volk. Diese typologische Perspektive mag zumindest mitverantwortlich für die Schärfe der innerbyzantinischen Auseinandersetzung um die Kirchenunion gerade während der spannungsreichen Regierungszeit Michaels VIII. gewesen sein.

40 Vgl. auch Speyer (Anm. 4), Sp. 1028f., der betont, dass in den Auseinandersetzungen zwischen „Orthodoxen“ und „Häretikern“ letztere als Feinde der Wahrheit quasi automatisch den Gottesfeinden zugeordnet wurden. Die Bezeichnung der Lateiner als allophyloi unterstrich diese Perspektive. 41 David floh vor Saul zu Achisch von Gad, einem der fünf Fürsten der allophyloi (Kön I 21 u. 27–29). Dieser ernannte ihn sogar zu seinem Leibwächter. Die Flucht oder Verbannung späterer Kaiser in die Fremde wurde durch dieses Beispiel aufgewertet, vgl. Nicetas Choniates, Orationes (Anm. 20), S. 98 (or. 9), und Manuel Holobolos, Orationes, Bd. 1, hrsg. v. Maximilianus Treu, Potsdam 1906, S. 34; dazu Angelov (Anm. 36), S. 202f. Auch die vor Michael VIII. aus Konstantinopel fliehenden Unionsgegner und Arseniten suchten Zuflucht ausgerechnet bei Ioannes I. Dukas von Thessalien (1268–1289), der Teil des gegen Konstantinopel gerichteten Bündnisses Karls von Anjou war. Dennoch konnte er sich gegen Michael VIII. als Bewahrer der Orthodoxie positionieren, vgl. Donald M. Nicol, The Despotate of Epiros 1267–1479. A contribution to the history of Greece in the Middle Ages, Cambridge u. a. 1984, S. 19–21.



Mike Carr (London)

in medio Turchorum et aliarum infidelium nationum. Die Zaccaria von Chios* Abstract: Die Genueser Kaufmannsfamilie der Zaccaria beherrschte die ägäische Insel Chios vom frühen 14. Jahrhundert bis zum Jahr 1329. Ihre Stellung als Herren der Insel war vielschichtig und von einem Geflecht scheinbar widersprüchlicher Treueverpflichtungen und weiterer Interessen geprägt. Sie wurden von vielen ihrer Zeitgenossen im Westen als Verteidiger des katholischen Glaubens in der Ägäis wahrgenommen, obwohl sie Chios als Vasallen des byzantinischen Kaisers regierten und offen Handelsbeziehungen mit den anatolischen Türken und dem Mamlukensultanat unterhielten – zu einer Zeit, in der alle drei Parteien von Papsttum und Kreuzzugs­theoretikern als legitime Ziele von Kreuzzügen betrachtet wurden. Dieser Beitrag wird versuchen, einige dieser vordergründigen Gegensätze näher zu erläutern. Dabei wird das Augenmerk auf die Verhandlungen der Zaccaria mit dem Papsttum über militärischen Widerstand gegen die Türken einerseits, ihr tatsächliches Vorgehen in der Ägäis andererseits gelegt. Zentral ist hierbei die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Interessen der Familie in der Region: Die Zaccaria waren letzten Endes eine Kaufmannsfamilie und die Instandhaltung Chios’ und ihrer weiteren Herrschaftsbereiche in der Ägäis war bis zu einem gewissen Grad von sicherem Handelsverkehr abhängig. Dies bedeutete, dass es zeitweise nötig war, mit Ungläubigen Handel zu treiben. Jedoch war es ebenfalls in ihrem Interesse, gegenüber dem Papsttum ihr Vorgehen als von dem Bedürfnis motiviert darzustellen, die Ägäis von der türkischen Gefahr zu befreien, auch wenn dies im Widerspruch zu einer pragmatischeren wirtschaftlichen Strategie in der Region stand.

Die Genueser Kaufmannsfamilie der Zaccaria beherrschte die ägäische Insel Chios vom frühen 14. Jahrhundert bis zum Jahr 1329.1 Ihre Stellung als Herren der Insel war

* Die Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung des Beitrags erfolgte im Rahmen des DFG-Projektes „Symbolische Kommunikation und kulturelle Differenz“ (Münster) durch Julia und David Crispin (Übersetzung) und Georg Jostkleigrewe (redaktionelle Bearbeitung). 1 Der genaue Beginn der Zaccaria-Herrschaft auf Chios ist unklar. Vermutlich wurde ihnen die Herrschaft über die Insel zwischen 1305 und 1307 vom byzantinischen Kaiser übertragen, obwohl sie dort möglicherweise schon zuvor eine informelle Machtstellung innehatten. Für die Diskussion der einschlägigen Quellen und Forschungsergebnisse siehe Mike Carr, Trade or Crusade? The Zaccaria of Chios and Crusades against the Turks, in: Mike Carr u. Nikolaos Chrissis (Hgg.), Contact and Conflict in Frankish Greece and the Aegean, 1204–1453. Crusade, Religion and Trade between Latins, Greeks and Turks, Farnham 2014, S. 115–134, hier S. 119f.; sowie Elizabeth A. Zachariadou, Trade and Crusade. Venetian Crete and the Emirates of Menteshe and Aydin: 1300–1415, Venedig 1983, S. 7–9. Für detailliertere Abhandlungen zur Familie und ihren Aktivitäten im Osten siehe Mike Carr (wie oben),

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 Mike Carr

vielschichtig und von einem Geflecht scheinbar widersprüchlicher Treueverpflichtungen und weiterer Interessen geprägt. So wurden sie zwar einerseits von vielen ihrer Zeitgenossen im Westen als Schutzschild des katholischen Glaubens in der Ägäis wahrgenommen,2 regierten Chios jedoch andererseits nominell als Vasallen des byzantinischen Kaisers und unterhielten darüber hinaus offen Handelsbeziehungen mit den anatolischen Türken und dem ägyptischen Mamlukensultanat – zu einer Zeit, in der sowohl Griechen als auch Muslime vom Papsttum und vielen im lateinischen Europa als Feinde des Glaubens und somit als legitime Ziele von Kreuzzügen betrachtet wurden. Im vorliegenden Beitrag sollen einige dieser vordergründig gegensätzlich erscheinenden Aspekte näher erläutert werden. Zu diesem Zweck werden zunächst die Beziehungen der Zaccaria zum byzantinischen Kaiser, sodann zu den Türken und schließlich zum Papsttum und den westeuropäischen Machthabern beleuchtet. Abschließend soll erörtert werden, inwieweit die Strategien der Zaccaria, diese widersprüchlichen Beziehungen miteinander in Einklang zu bringen, erfolgreich waren. Im Fokus der Untersuchung stehen insbesondere die Konsequenzen der Bemühungen Martino Zaccarias, des letzten die Insel regierenden Mitglieds der Kaufmannsfamilie, die von ihm gegenüber dem Westen zur Schau gestellte ideologische Haltung mit der Realität seines Handelns in der Ägäis zu vereinbaren; dies betrifft zum einen seine Handelsbeziehungen zu Muslimen, zum anderen seine Treuepflicht gegenüber dem byzantinischen Kaiser.

Der Hintergrund Im 13. Jahrhundert erlangten die Zaccaria unter den Brüdern Benedetto I. und Manuel durch ihre Kontakte zur byzantinischen Kaiserfamilie internationale Bedeutung. In den 1260er Jahren wurde Benedetto I. Zaccaria als Gesandter von Genua zum byzan-

S. 115–134; sowie Laura Balletto, Les Génois à Phocée et à Chio du XIIIe au XIVe siècle, in: Michel Balard, Elisabeth Malamut u. Jean-Michel Spieser (Hgg.), Byzance et le monde extérieur. Contacts, relations, échanges (Publications de la Sorbonne), Paris 2005, S. 45–57; Michel Balard, La Romanie génoise, XIIe–début du XVe siècle, Rom 1978, Bd. 1, S. 119–126; Gio Pistarino, Chio dei Genovesi, in: Studi Medievali 10 (1969), S. 3–68, hier S. 12–19; Philip Argenti, The Occupation of Chios by the Genoese and their Administration of the Island. 1346–1566, Cambridge 1958, Bd. 1, S. 56–69; Ludwig Gatto, Per la storia di Martino Zaccaria, signore di Chio, in: Bullettino dell’Archivio Paleografico Italiano n.s. 2/3, Teil 1 (1956/57), S. 325–345; Robert Lopez, Genova marinara nel duecento. Benedetto Zaccaria, ammiraglio e mercante, Mailand, Messina 1933, ND (mit Einleitung von Michel Balard) Genua 1996; William Miller, The Zaccaria of Phocaea and Chios, 1275–1329, in: The Journal of Hellenic Studies 31 (1911), S. 44–55. 2 Guillelmus Adae beschreibt die Zaccaria als „Schutzschild“ ihrer christlichen Nachbarn, s. William of Adam, How to Defeat the Saracens, hrsg. u. übers. v. Giles Constable, Washington 2012, S. 52f.





Die Zaccaria von Chios 

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tinischen Kaiser Michael VIII. Palaiologos geschickt; er sollte den Kaiser davon überzeugen, die Ausweisung der Genuesen aus Galata zu widerrufen.3 Obgleich das ursprüngliche Ziel der Gesandtschaft letzten Endes nicht erreicht werden konnte, hinterließ Benedetto offenbar einen guten Eindruck beim Kaiser, der den Brüdern einige Jahre später die Gerichtshoheit über die nördlich von Smyrna an der anatolischen Küste gelegenen Städte Alt-Phokaia und Neu-Phokaia übertrug und ihnen die Erlaubnis erteilte, in den nahegelegenen Bergen Alaun abzubauen.4 Dieses Zugeständnis war durchaus großzügig, war Alaun als wirkungsvollstes der damals bekannten Beizmittel für Textilien (das heißt als Fixiermittel für Färbungen) ein enorm wertvoller Rohstoff und unersetzlich für die Textilproduktion Nordeuropas.5 Dem Handelshandbuch Francesco Pegolottis zufolge galt phokäischer Alaun als einer der hochwertigs­ ten, und die dortigen Minen waren besonders ertragreich.6 Die Brüder machten sich daran, den Rohstoff in großem Umfang zu fördern und beschäftigten einem Bericht zufolge bereits im Jahr 1305 etwa 3.000 griechische Bergarbeiter.7 Zu diesem Zeitpunkt erlangten die Zaccaria-Brüder darüber hinaus einen gewissen Ruf durch ihr kühnes Vorgehen zur See gegen das ägyptische Mamlukensultanat. Im Jahr 1288 spielte Benedetto I. eine entscheidende Rolle bei der Evakuierung der Bürger von Tripoli nach Zypern, bevor die Stadt ein Jahr später erobert wurde.8 1293 erhielt Manuel von Papst Nikolaus IV. das Kommando über eine Flotte, mit der er Alexandria in Ägypten sowie Candelore (Alanya) an der südlichen Küste von Klein-

3 Cafari et Continuatorum Annales Januae, hrsg. v. Georg Heinrich Pertz (MGH Scriptores 18), Hannover 1863, S. 249; Miller (Anm. 1), S. 43, Anm. 6. 4 Georgius Pachymeres, De Michaele et Andronico Palaeologis Libri tredecim, 2 Bde., hrsg.  v. Immanuel Bekker, Bonn 1835, Bd. 1, S. 419f.; Medieval Trade in the Mediterranean World. Illustrative Documents, hrsg. v. Robert Lopez u. Irving W. Raymond, New York 1967, S. 127f. 5 Charles S. Singer, The Earliest Chemical Industry. An Essay in the Historical Relations of Economics and Technology Illustrated from the Alum Trade, London 1948, S. xviif.; Robert Lopez, Majorcans and Genoese on the North Sea Route in the Thirteenth Century, in: Revue belge de philologie et d’histoire 29 (1951), S. 163–179, hier S. 167–170. 6 Francesco Balducci Pegolotti, La Pratica Della Mercatura, hrsg. v. Allan Evans, Cambridge 1936, S. 367–70; Lopez u. Raymond (Anm. 4), S. 353–355. 7 Ramon Muntaner, The Catalan Expedition to the East. From the Chronicle of Ramon Muntaner, übers. v. Robert Hughes, Barcelona 2006, S. 127f. Zu weiteren Informationen über den Alaunhandel der Zaccaria siehe David Jacoby, Production et commerce de l’alun oriental en Méditerranée, XIe–XVe siècles, in: Philippe Borgard, Jean-Pierre Brun u. Maurice Picon (Hgg.), L’alun de Méditerranée. Colloque international, Neapel, 4.–6. Juni 2003 – Lipari, 7.–8. Juni 2003, Neapel 2005, S. 219–267; Balard (Anm. 1), Bd. 2, S. 769–782; Marie-Louise Heers, Les Génois et le commerce de l’alun à la fin du Moyen Age, in: Revue d’histoire économique et sociale 32 (1954), S. 31–53; Eric Briys u. Didier Joos de ter Beerst, The Zaccaria Deal. Contract and Options to Fund a Genoese Shipment of Alum to Bruges in 1298, Helsinki XIV. International Economic History Congress (2006), S. 1–133. 8 Miller (Anm. 1), S. 44; Lopez (Anm. 1), S. 131–160.



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asien plünderte.9 Bis zum frühen 14. Jahrhundert war der Ruhm der Zaccaria-Brüder weiter gewachsen, und der byzantinische Kaiser Andronikos II. Palaiologos verlieh ihnen zwischen 1305 und 1307 die Herrschaft über die ägäische Insel Chios für einen Zeitraum von zehn Jahren.10 Die Insel war vor allem aus drei Gründen von Bedeutung: Erstens befand sie sich im Zentrum der Seewege von Konstantinopel und dem Schwarzen Meer im Norden nach Syrien und Alexandria im Süden.11 Zweitens lag sie in der Nähe der beiden Phokaias und konnte diesen zum einen Schutz von See aus gewähren und zum anderen als Speicherort für Alaun dienen.12 Drittens war die Insel äußerst fruchtbar und ertragreich und lieferte große Mengen an Wein wie auch das ungemein wertvolle Mastixharz. Dieses wurde aus Bäumen gewonnen, die lediglich auf Chios heimisch waren, und war im Osten äußerst begehrt.13

Die Beziehungen zu Byzantinern und Türken Die Herrschaft der Zaccaria in der Ägäis war seit ihrer Frühzeit von einem inhärenten Widerspruch hinsichtlich ihres Handelns als Verteidiger des Glaubens im Osten geprägt. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass sowohl Benedetto I. als auch Manuel Vasallen des byzantinischen Kaisers Michael VIII. und später Andronikos II. Palaiologos waren, die wiederum beide von zwei aufeinanderfolgenden Päpsten exkommuniziert worden waren und von der römischen Kirche als Schismatiker angesehen wurden.14 Doch trotz des dadurch begründeten offenkundigen Interessenkonflikts erhielten Benedetto I. und Manuel Zaccaria weiterhin päpstlichen Zuspruch für ihre seefahrerischen Unternehmungen im Osten, während sie gleichzeitig offenbar mit Begeisterung für die Sache der byzantinischen Kaiser eintraten. Dies zeigt sich besonders anschaulich darin, dass Benedetto I. seinen Sohn „Palaiologos“ nannte – vielleicht in Anlehnung an die kaiserliche Herkunft seiner Ehefrau, die eine Schwes-

9 Jean Richard, Le royaume de Chypre et l’embargo sur le commerce avec l’Egypte (fin XIIIe–début XIVe siècle), in: Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 1 (1984), S. 120–134, hier S. 123; Sylvia Schein, Fideles Crucis. The Papacy, the West, and the Recovery of the Holy Land 1274–1314, Oxford 1991, S. 77f. 10 Zum Hintergrund dieser Entwicklungen und für eine detaillierte Bibliographie siehe Carr (Anm. 1). 11 Michel Balard, Latins in the Aegean and the Balkans (1300–1400), in: Jonathan Shepard (Hg.), The Cambridge History of the Byzantine Empire: c. 500–1492, Cambridge 2008, S. 834–851, hier S. 850. 12 Edwin W. Hunt, A History of Business in Medieval Europe, 1200–1550, Cambridge 1999, S. 183. 13 Christos Belles, Mastiha Island, übersetzt von Calliopi Sachtouri, Athen 2005, S. 29–95, 245–283; John Perikos, The Chios Gum Mastic, Athen 1993, S. 13–21. Zum Mastixhandel siehe zudem Balard (Anm. 1), Bd. 2, S. 742–749. 14 Zum Hintergrund der Kreuzzüge gegen die palaiologischen Kaiser siehe Nikolaos G. Chrissis, Crusading in Frankish Greece. A Study of Byzantine-Western Relations and Attitudes, 1204–1282, Turnhout 2012.





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ter Kaiser Michaels VIII. gewesen sein soll.15 Darüber hinaus ist es möglich, dass Benedetto als Vertreter Michaels VIII. tätig war und in dessen Namen in den frühen 1280ern maßgeblich dazu beitrug, den Ausbruch der Sizilianischen Vesper anzu­ fachen. Ein als der Templer von Tyrus bekannter anonymer Autor liefert eine deut­ liche Beschreibung des Vertrauens, das der Kaiser augenscheinlich in seinen genuesischen Vasallen setzte: L’emperour de Constantinople, Palilogue [...] quant il entendi l’armement dou roy d’Aragone, si eut espié son entendement, si manda de par luy, message au roy d’Aragon, et fu le message bourgois de Jene qui ot nom sire Benet Zaquerie, et traita et pourchasa l’acort entr’iaus pour une cantité d’aver que le dit empereor manda au roy d’Aragon; et sire Benet Zaquerye li porta après, et se retint d’aler en Grese. Et quant le roy d’Aragon eut l’aver et les guallees toutes aparaillies, si enprist d’aler en Sezille, et manda en Palerme porchasser de reveler la terre.16

Einen weiteren Hinweis auf die enge Verbindung der Zaccaria zum Kaiser bieten die Münzen, die in ihrem Namen auf Chios geprägt wurden. Palaiologos und Benedetto II. ließen eine gemeinsame Münze schlagen, auf der sie sich als Diener des Kaisers bezeichneten (Palaiologos et Benedictus Zaccaria servi imperatoris). 1314–19 gaben Martino und Benedetto II. erneut Münzen unterschiedlicher Währung mit derselben Umschrift aus. Noch in den frühen 1320er Jahren ließ Martino Zaccaria eine Münze anfertigen, welche ihn an der Seite des heiligen Isidoros, des Patrons von Chios, zeigt und die Inschrift „Martino Zaccaria, Herr von Chios, Diener des Kaisers“ trägt.17 Neben dem byzantinischen Kaiser scheinen die Zaccaria auch relative gute Beziehungen zu einer Reihe muslimischer Gruppen im östlichen Mittelmeerraum unterhalten zu haben. Handelsverkehr mit den ägyptischen Mamluken und den türkischen Beyliks (Emiraten) in Anatolien war unumgänglich, wenn die wirtschaftliche Vorherrschaft der italienischen Kaufleute in der Region gewährleistet bleiben sollte. Insbesondere die Genuesen hatten zu dieser Zeit den wenig schmeichelhaften Ruf erlangt, Handel mit Alexandria zu betreiben und sich damit dem päpstlichen Verbot von Handelsbeziehungen mit Muslimen zu widersetzen. Die Feststellung, dass die

15 Paul Lemerle, L’émirat d’Aydin, Byzance et l’occident. Recherches sur ‚La geste d’Umur Pacha‘, Paris 1957, S. 51, Anm. 3. 16 The ‚Templar of Tyre‘, Les Gestes des Chiprois, in: Recueil des historiens des croisades. Documents arméniens, 2 Bde., Paris 1906, Bd. 2, S. 651–872, hier S. 789; Deno John Geanakoplos, Emperor ­Michael ­Palaeologus and the West, 1258–1282. A Study in Byzantine-Latin Relations, Cambridge 1959, S. 351–358; Miller (Anm. 1), S. 44. 17 David M. Metcalf, Coinage of the Crusades and the Latin East in the Ashmolean Museum, Oxford, London 1983, S. 290f.; Gustave Schlumberger, Numismatique de l’orient Latin, 2 Bde., Paris 1878, Bd. 2, S. 414f.; Domenico Promis, La Zecca di Scio durante il dominio dei Genovesi, Turin 1865, S. 35f.



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Mamluken auch die Hauptabnehmer des aus Chios stammenden Mastix waren, überrascht somit kaum.18 Zwar hielten eine Reihe von Zeitgenossen die Behauptung aufrecht, dass die ­Zaccaria, im Gegensatz zu ihren Landsleuten, nicht an diesem illegalen Handelsverkehr beteiligt gewesen seien; wie jedoch noch zu zeigen sein wird, war die Familie sehr wohl vom Handel mit dem mamlukischen Sultanat abhängig und profitierte davon.19 Neben dem Mastixhandel war das genuesische Chios wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grad auf die Einfuhr von Getreide und weiteren Gütern aus der Turchia angewiesen, ebenso wie das venezianische Kreta, das unter der Herrschaft des Johanniterordens stehende Rhodos und andere ägäische Inseln. Wenn auch bezüglich solcher Aktivitäten kaum schriftliche Hinweise aus der Zeit der ZaccariaHerrschaft aus Chios selbst erhalten sind, legt ein Vergleich mit der Tätigkeit von Vertretern des Johanniterordens und venezianischer Kaufleute in den Häfen der Turchia die Vermutung nahe, dass die Zaccaria in vergleichbarer Form Handel mit den nahegelegenen Beyliks betrieben.20 Abschließend kann mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass ein friedliches Verhältnis zu den Türken in der Ägäis für die Zaccaria insofern wünschenswert war, als es ihren Seehandelswegen einen gewissen Schutz gegen Piraterie bot und vor allem die Wahrscheinlichkeit türkischer Überfälle und Raids in ihren Herrschaftsgebieten einschränkte. Dies war vor allem im Hinblick auf die Tatsache von Bedeutung, dass sich einige der wichtigsten Ländereien der Familie – die Städte Neu-Phokaia und Alt-Phokaia und die nahegelegenen Alaunminen – auf dem anatolischen Festland und damit eingepfercht zwischen den Beyliks von Aydin im Süden und Sarukhan im Norden befanden. Es ist bekannt, dass Auseinandersetzungen mit den Türken den Handel in der Region beeinträchtigten: So nahm etwa im Jahr 1312 der Emir von Mentesche, der zu diesem Zeitpunkt Krieg gegen die Johanniter führte, mehr als 200 Kaufleute aus Rhodos gefangen, und während des Kreuzzugs von Smyrna in den 1340er Jahren erlitt die gesamte ägäische Region eine Hungersnot, die durch den Abbruch des Handels infolge dieses Krieges gegen Aydin und die damit einhergehende Blockade der Märkte am Schwarzen Meer ausgelöst wurde.21 In Anbetracht dieser Umstände ist es nur logisch, dass die Zaccaria um

18 Marino Sanudo Torsello, The Book of the Secrets of the Faithful of the Cross. Liber Secretorum ­Fidelium Crucis, übers. v. Peter Lock, Farnham 2011, S. 53. Zum päpstlichen Embargo gegen den Handel mit den Muslimen siehe Stefan Stantchev, Embargo. The Origins of an Idea and the Implications of a Policy in Europe and the Mediterranean, ca. 1100–ca. 1500, Diss., University of Michigan, 2009; ders., The Medieval Origins of Embargo as a Policy Tool, in: History of Political Thought 33, 3 (2012), S. 373–399. 19 William of Adam (Anm. 2), S. 49–55. Zachariadou (Anm. 1), S. 3–20. 20 Zachariadou (Anm. 1), S. 3–20.. 21 Mike Carr, Early Contacts between Menteshe and the Latins in the Aegean. Alliances with the ­Genoese and Conflicts with the Hospitallers (c. 1310–12), in: Proceedings from the Second Interna-





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ein friedliches Verhältnis zu den Türken und Mamluken zum Schutz ihres Handels bemüht waren, nicht zuletzt, da der Handel mit ihren beiden wichtigsten Gütern – Alaun und Mastix  – in enger Abhängigkeit zum türkischen Anatolien und zum mamlukischen Ägypten, den beiden wichtigsten muslimischen Mächte(gruppe)n der Region, stand.

Die Beziehungen zu Papsttum und lateinischem Westen Wie die vorliegende Studie und die Sektion, in deren Rahmen sie auf dem Symposium des Mediävistenverbandes präsentiert wurde, aufzuzeigen versuchen, stellten sich die Konfliktlinien, Interessen und Zugehörigkeiten in der Ägäis allerdings kaum je so eindeutig dar.22 Betrachten wir beispielsweise die Beziehung Martino Zaccarias zu den Anjou und dem in Griechenland ansässigen fränkischen Adel, der damit zu kämpfen hatte, seine Besitzungen gegen die Griechen zu verteidigen, so stellen wir fest, dass seine Maßnahmen zunehmend durch die anti-griechischen Ressentiments seiner neuen lateinischen Bündnispartner beeinflußt wurden.23 So begann Martino sein Herrschaftsgebiet in die fränkische Morea – die antike Peloponnes – hinein auszudehnen, und unternahm offenkundige Bemühungen, sich von der byzantinischen Oberhoheit zu lösen. In Damalâ ließ er beispielsweise Münzen prägen, die im Gegensatz zu den oben genannten lediglich seinen Namen trugen und Hinweise auf die kaiserliche Souveränität vermissen ließen.24 Darüber hinaus unterstützte Martino zu diesem Zeitpunkt aktiv westliche militärische Unternehmungen gegen die Griechen: 1325 stand er dem angevinischen Prinzen Johann von Gravina bei, der mit einer Armee auf der Morea landete, um gegen die Griechen von Mistra zu ziehen.25 Noch im gleichen Jahr wurde er von Philipp von Tarent, dem lateinischen Titularkaiser von Konstantinopel und Bruder des Königs von Neapel,

tional Symposium on the History, Culture and Civilization of the Anatolian Principalities [in Vorbereitung]; ders., Humbert of Viennois and the Crusade of Smyrna. A Reconsideration, in: Crusades 13 (2014), S. 239–253; Zachariadou (Anm. 1), S. 45–49. 22 Der Vortrag wurde im Rahmen der Sektion „Clash of cultures? Kulturelle Identität und politischer Konflikt im spätmittelalterlichen Ägäisraum“ gehalten, an der außerdem Georg Jostkleigrewe und Lutz Rickelt beteiligt waren. 23 Martino brachte zunächst den Bezirk Chalandritsa auf der Peloponnes bzw. der Morea an sich und anschließend, mittels seiner Heirat mit Jacqueline de la Roche, Damalâ und Veligosti: Miller (Anm. 1), S. 48; Lemerle (Anm. 15), S. 53. Peter Topping, The Morea, 1311–1364, in: Kenneth M. Setton (Hg.), A History of the Crusades, Madison 1969–1989, Bd. 3, S. 104–140, hier S. 119f. 24 Auf der Vorderseite befindet sich die Inschrift M. ZACHARIE, auf der Rückseite CIVITAS SYI: Metcalf (Anm. 17), S. 291; Promis (Anm. 17), S. 37; Schlumberger (Anm. 17), Bd. 2, S. 326. 25 Romolo Caggese, Roberto d’Angiò e i suoi tempi, 2 Bde., Florenz 1922–30, Bd. 2, S. 317; Elizabeth A. Zachariadou, The Catalans of Athens and the Beginning of Turkish Expansion in the Aegean Area, in: Studi Medievali 21, 2 (1980), S. 821–838, hier S. 830.



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zum König und Despoten von Kleinasien erhoben. Dabei wurden Martino zahlreiche ägäische Inseln als Gegenleistung für seine Unterstützung bei der Eroberung des byzantinischen Reiches versprochen. Er selbst versprach im Gegenzug, Philipp oder seinen Nachfolgern für diese Kampagne pro Jahr 500 Ritter und sechs Galeeren zur Verfügung zu stellen.26 Hinweise auf Animositäten zwischen den Zaccaria und ihren kaiserlichen Oberherren finden sich darüber hinaus auch in byzantinischen Berichten, die darauf schließen lassen, dass selbst die früheren Familienmitglieder nicht viel mit den dem Kaiser ergebenen Untertanen gemein hatten, als welche sie in den oben er­örterten Quellen erscheinen. Johannes Kantakuzenos berichtet beispielsweise, dass Bene­ detto I. die Insel ursprünglich mit Gewalt eingenommen und lediglich unter der Bedingung, keinen Tribut zahlen zu müssen, eingewilligt habe, sie im Namen des Kaisers zu regieren und die kaiserliche Fahne auf den Mauern zu hissen. Der Autor behauptet sogar, dass die Zaccaria die griechische Bevölkerung ausgebeutet und in ihrer Herrschaft wenig Respekt gegenüber der kaiserlichen Autorität an den Tag gelegt hätten.27 Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass Kantakuzenos in seiner Darstellung der Zaccaria sicherlich voreingenommen war – schließlich spielte er selbst im Jahr 1329 eine tragende Rolle bei der Eroberung der Insel für den griechischen Kaiser. Auch hinsichtlich ihres Kontaktes zu Muslimen unterschied sich das Bild, das die Zaccaria dem Westen gegenüber vermittelten, deutlich von ihrem tatsächlichen Vorgehen im Osten. Gegenüber ihren westlichen Ansprechpartnern betonten sie vor allem ihre militärischen Erfolge gegenüber den Türken. Denn obwohl sie mit einigen türkischen Beyliks und den ägyptischen Mamluken Handel betrieben, gingen sie auch militärisch gegen die Türken vor und gewannen mehrere bedeutende Schlachten gegen diese, unter anderem im Jahr 1319 ein großes Gefecht gegen eine Flotte aus Aydin.28 In den unmittelbar hierauf folgenden Jahren ersuchten sie die päpstliche Kurie um eine Reihe geistlicher wie wirtschaftlicher Privilegien, und aus den hierzu erhaltenen Briefen kann geschlossen werden, dass sie sich der Kreuzzugsideologie bedienten, um sich den Papst gewogen zu machen. In einem Fall gewährte Papst Johannes XXII. den Zaccaria eine Sondergenehmigung, Mastix ins mamlukische Ägypten zu verschiffen, was eigentlich nicht gestattet war. Der Erlös sollte speziell dazu verwendet werden, Chios gegen die Türken zu verteidigen.29 In einem weiteren Fall erteilte der Papst Martino Zaccaria und seinen

26 Saggio di codice diplomatico. Formato sulle antiche scritture dell’archivio di stato Napoli, hrsg. v. Camillo Minieri Riccio, Supplementband, Teil 2, Neapel 1883, S. 75–77. 27 Johannes Kantakuzenos, Ioannis Cantacuzeni eximperatoris Historiarum libri IV, 3 Bde., hrsg. v. Ludwig Schopen und Barthold Georg Niebuhr, Bonn 1828–32, Bd. 1, S. 370–379. 28 Eine detaillierte Diskussion der Schlacht findet sich bei Carr (Anm. 1), S. 122–125. 29 Der Text ist abgedruckt bei Joseph Delaville le Roulx, Les Hospitaliers à Rhodes, 1310–1421, Paris 1913, ND London 1974, S. 367f.; eine Zusammenfassung findet sich in Lettres communes de





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Gefolgsleuten für ihren Kampf gegen die Türken auf oder in der Nähe von Chios einen Ablass für den Zeitraum von drei Jahren. Hiermit reagierte er auf ein Gesuch Martinos, in welchem dieser die Bedeutung von Chios für die Verteidigung der Region gegen die andauernden Angriffe betonte und die Not der zahllosen Menschen, die dieser Konflikt das Leben kostete, hervorhob.30 Die Gewährung dieser Privilegien wie auch die ihnen vorangegangenen Gesuche sind von großer Bedeutung, da sie uns einen Einblick in die Art und Weise geben, wie die Zaccaria ihr Handeln im östlichen Mittelmeerraum gegenüber dem Papsttum darstellten. Zwei Aspekte fallen bei der Sichtung der beiden Dokumente sofort ins Auge. Dies sind zum einen die fortwährenden Verweise auf die Bedrohung der Lateiner in der Region durch die Türken, etwa in der Formel in medio Turchorum et aliarum infidelium nationum, die sich in Ablassgewährungen findet; zum anderen die Hinweise auf die tragende Rolle, die die Zaccaria bei der Verteidigung der ägäischen Lateiner gegen deren Angriffe spielten. Mittels der Betonung dieser beiden Aspekte stellte die Familie ihr Vorgehen im Osten bewusst als durch die Notwendigkeit motiviert dar, den Glauben in der Region zu verteidigen. Die Tatsache, dass beide Gesuche nach dem Sieg von 1319 gestellt wurden, lässt darüber hinaus vermuten, dass die Familie gewillt war, ihre militärischen Erfolge gegen die Türken zu nutzen, um sich bei der päpstlichen Kurie anzubiedern. Vor allem hinsichtlich der Gewährung von Ablässen hoben die Bittsteller die zahlreichen Siege der Zaccaria über die Türken wie auch den Umstand, dass die Familie manche der Soldaten aus eigener Tasche bezahlte, in besonderem Maße hervor. Ihre Taten im Vokabular zeitgenössischer Kreuzzugsrhetorik zu präsentieren, war dabei offenbar eine erfolgreiche Strategie, bewilligte der Papst doch beide Gesuche. Er zeigte so, dass das wirtschaftliche und geistliche Wohl der Zaccaria als in engem Zusammenhang mit der Verteidigung des Glaubens stehend verstanden wurde. Die Quellen liefern daher ein seltenes und wichtiges Beispiel dafür, wie eine ‚Kreuzfahrer‘-Identität mit wirtschaftlichen Interessen in Einklang gebracht werden konnte, die auf den ersten Blick im Widerspruch zu ebendieser Identität standen.

Jean XXII (1316–1334). Analyses d’après les registres dits d’Avignon et du Vatican, 16 Bde., hrsg. v. Guillaume Mollat, Paris 1904–47, Bd. 3, Nr. 11081. Siehe außerdem Mike Carr, Papal Trade Licences, Italian Merchants and the Changing Perceptions of the Mamluks and Turkish Beyliks in the Fourteenth Century, in: Georg Christ u. a. (Hgg.), Union in Separation. Diasporas and Diasporic Groups in the Wider Mediterranean (1100–1800), Rom 2015 (im Druck). 30 Der Text ist abgedruckt bei Gatto (Anm. 1), S. 344f.; eine Zusammenfassung findet sich in ‚Lettres communes‘ (Anm. 29), Bd. 4, Nr. 16977. Siehe außerdem Carr (Anm. 1), S. 125f.



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Konklusion Die Zaccaria von Chios stellen ein interessantes Fallbeispiel für die Beschäftigung mit der Frage nach kultureller Identität und politischen Konflikten in der Ägäis dar. Wie dieser Beitrag zeigen sollte, war ihre Herrschaft über die Insel von der Notwendigkeit geprägt, ein prekäres Gleichgewicht zwischen unterschiedlichen Anforderungen herzustellen. Um die drei Hauptmächte vor Ort gegeneinander auszuspielen, schlossen sie Bündnisse mit den Lateinern aus Griechenland und führten einen ‚heiligen Krieg‘ gegen die türkischen Beyliks, unterhielten aber auch Handelsbeziehungen mit ebendiesen. Zudem traten sie als Vasallen des byzantinischen Kaisers in Erscheinung, während sie gleichzeitig westliche Versuche, griechische Territorien zu erobern, unterstützten. Ihre Identität, die sich in unterschiedlichen Quellen widerspiegelt, blieb notwendig schwankend, da sie versuchten, ein spezifisches Bild zu vermitteln, das oft im Gegensatz zu den politischen Realitäten vor Ort stand. Letztendlich ließ sich dieser komplexe Balanceakt zwischen Lateinern, Griechen und Türken jedoch nicht aufrechterhalten. In den späten 1320er Jahren zog sich Martino Zaccaria bei seinem Versuch, ein unabhängiges Herrschaftsgebiet in der Ägäis zu etablieren, sowohl den Ärger des türkischen Machthabers von Aydin, Umur, als auch des byzantinischen Kaisers Andronikos III. zu – eine Situation, die seine Vorgänger erfolgreich zu vermeiden bemüht gewesen waren. Martino war nicht in der Lage, sein Herrschaftsgebiet gegen die vereinigten Angriffe von Umur und Andronikos zu verteidigen, verlor Chios schließlich im Jahr 1329 an den Kaiser und wurde anschließend in Konstantinopel gefangen gehalten.31 Mit dem zufällig erhaltenen sogenannten ‚Kreuz der Zaccaria‘ existiert eine außergewöhnliche Sachquelle aus der Zeit der ägäischen Herrschaft der Familie, deren Geschichte die komplexen politischen Verhältnisse widerspiegelt, die die Region in dieser Zeit prägen. Es handelt sich hierbei um eine byzantinische Reliquie, die ein Fragment des Wahren Kreuzes enthält und die heute in der Schatzkammer der Kathedrale von San Lorenzo in Genua aufbewahrt wird. Ihr Schicksal wird glück­ licherweise in der katalanischen Chronik des Ramon Muntaner beschrieben: Dieser berichtet, dass ursprünglich die Türken das Kreuz an sich genommen hatten, als sie in den frühen 1300er Jahren Ephesos von den Griechen eroberten. In Phokaia wurde es dann gegen Getreide eingetauscht, um anschließend von Tedisio Zaccaria, einem Neffen Manuels und Benedettos I., der einen Angriff gegen seinen eigenen Onkel geführt hatte, in Besitz genommen zu werden. Dieser Angriff wiederum war mit der Hilfe einer in der Region tätigen katalanischen Söldnertruppe unternommen worden, der Muntaner angehörte.32 Diese verworrene Abfolge von Konflikten und Gegenkon-

31 Argenti (Anm. 1), Bd. 1, S. 60–65; Balard (Anm. 1), Bd. 1, S. 121–122; Lemerle (Anm. 15), S. 56–57. 32 Muntaner (Anm. 7), S. 126–129.





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flikten, die das Kreuz letztendlich nach Genua brachte, stellt ein gutes Beispiel für die zersplitterte politische Situation der Zeit dar. Es zeigt sich, dass selbst innerhalb der konstruierten religiösen und ethnischen Identitäten, auf die Historiker sich häufig stützen – in diesem Falle Lateiner, Griechen und Türken – ein komplexes Netz interner Machtkämpfe, Handelsbeziehungen und Bündnisverpflichtungen existierte. Die von kulturellen Gegensätzen erzeugten Konflikte waren daher nicht immer die treibende Kraft des politischen Handelns in der Region.



Interreligiöse Kommunikation – Geteilte Formeln, Übersetzung und Wissenschaft

Eveline Brugger (St. Pölten)

... hat ein hebraisch zettel dabey. Der Umgang mit jüdisch-christlichen Geschäfts­ urkunden im spätmittelalterlichen Österreich* Abstract: Die Überlieferung spätmittelalterlicher Urkunden zu jüdisch-christlichen Geschäftskontakten, vor allem aus dem Bereich des Kreditwesens, ist in Österreich ungewöhnlich reichhaltig. Die Quellenlage erlaubt Untersuchungen zum Umgang mit den Urkunden als physische Objekte, zu Aufbewahrung, Verlust oder bewusster Zerstörung sowie zum Einsatz der Urkunden im spannungsgeladenen Feld jüdischchristlicher Interaktion. Gerade das Geldgeschäft mit seinen potentiellen Konflikt­ feldern, die noch zusätzlich durch landesfürstliche Eingriffe verschärft werden konnten, machte für beide Seiten rechtsverbindliche Dokumente essentiell, wobei man sich weitgehend an der christlichen Beurkundungspraxis orientierte, aber von christlicher Seite auch jüdische Traditionen wie die Beglaubigung durch Unterschrift akzeptierte. Allerdings führte dies dazu, dass neben dem Geld und den Wertgegenständen der Juden auch ihre offenen Schuldbriefe die Begehrlichkeiten christlicher Verfolger weckten, sodass im Zug der Zerstörung der österreichischen Judengemeinden 1420/21 auch die jüdischen Geschäftsurkunden zu einem Teil der Beute wurden. Dass so viele dieser Urkunden die Präsenz der Juden im mittelalterlichen Österreich überdauerten, während der Großteil des innerjüdischen Schriftguts verloren ging, wirft trotz der ‚geteilten Formeln‘ der Urkundenpraxis ein bezeichnendes Licht auf die prekäre Position der Juden und die vom wirtschaftlichen Interesse der christlichen Obrigkeit geprägte Rolle, auf die sie reduziert wurden.

Im Jahr 1339 stellte der Wiener Jude Schalaun, Sohn des Gutman, mit seiner Frau Ester eine Urkunde über den Verkauf eines Weingartens an einen Gefolgsmann des österreichischen Herzogs Albrecht II. aus. Die Corroboratio der Urkunde stellt neben der Ankündigung der Siegler allgemein fest: Und daz diser chauf fuerbaz also staet und unzerbrochen beleibe [...] dar umbe so geben wir in disen brief zu einem warn urchunde und zu einer ewigen vestunge diser sache.1 Die Aussteller bedienten sich damit einer Formel, wie sie sich tausendfach in spätmittelalterlichen Geschäftsbrie-

* Dieser Beitrag basiert auf Forschungsergebnissen aus dem vom österreichischen Forschungsfonds (FWF) finanzierten Projekt „Regesten zur Geschichte der Juden in Ostösterreich 1387–1404“ (P 24404) und den Vorgängerprojekten P 15638, P 18453 und P 21236. 1 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Bürgerspitalsurkunde Nr. 85. Regest bei: Eveline Brugger u. Birgit Wiedl, Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter, Bd. 2: 1339–1365, Innsbruck, Wien, Bozen 2010, S. 10, Nr. 459.

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fen2 findet – im ausschließlich christlichen Umfeld ebenso wie in Urkunden, die aus christlich-jüdischen Geschäftskontakten hervorgingen. Letztere stellen aufgrund der vergleichsweise dichten Überlieferungslage die wichtigste Quellengattung für das jüdische Wirtschaftsleben im österreichischen Spätmittelalter dar, während sich die ab dem 14. Jahrhundert von christlichen Obrigkeiten zur zusätzlichen Absicherung von Pfand- und Kreditgeschäften angelegten Judenbücher nur in seltenen Fällen erhalten haben.3 Gerade im geschäftlichen Umfeld war es für alle Beteiligten wichtig, klare Beweismittel für den ordnungsgemäßen Abschluss einer Transaktion zur Verfügung zu haben. Bei Geschäftsabschlüssen zwischen Christen und Juden kam noch hinzu, dass die getroffenen Vereinbarungen für das Rechtsverständnis beider Seiten verbindlich sein mussten; es war daher nötig, einen gemeinsamen Nenner zu finden, der sich – wenig überraschend – zum größten Teil an der christlichen Beurkundungspraxis ­orientierte. Die Etablierung der jüdischen Ansiedlung im Herzogtum Österreich erfolgte im 13. Jahrhundert4 und fällt mit der Zeit zusammen, in der bei Rechtsgeschäften zunehmend auf Schriftlichkeit Wert gelegt wurde. Zunächst im Adel, später dann auch im bürgerlichen Umfeld, entwickelte sich ein privaturkundliches Formular, das mit nur geringen Adaptierungen auch im jüdisch-christlichen Geschäftsverkehr zum Einsatz kam – egal ob der Aussteller der Urkunde nun Christ oder Jude war.5

2 Der Begriff „Geschäftsurkunde“ bzw. „-brief“ wird in diesem Beitrag im Sinne von „Privat­urkunde, die aus einer wirtschaftlichen Transaktion hervorgegangen ist“ verwendet und folgt nicht der von ­Oswald Redlich eingeführten Gleichsetzung von „Geschäftsurkunde“ mit „Carta“ (= dispositive Urkunde) im Gegensatz zur streng davon unterschiedenen „Notitia = Beweisurkunde“. Oswald Redlich, Die Privaturkunden des Mittelalters. Urkundenlehre, Bd. 3, hrsg. v. Wilhelm Erben, Ludwig Schmitz-Kallenberg u. Oswald Redlich (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. IV: Hilfswissenschaften und Altertümer), München, Berlin 1911, S. 4–8, 115–124. 3 Zu den Geschäftsurkunden und deren Erschließung im Rahmen des laufenden Forschungsprojekts „Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich“ (http://injoest.ac.at/projekte/laufend/ mittel­alterliche_judenurkunden/; einges. 7.6.2014) vgl. Eveline Brugger u. Birgit Wiedl, ...und ander frume leute genuch, paide christen und juden. Quellen zur christlich-jüdischen Interaktion im Spätmittelalter, in: Rolf Kiessling u. a. (Hgg.), Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800 (Colloquia Augustana 25), Berlin 2007, S. 285–305, hier S. 290–293, 301–305. Zu den Judenbüchern vgl. Thomas Peter, Judenbücher als Quellengattung und die Znaimer Judenbücher. Typologie und Forschungsstand, in: ebd. S. 307–331, hier S. 307–319; Klaus Lohrmann, Judenrecht und Judenpolitik im mittelalterlichen Österreich, Wien, Köln 1990, S. 158f. 4 Eveline Brugger, Von der Ansiedlung bis zur Vertreibung – Juden in Österreich im Mittelalter, in: dies. u. a., Geschichte der Juden in Österreich, 2. Aufl. Wien 2013, S. 123–228, hier S. 126–129; Lohrmann (Anm. 3), S. 46–53. 5 Roman Zehetmayer, Urkunde und Adel. Ein Beitrag zur Geschichte der Schriftlichkeit im Süd­ osten des Reichs vom 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Instituts für Öster­ reichische Geschichtsforschung 53), Wien, München 2010, S. 263–265. Selbst die wenigen erhaltenen hebräischen Urkunden folgen weitgehend demselben Formular, vgl. Brugger u. Wiedl (Anm. 3),





Der Umgang mit jüdisch-christlichen Geschäfts­urkunden 

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Über Form und Rechtsinhalt dieser Urkunden liegen mehrere Untersuchungen jüngeren Datums vor.6 An dieser Stelle soll das Hauptaugenmerk daher auf den praktischen Umgang mit den Urkunden im Lauf und nach Beendigung der darin festgehaltenen Geschäftsgänge gelegt werden, sowie auf die Rolle, die sie in der – friedlichen oder gewaltsamen – jüdisch-christlichen Interaktion spielten. Vorausschickend muss festgestellt werden, dass das Kreditgeschäft nicht nur in den Quellen zur jüdischen Geschichte Österreichs im Allgemeinen, sondern vor allem in den Geschäftsurkunden überproportional stark repräsentiert ist.7 Die Annahme, dies sei auf eine ausschließliche Beschränkung der jüdischen Tätigkeit auf den Geldverleih zurückzuführen, ist längst widerlegt,8 ebenso wie die Vermutung, dass Juden und Christen nur im Rahmen von Kreditgeschäften in Kontakt gekommen wären.9 Trotzdem ist die aus der Ungleichgewichtung der Quellen resultierende Verzerrung ein Faktor, der bei daraus gezogenen Schlussfolgerungen immer einberechnet werden muss. Dazu kommt noch die Tatsache, dass eine schriftliche Fixierung früher und häufiger für hohe Darlehen, die naturgemäß nur zwischen den Eliten beider Seiten vergeben bzw. aufgenommen werden konnten, für nötig erachtet wurde, als dies für das kleine, alltägliche Pfandgeschäft der Fall war.10 Zuletzt ist auch noch die Über­ lieferungssituation in Betracht zu ziehen, denn Geschäftsurkunden mit jüdischer

S. 294; Martha Keil, Gemeinde und Kultur – die mittelalterlichen Grundlagen jüdischen Lebens in Österreich, in: Brugger u. a. (Anm. 4), S. 15–122, hier S. 33. 6 Wilhelm Wadl, Geschichte der Juden in Kärnten im Mittelalter. Mit einem Ausblick bis zum Jahre 1867 (Das Kärntner Landesarchiv 9), 3. Aufl. Klagenfurt 2009, S. 36–38; Lohrmann (Anm. 3), S. 171–182; Brugger u. Wiedl (Anm. 3), S. 285–289; künftig auch: Eveline Brugger, Urkunden zum jüdischen Kreditgeschäft im mittelalterlichen Österreich (Forschungen zur Geschichte der Juden. Schriftenreihe der Gesellschaft zur Erforschung der Juden e. V. und des Arye Maimon-Instituts für Geschichte der Juden [erscheint 2014]). 7 Eveline Brugger, Do musten da hin zue den iuden varn – die Rolle(n) jüdischer Geldgeber im spätmittelalterlichen Österreich, in: dies. u. Birgit Wiedl (Hgg.), Ein Thema – zwei Perspektiven. Juden und Christen in Mittelalter und Frühneuzeit, Innsbruck, Wien u. Bozen 2007, S. 122–138, hier S. 123. 8 Michael Toch, Zur wirtschaftlichen Lage und Tätigkeit der Juden im deutschen Sprachraum des Spätmittelalters, in: Rolf Kiessling (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995, S. 39–50. Zu Österreich vgl. Brugger (Anm. 4), S. 166–168. 9 Aus der umfangreichen Literatur vgl. z. B. Martha Keil, Kulicht schmalz und eisen gaffel – Alltag und Repräsentation bei Juden und Christen im Spätmittelalter, in: Aschkenas 14, 1 (2004), S. 51–81; Markus Wenninger, Von der Integration zur Segregation. Die Entwicklung deutscher Judenviertel im Mittelalter, in: Eveline Brugger u. Birgit Wiedl (Hgg.), Ein Thema – zwei Perspektiven. Juden und Christen in Mittelalter und Frühneuzeit, Innsbruck, Wien, Bozen 2007, S. 195–217; Birgit Wiedl, Jews and the City: Parameters of Urban Jewish Life in Late Medieval Austria, in: Albrecht Classen (Hg.), Urban Space in the Middle Ages and the Early Modern Age (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 4), Berlin 2009, S. 273–308; Robert Chazan, Reassessing Jewish Life in Medieval Europe, Cambridge u. a. 2010, S. 182–189. 10 Brugger u. Wiedl (Anm. 3), S. 290f.



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Beteiligung sind fast immer über die Aufbewahrung beim christlichen Geschäftspartner auf uns gekommen, worauf noch einzugehen sein wird.11 Gerade beim Kreditgeschäft über hohe Summen bzw. gegen wertvolle Pfänder war aufgrund der damit verbundenen Risiken die rechtsverbindliche schriftliche Absicherung sowohl für den Schuldner als auch für den Gläubiger von Bedeutung. Der Geldverleih warf außerdem Problemfelder auf, die nicht nur mit der Dokumentation eines Geschäftsverlaufs, sondern auch mit dessen Ende zu tun hatten. Im Gegensatz zu einem auf dauerhafte Gültigkeit angelegten Geschäft wie dem eingangs zitierten Weingartenverkauf wurden Kredite ja in der Annahme aufgenommen, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückgezahlt werden würden;12 sobald diese Rückzahlung erfolgte, hatte der Schuldner ein verständliches Interesse daran, dass die Gültigkeit des ursprünglichen Schuld- oder Pfandbriefes rechtsgültig widerrufen wurde. Der reguläre Endpunkt eines Kreditgeschäfts war daher entweder der Quittbrief, in dem der Gläubiger die vollständige Begleichung der Schuld bestätigte, oder aber im Falle der Nichtbezahlung die urkundliche Übertragung des verfallenen Pfandes in den Besitz des Gläubigers. Gängiger Bestandteil solcher Urkunden war die formelhafte Ungültigkeitserklärung aller bis dahin ausgestellten Schuldbriefe, die nach dem üblichen Sprachgebrauch für „tot und kraftlos“ erklärt wurden bzw. „keine Gewalt mehr haben“ sollten. Allerdings kam nur ein Teil der Kreditgeschäfte – und dies gilt im Besonderen, wenn auch nicht ausschließlich für jüdische Kreditgeschäfte – zu einem solch regulären Endpunkt. Die in Österreich seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts auftretenden herzoglichen Tötbriefe gingen einen entscheidenden Schritt weiter: Es waren jetzt nicht mehr die involvierten Geschäftspartner selbst, die die Ungültigkeit einer jüdischen Schuld- oder Pfandurkunde bestätigten, sondern der Landesfürst, der seine Position als Herr der Juden seines Landes dazu nutzte, Darlehen seiner jüdischen „Kammerknechte“ eigenmächtig für nichtig zu erklären.13

11 Mittelalterliche Urkunden zu jüdisch-christlichen Geschäftskontakten in Österreich finden sich heute vor allem in den Urkundensammlungen zahlreicher Klosterarchive (die zum Teil später an staatliche Archive transferiert wurden), adeliger Privatarchive (die, sofern sie nicht zeitnah an ein Kloster übergeben wurden, heute ebenfalls häufig in staatlichen Archiven oder Archiven der Bundesländer zu finden sind) sowie der Archive jener Städte, in denen jüdische Gemeinden bestanden. Vgl. das Material bei Eveline Brugger u. Birgit Wiedl, Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1338, Innsbruck, Wien, Bozen 2005, S. 15–351; dies. (Anm. 1), S. 9–337. 12 Arnold Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 529–570, hier S. 535f. 13 Nutznießer herrscherlicher Tötbriefe waren meist Adelige, die der Herzog durch die Stundung oder sogar den völligen Erlass ihrer Schulden bei den herzoglichen Juden zu fördern wünschte – sei es, um sich ihrer Loyalität zu versichern, sei es, um eigene Schulden bei adeligen Gefolgsleuten auf diese Weise zu begleichen. Das Mittel der Schuldentötung konnte auch als Druckmittel oder Strafmaß­ nahme gegen jüdische Untertanen angewendet werden, wenn diese zum Beispiel ohne Erlaubnis des





Der Umgang mit jüdisch-christlichen Geschäfts­urkunden 

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Die Beendigung eines Kreditgeschäfts – ob diese nun regulär oder durch herrscherlichen Eingriff erfolgte – warf die Frage auf, wie mit den erledigten Urkunden umgegangen werden sollte. Häufig wurde bereits bei Abschluss des Geschäfts vereinbart, dass der Kreditnehmer die Schuldurkunde nach Begleichung der Schuld zurückerhalten würde. In vielen Klöstern, aber auch in den Archiven mancher Adelsfamilien wurden diese erledigten Schuldbriefe dauerhaft aufbewahrt, worauf die Tatsache zurückzuführen ist, dass sich eine große Anzahl jüdischer Geschäftsurkunden erhalten hat, während die meisten hebräischen Bücher und Handschriften, die im Besitz der Juden verblieben, im Zuge der Verfolgungen und Vertreibungen des Spätmittelalters verloren gingen.14 Zwar war auch die absichtliche Zerstörung oder zumindest sichtbare Beschädigung von Schuldurkunden nicht selten, doch war diese meist die Folge des regulären Endes eines Kreditgeschäfts. Es war – nicht nur bei Geschäften mit jüdischer Involvierung – gängig, erledigte Schuldurkunden durch Einschnitte zu kassieren und auf diese Weise sichtbar als nicht mehr gültig zu kennzeichnen. Kassationsschnitte finden sich ab dem 14. Jahrhundert an zahlreichen jüdischen Schuldbriefen, aber auch an Bürgschaftsurkunden und ähnlichen Dokumenten aus dem Umfeld eines Kreditgeschäfts.15 Nicht immer wurde es in der Folge als nötig erachtet, den Beleg eines erledigten Darlehens auf Dauer aufzubewahren. Aus der Urkunde wurde damit ein Stück Rohmaterial, das möglichst sinnvoll weiterverwendet werden sollte. So waren z. B. die Mönche des niederösterreichischen Zisterzienserklosters Zwettl äußerst sparsam im Umgang mit dem teuren Pergament und verarbeiteten nicht mehr benötigte Schuldbzw. Pfandurkunden zu Siegeltaschen für diejenigen Stücke, die als archivwürdig

Landesherrn dessen Territorium verließen. Eveline Brugger, „So sollen die brief ab und tod sein.“ Landesfürstliche Judenschuldentilgungen im Österreich des 14. Jahrhunderts, in: Eveline Brugger u. Birgit Wiedl (Hgg.), Jüdisches Geldgeschäft im Mittelalter (Aschkenas 20, 2), Berlin, Boston 2012, S. 329–341. Zur Kammerknechtschaft vgl. David Abulafia, Der König und die Juden – Juden im Dienst des Herrschers, in: Christoph Cluse (Hg.), Europas Juden im Mittelalter. Beiträge des internationalen Symposiums in Speyer vom 20. bis 25. Oktober 2002, Trier 2004, S. 60–71; Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich (Enzyklopädie deutscher Geschichte 44), 2. Aufl. München 2003, S. 48, 104–106; Alfred Haverkamp, „Kammerknechtschaft“ und „Bürgerstatus“ der Juden diesseits und jenseits der Alpen während des späten Mittelalters, in: Michael Brenner u. Sabine Ullmann (Hgg.), Die Juden in Schwaben, München 2013, S. 11–40, hier S. 11–20, 30–34. 14 Martha Keil, Heilige Worte – Schriften des Abscheus. Der Umgang mit Büchern als Paradigma des jüdisch-christlichen Spannungsverhältnisses, in: Karl Brunner u. Gerhard Jaritz (Hgg.), Text als ­Realie. Internationaler Kongress Krems an der Donau, 3. bis 6. Oktober 2000 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 704 = Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 18), Wien 2003, S. 49–61, hier S. 59f. 15 Vgl. z. B. Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Allgemeine Urkundenreihe 1362 III 31. Regest bei: Brugger u. Wiedl (Anm. 1), S. 274, Nr. 1017.



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betrachtet wurden. Auf diese Weise überlieferten sie unabsichtlich auch die Namen einiger sonst nicht bekannter jüdischer Geldleiher aus dem Zwettler Raum.16 Gerade für die sonst nur schwer quellenmäßig fassbare jüdische Präsenz in kleinen, länd­ lichen Siedlungen spielen solche Zufallsüberlieferungen eine große Rolle.17 Eine andere Möglichkeit des ‚Recyclings‘ stellten die Einbände oder Vorsatzblätter von Handschriften dar. Erledigte jüdische Schuldurkunden oder deren Fragmente finden sich in den Codices mehrerer österreichischer Bibliotheken und Ar­chive.18 Bucheinbände sind auch häufige Fundorte von Fragmenten aus hebräischen Handschriften;19 allerdings waren diese wie erwähnt meist auf gewaltsamem Weg in den Besitz des christlichen Skriptoriums geraten, während bei der Verwendung von Urkunden in diesem Zusammenhang eher von einem regulären Ende des darin dokumentierten Geschäfts ausgegangen werden kann. Umgekehrt trat auch immer wieder der Fall ein, dass Urkunden in Verlust gerieten, bevor das entsprechende Geschäft beendet war. Besonders problematisch war dies, wenn nicht mehr alle der ursprünglich Beteiligten für die Rekonstruktion des

16 Zwettl, Stiftsarchiv, Urkunden 1315 IV 4, 1316, 1317 VI 11, 1321 I 21?, (um) 1326, (um) 1326, 1325–1329 vor III 12. Rekonstruktion der Texte bei: Brugger u. Wiedl (Anm. 11), S. 190f., Nr. 196, S. 196, Nr. 206, S. 198f., Nr. 210, S. 213f., Nr. 234, S. 237–239, Nr. 275f., S. 265f., Nr. 316. Vgl. Birgit Wiedl, Die Zwettler Siegeltaschen – ein historisches Puzzle, in: Institut für jüdische Geschichte Österreichs (Hg.), Zwischen den Zeilen. 20 Jahre Institut für jüdische Geschichte Österreichs, Wien 2008, S. 32–38; dies., „Lazarus and Abraham, our Jews of Eggenburg“: Jews in the Austrian Countryside in the Fourteenth Century, in: Albrecht Classen (Hg.), Rural Space in the Middle Ages and Early Modern Age. The ­Spatial Turn in Premodern Studies (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 9), Berlin, Boston 2012, S. 639–672, hier S. 646; Eveline Brugger, „...daz wier schullen gelten Abraham dem juden von Zwetel...“ Mittelalterliche Spuren jüdischen Lebens im Waldviertel, in: Friedel Moll, Jüdisches Leben in Zwettl. Koexistenz und Verfolgung, vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert (Zwettler Zeit­ zeichen 13), Zwettl 2009, S. 8–15, hier S. 9f. 17 Vgl. allgemein Esch (Anm. 12), S. 544–548. Zur aufgrund der Quellenarmut lange unterschätzten jüdischen Siedlung auf dem Land vgl. Wiedl (Anm. 16); Rainer Barzen, Benei haKefarim – die Leute aus den Dörfern: Zur jüdischen Siedlung auf dem Lande in Aschkenas und Zarfat im hohen und ­späteren Mittelalter, in: Frank G. Hirschmann u. Gerd Mentgen (Hgg.), Campana pulsante convo­cati. Festschrift anläßlich der Emeritierung von Prof. Dr. Alfred Haverkamp, Trier 2005, S. 21–37; ders., Ländliche jüdische Siedlungen und Niederlassungen in Aschkenas. Vom Hochmittelalter bis ins 16. Jahrhundert. Typologie, Struktur und Vernetzung, in: Aschkenas 21, 1/2 (2011), S. 5–35, hier S. 5–28. 18 Vgl. z. B. Klagenfurt, Kärntner Landesarchiv, Urkunde A 512 (1382 Juni 2): die Urkunde des Juden Mosche aus Voitsberg über den Verkauf eines ihm als Pfand verfallenen Weingartens (deutsch mit hebräischer Unterschrift) wurde zu einem Bucheinband zurechtgeschnitten und dürfte den Falt- und Gebrauchsspuren nach zu schließen auch als solcher verwendet worden sein. Noch in situ vgl. z. B. Vorau, Stiftsarchiv, Codex 217: auf dem vorderen Innendeckel des Codex klebt als Deckblatt eine zurechtgeschnittene Schuldurkunde des Wiener Neustädter Bürgers Heinrich Luchs und seiner Frau Anna bei dem Juden Mayerlein, Sohn des Sluemlein, aus dem Jahr 1385. 19 Vgl. die Datenbank des laufenden Projekts „Hebräische Handschriften und Fragmente in österreichischen Bibliotheken“ (URL http://hebraica.at/; einges. 7.6.2014).





Der Umgang mit jüdisch-christlichen Geschäfts­urkunden 

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Inhalts zur Verfügung standen. So verlangte nach dem Tod des prominenten Wiener Juden Lebman 1314 einer von dessen adeligen Schuldnern, Rudolf von Sachsengang, von Lebmans Witwe Weichsel die Herausgabe seiner angeblich bereits bezahlten Schuldurkunden. Weichsel und ihre Kinder waren in Lebmans Geschäftstätigkeit offenbar nicht eingebunden und konnten die entsprechenden Urkunden zunächst nicht finden; außerdem wussten sie nicht genau, welche Schuldbriefe Rudolf von Sachsengang tatsächlich bereits bezahlt hatte. Es erscheint ungewöhnlich, dass die entsprechenden Urkunden dem Sachsenganger bei der Begleichung der Schulden nicht ausgehändigt worden wären, jedoch konnten Weichsel und ihre Familie mangels schriftlicher Beweise Rudolfs Behauptung, bereits bezahlt zu haben, nichts entgegensetzen. Letztendlich musste der Sachsenganger nur eine Schuld von acht Mark begleichen, über die sich eine Schuldurkunde finden ließ. Gleichzeitig akzeptierte Lebmans Familie Rudolfs Erklärung, dass er für die verlorenen Schuldbriefe bereits achteinhalb Mark bezahlt hatte. Für den Fall, dass die Urkunden doch noch auftauchen sollten und die darin verzeichnete Schuldsumme achteinhalb Mark überstieg, wurde festgelegt, dass zwei (christliche) Schiedsrichter über die Sache entscheiden sollten. Allerdings war diese Regelung auf ein Jahr begrenzt; alle danach noch aufgefundenen Urkunden über Schulden Rudolfs bei Lebman sollten ungültig sein. Interessant ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Tatsache, dass Lebmans Familie entgegen den Gepflogenheiten der meisten jüdischen Geschäftsleute nicht an seiner Tätigkeit beteiligt war; die Urkunde erlaubt auch einen Einblick in den physischen Umgang mit Geschäftsurkunden und die praktischen Probleme, die dieser mit sich bringen konnte.20 Wir wissen nur wenig über die Aufbewahrung der Urkunden während der Laufzeit des Geschäfts. Besonders die Spitzengruppe der jüdischen Financiers muss eine bedeutende Anzahl von Schuldbriefen in ihrem Besitz gehabt haben, und man möchte annehmen, dass diese aufgrund ihres Wertes im Normalfall auch sicher verwahrt wurden – im Falle Lebmans vielleicht sogar zu sicher, so dass nicht einmal seine Frau sie finden konnte. Einen Hinweis darauf, wie jüdische Geldleiher ihre Schuldverschreibungen organisierten, geben die meist auf der Plica oder auf der Rückseite – in seltenen Fällen

20 St. Pölten, Niederösterreichisches Landesarchiv, Urkunden Ständisches Archiv, Nr. 89. Regest bei: Brugger u. Wiedl (Anm. 11), S. 188f., Nr. 193. Vgl. Eveline Brugger, Adel und Juden im mittelalterlichen Niederösterreich. Die Beziehungen niederösterreichischer Adelsfamilien zur jüdischen Führungsschicht von den Anfängen bis zur Pulkauer Verfolgung (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 38), St. Pölten 2004, S. 84; dies., Loans of the F ­ ather: Business Succession in Families of Jewish Moneylenders in Late Medieval Austria, in: Finn-Einar Eliassen u. Katalin Szende (Hgg.), Generations in Towns. Succession and Success in Pre-Industrial Urban Societies, Newcastle upon Tyne 2009, S. 112–129. Zu Lebmans Familie vgl. Klaus Lohrmann, Die Wiener Juden im Mittelalter, Berlin, Wien 2000, S. 127–130.



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auch auf den Presseln21 – der Urkunde angebrachten knappen hebräischen Vermerke, die eine Kurzfassung des Rechtsinhalts (oft nur den Namen des Schuldners und die Schuldsumme bzw. das Fälligkeitsdatum) enthielten.22 Im Gegensatz zu hebräischen Unterschriften, auf die noch zurückzukommen sein wird, handelte es sich dabei um Vermerke für den internen Gebrauch, die keine Rechtswirksamkeit besaßen, sondern wohl das rasche Auffinden der richtigen Urkunde erleichtern sollten.23 Trotzdem kam es vor, dass Urkunden verloren gingen. Ein solcher Verlust zog Rechtsunsicherheit nach sich, weshalb zur Absicherung gelegentlich eine höhere Instanz eingeschaltet wurde. Als der Jude Isserl aus Neunkirchen im Jahr 1372 den Schuldbrief Haimos von Geroldsdorf verlor, wandte er sich – wahrscheinlich auf Wunsch des Schuldners – an Herzog Albrecht III. um Hilfe. Der Herzog kam dem Ersuchen nach und bestätigte Isserls Erklärung, dass Haimo die Schuld samt Zinsen zurückgezahlt hatte und dass er, Isserl, die entsprechende Schuldurkunde verloren habe und sie deshalb dem ehemaligen Schuldner nicht ordnungsgemäß zurückgeben könne. Daher erklärte der Herzog die nicht auffindbare Urkunde für ungültig; im Fall des Wiederauftauchens sollte sie dem Juden und dessen Erben keinen Nutzen, Haimo und dessen Erben aber keinen Schaden bringen.24 Ähnlich gelagert war der Fall einer weiteren jüdischen Witwe, Süßel aus Pressburg (Bratislava), deren verstorbener Ehemann Merchlein aus einer Kremser Familie stammte und auch in Pressburg geschäftlich tätig war. Süßel erschien 1386 als Vertreterin ihres minderjährigen Sohnes vor dem Richter und dem Rat der Stadt Pressburg und gab dort den Verlust einer Urkunde bekannt, die eine Schuld des Pressburger Bürgers Dankhart vor dem Lorenzertor in der Höhe von 36 Pfund weniger 50 Pfennig bei Süßels verstorbenem Mann dokumentierte und mit dem kleinen Siegel der Stadt Pressburg beglaubigt war. Im Gegensatz zur Witwe des oben erwähnten Lebman wusste Süßel also über den Inhalt der Urkunde Bescheid und bestätigte vor dem Stadtrat, dass Dankhart ihr die Schuld samt Zinsen zurückgezahlt habe. Auch hier wurde die verlorene Urkunde für den Fall, dass sie doch noch auftauchte, vorsorglich

21 Vgl. z. B. St. Pölten, Niederösterreichisches Landesarchiv, Urkunden Ständisches Archiv, Nr. 1126, 1165. 22 Vgl. ebd., Nr. 659, Regest bei: Brugger u. Wiedl (Anm. 1), S. 322f, Nr. 1116: Albero von Streitwiesen und Albero Stuchs stellen dem Juden Heblein aus Lengbach und dessen Frau Roslein einen Schuldbrief über 24 Pfund Wiener Pfennig aus, die am kommenden Faschingstag fällig sind. Auf der Plica steht der hebräische Vermerk „Alber Streitbiser und Alber Stichs 24 Pfund auf Vaschank 126 nach der kleinen Zeitrechnung“ (Übersetzung: Martha Keil). 23 Für Österreich sind bisher keine von Juden selbst angelegten Geschäftsbücher bekannt, wie sie in anderen Regionen existieren. Vgl. z. B. Annegret Holtmann, Jüdische Geldleihe im Spiegel mittel­ alterlicher Geschäftsbücher: Das Beispiel Vesoul, in: Cluse (Anm. 13), S. 333–343. 24 Klosterneuburg, Stiftsarchiv, Urkunde 1372 XII 9. Regest bei: Christian Lackner, Regesta Habsburgica. Regesten der Grafen von Habsburg und der Herzoge von Österreich aus dem Hause Habsburg, V. Abteilung: Die Regesten der Herzoge von Österreich (1365–1395), 2. Teilbd. (1371–1375), Wien, München 2010, S. 111, Nr. 949.





Der Umgang mit jüdisch-christlichen Geschäfts­urkunden 

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für ungültig erklärt, und zwar gleichgültig vor welchem Gericht sie vorgelegt wurde – ein Zusatz, der wohl der Situation im Grenzraum zwischen dem Herzogtum Österreich und dem Königreich Ungarn geschuldet war. Die Urkunde, die der Pressburger Stadtrat über Süßels Erklärung ausstellte, war Dankhart allerdings noch nicht Ab­sicherung genug, denn er ließ ihren Inhalt zwei Jahre später auch noch durch pezzer sicherhayt willen, wer ob derselb prief verloren wurd in ein Pressburger Stadtbuch eintragen. Diesem Eintrag ist die Überlieferung der Urkunde zu verdanken, denn das Original ging in der Folge tatsächlich verloren.25 Natürlich gingen auch die christlichen Geschäftspartner jüdischer Geldgeber nicht immer sorgfältig mit den Urkunden um. 1378 bestätigte der Jude Nachim aus Windischgrätz, dass eine Urkunde über ein Darlehen von 20 Pfund Wiener Pfennig, die sein Schuldner Hugo von Duino ihm geschickt hatte, nicht bei ihm eingetroffen war. Damit kein Unbefugter mit der Urkunde Forderungen erheben konnte, erklärte Nachim sie – auf Deutsch mit hebräischer Beglaubigung – für ungültig. Neben der Absicherung des Gläubigers lag es auch in Nachims eigenem Interesse, sicherzustellen, dass niemand in seinem Namen die Schuld eintreiben konnte und zugleich festzuhalten, dass der Verlust der Urkunde nicht an ihm lag.26 Das Konfliktpotential, das sich aus mangelhaft dokumentierten Darlehens­ geschäften ergab, war gemeinsam mit dem Wunsch nach verstärkter Kontrolle des jüdischen Geldgeschäfts ein Faktor in der Anlage städtischer Verzeichnisse der jüdischen Schuldbriefe, aus denen sich die eingangs erwähnten Judenbücher entwickelten. Die erste bekannte Maßnahme dieser Art in Österreich ist eine Bestimmung im Stadtrecht von St. Pölten, das Bischof Albrecht II. von Passau 1338 ausstellte. Sie schrieb den Juden der Stadt vor, ihre Schuldurkunden und Pfänder regelmäßig dem Richter zur Bestätigung vorzuweisen, widrigenfalls würden sie ihre Ansprüche ver­ lieren.27 Nur zwei Jahre später ließ der österreichische Herzog Albrecht II. ein Judenbuch anlegen, von dem leider nur eine Kopie der lateinischen Einleitung erhalten ist. Diese ist von einem der beiden mit der Anlage betrauten Notare abgefasst und erklärt in äußerst feindseliger, theologisch untermauerter Rhetorik, dass der Herzog „aufgrund des großen Schadens und der damit verbundenen Streitigkeiten, die aus der Niedertracht der Juden heraus häufig über die Fälschung von Siegeln und Urkunden vorkamen“, zur künftigen Vermeidung dieses Übels im Interesse seiner christlichen und jüdischen Untertanen zwei öffentliche Notare beauftragt habe, alle den Juden versetzten Schuldbriefe in einem Register aufzuschreiben.28 Solch unverhohlene

25 Monumenta Hungariae Judaica, Bd. 4: 1371–1564, hrsg. v. Franz Kováts, Budapest 1938, S. 15f., Nr. 9. 26 Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Allgemeine Urkundenreihe 1378 V 4. 27 St. Pölten, Stadtarchiv, Stadtbuch von St. Pölten, fol. 10r–14r. Druck der Judenpassagen bei: Brugger u. Wiedl (Anm. 11), S. 341, Nr. 444. 28 Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Allgemeine Urkundenreihe 1340 VI 4. Regest bei: Brugger u. Wiedl (Anm. 1), S. 19f., Nr. 476.



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Judenfeindschaft überrascht im Umfeld Albrechts II., der erst kurz zuvor von einem geistlichen Chronisten wegen seines Eintretens für den Judenschutz als fautor Iudeorum verunglimpft worden war;29 auch dürfte die Anlage eines herzoglichen ‚Zentralregisters‘ für jüdische Schuldbriefe über das Versuchsstadium nicht hinausgekommen sein.30 Der erhobene Vorwurf der jüdischen Siegel- und Urkundenfälschung tritt sonst weder in den überlieferten Urkunden noch in der Historiographie dieses Zeitraums auf; im Lauf des 14. Jahrhunderts lässt sich aber allgemein die Tendenz feststellen, jüdische Kreditgeschäfte immer stärker rechtlich abzusichern. Dies könnte als Hinweis auf eine schwindende Rechtssicherheit der jüdischen Geschäftstätigkeit interpretiert werden,31 entspricht allerdings auch einem generellen Trend, der über Geschäfte mit jüdischer Beteiligung hinausgeht und sich genauso bei christlichen Geschäftsabschlüssen findet.32 Gerade der Frage, wie mit schriftlichen Belegen umzugehen war, kam dabei große Bedeutung zu. Besonders deutlich zeigt sich dies z. B. am Bestand der Urkunden des Stiftsarchivs Klosterneuburg aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die im Rahmen der üblichen Schutz- und Schirmformel für getätigte Geschäfte auch den Einsatz der entsprechenden Urkunden ausdrücklich regeln. Nach österreichischem Landrecht hatte bei einem Güterverkauf der Verkäufer den Käufer gegen alle von dritter Seite auf das Kaufgut erhobenen Ansprüche zu schützen; im Klosterneuburger Umfeld wurde es nun üblich, beim Ausstellen einer Verkaufs­ urkunde festzulegen, dass die Käufer den Verkäufern im Falle solcher Ansprüche den Kaufbrief und alle vorangegangenen Urkunden leihweise zurückgeben sollten, damit diese sie als Beweis zur Abwehr der erhobenen Ansprüche verwenden konnten. Dies war für Juden im Kreditgeschäft insofern wichtig, als sie häufig verfallene Grundstückspfänder weiterverkauften und genauso wie ein christlicher Verkäufer den Schirm dafür zu übernehmen hatten. Ein konkretes Beispiel aus dem Jahr 1373: Der Wiener Jude Meister Tenichel be­urkundete den Verkauf eines Weingartens in Klosterneuburg, der ihm als Pfand für eine nicht zurückgezahlte Schuld verfallen war. Tenichel besaß eine Urkunde

29 Kalendarium Zwetlense a. 1243–1458, hrsg. v. Wilhelm Wattenbach, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores in folio 9, hrsg. v. Georg Heinrich Pertz, Leipzig 1925, S. 689–698, hier S. 692. Vgl. Eveline Brugger, Minem herren dem hertzogen sein juden – die Beziehung der Habsburger zu „ihren“ Juden im spätmittelalterlichen Österreich, in: 25. Österreichischer Historikertag St. Pölten 2008. ­Tagungsbericht (Veröffentlichungen des Verbands Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine 34), St. Pölten 2010, S. 742–749, hier S. 746f. 30 Lohrmann (Anm. 3), S. 157f. 31 Bezeichnend ist in dieser Hinsicht das ab der Mitte des 14. Jahrhunderts regelmäßig auftretende formelhafte Versprechen des Urkundenausstellers an den jüdischen Gläubiger, die Schuld selbst zu begleichen und weder an eine höhere Instanz abzutreten noch sich bei dieser um einen Tötbrief zu bemühen; s. Brugger (Anm. 13), S. 339f. 32 Zehetmayer (Anm. 5), S. 270f.





Der Umgang mit jüdisch-christlichen Geschäfts­urkunden 

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über die ursprüngliche Schuld und die dafür erfolgte Verpfändung des Weingartens; dieser war nach einem entsprechenden Gerichtsbeschluss, über den dem Juden ebenfalls eine Urkunde ausgestellt worden war, in seinen Besitz übergegangen.33 Diesen ­Weingarten verkaufte er in der Folge an den Schaffer des Klosterneuburger Dechants. Tenichel übernahm nach Bergrechts- und österreichischem Landrecht den Schirm für den Weingarten; wenn es zu Ansprüchen von dritter Seite käme, sollte der Käufer ihm die Schuld- und die Gerichtsurkunde leihweise zurückgeben, damit er den Käufer gegen die Ansprüche schirmen könne. Würde ihm der Käufer die Urkunden aber nach entsprechender Aufforderung nicht überlassen, wäre Tenichel der Schirmverpflichtung ledig.34 Diese Vorgehensweise unterscheidet sich nicht von der, die bei einem christlichen Verkäufer zum Einsatz gekommen wäre. Ein zeitnaher Fall aus demselben Umfeld, an dem der jüdische Geschäftspartner nur am Rande beteiligt war, zeigt dies deutlich: Der Klosterneuburger Bürger Wisent auf dem Anger und seine Frau beurkundeten 1379 den Verkauf eines Weingartens und hielten ausdrücklich fest, dass sie dem Käufer die Urkunden zu dem Weingarten übergeben hatten. Es handelte sich dabei erstens um einen Gerichtsbrief, der dem Juden Mosche den genannten Weingarten für eine Geldschuld zusprach, zweitens um den Kaufbrief, mit dem Wisent den Weingarten von Mosche gekauft hatte und drittens um eine hebräische Urkunde mit dem Siegel des Rabbiners (ain juedisch prief mit seins maister insigel), die den Verzicht Mosches auf alle weiteren Rechte an dem Weingarten bestätigte. Falls in Zukunft Rechtsansprüche von dritter Seite auf den Weingarten gestellt würden, sollte der Käufer den Verkäufern die Urkunden zurückgeben, damit diese ihn mit diesen Urkunden und dem Kaufbrief nach österreichischem Landrecht gegen die Ansprüche schirmen konnten. Sollten die Urkunden verloren gehen oder beschädigt (zeprochen) werden, wären Wisent und seine Frau nicht zum Schirm verpflichtet.35 Hier wurde also ausdrücklich für den Fall vorgesorgt, dass die zur Beweisführung nötigen Urkunden nicht mehr vorhanden waren – ein Problem, das Christen wie Juden gleichermaßen betreffen konnte. Der Ausdruck zeprochen scheint zunächst auf eine Beschädigung oder Zerstörung des Siegels hinzudeuten. Allerdings war mit dem im Text genannten insigel des Rabbiners mit Sicherheit eine Unterschrift gemeint,36

33 Klosterneuburg, Stiftsarchiv, Urkunde 1372 III 2. 34 Klosterneuburg, Stiftsarchiv, Urkunde 1373 VIII 10. Gedruckt bei: Hartmann Zeibig, Urkundenbuch des Stiftes Klosterneuburg bis zum Ende des vierzehnten Jahrhunderts, Teil 1 (Fontes Rerum Austriacarum II/10), Wien 1857, S. 453f., Nr. 465 (nach einer kopialen Klosterneuburger Überlieferung, in der – wohl aufgrund fehlender Sprachkenntnisse des Kopisten – die hebräische Unterschrift Tenichels fehlt, die auf der Originalurkunde unter dem deutschsprachigen Text steht). 35 Klosterneuburg, Stiftsarchiv, Urkunde 1379 I 5. Regest bei: Zeibig (Anm. 34), S. 477. 36 Der hebräische Begriff chatam, mit dem in hebräischen Urkunden die Unterschrift angekündigt wird, kann sowohl „unterschreiben“ als auch „siegeln“ bedeuten, vgl. Martha Keil, Ein Regensburger Judensiegel des 13. Jahrhunderts. Zur Interpretation des Siegels des Peter bar Mosche haLevi, in:



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sodass man insgesamt von einer weiter gefassten Bedeutung des Wortes im Sinn von ‚Beschädigung der Urkunde‘ ausgehen muss. Gleichzeitig ist hier deutlich dokumentiert, dass die Rechtsgültigkeit hebräischer Dokumente vom christlichen Geschäftspartner nicht in Frage gestellt wurde. Dem Siegel im eigentlichen Sinn kam gerade bei der Frage der fortgesetzten Gültigkeit von Urkunden dennoch große Bedeutung zu. Jüdische Siegel stellen eine ­Seltenheit dar, weil sie nicht notwendig waren: die gängige Beglaubigung für Juden (und auch Jüdinnen) war im Gegensatz zu den häufig illiteraten Christen eben die eigenhändige hebräische Unterschrift, die auch von Christen als legitime Beglaubigung akzeptiert wurde.37 Zwar führten manche jüdische Financiers im Geschäftsverkehr mit christlichen Kunden ein Siegel, um ihrem hohen Sozialprestige Ausdruck zu verleihen, allerdings war dies eher die Ausnahme.38 Für Christen stellte das Siegel hingegen die wichtigste Form der Beglaubigung dar. Die Beglaubigung durch Zeugenreihen verlor in Österreich im Lauf des 13. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung;39 an ihre Stelle traten in Privaturkunden die Siegelzeugen, die zusätzlich zum Aussteller (bzw. bei Siegelkarenz des Ausstellers an

Aschkenas 1 (1991), S. 135–150, hier S. 136. Hebräische Unterschriften werden sogar in deutschsprachigen Urkunden jüdischer Aussteller gelegentlich explizit als „Siegel“ angekündigt, vgl. z. B. Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, Allgemeine Urkundenreihe 3497b (1384 August 28): Die Corroboratio der von dem Voitsberger Juden Smoiel und dessen Frau ausgestellten Urkunde kündigt neben dem Siegel des Voitsberger Judenrichters auch das iudisch insigel Smoiels an. Die Urkunde trug erkennbar nur ein einziges (nicht erhaltenes) Siegel, dafür steht unter dem deutschsprachigen Textblock Smoiels hebräische Unterschrift. In den Urkunden christlicher Aussteller tritt diese Gleichsetzung normalerweise nicht auf, allerdings ist davon auszugehen, dass Wisent auf dem Anger, der Aussteller der oben zitierten Urkunde, für den Inhalt der von ihm angeführten hebräischen Urkunde auf einen jüdischen Übersetzer angewiesen war (vgl. Anm. 34) und daher vielleicht dessen Diktion übernahm. Da das Fehlen eines Siegels im eigentlichen Sinn an der hebräischen Urkunde für Wisent klar erkennbar gewesen sein muss, stellte die begriffliche Gleichsetzung für ihn offensichtlich kein Problem dar. 37 Martha Keil, „Petachja, genannt Zecherl“: Namen und Beinamen von Juden im deutschen Sprachraum des Spätmittelalters, in: Reinhard Härtel (Hg.), Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung (Grazer grundwissenschaftliche Forschungen 3 = Schriftenreihe der Akademie Friesach 2), Graz 1997, S. 119–146, hier S. 138–141. 38 Keil (Anm. 36), S. 135–140; Brugger u. Wiedl (Anm. 3), S. 294. 39 Zehetmayer (Anm. 5), S. 268f. Solange Zeugenreihen in Gebrauch waren, traten darin gelegentlich auch Juden auf, vgl. z. B. München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Klosterurkunde Aldersbach Nr. 44 (1264 April 29), gedruckt bei Brugger u. Wiedl (Anm. 11), S. 56f., Nr. 42. Die Urkunde, die der Dechant und der Judenrichter von Krems gemeinsam ausstellten und besiegelten, enthält die Zeugenreihe Chunradus notarius, Wichardus subdyaconus, Helnwicus in foro, Hainricus sagitarius, Hain­ ricus Trawnchiricher, Chunradus cellerarius, Fridelo iudeus, Schnoman, David, Ruben iudei et alii quam ­plures.





Der Umgang mit jüdisch-christlichen Geschäfts­urkunden 

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dessen Stelle) die Urkunde mit ihrem Siegel bestätigten.40 Jüdische Aussteller ließen deutschsprachige Urkunden oft vom christlichen Judenrichter (mit)besiegeln, allerdings kamen auch häufig andere christliche Siegelzeugen zum Einsatz.41 Siegel spielten also im Rahmen jüdisch-christlicher Geschäftsabschlüsse auch für die beteiligten Juden, die Wert auf die Absicherung ihrer Dokumente legten, eine wichtige Rolle. Schon die österreichische Judenordnung Herzog Friedrichs II. aus dem Jahr 1244, die die rechtliche Grundlage der jüdischen Ansiedlung im Herzogtum Österreich darstellte, sagte den Juden die Unterstützung des Herzogs beim Eintreiben adeliger Schulden zu, wenn die Juden diese mit Brief und Siegel (per suas literas et sigillum) nachweisen konnten.42 Aus diesem Grund betraf der Verruf, also die Ungültigkeitserklärung des verlorenen oder zerstörten Siegels eines christlichen Schuldners, auch dessen jüdische Geschäftspartner und wurde entsprechend öffentlich gemacht. Im Jahr 1341 bestätigte der österreichische Herzog Albrecht II. die Urkunden der Judenmeister von Wien, Krems und Wiener Neustadt über den Verruf des zerbrochenen Siegels des herzoglichen Hofmeisters Ulrich von Pergau, der wahrscheinlich, wie es üblich war, in den Synagogen verkündet worden war.43 Wenige Monate zuvor hatte König Karl I. von Ungarn bei der Verleihung eines neuen Siegels an die Stadt Ödenburg (Sopron) den Verruf des alten Stadtsiegels unter anderem auch an die Juden, und zwar der Lage der Stadt entsprechend sowohl an die Juden in Ungarn als auch an diejenigen in Österreich, adressiert. Die Veröffentlichung des Verrufs erlaubte jedem, der mit dem verrufenen Siegel beglaubigte Urkunden besaß, diese vorzuweisen, um sie mit einem neuen, gültigen Siegel bestätigen zu lassen. Wurde dies versäumt, verloren die Urkunden ihre Gültigkeit.44 Eine ähnliche Vorgehensweise konnte auch beim Tod eines Schuldners zum Einsatz kommen, und dies trotz der Tatsache, dass in den ent-

40 Eine direkte Involvierung der siegelnden Personen in das besiegelte Rechtsgeschäft musste dabei nicht unbedingt gegeben sein, wie die häufig verwendeten Schadlosformeln belegen, vgl. z. B. St. Pölten, Niederösterreichisches Landesarchiv, Urkunden Ständisches Archiv Nr. 1119: die ouch der sach getzewgen sind mit iren anhangunden insigiln yn an schaden. 41 Vgl. z. B. die in Anm. 36 zitierte Urkunde Smoiels aus Voitsberg. Brugger (Anm. 20), S. 23; zum Judenrichter vgl. Lohrmann (Anm. 20), S. 46–51; Brugger (Anm. 4), S. 149f. 42 Brugger u. Wiedl (Anm. 11), S. 36, Nr. 25. Vgl. Lohrmann (Anm. 3), S. 78f. 43 Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Urkundenreihe Gschwendt, Nr. 66 (1341 Juli 28). Regest bei: Brugger u. Wiedl (Anm. 1), S. 26, Nr. 489. 44 Irmtraut Lindeck-Pozza, Urkundenbuch des Burgenlandes und der angrenzenden Komitate Wieselburg, Ödenburg und Eisenburg, Bd. 4: Die Urkunden von 1328 bis 1342 mit Nachträgen von 1284 bis 1318, Wien, Köln u. Graz 1985, S. 300, Nr. 470. Vgl. z. B. Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Allgemeine Urkundenreihe 1377 VI 29: Die Urkunde Herzog Albrechts III. über den Verruf des verlorenen Siegels des herzoglichen Hauptmanns ob der Enns hält ausdrücklich fest, dass sich nach der Veröffentlichung des Siegelverrufs in der Landschranne und den Synagogen niemand meldete, der entsprechende Urkunden des Hauptmanns besaß, und erklärt daher alle in Zukunft noch auftauchenden Urkunden, die mit dem verrufenen Siegel beglaubigt waren, für ungültig.



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sprechenden Urkunden fast immer ausdrücklich auch die Erben der Beteiligten mitverpflichtet wurden.45 Nicht nur bei friedlichen Transaktionen wie dem erwähnten Weingartenverkauf Wisents auf dem Anger, sondern noch viel mehr bei Rechtsstreitigkeiten kam eventuell vorhandenen Schuld- und Pfandbriefen bzw. den darauf basierenden Rechtsansprüchen jüdischer Gläubiger essentielle Bedeutung zu. Nicht immer ging die Einigung so reibungslos über die Bühne, wie es – zumindest dem Befund der Quelle nach – bei den oben zitierten unauffindbaren Schuldurkunden Lebmans der Fall gewesen sein dürfte. So beurkundete etwa der Bergmeister des Wiener Klarissenklosters 1378 einen Gerichtsentscheid über die Klage des Klosters auf nicht bezahlte Abgaben von einem Weingarten. Der Besitzer des Weingartens hatte diesen offenbar als Pfand für ein jüdisches Darlehen gesetzt, denn der klagende Vertreter des Klosters bot gemäß dem nach Landrecht üblichen Prozedere mit dem Fronboten und dem Wiener „Judenmesner“ (Schammasch) an, dass die Witwe des bereits erwähnten Wiener Juden Meister Tenichel mit ihren Urkunden vor Gericht erscheinen und ihre Ansprüche beweisen solle. Da jedoch weder Tenichels Witwe noch ihre Erben vor Gericht erschienen, wurden ihre Urkunden für ungültig erklärt und der Weingarten für die versessenen Abgaben dem Kloster zugesprochen.46 Die Involvierung des „Judenmesners“, dessen Funktion vor Gericht dem des christlichen Fronboten entsprach,47 zeigt, dass auf die Interessen der jüdischen Seite Rücksicht genommen werden sollte; warum Tenichels Witwe dem Angebot nicht nachkam und ob es sich hier möglicherweise um einen weiteren Fall von nicht auffindbaren Schuld- bzw. Pfandbriefen handelte, die ihre Sache vor Gericht aussichtslos gemacht hätten, geht aus der Urkunde nicht hervor. Hinweise auf den Verlust von Schuldurkunden im Zuge von Verfolgungen finden sich im Herzogtum Österreich vor der Vernichtung der jüdischen Ansiedlung 1420/21 („Wiener Gesera“) nur sehr selten, was wohl zum größten Teil daran liegt, dass die habsburgischen Landesfürsten ihre jüdischen Untertanen lange Zeit vor Verfolgungen zu schützen versuchten48 – Verfolgungen, die mit angeblichen Hostienschändungen oder ähnlichen religiösen Motiven begründet wurden, deren Betreiber aber (wie die Wiener Annalen Ende des 14. Jahrhunderts anlässlich einer Judenverfolgung in der Steiermark und in Kärnten vermerkten) geren gotz marter gerochen hieten und daraus ir brief und geltschuld von den unseligen juden ledig gewesen.49 Erst im Zuge der

45 Reinhard Härtel, Die Zugehörigkeit des Pittener Gebietes zu Österreich oder Steier im späten Mittelalter, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich Neue Folge 50/51 (1985), S. 53–134, hier S. 125. 46 Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Allgemeine Urkundenreihe 1378 V 1. 47 Keil (Anm. 5), S. 50. 48 Brugger (Anm. 29), S. 742–749. 49 Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften, hrsg. v. Joseph Seemüller (Monumenta Ger­ maniae Historica, Deutsche Chroniken 6), Hannover 1906–1909, ND München 1980, S. 238. Zu der in der zitierten Stelle erwähnten Verfolgung vgl. Brugger (Anm. 4), S. 220f.





Der Umgang mit jüdisch-christlichen Geschäfts­urkunden 

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Gesera, die eine radikale Abkehr von der bis dahin praktizierten landesfürst­lichen Judenpolitik darstellte, kam es zum systematischen, obrigkeitlich verordneten Raub jüdischen Schriftgutes.50 Herzog Albrecht V. zog gemeinsam mit dem Rest des jüdischen Besitzes auch die offenen Schuldforderungen der Juden ein. Im sogenannten Schatzgewölbe-Register aus der Mitte des 16. Jahrhunderts sind die Belege für das den Juden – oft unter Folter – abgepresste Vermögen inventarisiert, auch wenn diese Belege selbst leider verlorengegangen sind. Neben Verzeichnissen des Geldes und der Kleinodien der Juden und einem Schuldenregister für das Jahr 1420 listet das Inventar auch eine Reihe von zusammengebundenen Schriften auf, darin ligen villerlei zetlen und inventari der gedachten Juden gefunden und gezaigten clainat, silber­ gschmeidt und schulden.51 Unter den den Juden geraubten Wertgegenständen hatten sich also auch die noch in ihrem Besitz befindlichen Schuldbriefe befunden; nach dem jiddischen Bericht, der der Verfolgung den Namen gab, erließ der Herzog den Schuldnern der Juden die aufgelaufenen Zinsen und ließ sich das Kapital selbst auszahlen.52 Allerdings war es mit dem Entzug der Schuldurkunden nicht getan, wenn von anderer Seite politischer Druck gemacht wurde: der ungarische König Sigismund und der steirische Herzog Ernst erhoben als Herrscher jener Gebiete, in die die vertriebenen österreichischen Juden geflüchtet waren, im Namen ihrer neuen jüdischen Untertanen Entschädigungsansprüche. König Sigismund erklärte in einem Schutzbrief für den Juden Isserl aus Bruck, dass dieser in Österreich seine geldschuld under im gelassen hat czwisschen etlichen cristen [...] durich dez willen ir geldschuldbriffe und ir judenpuch, darynne dieselbig ir geldschuld geschriben stet, im enczogen und genommen worden sein czu grossen scheden. Eine fast gleichlautende Bestätigung erhielt der Jude Haubel aus Hainburg. Beide sollten von den Amtleuten König Sigismunds Hilfe bei der Eintreibung ihrer Außenstände erhalten, obwohl ihnen die schriftlichen Belege geraubt worden waren; allerdings hatten sie die Hälfte bzw. ein Drittel der eingebrachten Summe an den König abzutreten und darüber durich eyner sichrer auzweizung und geczewgnuzz willen eine Quittung auszustellen.53 Bei entsprechen-

50 Zu den während der Gesera geraubten hebräischen Handschriften vgl. Keil (Anm. 14), S. 59 mit Anm. 40. Allgemein zur Gesera vgl. Arye Maimon, Mordechai Breuer u. Yacov Guggenheim (Hgg.), Germania Judaica III/3: Gebietsartikel, Einleitungsartikel und Indices, Tübingen 2003, S. 1986–1988; Brugger (Anm. 4), S. 221–224; Lohrmann (Anm. 3), S. 298–309; ders. (Anm. 20), S. 155–173; Martha Keil, Bet haKnesset, Judenschul. Die mittelalterliche Synagoge als Gotteshaus, Amtsraum und Brennpunkt sozialen Lebens, in: Wiener Jahrbuch für jüdische Geschichte 4 (1999/2000), S. 71–89, hier S. 73f. 51 Arthur Goldmann, Das Judenbuch der Scheffstraße zu Wien (1389–1420), mit einer Schriftprobe (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 1), Wien, Leipzig 1908, S. 113, Anm. 1. 52 Ebd., S. 125f. 53 Monumenta Hungariae Judaica, Bd. 1: 1092–1539, hrsg. v. Ármin Friss u. Mór Weisz, Budapest 1903, S. 150–154, Nr. 114f. Vgl. Lohrmann (Anm. 3), S. 308f.



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 Eveline Brugger

dem obrigkeitlichen Interesse bedeutete der Verlust von ‚Brief und Siegel‘ also noch nicht das Ende eines Anspruchs – die dafür zu leistende Zahlung hatte aber selbstverständlich wieder verbrieft zu werden.



Birgit Wiedl (St. Pölten)

Do hiezen si der Juden mesner ruefen. Jüdisch-christliche Geschäftsurkunden als Quellen zur Alltagsgeschichte* Abstract: Spätmittelalterliche Urkunden, die aus geschäftlichen Transaktionen zwischen Juden und Christen resultierten, erlauben eine Vielzahl wirtschafts-, sozial- und alltagsgeschichtlicher Fragestellungen. Diese Geschäftsurkunden, die im Spätmittelalter die größte, zahlenmäßig stetig ansteigende Quellengruppe darstellen, bieten detaillierte Einblicke in die relativ standardisierten Abläufe des jüdischen Kredit- und Pfandgeschäfts, spiegeln darüber hinaus aber auch die alltägliche Realität der Interaktionen zwischen Juden und Christen wider. Durch genauere Beschreibungen des Geschäftsablaufs beziehungsweise die Verortung des Geschäftsabschlusses lassen sich Überschneidungen jüdischer und christlicher Räume erkennen, die Vertrautheit mit zentralen und öffentlichen Orten der jeweils anderen Gruppe, aber auch individuelle nachbarschaftliche Kontakte und Konflikte. Juden treten in Geschäftsurkunden aber nicht nur als Geldleiher, sondern auch als Haus- oder Grundbesitzer sowie Käufer und Verkäufer auf, wodurch sich Einblicke in den Rechtsalltag gewinnen lassen.

Im November 1354 erschienen Boten des steirischen Grafen von Pfannberg vor dem Stadtrichter und dem Judenrichter der untersteirischen Stadt Marburg (Maribor / Slowenien) und baten um deren Begleitung zur Synagoge. Dort hiezen si der Juden mesner ruefen ob yemand unter den Juden daselbest priefe hiett, die sie gegen Vorlage derselben in der Synagoge zu bezahlen gedachten. Nachdem aber die Juden bekannt gaben, dass keiner von ihnen einen Schuldbrief des Pfannbergers habe, ließen sie abermals durch den Juden mesner verkünden, dass alle nach diesem Tag vorgelegten Briefe ungültig sein sollten. Stadt- und Judenrichter sowie ein weiterer Bürger bestätigten, dass sie und ander erber leute während dieser Vorgänge anwesend gewesen waren und die jeweiligen Aussagen gehört hatten.1

* Dieser Beitrag basiert auf Forschungsergebnissen aus dem vom österreichischen Forschungsfonds (FWF) finanzierten Projekt „Regesten zur Geschichte der Juden in Süd- und Westösterreich 1387–1404“ (P 24405) sowie den Vorgängerprojekten P 15638, P 18453 und P 21237. 1 Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Allgemeine Urkundenreihe (im Folgenden: HHStA, AUR), Uk. 1354 XI 4; vgl. Eveline Brugger u. Birgit Wiedl, Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich, 2 Bde., Innsbruck, Wien, Bozen 2005–2010, hier Bd. 2: 1339–1365, S. 159f., Nr. 782. Beide Regesten­ bände sind online verfügbar auf Institut für jüdische Geschichte Österreichs, URL http://injoest.ac.at/ projekte/laufend/mittelalterliche_judenurkunden/ (einges. 23.6.2014); vgl. Birgit Wiedl, Jews and the City. ­Parameters of Urban Jewish Life in Late Medieval Austria, in: Albrecht Classen (Hg.), Urban Space in the Middle Ages and the Early Modern Age (Fundamentals of Medieval and Early Modern

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 Birgit Wiedl

Fragen des jüdisch-christlichen Zusammen- und Alltagslebens und kulturellen Transfers standen in den letzten Jahren immer häufiger im Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen,2 wobei die dazu herangezogenen Quellen von historischen Quellen wie Hagio- und Historiographie über Literatur bis zur Kunst und Archäologie eine breite Basis bilden. Geschäftsurkunden jedoch sind eher selten die Quellengattung,3 die für eine Untersuchung jüdisch-christlichen Alltagslebens in den Sinn kommt. Zu sehr scheinen sie in ihrer Formelhaftigkeit und ihrem primär wirtschaftlichen Informationsgehalt verhaftet zu sein – auch wenn sowohl Übereinstimmungen als auch Unterschiede im Formular einer Urkunde jüdischer beziehungsweise christlicher Aussteller ihren Aussagewert haben.4

Culture 4), Berlin 2009, S. 273–308, hier S. 285f.; Martha Keil, Raum und Ordnung. Die mittelalterliche Syna­goge als Konstruktionsraum von Öffentlichkeit, in: Petra Ernst u. Gerald Lamprecht (Hgg.), Jewish Spaces. Die Kategorie Raum im Kontext kultureller Identitäten, Innsbruck, Wien, Bozen 2010, S. 33–50, hier S. 45f. 2 Siehe etwa Edith Wenzel (Hg.), Kulturelle Beziehungen zwischen Juden und Christen im Mittel­ alter (Aschkenas 14, 1), Tübingen 2004; Katrin Kogman-Appel, Jewish art and non-Jewish culture. The dynamics of artistic borrowing in medieval Hebrew manuscript illumination, in: Jewish History 15 (2001), S. 187–234; dies., Kulturaustausch und jüdische Kunst in der Spätantike und im Mittelalter, in: Chilufim. Zeitschrift für jüdische Kulturgeschichte 4 (2008), S. 79–119 (engl. Fassung in: Medieval Encounters 17 [2011], S.  1–26); Martin Przybilski, Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturge­ schichte 61), Berlin, New York 2010; Joseph Shatzmiller, Cultural Exchange. Jews, Christians, and Art in the Medieval Marketplace (Jews, Christians, and Muslims from the Ancient to the Modern World), Princeton 2013. 3 Der Begriff „Geschäftsurkunde“ wird hier nicht als Unterscheidung von dispositiver/konstitutiver Geschäftsurkunde und schlichter Beweisurkunde verwendet, im Sinne von Oswald Redlich, Geschäftsurkunde und Beweisurkunde, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Erg.-bd. 6 (1901), S. 1–16, sondern als Sammelbegriff für Urkunden, die eine wirtschaftliche Transaktion dokumentieren. 4 Die Vertrautheit von Juden mit christlichen Urkundenformeln zeigt sich in hebräischen Urkunden vor allem bei nicht direkt übernommenen, sondern adaptierten und modifizierten Formulierungen. So wurde zwar die Formulierung der Promulgatio mit „allen, die diesen Brief sehen oder hören lesen“ sinngemäß übernommen, aber unter Auslassung des „hören lesen“ zu „allen, die dieses unser Schriftstück sehen“ verkürzt. Die Adaptierung der Formel spiegelt wohl einerseits wider, dass das Vorgelesen-Bekommen von jüdischer Seite im Fall eines hebräischen Textes als überflüssig empfunden wurde, zeigt andererseits aber eine so tiefe Vertrautheit mit den allgemein im Geschäftsbereich üblichen Formulierungen, dass man sie zwar umzugestalten und für die eigenen Voraussetzungen zu adaptieren vermochte, aber dennoch beibehalten wollte. Vgl. Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 1: Von den Anfängen bis 1338, S. 119f., Nr. 124f.; 167f., Nr. 165; 212, Nr. 232; 261f., Nr. 310; 326f., Nr. 424; Bd. 2, S. 11f., Nr. 460; 246, Nr. 958; 250f., Nr. 966; 276f., Nr. 1023; 297, Nr. 1065; eine Ausnahme etwa HHStA, AUR Uk. 1379 VI 10, s. dazu und allgemein Eveline Brugger u. Birgit Wiedl, ...und ander frume leute genuch, paide christen und juden. Quellen zur christlich-jüdischen Interaktion im Spätmittelalter, in: Rolf Kiessling u. a. (Hgg.), Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800 (Col­ loquia Augustana  25), Berlin 2007, S.  285–305, hier S.  294–296; Jonathan Ray, The Jew in the Text: What Christian Charters Tell Us About Medieval Jewish Society, in: Medieval Encounters 16 (2010),





Jüdisch-christliche Geschäftsurkunden als Quellen zur Alltagsgeschichte  

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Das vielleicht wichtigste Argument zur Heranziehung von Geschäftsurkunden als unabdingbare Quelle für jüdisch-christlichen Interaktion im Alltag ist ihre große Menge; Geschäftsurkunden stellen, mit im Lauf des Spätmittelalters stetig ansteigenden Zahlen, den größten schriftlichen, quellenmäßig erhaltenen Bestand dar.5 Dies sollte zwar nicht dazu verleiten, den Großteil der Interaktion von Juden und Christen im Mittelalter auf geschäftlicher Ebene zu sehen, dennoch sollen hier anhand von urkundlichen Beispielen aus dem Raum des heutigen Österreich und der angrenzenden Gebiete Möglichkeiten aufgezeigt werden, Geschäftsurkunden auf Informationen des Alltagslebens zu unter­suchen. So bietet auch diese kleine, lediglich wenige Zeilen umfassende Marburger Urkunde bereits mit dem buchstäblich im Zentrum stehenden Ort des Geschehens mehr als lediglich die diversen wirtschaftlichen Implikationen.6 War die Synagoge innerhalb der jüdischen Gemeinde bereits als ein Raum sowohl religiöser als auch profaner Bedeutung konzipiert und durch ihre Vielfalt von Funktionen der wichtigste öffentliche Ort der jüdischen Gemeinde,7 so wurde sie mit der Judenordnung Herzog Friedrichs II. 1244 für den Raum des Herzogtums Österreich auch als Gerichtsort für Streitfälle zwischen Juden und Christen festgelegt.8

S. 243–267, zieht zwar vor allem Rechtsquellen wie herrscherliche Ansiedlungsprivilegien und Stadtrechte für seine Untersuchung heran, betont aber deren Wert für v.  a. innerjüdische (Gemeinde-) Strukturen und Entwicklungen. 5 Brugger u. Wiedl (Anm. 4). 6 Die Rückzahlungsaktion dürfte aufgrund des Todes Graf Ulrichs V. von Pfannberg im Oktober des Jahres unternommen worden sein, der (mindestens) bei einem Marburger Juden, Isserlein, sowie bei Cillier Juden 1350 Darlehen aufnahm, die zumindest Mitte 1351 noch nicht abbezahlt waren, Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 2, S. 109, Nr. 669; 118, Nr. 688. Auch sein Sohn Johann nahm Kredite bei Juden auf, s. ebd., S. 178f., Nr. 822f. 7 Keil (Anm. 1), S. 36–39; dies., Orte der jüdischen Öffentlichkeit. Judenviertel, Synagoge, Friedhof, in: Eveline Brugger u. Birgit Wiedl (Hgg.), Ein Thema – zwei Perspektiven. Juden und Christen in Mittelalter und Frühneuzeit, Innsbruck, Wien, Bozen 2007, S. 170–186, hier v. a. S. 173–177; Michael Toch, Mit der Hand auf der Thora. Disziplinierung als internes und externes Problem in den jüdischen Gemeinden des Spätmittelalters, in: Gerhard Jaritz (Hg.), Disziplinierung im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 17 / Sitzungsberichte Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. 669), Wien 1999, S. 157–168; Zvi Avneri (Hg.), Germania Judaica (im Folgenden: GJ), Bd. 2: Von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts [2, 1: Aachen–Luzern; 2, 2: Maastricht–Zwolle], Tübingen 1968; Arye Maimon, Mordechai Breuer u. Yacov Guggenheim (Hgg.), Germania Judaica, Bd. 3: 1350–1519 [3,  1: Aach–Lychen; 3,  2: Mährisch Budwitz–Zwolle; 3,  3: Gebietsartikel, Einleitungsartikel und Indices], Tübingen 1987–2003, hier allg. GJ 3, 3, S. 2082–2087 u. 2105f. sowie in etlichen der Orts- und Gebietsartikel. 8 Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 1, S. 35–38, Nr. 25 (§ 30); zu den herzoglichen Judenordnungen vgl. Eveline Brugger, Von der Ansiedlung bis zur Vertreibung. Juden in Österreich im Mittelalter, in: dies. u. a, Geschichte der Juden in Österreich, 2. Aufl. Wien 2006, S. 123–228, hier S. 137–145.



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 Birgit Wiedl

Während in dieser Ordnung, die sowohl unter Přemysl Otakar II. als auch unter den Habsburgern mehrfach bestätigt wurde,9 lediglich von gerichtlichen Streitfällen die Rede ist, etablierte sich die Synagoge auch auf christlicher Seite als der Ort innerhalb einer Stadt, an dem man die jüdische Gemeinde als Ganzes ansprechen konnte.10 Der öffentlich-offizielle Charakter dieses Ortes zeigt sich neben den Gerichtsverhandlungen und der dort stattfindenden Ablegung des Judeneids auch in den – gewohnheits- beziehungsweise landrechtlich vorgesehenen – Umfragen bei Schuldenfällen11 und dem (damit oft eng verbundenen) Berufen von Brief und Siegel sowohl von ‚privater‘ als auch ‚amtlicher‘ Seite und sowohl bei Tod des Siegelinhabers als auch bei Verlust des Siegels.12 Parallel zur Synagoge fand letzteres auch im christlichen Äquivalent statt, der im österreichischen Raum vorwiegend als Gerichtsort fungierenden Schranne: So ließ etwa Herzog Albrecht III. nach dem Verlust des Siegels seines obderennsischen Hauptmannes Heinrich von Wallsee-Enns dieses mehrfach in der landschrann und in den judenschulen verrufen.13 Die Synagoge steht hier in ihrer Funktion ganz explizit neben einem (vorwiegend) christlichen Raum mit ähnlichem Öffentlichkeits­charakter – wobei die Schranne wiederum sowohl Christen als auch Juden als Ort der Ge­-

9 Brugger (Anm. 8), S. 141–146. Unter den Habsburgern wurden die Bestimmungen der 1244er Ordnung wohl auf ihr gesamtes Herrschaftsgebiet ausgedehnt, die Privilegien für Steiermark und Kärnten sind aber nicht erhalten; vgl. zur Steiermark auch Klaus Lohrmann, Judenrecht und Judenpolitik im mittelalterlichen Österreich, Wien, Köln 1990, S. 200–205. 10 Der Rat der Stadt Regensburg forderte 1344 in der Synagoge die Vorlage bestehender Ansprüche an den Salzburger Juden Mendlein und ließ zugleich die Warnung verkünden, diesem nur mehr auf eigenes Risiko Geld ohne Stellung guter Pfänder zu leihen; München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, RL Regensburg 371, fol. 85v; Drucke: Regensburger Urkundenbuch, Bd. 1: Urkunden der Stadt bis zum Jahr 1350 (Monumenta Boica 53), München 1912, S. 602, Nr. 1097; Henriette Kurschel, Das ­„Älteste Stadtrechtsbuch“ der Reichsstadt Regensburg und seine Abschrift. Quellenkritische Studien und Edition, Diss. Graz 2000, S. 241f., Nr. 219; Regest mit weiterführender Literatur: Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 1, S. 42f., Nr. 528. 11 Dies wurde nicht nur, wie im Marburger Eingangsbeispiel, von den Schuldnern selbst, sondern auch von dritten Parteien genutzt. Als etwa Heinrich von Wallsee-Enns von der sowohl bei christlichen als auch jüdischen Gläubigern verschuldeten Familie Häusler deren Burg und Lehengüter erwarb, verlangte er unter anderem, dass diese nach dem landes recht Nachfrage under allen juden bezüglich weiterer eventueller auf den Gütern liegenden Belastungen halten und diese bei Bedarf begleichen sollten, s. Linz, Oberösterreichisches Landesarchiv [OÖLA], Starhemberger Urkunden Nr. 447, 1375 II 12. 12 Brugger (Anm. 8), S. 205; Lohrmann (Anm. 9), S. 205; vgl. auch Artur Rosenberg, Beiträge zur Geschichte der Juden in Steiermark (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in DeutschÖsterreich 6), Wien, Leipzig 1914, S. 12–14. Nach Lohrmann (Anm. 9), S. 205, war auch im zwischen 1350 und 1425 entstandenen steirischen Landrecht beim Tod eines Schuldners ein Siegelverruf in den wichtigsten Synagogen des Landes vorgesehen. 13 HHStA, AUR Uk. 1377  VI  29; Druck: Urkundenbuch des Landes ob der Enns, Bd.  9, Wien 1906, S.  273, Nr.  217; vgl. Klaus Lohrmann, Die Wiener Juden im Mittelalter, Berlin, Wien 2000, S.  118f.; GJ 3, 2 (Anm. 7), S. 674.





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richtsbarkeit diente, vor der vor allem Grund- und Abgabenstreitigkeiten ausgetragen und Besitzverhältnisse festgestellt wurden.14 Neben dem räumlichen Ziel wussten die Boten des Pfannberger Grafen aber auch (oder erfuhren es von dem Stadtrichter), an wen sie sich auf personeller Ebene zu wenden hatten. Auf christlicher Seite war dies der Judenrichter, ein vor allem in den Herzogtümern Österreich und Steiermark auftretender christlicher Amtsträger,15 dessen Kompetenzen in der Judenordnung 1244 als für Streitigkeiten beziehungsweise Regelungen zwischen Christen und Juden zuständig definiert wurden, und der in den Geschäftsurkunden hauptsächlich als Zeuge und / oder (Mit-)Siegler auftrat.16 Die Boten (oder die Bürger) wussten aber auch, wer ihr Ansprechpartner auf jüdischer Seite war: nämlich der Juden mesner, eine nicht nur im österreichischen Raum verwendete Bezeichnung für den Amtsdiener (Schammasch, Schulklopfer), dessen Funktionen innerhalb der jüdischen Gemeinde unter anderem das Zusammenrufen der Männer zum Gebet, das Ausrufen sowohl ritueller als auch allgemeiner Belange in der Synagoge, aber auch Botengänge für das jüdische Gericht umfasste. Auch wenn die Bezeichnung mesner eher in den kirchlich-gottesdienstlichen Bereich weist und eine Analogie mit den Aufgaben des Amtsdieners im rituellen Bereich herstellt, war man sich der vielfältigen Funktionen des Synagogendieners auf christlicher Seite ebenfalls bewusst.17 So diente er nicht nur teilweise als Ansprechpartner des Stadtrates, sondern wurde etwa auch bei Gerichtsstreitigkeiten, die eine Vorladung eines jüdischen Beklagten vor das offene Gericht erforderlich machten, herangezogen, indem er Anfragen durch das Gericht an jüdische Kläger oder Beklagte überbrachte oder die vom Gericht entsandten Fronboten begleitete.18 Dass er für diese

14 Beispielsweise vor der Wiener Bürgerschranne: Wien, Deutschordens-Zentralarchiv, Urkunde 1368 II 4: Der Jude Hebel klagt den Komtur des Deutschordenshauses in Wien auf die Gewährschaft für ein Haus; Wien, Wiener Stadt- und Landesarchiv [WStLA], Hauptarchiv-Urkunden [H.A.  Uk.], Nr. 833: Konrad Pernger klagt auf fünf Pfund versessenes Burgrecht samt Zwispilt auf dem Haus des Juden Merchlein. 15 Der erste iudex iudeorum tritt 1264 in Krems auf, s. Brugger u. Wiedl (Anm.  1), Bd.  1, S.  56f., Nr.  42. Mit Ausnahme von Böhmen und Mähren tritt der Judenrichter kaum in anderen Teilen des Heiligen Römischen Reichs auf, vgl. zu den wenigen Ausnahmen GJ 3, 3 (Anm. 7), S. 2190. 16 Brugger (Anm. 4), S. 149f.; Wiedl (Anm. 1), S. 290f.; dies., Juden in österreichischen Stadtrechten des Mittelalters, in: Österreichisches Archiv für Recht & Religion 57, 2 (2010), S. 257–272, hier S. 269f.; in leicht überarbeiteter Form auch dies., Codifying Jews. Jews in Austrian town charters of the 13th and 14th centuries, in: Merrall Price u. Kristine Utterback (Hgg.), Slay Them Not. Jews in Medieval Christendom, Leiden, Boston 2013, S. 201–222. 17 GJ 3, 3 (Anm. 7), S. 2092f. („Mesner“ für Breslau belegt); Martha Keil, Gemeinde und Kultur. Die mittel­ alterlichen Grundlagen jüdischen Lebens in Österreich, in: Brugger u. a. (Anm. 8), S. 15–122, hier S. 50f. 18 GJ 3,  3 (Anm.  7), S.  2093, Anm.  84 (Liste der Stadträte); St. Pölten, Niederösterreichisches Landesarchiv, Urkunden des Ständischen Archivs, Nr. 869: 1373, Anfrage des Gerichts; HHStA, AUR Uk. 1378 V 1: Judenmesner und Fronboten; letztere Aufgabe konnte auch vom Judenrichter übernommen werden, vgl. HHStA, AUR Uk. 1378 VIII 23: Entsendung von zwei Fronboten je zum christlichen und jüdischen Beteiligten, letzterer soll zusätzlich vom Judenrichter verständigt werden.



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Tätigkeiten auch in ‚privaten‘ Angelegenheiten zur Verfügung stand, zeigen etliche andere Dokumente neben der kleinen Marburger Urkunde, die aber eine ungewöhnlich detaillierte Beschreibung des Vorgangs liefert.19 Ebenso wenig wie die Synagoge20 selbst waren auch, trotz der auf Separation ausgerichteten kirchlichen (und auch auf rabbinischer Seite bestehenden) Bestrebungen,21 die sie umgebenden Straßenzüge kein abgeschlossener, ‚exklusiv jüdischer‘ Raum innerhalb der Stadt.22 Häuser (und andere Liegenschaften wie etwa Weingärten)23 in jüdischem Besitz dienten als Lokalisierungsangaben für christlichen Grundbesitz.24 Umgekehrt wurden Häuser mit christlichen Eigentümern durchaus als in under den juden bezeichneten Straßenzügen gelegen bezeichnet – als etwa Herzog Albrecht III. 1380 dem Juden Isserlein und den anderen Wiener Juden gestattete, das Tor in unser judenstat ze Wienn vermauert zu belassen, wurde die dahinter liegende Gasse der „Judenstadt“ nicht nur durch das Haus Isserleins, sondern auch durch die danebenliegenden Häusern zweier Wiener Bürger lokalisiert.25 Jüdischer Grund- und Hausbesitz konnte aus Pfändern resultieren, die nach Nichtauslösung dem Gläubiger verfallen waren, das heißt in sein Eigentum übergin-

19 Keil (Anm. 17), S. 50; die von Joseph Chmel, Monumenta Habsburgica I, Bd. 2, Wien 1855, S. 930, Nr. 1305: ir [zweier steirischer Adeliger] brief und sigl in den judenschulen durch die juden mesner be­ ruffen zu lassen regestierte Urkunde wurde von Johann Egid Scherer, Die Rechtsverhältnisse der Juden in den deutsch-österreichischen Ländern: Mit einer Einleitung über die Principien der Juden­ gesetzgebung in Europa während des Mittelalters (Beiträge zur Geschichte des Judenrechtes im ­Mittelalter 1), Leipzig 1901, S. 246, und Rosenberg (Anm. 12), S. 13, allerdings als allgemein gültiges Mandat verstanden. 20 Inwieweit Christen anlässlich von Gerichtsprozessen, Siegelverrufen u.  a. selbst Einlass in die ­Synagoge fanden, ist schwer festzustellen. In gegen Juden gerichteten Aktionen zeigten sie jedenfalls keine Scheu, dies zu tun: Um 1450 beispielsweise drangen christliche Büttel in die Wiener Neustädter Synagoge ein, um Rabbi Meisterlein zu verhaften, vgl. Martha Keil, Nähe und Abgrenzung. Die mittelalterliche Stadt als Raum der Begegnung, in: Institut für jüdische Geschichte Österreichs (Hg.), Nicht in einem Bett. Juden und Christen in Mittelalter und Frühneuzeit, St. Pölten 2005, S. 1–8, hier S. 1. 21 1267 wurde in der Breslauer Provinzialsynode ein enges Zusammenleben zwischen Juden und Christen ausdrücklich untersagt, vgl. Markus Wenninger, Von der Integration zur Segregation. Die Entwicklung deutscher Judenviertel im Mittelalter, in: Brugger u. Wiedl (Anm. 7), S. 195–217, hier S. 199–201; allgemein Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich (Enzyklopädie deutscher Geschichte 44), 3., um einen Nachtrag erw. Aufl. München 2013, S. 40–45; Keil (Anm. 20), S. 1. 22 Vgl. vor allem die Arbeit von Wenninger (Anm. 21); ders., Grenzen in der Stadt? Zur Lage und Abgrenzung mittelalterlicher deutscher Judenviertel, in: Wenzel (Anm.  2), S.  9–29. Vgl. auch Keil (Anm. 7), S. 170–173. 23 Beispielsweise der Weingarten des Wiener Juden David Steuss am Kahlenberg (heute Wien XIX), der neben dem einer Stiftung Elisabeths von Laa an das Stift Klosterneuburg lag, s. Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 1, S. 92, Nr. 636. 24 Ein Haus des David Steuss diente auch als Lokalisierung eines Hauses in einem Erbschaftsstreit unter Wiener Bürgern, Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 2, S. 319, Nr. 1108; weitere Beispiele ebd., S. 50, Nr. 545: Regensburg; 117, Nr. 687; 156, Nr. 772: Wien; 308–310, Nr. 1085–1087, Nr. 1090: Friesach. 25 HHStA, AUR Uk. 1380 XI 26.





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gen. Anlässlich eines eventuellen Weiterverkaufs durch diesen (oder durch Dritte, die das Gut ausgelöst hatten) wurde oft ausdrücklich in der Urkunde notiert, dass der Jude das verfallene Pfand rechtmäßig in seinem Besitz hatte; manchmal wurde diese Rechtmäßigkeit auch mittels einer eigenen Urkunde festgehalten, die dann im Rahmen des Weiterverkaufs an den neuen Besitzer übergeben wurde.26 Aus jüdischem Hausbesitz kann daher nicht unbedingt auf jüdische Bewohner geschlossen werden, wie auch jüdischer (Pfand-)Besitz von landwirtschaftlichen Nutzflächen wie Weinbergen und Äckern nicht zwingend eine landwirtschaftliche Tätigkeit der Besitzer impliziert.27 Zeitlich beschränkte Verpfändungen beziehungsweise Übergaben von Nutzflächen oder Diensten wurden von Seiten der christlichen Schuldner oft auch als Abzahlungsmöglichkeit genutzt, indem sich die Schuldner durch die zeitweilige den Juden zugestandene Einziehung der Erträge beziehungsweise der Abgaben eines Teils ihrer Schulden und / oder der Zinszahlungen entledigen konnten. Häuser, Liegenschaften und Nutzflächen sowie Rechte auf Abgaben waren aber auch Gegenstand von Transaktionen ohne vorhergegangenes Kredit- oder Pfandgeschäft, wie Geschäftsurkunden, aber auch Eintragungen in Satz- und Gewerbüchern sowie Urbaren belegen;28 auch gemeinsamer Haus- beziehungsweise Grundbesitz von Juden und Christen stellte zwar keine häufige, aber dennoch vorkommende Ge­gebenheit dar.29 Die Übereinstimmungen der Urkundenformeln zwischen Kaufund Verkaufsurkunden christlicher und jüdischer (Ver-)Käufer untermauern die auch in seriellen Quellen wie Satz- und Grundbüchern sowie Urbaren belegte gleiche Rechtsgrundlage – Juden kaufen und verkaufen zu Stadt-, Burg- und Bergrecht und übernahmen als Verkäufer die Gewährleistung bezüglich eventueller Ansprüche Dritter (schirm); sie ließen sich an die Gewer setzen und zahlten die auf den Häusern und Grundstücken liegenden Abgaben wie Dienste und Renten an den jeweiligen Grundherren. Bauliche Regelungen, die stadt- oder landrechtlichen Bestimmungen

26 Stiftsarchiv Klosterneuburg, Uk. 1379 VII 11. 27 Siehe allg. dazu v.  a. Michael Toch, Peasants and Jews in Medieval Germany. Studies in Cultural, Social and Economic History (Variorum collected studies series 757), Aldershot u. a. 2003, sowie ders., Economic Activities of German Jews in the Middle Ages, in: ders. (Hg.), Wirtschafts­geschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen (Schriften des Historischen Kollegs, Kol­ loquien 71), München 2008, S. 181–210, hier v. a. S. 206f. (zu den dokumentierten Ausnahmen); ders., Ein ungelöstes Kapitel in der Wirtschaftsgeschichte der Juden. Landbesitz vom 8. bis 11. Jahrhundert, in: Lukas Clemens u. Sigrid Hirbodian (Hgg.), Christliches und jüdisches Europa im Mittelalter. Kolloquium zu Ehren von Alfred Haverkamp, Trier 2011, S. 189–196. 28 So verkaufte etwa 1358 der Jude Mosche aus dem niederösterreichischen Perchtoldsdorf seinen halben Hof, den er als „rechtes Kaufgut“ erworben hatte; im selben Jahr verkauften ein Marburger Bürger und der dort ansässige Jude Chatschim gemeinsam eine Gülte an das Spital zu Marburg/Maribor, s. Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 2, S. 199f., Nr. 867f. 29 HHStA, Urkunden Hofburgpfarre, Nr. 38: Verkauf eines Hauses mit Hofstatt und Weingarten vor Wien durch Konrad Knab und den Ödenburger Juden Isserlein (1380).



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unterlagen, wurden entweder bereits in den Kaufurkunden festgehalten oder im Rahmen nachbarschaftlicher Streitigkeiten geregelt.30 Nachbarschaftliche Zwistigkeiten konnten etwa aufgrund von Rauch- und Geruchsentwicklungen entstehen, die wegen der mangelhaften Bauweise des Rauchfangs und der Küche, die der jüdische Besitzer im Hof seines an das Wiener Rathaus grenzenden Hauses errichtet hatte, so stark waren, dass der Rauch sowie üble Gerüche nicht nur in die angrenzenden Wohnräume des Kaplans der Rathauskapelle zogen, sondern auch in der Kapelle während der Frühmesse wahrnehmbar waren. Wie in anderen, ähnlichen Fällen wurden städtische Beschauer entsandt,31 die über die Art der Behebung der Baumängel beschieden.32 Auch anlässlich von Besitzerwechseln wurde immer wieder danach getrachtet, dem neuen Besitzer bauliche Änderungen aufzuerlegen, die entweder Mängel beheben oder neuen vorbeugen sollten, während der Käufer bestrebt war, etwaige bereits bestehende Bauschäden noch durch den Verkäufer abdecken zu lassen. So schlossen der Wiener Jude David Steuss und der Bürger Peter Püchler anlässlich des Verkaufs eines (zwischen zwei christlichen Häusern liegenden) Hauses an David Steuss einen umfangreichen Kaufvertrag ab,33 der Davids

30 Vgl. allgemein Benjamin Laqua, Nähe und Distanz. Nachbarrechtliche Regelungen zwischen Christen und Juden (12.–14. Jahrhundert), in: Sigrid Hirbodian u. a. (Hgg.), Pro multis beneficiis, Festschrift für Friedhelm Burgard. Forschungen zur Geschichte der Juden und des Trierer Raums (Trierer Historische Forschungen 68), Trier 2012, S. 73–92, vor allem S. 77–90. 31 Beschauer wurden auch eingesetzt, um den Wert von Grundstücken und Häusern zu schätzen, z. B. HHStA, AUR Uk. 1378 V 1: Vier städtische Beschauer schätzten den Weingarten der Witwe des Judenmeisters Tenichel; OÖLA, Stadtarchiv Enns, Unterbestand Mandate, 1383 V 24: Herzog Albrecht III. ordnet die Beschau eines Gutes des Juden Mosche an, da dieser eines Überfangs beschuldigt wird. 32 WStLA, H.A. Uk. Nr.  831; ausführliches Regest in Quellen zur Geschichte der Stadt Wien [im Folgenden: QuGStW], Bd.  2: Regesten aus dem Archive der Stadt Wien, Teil  1: Verzeichnis der Originalurkunden des städtischen Archivs 1239–1411, Wien 1898, S.  199, Nr.  831: Der Jude musste die (ohnehin ungenehmigte) Küche aus dem Hof entfernen, durfte den Rauchfang jedoch mit der Auflage, ihn etwas höher zu bauen, stehenlassen. Das Haus, später dem Rathaus angegliedert (heute beides Wipplingerstrasse 8, Wien I), befand sich spätestens seit der ersten Hälfte des 14. Jhs. im Besitz einer in mehreren Städten des heutigen Österreich ansässigen jüdischen Familie und lag zwischen einem Haus in jüdischem und einem in christlichem Besitz am Eck des zum Judentor führenden Gässchens, s. Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 2, S. 117, Nr. 687, mit weiterer Literatur. 1391 verkaufte es der Urenkel des ersten (belegten) jüdischen Besitzers, s. Rudolf Geyer u. Leopold Sailer, Urkunden aus Wiener Grundbüchern zur Geschichte der Wiener Juden im Mittelalter (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutschösterreich  10), Wien 1931, S.  56, Nr.  480; vgl. zur Familie Wilhelm Wadl, Geschichte der Juden in Kärnten im Mittelalter. Mit einem Ausblick bis zum Jahre 1867 (Das Kärntner Landesarchiv 9), 3. Aufl. Klagenfurt 2009, S. 209–222: Familie des Nachman aus Friesach; zum Haus s. Ignaz Schwarz, Das Wiener Ghetto, seine Häuser und seine Bewohner (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutschösterreich 2), Wien, Leipzig 1909, S. 88–91, 133 (Nr. 40). 33 David Steuss war in den 1360er–1380er Jahren der bedeutendste jüdische Geldleiher in den habsburgischen Ländern und Geschäftspartner sowohl der Herzöge Rudolf IV., Albrecht III. und Leopold III. als auch des Hochadels, aber auch etlicher Bürger und Städte, vgl. Lohrmann (Anm. 13), S. 132f.; Birgit Wiedl, Die Kriegskassen voll jüdischen Geldes? Der Beitrag der österreichischen Juden





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Verpflichtungen zu und Rechte auf bauliche Änderungen umfasste. Detailliert wurden dabei – bereits bestehende sowie potentielle – Problemquellen wie durch Änderungen der Dachhöhe und -schräge in andere Höfe laufendes Regenwasser, die Beschädigung der Grenzmauern durch den fehlerhaften Abfluss eines Abtritts, die Einsichtigkeit des Hofes durch umliegende Fenster sowie die Rechtmäßigkeit von zukünftigen Zubauten geregelt;34 ein gegenseitiger Kompromiss zwischen den Wünschen des Käufers und des Verkäufers, bei dem pragmatische Aspekte, die Frage nach Kosten (beziehungsweise der Befreiung davon) und die Sicherung des eigenen Besitzes im Mittelpunkt standen.35 Urkunden zu solchen Streitigkeiten enthalten aber auch Informationen, die über bauliche Details hinausgehen. So musste David Steuss im Jahr 1380 in Klosterneuburg vor Gericht erscheinen, da sich das Stift Klosterneuburg über bauliche Mängel an Davids neben der Synagoge und der Stiftsoblei liegendem Haus in Klosterneuburg beschwert hatte: Das Regenwasser rann in den Hof der Oblei, und der Abtritt des Judenhauses beschädigte die Mauer. Der von Schiedsleuten erzielte (und auch für eventuelle christliche Nachbesitzer geltende) Kompromiss betraf vor allem bautechnische Details der Mauern sowie die Besitzverhältnisse an diesen; von besonderer Bedeutung ist hier die letzte Bestimmung des Schiedsgerichts: Das Regenwasser dürfe weiterhin durch den Hof der Oblei geleitet werden, die Juden dürften jedoch weder Unflat, Abwässer oder Blut in dieses Wasser schütten.36 Der Umstand, dass sich entweder bereits Blut im Regenwasser befunden hatte, oder man von Seiten der Oblei befürchtete, dass dies geschehen könnte, lässt interessante Rückschlüsse zu. Der Zugang zu koscherem Fleisch wurde Mitgliedern größerer jüdischer Gemeinden meist durch einen eigenen Schächter, manchmal sogar ein eigenes Schlachthaus, gewährleistet;37 in kleineren Ansiedlungen behalf man sich entweder mit Hausschächtungen oder nutzte das christliche Schlachthaus mit. Im gesamten Aschkenas auftretende Vorschriften bezüglich des Verkaufs der­ jenigen Fleischteile, die von den Juden aus rituellen Gründen nicht verzehrt werden

zur Kriegsfinanzierung im 14. Jahrhundert, in: Wolfram Dornig, Walter Iber u. Johannes Giessauf (Hgg.), Krieg und Wirtschaft von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, Graz 2010, S. 241–260. 34 HHStA, AUR Uk. 1372 IX 2; ausführliches Regest in QuGStW, Bd. 1: Regesten aus in- und ausländischen Archiven mit Ausnahme des Archives der Stadt Wien, Teil 3, Wien 1897, S. 254f., Nr. 3303. 35 Vgl. als zeitnahe Beispiele zwischen Christen die detaillierten Abmachungen bezüglich einer Mauer beziehungsweise die (Um-)Bauten anlässlich einer Aufteilung eines Hauses in QuGStW, Bd. 1, S. 282, Nr. 3393; 284, Nr. 3398; ein Kölner Beispiel bei Laqua (Anm. 30), S. 81, Anm. 30. 36 Stiftsarchiv Klosterneuburg, Uk. 1380 IV 8; Druck bei Hartmann Zeibig, Urkundenbuch des Stiftes Klosterneuburg bis zum Ende des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. 2 (Fontes Rerum Austriacarum 28), Wien 1868, S. 6–8, Nr. 497. 37 Vgl. die einzelnen Städteartikel in GJ 2 und GJ 3 (Anm. 7) jeweils unter Punkt 6; in Österreich hatten die Gemeinden von Krems (GJ 3, 1, S. 678) und Wien (GJ 3, 2, S. 1598) einen eigenen Schächter, Wien und Wiener Neustadt hatten zudem ein eigenes Schächthaus, s. Keil (Anm. 16), S. 40.



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durften,38 an Christen belegen das (zumindest von christlicher Seite) hohe Konfliktpotential, dem sowohl wirtschaftliches Konkurrenzdenken der christlichen Fleischhauer als auch tiefergehende Assoziationen auf sprachlicher und räumlicher Ebene von Juden mit Verdorbenem, mit für die Christen Schädlichem zugrunde lagen.39 Die ‚Klosterneuburger Schlichtungsurkunde‘ stellt in diesem Zusammenhang eine immens wertvolle Quelle dar, ist doch der Ursprung des Blutes im Hof der Juden wohl in dort stattgefundenen Schächtungen zu vermuten, wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass neben David Steuss die gesamte jüdische Gemeinde Klosterneuburgs zur Verhandlung erschienen war.40 Können aber Geschäftsurkunden auch darin Einblicke geben, inwieweit sich die tatsächlichen Lebensräume der Nachbarn überschnitten? Aus anderen Quellen wie beispielsweise Gerichtsprotokollen lässt sich ein gegenseitiges Betreten von Häusern und Wohnräumen durchaus häufiger nachweisen,41 auch wenn diese Ereignisse oft dann festgehalten wurden, wenn das alltägliche, friedliche Miteinander umgeschlagen war: In seiner Aussage über die aufgrund einer angeblichen Hostienschändung ermordeten Juden der niederösterreichischen Stadt Korneuburg gab einer der Korneuburger Bürger an, zum Zeitpunkt der Auffindung der Hostie im Haus des Juden

38 Vgl. Christine Magin, „Wie es umb der iuden recht stet.“ Der Status der Juden in spätmittelalterlichen Rechtsbüchern, Göttingen 1999, S. 332–352. Ebenfalls einen Überblick über den deutschsprachigen Raum gibt Anton Eggendorfer, Die Tullner Fleischhauerordnung 1267, in: Mitteilungen aus dem niederösterreichischen Landesarchiv 4 (1980), S. 12–24; s. a. Wiedl (Anm. 16), S. 264–266; dies. (Anm. 1), S. 296–299, mit den Quellen- und Literaturverweisen. Für den österreichisch-bayerischen Raum vgl. auch den alten, aber immer noch brauchbaren Überblick bei Scherer (Anm. 19), S. 577f.; für den sephardischen Raum vgl. David Nirenberg, Communities of Violence. Persecution of Minorities in the Middle Ages, Princeton 1996, S. 169–172, und Ray (Anm. 4), S. 262. 39 Bereits die Wiener Synode von 1267 warnte die Christen davor, Fleisch und andere Speisen von Juden zu kaufen, da diese sie auf diesem Weg zu vergiften trachteten, Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 1, S. 59–61, Nr. 45. Der oft gemeinsame Verkauf von „Judenfleisch“ mit trichinösem Fleisch und jenem verletzter Tiere, oft klar gekennzeichnet und von den christlichen Fleischbänken getrennt, untermauerte die Assoziation, die nicht zufällig in den äußerst wichtigen und sich überschneidenden Bereichen „Markt“ und „Nahrungsmittel“ häufiger zu finden war, vgl. die Literaturangaben in Anm. 37 u. 38. 40 Vgl. Klaus Lohrmann, Die Juden im mittelalterlichen Klosterneuburg, in: Floridus Röhrig (Hg.), Klosterneuburg. Geschichte und Kultur, Bd. 1: Die Stadt, Klosterneuburg, Wien 1992, S. 209–223, hier S. 212, 214. 41 Markus Wenninger, Nicht in einem Bett – aber doch auf einer Hochzeit. Zur Teilnahme von Christen an jüdischen Festen im Mittelalter, in: Institut für jüdische Geschichte Österreichs (Anm.  20), S. 10–17, hier S. 13f.; Wiedl (Anm. 1), S. 273 (beide mit weiterer Literatur). Vgl. allgemein zum Haus als Ort sozialer Kontakte Joachim Eibach, Das Haus. Zwischen öffentlicher Zugänglichkeit und geschützter Privatheit (16.–18. Jh.), in: Gerd Schwerhoff u. Susanne Rau (Hgg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln 2004, S.  183–205; Pas­cale Sutter, Von guten und bösen Nachbarn. Nachbarschaft als Beziehungsform im spätmittelalterlichen Zürich, Zürich 2002.





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gewesen zu sein, zwei weitere Bürger hatten zudem (vergeblich) versucht, einen der Juden dadurch zu retten, indem sie ihn im Haus eines anderen Christen versteckten.42 Die Kunden der kleinen Pfandleiher, deren Transaktionen gar nicht erst schriftlich fixiert wurden, tätigten ihre Geschäfte wohl auch im (oder vor dem) Haus des jüdischen Geschäftspartners, während jüdische Geldleiher, die eine höhere soziale Klientel bedienten, sich wahrscheinlich eher zu ihrem adeligen (oder gar herrscherlichen) Geschäftspartner begaben.43 In zwei Urkunden des Jahres 1235 ist eine bemerkenswerte Ausnahme ausdrücklich festgehalten: in domo Techani iudei, „im [Wiener] Haus des Juden Teka“, hatte der Adelige Poppo von Peggau dem Stift Reichersberg mehrere Güter übergeben. Mehrere seiner milites und Diener sowie Angehörige der familia des Stiftes waren beim Geschäftsabschluss zugegen; die Liste der Zeugen führte aber dennoch Teka an, da durch seine Vermittlung das Geschäft erst zustande gekommen war – eine Information, die auch in die Annalen des Klosters aufgenommen wurde.44 Teka, der vor allem in Ungarn, aber auch im Herzogtum Österreich tätig war und in beiden Gebieten Besitzungen hatte,45 nahm zweifelsfrei eine hohe soziale Stellung ein, die auch darin ihren Ausdruck findet, dass, im Gegensatz zu ihm, die gemeinsam mit ihm die Güter zu Pfand innehabenden Wiener Bürger in keiner der Urkunden namentlich genannt werden.

42 Die geistliche Untersuchungskommission, die vor allem die ‚Echtheit‘ der Korneuburger Wunderhostie zu untersuchen bestrebt war, ließ dabei sowohl die Anwesenheit eines Christen in einem jüdischen Haus als auch die eines Juden in einem christlichen unkommentiert, vgl. Birgit Wiedl, The Host on the Doorstep. Perpetrators, Victims, and Bystanders in an Alleged Host Desecration in FourteenthCentury Austria, in: Albrecht Classen u. Connie Scarborough (Hgg.), Crime and Punishment in the Middle Ages and Early Modern Age. Mental-Historical Investigations of Basic Human Problems and Social Responses (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 11), Berlin, Boston 2012, S. 299–346, hier S. 307; Miri Rubin, Gentile Tales. The Narrative Assault on Late Medieval Jews, New Haven, London 1999, 2.  Aufl. Philadelphia 2004, S.  57–64; Winfried Stelzer, Am Beispiel Korneuburg: Der angebliche Hostienfrevel österreichischer Juden von 1305 und seine Quellen, in: Willibald Rosner (Hg.), Österreich im Mittelalter. Bausteine zu einer revidierten Gesamtdarstellung (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 26 / Niederösterreichische Schriften. Wissenschaft 109), St. Pölten 1999, S. 309–348. 43 Keil (Anm. 20), S. 4. 44 Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 1, S. 24–26, Nr. 11, 12, 14. 45 Ebd., Bd. 1, S. 21–24, Nr. 8, 10 (zu den Gütern in Ungarn); S. 34, Nr. 23f.; 75f., Nr. 59; 80, Nr. 66; 103, Nr. 101 (als Kammergraf König Andreas’ II.); S. 20f., Nr. 7 (als Bürge Herzog Leopolds VI.); vgl. Alfons Dopsch, Die landesfürstlichen Urbare Nieder- und Oberösterreichs aus dem 13. und 14. Jahrhundert (Österreichische Urbare 1, 1), Wien, Leipzig 1904, S. 12, Nr. 26 (als Inhaber eines herzoglichen Lehens).



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Ein wichtiger Teil einer typischen Geschäftsurkunde46 besteht aus der Auflistung der Pfänder.47 Pfänder wurden entweder als Sicherstellung eines Darlehens eingesetzt, wobei sie bereits mit Aufnahme des Kredits in den Pfandbesitz des Kreditgebers übergingen, oder für den Fall einer nicht fristgerechten Rückzahlung als Sicherheit gestellt. Im zweiten Fall wurden oft nicht konkrete Grundstücke, Objekte oder Einkünfte angegeben, sondern „alle unsere Besitzungen in Österreich und anderswo“ als Sicherheit gestellt, aus denen bei Verzug der Rückzahlung entweder die Juden berechtigt sein sollten, sich schadlos zu halten, oder der Landesfürst als zwischen­ geschaltete Instanz diese entschädigen sollte. Obwohl das kleine Pfandwesen im Lauf des späten 14. Jahrhunderts immer mehr der Kontrolle der an Einfluss gewinnenden Städte unterzogen wurde,48 war der durch Nichtauslösung drohende Verlust der verpfändeten Gegenstände, Güter und Einkünfte und der Übergang in den Besitz des Juden stets rechtlich gedeckt und wurde in den Urkunden auch meist festgehalten: als er uns ist verstanden,49 oder den wir [...] mit recht in unser gewalt pracht haben,50 lauten zwei der gängigsten Formulierungen, mit denen die Rechtmäßigkeit des Besitzübergangs betont wurde. Durch Regelungen zum Ausschluss bestimmter Gegenstände wie etwa blutiger und nasser Kleidungsstücke,51 die im gesamten aschkenasischen Raum in verschiedenen Ausprägungen verbreitet waren, trachtete man vor allem nach der Kontrolle der Verpfändung (vermeintlich) gestohlener Güter;52 zusätzliche Einschränkungen

46 Vgl. die Übersicht über eine typische Schuldurkunde des 14. Jhs. bei Wadl (Anm. 32), S. 36–38. Der Aufbau einer Schuldurkunde (sowie ebenfalls aus einem Kreditgeschäft resultierender Urkunden wie etwa Quittbriefe oder Schadlosbriefe an die Bürgen) unterlag vom frühen 14. bis zum 15. Jh. einigen Änderungen, vor allem im Formular, vgl. Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 1, sowie dies. (Anm. 4). Zur Entwicklung des „Tötbriefs“ vgl. Eveline Brugger, „So sollen die brief ab und tod sein“. Landesfürstliche Judenschuldentilgungen im Österreich des 14.  Jahrhunderts, in: Aschkenas 20,  2 (2010), S. 329–341, hier S. 332f.; allgemein Toch, Activities (Anm. 27), S. 193. 47 Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 1, S. 296f. 48 Wiedl (Anm.  1), S.  291f.; dies. (Anm.  16), S.  266–268. Trotz steigender Bedeutung blieben die Städte des heutigen Österreichs weitgehend unter der Kontrolle des jeweiligen Landes- beziehungsweise Stadtherren. 49 Pokrajinski arhiv Maribor (Regionalarchiv Marburg), Urk. Nr. 24; Druck in: Gradivo za zgodovino Maribora v srednjem veku [Materialien zur Geschichte Marburgs], Bd. 4, Maribor 1978, Nr. 84. 50 Klagenfurt, Kärntner Landesarchiv, A 512. 51 Im österreichischen Raum bereits in der Judenordnung von 1244, in etlichen Stadt- und Judenordnungen durch weitere Gegenstände ergänzt, s. Wiedl (Anm. 16), S. 262, und Magin (Anm. 38), bes. S. 356–397; vgl. auch den Literaturüberblick bei Jörg R. Müller, „Gestolen und ainem juden versetzt“. Jüdische Pfandleiher zwischen legaler Geschäftspraxis und Hehlereivorwurf, in: Aschkenas 20,  2 (2010), S. 439–478, hier S. 451f., Anm. 36. 52 Zur Diskussion über das sogenannten Marktschutzrecht vgl. den Überblick bei Toch (Anm. 21), S.  109f.; Magin (Anm.  38), S.  352–399, und Müller (Anm.  51), S.  443–452. Zu den vieldiskutierten talmudischen Wurzeln des ,Marktschutzrecht‘ vgl. Friedrich Lotter, Talmudisches Recht in den ­Judenprivilegien Heinrichs  IV.? Zu Ausbildung und Entwicklung des Marktschutzrechts im frühen





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wie etwa eine nur in der Öffentlichkeit und / oder bei Tageslicht gestattete Pfandübergabe unterstrichen diese Intention.53 Als besonders heikel erwiesen sich Verpfändungen von Kirchengeräten an Juden, die sowohl in weltlicher als auch kirchlicher Gesetzgebung problematisiert wurden.54 Zum einen sollte die Verpfändung aus Kirchen gestohlener Gegenstände verhindert werden,55 zum anderen spielte die besondere Funktion von Kirchengeräten und die damit verbundene Sakralität auch der Objekte selbst eine zentrale Rolle, die christliche Vorstellungen eines poten­ tiellen Missbrauchs der Sakralgeräte durch Juden reflektierte.56 Auch von Seiten der Juden, die sich der Gefahr durchaus bewusst waren, bestand daher ein Interesse, die Annahme dieser Pfänder verweigern zu können;57 in rabbinischen Schriften finden sich daher ebenfalls Verbote, solche Gegenstände als Pfänder zu akzeptieren.58 Während religiöse Kleinode aus Privatbesitz diesen Regelungen nicht unterworfen waren und durchaus zu den oft gemeinsam mit Schmuckgegenständen versetzten Pfandgegenständen gehörten,59 kam hinsichtlich zu einem Kirchenschatz gehörigen Gütern auch die Problematik des ‚Besitzers‘ dazu. Die heute als ‚Admonter Riesen­ bibel‘60 bekannte Prunkhandschrift war um 1263 an den in Eisenburg/Vasvár ansäs-

und hohen Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990), S. 23–61; Michael Toch, The Economic History of European Jews. Late Antiquity and Early Middle Ages (Études sur le Judaïsme Médié­ val  56), Leiden, Boston 2013, S.  211. Gemäß dem österreichischen Judenrecht von 1244 konnte ein jüdischer Pfandleiher, bei dem ein gestohlener Gegenstand gefunden wurde, beeiden, dass ihm die unrechtmäßige Herkunft des Pfandes nicht bekannt gewesen war, Brugger (Anm. 8), S. 155. 53 Magin (Anm. 38), S. 356f.; Müller (Anm. 51), S. 439, 451f.; ders., Eine jüdische Diebesbande im Südwesten des Reiches in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Beziehungsnetze aschkenasischer Juden während des Mittelalters und der Neuzeit (Forschungen zur Geschichte der Juden 20), Hannover 2008, S. 71–116, hier S. 83–85. 54 Müller (Anm. 51), S. 462–466; ders., Zur Verpfändung sakraler Kultgegenstände im mittelalter­ lichen Reich. Norm und Praxis, in: Hirbodian u.  a. (Anm.  30), S.  179–204; Joseph Shatzmiller, ­Church Articles. Pawns in the Hands of Jewish Moneylenders, in: Toch, Wirtschaftsgeschichte (Anm. 27), S. 93–102; sowie mit dem Fokus auf Kulturtransfer ders. (Anm. 2), S. 22–44. 55 Vgl. die Beispiele in Müller (Anm. 51), und ders. (Anm. 54). 56 Shatzmiller (Anm. 54), S. 95–97. 57 Müller (Anm. 51), S. 470; Shatzmiller (Anm. 54), S. 97. 58 Martha Keil, Heilige Worte, Schriften des Abscheus. Der Umgang mit Büchern als Paradigma des jüdisch-christlichen Spannungsverhältnisses, in: Karl Brunner u. Gerhard Jaritz (Hgg.), Text als Realie (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 18 / Sitzungsberichte Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl.  704), Wien 2003, S. 49–61, hier S. 52; Shatzmiller (Anm. 54), S. 97–99 u. ders. (Anm. 2), S. 26–28. 59 So hatte etwa der Wiener Neustädter Bürger Reinprecht Laher neben einem Perlenhalsband auch ein vergoldetes Silberkreuz und einen Paternoster an den Juden Joseph verpfändet, in dessen Besitz sie bei Nichtbezahlung übergehen sollten, vgl. Keil (Anm. 58), S. 53f. 60 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Series nova 2701, der Verpfändungsvermerk auf fol. 3r; vgl. Andreas Fingernagel, Die Admonter Riesenbibel (Codices Illuminati 1/Österreichische Nationalbibliothek A 1), Graz 2001, der auch die Herausgabe der Handschrift in der Reihe „Codices Manuscripti“ auf CD bewerkstelligt hat (Codices Manuscripti, CD 1, Purkersdorf 1998). Vgl. auch Paul



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sigen Juden Lublin61 verpfändet worden. Verpfändet hatte die Bibel jedoch nicht das Kloster Csatár, dem sie gehörte, sondern deren Patron, der nach nicht erfolgter Rück­lösung dem Kloster als Entschädigung etliche Güter übertragen musste.62 Die Übergabe dieser Güter wurde von einem anderen Kloster, St. Adrian in Zalavár, bestätigt, was darüber spekulieren lässt, ob die Bibel an Lublin selbst oder an das Kloster St. Adrian zur Aufbewahrung übergeben worden war;63 bei Nichtbezahlung der Schulden war allerdings eine Rückgabe der Bibel an Lublin (und nicht an Zalavár) vorgesehen.64 Trotz des vom Kloster eingeforderten Schadenersatzes und der mög­lichen ‚Hinterlegung‘ der Bibel in einem anderen Kloster wurde weder die Recht­mäßigkeit der Verpfändung an sich angezweifelt noch die Verpfändung an einen Juden problematisiert. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch im Rahmen einer Kirchengutverpfändung, die einen sich über Jahre hinziehenden Streit auslöste: die Verpfändung der zum Gurker Kirchengut gehörenden Infel und des Bischofsstabs an Juden durch den auch ander­ weitig hoch verschuldeten Bischof Paul von Jägerndorf.65 Nach dessen Wechsel auf das Bistum Freising drängte sein Gurker Nachfolger Johann II. Ribi von PlatzheimLenzburg auf die Begleichung der Schulden durch Paul und die Rückgabe der Gegenstände, was dieser jedoch verweigerte.66 Die Verpfändung an (nicht namentlich genannte) Juden war zwar mit dem Zusatz sub usurarum voragine und dem Hinweis auf die dadurch stark angestiegene Schuldsumme versehen, die Rechtmäßigkeit der Annahme der Pfänder von jüdischer Seite und damit der Anspruch der Juden auf die

Buberl, Die illuminierten Handschriften in Steiermark, Teil 1: Die Stiftsbibliotheken zu Admont und Vorau (Beschreibendes Verzeichnis der illuminierten Handschriften in Österreich 4, 1), Leipzig 1911, S. 17–34. 61 Lublin war als Kammergraf des österreichischen Herzog Ottokars Inhaber mehrerer Güter in Ungarn und Steuerpächter der ungarischen Königin einer der bedeutendsten Juden des österreichischungarischen Raumes dieser Zeit, vgl. Brugger u. Wiedl (Anm.  1), Bd.  1, S.  50f., Nr.  38 u. S. 65f.; Nora Berend, At the Gate of Christendom. Jews, Muslims and ‚Pagans‘ in Medieval Hungary, c. 1000– c. 1300, Cambridge 2001, S. 118; Lohrmann (Anm. 9), S. 87–91. Lublins Vater Henel war Kammergraf des ungarischen Königs gewesen, s. Berend (Anm. 61), S. 127. 62 Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 1, S. 55f., Nr. 40, 41. 63 Vgl. auch Magin (Anm. 38), S. 383–385 u. 391–398 (div. Beispiele), Müller (Anm. 54), S. 199f., sowie ders. (Anm.  51), S.  466: Vorschrift des Meißener Rechtsbuches aus dem 14.  Jh., dass Juden ­Kirchengeräte als Pfänder nehmen dürfen, diese aber bei Christen aufbewahrt werden müssen. 64 Zur Problematik verpfändeter christlicher Bücher von jüdischer Seite vgl. Shatzmiller (Anm. 2), S. 22–28 und Keil (Anm. 58), S. 52f. 65 So stellte er etwa 1355 den in Marburg und Cilli ansässigen Brüdern Mosche und Chatschim Bürgen über eine Schuld von 2613 Gulden, s. Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 2, S. 170, Nr. 804. Vgl. allgemein Wadl (Anm. 32), S. 41f.; Jakob Obersteiner, Die Bischöfe von Gurk, Bd. 1 (Aus Forschung und Kunst 5), Klagenfurt 1969, S. 155–163. 66 Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 2, S. 245f., Nr. 957 (Schreiben Papst Innozenz’ VI.); 262f., Nr. 991 (Schiedsspruch Herzog Rudolfs IV.). Vgl. Wadl (Anm. 32), S. 42f.; Obersteiner (Anm. 64), S. 168; s. a. einen ähnlichen Fall in Kalabrien 1370 bei Shatzmiller (Anm. 54), S. 101f.





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Pfandsumme bei Auslösung wurde jedoch nicht infrage gestellt. Zudem waren Infel und Bischofsstab zwar als kirchliche Insignien von besonderer Wichtigkeit, stellten jedoch in der Liste der Rücklösungen, zu denen Herzog Rudolf IV. Paul 1361 verpflichtete, neben etlichen Gütern und Gülten sowie entwendetem Silbergeschirr nur einen Posten unter vielen dar; die Verpfändung an Juden wurde zwar noch erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt.67 In einem vom Salzburger Erzbischof veröffentlichten Rechtsgutachten, das die Frage klärte (und bejahte), ob Bischof Paul die Schulden aus seinem Privatvermögen zu bezahlen habe, wurde die Verpfändung gar nicht thematisiert;68 und auch in den späteren Vergleichen Pauls mit den österreichischen Herzögen sind zwar seine Gesamtschulden von 12451 Gulden bei Juden sowie einige jüdische Gläubiger angeführt; Infel und Bischofsstab, so sie Gegenstand eines dieser Geschäfte gewesen waren, finden jedoch keine Erwähnung mehr.69 Johann von Platzheim-Lenzburg, Bischof von Gurk und ab 1364 von Brixen, Kanzler sowohl Herzog Rudolfs  IV. als auch dessen Nachfolgers Albrechts  III. und 1363–1365 Landeshauptmann von Kärnten, stand in regem Kontakt mit jüdischen Kreditgebern. Als er sich im Jahr 1364 100 Pfund Wiener Pfennige von der Wiener jüdischen Gemeinde auslieh, war es der bereits erwähnte David Steuss, der erber und weiser, unser lieber freunt David der Steuzze, wie ihn Johann bezeichnete, der der Wiener jüdischen Gemeinde auf Johanns Bitte eine Reihe von Kleinoden, nämlich silberne Schalen und Gürtel sowie Perlen, versetzte.70 Ob es Johanns Schmuck- und Schatzgegenstände waren, die David für ihn der Gemeinde als Sicherstellung übergab, oder ob Bischof Johann David Steuss dazu überredet hatte, eigene Wertgegenstände zu versetzen, geht weder aus dem Text der deutschen Urkunde noch aus dem dem Textblock angeschlossenen hebräischen Vermerk hervor.

67 Kärntner Landesarchiv, C  580  F; Alois Lang, Acta Salzburgo-Aquilejensia, Bd.  1: Die Urkunden über die Beziehungen der päpstlichen Kurie zur Provinz und Diözese Salzburg (mit Gurk, Chiemsee, Seckau und Lavant) in der Avignonischen Zeit: 1316–1378 (Quellen und Forschungen zur österreichischen Kirchengeschichte 1), Graz 1903–1906, S. 498f., Nr. 687; Shlomo Simonsohn, The Apostolic See and the Jews, Bd. 1: Documents 492–1404, Toronto 1988, S. 413, Nr. 387. 68 Lang (Anm. 66), S. 500, Anm. 2 (zu Nr. 687). 69 Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 2, S. 289, Nr. 1048; 334f., Nr. 1140f.: Schulden bei Chatschim aus Cilli, Mosche aus Marburg und Abrech aus Friesach, vgl. auch Wadl (Anm. 32), S. 225f. Für weitere ­Judenschulden Pauls (Isserlein aus Marburg, Chatschim aus Cilli, Isserlein, Bruder des Häslein) hatten die Cillier Grafen gebürgt, s. Laibach, Archiv der Republik Slowenien, SI AS 1063, Zbirka listin 4222 (1366 IV 1). Noch 1379, nach dem Tod des nächsten Gurker Bischofs, Johann III. von Töckheim, war die Finanzlage des Bistums desaströs: Lediglich 400 Gulden waren in seinem Nachlass übrig, nachdem, so der bischöfliche Verwalter, Johann das Bistum derart verschuldet vorgefunden hatte, dass ohne den von den österreichischen Herzögen bei den Juden erwirkten Zinsennachlass die gesamten Einkünfte des Bistums nicht zur Bezahlung der jährlichen Zinsen ausgereicht hätten, s. Lang (Anm. 67), S. 743–750, Nr. 1031; Obersteiner (Anm. 65), S. 179f.; Wadl (Anm. 32), S. 43f. 70 Brugger u. Wiedl (Anm. 1), Bd. 2, S. 305f., Nr. 1081.; vgl. Wadl (Anm. 32), S. 83; Keil (Anm. 17), S. 42; Lohrmann (Anm. 9), S. 214.



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Michael Toch hat 2005 in seinem Beitrag „Das Gold der Juden“ kritisiert, dass man einerseits mittelalterliche „Schatzfunde“ unweigerlich mit Juden und Judenverfolgung in Zusammenhang bringen und andererseits den Inhalt dieser Funde als sich aus Pfändern zusammensetzend interpretieren würde, anstatt diese Schätze als eine Mischung aus Privatvermögen und verpfändeten Gegenständen zu sehen.71 Detaillierte Beschreibungen von verpfändeten Schmuckgegenständen wie etwa das einzelne Perlenhalsband, das ein Wiener Neustädter Bürger dem Juden Joseph übergab,72 oder die lange Liste von Silber- und Goldschmuck, die der steirische Adelige Friedrich von Liechtenstein dem Wolfsberger Juden Tröstlein versetzte,73 die silbernen Schalen und Trinkbecher, die die Görzer Herzogin Euphemia dem Meraner Juden Mayer neben vielen anderen Kleinoden versetzte,74 oder das ettleich silber­geschirr, das Herzog Albrecht  V. zur Sicherstellung an namentlich nicht genannte Juden aushändigte,75 erlauben Rückschlüsse auf Umfang und Art der Besitztümer der jeweiligen sozialen Schicht und geben Aufschlüsse zu realienkundlichen Fragestellungen sowie zur Gestaltung von Schmuck und der Verarbeitung von Edelmetallen. Sie lassen aber auch im Vergleich etwa mit bildlichen Darstellungen von Alltagsgegenständen76 und mit ‚Judenschätzen‘ wie dem 1998 in Erfurt gefundenen und in seiner Zusammensetzung einmaligen Schatz77 erkennen, dass auch oder insbesondere auf der Alltagsebene reger Kulturtransfer stattfand. Während sich Geräte ritueller Verwendung schon allein durch ihre Zweckgebundenheit oft (aber nicht immer) unterschieden, waren Alltags- und Repräsentationsgegenstände wie Buchschmuck,78 Schmuck und

71 Michael Toch, Das Gold der Juden. Mittelalter und Neuzeit, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs (2005), S. 41–67, hier S. 42, 57. 72 Keil (Anm. 58), S. 53f. 73 Darunter etwa Gürtel mit 51 silbernen Spangen, vergoldete Knöpfen und Halsketten mit Gesperre (Spange am Halssaum), Schloßarchiv Murau, Urkunde Nr. 121 (Abschrift). 74 HHStA, Handschrift Blau 123, fol. 52v–53r; Wadl (Anm. 32), S. 128. 75 HHStA, Handschrift Weiß 8, fol. 74r. 76 Vgl. dazu die umfangreichen Publikationen und Datenbanken des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, s. URL http://www.imareal.sbg.ac.at/home/datenbanken/ (einges. 23.6.2014). 77 Vgl. die umfassende Darstellung bei Sven Ostritz (Hg.), Die mittelalterliche jüdische Kultur in Erfurt, Bde. 1–3: Der Schatzfund, Weimar 2010, sowie die kurze Präsentation in: Jüdisches Leben Erfurt, Bd. 2: Erfurter Schatz, Erfurt 2009. Als Vergleichsbeispiel bietet sich etwa der gerade wissenschaftlich aufgearbeitete Wiener Neustädter Schatz an, s. Nikolaus Hofer (Hg.), Der Schatzfund von Wiener Neustadt, Wien 2014; zum christlichen Hintergrund des Schatzes s. Andreas Zajic, Das historische Umfeld des Wiener Neustädter Schatzfundes, in: ebd., S. 264–273, v. a. S. 265–269. 78 Beispielsweise der Buchschmuck des um 1371/1372 für den Wiener Juden Israel Isserlein geschriebene ‚Sefer Mordechai‘ und eines Missale des Stiftes Klosterneuburg, s. Andreas Fingernagel u. Alois Haidinger, Neue Zeugen des Niederösterreichischen Randleistenstils in hebräischen, deutschen und lateinischen Handschriften, in: Codices Manuscripti 39/40 (2002), S. 15–41, hier S. 30f.; Keil (Anm. 17), S. 28f. mit weiteren Beispielen des Stils. Zu jüdisch-christlichem Kulturtransfer in der Buchkunst vgl. die Arbeiten von Kogman-Appel (Anm. 2); Sarit Shalev-Eyni, Jews among Christians.





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Kleidung, aber auch Wohnraumgestaltung79 mehr dem Geschmack der Zeit und der jeweiligen sozialen Schicht denn der religiösen Zugehörigkeit unterworfen.80 Gemeinsamkeiten wie Urkundenformeln, Bauvorschriften und Geschmack in Schmuck, Kleidung und Wohnen sollen nicht zu dem Schluss verleiten, dass zwischen innerchristlichem Zusammenleben und jüdisch-christlicher Koexistenz keine Unterschiede bestanden. Jüdische Existenz im aschkenasischen Mittelalter war trotz aller Phasen des friedlichen Neben- und Miteinanders eine prekäre, und gerade die nächsten Nachbarn stellten oft die unmittelbarste Gefahr dar. Dennoch ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auch auf diese Phasen des Zusammenlebens zu richten, und es sind gerade die ‚kleinen Dinge‘ wie eben Geschäftsurkunden, die als Zeugen der Alltagskultur einen Blick auf die alltäglichen Auseinandersetzungen erlauben.81

Hebrew book illumination from Lake Constance (Studies in Medieval and Early Renaissance Art History 41), London u. a. 2010. 79 Die Wandmalereien im Zürcher Altstadthaus „Zum Brunnenhof“ (Brunngasse 8) gelten als ­‚Paradebeispiel‘ (wenn auch bei Weitem nicht als einziges) für Übereinstimmungen in christlichem und jüdischem Repräsentationsgeschmack und sind sowohl in Stil als auch Ikonographie mit Fresken aus christlichen Häusern vergleichbar, vgl. Shatzmiller (Anm. 2), S. 61–69; Michael Toch, Selbstdarstellung von mittelalterlichen Juden, in: Elisabeth Vavra (Hg.), Bild und Abbild des mittelalterlichen Menschen (Schriftenreihe der Akademie Friesach  6), Klagenfurt 1999, S.  173–191; Rudolf Böhmer, Bogenschütze, Bauerntanz und Falkenjagd. Zur Ikonographie der Wandmalereien im Haus „Zum Brunnenhof“ in Zürich, in: Eckart Conrad Lutz, Johanna Thali u. René Wetzel (Hgg.), Literatur und Wandmalerei, Bd. 1: Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihre Träger im Mittelalter, Tübingen 2002, S. 329–363; Gertrud Blaschitz u. Barbara Schedl, Die Ausstattung eines Festsaales im mittel­ alterlichen Wien. Eine ikonologische und textkritische Untersuchung der Wandmalereien des Hauses „Tuchlauben 19“, in: Medium Aevum Quotidianum (Sonderband) 10 (2000), S. 84–111. 80 Keil (Anm. 16), S. 52–54; dies., Kulicht schmalz und eisen gaffel. Alltag und Repräsentation bei Juden und Christen im Spätmittelalter, in: Wenzel (Anm.  2), S.  51–81, hier S.  72f.; ein allgemeiner Überblick über die Forschung bei Toch (Anm. 21), S. 138–142. 81 Israel Jacob Yuval, Christliche Symbolik und jüdische Martyrologie zur Zeit der Kreuzzüge, in: Alfred Haverkamp (Hg.), Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzüge (Vorträge und Forschungen 47), Sigmaringen 1999, S. 87–106, hier S. 105f.



Jana Pacyna (Tübingen)

Wissen um das Judenrecht, Konflikt und Konflikt­ lösung in christlich-jüdischen Stadtgemeinden des Sächsisch-Magdeburgischen Rechtskreises (13./14. Jahrhundert) Abstract: Der Begriff der ‚schwierigen Toleranz‘1 beschreibt treffend das ambivalente Verhältnis der christlich-jüdischen Koexistenz im mittelalterlichen Europa. Die in den Quellen klar belegten Verfolgungen der Juden und der räuberischen Übergriffe auf sie ließen in der älteren Forschungsliteratur die Vorstellung entstehen, die Juden seien im Mittelalter als das grundsätzlich Fremde bzw. als das notwendigerweise Ausgegrenzte und Verfolgte wahrgenommen worden.2 Diese Auffassung hat unseren heutigen Blick auf jüdisches Leben im Mittelalter nachhaltig geprägt. Tatsächlich lebten Juden in den mehrheitlich christlich geprägten Gesellschaften dieses Raums als Angehörige einer anderen, aber – nach kirchlichem, kaiserlichem und städtischem Judenrecht – zu ‚tolerierenden‘ Religion und Kultur. Wie dieses Judenrecht als Norm formuliert und in der Rechtspraxis angewandt wurde, und ob es integrative oder eher segregative Effekte beförderte, soll hier anhand der Rechtsbücher und Schöffenspruchsammlungen des Sächsisch-Magdeburgischen Rechtskreises (13./14. Jahrhundert) exemplarisch diskutiert werden. Die dabei zu be­obachtende Annäherung jüdischer Sonderrechte an christliches Gemeinrecht könnte

1 Programmblatt des Symposiums „Bibel und Toleranz, Der Umgang mit Andersdenkenden und Andersgläubigen in der Christentumsgeschichte“, Universität Freiburg i. Üe., 6.–8. Mai 2010: „Solange es Religionen gibt, gibt es [...] das Phänomen der Abweichler und somit das der ,schwierigen Toleranz‘.“ 2 Bernd Martin u. Ernst Schulin (Hgg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München 1982; Hans Liebeschüt, Synagoge und Ecclesia. Religionsgeschichtliche Studien über die Auseinandersetzung der Kirche mit dem Judentum im Hochmittelalter, Heidelberg 1983; Fritz Backhaus, Judenfeindschaft und Judenvertreibungen im Mittelalter. Zur Ausweisung der Juden aus dem Mittelmeerraum im 15. Jh., in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands. Zeitschrift für vergleichende und preußische Landesgeschichte 36 (1987), S. 275–332; František Graus, Pest – Geissler – Judenmorde. Das 14. Jh. als Krisenzeit, Göttingen 1988; Willehard P. Eckert, Antisemitismus im Mittelalter. Angst – Verteufelung – Habgier: „Das Gift, das die Juden tötete“, in: Günther B. Ginzel (Hg.), Antisemitismus: Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute, Köln 1991, S. 71–99; Magdalena Schultz, Fest- und Alltagsbräuche der Juden im Mittelalter. Ursache von Antijudaismus?, in: Helmut Birkhan (Hg.), Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie), Berlin u. a. 1992, S. 109–141; Klaus Pohlmann, Juden in Lippe in Mittel­alter und früher Neuzeit. Zwischen Pogrom und Vertreibung 1350–1614 (Panu Derech 13), Detmold 1995; Haim Beinart, Geschichte der Juden. Atlas der Verfolgung und Vertreibung im Mittelalter, Augsburg 1998; Friedhelm Burgard, Judenvertreibungen in Mittelalter und früher Neuzeit, Hannover 1999.



Wissen um das Judenrecht, Konflikt und Konflikt­lösung 

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als kommunaler Inklusionsversuch gedeutet werden, der wohl in den beginnenden Territorialisierungsprozessen wurzelte.

,Schwierige Toleranz‘ – Kirchliches und weltliches Judenrecht Der Begriff „Judenrecht“ wurde nicht allein in einem modernen geschichtswissenschaftlichen Diskurs entwickelt, sondern geht auf die Quellensprache zurück: Von der Juden rechte, joddenrecht, judisch recht.3 Wichtig ist es, diesen Begriff von jüdisch-rabbinischem, sprich talmudischem Recht zu unterscheiden. Leges Iudaeo­ rum wurden – im Gegensatz zu diesem innerjüdischen Recht – von christlichen Herrschaftsträgern erlassen, um den rechtlichen Status der europäischen Juden und ihr Verhältnis zur mehrheitlich christlichen Bevölkerung näher zu bestimmen. Das Judenrecht umfasste unterschiedlichste Formen rechtlicher Regelungen: Rechts- und Schutzvereinbarungen, die in Privilegien urkundlich verbrieft zum großen Teil auf Anfragen von Juden selbst zurückgingen, oder Bestimmungen, die allerdings ohne jüdische Initiativen, in Rechtsbüchern und Stadtverordnungen Aufnahme fanden. Dieses Konglomerat von selbst- und fremdbestimmten Regelungen beinhaltete neben Rechten und Pflichten auch Verbote. Das kirchliche Judenrecht erfuhr durch Konzilsbeschlüsse und päpstliche Dekretale des Früh- und Hochmittelalters eine über das Römische Recht hinausgehende Ausformung und wurde als geschlossener Komplex in den systematisch ordnenden Rechtssammlungen des Burchard von Worms (1008/23) und Ivo von Chartres (1094/96) aufgenommen sowie in den kirchlichen Sammlungen des ‚Decretum Gratiani‘ (1142) und ‚Liber Extra‘ (1234) tradiert.4 Die seit dem 12. Jahrhundert erlassenen Judenschutzbullen (Sicut-Iudaeis-Bullen) betonten noch überwiegend die Rechte und Freiheiten der Juden. Die darin enthaltenen Weisungen befassten sich mit dem Schutz der Juden selbst und ihres religiösen Ritus: Zwangstaufen, Beeinträchtigungen religiöser Feiern, Verwüstungen jüdischer Friedhöfe, Beschneidung – offensichtlich allgemein bekannter, da nicht näher bestimmter – jüdischer Gewohnheitsrechte sowie

3 Vgl. Christine Magin, „Wie es um der iuden recht stet“. Der Status der Juden in spätmittelalter­lichen deutschen Rechtsbüchern, Göttingen 1999, S. 11f. 4 Friedrich Lotter, Judenrecht, in: Lexikon des Mittelalters, Bd.  5 (1991), Sp.  792f.; Christine Magin, Judenrecht von Codex Theodosianus bis zu den Anfängen der Emanzipation, in: Hans Erler u. Ernst Ludwig Ehrlich (Hgg.), Jüdisches Leben und jüdische Kultur in Deutschland. Geschichte, Zerstörung und schwieriger Neubeginn, Berlin 2000, S. 16–22; Helmut Castritius, Weltliches und kirchliches Judenrecht in der Spätantike und sein Einfluss auf das kanonische Judenrecht des Mittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte 75 (1993), S. 19–32, hier S. 31f.



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räuberische und mörderische Übergriffe ohne Gerichtsurteil der weltlichen Gewalt wurden untersagt.5 Ab dem Hochmittelalter und insbesondere im Spätmittelalter erhielten judenrechtliche Bestimmungen von kirchlicher Seite jedoch tendenziell Verbotscharakter und schränkten die Rechte der Juden zunehmend ein. Insbesondere die Forderung Papst Innozenz’ III., das theologisch-theoretische Konzept der ‚Knechtschaft der Juden‘ auf eine rechtssoziale Sphäre zu übertragen, das heißt auf das gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnis von Christen und Juden, forcierte derartige Verschärfungen auf dem Gebiet des kirchlichen Judenrechts. Bestimmungen zur Trennung von Christen und Juden im öffentlichen und privaten Raum – beispielsweise über die Kennzeichnungspflicht der Juden, das Verbot gemeinsamer Feiern von Juden und Christen oder die Brandmarkung der Juden als Wucherer – gewannen nun an Bedeutung.6 Das weltliche Judenrecht im Heiligen Römischen Reich erfuhr eine bedeutsame Normierung und schriftliche Fixierung durch die Judenrechtsdiplome Kaiser Heinrichs IV. im Jahre 1090. Die jüdischen Gemeinden von Worms und Speyer ließen sich darin für Juden geltende Gewohnheitsrechte verbriefen; darunter der Schutz von Leib, Leben und Besitz, der Schutz vor Zwangstaufen, das Recht auf freie Religionsausübung und Handelstätigkeit, Autonomie im Gemeinderecht und Gleichstellung im Prozessrecht.7 Einige Textpassagen dieser Urkunden aus dem elften Jahrhundert

5 Juden in Europa. Ihre Geschichte in Quellen, Bd. 1, hrsg. v. Julius H. Schoeps u. Hiltrud Wallenborn, Darmstadt 2001, S. 114f., Nr. 48 (Papst Alexander III. (1159–1181) nimmt die Juden unter seinen Schutz). 6 Concilium Lateranense IV. Constitutiones, in: Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 2: Konzilien des Mittelalters. Vom Ersten Laterankonzil (1123) bis zum Fünften Laterankonzil (1512–1517), hrsg. v. Josef Wohlmuth, Paderborn u. a. 2000, S. 265–267: „67. Zinsgeschäfte der Juden“, „68. Die Juden müssen sich von den Christen in der Kleidung unterscheiden“, „69. Juden werden nicht mit öffentlichen Ämtern betraut“, „70. Wer sich vom Judentum zum Glauben bekehrt hat, darf nicht an der alten Lebensform festhalten“. Vgl. Conciliorum Oecumenicorum Generaliumque Decreta, Bd. 2, 1: The General Councils of the Latin Christendom. From Constantinople IV to Pavia-Siena, 869–1424, hrsg. v. Antonio García y García u. a., Turnhout 2013, S. 198–200. 7 Die Urkunden Heinrichs IV., hrsg. v. Dietrich von Gladiss und Alfred Galik (MGH Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser 6), Berlin 1941–1978, S. 543–547, Nr. 411: „Heinrich nimmt die Juden zu Speyer, Judas Sohn des Calonim, David Sohn des Massulam und Moyses Sohn des Guthihel mit ihren Genossen, in seinen Schutze und stellt ihre Rechte fest.“ (1090 Februar 19); ebd., S. 547–549, Nr. 412: „Heinrich stellt die Rechte der Juden zu Worms fest.“ Vgl. Schoeps u. Wallenborn (Anm. 5), S. 122, Nr. 53 (Heinrich IV. nimmt die Juden von Speyer und Worms unter seinen Schutz, 19. Februar 1090). Autonomie im Gemeinderecht bedeutete, dass innerjüdische Konflikte vor einem jüdischen bzw. rabbinischen Gericht ausgehandelt werden können. Eine Gleichstellung im Prozessrecht führte dazu, dass in einem Rechtsstreit zwischen einem Juden und einem Christen beide „gemäß ihrem eigenen Gesetz Gerechtigkeit schaffen und ihre Sache beweisen“ sollen.





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verweisen gar auf talmudische, also originär jüdische Rechtsbestimmungen, was eine Vorformulierung der Rechtstexte durch jüdische Gemeindemitglieder nahe legt.8 1236 wurden die Wormser und Speyerer Judenrechtsdiplome durch Kaiser Friedrich II. bestätigt und in Form eines Generalprivilegs auf alle Juden des Reichs übertragen.9 Als servi camerae imperii10 standen sie zunächst unter besonderem Schutz der deutsch-römischen Könige und Kaiser. Erst unter dem zunehmenden Einfluss kirchlicher Deutungsmuster gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurde die jüdische Kammerknechtschaft tendenziell zu einem Instrument der Judenbesteuerung und -enteignung modifiziert. In Gestalt des Judenregals delegierten die deutsch-römischen Könige und Kaiser das Judenrecht jedoch auch auf nachgeordnete – territoriale und kommunale – Herrschaftsebenen, wo es in heterogener Form und teilweise in Abgrenzung zur kaiserlichen Zentralgewalt weiterentwickelt wurde.11 Der Grundsatz der prinzipiellen Duldung des Judentums, welcher im kirchlichen und weltlichen Judenrecht des Mittelalters fassbar war, wurde zwar aus dem Römischen Recht übernommen, rekurrierte jedoch auch auf eine theologische Traditionslinie, die für eine Akzeptanz der Juden in ihrer religiösen Andersartigkeit plädierte. Diese ‚Theologie der Duldung oder Akzeptanz‘ der Juden – die allerdings nur eine unter vielen Positionen innerhalb der Kirche repräsentierte – wurzelte im Offenbarungswissen der Heiligen Schrift. Paulus beschrieb die Verstocktheit der Juden gegenüber der christlichen Botschaft als gottgewollte Haltung, welche letztlich die Erleuchtung der anderen Völker bedingt. Die Blindheit des Volkes Israel gegenüber der Offenbarung wird nur so lange andauern, bis alle übrigen Völker den Weg zu Christus gefunden haben. Dann werden auch der Synagoge die Schleier von den Augen genommen und ihre Sünden ver­ ziehen. Vor diesem prophetisch-eschatologischen Hintergrund bestimmt Paulus das Verhältnis seiner Glaubensbrüder zu den Juden mit Hilfe des Ölbaum-Gleichnisses (Röm 11,16–18):

8 Einflüsse aus der jüdischen Rechtstradition lassen sich etwa bei der Formulierung des Marktschutzrechts, des Judeneids und der Regelungen zu Erbschaftsangelegenheiten beobachten; vgl. Friedrich Lotter, Talmudisches Recht in den Judenprivilegien Heinrichs IV., in: Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990), S. 23–61, hier S. 36f. 9 Friderici  II. Constitutiones (1198–1272), hrsg.  v. Ludwig Weiland (MGH Constitutiones et acta ­publica imperatorum et regum 2), Hannover 1896, ND Hannover 1963, S. 274–276, Nr. 204. 10 Ebd., S. 274. 11 Karl-Leo Noethlichs, Die Juden im christlichen Imperium Romanum (4.–6. Jahrhundert), Berlin 2001, S. 62–70; Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich (Enzyklopädie deutscher Geschichte 44), 3. Aufl. München 2013, S. 45–50; Friedrich Lotter, Geltungsbereich und Wirksamkeit des Rechts der kaiserlichen Judenprivilegien im Hochmittelalter, in: Aschkenas 1 (1991), S. 17–29, hier S. 23–33; Friedrich Battenberg, Das Europäische Zeitalter der Juden. Bd. 1: Von den Anfängen bis 1650, Darmstadt 1990, S. 64f.



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Und ist die Wurzel heilig, so sind es auch die Zweige. Wenn aber einige herausgebrochen wurden und wenn du als Zweig vom wilden Ölbaum in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest und damit Anteil erhieltest an der Kraft seiner Wurzel, so erhebe dich nicht über die anderen Zweige. Wenn Du es aber tust, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.12

Auf den paulinischen Römerbrief rekurrierend befasste sich Augustinus mit der Bedeutung der Juden im Hinblick auf Anerkennung und Verbreitung des christlichen Glaubens: Uns freilich genügen die Prophetien, die sich aus den Büchern unserer Gegner ergeben, die wir gerade wegen des Zeugnisses anerkennen, das sie uns ungewollt leisten. [...] Denn darüber gibt es eine Prophetie in den Psalmen, die sie auch lesen, in der es heißt: ‚Mein Gott, mir kommt entgegen dein Erbarmen. Mein Gott hat es bewiesen mir an meinen Feinden; nicht töte sie, damit sie ja nicht dein Gesetz vergessen; zerstreue sie in deiner Macht.‘ Bewiesen also hat Gott der Kirche in ihren jüdischen Feinden die Gnade seines Erbarmens, da ja, wie der Apostel sagt, ,durch ihre Sünde das Heil zu den Heiden gekommen ist.‘ Und deshalb hat er sie nicht getötet, das heißt er hat ihnen das, was sie zu Juden machte, nicht vernichtet, obwohl sie von den Römern besiegt und unterdrückt wurden, damit sie nicht, wenn sie das Gesetz Gottes vergäßen, zu dem Zeugnis, von dem wir hier sprechen, untauglich würden. Daher war es nicht genug, wenn der Psalmist sagte: ‚Nicht töte sie, damit sie ja dein Gesetz nicht vergessen‘; er musste auch hinzufügen: ‚Zerstreue sie‘. Denn wenn sie mit diesem Zeugnis der Schriften nicht überall, sondern nur in ihrem Lande aufgetreten wären, könnte die Kirche, die überall ist, sie nicht als Zeugen bei allen Völkern für die Weissagungen anführen, die über Christus ergangen sind.13

Auch Thomas von Aquin sprach sich für die prinzipielle Duldung und freie Reli­ gionsausübung der Juden aus, da sie mit ihrem Glauben die Wahrheit der christlichen Botschaft bezeugten,14 und – anders als Ketzer – für ihren Unglauben nicht umfassend verantwortlich waren.15 Aufgrund dessen war ein Jude nicht zum Glauben zu zwingen16 und die Gemeinschaft mit ihm unter bestimmten Bedingungen erlaubt.17 Auch wenn Juden, beziehungsweise die fortdauernde Existenz des Judentums, von Christen als beständige Infragestellung der eigenen Heilsgewissheit wahrgenommen

12 Neue Jerusalemer Bibel, hrsg. v. Alfons Deissler u. Anton Vögtle, Freiburg, Basel, Wien 2007, S. 1644; vgl. Biblia Sacra Vulgata Editio quinta, hrsg. v. Robert Weber u. Roger Gryson, Stuttgart, Nördlingen 2007, S. 1763 (Röm 11,16–18): et si radix sancta et rami [17] quod si aliqui ex ramis fracti sunt tu autem cum oleaster esses insertus es in illis et socius radicis et pinguidinis olivae factus es [18] noli gloriari adversus ramos quod si gloriaris non tu radicem portas sed radix te. 13 Aurelius Augustinus, De civitate Dei, Bd. 2, hrsg. u. übers. v. Carl Johann Perl, Paderborn u. a. 1979, S. 398–401 (XVIII 45f.). 14 Thomas von Aquin, Summa Theologiae. Pars IIa IIae, hrsg. von Pietro Caramello, Turin 1952, q. 10, art. 11. 15 Ebd., q. 10, art. 6. 16 Ebd., q. 10, art. 8. 17 Ebd., q. 10, art. 9.





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werden konnten, gehörten sie also in einer historisch-genetischen und eschatologischen Dimension ganz wesentlich zum eigenen religiösen Selbstverständnis.

Judenrecht des Sächsisch-Magdeburgischen Rechtskreises (13./14. Jahrhundert) – Norm und Praxis Magdeburger Recht Der Begriff „Magdeburger Recht“ bezeichnet kein konkretes Rechtsbuch, sondern eine Vielzahl von Rechtsquellen:18 die Privilegien der Stadt Magdeburg (12. Jahrhundert), das ‚Magdeburger Schöffenrecht‘ (13. Jahrhundert), das ‚Sächsische Weichbild‘ (13. Jahrhundert) sowie das ‚Systematische Schöffenrecht‘ (14. Jahrhundert).19 Allgemein verbindliches Recht konnte in diesem Rechtskreis – wie auch in anderen Rechtskreisen des Mittelalters – in der Regel nur im Zusammenhang konkreter Rechtsfälle festgestellt werden, stellte also kein gesetztes, vereinbartes Recht dar, dem man sich unabhängig von einem konkreten Rechtsfall verpflichtet hatte. Schöffen und andere Urteilsfinder – aufgrund ihres sozialen Renommees als Autoritäten in der Rechtsprechung anerkannt – gaben anhand überlieferten Rechts Auskunft über den bestehenden Rechtszustand. Das Rechtswissen generierte sich zunächst insbesondere aus mündlichen Berichten und persönlichem Miterleben. Es wurde in den seltensten Fällen in einer Form des Unterrichts erworben.20 Rechtsbücher, also schriftliche Überlieferungen wurden erst nach und nach in die Rechtsfindung einbezogen. Die Rechtsüberlieferung und -findung waren demnach in besonderer Weise von Erinnerungskultur und dem jeweiligen Erfahrungs- und Wissensschatz der als rechtskundig geltenden Männer abhängig.21 Gerhard Dilcher hat auf diese Bindung von Rechtsgewohnheiten an das kollektive und kulturelle Gedächtnis und damit an das Prinzip der Oralität aufmerksam gemacht.22

18 Carl Gustav Homeyer, Die deutschen Rechtsquellen des Mittelalters und ihre Handschriften, Berlin 1856, S. 26–32. 19 Vgl. Ulrich-Dieter Oppitz, Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters, 3 Bde., Wien 1990–1992; Das alte Magdeburgische und hallische Recht. Ein Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. v. Ernst Theodor Gaupp, Breslau 1826; Magdeburger Rechtsquellen zum akademischen Gebrauch, hrsg. v. Paul Laband, Königsberg 1869. Zur Verwandtschaft zwischen Magdeburger Recht und Sachsenspiegel s. Des Sachsenspiegels erster Theil oder das sächsische Landrecht nach der Berliner Handschrift v. J. 1369, hrsg. v. Carl Gustav Homeyer, Berlin 1861, S. 61. 20 Adolf Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 6. Aufl. Berlin 2006, S. 5. 21 Ulrich Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 6. Aufl. München 2013, S. 50. 22 Gerhard Dilcher, Zu Rechtsgewohnheiten und Oralität. Normen und Ritual, Ordnungen und Gewalt, in: Zeitschrift für historische Forschung 38 (2011), S. 65–79, hier S. 71; ders., Normen zwischen Oralität und Schriftkultur. Studien zum mittelalterlichen Rechtsbegriff und zum langobardischen Recht, Köln, Weimar, Wien 2008.



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Rechtsnormen waren dem mittelalterlichen Rechtsverständnis nach nur als Handlungsoptionen zu verstehen, und die tatsächliche Anwendung und der Grad ihrer Umsetzung an räumlich differente Voraussetzungen gebunden.23 Neidhart Bulst wies darauf hin, dass im mittelalterlichen Verständnis die buchstäbliche und umfassende Durchsetzung von Rechtsnormen offenbar zugunsten anderer Ziele – wie die Wiederherstellung von Frieden und Ordnung oder die Berücksichtigung des Gemeinwohls – zurückstand. Die städtische Ordnung bedrohende Urteilsfolgen sollten weitgehend vermieden werden; so fand das mögliche Täter- und Opferverhalten infolge des richterlichen Urteils bei dessen Formulierung wesentliche Berücksichtigung. Der Vergleich und die Gnade (Bußnachlass, Bußerlass) gerieten zu grundlegenden ­Instrumenten mittelalterlicher Rechtsprechungspraxis.24 Auch andere Rechtshistoriker beschreiben die Friedenswahrung und -schaffung als vordringlichste Aufgabe der mittelalterlichen Gesellschaft und in diesem Sinne als Stimulus von Rechtsbildung und Rechtsdurchsetzung.25 Das durch und um die Magdeburger Schöffen generierte Recht steht in besonderer Weise für die kreislaufartige Verflechtung von Rechtspraxis und Rechtsnorm im Mittelalter. So urteilten die Magdeburger Schöffen in einem konkreten Rechtsfall auf Grundlage einer Rechtsgewohnheit oder eines gesetzten Rechts oder aus eigenem Ermessen der Situation entsprechend. Diese Schöffenurteile wurden als Präzedenzfälle in Schöffenspruchsammlungen zusammengetragen oder auch auf Anfrage an andere Städte Magdeburger Rechts (zum Beispiel als Rechtsmitteilungen) weiter­ gegeben, die wiederum eigene Sammlungen dieses ‚Schöffenrechts‘ anfertigen ließen. Durch die Loslösung vom konkreten Rechtsfall entsteht aus dem Schöffenurteil oder -spruch ein Schöffenrecht, welches erneut stark normative Züge trägt. Derart lassen sich die auf unterschiedlichem Wege überlieferten Schöffensprüche nur schwerlich allein der Rechtsnorm oder Rechtspraxis zuordnen; sie lassen sich letztlich nur als Synthese aus beidem begreifen.

Judenrecht im Magdeburger Recht (Norm) Auf rechtsnormativer Ebene lässt sich das Judenrecht des Magdeburger Rechts als Konglomerat charakterisieren: 1. Sonderrechte, die in einigen Fällen weiter reichten als entsprechende Rechte für die christlichen Bevölkerungsteile und daher Konflikt-

23 Vgl. hierzu die Beiträge in Stefan Esders u. Christine Reinle (Hgg.), Rechtsveränderungen im politischen und sozialen Kontext mittelalterlicher Rechtsvielfalt (Neue Aspekte der europäischen Mittelalterforschung 5), Münster 2005. 24 Neithard Bulst, Richten nach Gnade oder nach Recht. Zum Problem spätmittelalterlicher Rechtsprechung, in: Franz-Josef Arlinghaus u. a. (Hgg.), Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, Frankfurt a. M. 2006, S. 465–490, hier S. 470f., 484. 25 Eisenhardt (Anm. 21), S. 52f.





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potential implizierten; 2. Rechte, die entweder eine Gleichbehandlung von Juden und Christen oder zumindest eine Approximation des Judenrechts an das ,Christen‘- oder Gemeinrecht anzeigten. Exemplarisch sollen nun anhand des Artikels Von des juden gewere. Der jüde en muz des cristenen mannes gewere nicht sie. her en wolle danne antworten. in cristenes mannes stat, der die Entbindung von der Gewährschaftspflicht beschreibt und in Rückbezug auf den ‚Sachsenspiegel‘ (1220/35) sowohl im ‚Magdeburg-Görlitzer Recht‘ (1304), im ‚Magdeburg-Breslauer Recht‘ (1352), im ‚Weichbild‘ (13./14. Jahrhundert), im ‚Glogauer Rechtsbuch‘ (1386) als auch in den Rechtsgangbüchern (14. Jahrhundert) überliefert ist, ein jüdisches Sonderrecht und seine Implikationen analysiert werden.26 Der Begriff gewere bezeichnet im Mittelalter unter anderem den „Zustand des Bekleidetseins mit einer Sache [Besitz]“ und kann in diesem Sinne mit „Sachherrschaft“ übersetzt werden.27 Im Kontext von Besitzrecht und Handel steht gewêren andererseits für „machen, bewähren und (eidlich) beweisen“28 oder bezeichnet explizit das „Gewähr leisten gegen Einsprüche Dritter“.29 Das davon abgeleitete Adjektiv gewêrlich charakterisiert eine Person als „wahrhaft, aufrichtig, zuverlässig“;30 die wiederum verwandte gewarheit meint „Sicherung, Sicherheit“.31 Bei der Gewährschaftspflicht handelt es sich um eine sogenannte Klagegewähre, eine Sicherheits-

26 Sachsenspiegel, Landrecht, hrsg. v. Karl August Eckhardt (MGH Fontes iuris N. S. 1,1), Göttingen 1955, S. 198 (Buch III, Art. 7 § 1): De jode ne mut kerstenes mannes gewere nicht sin, he ne welle antwarden in kerstenen mannes stat.  / „Der Jude braucht des Christen Gewährsmann nicht sein, es sei denn, er wolle sich an Stelle des Christen verantworten.“; ‚Alte Magdeburgische‘ (Anm. 19), S. 310 (Magdeburg-Görlitzer Recht von 1304, Art. 118); Magdeburger Recht, Bd. 2: Die Rechtsmitteilungen und Rechtssprüche für Breslau 1261–1452, hrsg. v. Friedrich Ebel, Köln, Wien 1989, S. 29 (MagdeburgBreslauer Recht [1352], Nr. 20); Das Magdeburg-Breslauer Systematische Schöffenrecht aus der Mitte des XIV. Jahrhunderts, hrsg. v. Paul Laband, Berlin 1863, S. 49 (II 2, 69); Dat buk wichbelde recht. Das sächsische Weichbildrecht nach einer Handschrift der Königlichen Bibliothek zu Berlin von 1369, hrsg. von ­Alexander V. Daniels, Berlin 1853, S. 53 (Art. 116); Das Sächsische oder Magdeburgische Weichbild-Recht. Nach der Pergament-Handschrift einst der Stadt Orlamünda, jetzt zu Gotha, vom Jahre 1381, hrsg. v. Oskar A. Walther, Leipzig 1871, S. 52 (Art. 149f.); Das saechsische Weichbildrecht. Jus municipale saxonicum, Weltchronik und Weichbildrecht in XXXVI Artikeln mit der Glosse, hrsg. v. Alexander v. Daniels und Franz v. Gruben, Berlin 1858, Sp. 173f. (Art. 134f.); Das Glogauer Rechtsbuch, hrsg. v. Hermann Wasserschleben, Gießen 1860, ND Aalen 1969, S. 58 (Kap. 482); Der Richtsteig Landrechts, nebst Cautela und Premis, hrsg. von Carl-Gustav Homeyer, Berlin 1857, S. 131f. (cap. 13, § 7). 27 Werner Ogris, Gewere, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2 (2012), Sp. 347– 352. 28 Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd.  1 (1992), Sp. 977f. (s.  v. ge-wære bis ge-war-sam); vgl. Eberhard von Künzberg u.  a., gewähren, in: Deutsches Rechtswörterbuch, Bd.  4 (1939–1951), Sp. 659–661. 29 von Künzberg u. a. (Anm. 28). 30 Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 1 (1992), Sp. 978f. (s. v. ge-wær-lich bis ge-war-tunge). 31 Ebd., Sp. 977f. (s. v. ge-wære bis ge-war-sam).



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leistung oder Haftungspflicht des Verkäufers (Gewähre) gegenüber dem Käufer (aktueller Gewereinhaber), wobei letzterer den Verkäufer als Zeugen und Treuhänder vor Gericht laden konnte (Zug auf den Gewähren), sollte der Kaufgegenstand von einem Dritten beansprucht und eingeklagt werden (mit Diebstahlsvorwurf verbundene Anfangsklage). Nahm der Verkäufer / Gewähre den umstrittenen Gegenstand durch Handauflegen an, schied der Käufer / Erstbeklagte aus dem Verfahren zunächst aus; an seine Stelle trat der Verkäufer  / Gewähre. Der Verkäufer konnte nun seinerseits die Sache seinem Vormann beziehungsweise Gewähren ‚zuschieben‘, wodurch der Gewährentzug um weitere Personen erweitert wurde. Man hoffte im Verlauf dieses Gewährentzugs den Dieb, der dem Kläger den umstrittenen Gegenstand und die Diebstahlsbuße zu zahlen hatte, ausfindig zu machen. Verweigerte ein Verkäufer  / Gewähre die Gewährschaft oder wurde die Klage – trotz Gewährschaft eines Verkäufers / Gewähren – zu Ungunsten des Käufers / Erstbeklagten entschieden – war derjenige, bei dem „die Sache stehenblieb“ zur Herausgabe des Gegenstands und zur Zahlung der Diebstahlsbuße verpflichtet.32 Die Entbindung von der Gewährschaftspflicht kann im ‚Sachsenspiegel‘ (1220/35), Magdeburg-Görlitzer- bzw. Magdeburg-Breslauer Schöffenrecht (1304/52) und der ‚Weichbildvulgata‘ (13./14. Jahrhundert) noch als ein Sonderrecht gedeutet werden, das dem Schutz einer – möglicherweise häufiger als andere Gesellschaftsgruppen Diebstahlsvorwürfen ausgesetzten – jüdischen Minderheit und somit der Sicherung jüdischer Wirtschaftskraft dienen sollte. Anders als Christen waren jüdische Verkäufer nicht verpflichtet einem Käufer – sollte ein Dritter rechtmäßig Anspruch auf den umstrittenen Kaufgegenstand erheben – zu gewähren und die Diebstahlsbuße zu zahlen; zudem blieb die jüdische Gewährschaftsleistung unter bestimmten Bedingungen durchaus möglich. In den Glossen des ‚Sachsenspiegels‘ und ‚Weichbilds‘ (14./15. Jahrhundert) wird der Ausschluss von der Gewährschaftspflicht jedoch mit dem negativ konnotierten Marktschutzrecht der Juden verbunden: Und was man von einem Juden kauft, das hat man unter der Bedingung, daß er dafür nicht Gewährsmann sein kann, denn wer eine Missetat begeht oder tun darf beim Erwerb {eines Gegenstandes}, der gestohlen ist, von dem vermutet man, daß er auch Diebesgut gestohlen hat, denn ein Übel folgt dem anderen [...].33

32 Werner Ogris, Zug auf den Gewähren, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5 (1998), Sp. 1790f.; Eberhard von Künzberg u. a., Gewähr, Gewere, in: Deutsches Rechtswörterbuch, Bd. 4 (1939–1951), Sp. 635–637; Magin (Anm. 3), S. 257f. 33 Vgl. Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht. Buch’sche Glosse, hrsg. v. Frank-Michael Kaufmann (MGH Fontes iuris N. S. 7, 3), Hannover 2002, S. 963f. (Ldr. III 7.1): Dat erste is, dat nen cristene man vppe se wereschop then en mach, also dat eme de anspreker icht volghen dorue, de yode en werde des en ghewere na cristen mannes rechte, dat is, dat de yode wille yntucht an deme anevangenen dinge edder ene brechte were bewisen. Nu mochtestu spreken, wy hedden zettet der were en sunderlik stucke, welk desse sunderlicheit were, wen en cristene man de ne moste enen anderen nicht gheweren, he en wolde weringe edder sinen weren bewisen, de dat eme vorkofft hadde, ut supra li. II ar. XXXIIII 2. Dit is





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Man unterstellte den Juden mehr oder weniger, dass sie sich – aufgrund des Marktschutzrechtes relativ unbeschadet – gestohlene Waren aneigneten (oder zumindest die Möglichkeit dazu hatten) und verkauften, ohne dafür im Streitfall mit einer dritten Person für den Käufer bzw. Verkauf als Treuhänder gewähren zu müssen, das heißt vor einer möglichen Bußzahlung gefeit waren. Diese jüdischen Sonderrechte wurden im 14. Jahrhundert offenbar von christ­ licher Seite zunehmend als ‚unrecht‘ oder ‚unmoralisch‘ empfunden; möglicherweise auch aufgrund von Negativerfahrungen. Dabei profitierten die Juden nicht zwingend davon; denn letztlich dürften die Entbindung der Juden von der Gewährschaftspflicht und das jüdische Marktschutzrecht den christlichen Käufer – durch die geringe rechtliche Absicherung – vom Kauf bei einem jüdischen Händler eher abgehalten haben, was dem Geschäft des letzteren nur Schaden zufügen konnte. Der freiwillige Verzicht auf bestimmte Sonderrechte durch die Juden selbst ist daher eine durchaus denkbare Option. Mögen die Sonderrechte also zunächst als eine von jüdischer Seite beanspruchte und von christlicher Seite gewährte Berücksichtigung jüdischer Rechtstraditionen talmudischer Provenienz (zum Beispiel Marktschutzrecht) sowie als Schutz jüdischen Handels und jüdischer Wirtschaftskraft zu deuten sein, evozierten das Marktschutzrecht und die Entbindung von der Gewährschaftspflicht – in ihrer negativen Ausdeutung des 14./15. Jahrhunderts – letztlich eher Konflikte und segregativ-diskriminierende Effekte. Die Tatsache, dass die Entbindung von der Gewährschafts-

vndersched, dat en kristen man, de kopes bekant, mot ghewere sin, supra li. II ar. IIII 3. Des ne darff de yode nicht don, alse he hir secht, wen he beholt an vorduueder haue sine penninge [III 7 § 4]. Dit is dar vmme, vppe dat en man syn vorlorne gud de bad vinde, vnde dat id eme de ere wedder werde. Dor dat ghan men den yoden der kopinge. Dat he ok nemende weren en darff, dat is dar vmm, dat he vorstolen gud kopen mach, dar vmme vor modet men zik, dat dit ok vorstolen sy. Wente we ene bossheit dod edder don mach an kopene, des dat vorstolen is, an deme vormodet me sik ok der bossheit, dat he vort vorstolen dingh vorkope. Wente eneme ouele volget dat andere, ut ff. de rei vendicacione et ex diverso § l petitor 4, et in autent. ut iudices sine quoquo suffragio fiant § cogitacio coll. II 5. Vgl. Bernd Kannowski, Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch’sche Glosse (MGH Schriften 56), Hannover 2007; ‚Saechsische Weichbildrecht‘ (Anm. 26), Sp. 436f. (Art. 135); Das Marktschutzrecht der Juden, das erstmalig in dem von Kaiser Heinrich IV. bestätigten Judenrechtsdiplom für Speyer (1090) Erwähnung fand, erlaubte einem Juden, bei welchem Diebesgut gefunden wurde, durch einen Eid nach seinem Gesetz seine Unschuld zu beweisen. Beeidete er, die Ware käuflich erworben zu haben, war er vom Vorwurf des Diebstahls befreit. Der Meineid als Teil des jüdischen Marktschutzrechts stellt innerhalb dieser Privilegien eine Besonderheit dar, da Reinigungseide in der Regel mit Zeugen durchzuführen waren, s. dazu ‚Urkunden Heinrichs IV.‘ (Anm. 7), S. 546, Nr. 411: Si autem res furtiva apud eos inventa fuerit, si dixerit iudeus se emisse, iuramento probet secundum legem suam, quanti emerit, et tantundem accipiat et sic rem ei cuius erat restituat. Vgl. Schoeps u. Wallenborn (Anm. 5), S. 122, Nr. 53: „Wenn aber eine gestohlene Sache bei ihnen gefunden werden sollte und ein Jude sagt, er habe sie gekauft, so beweise er durch einen Eid nach seinem eigenen Gesetz, für wieviel er sie gekauft hat. Diesen Betrag soll er erhalten.“



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pflicht34 und vor allem das Marktschutzrecht35 (genuin kaiserliches Judenrecht) in vielen der späteren Aufzeichnungen des Schöffenrechts (zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts und Anfang 15. Jahrhundert) und in den überlieferten Urteilssprüchen der Schöffen (14. Jahrhundert) nicht mehr nachweisbar sind, legt den Schluss nahe, dass diese Sonderrechte im Magdeburger Rechtskreis einen Marginalisierungsprozess durch­liefen. Inwieweit dieser Prozess durch den freiwilligen Verzicht der Juden selbst, das Eindringen des (Juden eher benachteiligenden) kanonischen Rechts oder durch den Versuch einer Homogenisierung der Rechtsvielfalt beeinflusst war, wäre nun zu ­eruieren. Das in der ‚Buch’schen Glosse zum Sachsenspiegel‘ (14. Jahrhundert) nachweisbare Judenrecht kanonischer Provenienz erfuhr in den ‚Magdeburger Rechtsbüchern‘ und der Schöffenspruchpraxis des 14. Jahrhunderts noch keine Rezeption.36 Allerdings lässt sich die zunehmende Ablehnung kaiserlichen Sonderrechts zugunsten territorialen Gemeinrechts, wie sie Buch formulierte,37 in den Urteilssprüchen der Magdeburger Schöffen ganz klar fassen.

34 Die Gewährschaftspflicht fehlt in den Urteilssprüchen, vgl. Magdeburger Schöffensprüche, Magdeburg, Stadtarchiv, Rep 53 (ungedruckt); Ein Stendaler Urteilsbuch aus dem 14. Jh. als Beitrag zur Kenntnis des Magdeburger Rechts (Berlin, Deutsche Staatsbibliothek, Ms. Boruss. fol. 481), hrsg. v. Jacob Friedrich Behrend, Berlin 1868; Die Magdeburger Schöffensprüche und Rechtsmitteilungen für Schlesien. Bd. 1: Die Magdeburger Schöffensprüche und Rechtsmitteilungen für Schweidnitz (Świdnica, Stadtarchiv, Stadtbuch I 163, Codex A), bearb. v. Theodor Goerlitz u. Paul Gantzer. Berlin 1940; Die Magdeburger Schöffensprüche und Rechtsmitteilungen, Bd. 1: Magdeburger Schöffensprüche für die Hansestadt Posen und andere Städte des Warthelandes (Posen/Poznań. Okręgowe Archivum Państwowe, Akta miasta Poznania I 2002 Buch IV), bearb. v. Theodor Goerlitz, Stuttgart, Berlin 1944; Magdeburger Fragen, hrsg. v. Jakob Friedrich Behrend, Berlin 1865; Sammlung älterer nach Eisleben ergangener Rechtsbescheide des magdeburgischen Schöppenstuhls, bearb. v. Hermann Grössler, in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 23 (1890), S. 171–201; Die Hallischen Schöffenbücher. Erster Theil 1266–1400, bearb. v. Gustav Hertel, Halle 1882. 35 Das Marktschutzrecht fehlt im Magdeburg-Görlitzer Recht (vgl. ‚Alte Magdeburgische‘ [Anm. 19]), im Unsystematischen und Systematischen Schöffenrecht des 14. Jhs. (‚Magdeburger Recht‘ [Anm. 26]; Schöffenspruchsammlung des Codex Briegensis, Dresden, Sächsische Landesbibliothek, M. 25, Anfang 15. Jh., hrsg. v. Johann Ehrenfried Böhme [Diplomatische Beyträge zur Untersuchung der Schlesischen Rechte und Geschichte 5–6], Berlin 1774–1775; ‚Magdeburg-Breslauer‘ [Anm. 26]), im Weichbild des 13./14. Jhs. (‚Saechsische Weichbildrecht‘ [Anm. 26]), im ‚Glogauer Rechtsbuch‘ (Anm. 26), und in den Urteilssprüchen, vgl. die in Anm. 34 genannten Werke. 36 Der studierte Jurist Johann von Buch ergänzt seinen ausführlichen Kommentar zur Entbindung der Juden von der Gewährschaftspflicht im Ldr. III 7, 1 um eine Aufzählung kanonischen Judenrechts, s. ‚Glossen‘ (Anm. 33), S. 964–967: Dit is dar vmme [...] Dat drudde is, dat de yoden nicht en moten nyge schole buwen, ere olden auer moghen se beteren. [...] Dat veffte is, dat de yoden in deme guden vrygdage vppe de straten nicht gan en moten, [...] Dat teghede is, dat nen yode mach tughen ouer enen cristenen, [...] Dat 〈elfte〉 is, dat nen yode mot enen cristenen vorkeren to siner […]. 37 Ebd., S. 967: dat yoden, heydene vnde kettere aller keyser liker sunderliker gnade nicht bruken en moghen, vnde by namen ere wiff en hebben nicht liffghedinges recht. [...] Hir by merke, dat men in Sassen rechte enen yoden edder enen ketter vortughen mach in aller zake, wen dat de Sasse misyneme ede vnt­





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Judenrecht in den Urteilssprüchen der Magdeburger Schöffen Auf der Anwendungsebene zeigt sich, dass im 13. und 14. Jahrhundert zwar vereinzelt nach Judenrecht geurteilt, oftmals jedoch auf ‚Christen‘- oder Gemeinrecht zurückgegriffen wurde. In nur vier (von 15) Schöffensprüchen (die Juden betreffen) werden judenrechtliche Bestimmungen des ‚Magdeburger Rechts‘ oder ‚Sachsenspiegels‘ tatsächlich erwähnt. Bei einem Großteil der vorliegenden Magdeburger und Hallenser Schöffensprüche (bis 1400) kommt es also gar nicht zur Anwendung eines dezidiert für Juden gesetzten Rechts, sondern eines – wenn man so will – allgemein-christlichen Rechts, was zunächst damit zusammenhängen könnte, dass es schlichtweg an entsprechenden judenrechtlichen Regelungen mangelte. In den Fällen, wo die Schöffen auf kein Judenrecht zurückgreifen konnten, entschieden sie ohnehin nach Gemeinrecht, das heißt Juden wurden die gleichen Rechte und Pflichten zuteil wie der christlichen Bevölkerung. Dies gilt für zehn der 15 Sprüche, wobei Juden in sieben von zehn Fällen als Prozessgewinner in Erscheinung treten.38 Exemplarisch sei hier ein Beispiel ausführlich zitiert (Magdeburger Schöffensprüche für Stendal, 1329–1340, Fall xxvii, 1): De Iudeis. Den wysen mannen den schepen to Stendal enbieden dy schepen to Magd[eburg] eren willeghen dienst. Gy hebben uns ghescreven in alsusdenen worden: Mit uns sint ghekommen eyn jode und eyn jodinne vor deme ghehegheden dinge unde hebben gheclaghet over eynem kersten man, dat hie sie hebbe gheslaghen blut wunden unde ok brun unde blaw. Nu is die kersten man ghekomen in deme selven ghehegheden dinge unde heft des bekant. Das vraghe gy uns, wat nu sine broke sy unde wo hie to rechte beteren schal die blut wunden unde die anderen sleghe die brun unde blaw sint. Hir up spreke wie vor eyn recht: Beschuldeghet eyn jode unde eyn jodinne eynen kerstenen man in gheheghedeme dinge, dat hie sie gheslaghen hebbe blut wunden unde ok brun unde blaw unde bekant hie des in deme ghehegheden dinge, hie schal en ere bute gheven, deme joden drittich scillinghe to bute, der jodinnen eyne halve bute, dat sint vefteyn scillinghe von rechtes weghene.39

Dem hier verklagten Christen, der die Körperverletzung an einem Juden und einer Jüdin gestand, wurde die Zahlung zweier Geldbußen auferlegt, die zumindest im Falle des Juden als Ehrbuße bezeichnet wird: dreißig Schillinge an den Juden und fünfzehn Schillinge an die Jüdin. Im ‚Sachsenspiegel‘ (1220/35) und im auf ihm fußenden ‚Magdeburg-Görlitzer Recht‘ (1304) hieß es:

ghan mach. Dat is en keyserlik gnade. Dar vmme ne moghen ze erer nicht hebben, alse hir vore ghesecht is. Vortmer de gnade is ghegheuen Sassesschem siechte. 38 Jana Pacyna, Mittelalterliches Judenrecht, Norm und Anwendung im Magdeburger Rechtskreis 1250–1400 (Historische Kommission Sachsen-Anhalt) (im Druck). 39 Berlin, Deutsche Staatsbibliothek. Ms. Boruss. fol. 481; vgl. Oppitz (Anm. 19), S. 359, Nr. 87, und ‚Stendaler Urteilsbuch‘ (Anm. 30).



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(2.) Sleit die jode eynen kerstenen man, oder dûth her yme ungerichte, dâ her mede begriffen wirt, men richtet uber ine alse uber eynen kerstenen. (3.) Sleit ouch der kersten man eynen joden, men richtet uber ine durch des kuninges vrede, den her an ym gebrochen hât, oder dûth her eyn ungerichte an ym. Dissen vrede irwarf one Josaphus weder den koning Vaspasianum, dô her sînen sonen Tytus gesunt machede von der (g)icht.40

Die hier beschriebene, explizite Verurteilung des Christen als Friedensbrecher (was im Judenrecht des bebilderten ‚Sachsenspiegels‘ eine Enthauptung impliziert) wird im vorliegenden Stendaler Prozess nicht thematisiert, was mit der Frage des Vorsatzes zusammenhängen könnte. Die Magdeburger Schöffen beschlossen angesichts der Stendaler Anfrage die Zahlung zweier Geldbußen. Aber auf Basis welchen Rechts gelangten sie zu diesem Urteil? Weder das Judenrecht des ‚Sachsenspiegels‘ noch des ‚Weichbilds‘ oder des ‚Unsystematischen und Systematischen Schöffenrechts‘ oder anderer beinhaltet eine solche Bestimmung. Im ‚Sachsenspiegel‘ (1220/35) lässt sich allerdings folgende, von der religiösen Zugehörigkeit der Prozessparteien unabhängige Regelung finden: Nu vornemt aller lute wergelt unde buse: Vorsten unde vrie herrin, schepphinbare luite, di sin glich in buse unde in wergelde. Doch eret man di vorsten unde vrie herren mit golde zu gebene unde gibet en zwelf guldine phenninge zu buse, der sal iclicher ein dri phenning gewichte silbers wegen. Das phenning gewichte goldis nam man hi vor zwene silbirs, sus waren di zwelf phenninge drisig Schillinge wert. Den schepphinbaren vrien luiten gibit man drisig Schillinge zu buze phundischir phenninge, der sullen zwenzig Schillinge eine marg wegin. Ir wergelt sin achzen phunt phundischer phenninge. Ein iclich wip hat ires mannes halbe buse unde wergelt. […] Spillute unde alle, di sich zu eigen geben, den gibet man zu buse den schaten eins mannes. Kemphin unde irn kinderen gibet man zu buse eins schildis blig kegin der sunnen. Zwene beseme unde eine schere is ir buse, di ir recht mit dube oder mit roube oder andirs vorwirken. Unelicher lute buse gibet luzil vrumen unde is doch durch das gesazt, das der buse des richters gewette volge.41

40 ‚Sachsenspiegel‘ (Anm. 26), S.  198 (III  7 §  2/3); Übersetzung auf ‚Sachsenspiegel Online‘, URL www.sachsenspiegel-online.de (einges. 10.6.2014): „Erschlägt ein Jude einen Christen oder begeht er gegen ihn eine Gewalttat, bei der er ergriffen wird, so richtet man über ihn wie über einen Christen. Erschlägt ferner ein Christ einen Juden, so richtet man ihn, weil er den Königsfrieden an ihm gebrochen hat.“ Vgl. ‚Alte Magdeburgische‘ (Anm. 19), S. 310 (Magdeburg-Görlitzer Recht von 1304, Art. 118): Von des juden gewere. Der jüde en muz des cristenen mannes gewere nicht sie. her en wolle danne antworten. in cristenes mannes stat. Sleit der jüde einen cristenen man tot. oder tut her vngerichte an im, da her mite begriffen wirt. man richtet ubir en als ubir einen cristenen man. Sleit ouch ein kristenen man. einen jüden. man richtet uber en. durch des koniges vride. den her an im gebrochen hat. oder tut her vngerichte an im. 41 Vgl. ‚Sachsenspiegel‘ (Anm. 26), S. 232–234 (III Art. 45); Übersetzung auf ‚Sachsenspiegel Online‘, URL www.sachsenspiegel-online.de (einges. 10.6.2014): „Nun hört von jedermanns Wergeld und Buße: Fürsten, Freiherren, schöffenbare Leute sind gleich in bezug auf Buße und Wergeld. Doch ehrt man die Fürsten und Freiherren dadurch, daß man sie in Gold bezahlt, und man gibt ihnen zwölf goldene Pfennige als Buße, von denen jeder drei Pfenniggewichte Silbers wiegen soll. Das Pfennig­ gewicht Goldes nahm man da für zehn von Silber, so waren die zwölf Pfennige dreißig Schillinge wert.





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In dieser Bestimmung des ‚Sachsenspiegels‘ werden acht Bußstufen unterschieden: So erhalten 1. Fürsten, Freiherren und „schöffenbare“ Leute dreißig Schillinge; 2.  sogenannte „Biergelden“ und Zinspflichtige, die vor das Schultheißengericht ziehen, sowie andere freie Leute, die Landsassen heißen, fünfzehn Schillinge; 3. Tagelöhner zwei wollene Handschuhe und eine Mistgabel; 4. Kinder von Geistlichen oder unehelich geborene Kinder ein „Fuder“ Heu, wie es zwei einjährige Ochsen ziehen können; 5. Schauspieler und Leibeigene den Schatten eines Mannes; 6. Lohnkämpfer und ihre Kinder das Blinken eines Kampfschwertes und 7. Rechtlose zwei Besen und eine Schere. 8. erhält jede Frau die Hälfte der Buß(geld)höhe ihres Mannes und jedes Mädchen die Hälfte des üblichen Bußgeldes innerhalb ihres Standes. Weitere Bußbestimmungen finden sich im ‚Sächsischen Weichbild‘.42 Nach Kenntnis der Bußgeldbestimmungen aus ‚Sachsenspiegel‘ und ‚Weichbild‘ wird deutlich, dass die Stendaler Juden im Magdeburger Schöffenspruch nicht wie Personen minderer sozial-rechtlicher Stellung mit einer Scheinbuße abgespeist wurden.43 Vielmehr sollten sie die jeweils höchstmögliche Bußgeldzahlung – nämlich dreißig Schillinge für Männer und fünfzehn Schillinge für Frauen – durch den geständigen Christen erhalten und demnach wie „schöffenbarfreie“ Leute entschädigt werden. Darüber hinaus wurde hier ein von der religiösen Zugehörigkeit der Streitenden unabhängiges Recht in der Rechtsprechung für Juden angewendet – also kein Sonderrecht, sondern Gemeinrecht.

Den schöffenbarfreien Leuten gibt man dreißig Schillinge vollwichtiger Pfennige als Buße, von denen zwanzig Schillinge eine Mark wiegen sollen. Ihr Wergeld sind achtzehn Pfund vollwichtiger Pfennige. Jede Frau hat ihres Mannes halbe Buße und Wergeld. [...] Spielleuten und allen denjenigen, die sich in Leibeigenschaft begeben, denen gibt man als Buße den Schatten eines Mannes. Lohnkämpfern und ihren Kindern gibt man als Buße das Blinken eines Kampfschildes gegen die Sonne. Zwei Besen und eine Schere ist die Buße derjenigen, die ihr Recht mit Diebstahl oder mit Raub oder auf andere Weise verwirken. Rechtsunfähiger Leute Buße bringt geringen Nutzen und ist doch darum festgesetzt, damit der Buße das Gewette des Richters folgen kann.“ 42 ‚Dat buk‘ (Anm. 26), S. 52: Art. CXI. Wie slet enen spelman, kempen, varnde vroteen und varnde lüde. Welk man sleit enen spelman, kempen, varnde vrowen und varnde lüde ane wunden, wert he des beklaget vor deme richtere, und bekenne he des, he weddet acht schillinge und gift dem legere selve bute. dal sin veftein schillinge. Under koninges banne weddet he dre punt deme burchgreven of he dar to gerichte sittet, und deme scultheiten achte schillinge. Vgl. ‚Saechsische Weichbildrecht‘ (Anm. 26) Sp. 169: CXXVI. (Z. a. 127.) Von Busse unde von Wergelde. §. 1. Welch man slet eynen mezeman, daz sien spillute, und kemphen, unde varnde frouwen, ane wunden, wirt er des beclaget vor dem richtere, unde bekennet er is, er wettet dem richtere unde dem clegere halbe buze; daz sien funfzehn Schillinge. §. 2. Under koninges banne wettit man drie phunt, unde deme schultheisen acht schillinge. 43 Hermann Nehlsen, Buße, Weltliches Recht, Deutsches Recht, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (1983), Sp. 1144–1149.



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Fazit Schon 1949 formulierte Guido Kisch die These, dass die im ‚Sachsenspiegel‘ auffindbaren judenrechtlichen Bestimmungen zum Königsschutz (damit zusammenhängend Regelungen zum Waffen- und Strafrecht), zum Marktschutzrecht und zur Gewährschaftspflicht zwar ein Sonderrecht darstellten, die Rechtslage der Juden sich darüber hinaus jedoch nicht wesentlich von jener der Christen unterschied.44 Ein Indiz dafür lässt sich bereits in den codices picturati des ,Sachsenspiegels‘ finden, wo ein Jude in der Bebilderung des Artikels Ldr. III 70 als Urteils­finder neben anderen Stammesangehörigen in Erscheinung tritt, jedoch nicht im Text erwähnt wird.45 Wie Sachsen und Franken konnten demnach auch Juden das Recht der Urteilsfindung beanspruchen, zumindest in der Zeit der Illustratoren oder ihrer Anweiser – eine Tatsache, die seinerzeit im Sachsenspiegeltext offenbar nicht thematisiert werden musste. Noch deutlicher wird das von Kisch beschriebene Phänomen in den Magdeburger Schöffensprüchen, wo im Falle von religiös gemischten Prozessen mehrheitlich nach ‚Christenrecht‘ geurteilt wurde, wohl auch in Ermangelung dezidiert judenrechtlicher Bestimmungen. Letztlich lässt sich bereits in bedeutsamen Rechts­büchern des ‚Magdeburger Rechts‘ – wie dem ‚Weichbild‘ oder im ‚Unsystematischen und Systematischen Schöffenrecht‘ – der Bedeutungsverlust einiger Judenrechte des ‚Sachsenspiegels‘ beobachten: Der Königsschutz und das Marktschutzrecht werden hier nicht mehr explizit aufgeführt.46 An die Stelle dieser Sonderrechte trat in der Rechtsprechung Gemeinrecht. Die Aufgabe oder Beschneidung jüdischer Sonderrechte kann einerseits als eine Entrechtung der – nun schutzlos einer feindlich gesinnten christlichen Mehrheit ausgelieferten – jüdischen Bevölkerungsteile gedeutet werden. Andererseits ließe sich dies gleichermaßen als eine – im Streben nach Konfliktminimierung und Friedensbewahrung begründete – Nivellierung oder Homogenisierung der nebeneinander bestehenden kaiserlichen, territorialen und städtischen Gruppen- oder auch Individualrechte beschreiben. Neithard Bulst hat auf den Erhalt der öffentlichen Ordnung als eine hinter der Divergenz zwischen Satzung, Urteil und Vollstreckung im mittelalterlichen Recht stehende Motivation hingewiesen.47 Auch Ulrich Eisenhardt

44 Guido Kisch, The Jews in medieval Germany, Chicago 1949, S. 86–90. 45 ‚Sachsenspiegel‘ (Anm. 26), S. 255 (III 70 § 1): Swar men nicht ne dinget under koninges banne, dar mut iewelk man wol ordel vinden 〈 unde tuch sin 〉 over den anderen, den men nicht rechtlos bescelden 〈ne〉 mach, ane de Wend oppe den Sassen unde de Sasse oppe den Wend. („Wo man nicht unter Königsbann Gericht hält, da darf wohl jedermann Urteil über den anderen finden, den man nicht als rechtlos schelten kann, ausgenommen der Wende über den Sachsen und der Sachse über den Wenden.“). 46 Allerdings findet sich das Marktschutzrecht, wie es im Sachsenspiegel beschrieben ist, in einem Rechtsgangbuch; vgl. Die Blume von Magdeburg, hrsg. v. Hugo Böhlau, Weimar 1868, S. 130. 47 Bulst (Anm. 24), S. 470f., 484.





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beschrieb – in Rückgriff auf die Vorreden des ‚Sachsenspiegels‘ – die Friedenswahrung und -schaffung als vordringlichste Aufgabe der mittelalterlichen Gesellschaft und in diesem Sinne als Stimulus von Rechtsbildung und Rechtsdurchsetzung.48 Entwickelt man diesen Ansatz weiter, ließe sich die im Magdeburger Rechtskreis zu be­obachtende Approximation jüdischer an christliche Rechte auch als regionaler Inklusionsversuch beschreiben, der durch die beginnenden Territorialisierungsprozesse im Reich provoziert worden war. Die Ausweisung der Juden aus dem Erzbistum Magdeburg (Ende des 15. Jahrhunderts) müsste im Anschluss daran allerdings als Scheitern dieses Inklusionsversuchs gedeutet werden.

48 Eisenhardt (Anm. 21), S. 52–54. Womöglich in Bezug auf die Gottesfriedensvorstellung beschreibt Eike von Repgow die Friedenswahrung als höchstes Ziel des Sachsenspiegelrechts.



Daniel König (Heidelberg)

Übersetzungskontrolle. Regulierung von Übersetzungsvorgängen im lateinisch/romanisch-arabischen Kontext (9.–15. Jahrhundert) Abstract: Neben ihrer Rolle als Sakralsprachen zweier ‚Erben Abrahams‘ – westund mitteleuropäischer Christen auf der einen, Anhänger des Islams auf der anderen Seite – nahmen Latein und Arabisch im Mittelalter auch viele andere Funktionen ein. Im Rahmen eines chronologischen Überblicks über verschiedene lateinisch-arabische Übersetzungsmilieus wird herausgearbeitet, ob und wie Übersetzungsvorgänge zwischen beiden Sprachen reguliert wurden. Wem gegenüber zu welchem Zweck, in welchem Grade und mit welchen Mitteln Übersetzungskontrolle praktiziert wurde, variierte dabei je nach Milieu und folgte keinem simplen Schema religiöser Demarkationslinien. Das im letzten Teil des Artikels ausführlich behandelte Beispiel von Übersetzungen in der mediterranen Wirtschaftsdiplomatie des 13.–15. Jahrhunderts macht deutlich, wie pragmatisch geleitete Kommunikationsbedürfnisse einem ethnisch und religiös diversifizierten Berufsstand von Dolmetscher-Übersetzern Auftrieb gaben, der als Mittler zwischen Sprachgruppen auftrat, die sich auch, aber nicht nur, über religiöse und ethnische Zugehörigkeit definierten.

In seinem 1992 erschienenen Roman „Mein Herz so weiß“ (Corazón tan blanco) schildert Javier Marías eine professionelle Begebenheit aus dem fiktiven Leben des Dolmetschers Juan. Mit einer Kontrolldolmetscherin im Rücken ist ihm die Aufgabe zugewiesen, die Unterhaltung des spanischen Königs und der britischen Premier­ ministerin simultan zu übersetzen. Als sich das Gespräch auf Plattitüden beschränkt und in immer längeren Schweigepausen verliert, nimmt sich Juan die Freiheit einer Falschübersetzung. Die königliche Frage „Soll ich einen Tee für Sie bestellen?“ übersetzt er mit „Sagen Sie, liebt man Sie eigentlich in Ihrem Land?“ Der Effekt ist elektrisierend. Die Kontrolldame zögert, ob sie eingreifen soll, tut dies aber nicht. Denn obwohl Juan dem Berufsethos eines professionellen Dolmetschers vollkommen zuwider gehandelt hat, bringt er dennoch – endlich – ein hochinteressantes Gespräch über Herrschaft in Gang.1 Als Mittler zwischen denen, die sich sprachlich nicht verständigen können, haben Dolmetscher und Übersetzer eine besondere Vertrauensposition inne. Sie können, wie Pascal Buresi mit dem italienischen Bonmot „traduttore – traditore“ deutlich

1 Javier Marías, Mein Herz so weiß, Stuttgart 1996, S. 83.

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macht, ihre Macht über die von ihnen sprachlich Abhängigen ausnutzen.2 Daher rührt nicht nur die Erwartung, dass sie sich quasi maschinenartig auf ihre Funktion als Sprachrohr Anderer zurückziehen, sondern auch das Bemühen um die Überprüfung ihrer Übersetzungsleistung. Derartige Formen der Übersetzungskontrolle stehen im Zentrum des vorliegenden Aufsatzes. Sprachlich richtet sich das Augenmerk dabei auf das Lateinische und seine romanischen Derivate sowie das Arabische; Sprachen, die weit über die mittelalterliche Epoche hinaus eine regionenübergreifende Bedeutung als Sakral-, Administrations- und Wissenschaftssprachen innehatten und – im Falle des Arabischen – noch haben.

Anfänge sprachlicher Vermittlung Die Beziehungen zwischen beiden Sprachwelten beginnen um die Zeitenwende, als große Teile des Nahen Ostens in das expandierende Römische Reich einverleibt wurden. An der Verbreitung lateinischer Inschriften lässt sich zeigen, wie das Lateinische Einzug in die sukzessive entstehenden römischen Provinzen Syria, Aegyptus, Judaea, Arabia Petraea und Mesopotamia hielt.3 Dort wurden unter anderem Sprachund Schriftformen genutzt, die – wie das Nabatäische – als Vorläufer einer sich zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert ausbildenden arabischen Standardsprache ange­ sehen werden können oder – wie das Hebräische und Aramäische – dieser zumindest verwandt waren.4 Der Einfluss des Lateinischen auf diese Sprachlandschaft manifestiert sich zwar im administrativen und militärischen Vokabular wie auch im Onomastikon des Aramäischen und Nabatäischen und findet sogar noch im 7. Jahrhun-

2 Pascal Buresi, Traduttore, traditore, à propos d’une correspondance arabe-latine entre l’Empire almohade et la cité de Pise (début XIIIe siècle), in: Oriente Moderno 88, 2 (2008: Les relations diplomatiques entre le monde musulman et l’Occident latin [XIIe–XVIe siècle], hrsg. v. Denise Aigle und Pascal Buresi), S. 297–309. 3 François Villeneuve, Carl Philipps u. William Facey, Une inscription latine de l’archipel Farasân (sud de la mer Rouge) et son contexte archéologique et historique, in: Arabia 2 (2004), S. 143–192; Dhaifallah al-Talhi u. Mohammad al-Daire, Roman Presence in the Desert: A New Inscription from Hegra, in: Chiron. Mitteilungen der Kommission für alte Geschichte und Epigraphik des Deutschen Archäologischen Instituts 35 (2005), S. 205–217; Werner Eck, The Presence, Role and Significance of Latin in the Epigraphy and Culture of the Roman Near East, in: Hannah M. Cotton u. a. (Hgg.), From Hellenism to Islam. Cultural and Linguistic Change in the Roman Near East, Cambridge 2009, S. 15–42; Benjamin Isaac, Latin in Cities of the Roman Near East, in: ebd., S. 43–72. 4 Zur Ausbildung des Standardarabischen vgl. Ernst Axel Knauf, Arabo-Aramaic and ʿArabiyya: From Ancient Arabic to Early Standard Arabic, 200 CE–600 CE, in: Angelika Neuwirth, Nicolai Sinai u. Michael Marx (Hgg.), The Qur’ān in Context. Historical and Literary Investigations into the Qur’ānic Milieu, Leiden 2011, S. 197–254. Zum Hebräischen und Aramäischen vgl. Haim B. Rosén, Die Sprachsituation im römischen Palästina, in: Günter Neumann u. Jürgen Untermann (Hgg.), Die Sprachen im Römischen Reich der Kaiserzeit, Bonn 1980, S. 215–238.



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dert Niederschlag im Koran. Dennoch scheint es nur selten zur direkten Interaktion von lateinischen und altarabischen Sprachwelten gekommen zu sein. Meist wurden Begriffe und Konzepte über das Griechische aus der einen in die andere Sprache übernommen.5 Erst die arabisch-islamische Expansion in den westlichen Mittelmeerraum leitete eine Phase des direkten und regelmäßigen Aufeinandertreffens beider Sprachwelten ein. Frühmittelalterliche Quellen aus Aquitanien und Süditalien erwähnen Kommunikationssituationen zwischen wahrscheinlich arabisch-sprachigen Muslimen und romanisch-sprachigen Christen.6 Auf der Iberischen Halbinsel waren zudem bald die soziokulturellen Voraussetzungen für eine Übersetzung lateinischer Texte ins Arabische gegeben.7 Obwohl die Quellenlage spärlich ist, lässt sich schon für diese Periode nachweisen, dass gewisse Formen der Übersetzungskontrolle praktiziert wurden. Die von einem gewissen Ḥafṣ b. Albar zwischen dem Ende des 9. und dem 10. Jahrhundert ins Arabische übertragene lateinische Psalmenübersetzung des Hieronymus enthält eine ausführliche Einleitung zu übersetzungstheoretischen Fragen in Versform. Weil er sich anscheinend vor nicht näher spezifizierter Kritik fürchtete, ging Ḥafṣ b. Albar hier ausführlich auf die Schwierigkeiten ein, das lateinische Metrum der Psalmen ins Arabische zu übertragen und dabei sowohl dem Inhalt als auch den Besonderheiten der arabischen Dichtkunst gerecht zu werden.8 Übersetzungskontrolle wurde hier durch ein imaginiertes, vielleicht auch reales Publikum ausgeübt, das angesichts

5 David F. Graf, The Nabatean Army and the Cohortes Ulpiae Petraeorum, in: ders. (Hg.), Rome and the Arabian Frontier: from the Nabataeans to the Saracens, Aldershot 1997, S. 289–290, 296, 301; Rosén (Anm. 4), S. 230–235; Irfan Shahîd, Latin Loan Words, in: Encyclopedia of Arabic Language and Linguistics, Bd. 3 (2008), S. 6–8. Zwei nabatäisch-lateinische Inschriften aus Italien liefern ­seltene Beispiele für das direkte Nebeneinander beider Sprachen, vgl. Knauf (Anm. 4), S. 230. 6 Vgl. etwa die Gespräche eines Maurus mit einem gewissen Datus aus Rouerge sowie eines Agarenus mit dem Fürsten Guaiferius von Salerno und einem amalfitanischen Händler: Ermoldus Nigellus, Carmen in honorem Hludowici, hrsg. v. Ernst Dümmler (MGH Poetae 2), Berlin 1884, S. 11f. (lib. 1, vv. 207–249); Chronicon Salernitanum, hrsg. v. Ulla Westerbergh, Stockholm 1956, S. 122f. (§ 110). 7 Vgl. Dominique Millet-Gérard, Chrétiens mozarabes et culture islamique dans l’Espagne des VIIIe–IXe siècles, Paris 1984, S. 49–62; Mayte Penelas, Linguistic Islamization of the „Mozarabs“ as Attested in a Late Ninth-Century Chronicle, in: Ernst Bremer u. a. (Hgg.), Language of Religion – Language of the People. Medieval Judaism, Christianity and Islam, München 2006, S. 103–114; Ángeles Vicente, El proceso de arabización de Alandalús. Un caso medieval de interacción de lenguas, Zaragoza 2007; Cyrille Aillet, Les Mozarabes. Christianisme, islamisation et arabisation en péninsule Ibérique (IXe–XIIe siècle), Madrid 2010, S. 133–212. 8 Siehe Ḥafṣ bin Albar, Urǧūza, in: Le psautier mozarabe de Hafs le Goth, hrsg. u. übers. v. MarieThérèse Urvoy, Toulouse 1994, S. 14–20, besonders S. 19 (vv. 99–104, 108–111, 116–119), wo Ḥafṣ Menschen erwähnt, die ihn dazu anhielten, eine Übersetzung zu erstellen. Diese stellt er unwissenden und sturen Menschen gegenüber, die seine Leistung lächerlich machten und sich ihm gegenüber feindlich verhielten. Vgl. Douglas Morton Dunlop, Ḥafṣ b. Albar: The Last of the Goths?, in: Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland 3/4 (1954), S. 139–146, besonders S. 144f.



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ekklesiologischer Interpretationen über den einzelnen Psalmen wohl aus arabischsprachigen Zeitgenossen christlicher Religionszugehörigkeit bestand. Für den Bereich der oralen Kommunikation lässt sich zeigen, dass Dolmetscher im Rahmen offizieller diplomatischer Kontakte zwischen dem umayyadischen Hof in Córdoba und Gesandten aus dem christlichen Norden nur mit Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Herrschers übersetzen konnten. Dem Geschichtsschreiber Ibn Ḥayyān (gest. 469/1076) zufolge soll der Kalif al-Ḥakam II. im Jahre 973–74 den als Dolmetscher fungierenden Vertreter der Christen von Córdoba abgestraft haben, weil er die scharfzüngigen Worte eines leonesischen Gesandten wörtlich, also letztlich korrekt übersetzt hatte!9 Beide Beispiele zeigen, dass Übersetzer und Dolmetscher nicht im luftleeren Raum agierten, sondern sich (potenzieller) Kritik zu stellen hatten. Sie erlauben jedoch nicht, Rückschlüsse auf eine systematische Kontrolle von Übersetzungsleistungen zu ziehen.

Ein verstärktes Bedürfnis nach sprachlichen Vermittlungsleistungen Dank des militärischen, diplomatischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Ausgreifens lateinischer Christen in den Mittelmeerraum des Hoch- und Spätmittelalters kam es verstärkt zu Kommunikationssituationen zwischen Vertretern lateinischchristlicher und arabisch-islamischer Gesellschaften. Deren viel üppigere Dokumentation erlaubt es nun, konkrete Mechanismen der Übersetzungskontrolle in verschiedenen Kontexten nachzuvollziehen. Für diese Periode wird das Sprachpaar Latein-Arabisch meist mit dem etwa im 12. Jahrhundert einsetzenden arabisch-lateinischen Wissens- und Wissenschaftstransfer in Verbindung gebracht. Unter den Schlagwörtern wie ‚griechisch-arabische Wissenschaft‘ und ‚Vermittlungsraum islamische Welt‘ wird ein Forschungsfeld umrissen, in der Übersetzungen unter anderem als Handwerk sprach- und kulturübergreifender Wissensakquise fungierten.10

9 Ibn Ḥayyān, al-muqtabis fī aḫbār balad al-Andalus [VII], hrsg. v. ʿAbd ar-Raḥmān ʿAlī al-Ḥaǧǧī, Beirut 1965, S. 146 (anno hegirae 363): wa-tawaṣṣala ilayhi baʿdahum rusul Ḥalwīra ʿammat aṭ-ṭāġiya amīr Ǧillīqiyya wa-kāfilatihi fa-takallamū ʿan mursalatihim bi-kalām badā fīhi baʿḍ al-ǧifā’, tarǧamahu naṣṣan ʿanhum Aṣbaġ bin ʿAbd Allāh Ibn Nabīl qāḍī an-naṣārā bi-Qurṭuba al-mutawallī ḏālika ʿan al-aʿāǧim, ankarahu al-ḫalīfa li-waqtihi, fa-izwarra li-l-mutarǧim wa-naharahu, wa-amara bi-ta’ḫīr ar-rusul ʿanhu wa-nālihim bi-baʿḍ at-tawbīḫ, wa-alzama Aṣbaġ al-mutarǧim ḏanbahu, wa-amara ­bi-iqṣā’ihi wa-ʿazlihi ʿan quḍā’ an-naṣārā wa-ihānatihi. 10 Vgl. den Überblick bei Charles Burnett, Translation from Arabic to Latin in the Middle Ages, in: Harald Kittel (Hg.), Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, Bd. 3, Berlin 2011, S. 1231–1237.



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In der frühen Phase dieser Übersetzungsbewegung zeigen Plagiatsvorwürfe, dass den Beteiligten große Freiräume zur Verfügung standen. Der in Salerno und Monte Cassino tätige Constantinus Africanus (gest. 1087) etwa verschleierte den arabischislamischen Ursprung seiner medizinischen Schrift ‚Pantegni‘ weitestgehend.11 Weil es so mancher Übersetzer mit der Urheberschaft eines Textes nicht so genau nahm, forderte der sevillanische Gelehrte Ibn ʿAbdūn schon um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert, dass man Juden und Christen keine von Muslimen verfassten wissenschaftlichen Bücher verkaufen solle. Denn oft übersetzten sie diese und schrieben sie dann einem ihrer Glaubensbrüder oder Bischöfe zu.12 Auch vor diesem Hintergrund scheinen Übersetzer aus dem Toledo des 12. Jahrhunderts ihre texttreue Arbeitsweise dadurch bewiesen zu haben, dass sie – oft bei Verzicht auf Nennung ihres Namens – Wort für Wort übersetzten, selbst wenn diese Technik den Sinn oft verschleierte.13 In dieser frühen, noch von sprachlichen Unsicherheiten geprägten Phase der Übersetzungsbewegung scheint die wörtliche Übersetzung aber auch die Möglichkeit eröffnet zu haben, mangelnde Sprachkompetenzen auszugleichen. Weil die beteiligten Übersetzter oft nur eine der beiden notwendigen Sprachen beherrschten, wurde der arabische Originaltext häufig in einem zweistufigen Übersetzungsprozess vom Arabischen über den als Mittlersprache fungierenden romanischen Dialekt in die lateinische Schriftsprache überführt.14 Auch die häufige Transkription arabischer Termini lässt sich teilweise auf die mangelnde Fachsprachenkompetenz der Übersetzer zurückführen,15 wie unter anderem aus der Einleitung Stephans von Antiochien zu seiner im 12. Jahrhundert erstellten lateinischen Übersetzung des pharmakologischen Traktates von Dioscorides hervorgeht. Da er die lateinischen Namen der in den griechischen und arabischen Manuskripten aufgelisteten Medikamente nicht immer gekannt habe, sollten sich wissensbegierige

11 Vgl. Raphaela Veit, Transferts scientifiques de l’Orient à l’Occident, in: Rania Abdellatif u. a. (Hgg.), Acteurs des transferts culturels en Méditerranée médiévale, Paris 2012, S. 146–155, hier S. 149f. Zu Constantinus Africanus auch Thomas Ricklin, Der Fall Gouguenheim, in: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 119–135, hier 125–130. 12 Ibn ʿAbdūn, risāla fī l-ḥisba. Un document sur la vie urbaine et les corps de métiers à Séville au début du XIIe siècle, hrsg. v. Évariste Lévi-Provençal, in: Journal Asiatique 224 (1934), S. 177–296, hier S. 248; Evariste Lévi-Provençal, Séville musulmane au début du XIIe siècle. Le traité d’Ibn ʿAbdūn sur la vie urbaine et les corps de métiers. Traduit avec une introduction et des notes, 2. Aufl. Paris 2001, S. 92 (cap. 206). 13 Burnett (Anm. 10), S. 1234f. 14 Marie-Thérèse d’Alverny, Les traductions à deux interprètes, d’arabe en langue vernaculaire et de langue vernaculaire en latin, in: dies. u. Charles Burnett (Hgg.), La Transmission des textes philosophiques et scientifiques au Moyen Âge, Aldershot 1994, S. 193–206. 15 Raja Tazi, Arabismen im Deutschen, Berlin 1998, S. 65–67.



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Leser nach Sizilien und Salerno wenden, wo man kompetente Hilfe im Griechischen und Arabischen finden könne.16 Dass man die Korrektheit von Übersetzungen abzusichern versuchte, lässt sich nun häufiger nachweisen: Petrus Venerabilis etwa gab den Koranübersetzern Robert von Ketton, Hermann von Dalmatien und Petrus von Toledo 1141 einen ‚Sarazenen‘ namens Mahumetus zur Hilfe, „damit der Übersetzung eine strenge Glaubwürdigkeit nicht fehle“.17 Zunehmend kam es außerdem zur Überarbeitung oder gar zur Neu­ anfertigung schon getätigter Übersetzungen. Hier manifestiert sich in der Revision ein auf mehrere Übersetzergenerationen verteiltes Bemühen um Qualitätssicherung.18 Außerhalb des gelehrten Bereiches tritt nun das Bemühen hervor, eine reibungslosere Kommunikation zwischen Vertretern lateinisch-christlicher und arabischislamischer Gesellschaften zu gewährleisten. Die normannisch-staufische Kanzlei in Sizilien liefert mit ihrer teils trilingualen Urkundenproduktion das Paradebeispiel für einen Verwaltungsapparat, in dem linguistische Kompetenz, sprachliche Exaktheit und ein sicherer Umgang mit Fachtermini geschätzt wurden.19 Die illustrierte Fassung des ‚Liber ad honorem Augusti sive de rebus Siculis‘ des Petrus de Ebulo (gest. ca. 1220) zeigt die einzelnen ‚Sprachabteilungen‘ dieser Kanzlei: Als notarii greci bezeichnete bärtige Männer sitzen neben den mit Turban bekleideten notarii saraceni und

16 Charles Burnett, Antioch as a Link Between Arabic and Latin Culture in the Twelfth and Thirteenth Centuries, in: Isabelle Draelants, Anne Tihon u. Baudouin van den Abeele (Hgg.), Occident et Proche-Orient: Contacts scientifiques au temps des croisades, Turnhout 2001, S. 1–70, hier S. 38f. 17 Petrus Venerabilis, Contra sectam Saracenorum, in: Petrus Venerabilis: Schriften zum Islam, hrsg. v. Reinhold Glei (Corpus Islamo-Christianum Series Latina 1), Altenberge 1985, S. 30–225, hier S. 52–55 (Prologus, cap. 17): Et ut translatione fides plenissima non deesset nec quicquam fraude aliqua nostrorum notitiae subtrahi posset, Christianis interpretibus etiam Saracenum adiunxi. Christianorum interpretum nomina: Robertus Ketensis, Armannus Dalmata, Petrus Toletanus. Saraceni Mahumetus nomen erat. Vgl. Ulisse Cecini, Alcoranus latinus. Eine sprachliche und kulturwissenschaftliche Analyse der Koranübersetzungen von Robert von Ketton und Marcus von Toledo, Münster 2012, S. 85–96, 163–169. 18 Burnett (Anm. 10), S. 1235, am Beispiel des ‚kitāb al-malikī‘ des ʿAlī b. al-ʿAbbās; Dag Nikolaus Hasse, The Social Conditions of the Arabic-(Hebrew-)Latin Translation Movements in Medieval Spain and the Renaissance, in: Andreas Speer u. Lydia Wegener (Hgg.), Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 33), Berlin 2006, S. 68–86, hier S. 79, am Beispiel des ‚Qānūn‘ von Ibn Sīna/Avicenna. Zu Letzterem auch Danielle Jacquart, Arabisants du Moyen Âge et de la Renaissance: Jérome Ramusio (1486) correcteur de Gérard de Crémone (1187), in: Bibliothèque de l’École des Chartes 147 (1989), S. 399–415. Zu den arabisch-kastilischen Übersetzungen unter Alfons X. im 13. Jh. und dem dort gebrauchten Korrektursystem vgl. Anthony Pym, Translation History and the Manufacture of Paper, in: Roger Ellis, René Tixier u. Bernd Weitemeier (Hgg.), The Medieval Translator – Traduire au Moyen Age, Bd. 6, Turnhout 1998, S. 57–71, hier S. 63f. 19 Jeremy Johns, Arabic Administration in Norman Sicily. The Royal Diwān, Cambridge, New York 2002, S. 207, 297f.; Alex Metcalfe, Muslims and Christians in Norman Sicily. Arabic Speakers and the End of Islam, London, New York 2003, S. 127f., 135–137.



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den glattrasierten notarii latini.20 Verlässliches Personal und dessen sicherer Umgang mit der jeweils anderen Sprache spielten aber auch außerhalb der normannischstaufischen Sphäre eine bedeutende Rolle, wie etwa die hauptsächlich in lateinischer Übersetzung erhaltene schriftliche Korrespondenz zwischen Päpsten und almohadischen und ayyubidischen Herrschern zeigt.21 Bei den missionarisch tätigen Franziskanern und Dominikanern wurden im 13. und 14. Jahrhundert nun Maßnahmen zur Ausbildung von Missionaren getroffen, die des Arabischen mächtig waren.22 Besonders wichtig waren verlässliche sprachliche Vermittlungsleistungen, wenn es – etwa beim Abschluss von Verträgen – darum ging, eine konkrete Einigung zwischen zwei Parteien unterschiedlicher Sprache zu erzielen. Dabei konnte es zu stilistischen Einbußen kommen, wie der mamlukische Kanzleisekretär al-Qalqašandī (gest. 821/1418) am Beispiel eines Vertrages deutlich macht, der 1283 im Syrien der Kreuzzüge geschlossen wurde: Ein Vertrag und eine Übereinkunft zwischen ihnen wurde Punkt für Punkt abgeschlossen. Ein Schreiber beider Parteien, also von Seiten der Muslime und der Franken, schrieb aufgrund der geforderten Eile in ungeschliffenen, groben Formulierungen, bis sie eine vertragliche Übereinkunft bis zum letzten Punkt des Vertrages (hudna) hergestellt hatten. Diesen verfasste der Schreiber des muslimischen Herrschers auf der Grundlage der Inhalte der Rohfassung (al-muswadda), damit er mit dem übereinstimmte, was der Schreiber der Franken geschrieben hatte. Wenn aber der Schreiber des [muslimischen] Herrschers Anstalten machte, die Reihenfolge zu verändern, Formulierungen zu glätten oder die Komposition eleganter zu gestalten, dann kam es zu Unstimmigkeiten in Bezug auf den Konsens, dem der Schreiber der Franken zugestimmt hatte. Diese wiesen dann diese [elegantere] Variante zurück und behaupteten aufgrund ihrer beschränkten Arabischkenntnisse, dass sie dem, was vertraglich abgemacht worden war, widerspreche. Der [muslimische] Schreiber war dann gezwungen, an der Abmachung festzuhalten, wie sie von beiden in der Rohfassung vereinbart worden war. Kurz gesagt, habe ich die genannten Exemplare erwähnt, deren schlechter Ausdruck und mangelnder Ordnungssinn darauf zurückzuführen ist, dass sie alle Punkte enthalten, die damals während des Vertragsabschlusses verhandelt

20 Petrus de Ebulo, Liber ad honorem Augusti sive de rebus Siculis. Codex 120 II der Burgerbibliothek Bern. Eine Bilderchronik der Stauferzeit, hrsg. von Theo Kölzer u. Marlis Stähli, übers. v. Gereon Becht-Jördens, Stuttgart 1994, fol. 101r. 21 Vgl. Karl-Ernst Lupprian, Die Beziehungen der Päpste zu islamischen und mongolischen Herrschern im 13. Jahrhundert anhand ihres Briefwechsels, Città del Vaticano 1981. Vgl. auch Hannes Möhring, Zwei ayyubidische Briefe an Alexander III. und Lucius III. bei Radulf de Diceto zum Kriegsgefangenenproblem, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 46 (2000), S. 197–216; Benjamin Z. Kedar, Religion in Catholic-Muslim Correspondence and Treaties, in: Alexander Beihammer, Maria G. Parani u. Christopher Schabel (Hgg.), Diplomatics in the Eastern Mediterranean 1000–1500. Aspects of Cross-Cultural Communication, Leiden 2008, S. 407–422. 22 John Tolan, Porter la bonne parole auprès de Babel: les problèmes linguistiques chez les missionaires mendiants, XIIIe–XIVe siècle, in: Peter von Moos (Hg.), Zwischen Babel und Pfingsten. Sprachdifferenzen und Gesprächsverständigung in der Vormoderne (8.–16. Jahrhundert), Zürich, Berlin 2008, S. 533–548.



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wurden, damit ein [heutiger] Schreiber aus ihnen Ideen zum Sinn und Zweck von Verträgen ziehen kann, von denen er vielleicht nichts weiß.23

Indem er auf die Probleme hinweist, die sich aus der Ungleichwertigkeit von Sprachkenntnissen ergaben, rechtfertigt al-Qalqašandī, warum seine Dokumentensammlung Schriftstücke enthält, die nicht den gewohnten Normen der von ihm gepflegten Kanzleitradition entsprachen.24 Immerhin war es in diesem Fall zu einer beiderseits akzeptierten Übereinkunft gekommen und keine Seite sprachlich übervorteilt worden. Um Letzterem vorzubeugen, verordnete die von dem kastilischen König Alfons X. Mitte des 13. Jahrhunderts initiierte Rechtssammlung der ‚Siete Partidas‘ Folgendes: Wenn diejenigen, die einen Vertrag abschließen, beide nicht dieselbe Sprache sprechen, z. B. wenn einer ladino und der andere Arabisch (arabigo) spricht, dann gilt die Abmachung nur, wenn beide einander in Bezug auf Fragestellung und Lösung verstanden haben. Dasselbe bestimmen wir auch, wenn sie zwei [andere] Sprachen sprechen, aber sich nicht gegenseitig verstehen. Wenn sie aber in beiderseitiger Anwesenheit einen Vertrag mit Hilfe eines Dolmetscherdienstes (trujamania) schließen, auf den sie sich beide geeinigt haben, dann gilt die Abmachung so, als hätten sie sich verstanden.25

23 Al-Qalqašandī, kitāb ṣubḥ al-aʿšā, hrsg. v. Muḥammad ʿAbd ar-Rasūl Ibrāhīm, 14 Bde., Kairo 1913–1922, Bd. 14, S. 70: fa-yaqaʿ al-ittifāq wa-t-tarāḍī bayna l-ǧihatayn ʿalā faṣlin faṣlin, fa-yaktubuhu kātib min kull ǧiha min ǧihatay al-muslimīn wa-l-Faranǧ bi-alfāẓ mubtaḏala ġayr rā’iqa, ṭalaban li-l-surʿa, ilā an yantahā bihim al-ḥāl fī  l-ittifāq wa-t-tarāḍī, ilā āḫir fuṣūl al-hudna, fa-yaktubuhā kātib al-malik al-muslim ʿalā ṣūra mā ǧarā fī l-muswadda, li-yutābiq mā kataba bihi kātib al-Faranǧ, iḏ law ʿadala fīhā kātib as-sulṭān ilā t-tartīb, wa-taḥsīn al-alfāẓ wa-balāġat at-tarkīb, la-ḫtalla al-ḥāl fīhā ʿammā wāfaqa ʿalayhi kātib al-Faranǧ awwalan, fa-yankurūnahu ḥīna’iḏin, wa yarawna annahu ġayr mā waqaʿa ʿalayhi al-ittifāq li-quṣūrihim fī  l-luġat al-ʿarabiyya, fa-yaḥtāǧ al-kātib ilā ibqā’ al-ḥāl ʿalā mā tawāfaqa ʿalayhi al-kātibān fī l-muswadda. wa-bi-l-ǧumla fa-innamā ḏakartu an-nusaḫ al-maḏkūra – ʿalā saḫāfat lafẓihā, wa-ʿadam insiǧām tartībihā – li-ištimālihā ʿalā l-fuṣūl allatī ǧarā fīhā al-ittifāq fīmā taqaddama min az-zamān, li-yastamadda minhā al-kātib mā laʿallahu lā yaḥḍur bi-bālihi min maqāṣid al-muhādanāt. 24 Vgl. Peter M. Holt, Qalāwūn’s Treaty with Acre 1283, in: The English Historical Review 91 (1976), S. 802–812, hier S. 803f; John Wansbrough, Lingua Franca in the Mediterranean, Richmond, Surrey 1996, S. 78f. 25 Siete Partidas del rey Don Alfonso el Sabio, Bd. 3, hrsg. v. La Real Academia de Historia, ­Madrid 1807, partida quinta, S. 255 (cap. XI, ley I): Et maguer que los que facen tal pleyto non fablen amos un lenguage, como si el uno fablase ladino et el otro arabigo, vale la promision solamiente que se entiendan el uno al otro sobre la pregunta et la respuesta. Eso mesmo decimos que serie si fuesen de dos lenguages, maguer non se entendiesen el uno al otro; ca si estando amos presentes firmasen el pleyto entre si por alguna trujamania en que se aveniesen amos á dos, valdrie la promision tambien como si se entendiesen los que facen el pleyto. Zu dem Begriff ladino vgl. Roger Wright, The End of Written Ladino in al-Andalus, in: Maribel Fierro u. Julio Samsó (Hgg.), The Formation of al-Andalus, Bd. 2: Language, Religion, Culture and the Sciences, London 1998, S. 19–36.



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Quellen des Hoch- und Spätmittelalters sprechen damit wiederholt das Thema sprachlicher Vermittlungsleistungen an. Dabei werden verschiedene Schwierigkeiten beleuchtet, eine den jeweiligen Bedürfnissen des Zielpublikums angepasste, inhaltsgleiche und stilistisch möglichst hochwertige Übersetzung herzustellen.

Regulierung sprachlicher Vermittlungsleistungen in der Wirtschaftsdiplomatie Ein Milieu, das weitgehende Ansätze zur Behebung dieser Schwierigkeiten ent­ wickelte, findet sich im hafsidischen Tunis des 13. bis 15. Jahrhunderts. Um das anfangs angesprochene Problem des „traduttore – traditore“ zu vermeiden, brauchte man hier einen „Dolmetscher, in den man Vertrauen hat“, wie ein 1456 zwischen Venedig und dem Hafsidenreich geschlossener Vertrag konstatiert.26 Das im 19. Jahrhundert zusammengetragene Corpus von Friedens- und Handelsverträgen zwischen der Krone Aragon und den Seestädten Pisa, Genua und Venedig auf der einen Seite, dem hafsidischen Tunis auf der anderen Seite, lässt erkennen, dass der DolmetscherÜbersetzer zu einem festen Bestandteil wirtschaftsdiplomatischer Interaktion geworden war.27 Dies zeigt unter anderem die 1305 und 1317 verwendete lateinische, 1314 auch katalanisch gebrauchte Floskel „übersetzt durch denjenigen, der üblicherweise die Übersetzung macht“.28 In den Verträgen und anhängenden Texten lassen sich verschiedene Typen von Übersetzern und Dolmetschern sowie unterschiedliche personelle Konstellationen ausmachen. In einem auf 604/1207 datierten Brief bittet ein gewisser Aḥmad b. Tamīm den Pisaner Lamberto del Vernaccio um ein Empfehlungsschreiben an einen Funktionär des hafsidischen dīwān, damit er wie gewohnt für die Pisaner als Dolmetscher tätig sein könne.29 1264 kooperierten der Notar Rainerius Scorcialupi und der Übersetzer Bonaiunta de Cascina.30 1271 stand dem Notar Francischus de Seguem-

26 Louis de Mas Latrie, Traités de paix et de commerce et documents divers concernant les relations des chrétiens avec les Arabes de l’Afrique septentrionale au moyen âge, 2 Bde., Paris 1866/1872, Bd. 1, S. 256: truciman de chi el se ha fida. 27 Neben dem genannten Werk von de Mas Latrie (Anm. 26) siehe Sylvestre de Sacy, Pièces diplo­ matiques tirées des archives de la république de Gênes, in: Notices et extraits des manuscrits de la bibliothèque du roi et autres bibliothèques 11 (1827), S. 1–96; Michele Amari, I Diplomi Arabi del R. Archivio Fiorentino. Testo originale con la traduzione letterale e illustrazioni, Florenz 1863; Michele Amari, Nuovo ricordi arabici su la storia di Genova, Genua 1873. 28 De Mas Latrie (Anm. 26), Bd. 1, S. 215f. (03.08.1305): hoc est cum interpretatione illius qui con­ suetus est interpretationem facere.; gleichlautend in ebd., S. 220f. (12.05.1317); ebd., S. 309 (21.02.1314): è eser atrucimanyat segons que es acustumat per los Sarrahins. 29 Amari, Diplomi Arabi (Anm. 27), S. 75f. 30 De Mas Latrie (Anm. 26), Bd. 1, S. 47: Rainerius Scorcialupi, notarius, scriba publicus Pisanorum et comunis portus in Tunithi, presens translatum hujus pacis scripsit, existente interprete probo viro Bo-



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baldo der torcimanus Michael de Viali zur Seite.31 Bei anderen Verhandlungen des Jahres 1271 scheint der in Tunis ansässige offizielle Notar des aragonesischen Königs, Guillelmus de Bonastre, gleichzeitig für die Übersetzung und Aufsetzung des lateinischen Vertragstextes zuständig gewesen zu sein.32 1287 richtete sich der genuesische Notar Leonardus de Sigembaldo „nach der Übersetzung des Abramus Sechelus, der die Sprache der Christen und Sarazenen beherrscht“.33 Letzterer, möglicherweise ein Jude, wird in einem 1305 zwischen Venedig und dem Hafsidenreich geschlossenen Vertrag als offizieller Übersetzer des Hafsidenherrschers genannt, wobei er in diesem Falle mit dem Pisaner Vanni Buscetus kooperierte.34 Ein Vertrag von 1317 bezeichnet den mit dem Notar Nicolaus Rustego kooperierenden, wahrscheinlich muslimischen Moagus Saracenus als „Übersetzer des besagten Königs“ bzw. „Übersetzer des dīwān“.35 Ein Vertrag von 654/1353 spricht von „Übersetzern der Muslime“.36 1356 übersetzte ein Pisaner namens Mansi Mansi einen zwischen Venedig und dem Herrn von Tripolis geschlossenen Vertrag.37 1397 gehörte der Dolmetscher-Übersetzer wohl

naiunta de Cascina, de lingua arabicha in latina.; vgl. das arabische Original in Amari, Diplomi Arabi (Anm. 27), S. 295 (ohne Angabe von Notar und Übersetzer). 31 De Mas Latrie (Anm. 26), Bd. 1, S. 124f.: Predictam autem pacem [...] retraxit et torcimanavit michi notario infrascripto, Michael de Viali, torcimanus ad predicta, de arabico in latinum [...]. Ego Francischus de Seguembaldo, sacri imperii notarius, rogatus, scripsi. 32 Zumindest gibt er an, dass er den Vertrag in Anwesenheit der Würdenträger des dīwān abgeschrieben und aus dem Original übertragen habe, was in Ermangelung eines anderen erwähnten Übersetzers suggeriert, dass Guillelmus selbst für die sprachliche Übertragung zuständig war, vgl. de Mas Latrie (Anm. 26), Bd. 1, S. 284: Signum Guillelmi de Bonastre, notarius publicus per dominum regem Aragonum in Tunicio, qui [...] hoc instrumentum [...] scribendo, scripsit, translatavit ab originali, et clausit. 33 Ebd., Bd. 1, S. 127: secundum quod interpretavit Abramus Sechelus, torcimanus, qui novit linguam Christianorum et Sarracenorum [...]. Ego, Leonardus de Sigembaldo, notarius sacri imperii et communis Janue, rogatus, scripsi. 34 Ebd., Bd. 1, S. 215f.: hoc est cum interpretatione illius qui consuetus est interpretationem facere. Et turcimanavit cum ipsis Vanni Buscetus, Pisanus [...]. Ego, Marcus Cio, presbiter Sancti Hermajore, et notarius, videns et audiens hec omnia in saracenica lingua per assenem, qui dicitur Abraim Secali, interpretatorem dicti regis, et ab eodem assene fore in latinum reducta, in presentia suprascriptorum nobilium Venetorum, in publicam formam redegi. 35 Ebd.: interpretatorem dicti regis; ebd., Bd. 1, S. 220f.: hoc est cum interpretatione illius qui consuetum est interpretationem facere. Et turcimanavit cum ipsis Moagus Saracenus, turcimanus doane. 36 Amari, Diplomi Arabi (Anm. 27), S. 100: fa-tarǧama ʿanhum man yūṯaq ilayhi min tarāǧimat almuslimīn. 37 De Mas Latrie (Anm. 26), Bd. 1, S. 227f.: ex interpretatione et explanatione discreti viri ser Mansi Mansi, civis Pisarum, iamdicti trucimani.



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zur ‚Ausstattung‘ des pisanischen fondaco.38 1433 ist ein christlicher Bewohner von Tunis als angestellter Dolmetscher-Übersetzer der Genuesen erwähnt.39 Die Beispiele suggerieren, dass sich die christlichen Seemächte innerhalb des jeweiligen fondaco, der Hafsidenherrscher im Verwaltungsapparat des dīwān einen eigenen Übersetzer- und Dolmetscherstab hielten. Auffällig ist aber zum einen, dass es immer wieder zu Kooperationen zwischen den Sprachspezialisten der beteiligten Parteien kam. Hervorzuheben ist zum anderen, dass Dolmetscher-Übersetzer bezüglich ihrer Herkunft und religiösen Zugehörigkeit nicht unbedingt der Vertragspartei angehörten, für die sie tätig wurden. Die sich hinter diesen personellen Konstellationen verbergenden Übersetzungsverfahren waren nicht notwendigerweise komplex. Im Vertrag von 1264 übersetzte ein gewisser Bonaiunta de Cascina de lingua arabicha in latina. Der Notar Rainerius Scorcialupi schrieb den Vertrag dann lateinisch nieder.40 Gelegentlich wurde zwischen das Arabische und das Lateinische eine Vernakularsprache geschaltet. Ein Vertrag von 1313 wurde von einem gewissen Johannes Egidius auf Arabisch gelesen, ins Katalanische übersetzt und erklärt. Der aragonesische Notar Bernardus de Pulcro-Vicino erstellte dann die lateinische Fassung, indem er die Version des Dolmetschers Wort für Wort (de verbo ad verbum) auf Latein notierte.41 Die beim Abgleich des katalanischen mit dem lateinischen Text erfolgte interne Kontrolle praktizierte man gelegentlich auch bei der Übersetzung von Briefen. Die lateinische Übersetzung eines 1452 geschriebenen Briefes des Hafsidenherrschers an den Dogen von Genua wurde, so ist es am Ende des Briefes im genuesischen Dialekt verzeichnet, von einem gewissen Jachomo Dapetori übersetzt. Ein gewisser Bartomu Ferades bezeugte daneben schriftlich, dass er dieser Übersetzung de moriscu in latinu beigewohnt habe.42

38 Ebd., Bd. 1, S. 85f.: per Pierum Paganucci, Pisanum civem, habitantem in Tunisio, in fundaco dictorum Pisanorum torcimannum. 39 Ebd., Bd. 1, S. 142: per Bartholomeum de Rugiono, civem rebati Tunicis, interpretem sive torcimanum in Tunice in singulis negociis Januensium. 40 Ebd., Bd. 1, S. 47: Rainerius Scorcialupi, notarius, scriba publicus Pisanorum et comunis portus in Tunithi, presens translatum hujus pacis scripsit, existente interprete probo viro Bonaiunta de Cascina, de lingua arabicha in latina.; vgl. die arabische Version in Amari, Diplomi Arabi (Anm. 27), S. 295 (ohne Angabe des Notars oder Übersetzers). 41 De Mas Latrie (Anm. 26), Bd. 1, S. 189–192: Cujus instrumenti, transumpti et conversi de arabico in linguam sive loquelam catalanam, sive catalaniscam, legente, interpretante et explanante Johanne Egidii, interprete sive turcimanno, qui linguam sive loquelam et litteram arabicam satis apte et perfecte scit et intellegit ac cognoscit [...]. Signum Bernardi de Pulcro-Vicino, notarii publici, auctoritate excellentissimi domini regis Aragonum in Tunicio, qui hoc translatum fideliter translatavit et fecit, et cum suo originali instrumento, legente et explanante dicto turcimanno, de verbo ad verbum legaliter comprobavit et clausit. 42 Ebd., Bd. 1, S. 147: Yo, Bartomu Ferades, fasu testimoni, come quista letera es traletata de moriscu in latinu. Yo, Jachomo Dapetori, torsimano de Jenouese, straletai questa letera de morischo in latino.



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Die christliche Seite überprüfte auch, ob der hafsidische Dolmetscher richtig übersetzt hatte. Vier 1305, 1317, 1392 und 1427 zwischen Venedig und dem Hafsidenreich geschlossene Verträge bezeugen die korrekte Durchführung der Übersetzung in einer stark formalisierten Sprache. In allen Fällen trug der hafsidische Übersetzer den Vertrag vor allen Versammelten, darunter aufgelisteten Zeugen beider Parteien, auf Arabisch vor (in saracenica lingua) und übersetzte ihn dann vor aller Augen ins Lateinische (fore in latino / in latinum reducta). Der lateinisch-christliche Notar brachte den Vertragstext dann in die offizielle lateinische Form (in publicam formam redegi), ohne sinntragende Elemente hinzuzufügen oder wegzulassen (nihil addens vel minuens quod sententiam mutet), vervollständigte dann die Formalia und beglaubigte den Vertrag (complevi et roboravi).43 Auch die muslimische Seite achtete darauf, dass ein lateinisch-christlicher Dolmetscher-Übersetzer den Vertragstext korrekt übertrug. Die Zeile für Zeile und Wort für Wort gemachte ‚fränkische‘ Interlinearübersetzung eines genuesischen Schreibers wurde 1290 von Dolmetschern im mamlukischen Ägypten überprüft.44 In zwei Verträgen der Genuesen und Pisaner mit dem Hafsidenreich von 1391 und 1397 musste der Dolmetscher den Vertrag vom Arabischen ins Lateinische und wieder zurück ins Arabische übersetzen.45 Dolmetschen-Übersetzen spielte auch in einzelnen Bestimmungen der Verträge eine Rolle. Das Hafsidenreich war z. B. nur unter bestimmten Bedingungen bereit, von außen kommenden christlichen Händlern bei ihren Geschäften Rechtssicherheit zu gewährleisten. Sowohl 1250 als auch 1272 wurde zwischen Genua und dem Hafsidenreich vereinbart, dass der dīwān für solche Transaktionen nur bürgte, wenn sie mittels eines Dolmetscher-Übersetzers und in Anwesenheit von Zeugen stattfanden,

Questa è la letera e li capitoli, zoè la copia, che ve manda lo signor re de Tunice, a la illustrissima Signoria vostra, in morischo, tranlatata in latino. 43 Ebd., Bd. 1, S. 215f. (03.08.1305), 220f. (12.05.1317), 236f. (04.07.1392), 248f. (1427, ohne weitere Angaben). 44 Vgl. den genuesisch-mamlukischen Vertrag vom 2. ǧumādā al-ūlā 689 / 13. Mai 1290 in Amari, Nuovo ricordi (Anm. 27), S. 16 (AR): wa-kataba bayna s-suṭūr bi-l-faranǧī nusḫat ḏālika saṭran saṭran wa-kalimatan kalimatan […], S. 63 (IT); ebd., S. 17 (AR): wa-qara’a mā fīhā min al-qalam al-faranǧī al-manqūl ilā  l-ʿarabī [sic] Šams ad-Dīn ʿAbd Allāh al-Manṣūrī wa-tarǧama ʿalayhi li-taḥqīq at-taʿrīf wa-š-šahāda bi-ṣiḥḥatihi Sābiq ad-Dīn at-turǧumān wa-ʿIzz ad-Dīn Aybak al-Kabkī at-turǧumān fī t-tārīḫ al-maḏkūr, S. 64f. (IT). 45 De Mas Latrie (Anm. 26), Bd. 1, S. 132: Et omnia interpretata et traslatata fuerunt, interpretando et torzimanando de lingua arabica et saracena in lingua latina et de latina in lingua arabicha et sara­ cena, per Laudum de Segoreto de Pissis, habitatorem Tunexis, interpretem seu torzimanum.; ebd., Bd. 1, S. 85–86: Et supradicta omnia interpretata et translatata [per] torcimanos fuerunt de lingua arabica et saracena in latinam, et de latina in linguam arabicam sive saracenam, per Pierum Paganucci, Pisanum civem, habitantem in Tunisio, in fundaco dictorum Pisanorum torcimannum.



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die jeweils vom dīwān gestellt worden waren.46 Noch klarer wurde dies in den venezianisch-hafsidischen Verträgen von 1305 und 1355 formuliert. 1305 wurde festgehalten, dass der dīwān für alle Verkäufe als Bürge auftrete, die mit den von ihm gestellten Übersetzern und Zeugen getätigt worden waren. Bei Problemen müsse er innerhalb von 15 Tagen garantieren, dass es zu einer solutio komme.47 1355 wurde zusätzlich bestimmt, dass alle Verkäufer und Käufer vor den qāḍī treten müssten, die ohne Zeugen und Dolmetscher Handelsgeschäfte abwickelten.48 Pisanisch-hafsidische Verträge von 1313 und 1353 legten fest, dass der Dolmetscher-Übersetzer allein für den korrekten Ablauf eines Handelsgeschäftes bürgte, wenn dieses außerhalb des zuständigen Gremiums des dīwān stattfand.49 1397 und 1421 wurde dann der Vor­steher des dīwān als verantwortliche Berufungsinstanz genannt.50 Schließlich finden sich Bestimmungen zur Regelung des in Tunis vorhandenen Dolmetscher- und Übersetzermarktes. 1250, 1271, 1305 und 1355 waren genuesische und venezianische Händler dazu verpflichtet worden, Handelsgeschäfte unter Nutzung eines vom dīwān gestellten Dolmetscher-Übersetzers und entsprechender Zeugen abzuschließen. 1397 wurde in der lateinischen Variante eines pisanischtunesischen Vertrags erstmals festgelegt, dass zwischen einzelnen Übersetzern kein Unterschied gemacht, keiner bevorzugt werden dürfe.51 Die arabische Version der Bestimmung besagt ungefähr gleichlautend, dass alle Dolmetscher-Übersetzer an Übersetzungen teilhaben sollten und dass niemand einen Dolmetscher-Übersetzer monopolisieren dürfe.52 In beiden Varianten stellt sich also das Problem, dass ein

46 Ebd., Bd. 1, S. 119 (18.10.1250): 6. Item, de toto eo quod Januenses vendent in duganna, in calega et extra calegam, per manum de turcimannis dugannae, in presentia testium dugannae, teneatur duganna respondere ipsis Januensibus.; ebd., S. 125 (06.11.1272): 15. Item, de toto eo quod Januenses vendent in duganna, in calega et extra calegam, per manum de turcimannis dugannae, in presentia testium dugannae, teneatur duganna respondere ipsis Januensibus. 47 Ebd., Bd. 1, S. 213 (03.08.1305): 11. Item, de eo quod vendent per manus trucimanorum cum testificatione testium doane, doana sit fidejussor; et de eo quod vendent in calica, doana sit etiam fidejussor. Et debet eis fieri solutio infra dies quindecim. 48 Ebd. Bd. 1, S. 309 (ca. 1355): 23. Item, si mercationes Venetorum venderentur in doana, tunc doa­narii teneantur solvere mercatri cujus mercationes essent, et si venderentur extra doana cum trucimano et testibus, simili modo teneantur doanarii facere solutionem mercatori. Et si venderentur sine testibus et trucimano, tunc venditor et emptor debeant ire ad rationem coram el cadi. 49 Amari, Diplomi Arabi (Anm. 27), S. 93 (21 ǧumādā al-ūlā 613 / 14.09.1313): wa-anna mā yabīʿūna fī  l-ḥalqa bi-š-šahāda ḍamān ṯamanihi in ġarra ʿalā  d-dīwān wa-mā yabīʿūna ʿalā aydī at-tarāǧima ­bi-š-šahāda fa-ḍamānuhu in ġarra ʿalā t-tarāǧima. Ebd, S. 105 (654/1353), mit identischer Formulierung. 50 Ebd., S. 128 (800/1397), S. 143, jeweils § 10 mit weiteren Bestätigungen zur Rechtssicherheit bei Kaufverträgen in § 11. 51 De Mas Latrie (Anm. 26), Bd. 1, S. 78 (14.12.1397): 13. Item, quod omnes torcimanni sint et esse debeant aequales in torcimannia; et in eis non sit aliqua prioritas nec differentia. 52 Amari, Diplomi Arabi (Anm. 27), S. 129: aš-šarṭ aṯ-ṯāliṯ ʿašar an yakūn ǧamīʿ at-tarāǧima muštarikīn fi tarǧamatihim wa-lā yaḫtaṣṣ aḥad bi-turǧumān.



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potenzieller Auftraggeber auf der Nutzung eines bestimmten Dolmetschers beharrte. Daraus konnte der Auftraggeber möglicherweise Vorteile ziehen, in jedem Fall brachte er damit andere Dolmetscher um ihr Einkommen. Anders gelagert ist die Situation in einem florentinisch-pisanisch-hafsidischen Vertrag von 1421. Der arabische Text des Vertrages ist in Bezug auf diese Bestimmung gleichlautend mit dem eben besprochenen.53 In der lateinischen Variante allerdings klingt ein anderes Problem an. Hier wird festgelegt, dass alle Dolmetscher-Übersetzer allen Händlern gemeinsam und gleich zu Diensten zu sein hätten und dass es ihnen nicht erlaubt sei, Aufträge irgend­eines Händlers zurückzuweisen.54 Hier ging es also nicht darum zu verhindern, dass ein Händler seinen Dolmetscher-Übersetzer aufzwang, sondern darum abzusichern, dass alle Händler auf diese Humanressource zurückgreifen konnten. Die genauen Umstände dieser Bestimmungen lassen sich aus dem Vertragstext nicht herleiten. Es wird aber deutlich, dass die Dolmetschertätigkeit von keiner Seite monopolisiert werden sollte. Sowohl im lateinischen als auch im arabischen Text werden die Dolmetscher-Übersetzer dabei ohne nähere Bezeichnung von Ethnie oder Religion als Berufsgruppe behandelt. Auch wenn hier verschiedene, nicht ganz deutlich auszumachende Kräfte mit­ einander konkurrierten, so lässt sich doch klar erkennen, dass man den Dolmetscherund Übersetzermarkt im Tunis des 13. und 15. Jahrhunderts zu regulieren gedachte. Dies äußert sich auch darin, dass man etwa ab der Mitte des 14. Jahrhunderts Bestimmungen zur Bezahlung von Dolmetscher-Übersetzern ausformulierte: 1355 sollten sie ein Viertel Prozent der Handelsware erhalten,55 1397 und 1421 immerhin ein halbes Prozent.56

53 Ebd., S. 158: an yakūn ǧamīʿ at-tarāǧima muštarikīn fī tarǧamatihim wa-lā yaḫtaṣṣ aḥad biturǧumān wa-yadfaʿūna li-t-tarāǧima bi-ḥisāb ḫamsa darāhim sikkiyya li-kull mi’a dīnār sikkiyya ʿašariyyat aṣ-ṣarf. 54 De Mas Latrie (Anm. 26), Bd. 1, S. 350: 13. Item, quod omnes interpretes teneantur servire omnibus mercatoribus comuniter et pariter; et quod dicti interpretes non possint recusare servicia alicujus mercatoris. 55 Ebd., Bd. 1, S. 309 (ca. 1355): 33. Item, quod trucimani habere debeant quartam pro C., de mercationibus que vendentur et ementur extra doanam. 56 Ebd., Bd. 1, S. 78 (14.12.1397): 13. et solvatur dictis torcimannis pro eorum torcimannia milliarenses quinque de auro de omni centenario bizantiorum tantum, et sine aliqua juncta. Vgl. Amari, Diplomi Arabi (Anm. 27), S. 129, 350 (05.10.1421: 13. Et quod de omni mercato habere debeant dicti interpretes, videlicet, de centum miliarensibus quod ascendet mercatum, dimidium miliarensem); vgl. ebd., S. 158.



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Fazit Die vergleichende Betrachtung verschiedener lateinisch/romanisch-arabischer Übersetzungsmilieus aus dem 9. bis 15. Jahrhundert zeigt, dass es in der spätmittelalter­ lichen Wirtschaftsdiplomatie zu einer weitgehenden Institutionalisierung sprach­ licher Vermittlungsakte gekommen war. Obwohl davon auszugehen ist, dass im Laufe der Jahrhunderte Erfahrungen bei der Vermittlung zwischen lateinisch-romanischen und arabischen Sprachwelten akkumuliert worden waren, verbietet es sich allerdings, von einer geradlinigen Entwicklung auszugehen. Nicht nur stehen aus dem Frühmittelalter sehr viel weniger Textzeugen zur Verfügung als aus späteren Perioden. Es ist auch zu berücksichtigen, dass der Umgang mit sprachlichen Vermittlungsakten an einen sozialen Kontext gebunden, von unterschiedlichen Notwendigkeiten und Motivationen geleitet und damit milieuspezifisch war. Im hafsidischen Tunis des 13. bis 15. Jahrhunderts wurden als Begleiterscheinung eines intensiven wirtschaftspolitischen Dialogs konkrete Verfahren der sprachlichen Vermittlung und ihrer Kontrolle entwickelt sowie Bestimmungen zur Rekrutierung und Bezahlung von Übersetzungsleistungen formuliert. Anders als in den vorher erwähnten Quellen ging es hier nicht darum, lediglich Kommunikation zu ermöglichen, den veränderten sprachlichen Bedürfnissen einer Bevölkerungsgruppe Rechnung zu tragen oder als notwendig erachtetes Wissen sprachlich zugänglich zu machen. Im Vordergrund standen vielmehr wirtschaftspolitische Interessen und ein daraus resultierendes Bedürfnis nach sprachlicher Sicherheit in den vorbereitenden Verhandlungen zum Abschluss verbindlicher Verträge. Vor diesem Hintergrund wurde der Berufsstand der Dolmetscher-Übersetzer so wichtig, dass man ihm regelmäßig Paragraphen in diesen Verträgen widmete. Die Untersuchung dieses multiethnischen und multireligiösen Berufsstandes zeigt, dass Kommunikationssituationen zwischen ‚Abrahams Erben‘ auch jenseits des religiös-theologischen Bereiches zu situieren sind und dabei nicht unbedingt religiösen Demarkationslinien folgten. Das in verschiedenen Milieus auftretende Bemühen um Qualitätssicherung bei der Überwindung sprachlicher Grenzen ist zwar als wichtiger Aspekt einer ethnische und religiöse Grenzen übergreifenden Kommunikation anzusehen. Übersetzungskontrolle war aber nicht unbedingt Ausdruck von Misstrauen. Sie diente auch als vertrauensbildende Maßnahme, um zwischen den einzelnen, oft auch religiös und/oder ethnisch definierten Sprachgruppen einen reibungslosen Informationsfluss oder die Einigung auf bestimmte Sachverhalte zu ermöglichen. Selbst wenn sie sich einer bestimmten ethnisch oder religiös definierten Gruppe zugehörig fühlten, standen Dolmetscher und Übersetzer als Mediatoren dabei in einem mehreren Seiten verpflichteten Zwischenraum, der nicht nur sprachlich zu fassen ist: In einem um 1143 verfassten Brief an den Koranübersetzer Robert von Ketton äußerte dessen Kollege Hermann von Kärnten zwar Unverständnis für die muslimische Haltung zu Christus, schwärmte aber von den



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„Schätzen der Araber“ (Arabum thesauris).57 In Tunis wohnhafte pisanische Dolmetscher-Übersetzer wiederum übten scharfe Kritik an der Besatzung eines pisanischen Schiffes, das im Mai 1201 gewalttätig in den Hafen von Tunis einbrach und dabei mehrere Muslime tötete.58

57 Hermannus de Karinthia, Liber de Essentiis, hrsg. u. übers. von Charles Burnett, Leiden 1982, S. 71f. (lib. 1, Al. 24 D, fol. 58r), 80f. (lib. 1, Al. 28 D, fol. 59r). 58 Amari, Diplomi Arabi (Anm. 27), S. 41.



Christian Schulze (Bochum)

Christliche Ärzte als Vermittler Galens im arabischen Frühmittelalter – war der graeco-orientalische Wissenstransfer ein Kontinuum? Abstract: Die aufstrebende arabische Welt des Frühmittelalters übernahm eifrig das medizinische Wissen des hellenistischen Westens, dies vor allem in Form von Galenübersetzungen aus dem Griechischen ins Arabische bzw. Syrische. Der folgende Beitrag beleuchtet die Frage, ob dieser Transferprozess ein Kontinuum war, oder ob die arabischen Übersetzer eine Traditionsunterbrechung von mehreren hundert Jahren zu überbrücken hatten. Medizinische Wissenschaft, so unsere These, besteht nicht nur in Übersetzungen – den in der Forschung fast ausschließlich betrachteten Zeugnissen –, sondern auch in praktischer Anwendung. Diese lässt sich im Zeitraum vom 6.  bis zum 9.  Jahrhundert zwischen Alexandria und Bagdad gut anhand von Inschriften, Papyri und literarischen Textloci belegen, so dass wir von einem Kontinuum zwischen hellenistischer und islamischer Welt ausgehen dürfen.

1 Epocheneinteilung und Fragestellung Der graeco-arabische Wissenstransfer auf dem Gebiet der Medizin wird traditionell mit großen Namen verknüpft. Den einen Fixpunkt bildet der kaiserliche Leibarzt, Wissenschaftler und Philosoph Galen (129–216 n. Chr.) mit seinem imposanten, wenn auch zum Teil verlorenen Œuvre. Arabischerseits ist es vor allem Ḥunain ibn Isḥāq (lat. Johannitius, ca. 808–873  n.  Chr.) aus al-Hīra, der mit seinem ‚Sendschreiben über die Galenübersetzungen‘ (arab. ‚Risāla‘)1 an ʻAlī ibn Yaḥyā eine Bestandsaufnahme von mindestens 126 Werken des Pergameners vorlegte, die um die Mitte des 9.  Jahrhunderts in Bagdad als griechische Handschriften vorlagen und von denen zahlreiche in seine eigenen Übersetzungen einflossen. Als wichtigste, wenngleich bei weitem nicht mehr so stark fokussierte Zwischenstation auf dem Zeitstrahl, gilt der monophysitische Christ und Archiatros Sergios von Rēšʻainā / Theodosiopolis (ca.  465–536  n.  Chr.), welcher 27 Galenschriften ins Syrisch-Aramäische übertrug.2

1 Ḥunain ibn Isḥāq, Über die syrischen und arabischen Galen-Übersetzungen. Ḥunain ibn Isḥāqs Sendschreiben an ʻAlī ibn Yaḥyā über die seines Wissens übersetzten Bücher Galens und einige der nicht übersetzten, hrsg. u. übers. v. Gotthelf Bergsträsser (Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes 17, 2), Leipzig 1925. 2 Siehe z.  B. Peter Bruns, Sergius von Reschaina, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur, 3. Aufl. (2002), S. 633; Adolf Lumpe, Sergios von Reschaina, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 9 (1995), Sp. 1432–1435; jeweils mit weiterer Literatur.



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Er teilt die Strecke z­ wischen Galen und Ḥunain in ungefähr gleichlange Phasen von etwa 300 Jahren. Die erste dieser beiden Phasen, also die Zeit zwischen Galens Tod und Sergios’ Anstoß zum Wissenstransfer gen Osten, wird von zahlreichen medizinischen Autoren in West- wie Ostrom gefüllt. Die zahlreichen Opera Galeni fanden Kompilatoren wie den um 320 ebenfalls in Pergamon geborenen Oreibasios, im Westen erscheinen manche von Galen unabhängige Werke wie der ‚Liber medicinae ex animalibus‘ des Sextus Placitus (5.  Jahrhundert), die ‚Medicina Plinii‘, die ‚Euporista‘ des Theodorus Priscianus oder die Bücher über akute und chronische Krankheiten des Caelius Aurelianus. Auch das medizinische Destillat des Isidor von Sevilla († 636) in seinen ‚Etymologiae‘ gilt als einer der etablierten medizinhistorisch relevanten Grenzpunkte zwischen Antike und Mittelalter. Zudem wissen wir von reicher, vielfach leider verlorener Kommentarliteratur, etwa von den wohl nach 550 entstandenen Galenkommentierungen des Agnellus von Ravenna oder des Angeleo Sophista.3 Zahlreiche weitere Autoren ließen sich hinzufügen; der inhaltliche Schwerpunkt des medizin­ literarischen Schaffens verlagerte sich, je weiter man von der klassischen Antike zum Mittelalter voranschreitet, immer stärker auf die Pharmazeutik, während Diätetik und insbesondere die Chirurgie kaum noch Autoren fanden.4 Um einiges leerer erscheint dagegen auf den ersten Blick die zweite Phase, also diejenige zwischen Sergios und Ḥunain, ungefähr der Zeitraum von der Mitte des 6.  Jahrhunderts bis zum 9.  Jahrhundert. Abgesehen von dem fast noch mit Sergios zeitgleich arbeitenden Alexander von Tralleis und Aetios von Amida, dessen ‚Tetra­ bibloi‘ auf Dioskurides, Galen und anderen Vorgängern fußen, finden sich kaum größere Haltepunkte. Eine dieser nur schemenhaft greifbaren, rezipierenden Gestalten ist ein Übersetzer mit dem byzantinischen Titel Patrikios; unter dem arabisierten Namen al-Biṭrīq (gest. um 815) übertrug er schon etwa eine Generation vor Ḥunain ibn Isḥāq Medicinalia ins Arabische, wohl schwerpunktmäßig zoologisch-pharmazeutischen Inhalts.5 Auch außerhalb der Fachwissenschaft kommt manche Literaturgattung de facto zum Erliegen: Westrom war am Übergang vom 5. zum 6. Jahrhundert im

3 Vgl. Sibylle Ihm, Clavis commentariorum der antiken medizinischen Texte (Clavis commentariorum antiquitatis et medii aevi 1), Leiden u. a. 2002, hier S. 55, 62. 4 Dazu Christian Schulze, Wandlungen des Gesundheitsbegriffes in Antike und frühem Mittelalter, in: Dietrich Grönemeyer, Theo Kobusch u. Heinz Schott (Hgg.), Gesundheit im Spiegel der Diszi­ plinen, Epochen, Kulturen, Bochum u. a. 2008, S. 347–367, hier S. 359–362. 5 Siehe Douglas M. Dunlop, The Translations of al-Biṭrīq and Yaḥyā (Yūḥannā) b. al-Biṭrīq, in: Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland 3/4 (1959), S. 140–152; Fuat Sezgin, Geschichte des arabischen Schrifttums, Bd. 3: Medizin – Pharmazie – Zoologie – Tierheilkunde bis ca. 430 H., Leiden 1970, S. 225f.; Manfred Ullmann, Die Medizin im Islam (Handbuch der Orientalistik 1/6), Leiden, Köln 1970, S. 47–48 (mit weiterer Literatur). Zu den Unsicherheiten, die mit dem Namen(szusatz) al-Biṭrīq verbunden sind, siehe Irfan Kawar, Bitrīk, in: The Encyclopaedia of Islam. New Edition, Bd. 1 (1960, ND 1967), Sp. 1249f., besonders Punkt III.



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Verfall begriffen, Byzanz blieb zunächst stabil, erlebte aber den rasanten Aufstieg der Araber, deren Reich sich rund 100 Jahre nach Mohammeds Tod vom Indus bis zum Atlantik erstreckte. Vor diesem Hintergrund sei in diesem Beitrag der Frage nachgegangen, ob es eine Art ‚Lücke‘ in der skizzierten medizinischen Überlieferung aus der griechischsprachigen Welt in den arabisch-islamischen Osten gab. Wie also ist der gerade abgesteckte Zeitraum von rund 250 bis 300 Jahren zwischen den ‚Haltepunkten‘ Sergios von Rēšʻainā und Ḥunain ibn Isḥāq gleichsam überbrückt worden? Gab es ein medizinisches Kontinuum in der Lückenzeit oder musste der nestorianische Meisterübersetzer eine mehr oder weniger abgestorbene Tradition aktiv wiederbeleben, indem er stumme Zeugen in Form von griechischen oder syrisch-aramäischen Handschriften übersetzte und damit die galenisch-hellenistische Medizin reanimierte?

2 These Der oben formulierten Ausgangsfrage geht man in der Forschungsliteratur nur selten nach, und wenn denn einmal unser fraglicher Zeitraum überhaupt näher beleuchtet wird6 – er steht kaum je im Interesse etwa monographischer Betrachtungen –, bemüht man meist die immer gleichen Hinweise, z.  B. die wohl nur legendarische Mitteilung, dass bereits unter dem Kalifen Marwān (683–685) das Lehrbuch des Presbyters Ahrun von dem Arzt Māsarğawaih aus dem Syrisch-Aramäischen ins Arabische übertragen worden sei.7 Besonders augenscheinlich wird die Lücke dann, wenn man nur das uns Überlieferte aneinanderreiht: Praktisch alle erhaltenen medizinischen Übersetzungen gehen eben auf Ḥunain ibn Isḥāq und seine Schüler zurück.8 Diese Fixierung auf literarische Produktionen birgt indes gerade in einem Bereich mit praktischem Anwendungsbezug Gefahren. Mit den üblichen, dürren Verweisen auf einige wenige, zudem nur schattenhafte Gestalten wird nämlich, so unsere These, der praktischen Realität dieses Zeitraumes nicht Genüge getan. Die Reduzierung auf produktive Medizinautoren und konkret benennbare Übersetzer wie Sergios, Patri­ kios, Ḥunain ibn Isḥāq oder seinen Zeitgenossen Qusṭā ibn Lūqā9, beschreiben

6 Z.  B. durch Gerhard Endress, Die wissenschaftliche Literatur, in: Helmut Gätje (Hg.), Grundriß der arabischen Philologie, Bd. 2: Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1987, S. 400–506; ders., Medizin, in: Wolfdietrich Fischer (Hg.), Grundriß der arabischen Philologie, Bd. 3: Supplement, Wiesbaden 1992, S. 116–138. 7 Siehe z. B. Ullmann (Anm. 5), S. 23; Endress (Anm. 6), S. 406, 419. 8 Siehe Gotthard Strohmaier, Arabisch als Sprache der Wissenschaft in den frühen medizinischen Übersetzungen, in: Mitteilungen des Instituts für Orientforschung 15 (1969), S. 77–85, hier S. 78; wieder in: ders., Von Demokrit bis Dante. Die Bewahrung antiken Erbes in der arabischen Kultur (OlmsStudien 43), Hildesheim, Zürich, New York 1996, S. 263–271, hier S. 264. 9 Zu ihm Sezgin (Anm. 5), S. 270–274.





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meines Erachtens nicht die wahre Dynamik dieser Übergangsepoche, sondern sie bezeugt eher die Charakteristika philologischen Forschens, das Rezeption und Vermittlung primär an solchen Quellenzeugnissen wahrnimmt. Aber gerade auf einem Gebiet wie der Medizin dürfte sich ein Rezeptionskontinuum nicht nur aus Schriftzeugnissen ergeben, sondern auch und gerade durch den Nachweis ihrer praktischen Ausübung.10 Verfassen, Übersetzen und Tradieren von medizinischen Schriften sind von ihrer praktischen, konkreten Anwendung nicht zu trennen, und gerade Letzteres dürfte auch im prima facie so leer erscheinenden Zeitraum – also vom 6. bis zum 9.  Jahrhundert – anzunehmen wie nachzuweisen sein. Ohne einen rezipierenden ‚Markt‘ verlören diese philologisch so interessanten Opera ihren Sitz im Leben.11

3 Belege Wie nun könnten solche Bezeugungen praktischer Medizinausübung jenseits archäologischer Belege12 (die hier ausgeklammert bleiben sollen) aussehen, wenn wir hier eben keine Werktitel und Autorennamen zusammentragen wollen? Im graeco-orientalischen Wissenstransfer stellen, wie die Forschung der letzten Jahre einmal mehr zeigen konnte, die Christen einen bedeutenden Anteil des wissensvermittelnden Personals. Dies deutete sich bereits oben bei den Protagonisten an: Sergios von Rēšʻainā war Christ, ebenso Ḥunain selbst wie auch sein Zeitgenosse Qusṭa ibn Lūqā, Ḥunains Nachkommen bzw. Schüler und noch Spätere. Dieses zeittypische Religionskonglomerat, innerhalb dessen der Aufbau einer arabischen Bildungsinfrastruktur gelingen konnte, beruht darauf, dass nach der arabischen Eroberung die inkorporierten Glaubensgemeinschaften nicht vertrieben wurden, sondern

10 Zu Recht widmen Peter E. Pormann u. Emilie Savage-Smith, Medieval Islamic Medicine, ­Washington 2007, S. 115–143, der praktischen Ausübung islamischer Medizin ein eigenes Großkapitel. Weder in Rom noch in Byzanz war Medizin jemals ein reines Studierlampenfach gewesen, sondern erfreute sich breiter Anwendungen, wie auch das reiche archäologische Material beweist, siehe Ernst Künzl, Forschungsbericht zu den antiken medizinischen Instrumenten, in: Hildegard Temporini, Wolfgang Haase u. Josef Vogt (Hgg.), Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, Teil 2: Prinzipat, Bd. 37: Philosophie, Wissenschaften Technik, Teilbd. 3, Berlin u. a. 1996, S. 2433–2639. 11 Siehe Christian Schulze, Medizin und Christentum in Spätantike und frühem Mittelalter. Christ­ liche Ärzte und ihr Wirken (Studien und Texte zu Antike und Christentum 27), Tübingen 2005, 2. Aufl. 2010, S. 13. 12 Die Dokumentation archäologischer Bodenfunde des byzantinisch-arabischen Raumes der hier interessierenden Jahrhunderte ist im Gegensatz zur griechischen und römischen Antike desolat. Eini­ ges zusammengestellt hat Ernst Künzl, Spätantike und byzantinische medizinische Instrumente, in: Antje Krug (Hg.), From Epidaurus to Salerno. Symposium held at the European University Centre for Cultural Heritage, Ravello, April 1990 (Revue du Groupe Européen d’Etudes pour les Techniques Physiques, Chimiques, Biologiques et Mathématiques Appliquées à l’Archéologie 34), Rixensart 1992, S. 201–244 (dem ich für diesen Hinweis danke).



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weitgehend unangetastet blieben, erträgliche Auflagen erduldeten und zunächst nur wenig unter Diskriminierung zu leiden hatten. Christen verschiedener Glaubensrichtungen, vor allem die wegen theologischer Streitigkeiten nach Osten ausgewichenen Nestorianer, finden sich jedoch nicht nur bei den Übersetzern und im medizinischen Literaturbetrieb der syrischen und später arabischen Welt, sondern auch unter den praktizierenden Ärzten und Pharmazeuten.13 Dies wissen wir aus zum Teil beiläufigen Erwähnungen in Medizinschriften, aber auch durch andere Quellen, vor allem Inschriften und, im ägyptischen Raum, Papyri. Einige Beispiele auf arabischer Seite, die ich bereits an anderer Stelle zusammengetragen hatte,14 mögen dies erhellen; alle entstammen dem uns interessierenden Zeitraum, nämlich aus dem 7.  bis zum Ende des 9. Jahrhunderts: – Ibn Aṭāl, ein bedeutender Arzt in Damaskus am Hof des ersten Umaiyadenkalifen Mu‘āwiya (um 661–680). – Balīṭiyān, der im vierten Jahr der Regierungszeit al-Manṣūrs (754–775) Patriarch von Alexandria wurde. – Abu l-Ḥakam, einer der Leibärzte des Mu‘āwiya; er soll über 100 Jahre alt geworden sein. Seine Familie zählte mindestens drei Generationen bedeutender Ärzte. – Ḫaṣīb, ein Anhänger Galens, lebte um 767 in Bagdad. – Gabriel (Ğibrīl ibn Buḫtīšū‘), christlicher Arzt am Hofe Hārūn ar-Rašīds (Kalif seit 786). Er verfasste auch eine Einführung in die Logik. – Einer der Māsarğawaih (um 810). – Salmawaih ibn Bunān († 840), Leibarzt des Kalifen al-Mu‘taṣim. – Sa‘īd ibn Taufīl, ein Christ und Leibarzt des Herrschers Ibn Ṭūlūn (870–881). Doch auch mit Blick aus dem hellenistischen, östlichen Mittelmeerraum und zugleich zeitlich weiter zurückreichend finden wir christliche Ärzte. Trägt man sie, soweit greifbar, zusammen, so ergibt sich eine Liste mit immerhin rund 50 Personen, die ­zwischen dem 6.  und 9.  Jahrhundert epigraphisch, papyrologisch und literarisch bezeugt sind. Sie liegen seit 2005 als Materialsammlung publiziert vor und sollen daher hier nicht nochmals in Vollform vorgestellt werden;15 auf einige besonders interessante Gestalten sei aber exemplarisch hingewiesen:

13 Auch Juden finden sich zwischen dem 8.  und 11.  Jahrhundert mehrfach unter den Übersetzern und praktizierenden Ärzten, vgl. Max Meyerhof, Von Alexandrien nach Bagdad. Ein Beitrag zur Geschichte des philosophischen und medizinischen Unterrichts bei den Arabern, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. 23 (1930), S. 389–429, hier S. 116f. Die Fundsituation hat sich seit Meyerhofs Untersuchung deutlich ausgeweitet, sodass eine neuerliche Bestandsaufnahme durchaus ein Forschungsdesiderat darstellt. 14 Schulze (Anm. 11), S. 8 (mit weiterführender Literatur, auch zu den Nestorianern). 15 Ebd., S. 46–134.





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– Im Papyrus Edfu findet sich der koptische Arzt Dios (7./8. Jahrhundert), Vorstand einer ägyptischen Ärztezunft.16 Trotz seiner hohen Position scheint er Analphabet gewesen zu sein, da er von einem anderen Arzt namens Djoker im Papyruskontext beim Schreiben vertreten wird.17 Dies bezeugt nicht nur den offenbar gesunkenen Gesellschafts- bzw. Bildungsstand der Ärzteschaft zu Beginn des Mittel­ alters – die Medizin gehörte schon seit Martianus Capellas Bezeugung18 nicht mehr zu den (septem) artes liberales und war seit jeher ein Handwerk –, sondern zeigt auch, dass die Überbrückung der Lücke zwischen Sergios und Ḥunain eben keineswegs nur an Literatur bzw. ihre Lektüre gebunden war. – Epigraphisch belegt19 ist ein auf das Jahr 530 (Todesdatum) zu datierender Salbenarzt20 aus Ravenna. Er scheint Eunuch gewesen zu sein21 und ist einer der wenigen bezeugten spätantiken Christenärzte – noch dazu mit dieser Spezialisierung – auf (ehemals) weströmischem Gebiet. – Als Beispiel für die nicht wenigen Bischöfe unter den Ärzten sei Ioseph genannt (amtierte von 552–567, Ktesiphon/Seleukia), der als nestorianischer Katholikos von Chosrau I. eingesetzt worden war.22 Damit erweist sich die Phase zwischen Sergios und den Bagdader Übersetzern als keineswegs so leer wie prima facie erwartet. Andere Funde zeigen zudem, dass die Wurzeln der Verbindung von Religion und Medizin noch weiter zurückreichen: Insgesamt rund 190 Christenärzte aus verschiedenen Quellengattungen belegen bis ins 2.  Jahrhundert hinab die ärztliche (Berufs-)Tätigkeit von Christen – darunter Diakone und Bischöfe – im gesamten römischen Reich.23 Die meisten dieser Medi-

16 Ebd., S. 107, Nr. 111; Lieselotte Buchheim, Eine koptische Ärztezunft im 7. nachchristlichen Jahrhundert, in: Sudhoffs Archiv 44 (1960), S. 268–269; Kamil Sabri Kolta, Namen christlicher Ärzte der koptischen Zeit in Ägypten, in: Welt des Orients 14 (1983), S. 189–195. 17 Siehe Schulze (Anm. 11), S. 8. 18 Siehe Martianus Capella, Les noces de Philologie et de Mercure [De nuptiis Philologiae et Mer­ curii], Bd. 9: Livre IX: L’harmonie, hrsg. u. übers. v. Jean-Baptiste Guillaumin, Paris 2011, S. 3f. (IX 891). 19 Corpus Inscriptionum Latinarum, Bd.  11: Inscriptiones Aemiliae, Etruriae, Umbriae, Latinae, Teil 1, hrsg. v. Eugen Bormann, Berlin 1888, S. 69, Nr. 336. 20 Ergänzung [ali]pta nicht ganz sicher. 21 Auch diese Ergänzung freilich mit Unsicherheiten; vgl. Inscriptiones Latinae christianae veteres, hrsg. v. Ernst Diehl, Bd. 1, 2. Aufl. Berlin 1961, S. 121, Nr. 617. 22 Siehe Otto Hiltbrunner, Die gesellschaftliche Stellung der Ärzte und ihre Rolle bei der Ausbreitung des frühen Christentums nach Asien, in: Wilhelm Blümer, Rainer Henke u. Markus Mülke (Hgg.), Alvarium. Festschrift für Christian Gnilka (Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband 33), Münster 2002, S. 197–204, hier S. 200. 23 Seit der Publikation, s. Schulze (Anm. 11), sind weitere Belege hinzugekommen, so etwa die damals nicht berücksichtigten, gemäß der ‚Historia Lausiaca‘ offenbar christlichen Ärzte in der nitrischen Wüste Ägyptens, s. Palladius, La storia Lausiaca, hrsg. u. übers. v. Gerhard J. M. Bartelink u. Marino Barchiesi (Vite dei santi 2), Verona 1974, S. 38 (cap. 7, 4).



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 Christian Schulze

Abb. 1: Funde (epigraphisch, papyrologisch, literarisch) christlicher Ärzte vom 6. bis 9. Jahrhundert n. Chr.

ziner sind namentlich bekannt, bei einigen wenigen lässt sich über das Christ- bzw. Arztsein oder gar über die Historizität der Gestalt selbst streiten. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Neben der Legendenhaftigkeit mancher hagiographischen Darstellung kann dies auch schlicht am schlechten Erhaltungszustand eines Inschriftensteines liegen. Für die Phase zwischen Sergios und Ḥunain begegnen Christenärzte, wie oben angedeutet, nur noch vereinzelt im Westen, wie neben dem oben genannten Salbenarzt aus Ravenna z. B. der von Hübner noch ins 6. Jahrhundert datierte Reccaredus aus Lusitanien zeigt.24 Der Zerfall der weströmischen Infrastruktur scheint hier die (erhaltenen) Bezeugungen für Christenärzte auf ein Minimum reduziert zu haben. Der Großteil findet sich dagegen auf dem Gebiet des ehemaligen oströmischen Reiches, auf dem kleinasiatischen Festland,25 in Ägypten – hier vor allem im offen-

24 Siehe Inscriptiones Hispaniae Christianae, hrsg. v. Ernst W. E. Hübner, Berlin 1871, S. 134, Nr. 526. 25 Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten beschränken sich die Funde hier auf größere Städte und Zentren; zuvor waren auch sekundäre Betätigungsorte von Christenärzte zu finden, wie die große



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bar immer noch ausstrahlenden Alexandria – und gehört dem 6. und 7. Jahrhundert an. Bemerkenswert sind die recht weiten Ostwanderungen: So amtierte neben dem oben erwähnten Ioseph auch der Arzt Elisaios von 524–539 als Bischof in Ktesiphon/ Seleukia, also in Persien; 30 Jahre später folgte ihm dort ein weiterer Christenarzt, nämlich Ezechiel, im Bischofsamt nach.26 Sogar christliche Ärztinnen finden sich im spät­antiken Material.27 Die beigefügte Karte mag einen Blick aus der Vogelperspektive geben, wo und wie viele Christenärzte zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert praktizierten; sie fasst erstmalig die publizierten Funde graphisch zusammen. Selbstverständlich darf man nicht aus dem Auge verlieren, dass die hier eingetragenen Christenärzte nicht Übersetzer medizinischer Opera ins Syrisch-Aramä­ ische bzw. Arabische waren, jedenfalls erfahren wir es in keinem Fall ausdrücklich. Sie sind also nicht direkt mit Sergios oder Ḥunain vergleichbar, zuweilen scheinen sie nicht einmal lesen und schreiben gekonnt zu haben, wie der Fall des Kopten Dios andeutete. Immerhin aber zeigen all diese Belege, dass die Medizin (und hierbei zumindest im Osten wohl wirklich meist im Gewande Galens)28 keineswegs tot war, dass der Rezeptionsfaden nicht abriss und das Jahrhunderte früher aufgeschriebene Wissen angewendet wurde – dies vor allem im Osten des ehemaligen Römischen Reiches, der zwanglos die Brücke in den aufstrebenden syrisch-arabischen Raum schlug.

Zahl von Funden etwa im kilikischen Korykos zeigt, vgl. Repertorium der westkilikischen Inschriften. Nach den Scheden der Kleinasiatischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Stefan Hagel u. Kurt Tomaschitz (Denkschriften, Phil.-hist. Kl. 265 / Erg.-bde. zu Tituli Asiae minoris 22), Wien 1998. 26 Dazu Hiltbtrunner (Anm. 22), S. 197–204. 27 Z. B. die Iatrine Sosanna aus Athen (s. Inscriptiones Graecae: IG 3, 3452), deren genaue Datierung schwierig bleibt, aber ungefähr auf das 6. Jahrhundert fallen dürfte; siehe Christian Schulze, Christ­liche Ärztinnen, in: ders. u. Sibylle Ihm (Hgg.), Ärztekunst und Gottvertrauen. Antike und ­mittelalterliche Schnittpunkte von Christentum und Medizin (Spudasmata 86), Hildesheim u. a. 2002, S. 91–116 (zu Sosanna bes. S. 98, Nr. 8). 28 Wenngleich die oben genannten Belege dies allein ihrer Kürze wegen nicht aktiv bezeugen. Andere Schulen verschwanden nach und nach; im arabischen Raum folgte man auf medizinischem Gebiet praktisch ausschließlich der Autorität Galens und des hier inkorporierten Hippokrates, vgl. das Bonmot von Gotthard Strohmaier, Die geistigen und gesellschaftlichen Bedingungen der lateinischen Rezeption arabischen Wissens, in: Andreas Speer u. Lydia Vegener (Hgg.), Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter (Miscellanea mediaevalia 33), Berlin 2006, S. 126–132, hier S. 128: „die Ärzte in Byzanz und im Islam [bildeten] eine einzige galenische Sekte.“ Die vielen Kompendien, Epitomai, Handbücher und Übersetzungen galenischer Werke sprechen für den oströmisch-byzantinischen Raum dafür, dass Galen speziell in der Ärzteausbildung und -praxis benutzt worden ist.



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 Christian Schulze

4 Zusammenfassung –

Rezeption und Tradierung bestehen in der Fachwissenschaft Medizin nicht nur in literarischer Produktion und ihrer Übersetzung, sondern auch in der praktischen Anwendung der dargelegten Inhalte. – Eine solche praktische Ausübung begegnet uns im untersuchten Zeitraum vom 6. bis zum 9. Jahrhundert bei zahlreichen Christenärzten; etwa 50 Belege lassen sich bislang zusammentragen. – Diese Belege konzentrieren sich geographisch auf die Osthälfte des ehemaligen Römischen Reiches sowie auf Ägypten, weisen also auch von daher schon auf den uns interessierenden Überlieferungsstrom gen Osten hin. – Mit diesen Belegen vermögen wir die vermeintliche Lücke zwischen der sogenannten ersten syrischen Rezeption um Sergios von Rēš’ainā und der zweiten syrischen Rezeption um Ḥunain ibn Isḥāq durchaus mit Leben zu füllen. Medizin war und blieb eine rezipierte, praktisch ausgeübte Wissenschaft, und dies als – wenngleich unterschiedlich dicht – ausgefülltes Kontinuum zwischen West und Ost.



Bilder vom Anderen und Interaktionen

Silvan Wagner (Bayreuth)

Christen, Juden, Heiden – Aus- und Eingrenzung des religiös Anderen in Reden des Strickers Abstract: Der spatial turn erlaubt einen Vergleich von politischen und religiösen Räumen, die jeweils über In- und Exklusionsvorgänge erzeugt werden. In der Engführung entsprechender Beobachtungen kann eine Annäherung an mittelalterliche Grenzvorstellungen erfolgen, die sich nicht in geographischen Konzepten erschöpft. Neben der heute dominanten Vorstellung von äußeren Grenzen mit eindeutigen Demarkationslinien ist im Mittelalter auch die Vorstellung von inneren Grenzen mit breiten Grenzsäumen prominent. Beide Grenzarten bestimmen auch das literarische Werk des Strickers, der in seiner Kleinepik auch mit religiösen Grenzen zwischen Christen, Juden und Heiden operiert. Dabei geht es weniger um eine saubere Differenzierung religiöser Räume als vielmehr um eine gleichsam seelsorgerliche Pointe: Durch den Einzug der Juden als breiten und unscharfen Grenzsaum zwischen dem gottnahen und dem gottfernen Bereich begründet der Stricker einerseits ewige Verdammnis der untreuen Christen, lässt aber andererseits auch eine Umkehr zu jedem Zeitpunkt als möglich erscheinen. Damit reiht sich der Stricker in die klerikale Tradition ein, die Umkehr des Sünders zu denken; allerdings tut er dies nicht auf systematische Art und Weise, sondern erzählt über die Konzepte Treue und Ehre eine laientheologische Konzeption von Umkehr, die gänzlich auf den höfischen Auftraggeberkreis zugeschnitten ist.

Einer der fruchtbarsten Aspekte des spatial turn ist sicherlich, dass in der Verabschiedung eines rein physikalisch bestimmten Raumbegriffs und in der Betonung der gesellschaftlichen Erzeugung von Raum1 geographische und soziale In- und Exklusionsvorgänge miteinander vergleichbar werden: Die Ein- und Ausgrenzung von Ideen, Dingen und Personen erzeugt Räume, gleichgültig ob sich diese primär geographisch, philosophisch oder etwa literarisch organisieren.2 Auf dieser Basis ist es möglich – wie es im Folgenden versucht werden soll – im Vergleich von politischen und reli­ giösen Aus- und Eingrenzungsvorgängen sich einer mittelalterlichen Vorstellung von Grenzen anzunähern. Dabei soll es letztendlich weniger um eine Betrachtung von

1 Ein Grundlagentext dieser Herangehensweise (und ein Gründungstext des spatial turn) liegt vor mit Michel Foucault, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne u. Stefan Günzel (Hgg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, S. 317–329 [Erstveröff. 1984 auf Basis eines 1967 geschriebenen Artikels]. 2 Vgl. dazu – und auch bezüglich einer Vielzahl weiterer Organisationsformen von Raum – Stefan Günzel (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt a. M. 2009.

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 Silvan Wagner

In- und Exklusionen in der politischen und religiösen Praxis des Mittelalters gehen, als vielmehr um ihre literarische Kommunikation in der höfischen, laikalen Literatur des 13. Jahrhunderts: Am Beispiel der Reden des Strickers soll ein weiterer Baustein zur Laientheologie des hochmittelalterlichen Hofes erarbeitet werden,3 der sicherlich auch handlungsrelevant werden konnte, zunächst aber lediglich ein historisches Denkmuster darstellt.

1 Äußere und innere Grenzen in Neuzeit und Mittelalter Der Begriff der Grenze assoziiert in der Moderne in erster Linie ein räumliches Paradoxon: Grenzen unterteilen den Raum, sie nehmen aber selbst keinen Raum ein. Dieses Alltagsverständnis von Raum und Grenze bezeichnet die Sozialgeographin Antje Schlottmann im Anschluss an Albert Einstein4 als Containerraum, für den unter anderem gilt: „Raum ist etwas, das sich abgrenzen und in Einheiten zerlegen lässt, die sich nicht überschneiden und in ihrer Summe eine endliche Ganzheit ergeben. Die räumliche (territoriale) Welt ist die Summe ihrer diskret begrenzbaren Raumausschnitte.“5 Paradox ist dieses Grenzverständnis deswegen, weil die über Grenzen abgetrennten Einzelräume in der Summe den Gesamtraum ergeben, so dass die Grenzen selbst keinen Raum einnehmen, selbst also eigentlich kein räumliches, sondern vielmehr ein ideelles Phänomen darstellen. Die Faszination, die von dieser Alltagsvorstellung von Grenzen als geometrische, unendlich dünne Demarkationslinien ausgeht, schlägt sich etwa in den Monumenten und Plätzen nieder, die an Drei- und Vierlän-

3 Zu den Bayreuther Arbeiten zur höfischen Laientheologie vgl. exemplarisch Gerhard Wolf, „daz der vil tugendhafte crist/wintschaffen alse ein ermel ist“. Gott als Kontingenzformel im Tristan Gottfrieds von Straßburg, in: Hans-Joachim Kügler u. Werner Ritter (Hgg.), Gottesmacht. Religion zwischen Herrschaftsbegründung und Herrschaftskritik (Bayreuther Forum Transit 4), Berlin 2006, S. 89–109; Silvan Wagner, Gottesbilder in höfischen Mären des Hochmittelalters. Höfische Para­doxien und ­religiöse Kontingenzbewältigung durch die Grammatik des christlichen Glaubens (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft 31), Frankfurt a. M., Berlin, Bern 2009; Susanne Knaeble, Höfisches Erzählen von Gott. Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen in Wolframs ‚Parzival‘ (Trends in Medieval Philology 23), Berlin, New York 2011; Nadine Hufnagel, ‚minne‘ als laientheologische Heilskonzeption im „Frauenbuch“ Ulrichs von Liechtenstein, in: Zeitschrift für Germanistik NF 21 (2011), S. 522–534; Susanne Knaeble, Silvan Wagner u. Viola Wittmann (Hgg.), Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters (Bayreuther Forum Transit 10), Berlin 2011. 4 Vgl. Albert Einstein, Foreword, in: Max Jammer, Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien. Darmstadt 1960, S. xi–xv, hier S. xiii. 5 Antje Schlottmann, Rekonstruktion alltäglicher Raumkonstruktionen. Eine Schnitt­stelle von Sozialgeographie und Geschichtswissenschaft?, in: Alexander Geppert, Uffa Jensen u. Jörn Weingold (Hgg.), Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 107–133, hier S. 123.





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derecken errichtet werden und die das unmittelbare Zusammentreffen unterschied­ licher politischer Räume, den Wechsel zwischen Staaten mit gleichsam einem Schritt manifestieren. Die Idee von solchen äußeren, linearen Grenzen existiert zwar mutatis mutandis im Mittelalter auch, wie etwa Reinhard Schneider herausgearbeitet hat,6 doch vorherrschend ist zumindest noch im Hochmittelalter7 eine ganz andere, komplementäre Grenzvorstellung von – wie ich es nennen möchte – inneren Grenzen. Räume können im Mittelalter als von ihrem Zentrum her begrenzt verstanden werden, im einfachsten Modell von einem Mittelpunkt, dessen In- und Exklusionswirkung nach außen hin immer schwächer wird; damit produzieren innere Grenzen einen mehr oder weniger breiten Grenzsaum, der exakte In- und Exklusion jenseits des Zentrums erschwert – wobei aber In- und Exklusion im Zentrum selbst idealtypisch und absolut erfolgen kann.8 Ein prominentes Beispiel dafür ist jener politische Raum, der mittels des Reise­ königtums aufgebaut und verwaltet wird: Der mittelalterliche Herrschaftsraum defi-

6 Vgl. Reinhard Schneider, Lineare Grenzen – vom frühen bis zum späten Mittelalter, in: Wolfgang Haubrichs u. Reinhard Schneider (Hgg.), Grenzen und Grenzregionen, Saarbrücken 1993, S. 51–68. 7 Hans Jürgen Karp bestätigt die schon Ende des 19. Jhs. von Hans F. Helmholt vertretene These, dass sich erst im Hochmittelalter allmählich die Entwicklung vom Grenzsaum hin zur linearen Grenze vollzog, vgl. Hans Jürgen Karp, Grenzen in Ostmitteleuropa während des Mittelalters. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Grenzlinie aus dem Grenzsaum (Forschung und Quellen zur Kirchenund Kulturgeschichte Ostdeutschlands 9), Köln, Wien 1972. 8 Die philosophische Diskussion, die der Unterscheidung eines Raumkonzepts mit äußeren und einem mit inneren Grenzen zugrunde liegt – die Differenzierung zwischen absoluter und relativistischer Raumvorstellung – fasst zusammen Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes, Berlin, New York 2009, S. 60f.: „Bei der Unterscheidung von absoluter und relativistischer Raumvorstellung handelt es sich um einen Anschluss an die Terminologie aus Physik, Philosophie und Astronomie. In diesen Wissenschaften stellt sich die Frage, ob der Raum eine vorgängige Existenzbedingung von Phänomenen bzw. ihrer Erkenntnis ist. Nach der einen Auffassung ist der Raum absolut, präexistent, endlich und ein Container für alle Objekte und Menschen. Als ‚absolut‘ wird der Raum deshalb bezeichnet, weil er unabhängig von Menschen und Objekten existiert. Stellen innerhalb dieses Raumes werden als ‚Orte‘ bezeichnet. Jedes Objekt im Raum nimmt zu einem bestimmten Zeitpunkt nur einen Ort ein, der ebenfalls vor und unabhängig von ihm existiert. In dieser Vorstellung gibt es im Raum nur distinkte Objekte und es ist auch möglich, einen leeren Raum zu denken. Historisch sind dieser Auffassung z. B. Ptolemäus, Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton zuzuordnen. Die andere prominente Raumvorstellung in der abendländischen Physik und Philosophie ist die relativistische Auffassung oder Konfigurationsauffassung von Raum. Sie wurde beispielsweise von Nikolaus von Kues, Bellarmin, Leibniz und Mach vertreten. In dieser wird ‚Raum‘ als Menge der Lagebeziehungen physikalischer Körper verstanden. ‚Raum‘ ist hier kein Behälter, sondern konstituiert sich erst aus diesen Lageverhältnissen. Raum und Ort existieren folglich nicht unabhängig oder vor den Körpern. Da sich Körper bewegen können, ist dieser Raum keine präexistente Konstante mit endlicher Ausdehnung wie der Containerraum, sondern kann sich auch verändern. Es gibt keinen leeren Raum, und ein Ort kann immer nur ein Ort von etwas sein. Befindet sich ein Körper nicht mehr an einem Ort, so hört auch der Ort auf zu existieren.“



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 Silvan Wagner

niert sich grundsätzlich über sein Zentrum, den Herrscherleib. Dieser strahlt seine raumschaffende In- und Exklusionswirkung zunächst auf den durch die quasi-thea­ trale Interaktion seiner Mitglieder entstehenden Hof aus, als dessen Zentrum der Herrscher unabdingbar ist. Das Reisen des Königs stellt nun eine Möglichkeit dar, diesen noch sehr überschaubaren Herrschaftsraum, der über die Repräsentation seines Herrschers aufgebaut wird,9 zu vergrößern: Der reisende König schafft mit seiner Hofhaltung in assoziierten Städten und Burgen viele innere Grenzen, deren breite Grenzsäume sich verbinden und so ein Herrschaftsgebiet schaffen.10 Dieses Verständnis schlägt sich auch plakativ in Karten noch bis ins 16. Jahrhundert nieder, bei denen die Herrschaftsräume über den zentralen Leib des Herrschers und ohne äußere Grenzen bezeichnet werden konnten.11 Anhand des Heiligen Römischen Reiches am Ausgang des 12.  Jahrhunderts – also anhand des Herrschaftsraums Heinrichs VI. – kann der Unterschied zwischen äußeren und inneren Grenzen gut veranschaulicht werden (vgl. Abb. 1): Die gängige, moderne Darstellungsweise (links) organisiert den Herrschaftsraum über äußere Grenzen und eine einheitliche Einfärbung, die eine gleichmäßige Herrschaft über das gesamte Gebiet suggeriert. Dem reisenden Herrscher Heinrich VI. ist eine Darstellungsweise über die innere Grenze vielleicht adäquater: Die rechte Version der Karte skizziert das konkrete Itinerar Heinrichs im Jahr 1193.12 Statt des statischen Raumes, den die Begrenzung über äußere Grenzen suggeriert, entfaltet sich hier ein dynamischer, stark zeitabhängiger Raum, dessen Grenzen über seine multiplen Zentren – letztendlich über den Herrscherleib – definiert sind. Diese Differenzierung zweier Denkmuster von Grenzen – äußere und innere Grenzen – bleibt nicht auf den geographischen Raum beschränkt, sondern ist – so die Leitthese dieses Beitrags – anwendungsfähig auf jedwede Raumart im Hochmittelalter. Im Folgenden soll dies anhand des religiösen Raumes in der Abgrenzung des religiös Eigenen von dem religiös Anderen dargestellt werden.

9 Vgl. dazu grundsätzlich Horst Wenzel, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, v. a. S. 21–25. 10 Vgl. Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 10. Aufl., München 2002, S. 71–76. 11 Vgl. Folker Reichert, Grenzen in der Kartographie des Mittelalters, in: Andreas Gestrich u. Marita Krauss (Hgg.), Migration und Grenze, Stuttgart 1998, S. 15–39, hier S. 23f. 12 Regensburg, Würzburg, Speyer, Hagenau, Straßburg, Hagenau, Boppard, Mosbach, Würzburg, Gelnhausen, Koblenz, Worms, Kaiserslautern, Worms, Haßloch, Straßburg, Kaiserslautern, Würzburg, Sinzig, Aachen, Kaiserswerth, Gelnhausen, Frankfurt am Main, Gelnhausen; vgl. ausführlich zum Itinerar Heinrichs VI. Ingeborg Seltmann, Heinrich VI. Herrschaftspraxis und Umgebung (Erlanger Studien 43), Erlangen 1983. Freilich bildet eine Darstellung des konkreten Herrschaftsraumes auf dieser Basis nur eine heuristische und letztlich unzulängliche Methode, da beispielsweise Stammland und verlässliche und erprobte Treuebündnisse ausgespart bleiben, die weniger eine unmittel­ bare körperliche Anwesenheit des Herrschers erfordern.





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Abb. 1: Gegenüberstellung einer Darstellung des Herrschaftsraumes des Heiligen Römischen Reiches nach äußeren (links) und inneren (rechts) Grenzen. Abb. der Kartengrundlage aus URL http://commons.wikimedia.org/wiki/File:HRR.gif (einges. 24.06.2014).

2 Kirchentheologische In- und Exklusion mit äußeren und inneren Grenzen im 13. Jahrhundert Die religiöse Grenzziehung im Hochmittelalter kennt sicherlich das Modell der äußeren Grenzen, und bedenkt man das Fehlen eines Toleranzgedankens im modernen Sinn und richtet den Blick auf die im heutigen Interdiskurs dominant gesetzten Aspekte mittelalterlicher Ausgrenzung des religiös Anderen – Kreuzzug, Vertreibung, Pogrom, Zwangstaufe –, so scheint es, als ob das christliche Mittelalter ausschließlich über äußere Grenzen eine exakte und radikale In- und vor allem Exklusion des religiös Anderen vorgenommen hätte. Textlicher Niederschlag dieses Grenzmodells sind etwa Dekrete, Exkommunikationen und Apologien, die jeweils möglichst exakte Grenzen – hier der Rechtgläubigkeit – ziehen: Welche Ansicht schließt einen Gläubigen aus der Gemeinschaft der Christen aus? Welche Aussagen einer exkludierten Gruppe sind jenseits der Grenze zum religiös Anderen? Bis wohin kann Konsens mit Andersgläubigen kommuniziert werden, und wo genau trennt sich etwa die Weisheit der Heiden von einer christlichen Weisheit ab? 

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 Silvan Wagner

Exemplarisch kann die religiöse Abgrenzung durch äußere Grenzen gezeigt werden anhand der Ablehnung des Averroismus durch die Pariser Universität in einer Erklärung des Bischofs Tempier aus dem Jahr 1277. Tempier verurteilt die lateinische Rezeption des durch den islamischen Philosophen Averroes kommentierten Aristoteles scharf und begründet dies über den religiösen Wahrheitsbegriff: Sie sagen nämlich, dies sei wahr gemäß der Philosophie, aber nicht gemäß dem katholischen Glauben, als ob diese zwei gegensätzliche Wahrheiten seien und als ob gegen die Wahrheit der Hl. Schrift Wahrheit in Sätzen verdammter Heiden sei, von denen geschrieben steht: ‚Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen‘, weil die wahre Weisheit die falsche Weisheit zunichte macht. Daß doch solche (Philosophen) den Rat des Weisen beachteten, der da spricht: ‚Verstehst du die Sache, so unterrichte deinen Nächsten; wo nicht, so halte dein Maul zu, daß du in einem zuchtlosen Worte nicht gefangen und beschämt werdest.‘ Damit also unvorsichtige Reden nicht Einfältige in Irrtum ziehen, verbieten wir nach gemeinsamen Rat von Doktoren der Hl. Schrift wie anderer kluger Männer solches und ähnliches und verurteilen es ganz und gar; wir exkommunizieren alle jene, die die genannten Irrlehren oder irgendeine von ihnen als Dogma verkünden oder sich irgendwie vornehmen, sie zu verteidigen oder zu behaupten, ebenso auch deren Hörer, wenn sie sich nicht binnen sieben Tagen uns oder dem Kanzler der Pariser Universität entdecken wollen.13

Die Grenze zwischen rechtgläubigen Christen und den „verdammten Heiden“ wird anhand einer Aussage aufgebaut: Wer von zweierlei Wahrheiten ausgeht, von denen diejenige der Bibel nur eine sei, der wird exkludiert mit dem wirkmächtigen Mittel der Exkommunikation. Die religiöse Unterscheidung kann so trennscharf über eine äußere Grenze getroffen werden, welche hier fast ausschließlich in den Blick gerät; jenseits der Frage, ob eine Wahrheit oder zwei Wahrheiten anzusetzen seien, kommt keine weitere Glaubensdifferenzierung in den Blick. Gleichwohl klingt selbst hier auch die komplementäre Begrenzungsmethode über eine innere Grenze an: Der Bischof verweist darauf, für die Entscheidung bei Doktoren der Heiligen Schrift und bei anderen klugen Männern Rat eingeholt zu haben, und er schließt mit dem Angebot einer Möglichkeit, sich als Hörer der „Irrlehren“ vor der Exkommunikation zu bewahren: Mit dem Gang zur Pariser Universität. Diese ist die innere Grenze des Raumes der Rechtgläubigkeit, den der Bischof kommuniziert: Der Sitz kluger Männer im Allgemeinen und Bibelwissenschaftlern im Besonderen, der als Sorbonne in Spätmittelalter und Früher Neuzeit in der Tat eines der wichtigsten Zentren der abendländischen Christenheit darstellt. Auch jenseits der einen – im Text sicherlich absolut dominanten – Frage nach der Natur der Wahrheit, jenseits also von der einen genauen äußeren Grenze fungiert die Pariser Universität gleichsam im Hintergrund als innere Grenze der Rechtgläubigkeit, da ihre Gelehrten wie selbstverständlich als entscheidungsbefugt kommuniziert werden. Die Erklärung

13 Zitiert nach: Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. 2: Mittelalter, hrsg. von Adolf Martin Ritter, Neukirchen-Vluyn 1980, S. 102.





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des Bischofs präsentiert also einerseits den Raum christlicher Rechtgläubigkeit über eine trennscharfe äußere Grenze, baut den Raum aber auch über sein abgrenzendes Zentrum auf.

3 Laientheologische In- und Exklusion mit äußeren und inneren Grenzen in Reden des Strickers im 13. Jahrhundert Der Stricker, ein volkssprachlicher Dichter aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, setzt sich in seinem umfangreichen Werk in drei Redetexten mit den Juden und ihrer religiösen Differenzierung von den Christen auseinander: ‚Die verlorenen Christen‘, ‚Der Juden Abgott‘ und ‚Die ungehorsamen Juden‘.14 Auch der Stricker verwendet für die religiöse Abgrenzung beide Grenzarten, äußere und innere Grenzen, doch in umgekehrter Gewichtung wie Bischof Tempier: Der Stricker arbeitet auf Basis einer höfischen Laientheologie, die weniger Interesse hat an einer genauen Abgrenzung nach außen als vielmehr an höfisch resemantisierten Gottes- und Menschenbildern;15 entsprechend dominiert das Thema Herrschaft bei der Nachzeichnung des Verhältnisses zwischen Gott und Menschen: Gott ist der Herr, die Menschen seine Vasallen, die ihm zu triuwe verpflichtet sind; entsprechend greift der Stricker auch auf politische Grenzziehungen zurück und verwendet auch für die religiöse Abgrenzung prominent innere Grenzen, wie nun zu zeigen sein wird. Die Rede ‚Die verlorenen Christen‘ setzt gleich zu Beginn Ketzer, Juden und Heiden in Relation zu Christen: Chetzer, Iuden und Heiden dunchent uns die got leiden, wand si des glouben niht enhant. swie groze sunde si begant, so sint ir sunde doch ein wint wider die verlorn christen sint. (vv. 1–6)

Ketzer, Juden und Heiden betrüben Gott, wie wir denken, da sie den Glauben nicht haben. Wie groß ihre Sünden auch sein mögen, so sind ihre Sünden doch nichts im Vergleich zu den seitdem verlorenen Christen.

Über den Begriff des Glaubens wird zwar zunächst eine eindeutige äußere Grenze aufgebaut (Christen haben Glauben, der Ketzer, Juden und Heiden nicht), die aber über den Begriff der Sünde wieder relativiert wird: Unter dem Aspekt der Sünde betrachtet sind Christen nicht mehr absolut von Ketzern, Juden und Heiden getrennt, sondern ein Teil der Christen – die verlorn christen – ist noch weiter von dem Zentrum Gott entfernt.

14 Der Stricker, Die Kleindichtung des Strickers, 5 Bde., hrsg. v. Wolfgang Wilfried Moelleken, Gayle Agler-Beck u. Robert  E. Lewis, Göppingen 1973–1978, Bd.  2, S.  272–277 (‚Abgott‘); Bd.  4, S.  58–61 (‚Christen‘), 241–243 (‚Juden‘). 15 Vgl. dazu ausführlich Wagner (Anm. 3).



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Der Erzähler argumentiert weiter, dass Gott Juden und Heiden, die ceder helle geborn (v.  44) sind, nicht besitzt und sie deswegen auch nicht verlieren kann; die Christen aber sind sin eigen und sin erbechint (v. 57), so dass sie Gott gleichsam bestehlen, wenn sie ihm abtrunne worden sint (v. 64). Diese abtrünnigen Christen sind es, die got gemartert hant (v. 60) – womit der Erzähler wieder über die Sünde die äußere Grenze zwischen Christen einerseits und Juden und Heiden andererseits durchbricht: Alle haben Teil an der übergroßen Sünde, schuldiger aber sind die abtrünnigen Christen. Die Rede schließt mit einem Raumentwurf, der gänzlich von der inneren Grenze Gott bestimmt ist und der Ketzer, Juden und Heiden als Übergang zwischen treuen und untreuen Christen situiert: si werdent im ceurteile also verre von got gescheiden – fur die Iuden und fur die Heiden. als vil si im naher wurden ê, als vil sint si immer me verrer denne der deheine, die da nie wrden reine. (vv. 66–72)

Sie werden nach seinem Richtspruch genau so weit von Gott entfernt – noch hinter die Juden und hinter die Heiden – wie sie ihm früher näher waren; sie werden auf ewig weiter entfernt sein als jene, die niemals rein waren.

In der zweiten hier behandelten Rede ‚Der Juden Abgott‘ entfaltet der Stricker eine ähnliche Struktur der Abgrenzung, nur beginnt er hier damit, die Juden als auserwähltes Volk Gottes von den Heiden abzugrenzen: Do got die iuden so beriet, daz er si von den heiden schiet und in vil gnaden tet beide durch Moyses gebet und durch sin selbes gute, do namen si ir gemute dannoch von sinem gebot und wrden einem apgot mit ir gebet under tan und wolden von dem han lip, sele, ere und guot. (vv. 1–11)

Als Gott die Juden segnete, indem er sie von den Heiden trennte und ihnen vielerlei Gnade erwies sowohl wegen der Fürbitte Moses’ als auch wegen seiner eigenen Gütigkeit, da wandten sie sich doch von seinem Gesetz ab und wurden einem Abgott durch ihr Gebet Untertan und wollten von diesem Leib, Seele, Ehre und Besitz haben.

Eingeführt werden die Juden als Gruppe höfischer Vasallen (genauer: Aftervasallen Mose), deren innere Grenze Gott ist und die durch eine äußere Grenze von den Heiden geschieden sind. Doch die Juden kehren sich von ihrem Herrn ab und huldigen stattdessen einem goldenen apgot, was vom Erzähler in die topische moralische Figur ‚Böses Gold statt gute Ehre‘ gekleidet wird.16

16 Stricker (Anm. 14), Bd. 2, S. 272f., vv. 12–32.





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Die Christen, um die es in der Rede eigentlich geht, werden erst jetzt eingeführt im Rahmen eines Vergleichs: So wie viele Juden Gott untreu geworden sind, so werden heute viele Christen ihrem Herrn untreu, der wie Moses von Gott eingesetzt wurde.17 Im Vergleich des ehrlosen Verhaltens der Juden mit dem heutigen Verhalten von (christlichen) Vasallen bestätigt sich noch einmal anschaulich die gänzlich höfische Ausrichtung der biblischen Nacherzählung: si verlurn alle ir ere. die aptrunnen israhele verlurn lip unde sele, daz si sich von ir herren zugen und ir chnie dem apgot bugen. man vindet noch der liut vil – der si vinden und wizzen wil – die ir herren verchiesent. (vv. 34–42)

Sie verloren alle ihre Ehre. Die abtrünnigen Israeliten verloren Leib und Seele, indem sie sich von ihrem Herrn abkehrten und ihr Knie vor dem Abgott beugten. Man findet noch heute viele Menschen (wer sie denn finden und erkennen will), die ihren Herrn verachten.

Freilich sind die Juden aus dem Raum um den Herrscher Gott exkludiert, aber diese Exklusion erfolgt über eine innere Grenze, über das Zentrum Gott, nicht über eine äußere Grenze. Deswegen wird die Differenzierung zwischen untreuen Juden und untreuen Christen unscharf beziehungsweise wird in dieser Rede überhaupt nicht aufgebaut: Juden sind nicht das religiös Andere, sondern in der Untreue das negative Eigene. In der letzten hier behandelten Rede ‚Die ungehorsamen Juden‘ baut der Stricker das ambivalente Judenbild weiter aus. Wieder behandelt der Text das Exodusge­ schehen: Do got hie vor der Iuden her trucchen furte durch daz mer und in gab, swaz si wolden; des si niht muten solden, des gerten si und baten. swie tumplich si taten! daz ruohte in got allez geben. da wider wolten si leben niht wan nach ir mute. swaz in got tet zeguote, si enwolten im niht volgen. des wart in got erbolgen. (vv. 1–12)

     17

Als Gott früher das jüdische Heer trockenen Fußes durch das Meer führte und ihnen schenkte, was sie begehrten, da begehrten und erbaten sie dasjenige, das sie nicht begehren sollten. Wie töricht war dies! Das alles wollte ihnen Gott geben. Dennoch wollten sie nur nach ihrem Willen leben. Was auch immer Gott ihnen Gutes tat, sie wollten ihm nicht folgen. Deswegen wurde Gott auf sie zornig.

Im Unterschied zu den beiden anderen Reden wird hier ein längeres Verhältnis z­ wischen Gott und den Juden geschildert, wobei Gott lange Zeit an den Juden festhält und ihnen Treue erweist. In- und exkludierte Juden differenzieren sich über

17 Vgl. ebd., S. 273f., vv. 35–49.



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einen zeitlichen Verlauf, nicht grundsätzlich. Die Juden werden von den später thematisierten Christen von Anfang an nicht über eine äußere Grenze abgesondert, sondern sind ganz über die innere Grenze Gott bestimmt, von dessen zorn sie schließlich exkludiert werden, da sie – hier wieder deutlich räumlich formuliert – ihm nicht folgen wollen. Wieder zieht der Stricker den Vergleich mit den christlichen Sündern, wieder aber betont er auch die Langmut Gottes, die sich seit der Zeit Mose noch vergrößert hat: got hat nu niht so grozen zorn so bi moyses ziten. er laet den sundaere biten, unz daz der schulde wirt so vil, daz ez im waere ein chindes spil, waere er umbe die ersten schulde tot; so lite er niht so mange not. des ist den Iuden deste baz geschehen, die tot wrden gesehen umbe die erste schulde, danne dem, der gotes hulde ver wurchet hundert tusent valt. (vv. 32–43)

Gott hat heute nicht mehr einen so großen Zorn wie zu den Zeiten Moses. Er lässt dem Sünder Zeit, bis dass sich so viel Schuld ansammelt, dass es ein Kinderspiel für den Sünder wäre, wenn er schon für die erste Sünde hätte sterben müssen; auf diese Weise würde er weniger leiden. Diesbezüglich ist es den Juden besser ergangen, die bereits wegen der ersten Schuld getötet wurden, als demjenigen, der die Huld Gottes hunderttausendfach verwirkt.

Auch in dieser Rede werden die dauerhaft sündigenden Christen letztendlich hinter den untreuen Juden verortet, weiter von der inneren Grenze Gott entfernt. Der Text lässt offen, wie genau die Bestrafung von untreuen Juden und untreuen Christen aussieht, inwiefern sie sich genau unterscheidet und wo genau sie stattfindet – letztere Frage wäre von entscheidender Bedeutung: Geht es um zeitliche Strafen im Fegefeuer oder um ewige Strafen in der Hölle? Interessant ist, dass Letzteres lediglich bei den untreuen Christen angedeutet wird, nicht aber bei den Juden, die in dieser Rede nirgends als ceder helle geborn bezeichnet werden wie in der Rede ‚Die verlorenen Christen‘: also manich fluch wirt im gezalt, der islicher ist so swaere, ob er alterseine waere, daz er sele chunde toeten. mit also mangen noeten wirt iener niht genoettet, den sin erste schulde toetet. (vv. 44–50)

Sehr viele Flüche werden ihm aufgerechnet, von denen jeder so schwer wiegt, als ob er ganz allein die Seele töten könnte. Mit so vielen Qualen wird jener nicht gequält, den seine erste Schuld getötet hat.

Völlig offen bleibt, ob das letzte toeten sich auf den irdischen Tod (eines Teiles) der Juden bezieht, wie er in ‚Der Juden Abgott‘ anhand der Geschichte vom Goldenen Kalb nacherzählt wurde – die Tötung der abtrünnigen Juden um Aaron durch die Anhänger Mose, ein Zusammenhang, der hier ebenfalls zentral ist, es geht ja um die Treue der Juden gegenüber Gott –, oder ob mit dem toeten das Sterben der Seele gemeint ist und damit die ewige Verdammnis. Der Text lässt damit offen, ob es für die Juden die 



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Erlösung geben kann – denkbar ist dies jedoch durchaus im Rahmen dieses Textes, der auf äußere Grenzen vollständig verzichtet und dafür eine relative Struktur längerer oder kürzerer Treueverhältnisse mit Gott aufbaut.

4 Systematisierung Zusammenfassend belegen die drei Reden nicht etwa eine Entwicklung des Judenbildes des Strickers: Die Reden wurden in eine systematische Reihenfolge gebracht, wir wissen nicht, wann genau sie geschrieben wurden. Und auch in diesem Fall wäre der Ansatz eines Entwicklungsparadigmas völlig verfehlt, handelt es sich doch nicht um kirchentheologische Texte, sondern um laientheologische, letztendlich erzählende Texte, deren Rezeptionsraum der volkssprachliche Adel ist. Diese Texte müssen keine einheitliche religiöse Systematik anstreben, sondern sie erzählen von Gott, durchaus auch in divergenten Bildern, wie es etwa auch dem biblischen Erzählen von Gott eigen ist. Die Juden können so einmal zusammen mit Ketzern und Heiden eine Gruppe bilden, die ceder helle geborn sind, einmal durch Gott von den Heiden geschieden sein und einmal geradezu eine Gruppe positiver Sünder darstellen, die ihre Sünde mit ihrem leiblichen Tod vielleicht schon verbüßt haben. Freilich geht es in keinem der drei Texte zentral um die Juden, sondern vielmehr um die Christen und um ihre Teilung in zwei Lager, wobei die Gruppe der Juden stets zwischen diesen beiden Lagern situiert wird. Ermöglicht wird dies nur durch den Einsatz innerer Grenzen, die den gesamten religiösen Raum auf ein Zentrum aus­ richten. Gemeinsam ist den drei Texten darüber hinaus die grundsätzliche höfische Re­semantisierung der übernommenen religiösen Muster: Gott wird als Herrscher stilisiert, der Vasallen und Aftervasallen hat, eine Verbindung, die über Treue bestimmt ist und Ehre verleiht. Problematisch ist vor diesem Hintergrund der Wechsel des Herrschers, da dieser einen Treuebruch darstellt und (im Falle des goldenen Kalbs) Geld der Ehre vorzieht. Weiteres – etwa das Anbeten eines falschen Gottes, Verletzen des ersten Gebots, falsche Liturgie – ist kaum relevant. In dieser Hinsicht gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Juden und Christen. Die Exklusion der Juden mittels äußerer Grenzen einerseits, ihre tendenzielle Inklusion über die innere Grenze andererseits hat, so ist zu vermuten, einen gleichsam seelsorgerischen Effekt: Der Stricker reformuliert das alte Paradigma der Zweiteilung von Seligen und Verdammten; diese Zweiteilung wäre über äußere Grenzen eindeutig zu vollziehen (wie etwa das Beispiel der Erklärung von Bischof Tempier zeigt), doch wäre ein solcher Ausschluss auch leicht endgültig (wie etwa auch die Ketzer, Juden und Heiden in ‚Die verlorenen Christen‘ für die Hölle bestimmt sind). Der Stricker bietet stattdessen mit Ehre und Treue einerseits inkludierende Konzepte an, deren Verhandlung dem höfischen Publikum bestens vertraut ist, andererseits verunklart er 

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 Silvan Wagner

mit der Zwischenstellung der Juden und der Konzentration auf die innere Grenze Gott die genaue Einordnung in sein heilsgeschichtliches Konzept: Er präsentiert mit der Gruppe der Juden einen breiten Grenzsaum, der zwischen der Gruppen der Seligen und der Verdammten eingezogen ist und der – bei aller Rigorosität der Ausgrenzung der ‚verlorenen Christen‘ – die Einordnungen uneindeutig und die religiösen Räume durchlässiger macht: In der Rede ‚Der Juden Abgott‘ werden analog zu den seligen und verdammten Christen treue und untreue Juden präsentiert, womit der religiöse Grenzsaum die Sphäre der Gegenwart Gottes – der Gegenwart des Herrschers – auf der einen Seite wieder berührt. Unklar wird hier die Einordnung des einzelnen christlichen Sünders: Ist seine Sündhaftigkeit analog der „ersten Sünde“, der Untreue der Juden gegen Gott? Oder entspricht sie schon der dauernden Sünde, der dauerhaften Untreue? Es ist zu vermuten, dass es gerade diese eine Besserung ermöglichende Unklarheit ist, die die Funktion der Juden bei der Diskussion christlicher Seligkeit und Verdammung über innere Grenzen ausmacht. Der Stricker reiht sich damit ein in die lange kirchliche Tradition, die Umkehr des Sünders zu ermöglichen,18 doch er tut dies – im Unterschied zu seinen kirchentheologischen Kollegen – auf eine ganz und gar laientheologische Art und Weise: Unsystematisch, erzählend und ganz auf den adelig-höfischen Adressaten- und Auftraggeberkreis zugeschnitten.

18 Vgl. auf breiterer Textbasis Stephen Wailes, Studien zur Kleinepik des Stricker, Berlin 1981, S. 107– 143.



Jürgen Bärsch (Eichstätt)

Antijüdische Deutungen liturgischer Vollzüge und Gebräuche im Mittelalter. Beobachtungen zu einem Phänomen der Liturgiegeschichte Abstract: Diskriminierende Vorstellungen über die Juden und ihre Rolle in der Passion und Kreuzigung Jesu sind auch in die Deutungen einzelner Riten in der Feier der Kar- und Osterliturgie eingegangen. Vor allem durch die Form der allegorischen Liturgieerklärung mit ihrer assoziativen Interpretationsmethode konnten sich zumindest unterschwellig antijüdische Vorstellungen und Haltungen niederschlagen. Dies wird hier an zwei Beispielen näher beleuchtet: dem Wegfall des knienden Betens bei der Fürbitte für die Juden in der Karfreitagsliturgie und dem Licht- und Lärmbrauch beim Abschluss der Trauermetten an den Kartagen. Dass sich die mit ihnen verbundenen antijüdischen Deutungen bis weit in die Neuzeit gehalten haben, bezeugt ihre lang anhaltende, hochproblematische Wirkungsgeschichte.

1 Das Problem Fragt man nach dem Bild Andersgläubiger im Fokus der mittelalterlichen Kirche, dürfte gerade auch ihr Gottesdienst ein interessantes Untersuchungsfeld darstellen. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis von Judentum und Christentum. Denn trotz der zunehmenden Abgrenzungen hat die frühchristliche Kirche doch in reichem Maße liturgische Traditionen aus jüdisch-rabbinischem Erbe rezipiert und fortgeschrieben. Man denke etwa an die Entwicklung von Gebetsformen, an die Schriftlesung aus dem Alten Testament oder an die Beziehung zwischen jüdischen und christlichen Festtraditionen.1 Zudem ist bekannt, dass sich die typologische und allegorische Auslegung des Alten Testaments, vor allem des Tempelkults und der Reinigungsriten besonders seit dem Frühmittelalter auf den christlichen Gottesdienst ausgewirkt hat.2

1 Offenbar hat die Zeit eine Justierung im Verhältnis zwischen Judentum und Christentum, sogar Interaktionen zwischen beiden liturgischen Traditionen hervorgebracht und zu beidseitigen Beeinflussungen geführt. Zur gegenwärtigen Forschungslage vgl. die hervorragende Übersicht von Gerard Rouwhorst, Christlicher Gottesdienst und der Gottesdienst Israels. Forschungsgeschichte, historische Interaktionen, Theologie, in: Martin Klöckener, Angelus A. Häussling u. Reinhard Messner (Hgg.), Theologie des Gottesdienstes (Gottesdienst der Kirche 2, 2), Regensburg 2008, S. 491–572. 2 Rouwhorst (Anm. 1), S. 565: „Seit dem Ende der Spätantike und dem Beginn des Mittelalters, also gerade in der Zeit, in der Beeinflussungen durch Interaktionen mit dem zeitgenössischen Juden­-

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 Jürgen Bärsch

Dieses zunächst bemerkenswert positive liturgiegeschichtliche Verhältnis zwischen Judentum und Christentum darf aber nicht übersehen lassen, dass es auch eine Negativgeschichte gibt. Dazu gehören vor allem die Deutungen euchologischer und ritueller Elemente der Liturgie, in denen sich ablehnend-diskriminierende Wertungen der Juden und des Judentums niedergeschlagen haben. Vor allem der zuerst von Meliton von Sardes († um 190),3 später von anderen Kirchenvätern erhobene Vorwurf, die Juden seien „individuell und kollektiv schuldig am Tod des Gottessohnes und damit gerecht von Gott verworfen“4, hat einen Nährboden bereitet, der auch auf die christliche Liturgie und ihr Verständnis in Ost und West einwirkte.5 Hier spielte vor allem die Methode der allegorischen Liturgieerklärung eine wichtige Rolle, die Amalarius von Metz († 850/53), um 810 Erzbischof von Trier, im Westen heimisch machte. Dabei unterlegte man den liturgischen Handlungen und Riten einen tieferen Sinn, als es ihr Erscheinungsbild anzeigte.6 So öffneten sich alle Vollzüge bis in kleinste Details für reich ausufernde Deutungen unterschiedlichster

tum nicht mehr oder kaum noch vorkamen, erlangte diese Art von Interpretationen [typologische, allegorische Deutungen; JB] und ihre Anwendung auf die christliche Liturgie sogar immer größere Bedeutung, und dies dauerte fort, solange die allegorische Liturgiedeutung vorherrschend war, d. h. wenigstens bis zum Ende des Mittelalters.“ Zur Sache vgl.  Raimund Kottje, Studien zum Einfluß des Alten Testaments auf Recht und Liturgie des frühen Mittelalters (6.–8. Jh.) (Bonner historische Forschungen 23), 2. Aufl. Bonn 1970; Arnold Angenendt, Religiosität und Theologie. Ein spannungsreiches Verhältnis im Mittelalter, in: ders., Liturgie im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Thomas Flammer u. Daniel Meyer (Ästhetik – Theologie – Liturgik 35), 2.  Aufl. Münster 2005, S. 3–33, hier S. 24–26; Rudolf Suntrup, Die Bedeutung der liturgischen Gebärden und Bewegungen in lateinischen und deutschen Auslegungen des 9. bis 13. Jahrhunderts (Münstersche Mittelalter-Schriften 37), München 1978, bes. S. 61–64. 3 Meliton von Sardes, Vom Passa. Die älteste christliche Osterpredigt, hrsg. v. Josef Blank (Sophia 3), Freiburg 1963, S. 120–128; vgl. dazu Hansjörg Auf der Maur, Die Osterfeier in der alten K ­ irche. Aus dem Nachlaß hrsg.  v. Reinhard Messner u. Wolfgang G. Schöpf, mit einem Beitrag von Clemens Leonhard (Liturgica Oenipontana 2), Münster 2003, S. 58–72, hier S. 70–72; Rouwhorst (Anm. 1), S. 543f. 4 Martin George, Antijudaismus bei den Kirchenvätern. Eine notwendige Polemik?, in: Walter Dietrich u. a. (Hgg.), Antijudaismus – christliche Erblast, Stuttgart u. a. 1999, S. 74–93, hier S. 84. 5 Vgl. Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (11.–13. Jh.). Mit einer Ikonographie des Judenthemas bis zum 4. Laterankonzil (Europäische Hochschulschriften 23, 335), 3. Aufl. Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 352–362, hier S. 354f.; Jeremy Cohen, The Jews as the Killers of Christ in the Latin Tradition. From Augustine to the friars, in: Traditio 39 (1983), S. 1–27; zum sehr differenziert zu betrachtenden Verhältnis zwischen Juden und Christen im Mittelalter vgl. etwa Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, 6. Aufl. Münster 2012, S. 491–533. 6 Vgl. Reinhard Messner, Zur Hermeneutik allegorischer Liturgieerklärung in Ost und West, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 115 (1993), S. 284–319, 415–434; Angelus A. Häussling, Messerklärung (Expositiones missae), in: ders., Christliche Identität aus der Liturgie. Theologische und historische Studien zum Gottesdienst der Kirche, hrsg. v. Martin Klöckener, Benedikt Kranemann u. Michael B. Merz (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 79), Münster 1997, S. 140–150.





Antijüdische Deutungen liturgischer Vollzüge und Gebräuche im Mittelalter 

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Art. Alles wurde irgendwie mit der Heilsgeschichte, vor allem der Passion Jesu in Verbindung gebracht. Es verwundert nicht, dass im Zuge des zunehmenden theologischen Antijudaismus sich auch in der allegorischen Liturgieerklärung zumindest unterschwellig antijüdische Tendenzen und Haltungen widerspiegeln konnten. Denn gerade die allegorische Liturgieerklärung, die vom frühen Mittelalter bis weit in die Neuzeit gewirkt hat, bot mit ihrer assoziativen Interpretationsmethode eine Hermeneutik, die für den Eintrag entsprechender Vorstellungen und Gedanken offen war. Dies möchte ich im Folgenden an zwei Beispielen etwas näher vorstellen, wobei ich vor allem auf Forschungen der Liturgiewissenschaftler John Hennig7 und Andreas Heinz8 zurückgreife.

2 Erstes Beispiel: die unterlassene Kniebeuge bei der Karfreitagsfürbitte für die Juden Ich beginne mit dem vielleicht bekanntesten Beispiel, der Fürbitte für die Juden bei den Orationes Sollemnes der römischen Karfreitagsliturgie. Denn mit ihr verband sich über die problematische Textfassung hinaus eine rituelle Besonderheit.9 Während die Gemeinde nach der Nennung der Fürbittanliegen mit dem Ruf Flectamus genua („Beuget die Knie“) zum Niederknien und zum stillen Gebet aufgefordert wurde, unterblieben auffälligerweise der Ruf und die Kniebeuge bei der Fürbitte für die Juden. Tatsächlich war diese rituelle Ausnahme keineswegs von Anfang an mit der Juden-Fürbitte der Orationes Sollemnes verbunden, deren Wurzeln bereits in vorkonstantinische Zeit zurück reichen.10 Das älteste Zeugnis für die ins Auge fallende Sonderheit findet sich vielmehr im fränkischen ‚Ordo Romanus 24‘ aus der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts. Da heißt es lapidar: „Nach der Fürbitte für den Kaiser spricht er [der Bischof; JB] das Gebet für den König der Franken, danach die weiteren

7 John Hennig wurde 1911 in Leipzig geboren und heiratete 1933 die Tochter eines jüdischen ­Aachener Unternehmers. 1936 konvertierte er, 1938 seine Frau zum Katholizismus. 1939 emigrierte er nach ­Irland und lebte von 1956 bis zu seinem Tode in Basel. Als Liturgiewissenschaftler war er zwar Autodidakt, erwarb sich aber große Achtung mit seinen Studien zur jüdischen Liturgie und deren Bedeutung für das Christentum, vgl. Daniela u. Benedikt Kranemann, John Hennig (1911–1986), in: Benedikt Kranemann u. Klaus Raschzok (Hgg.), Gottesdienst als Feld theologischer Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Deutschsprachige Liturgiewissenschaft in Einzelporträts, Bd. 1 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 98), Münster 2011, S. 467–475, hier S. 472–474. 8 Vgl. hier vor allem den einschlägigen Beitrag Andreas Heinz, Antijudaismus in der römischen Liturgie?, in: ders., Lebendiges Erbe. Beiträge zur abendländischen Liturgie- und Frömmigkeitsgeschichte (Pietas Liturgica Studia 21), Tübingen 2010, S. 242–262. 9 Vgl. dazu ebd., S. 247–252. 10 Vgl. Paul De Clerck, La „prière universelle“ dans les liturgies latines anciennes. Témoignages patristiques et textes liturgiques (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 62), Münster 1977, S. 125–144.



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 Jürgen Bärsch

Gebete gemäß der Ordnung, zuletzt für die Juden, wobei sie [die Gläubigen; JB] nicht niederknien.“11 Den Anlass für das Aufkommen dieser bemerkenswerten Neuerung vermutet John Hennig in ökonomisch begründeten Animositäten der Christen gegen die Juden. So hatte die Synode von Aachen 789 den Christen das Geldverleihen auf Zins verboten, den Juden solche Geldgeschäfte aber zugestanden. Die von diesen als Sicherheitsleistung verlangten Zinsen galten aber vielen Zeitgenossen als Wucher, was daraufhin die Juden generell in Misskredit brachte.12 Damit mag zwar der Hintergrund für den Brauch erhellt sein, eine Erklärung aber, die den Sinn der unterlassenen Kniebeuge erschließt, bietet der ,Ordo Romanus‘ nicht. Sie begegnet uns erstmals bei dem schon genannten Amalarius. In seiner einflussreichen, in den zwanziger und dreißiger Jahren des neunten Jahrhunderts verfassten Liturgieerklärung ‚Liber officialis‘ deutet er die neue Gepflogenheit mit dem unehrlichen Tun der Juden. Sie hätten, so Amalarius, in böser Absicht, um Christus zu verhöhnen, unaufrichtig die Kniebeuge vollzogen; wenn nun bei der Fürbitte für sie die Kniebeuge unterbleibe, solle das den Christen eine Mahnung sein, „dass wir heuchlerisches Tun meiden müssen.“13 Es fällt auf, dass Amalarius die sich einbürgernde Neuerung zwar tendenziell antisemitisch deutet, der Schwerpunkt seiner Darlegung richtet sich aber – und das war ihm zweifellos wichtiger – auf die moralische Nutzanwendung der Gottesdienstgemeinde.14 Hier zeigt sich übrigens die für Amalarius’ allegorische Methode auffällige Verbindung, typologisch-rememorative Deutungen liturgischer Handlungsverläufe mit tropologischen, auf die Nachfolge Christi zielenden sittlichen Ermahnungen zu verknüpfen.15 Der Weg, den Amalarius mit seiner Interpretation beschritten hat, sollte auf einen fruchtbaren Boden fallen. Bereits Abt Berno von der Reichenau († 1048) und Bernold von Konstanz († 1100) greifen in ihren Liturgieerklärungen die Deutung Amalarius’

11 Les Ordines Romani du haut moyen âge, Bd. 3: Les textes (Ordines XIV–XXXIV), hrsg. v. Michel Andrieu (Spicilegium sacrum Lovaniense 24), Louvain 1951, S. 288, 292: Post imperatorem vero dicit orationem pro rege Francorum, deinde reliquas per ordinem. Ad ultimum pro Iudeis non flectunt genua. (OR 24, 3); vgl. dazu De Clerck (Anm. 10), S. 144; Gerhard Römer, Die Liturgie des Karfreitags, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 77 (1955), S. 39–93, hier S. 69f.; Martin Klöckener, Die „Orationes Sollemnes“ am Mittwoch der Heiligen Woche (OR XXIV, 1–4). Eine Neuerung aus der Karolingerzeit, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 34 (1992), S. 84–101. 12 Vgl. John Hennig, Zur Stellung der Juden in der Liturgie, in: Liturgisches Jahrbuch 10 (1960), S. 129–140, hier S. 129; Heinz (Anm. 8), S. 252. 13 Amalarius von Metz, Liber officialis, hrsg. v. Jean Michel Hanssens (Amalarii episcopi opera litur­ gica omnia 2 / Studi e testi 139), Città del Vaticano 1948, S. 98 (I 13, 17): Per omnes orationes genu flexionem facimus, ut per hunc habitum corporis mentis humilitatem ostendamus, excepto quando oremus pro perfidis Iudaeis. Illi enim genu flectebant; opus bonum male operabantur, quia illudendo hoc faciebant; nos, ad demonstrandum quod fugere debeamus opera quae simulando fiunt, vitamus genu flexionem in oratione pro Iudaeis. 14 Vgl. Heinz (Anm. 8), S. 253. 15 Vgl. Suntrup (Anm. 2), S. 61–64; Messner (Anm. 6), S. 416–422.





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auf.16 Der Mönchstheologe Rupert von Deutz († 1129) stellt hingegen einen theologischen Gedanken in den Mittelpunkt seiner Begründung. Er argumentiert mit Verweis auf Röm 11,25: Weil Israel blind für das Heil ist und erst gerettet wird, wenn die Vollzahl der Heiden das Heil erlangt hat, habe die Fürbitte für sie nur geringen Nutzen: Daß die Fürbitte ihnen jetzt nicht so stark zugewandt werden soll, bringen wir zeichenhaft dadurch zum Ausdruck, daß wir die Knie nicht beugen, und dennoch – wie nur immer – bitten wir für sie, weil der Herr künftig auch sie an sich ziehen wird.17

Allerdings sollte dieser biblischen Interpretation kein wirklicher Erfolg beschieden sein. Zwar nehmen Sicard von Cremona († 1215) und dann die große Autorität der spätmittelalterliche Liturgiker Wilhelm Durandus von Mende (†  1296) in seinem ‚Ratio­ nale divinorum officiorum‘18 die Argumentation Ruperts mit auf, aber vorherrschend bleibt doch das Motiv der Verhöhnung Christi durch die Kniebeugung der Juden. Es steht an erster Stelle: „Für die Juden aber beugen wir die Knie nicht, um deren Spott zu vermeiden“, so Sicard, „denn sie haben spöttisch vor Gott die Knie gebeugt.“ Und eher ergänzend fügt er hinzu: Und weil die Blindheit, die Israel erfasst hat, durch kein Gebet vertrieben werden kann, bis die Fülle der Völker eingetreten ist, deswegen ist für sie nicht besonders heftig zu beten. Und deswegen beugen wir die Knie nicht.19

Das Pontifikale der Römischen Kurie aus dem 12. Jahrhundert bestimmt schließlich normativ für die folgenden Jahrhunderte:

16 Berno von der Reichenau, Libellus de quibusdam rebus ad missae officium pertinentibus, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 142, Paris 1880, Sp. 1055–1080, hier Sp. 1078f.; Bernold von Konstanz, Micrologus de ecclesiasticis oberservationibus, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 151, Sp. 977–1022, hier Sp. 1015f. 17 Rupert von Deutz, De divinis officiis. Der Gottesdienst der Kirche, Bd.  3, hrsg.  v. Helmut u. Ilse Deutz (Fontes Christiani 33, 3), Freiburg u. a. 1999, S. 818f. (VI 18): profitentes vehementer pro illis nunc intendendam non esse orationem significamus in eo, quod genua non flectimus et tamen oramus utcumque pro his, quia futurum est, ut illos quoque trahat ad se. 18 Wilhelm Durandus, Rationale divinorum officiorum, hrsg. v. Anselm Davril u. Timothy Thibodeau (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis  140A), Turnhout 1998, S.  374f. (VI  77, 12f.); zu Person und Werk vgl. die zusammenfassende und mit Literatur versehene Darstellung von Peter Maier, Reform des Gottesdienstes durch Durandus von Mende, in: Martin Klöckener u. Benedikt Kranemann (Hgg.), Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen Gottesdienstes, Bd. 1: Biblische Modelle und Liturgiereformen von der Frühzeit bis zur Aufklärung. Festschrift für Angelus A. Häußling (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 88), Münster 2002, S. 346–362, hier S. 350–353. 19 Sicard von Cremona, Mitralis de officiis, hrsg. v. Gábor Sarbak u. Lorenz Weinrich (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis 228), Turnhout 2008, S. 493 (VI 13); deutsche Übersetzung nach Sicard von Cremona, Mitralis, Bd.  B: Das Kirchenjahr, Indices, hrsg.  v. Lorenz Weinrich (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis in Translation 9), Turnhout 2011, S. 569.



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 Jürgen Bärsch

Wenn für die Juden gebetet wird, darf das Knie nicht gebeugt werden. Und zwar darum, weil die Juden an diesem Tag zur Verhöhnung des Herrn das Knie gebeugt haben. Da die Kirche ihre Untat verabscheut, beugt sie beim Gebet für sie [die Juden; JB] die Knie nicht.20

Nach Ausweis der hoch- und spätmittelalterlichen Gottesdienstordnungen, den ‚Libri ordinarii‘, hat sich das rituelle Sonderelement offenbar allenthalben durchgesetzt,21 zum Teil haben sie sogar die nunmehr ‚klassische‘ Deutung des römischen Pontifikale rezipiert.22 Dabei fällt auf, dass die moralische Ermahnung der Christen, an der Amalarius ehedem besonders gelegen war, jetzt nicht mehr auftaucht. Es liegt nahe, darin ein zunehmendes Vordringen antijüdische Tendenzen zu erkennen. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass es durchaus Bestrebungen gab, das Gebet für die Juden sogar ganz zu tilgen, sie blieben aber durchgehend ohne Erfolg.23 Gleichwohl drang das antijüdische Klima nicht zuletzt mittels der Karfreitagsfürbitte durch. Wohl in diesem Zusammenhang wird auch die aus St. Sebald in Nürnberg überlieferte, spätmittelalterliche Anweisung verständlich, wonach der Mesner das Kreuz just bei der Fürbitte für die Juden hinter den Altar zu tragen hatte.24 Man darf vermuten, dass mehr noch als die hier ausgeklammerte polemische Textfassung der Karfreitagsfürbitte pro Iudaeis, die ja für die meisten durch ihre lateinische Sprachgestalt verhüllt blieb, die rituelle Besonderheit der unterlassenen Kniebeuge Aufmerksamkeit bei den Gläubigen wecken und sich mit ihrer antisemitischen Deutung verheerend auswirken musste. Sie ist jedenfalls über die Volkskatechismen

20 Le Pontifical Romain au moyen-âge, Bd.  1: Le Pontifical Romain du XIIe siècle, hrsg.  v. Michel Andrieu (Studi e testi 86), Città del Vaticano 1938, ND 1983, S. 235 (PontRom 31, 6): Sciendum autem quod, quando oratio datur pro Judaeis, non debent flecti genua. Nam quia Judaei die hac dominum irridendo genua flectebant, Ecclesia, illorum perhorrescens facimus, non flectit genua in orando pro ipsis. 21 Vgl. dazu die Nachweise bei Jürgen Bärsch, Die Feier des Osterfestkreises im Stift Essen nach dem Zeugnis des Liber Ordinarius (Zweite Hälfte 14. Jh.). Ein Beitrag zur Liturgiegeschichte der deutschen Ortskirchen (Quellen und Studien IKF 6), Münster 1997, S. 118. 22 So etwa im Ordinarium der Stiftskirche St. Lô in Rouen (s. Ordinarium Canonicorum Regularium S. Laudi Rotomagensis, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 147, Sp. 157–184, hier Sp. 174), in den Domordinarien von Florenz (vgl. Franklin Toker, On Holy Ground. Liturgy, Architecture, and Urbanism in the Cathedral and the Streets of Medieval Florence, Turnhout 2009, S. 194), Köln (vgl. Gottfried Amberg, Ceremoniale Coloniense. Die Feier des Gottesdienstes durch das Stiftskapitel an der Hohen Domkirche zu Köln bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit [Studien zur Kölner Kirchengeschichte 17], Siegburg 1982, S. 139), und im Kathedralordinarius von Mainz um 1500, der allerdings auch Ruperts Deutung aufnimmt (vgl. Rudolf Weinert, Mainzer Domliturgie zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Der Liber Ordinarius der Mainzer Domkirche [Pietas Liturgica Studia 20], Tübingen, Basel 2008, S. 124). Weitere Hinweise bei Bärsch (Anm. 21), S. 118, Anm. 135. 23 Vgl. Römer (Anm. 11), S. 69f., bes. Anm. 29; Peter Wünsche, Kathedralliturgie zwischen Tradition und Wandel. Zur mittelalterlichen Geschichte der Bamberger Domliturgie im Bereich des Triduum Sacrum (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 80), Münster 1998, S. 219. 24 Vgl. Karl Schlemmer, Gottesdienst und Frömmigkeit in der Reichsstadt Nürnberg am Vorabend der Reformation (Forschungen zur Fränkischen Kirchen- und Theologiegeschichte), Würzburg 1980, S. 217.





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und die Gebet- und Erbauungsbücher der frühen Neuzeit bis in die jüngste Vergangenheit hinein rezipiert worden. Exemplarisch seien zwei der weit verbreiteten und mit Auflagen bis ins 20. Jahrhundert publizierten Volksbücher der Barockzeit erwähnt. Der Kontroverstheologe Anton Gregor Rippell (†  1729), der im Elsass tätig war, gibt in seinem erstmals 1723 erschienenen Werk ‚Alterthumb, Ursprung und Bedeutung aller Ceremonien, Gebräuche und Gewohnheiten der heiligen katholischen Kirche‘ auf die Frage, weshalb der Priester nicht niederkniet, wenn er für die Juden betet, die bekannte Antwort: „Der Priester bethet für alle mit gebogenen Knieen; weil Christus für seine Feinde am Kreuz gebethen, er kniet aber nicht nieder, da er für die Juden bethet, weil die Juden mit Beugung der Knie Christum verspottet.“25 Nicht minder eindeutig äußert sich ein Zeitgenosse Rippells, der als geistlicher Schriftsteller hervorgetretene Prämonstratenser Leonhard Goffiné (†  1719), in seiner erstmals 1690 gedruckten ‚Handpostille oder christkatholische Unterrichtungen auf alle Sonn- und Festtage des ganzen Jahres‘: Nach der Passion bethet der Priester, nach dem Beispiele Christi, der am Kreuze für alle Menschen gebethet hat, für alle Stände der Kirche, auch für Kezer, Juden und Heiden. Wenn aber für die Juden gebethet wird, so kniet man nicht nieder, weil sie durch das Kniebeugen Christum verspottet haben.26

Die Beispiele ließen sich leicht vermehren.27 Sie zeigen einmal mehr, wie weit­ reichend die mittelalterliche Deutung der unterlassenen Kniebeuge aufgenommen wurde. Nicht zuletzt weil die Gläubigen selbst in das rituelle Gefüge eingebunden waren, wird die damit verbundene antijüdische Interpretation nachhaltige Wirkung erzielt haben.

25 Gregorius Rippel, Alterthum, Ursprung und Bedeutung aller Ceremonien, Gebräuchen, und Gewohnheiten der heiligen katholischen Kirche [...], 9. Aufl. Augsburg 1784, S. 92. Das Werk wurde unter dem Titel ‚Die Schönheit der katholischen Kirche‘ zuletzt in der 30. Auflage in Mainz 1927 gedruckt, vgl. Medard Barth, Der geistliche Schriftsteller Gregorius Rippell. Seine Einwirkung auf den Katholizismus in Deutschland, in: Archiv für elsässische Kirchengeschichte 7 (1932), S. 239–268. 26 [R. P.] Leonhard Goffiné, Christkatholisches Erbauungs- und Unterrichtungsbuch [...]. Erster oder sonntäglicher Theil, Reutlingen 1843, S. 295. Das Werk erlebte bis zur Mitte des 20. Jhs. mehr als 120 Auflagen, vgl. Karl Josef Lesch, Ein Seelsorger im Dienste der tridentinischen Reform, in: Johannes Meier (Hg.), Clarholtensis Ecclesia. Forschungen zur Geschichte der Prämonstratenser in Clarholz und Lette (1133–1803) (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 21), Paderborn 1983, S. 127– 146. 27 Vgl. etwa Franz Grundmayr, Die römisch-katholischen Kirchengebräuche von dem ganzen Jahre, dem gemeinen Volk zum Unterricht und Erbauung vorgelegt, München 1792, S.  39; Jakob Thiery, Kurze katechetische Erklärung des Wissenswürdigsten von den äußeren Gebräuchen der katholischen Kirche zunächst bearbeitet für die katholische Schuljugend, dann aber auch zur religiösen Belehrung und Erbauung für Erwachsene, Bd.  1: Die heiligen Zeiten, Feste und Festgebräuche des Kirchenjahres, 2. Aufl. Freiburg i. Br. 1860, S. 51.



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Die Geschichte der unterlassenen Kniebeuge endete erst im 20.  Jahrhundert. Nachdem bereits in den 1920er Jahren ein Vorstoß zur Änderung der Juden-Fürbitte einschließlich der Zulassung der Kniebeuge gescheitert war, begann dann nach dem Zweiten Weltkrieg unter Druck von außen und der Erfahrung des Holocausts eine schrittweise Neugestaltung der Karfreitagsfürbitte.28 Hinsichtlich der Kniebeuge erfolgte eine Gleichstellung mit den anderen Bitten im Zuge der Karwochenreform unter Papst Pius  XII. (1939–1958) im Jahre 1955. Eine grundlegende Reform setzte unter Papst Johannes  XXIII. (1958–1963) ein, der das anstößige Adjektiv perfidi im Gebetstext strich, und schließlich, als das nachvatikanische ‚Missale Romanum‘ 1970 Konsequenzen aus der Konzilserklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (Nostra Aetate) zog und jetzt in Hochachtung von Israel als Gottes erstberufenem Eigentumsvolk spricht, dem nun erbeten wird, es möge zu dem Ziel gelangen, zu dem Gottes Ratschluss es führen will, und die Fülle der Erlösung er­langen.29

3 Zweites Beispiel: der Licht- und Lärmbrauch zum Abschluss der Trauermetten Das zweite Beispiel, das ich anführen möchte, ist sicher weniger prominent. Zudem ist es in der Forschung bislang kaum beachtet worden, was wohl auch damit zu tun hat, dass die Quellenlage dazu recht verwirrend ist. Es handelt sich um die Vigiliae tenebrosae (matutinae tenebrarum), auch Trauer- oder Finstermetten genannt, also die seit dem Mittelalter schon auf den Vorabend vorgezogenen Morgenhoren der Tagzeitenliturgie an den drei letzten Kartagen. In ihrer Vollgestalt umfassten die Metten die drei Nokturnen der Matutin und die daran angeschlossenen Laudes. Sie wurden seit alter Zeit ausgesprochen einfach gehalten, lediglich die klagend gesungenen Lamentationen des Propheten Jeremia bildeten einen gewissen Höhepunkt.30 Seit dem neunten Jahrhundert trat im Frankenreich aber ein eigentümlicher Licht­

28 Vgl. Heinz (Anm. 8), S. 254f. 29 Vgl. Heinz (Anm. 8), S. 254f., 259f., zur Geschichte der Karfreitagsfürbitte für die Juden im 20. Jh. vgl.  a. Ferdinand Kolbe, Die Reform der Karfreitagsfürbitten, in: Liturgisches Jahrbuch 15 (1965), S.  217–228; Wim Sanders, Die Karfreitagsfürbitte für die Juden vom Missale Pius’  V. zum Missale Pauls VI., in: Liturgisches Jahrbuch 24 (1974), S. 240–248; zu den Irritationen im Zuge der Wiederzulassung des ‚Missale Romanum‘ von 1962 durch Papst Benedikt XVI. (2007) vgl. Erich Zenger (Hg.), „...damit sie Jesus Christus erkennen“. Die neue Karfreitagsfürbitte für die Juden, Freiburg, Basel, Wien 2008; Rita Ferrone, Anti-Jewish Elements in the Extraordinary Form, in: Worship 84 (2010), S. 498–513. 30 Vgl. Joseph Pascher, Das liturgische Jahr, München 1963, S.  129–132; jetzt ausführlich Ingrid ­Fischer, Die Tagzeitenliturgie an den drei letzten Tagen vor Ostern. Feier – Theologie – Spiritualität (Pietas Liturgica Studia 22), Tübingen, Basel 2013, S. 13–107.





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ritus hinzu.31 Auf einem pyramidenartigen, dreieckigen Gestell, dem Triangelleuchter, brannten zumeist 15 Kerzen, von denen jeweils eine nach jedem Psalm gelöscht wurde, bis zuletzt die auf der Spitze stehende Kerze übrig blieb.32 Sie wurde hinter den Altar getragen und erst nach dem Benedictus der Laudes (vgl. Lk 1,68–79) wieder aufgesteckt. Über den Ursprung dieses Lichtbrauchs ist vielfach gerätselt worden. Vermutlich hat auch hier die allgemeine Tendenz zur Dramatisierung der Liturgie im fränkischen Norden die Feder geführt und der symbolisch-allegorischen Deutung die Tür weit geöffnet. So sah man etwa im Schwinden des Lichts das „glaubensschwache Zurückweichen der Apostel und der übrigen Jünger.“33 Aber auch antijüdische Deutungen sind bekannt, wenn etwa Sicard von Cremona erklärt: Das Löschen der Lichter verweist also auf die Verblendung des jüdischen Volkes, das die Propheten getötet und die zu ihnen Gesandten gesteinigt hat, das schließlich nach Tötung des Herrn der Propheten in die Finsternis des Unglaubens gefallen ist.34

Diese Interpretation, die schon Rupert von Deutz kennt,35 schuf einen Deutungsrahmen, in den sich ein weiterer Brauch am Ende der Trauermetten einfügte und der zur Volkstümlichkeit dieser Abendgottesdienste beigetragen hat. Das römische Brevier sah am Ende der Laudes vor: Finita oratione fit fragor et strepitus aliquantulum („Nach dem Gebet wird ein krachendes Geräusch erzeugt“).36 Die Ursprünge dieser Rubrik sind unklar. Man nimmt an, dass der strepitus aus dem Klopfzeichen zum Abschluss der Hore hervorgegangen ist, das dann im lauten Zuschlagen der Chorbücher sein Echo fand. Daraus hat sich später die Gewohnheit gebildet, mit Klapperinstrumenten, Schlagstöcken oder gar mit den Kirchenbänken selbst ein Gepolter zu veranstalten. Wohl bald zog auch die Antiphon zum Benedictus, die Mt 26,48 zitiert, einen solchen Lärmbrauch auf sich: „Der Verräter hatte

31 Erste Zeugen sind die Ordines Romani 26, 13; 29, 12; 30B, 28; s. Andrieu (Anm. 11), S. 328, 439, 470; vgl. Fischer (Anm. 30), S. 34–36, 67. 32 Vgl. Gregor M. Lechner, Die Metten- oder Triangelleuchter, genannt auch Teneber- oder Tenebrae­ leuchter, in: Das Münster 61 (2008), S. 81–83. 33 Ludwig Eisenhofer, Handbuch der katholischen Liturgik, Bd.  1, 2.  Aufl. Freiburg 1932, S.  512; ­offenbar angelehnt an Amalarius von Metz, Liber de ordine antiphonarii, hrsg. v. Jean Michel Hanssens (Amalarii episcopi opera liturgica omnia  3/Studi e testi  140), Città del Vaticano 1950, S.  80 (44, 4). Weitere Deutungen bei Amalarius von Metz (Anm.  13), S.  472f. (IV  22, 1–4); vgl. Fischer (Anm. 30), S. 55. 34 Sicard von Cremona (Anm. 19), S. 465 (VI 11); deutsche Übersetzung nach Weinrich (Anm. 19), S. 539. 35 Vgl. Rupert von Deutz (Anm. 17), S. 752–755. 36 Breviarium Romanum ex decreto SS. Concilii Tridentini restitutum, hrsg. v. Manilo Sodi u. Achille Maria Triacca (Monumenta Liturgica Concilii Tridentini 3), Città del Vaticano 1999, S. 380, Nr. 2339.



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mit ihnen ein Zeichen verabredet: Den ich küssen werde, der ist es, den ergreifet.“37 Denn Honorius Augustodunensis († 1150/60) und Johannes Beleth († um 1183) bezeugen, dass dieses Gesangsstück mit Lärm und Getöse (wohl durch ­hölzerne Klapper­ instrumente erzeugt) begleitet wird und zwar „als Zeichen für Judas, der den Herrn mit ‚Sei gegrüßt, Rabbi‘ ausgeliefert hat.“38 Das Klapperzeichen unterstrich demnach die inhaltliche Aussage der Antiphon und hob sie akustisch hervor. Da Judas als Verräter in der populären Frömmigkeit gewissermaßen zum Prototyp des verblendeten jüdischen Volkes avancierte,39 verband sich mit diesem Brauch schließlich eine unterschwellig antijüdische Deutung. Denn der Lärm wurde nicht nur als Erinnerung an das Erbeben beim Tod Jesu verstanden (vgl. Mt 27,51), sondern auch als das wütende Geschrei der Juden bei der Gefangennahme und Verurteilung Jesu (vgl. Mt 27,20–26) gedeutet. Noch einmal Sicard: Das Geräusch zum Benedictus in der Finsternis ist das Lärmen des Verräters und der Gruß des blinden Jüngers Judas: Sei gegrüßt, Rabbi (Mt 26,49), ist Geschrei und Angst der den Herrn Verfolgenden und Ihn ironisch Grüßenden.40

Und Durandus erläutert: Der allgemeine Tumult, der dann geschieht, ist das Lärmen gegen den Verräter Judas und der Tumult der Kohorte, die [...] Judas an Christus heranführte, oder der Gruß des blinden [verblendeten] Jüngers, der sagte: Sei gegrüßt, Meister [...] Man macht mit der Hand oder auf irgend eine andere Art Lärm.41

Es lag nahe, dass dieser Lärmbrauch die Trauermetten in zweifacher Hinsicht zu besonders volksbeliebten Gottesdiensten gemacht hat. Einerseits zog natürlich das Lärm- und Krachschlagen im Kirchenraum gerade Kinder und Jugendliche in ihren Bann, andererseits erlaubte die antisemitische Deutung des Brauchs, symbolisch den Abscheu gegen die Gottesmörder, wie die Juden allgemein in der Auffassung des Volkes gesehen wurden, massiv auszudrücken.42 Verstärkend kam sicher hinzu, dass

37 Vgl. Corpus Antiphonalium Officii, Bd. 3: Invitatoria et antiphonae, hrsg. v. Réne Jean Hesbert (Rerum Ecclesiasticarum Documenta. Series Maior. Fontes 9), Rom 1968, Nr. 5169. 38 Honorius Augustodunensis, Gemma animae, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 172, Sp. 543–738, hier Sp. 666 (cap. 88): Sonitus ad Benedictus est signum Judae, quo Dominum tradidit, dicens Ave, Rabbi (Matth. XXVI). Vgl. auch Johannes Beleth, Summa de ecclesiasticis officiis, hrsg. v. Heribert Douteil (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis 41), Turnhout 1976, S. 191 (cap. 102). 39 Vgl. Peter Dinzelbacher, Judastraditionen (Raabser Märchen-Reihe 2), Wien 1977, S. 41–45, 79–81; zum Judas-Motiv in den Trauermetten (v. a. des Gründonnerstags) vgl. Fischer (Anm. 30), S. 272–274. 40 Sicard von Cremona (Anm. 19), S. 446 (VI 11); deutsche Übersetzung nach Weinrich (Anm. 19), S. 539. 41 Wilhelm Durandus (Anm. 18), S. 344f. (VI 72, 27f.). 42 Vgl. Winfried Frey, Ritualmordlüge und Judenhaß in der Volkskultur des Spätmittelalters, in: Peter Dinzelbacher u. Hans-Dieter Mück (Hgg.), Volkskultur des europäischen Spätmittelalters (Böblinger





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am Ende der Trauermetten vielfach das älteste deutschsprachige Passionslied, ein Spottgesang auf den „armen Judas“ angestimmt wurde,43 und sich mancherorts das sogenannte Judasjagen oder Judasverbrennen anschloss.44 Tatsächlich konnte der Volkskundler Hans Moser eine Reihe von Quellen aus reformatorischer Zeit ausfindig machen, die von tumultuarischen Auftritten und Übertreibungen beim strepitus der Trauermetten berichten.45 Zwar versuchte man in der Folgezeit, hier mäßigend einzugreifen oder das „Mettenklopfen und Pumpern“ ganz zu verbieten,46 aber wie barockzeitliche Quellen belegen, dürften die Verbote wohl nur begrenzte Wirkung gezeigt haben.47 Jedenfalls war der Lärmbrauch noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt.48 Schließlich lag es nahe, dass sich die antijüdische Deutung des Lärmbrauchs bei den Trauermetten auf den älteren Brauch übertrug, in den Tagen von Gründonnerstag bis zum Gloria der Ostervigil das Geläut der Glocken durch hölzerne Klanginstrumente zu ersetzen. Der allgemeine Gebrauch der Holzklappern und -tafeln in der Karwoche, deren Sinn Amalarius historisch wie symbolisch noch richtig zu erläutern

Forum 1), Stuttgart 1987, S. 177–197; Jean Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek 1985, S. 412–455. 43 Das Lied lautet: „O du armer Judas, | was hast du getan, | daß du deinen Herren | also verraten hast! | Darum mußt du leiden | in der Hölle Pein, | Luzifers Geselle | mußt du immer sein.“ Hier nach Wilhelm Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen, Bd. 1, Freiburg i. Br. 1886, S. 462–467, hier S. 463; zur hymnologischen Forschung um dieses Lied vgl. Walther Lipphardt, „Laus tibi Christe“ – „Ach du armer Judas“. Untersuchungen zum ältesten deutschen Passionslied, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 6 (1961), S. 71–100. 44 Vgl. Adam Wrede, Judas, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 4 (1932; ND 1987), Sp. 800–808, hier Sp. 803–807; Dinzelbacher (Anm. 39), S. 41–45; Hans Moser, Die Pumpermetten. Ein Beitrag zur Geschichte der Karwochenbräuche, in: ders., Volksbräuche im geschichtlichen Wandel. Ergebnisse aus fünfzig Jahren volkskundlicher Quellenforschung, München, Berlin 1985, S. 141– 165, hier S. 153–158; Bernhard Dieckmann, Judas als Sündenbock. Eine verhängnisvolle Geschichte von Angst und Vergeltung, München 1991, S. 94–106. 45 Vgl. Moser (Anm. 44), S. 144–146. 46 So 1559 in St. Stephan und St. Michael in Wien, vgl. Gustav Gugitz, Das Jahr und seine Feste im Volksbrauch Österreichs. Studien zur Volkskunde, Bd. 1, Wien 1949, S. 167f.; Moser (Anm. 44), S. 146. 47 Vgl. Andreas Heinz, Gottesdienstliches Leben in einem westtrierischen Stadtrechtsort um die Mitte des 18.  Jahrhunderts. Das Zeugnis eines „liturgischen Drehkalenders“ aus Neuerburg (Kr. BitburgPrüm), in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 52 (2000), S.  191–208, hier S.  200; ders., Barockzeitliche Osterfeier im alten Erzbistum Trier. Das Zeugnis des Pfarrdirektoriums für Ediger/ Mosel aus den Jahren 1709–1715, in: George Augustin u. a. (Hgg.), Priester und Liturgie. Festschrift für Manfred Probst, Paderborn 2005, S. 177–203, hier S. 182f. 48 So der Volkskundler Friedrich Panzer: „ehmals sollen hierauf die kirchgänger mit stöcken, hämmrn, steinen etc. an die bänke und wände geschlagen, und dieser lärm dem verräther Judas gegolten haben.“ Hier zit. nach Moser (Anm. 44), S. 142. Aus den Lebenserinnerungen des Tiroler Lehrers Josef Leitgeb (1897–1952) geht hervor, dass der Brauch des strepitus noch Anfang des 20. Jhs. geübt wurde, vgl. Hans Moser, Zusätze zum Thema Pumpermetten, in: Moser (Anm. 44), S. 166f., hier S. 166.



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wusste,49 drang seit dem späten Mittelalter in den Kontext der Judasverachtung und des Judenhasses.50 Zumindest bis in die Barockzeit sind Zeugnisse bekannt, wonach die hölzernen Lärmgeräte auf dem Kirchturm und in der Hand der Dorfjugend als „Judastafeln“ oder „Judaskarren“ bezeichnet wurden.51 Und der Volksmissionar Nicolaus Cusanus SJ (1574–1636) weiß in seiner zwischen 1626 und 1737 in 15 Auflagen erschienenen ‚Christlichen Zuchtschul‘52 die populäre Begründung zu geben: Vnd in deren platz macht man ein Gethön mit Klappern [...], dass wir gedencken des Getümmels vnd Wütens der Juden/zur Zeit des Leydens Christi.53 Mochte also auch das Lärmen in den Trauermetten allmählich verschwinden, konnte über den liturgienahen Brauch der Karklappern die antijüdische Deutung zumindest gelegentlich weiterwirken.54

49 Vgl. Amalarius von Metz (Anm. 13), S. 470 (IV 21, 7). 50 Hier ist etwa an das rechtshistorische Institut des sogenannten Judeneids (sacramentum Hebraeorum, iuramentum Judaeorum, Eid more judaico) zu erinnern. Bei einem Gerichtsverfahren mit Nichtjuden musste ein Jude zu Beweiszwecken einen Eid mit entehrenden Selbstverfluchungsformeln leisten. Seit dem Spätmittelalter traten vermehrt entwürdigende Begleitrituale hinzu. Die antijüdischen Deutungen liturgischer Riten waren demnach in ein größeres Begleitumfeld der symbolischen Kommunikation eingebunden. Deshalb überrascht nicht, dass Durandus, nicht nur Liturgiker, sondern auch Jurist, in seinem ‚Speculum iuris‘ kurz auf den Judeneid eingeht, vgl. Wilhelm Durandus, Speculum Iuris, Bd. 3/4, hrsg. v. Johannes Andreae u. Baldus de Ubaldis Basel 1585, S. 488–490; zur Sache vgl. Guido Kisch, Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Juden in Deutschland während des Mittelalters, Sigmaringen 1978, S. 137–185; Gundula Grebner, Der Judeneid vor Gericht in Frankfurt am Main. Passionsspiel, Gerichtsbücher und Protokoll oder: Laudendy, Natan und Zorlin, in: Franz-Josef Arlinghaus u. a. (Hgg.), Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters (Rechtsprechung. Materialien und Studien 23), Frankfurt a. M. 2006, S. 421–443. 51 Die Gotteshausrechungen aus Kleinochsenfurt 1611–1617 und aus Eibelstadt 1667 erwähnen die „Judastafel“ als Ersatz für das Glockengeläut, in Eibelstadt wird auch von „Judaskarren“ (1637 u. ö.) gesprochen, darunter sind fahrbare hölzerne Apparate zu verstehen, die mit wenig Kraftaufwand möglichst großen Lärm erzeugen, vgl. Karl-Sigismund Kramer, Bauern und Bürger im nachmittelalterlichen Unterfranken. Eine Volkskunde auf Grund archivalischer Quellen (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 17), Würzburg 1984, S. 106. 52 Cusanus nannte sich in Verehrung für seinen Landsmann Kardinal Nikolaus Cusanus gleich ihm nach dem gemeinsamen Heimatort Kues. Sein katechetisches Werk besaß eine große Nah- und Fernwirkung, vgl. Karl E. Müller, Nikolaus Cusanus S.J. (1574–1636) und seine „Christliche Zuchtschul“, in: Mitteilungen zur Landesgeschichte und Volkskunde in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz 4 (1959), S. 17–25; Kramer (Anm. 51). 53 Hier zit. nach Nikolaus Kyll, Die „Christliche Zuchtschul“ des Nikolaus Cusanus SJ als volkskundliche Quelle des westtrierischen Raumes, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 29 (1964), S. 223–274, hier S. 247. 54 So wurde beim Stundenausrufen gelegentlich ein Spottvers auf Judas und die Juden gesungen, wie Gustav Gugitz berichtet, s. Gugitz (Anm. 46), S. 171: „Trisch Tratsch Krallawatsch, | Die Juden san in Tempel ghatscht, | Hamt sich Händ und Füass abrocha, | Sand beim Türl ausserkrocha.“ Zur Sache vgl. Alois Döring, Das Karklappern im Rheinland, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 28 (1983), S. 143–154.





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4 Rückblick und Ausblick Wie die beiden genannten Beispiele gezeigt haben, konnten sich auf zum Teil subtile Weise über die allegorischen Deutungen bestimmter ritueller Vollzüge im Gottesdienst der Kirche antijüdische Vorstellungen niederschlagen. Man darf annehmen, dass den Gläubigen über die jährlich wiederkehrende Mitfeier der Karliturgie samt ihres brauchtümlichen Umfeldes diese Vorstellungen durchaus präsent waren und sowohl durch den Erlebnischarakter der dramatisch aufgeladenen Liturgie als auch durch die Vermittlung der entsprechenden Deutungen in Predigt und Katechese immer neu zu internalisieren imstande waren. Hier trägt auch die Liturgie der Kirche eine Hypothek mit, die im interreligiösen Dialog zwischen Judentum und Christentum nicht unterschlagen werden darf. Dieses Feld systematisch zu sichten und zu analysieren, ist bisher ein Desiderat der liturgiehistorischen Forschung. Es wäre deshalb ein wichtiger Beitrag zum Dialog, wenn dieses Kapitel der Liturgiegeschichte aufgearbeitet würde. Allerdings gehört zur ehrlichen Betrachtung auch, dass unter allen christlichen Liturgien es trotz allem die römische Liturgie ist, die in einem bisher nicht recht gewürdigten Ausmaß das Alte Testament „als gültigen Maßstab für die Gegenwart“ rezipiert hat.55 Während etwa die orientalischen Liturgien in ihren Kargottesdiensten in scharfem Ton das ganze Arsenal antijüdischer Klischeevorstellungen auffahren,56 kennt die römische Liturgie für das Volk Israel und die Juden durchaus wertschätzende Äußerungen und Formen.57 So hielt die mittelalterliche Liturgieallegorese neben ihren abzulehnenden antijüdischen Vorstellungen eben immer auch an dem bleibend Verbindenden zwischen Juden und Christen fest.58 Damit soll keineswegs das „jüdische Tränental“ der Pogrome und Vertreibungen, der Legenden vom Ritualmord und Hostienfrevel geleugnet werden.59 Aber es zeigt, dass die Erforschung der antijüdischen Deutungen gottesdienstlicher Vollzüge in Mittelalter und früher Neuzeit sich differenziert einbinden muss in den größeren Zusammenhang der Kirchen-, Kultur- und Liturgiegeschichte.

55 Angelus A. Häussling, hier zit. nach Heinz (Anm. 8), S. 243. 56 Dies zeigt exemplarisch für den westsyrischen Ritus Andreas Heinz, Antijudaismus in der christlichen Liturgie? Das Beispiel der Syrischen Kirchen in der „Großen Woche“, in: Martin Tamcke (Hg.), Syriaca II. Beiträge zum 3. deutschen Syrologen-Symposion in Vierzehnheiligen (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 33), Münster 2004, S. 307–325. 57 So ist es unter den christlichen Liturgien in Ost und West allein die römische Liturgie, die fürbittend der Juden gedenkt, vgl. Heinz (Anm. 8), S. 251; weitere Beispiele ebd., S. 243–246. 58 Vgl. Klaus Schreiner, Märtyrer, Schlachtenhelfer, Friedenstifter. Krieg und Frieden im Spiegel mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Heiligenverehrung (Otto-von-Freising-Vorlesungen der KU Eichstätt 18), Opladen 2000, S. 5f. 59 Vgl. Angenendt (Anm. 5), S. 514–533.



Christian Scholl (Münster)

Wahrnehmung und Darstellung des ‚Anderen‘: Juden und Judentum in den Schriften des Dominikanermönchs Felix Fabri Abstract: Der Beitrag befasst sich mit der Wahrnehmung des Judentums durch den Ulmer Dominikaner und Jerusalempilger Felix Fabri (ca. 1437–1502). Um sich Fabris Sicht auf die Juden anzunähern, werden prägnante Stellen aus dessen umfang­ reichem Schrifttum zusammengetragen und ausgewertet. Zu den untersuchten Werken zählt neben Fabris Pilgerberichten auch der um 1490 entstandene ‚Tractatus de Civitate Ulmensi‘. Diese Darstellungen offenbaren einerseits die gesamte Bandbreite an antijüdischen Stereotypen des späten Mittelalters (Gottes- und Ritualmord, Reichtum, Wucher etc.). Doch andererseits gibt Fabri in seinen Schriften ebenso zu erkennen, dass er allen polemischen Vorurteilen zum Trotz keinerlei Probleme damit hatte, soziale Kontakte zu Juden im Alltag zu unterhalten. Dies zeigt sich beispielsweise, indem er davon berichtet, dass seine Pilgergruppe einen jüdischen Reiseführer hatte oder indem er ein gemeinsames Abendessen erwähnt, an dem neben ihm und seinen Mitreisenden auch zwei Juden teilnahmen. Wie ein abschließender Blick auf vergleichbare zeitgenössische Texte deutlich macht, stand Fabri mit dieser Haltung – antijüdische Stereotype einerseits, persönliche Kontakte andererseits – keineswegs alleine da. Da sich die Verbreiter antijüdischer Stereotype also keineswegs von persönlichen Beziehungen zu Juden abhalten ließen, zeigt sich, dass es überaus problematisch ist, aus dem antijüdischen Schrifttum des späten Mittelalters Rückschlüsse auf die christlich-jüdischen Beziehungen im sozialen Alltag zu ziehen.

Das Konzept der Alterität erfreut sich in der mediävistischen Forschung seit einigen Jahren großer Beliebtheit. Davon zeugt neben mehreren Monographien, die sich mit der Wahrnehmung und Darstellung1 von ‚Anderen‘ bzw. ‚Fremden‘ in den unter-

1 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Darstellung Hans-Werner Goetz, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: Anna Aurast u. a. (Hgg.), Hans Werner Goetz. Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter, Bochum 2007, S. 19–29. In Anlehnung an Goetz soll unter „Wahrnehmung“ im Folgenden der „Komplex von Vorstellungswelt, Bewusstmachung und Deutung“ verstanden werden, woraus schließlich die „Darstellung“ durch den Autor resultiert. Letztere muss für den Historiker allerdings der Ausgangspunkt sein, da er nur aus der Darstellung „die ihr zugrundeliegenden Vorstellungen und Wahrnehmungen [des Autors] zu erschließen“ vermag, vgl. ebd., S. 27f.



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schiedlichsten Quellengattungen des Mittelalters befassen,2 insbesondere die jüngst von Hans-Werner Goetz veröffentlichte Darstellung zur Wahrnehmung anderer Religionen durch Angehörige der lateinischen Christenheit im frühen und hohen Mittelalter.3 In Anbetracht des großen Interesses an diesem Themenkomplex ist es wenig überraschend, dass auch mehrere Arbeiten zur Perzeption des Ulmer Dominikanermönchs Felix Fabri, des wohl bekanntesten Jerusalempilgers des späten Mittelalters,4 vorliegen. Diesbezüglich ist in erster Linie die Dissertation von Stefan Schröder zu nennen, deren Schwerpunkt auf der Wahrnehmung ‚fremder‘ Orte und Menschen in den Pilgerberichten Fabris liegt.5 Daneben beschäftigen sich die Aufsätze von Heike E. Schwab und Herbert Wiegandt mit ‚fremden‘ Personen- und Religionsgruppen in den Reisebeschreibungen Fabris.6 Gemein ist diesen Arbeiten, dass sie sich überwiegend auf die Wahrnehmung von Muslimen bzw. des Islams konzentrieren und das

2 Vgl. hierzu u. a. Georg Jostkleigrewe, Das Bild des Anderen. Entstehung und Wirkung deutschfranzösischer Fremdbilder in der volkssprachlichen Literatur und Historiographie des 12. bis 14. Jahrhunderts (Orbis Mediaevalis 9), Berlin 2008; Volker Scior, Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck (Orbis Mediaevalis 4), Berlin 2002. 3 Vgl. Hans-Werner Goetz, Die Wahrnehmung anderer Religionen und christlich-abendländisches Selbstverständnis im frühen und hohen Mittelalter (5.–12. Jahrhundert), 2 Bde., Berlin 2013; zur Wahrnehmung der Juden s. ebd., Bd. 2, S. 411–571. 4 Felix Fabri wurde um 1437 in Zürich als Felix Schmid geboren; latinisiert nannte er sich später Felix Fabri. Nach Jugendjahren in Diessenhofen und auf Schloss Kyburg trat er 1452 in das Dominikanerkloster in Basel ein. Vermutlich ab 1468, spätestens aber ab 1474, lebte er dauerhaft im Dominikanerkloster in Ulm. Dorthin war er zusammen mit einer Gruppe von weiteren Mönchen aus Basel gekommen, die die Dominikaner in Ulm bei der Reformierung des Klosters im Sinne der Observanzbewegung unterstützen sollten. Abgesehen von mehreren Reisen, die Fabri u. a. 1480 und 1483 ins Heilige Land und 1476 nach Rom führten, wirkte er bis zu seinem Tod im Jahr 1502 als Subprior, L ­ esemeister und Generalprediger im Ulmer Dominikanerkloster. Vgl. zum Leben Fabris Max Häussler, Felix Fabri aus Ulm und seine Stellung zum geistigen Leben seiner Zeit, Leipzig 1914; Max Ernst, Frater Felix Fabri. Der Geschichtsschreiber der Stadt Ulm, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte  6 (1942), S. 323–367; Herbert Wiegandt, Felix Fabri. Dominikaner, Reiseschriftsteller, Geschichtsschreiber 1441/42–1502, in: Robert Uhland (Hg.), Lebensbilder aus Schwaben und Franken, Bd. 15, Stuttgart 1983, S. 1–28. Bekanntheit erlangte Fabri in erster Linie durch seine Pilgerberichte, vgl. dazu Anm. 8. 5 Vgl. Stefan Schröder, Zwischen Christentum und Islam. Kulturelle Grenzen in den spätmittel­ alterlichen Pilgerberichten des Felix Fabri (Orbis Mediaevalis 11), Berlin 2009, sowie ders., Dess glich ich all min tag nie gesechen hab vnd ob got will nùt mer sechen will. Fremd- und Selbstbilder in den Pilgerberichten des Ulmer Dominikaners Felix Fabri, in: Zeitschrift für Württembergische Landes­ geschichte 68 (2009), S. 41–62. 6 Vgl. Heike Edeltraud Schwab, Das andere anders sein lassen? Zur Darstellung des Fremden in den parallelen deutschen Pilgerberichten von Felix Fabri und Bernhard von Breydenbach (1483/84), in: Ulm und Oberschwaben. Zeitschrift für Geschichte und Kunst  50 (1996), S.  139–165; Herbert Wiegandt, Islam und Griechische Christen in den Reisebeschreibungen des Ulmer Dominikanermönchs Felix Fabri, in: Ulm und Oberschwaben. Zeitschrift für Geschichte und Kunst 51 (2000), S. 9–18.



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Judentum wenn überhaupt nur am Rande erwähnen.7 Da Fabris Werk deutlich mehr Informationen zu Muslimen als zu Juden enthält, ist dies den Autoren jedoch keinesfalls vorzuwerfen. Gleichwohl ist es das Ziel dieses Aufsatzes, Fabris Aussagen zu Juden bzw. zum Judentum zusammenzutragen und auszuwerten, um so zu einer Einschätzung zu gelangen, welche Sicht der Dominikanermönch auf das Judentum und seine Angehörigen hatte. Zu diesem Zweck soll über Fabris Pilgerberichte8 hinaus auch dessen ‚Tractatus de Civitate Ulmensi‘9 in die Untersuchung einbezogen werden, um Auskunft darüber zu erhalten, ob Fabri zwischen den Juden in seiner schwäbischen Heimat10 und denen in Palästina differenzierte. Im Anschluss an die Auswertung von Fabris Schrifttum soll abschließend ein kurzer Blick auf vergleichbare Textcorpora

7 Stefan Schröder widmet ein Unterkapitel seiner Dissertation der Darstellung von Juden in Fabris ‚Evagatorium‘, s. ders., Christentum (Anm. 5), S. 291–303. Vgl. zum ‚Evagatorium‘ Anm. 8. 8 Fabris Hauptwerk ist das vermutlich zwischen 1484 und 1488 verfasste ‚Evagatorium in Terrae Sanctae, Arabiae et Egypti Peregrinationem‘, bei dem es sich um den umfangreichsten Pilgerbericht des Mittelalters handelt. Neben dieser auf Latein geschriebenen Abhandlung für seine Mitbrüder verfasste Fabri außerdem einen Pilgerbericht auf Deutsch, die ‚Eigentliche beschreibung der hin und wider Fahrt zu dem Heyligen Land‘, die an ein eher laikales Publikum gerichtet war. Für Nonnen, denen die Pilgerfahrt ins Heilige Land nicht möglich war, fügte Fabri schließlich noch ‚Die Sionpilger‘ hinzu. Diese Darstellung sollte es den Klosterfrauen erlauben, die Wallfahrt nach Jerusalem im Geiste auszuführen. Alle diese Werke liegen ediert vor, s. Felix Fabri, Evagatorium in Terrae Sanctae, Arabiae et Egypti Peregrinationem, hrsg. v. Konrad Diedrich Hassler (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 2–4), 3 Bde., Stuttgart 1843–1849; ders., Eigentliche beschreibung der hin und wider Fahrt zu dem Heyligen Land, in: Reyßbuch deß heyligen Lands, hrsg. v. Sigmund Feyerabend, Frankfurt a. M. 1584, fol. 122v–188r; ders., Die Sionpilger, hrsg. v. Wieland Carls (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 39), Berlin 1999. 9 Fabris Abhandlung von der Stadt Ulm entstand wohl zu Beginn der 1490er Jahre und gilt als bedeutendste narrative Quelle über die Stadt Ulm des späten Mittelalters. Das Werk ist keine klassische Chronik, sondern liefert eher eine Beschreibung der städtischen ‚Verfassung‘ und Bürgerschaft. Der ‚Tractatus‘ wurde erstmals im späten 19.  Jahrhundert ediert, vgl. Felix Fabri, Tractatus de Civitate Ulmensi, de eius Origine, Ordine, Regimine, de Civibus eius et Statu, hrsg. v. Gustav Veesenmeyer (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 186), Tübingen 1889. Kurz darauf wurde auch die erste Übersetzung ins Deutsche veröffentlicht, vgl. Konrad D. Hassler, Bruder Felix Fabris Abhandlung von der Stadt Ulm, in: Ulm – Oberschwaben. Mitteilungen des Vereins für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben 13–15 (1908/09), S. 1–141. Im Jahr 2012 publizierte Folker Reichert eine kommentierte Neuedition und -übersetzung, s. Felix Fabri, Tractatus de Civitate Ulmensi. Traktat über die Stadt Ulm, hrsg., übers. u. komm. v. Folker Reichert (Bibliotheca Suevica 35), Kempten 2012. Die folgenden Zitate und Übersetzungen aus dem ‚Tractatus‘ sind dem letztgenannten Werk entnommen. 10 Die Ulmer Juden wurden erst im Jahr 1499 aus der Stadt vertrieben, sodass Fabri die Existenz der jüdischen Gemeinde noch miterlebte. Zur Geschichte der mittelalterlichen Ulmer Judengemeinde s. Christian Scholl, Die Judengemeinde der Reichsstadt Ulm im späten Mittelalter. Innerjüdische Verhältnisse und christlich-jüdische Beziehungen in süddeutschen Zusammenhängen (Forschungen zur Geschichte der Juden A 23), Hannover 2012, bes. S. 344–358 (zur Vertreibung der Gemeinde).





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geworfen werden, um so die Haltung Fabris in ihren zeitgenössischen Kontext einordnen zu können. In der Abhandlung über die Stadt Ulm werden die Juden direkt im ersten Kapitel „[Ü]ber den Ursprung der Stadt Ulm und ihr hohes Alter“11 erwähnt. In diesem Abschnitt führt Fabri aus, dass die Stadt Ulm sehr alt sei und sogar weit in vorchristliche Zeiten zurückgehe, wobei er u.  a. die Juden als Gewährsmänner anführt. Als Beweis für das hohe Alter der Stadt gibt Fabri nämlich einen Brief an, den die Ulmer Judengemeinde zur Zeit der Kreuzigung Jesu von den Juden aus Jerusalem empfangen haben soll. Darin sollen, so Fabri, die Jerusalemer Juden ihre Glaubensgenossen in Ulm über die Hinrichtung des „gottlose[n] Verführer[s] Jesus von Nazareth“ informiert haben, dessen Verurteilung sie angeblich zuvor bei Pontius Pilatus erwirkt hätten.12 Neben diesem Brief erwähnt Fabri noch einen weiteren ‚Beweis‘ für das hohe Alter der Stadt Ulm, der mit den dortigen Juden in Zusammenhang steht. Dabei handelt es sich um einen jüdischen Grabstein, den man einige Jahre zuvor auf dem Friedhof der Ulmer Franziskaner gefunden und den ein herbeigerufener Jude auf der Grundlage der hebräischen Inschrift in die Zeit „vor Christi Tod“ datiert habe.13 Fabri lässt keinen Zweifel daran, dass er die Nachrichten vom derart hohen Alter der Ulmer Judengemeinde für bare Münze hält. Er konstatiert nämlich im Anschluss an diese Passage, dass es nicht gegen die Anwesenheit von Juden in Ulm zur Zeit Christi spreche, dass „die Juden zu jener Zeit noch nicht von Titus und Vespasian vertrieben worden waren, da sie zuvor bereits häufig in alle Länder zerstreut worden waren.“14 Aufschlussreich im Hinblick auf das Bild, das im ‚Tractatus‘ von den Juden vermittelt wird, ist der Fortgang der Episode, heißt es doch weiter im Text, dass einige Juden selbst dann nicht in ihre palästinensische Heimat zurückkehren wollten, nachdem sie die Erlaubnis dazu erhielten. Bekämen sie heute die Möglichkeit, nach Jerusalem zurückzukehren, würden die meisten, so Fabri weiter, „lieber hier [d.  h. in der Diaspora, C. S.] bleiben oder hierher zurückkehren, weil sie die Reichtümer,

11 Fabri (Anm. 9), S. 16: De origine civitatis Ulmensis eiusque vetusta antiquitate sequitur. 12 Der vollständige Inhalt des angeblichen Briefes lautet nach ebd., S. 38: Fratribus, qui sunt in transmarina regione Suevie in civitate Ulmensi, Iudeis salutem dicunt fratres, qui sunt Ierosolimis et in ­regione Iudea, et pacem bonam. De tribulacione magna liberati magnifice gracias agimus, denunciantes vobis impium seductorem Ihesum Nazarenum, filium Ioseph, fore de medio sublatum. Cum enim eius insultus et blasphemias amplius sustinere non possemus, accusacionem contra eum ad presidem tulimus. Qui auditis causis, nostre quoque calamitati compaciens, plurimum castigatum crucifigi iussit et interfici, prout meruit, discipulosque eius dispergi. Valete etc. Vgl. zu den Hintergründen dieses Briefes Christian Scholl, Zur Präsentierung imaginärer Ursprünge. Einige Beispiele aus der jüdischen Geschichte des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 46 (2012), S. 513–532, hier S. 516f., 525f. 13 Fabri (Anm. 9), S. 38: Insuper non multi anni sunt, quod in cimiterio fratrum minorum repertus fuit longe sub terra lapis hebraicis litteris inscriptus. Adductus autem Iudeus, ut scripturam legeret, dixit lapidem illum tytulum sepulcri Iudaici fuisse et ante Christi mortem scripturam illam exaratam. 14 Ebd.: [N]ec obviat obiecto, qua quis dicere posset Iudeos prefato tempore nondum fuisse per Titum et Vespasianum dispersos, quod verum est. Fuerant tamen ante sepe dispersi in omnes regiones.



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die sie hier besitzen, [in Palästina] nicht finden würden. Deshalb kehrten sie häufig, nachdem sie zum Heiligen Land gefahren waren, freiwillig in die Länder zurück, in denen sie geboren wurden.“15 Fabri zufolge sind also alle Juden, die außerhalb Palästinas leben, reich – und zwar bedeutend reicher, als sie im Heiligen Land jemals werden könnten. Dass sich die Juden diesen vermeintlichen Reichtum nur auf Kosten der Christen aneignen konnten, konstatiert Fabri an dieser Stelle zwar nicht explizit, doch dass er diese Sicht vertrat, wird an weiteren Stellen des ‚Tractatus‘ evident. Welchen Schaden die Juden ihrer christlichen Umwelt vermeintlich zufügten, zeigt Fabri, als er den Übergang der Grafschaft Werdenberg in den Besitz der Reichsstadt Ulm beschreibt. Die Ursache dafür, dass „die erlauchten Grafen von Werdenberg“ ihre territorialen Besitzungen an Ulm abtreten mussten, habe nämlich allein in den Geldschulden der Grafen bei den „unseligen Juden“ aus Ulm gelegen.16 Die Passage erweckt also den Eindruck, als sei die einst blühende Grafschaft Werdenberg einzig durch den ‚Zinswucher‘ der Juden ruiniert worden. Dass Fabri ausgerechnet auf den Übergang dieser Grafschaft an Ulm rekurriert, um den angeblich verderb­lichen Charakter der jüdischen Geldleihe herauszustellen, ist bemerkenswert: Schließlich hatte Fabris Wahlheimatstadt Ulm in hohem Maße von jüdischen Finanziers profitiert, als sie sich in den 1370er und 1380er Jahren die werdenbergischen Besitzungen aneignete. Damals hatten die Werdenberger Grafen tatsächlich Kredite bei Juden aus Ulm aufgenommen. Als Sicherheit für diese Kredite hatten sie Besitzungen in ihrer Grafschaft – darunter die Stadt Langenau – als Pfänder gestellt, die, als die Grafen ihre Schulden nicht begleichen konnten, in den Pfandbesitz der Reichsstadt Ulm übergingen, wofür diese im Gegenzug die Judenschulden der Grafen übernahm.17 Obwohl die Reichsstadt in diesem Fall also großen Nutzen aus der Kredittätigkeit ihrer Juden gezogen hatte, wählte Fabri dieses Beispiel als Beleg für die Schädlichkeit der „unseligen“ Juden – und dies, obwohl er im ‚Tractatus‘ zuvor selbst den Erwerb von Herrschaften im Umkreis der Stadt als vierte der insgesamt „fünf großen Taten der Ulmer“ in der Vergangenheit gezählt hatte.18 Da Fabri die Juden als schädlich für ihre christliche Umwelt darstellt, ist es nicht verwunderlich, dass er ihnen im ‚Tractatus‘ letztlich abspricht, Teil der städtischen Bürgerschaft zu sein. Er erklärt dort nämlich im Kapitel über die Verfassungsordnung

15 Ebd., S. 38, 40: [E]t quidam eorum eciam licencia habita redeundi in terram suam nolebant […]. Et hodie si licenciarentur redire Ierosolimam, plurimi […] remanerent vel remearent, quia divicias, quas hic possident, non reperirent. Unde sepe post revocacionem eorum in terram sanctam sponte redierunt in terras, in quibus nati fuerant. 16 Ebd., S. 255, 257: Hoc facto comites illustres de Werdaberg ab infelicibus Iudeis Ulme morantibus peccunias ad usuram accipientes. 17 Vgl. ausführlich zum Übergang der Grafschaft Werdenberg an die Reichsstadt Ulm Scholl (Anm. 10), S. 217–220. 18 Fabri (Anm. 9), S. 252: Et quod mirum dictu est, quinque magnifica et grandia opera aggressi sunt, […] [q]uartum dominiorum in gyro empcio.





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der Stadt Ulm, dass die Juden nicht zur Körperschaft der Stadt gehörten und sie auch keine Bürger seien.19 Folglich setzt sich in der Wahrnehmung Fabris das corpus civitatis ausschließlich aus Christen zusammen; die städtische Bürgerschaft ist für ihn eine Gemeinschaft der Gläubigen, in der es keinen Platz für die ‚verstockten‘ Juden gibt. Dass die Juden dennoch von den Ulmern „geduldet“ würden, erklärt Fabri in der Tradition des Kirchenvaters Augustinus mit der Zeugenschaftstheorie, nach der die Juden als „Zeugnis des christlichen Glaubens“ bis ans Ende der Zeit bewahrt werden müssten.20 Zusammengefasst lässt sich zum ‚Tractatus‘ also festhalten, dass die Juden darin als reiche, treulose Wucherer dargestellt werden, die den Christen durch ihre Tätigkeit als Geldleiher enormen Schaden zufügten, weswegen ihnen Fabri zufolge kein Platz in der städtischen Bürgerschaft zustand. Wie Stefan Schröder in seiner eingangs erwähnten Arbeit aufgezeigt hat, stehen die Judenbeschreibungen im ‚Evagatorium‘ dem in nichts nach;21 eher werden die Juden darin noch drastischer dargestellt. So ist in diesem Werk neben den angeblichen, auch im ‚Tractatus‘ erwähnten großen Reichtümern der Juden, explizit von deren „unstillbarer Habgier“22 die Rede. Außerdem sei es stets das Ziel der Juden, den Christen größtmöglichen Schaden zuzufügen. Dies ‚belegt‘ Fabri zum einen mit einem Verweis auf die deutschen Juden in Jerusalem, die mit allen Mitteln versuchten, die Pilger um ihr Geld zu bringen,23 und zum anderen mit vermeintlich historischen Argumenten. Dazu gehört der Vorwurf, die Juden Jerusalems hätten den angeblichen Hass des römischen Kaisers Julian ‚Apostata‘ (reg. 360–363) auf die Christen noch weiter angestachelt. Ferner hätten die Juden die Christen beleidigt, bedroht und sich hochmütig diesen gegenüber verhalten, nachdem sie mit Julians Erlaubnis mit einem Neubau des Tempels begonnen hätten.24 Wie sich die Juden verhielten, als die Kreuzfahrer im Jahr 1099 die Stadt Jerusalem eroberten, weiß Fabri nach eigener Aussage zwar nicht; er ist sich aber sicher, dass sie in der Stadt blieben und zusammen mit den „Sarazenen“25 bis zum Ende gegen

19 Ebd., S. 228: Septimus et ultimus ordo inhabitancium Ulmam est cohabitancium […] qui non sunt de corpore civitatis nec sunt cives. […] Ad illum ordinem reduci possunt Iudei, qui potenter Ulmam habitant. 20 Ebd.: Iudei […], quos Ulmenses tollerant, sicut et ecclesia eos tollerat in testimonium fidei christiane. 21 Vgl. zu den im Folgenden besprochenen Passagen aus dem ‚Evagatorium‘ auch Schröder, Christentum (Anm. 5), S. 297–299, 301. 22 Fabri, Evagatorium (Anm. 8), Bd. 1, S. 254: insatiabilis Judaeorum avaritia. 23 Ebd., Bd. 1, S. 216: Et ante omnia sit peregrinus providus et custodiat se a Judaeis theutonicis; quia toto nisu ad hoc tendunt, ut nos fallant, et pecuniis spolient. 24 Ebd., Bd. 2, S. 215: Hoc Judaei audientes cum tripudio et gaudio convenerunt et munieribus multis Caesaris favorem acquisiverunt et Christianos apud eum magis odiosos fecerunt. […] Interea Judaei insultare nostris coeperunt et velut reparatis sibi regni temporibus comminari acrius ac saevitiam ostentare, prorsus in magno tumore ac superbia egere. 25 Als „Sarazenen“ bezeichneten Fabri und weitere Pilger seiner Zeit die in Ägypten und Palästina lebenden Muslime, vgl. Schröder, Christentum (Anm. 5), S. 238, 252. Ursprünglich bezeichnete der bis ins erste nachchristliche Jahrhundert zurückgehende Begriff Sarazene die Einwohner im Nord-



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die Christen kämpften. Schließlich seien beide Gruppen „immer in ihrer Gegnerschaft gegenüber den Christen übereingekommen.“26 Als Beleg für diese These rekurriert Fabri auf die Zeit Kaiser Justinians (reg. 527–565), in der sich Juden und Sarazenen gemeinsam gegen die Christen im Heiligen Land zusammengeschlossen und ein großes Massaker unter diesen angerichtet hätten.27 Bei der Schilderung dieses Ereignisses ist Fabri gleichwohl ein Fehler unterlaufen: Zwar hatte sich im frühen Mittelalter tatsächlich ein Massaker unter den Christen des Heiligen Landes ereignet, doch fand dieses erst ein knappes halbes Jahrhundert nach Justinian statt. Worauf Fabri hier anspielt, ist die Eroberung Jerusalems durch die persischen Sassaniden im Jahr 614, in deren Folge tatsächlich zahlreiche christ­ liche Einwohner der Stadt ermordet wurden. Auch wurden die Perser in diesem Krieg von jüdischen Kämpfern unterstützt, sodass die Aussage Fabris nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Wie aufgezeigt, belässt es Fabri allerdings nicht bei der Erwähnung dieses Ereignisses, sondern er leitet daraus – wie zahlreiche Autoren nach ihm – eine immerwährende Feindschaft der Juden gegen die Christen ab: So wie sich die Juden 614 – bzw. in den Augen Fabris zur Zeit Justinians – an Kämpfen gegen die Christen beteiligten, mussten sie dies immer tun und den Christen feindlich gesonnen sein, wo sie nur konnten.28 Im Hinblick auf das Thema Feindschaft gegen Christen lässt Fabri des Weiteren keinen Zweifel daran, dass er den Gräuelgeschichten vom jüdischen Ritualmord an christlichen Knaben Glauben schenkt. Dies zeigt sich anhand seiner Ausführungen zu der norditalienischen Stadt Trient, die er zweimal – 1476 auf dem Weg nach Rom und 1480 auf der Reise nach Venedig – besuchte und in der 1475/76 der wohl aufsehenerregendste Ritualmordprozess des Mittelalters stattfand.29 Für Fabri ist „der

westen der arabischen Halbinsel. Mit dem Aufstieg des Islams gingen westliche Autoren zunehmend dazu über, diese Bezeichnung als Sammelbegriff für die Einwohner der islamischen Welt zu verwenden. Allerdings wurden die Sarazenen stets als Volk und nicht als Religionsgruppe wahrgenommen, vgl. Goetz (Anm. 3), Bd. 1, S. 262. Vgl. zum Begriff Sarazene auch Clifford E. Bosworth, Saracens, in: The Encyclopaedia of Islam. New Edition, Bd. 9 (1997), S. 27f. 26 Fabri, Evagatorium (Anm.  8), Bd.  2, S.  263: Porro quid de Judaeis in civitate sancta morantibus egerint Sarraceni, non invenio scriptum, credo autem eos connumeratos inter Sarracenos et cum eis mansisse usque ad interitum. Hae enim duae gentes licet sibi invicem invideant, tamen contra Christianos semper concordant. 27 Ebd.: Nam tempore Justiniani imperatoris, qui fuit anno Domini DXXIV, conglobati Judaei et Sarraceni sunt in terra sancta contra Christianos, stragem magnam ac crudelem fecerunt in eos conabanturque eos penitus delere. 28 Vgl. zum Niederschlag, den die Ereignisse von 614 in Chroniken und sonstigen Darstellungen fanden, Elliott Horowitz, Reckless Rites. Purim and the Legacy of Jewish Violence, Princeton 2006, S. 228–241. 29 Vgl. zum Trienter Ritualmordprozess Wolfgang Treue, Der Trienter Judenprozeß. Voraussetzungen – Abläufe – Auswirkungen (1475–1588) (Forschungen zur Geschichte der Juden A 4), Hannover 1996.





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heilige Simon“, dessen Tod an Ostern 1475 den Anlass für den Prozess lieferte, ein Märtyrer, der von den Juden grausam zu Tode gequält wurde. Zwar erwähnt Fabri auch die „großen Qualen“, die die Juden aufgrund exzessiver Folter im Laufe des Prozesses erleiden mussten, doch Mitleid empfand er deswegen keineswegs. Vielmehr berichtet er von ihren „verfluchten Körpern“, die er bei seinem Trientbesuch 1476 am Galgen habe baumeln sehen.30 Da Fabri an den jüdischen Ritualmord glaubt, der eine Nachahmung der Hinrichtung Jesu gewesen sein soll, ist es keineswegs überraschend, dass er in seinem Werk auch den stereotypischsten Vorwurf gegen die Juden überhaupt erhebt, nämlich den des Gottesmordes. Besonders drastisch ist dabei die Darstellung der Passionsereignisse in ‚Die Sionpilger‘. Darin heißt es, dass die iuden Jesus nach dem Verrat durch Judas nider wurffen uff die erd und inn schlůgen, stiessen und verspyten und vil unlust an inn legten. Danach hätten sie des tods cristi begehrt, indem sie im Anschluss an die öffentliche Vorführung Jesus durch Pilatus geschrien hätten: Tolle tolle crucifige crucifige eum. Als der römische Prokurator daraufhin seine Hände in Unschuld wusch, hätten die iuden ein weiteres Mal verlangt: Sanguis eius super nos. Als Jesus am Kreuz hing, sei er zu guter Letzt auch noch von den Juden verspottet worden.31 Interessant ist der Kontext, in welchen Fabri seine Ausführungen zur Kreuzigung Jesu einbettet: Er legt diese nämlich in allen Einzelheiten dar, wobei er weit über die Berichte des Neuen Testaments hinausgeht,32 nachdem er den Kreuzweg in Jerusalem beschreibt, den die Pilger in der Nachfolge Christi dort beschritten. Wie Winfried Frey aufgezeigt hat, verschwimmen die Konturen eines herkömmlichen Pilgerführers dabei zunehmend.33 Aus einem Pilgerführer, der die Orte beschreibt, den die Jerusalempilger zu besuchen haben, wird mehr und mehr eine Aufforderung, aktiv an der Passion Christi teilzuhaben. Um den – im wahrsten Sinne des Wortes – Mitleids­effekt (compassio) noch zu verstärken, bezieht Fabri auch die Leiden der Gottesmutter Maria mit in seine Darstellung ein. Diese sei nämlich als Augenzeugin der Marterung und Hinrichtung ihres Sohnes zu einer warin mit tragerin des lydes cristi geworden.34

30 Fabri, Evagatorium (Anm.  8), Bd.  1, S.  76: In hac civitate [= Trient] anno 1475 martyrizatus fuit sanctus puer Symeon a Judaeis, cum magnis tormentis: propter quod Judaei fuerunt cum torturis magnis suspendio deputati; quorum maledicta corpora vidi in patibulis pendere, anno sequenti, quando ivi Romam. 31 Fabri, Sionpilger (Anm.  8), S.  127, 129, 138. Vgl. zu diesen Passagen auch Winfried Frey, Der vngetruen Iudden rat disz hertzleit geraden hat. Die Mutter Jesu in deutschsprachigen Passionsspielen, in: Johannes Heil u. Rainer Kampling (Hgg.), Maria – Tochter Sion?, Paderborn u. a. 2001, S. 139–160, hier S. 139–143. 32 Die drastische Ausmalung des Passionsgeschehens war in der volkssprachlichen Literatur des 15. Jahrhunderts weit verbreitet, vgl. dazu Christoph Cluse, Studien zur Geschichte der Juden in den mittelalterlichen Niederlanden (Forschungen zur Geschichte der Juden A 10), Hannover 2000, S. 297– 305. 33 Frey (Anm. 31), S. 141. 34 Fabri, Sionpilger (Anm. 8), S. 113.



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Mit dem Verschwimmen der Konturen zwischen Pilgerbericht und Beschreibung der Passionsereignisse geht natürlich auch die zeitliche Barriere zwischen der Zeit Christi und der Gegenwart Fabris verloren, womit „die Juden der jeweiligen Gegenwart und Nachbarschaft mit den Juden identifiziert [werden], die Jesus und Maria Leid zugefügt haben.“35 Vergleicht man die verschiedenen Passagen, die sich in Fabris Werk zum Thema Juden finden, so wird deutlich, dass Fabri es nicht nur unterlässt, zwischen den Juden der Vergangenheit und denen der Gegenwart zu unterscheiden, sondern dass er darüber hinaus auch keine regionale Differenzierung vornimmt: Ob er die Juden von Ulm, Trient oder Jerusalem beschreibt, ist gleich. Er spricht immer nur im kollektiven Plural von „den Juden“; eine Individualität oder Unterscheidung ist nicht zu erkennen. Fabris Juden sind demnach zeit- und ortlos: Alle Juden sind und waren zu allen Zeiten und an allen Orten Wucherer, Betrüger, Gotteslästerer sowie Gottes- und potentielle Ritualmordmörder, die stets das Ziel verfolgen bzw. verfolgten, den Christen in jeder nur erdenklichen Form Schaden zuzufügen. Die von ihm beschriebenen kollektiven Juden sind somit die archetypischen ‚Anderen‘, die als Gegenpol für die Herausbildung einer spezifisch christlichen Identität herhalten müssen.36 Mit diesem Judenbild bewegte sich Fabri im Rahmen dessen, was gerade innerhalb der Bettelorden des Spätmittelalters zur communis opinio gehörte: Diese betrachteten die Juden als ‚Wucherer‘ und ‚Gottesmörder‘, die in der christlichen Gesellschaft wenn überhaupt nur aufgrund ihrer Zeugnisfunktion zu dulden seien. Dass Fabris Ausführungen über die Juden nicht über Stereotype hinausgingen und er sich in keiner seiner Schriften ernsthaft für die konkreten Lebensumstände von Juden interessierte, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass Fabri glaubte, alles über die Juden zu wissen. Außerdem konnte er wohl davon ausgehen, dass die Kollektivbezeichnung Jude ausreichend war, „um beim Leser einen entsprechenden Wissensbestand abzurufen.“37 Eine Überprüfung dieses stereotypen Wissens kam Fabri dabei nicht in den Sinn. An Angehörigen anderer Religionen zeigte der Dominikanermönch gleichwohl ein mitunter reges Interesse. Davon zeugt eine Episode aus dem ‚Evagatorium‘, in der Fabri und seine Begleiter wissen wollten, was sich hinter dem Schleier von muslimischen Frauen verbarg. Daher überredeten sie eine Gruppe von Frauen, ihre Schleier für einen kurzen Moment abzunehmen, womit die Neugier der Pilger befriedigt

35 Frey (Anm. 31), S. 143. 36 Zwar hat die Alteritätsforschung der letzten Jahre herausgearbeitet, dass „Fremdbilder nicht per se als Instrumente der Abgrenzung fungieren, geschweige denn allein zu diesem Zweck geschaffen sind“, vgl. Jostkleigrewe (Anm. 2), S. 392. Doch schließt dieser Befund keineswegs aus, dass nach wie vor Fremdbilder konstruiert wurden, um eine eigene Identität mittels Abgrenzung von ‚Anderen‘ zu schaffen. 37 Schröder, Christentum (Anm. 5), S. 292.





Wahrnehmung und Darstellung des ‚Anderen‘ 

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wurde.38 Derartige ‚exotische Reize‘ konnten auch vom Judentum ausgehen, wobei insbesondere jüdische Gottesdienste, Hochzeiten, Ritualbäder und Beschneidungen großes Interesse bei christlichen Reisenden weckten.39 Allerdings darf man eine derartige Neugier keineswegs als echtes, tiefgreifendes Interesse an der anderen Religion verstehen. Vielmehr steckte etwa in dem Interesse an jüdischen Beschneidungszeremonien ein erheblicher „Schauderfaktor“.40 Auch Fabri erschrak zunächst, als er in die Gesichter der enthüllten Frauen schaute, da einige von ihnen aus Afrika stammten und daher Gesichter hatten, die ihm „schwarz wie Kohle“ vorkamen.41 Der Wunsch, hinter das verschleierte Antlitz der palästinensischen Frauen zu blicken, offenbart zudem nicht zuletzt die Art von Interesse am Geheimnisvollen, die zum exotisch verklärten Bild des Nahen Ostens als ‚Orient‘ führte, das erst 1978 durch Edward Saids „Orientalism“ dekonstruiert wurde.42 Für Fabri gingen solche exotischen Reize offensichtlich jedoch nur vom Islam aus. Im Hinblick auf das Judentum gab er sich mit seinem vorgefertigten Wissen über die Juden als reiche Wucherer, Gottesmörder und Feinde der Christenheit zufrieden.43 Diese Stereotype hielten Fabri allerdings nicht davon ab, in direkten Kontakt mit Juden einzutreten. Dies zeigt sich im ‚Evagatorium‘ erstmals daran, dass Fabri mit seiner Pilgergruppe eine jüdische Stadt am Rande des Tals Josaphat besuchte, in der die Gruppe von einem Juden herumgeführt wurde. Im Zuge dieser Führung verspotteten die Pilger den jüdischen Führer jedoch, indem sie sagten, dass es klug von den Juden gewesen sei, ihre Stadt an dem Ort zu errichten, an dem in Zukunft das Jüngste Gericht abgehalten werde, da sie von dort ohne Mühe direkt in die ewige Verdammnis fahren könnten.44 Hier zeigt sich die im Spätmittelalter allgemein verbreitete Auffas-

38 Fabri, Evagatorium (Anm.  8), Bd.  2, S.  373: Porro nos non potuimus vultus earum videre propter velamina et per interpretem petivimus eas, ut depositis velamentis permitterent nos etiam earum vultus intueri. Vgl. zu dieser Episode Folker Reichert, Welsche Gäste, Heiliglandpilger aus Schwaben. Der Südwesten des spätmittelalterlichen Reiches in der Geschichte des Reisens, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 63 (2004), S. 11–28, hier S. 23. 39 Vgl. Wolfgang Treue, Unnd die selben hon auch großen mysglauben. Judentum und Islam in den Berichten christlicher Reisender des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: Sigrid Hirbodian u. a. (Hgg.), Pro multis beneficiis. Festschrift für Friedhelm Burgard. Forschungen zur Geschichte der Juden und des Trierer Raums (Trierer Historische Forschungen 68), Trier 2012, S. 223–235, hier S. 226f. 40 Ebd., S. 228. 41 Fabri, Evagatorium (Anm. 8), Bd. 2, S. 373: Quae cum levarent, apparebant vultus earum denigratae, sicut carbones, quia erant Aethiopissae. 42 Vgl. Edward Said, Orientalism, London 1978. 43 Daran zeigt sich einmal mehr, dass die Wahrnehmung „unmittelbar geprägt und determiniert [wird] von den […] Vorkenntnissen und Vorannahmen, mit denen das Wahrgenommene bewusst erfasst, begriffen, gedeutet und bewertet wird, nämlich von dem gesamten Reservoir an Wissen, Erfahrungen, Vorstellungen und Einstellungen des wahrnehmenden Menschen.“ Vgl. Goetz (Anm. 1), S. 26f. 44 Fabri, Evagatorium (Anm. 8), Bd. 2, S. 129: Et ita a muro descendimus et in civitatem Judaeorum venimus, quae est in clivo super vallem Josaphat, in quo Judaeum, qui nos ducebat, derisimus, dicentes



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sung, dass die Juden aufgrund ihrer vermeintlichen ‚Verstocktheit‘, d. h. der Nichtanerkennung Jesu als Messias, nach dem Jüngsten Gericht ewig in der Hölle schmoren müssten. An anderer Stelle spricht Fabri davon, dass die verschiedenen jüdischen „Sekten“ ständig „neue Irrtümer“ produzierten.45 Noch deutlicher als an der oben beschriebenen Episode zeigt sich der alltägliche Umgang Fabris mit Juden und weiteren ‚Andersgläubigen‘ in einer Passage des ‚Evagatoriums‘, in der Fabri von einem Abendessen berichtet, zu dem neben ihm und seiner Pilgergruppe auch zwei Franziskaner, ein Sarazene, ein Mamluke und zwei Juden eingeladen waren. Der unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Bräuche zum Trotz, so betont Fabri, habe die Gruppe eine fröhliche Zeit miteinander verbracht.46 Obwohl Fabri die Juden in seinen Schriften also als Wucherer, Betrüger und Gottes- bzw. Ritualmörder kennzeichnete, traf er sich mit ihnen zum Abendessen. Zudem stellte er ein solches Abendessen nicht als Bewährungsprobe heraus, in deren Zuge er im Kreis von lauter ‚Ungläubigen‘ seine Glaubensstärke unter Beweis stellen musste, sondern er gab unumwunden zu, dass er eine fröhliche Zeit mit diesen ‚Ungläubigen‘ im Allgemeinen und den Juden im Speziellen verbracht hatte. Vergleicht man die Schriften Fabris mit anderen Werken seiner Zeit, so ist es keineswegs überraschend, dass sich die von Fabri erhobenen Vorwürfe gegen die Juden in nahezu allen vergleichbaren Zeugnissen finden. Sowohl die zeitgenössischen Pilgerberichte als auch verschiedene Stadtgeschichten, die dem ‚Tractatus‘ ähneln, sind voll von Stereotypen über die vermeintlichen jüdischen Gottesmörder, -lästerer und Wucherer. Diesbezüglich unterscheiden sich Fabris Pilgerberichte höchstens in einer weniger drastischen Wortwahl etwa im Vergleich zu den Ausführungen des Mainzer Domdekans Bernhard von Breidenbach,47 der sich in derselben Pilgergruppe wie Fabri befand. Auch in Bezug auf die von Fabri geschilderten Kontakte mit Juden im Alltag weisen dessen Schriften Parallelen mit anderen Pilgerberichten auf. So war beispielsweise der Koblenzer Jerusalempilger Peter Fassbender nach Ausweis seines Berichts bei einem Juden untergebracht, solange er sich in der Heiligen Stadt aufhielt,48 während sich bei dem Konstanzer Patrizier Konrad Grünemberg die Nachricht findet, dass er beim Besuch eines öffentlichen Bades in Jerusalem von einem arabischsprachigen Juden begleitet wurde, der auf die Sachen Konrads und seines Gefähr-

sibi, quod prudenter Judaei suam civitatem in loco judicii locaverint, ut sine fatiga veniendi resurgant, in perpetuum damnandi. 45 Ebd., S.  328: Judaei […] habentque inter se diversas sectas […], et continui novi errores inter eos crescunt. 46 Ebd., S. 129: Ingressi autem hospitium dominorum peregrinorum invitaverunt domini milites me et duos patres minores, et duos Judaeos et unum sarracenum et unum Mamaluccum ad coenam, et habuimus simul laetam coenam, quamvis diversi essemus fide et moribus. Vgl. zu diesem Abendessen auch Schröder, Christentum (Anm. 5), S. 302; Treue (Anm. 39), S. 234. 47 Vgl. Schröder, Christentum (Anm. 5), S. 296. 48 Ebd., S. 302.





Wahrnehmung und Darstellung des ‚Anderen‘ 

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ten aufpassen sollte, solange diese im Bad weilten.49 Sogar der durch eine besonders scharfe Wortwahl gegen die Juden aufgefallene Bernhard von Breidenbach ließ sich nicht davon abbringen, einen ihm persönlich bekannten jüdischen Händler an einen Adligen weiterzuempfehlen.50 Demnach zeigt sich, dass Fabris Ausführungen über die Juden – antijüdische Stereotype einerseits und persönliche Kontakte im Alltag andererseits – keineswegs ungewöhnlich, sondern vielmehr typisch für seine Zeit waren. Dieser Befund lässt erkennen, dass Fabri und zahlreiche andere Autoren des späten 15. Jahrhunderts aus den von ihnen erhobenen Vorwürfen keine Konsequenzen für den Umgang mit Juden im Alltag ableiteten. Zumindest im Hinblick auf Fabri und weitere Bettelordensmönche ist dies insofern interessant, als in der historischen Forschung spätestens seit der wegweisenden Studie von Jeremy Cohen aus dem Jahr 198251 mehrfach die Meinung vertreten wurde, dass gerade den Angehörigen der Bettel­orden eine besondere Verantwortung im Hinblick auf die zunehmende Verschlechterung der jüdischen Lebenssituation im Europa des 15. Jahrhunderts zugekommen sei. Da Fabri und andere jedoch noch nicht einmal selbst den Kontakt mit Juden im Alltag einstellten, ist es wenig überzeugend, dass sich die Lebensbedingungen für die Juden in Westeuropa ausschließlich aufgrund der Agitation der Bettel­ orden dramatisch verschlechterten. Somit zeigt die Auswertung von Fabris Schriften, dass es überaus problematisch ist, aus antijüdischen Texten des späten Mittelalters Rückschlüsse auf die alltäglichen Beziehungen zwischen Juden und Christen in dieser Zeit zu ziehen.

49 Vgl. Reichert (Anm. 38), S. 22. 50 Vgl. Schröder, Christentum (Anm. 5), S. 303. 51 Vgl. Jeremy Cohen, The Friars and the Jews. The Evaluation of Medieval Anti-Judaism, Ithaca (New York), London 1982.



Klaus Vogelgsang (Augsburg)

Jüdisch-christliche Kontinuitäten im Geistlichen Spiel am Beispiel der ‚Hessischen Passionsspielgruppe‘ Abstract: Der Beitrag stellt die Frage, ob die Behandlung der iudei im Geistlichen Spiel – in Ergänzung der konventionellen auf die Herausarbeitung von Antijudaismen fokussierten Interpretation – ansatzweise auch im Sinn einer Darstellung von jüdisch-christlichen Kontinuitäten verstanden werden kann.

Die Rolle der iudei im Passionsspiel ist, wie nicht anders zu erwarten, primär dadurch geprägt, dass mit ihr die jesusfeindliche Position zu besetzen ist.1 Diese Positionierung ist gewiss einerseits dem Sujet geschuldet, das schon durch seine Hauptquellen, die Evangelien, in dieser Weise geprägt ist – bei den Synoptikern schwächer, bei Johannes stärker.2 Andererseits aber ist es die Grundanlage des Dramatischen, die auf Formen der Antithese geradezu angewiesen ist und daher Spannungen deutlich und überdeutlich werden lässt. So ist es nicht verwunderlich, wenn die in größerer Intensität vor etwa einem Vierteljahrhundert einsetzende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem mittelalterlichen Antijudaismus ihr Hauptbetätigungsfeld zunächst im spätmittelalterlichen Passionsspiel gefunden hat.3 Zu einem guten Teil ist es überhaupt erst diesem Umstand geschuldet, dass die Gattung des Geistlichen Spiels heute wieder verstärkt das Interesse der Forschung auf sich ziehen kann. Man kann fast sagen: In der jüngeren germanistischen wie historischen Mediävistik war der Anti­ judaismus der Spiele früher Thema als die Spiele selbst, und so haben, gewissermaßen in Fortschreibung dieser Tradition, im Bereich der Spielforschung bis heute Ana-

1 Auf aktuellem Forschungsstand informiert einführend und umfassend zum Geistlichen Spiel Ursula Schulze, Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Eine Einführung, Berlin 2012. Zum Bild des Juden im mittelalterlichen Drama in konventioneller Sicht sei verwiesen auf die Aufsätze von Monika Wolf, so tünd ich dir verbinden din ougen vnd brich dir din baner ouch en zwey. Ecclesia und Synagoga in fortwährendem Streit, in: Ursula Schulze (Hg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen, Tübingen 2002, S. 35–58, und Florian Rommel, ob mann jm vnrechtt thutt, so wollenn wir doch habenn sein blutt. Judenfeindliche Vorstellungen im Passionsspiel des Mittelalters, in: ebd., S. 183–207. 2 Näheres hierzu in Klaus Vogelgsang, Von Höllenfahrtsmaschinen, Münzprüfungen und fehlgeleiteter Rolle. Das populäre Judasbild des Mittelalters im Spiegel des Passionsspiels, in: zur debatte. Themen der katholischen Akademie in Bayern 2 (2010), S. 6–8. 3 Prominent etwa Natascha Bremer, Das Bild der Juden in den Passionsspielen und in der bildenden Kunst des deutschen Mittelalters, Frankfurt a. M. 1986.



Jüdisch-christliche Kontinuitäten im Geistlichen Spiel  

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lysen Konjunktur, die sich auf isolierte Aspekte konzentrieren, sich dafür aus einer variablen Reihe von Spielen Untersuchungsmaterial beschaffen, für das Gesamte wie auch die Faktur der jeweiligen Spiele aber wenig Interesse zeigen.4 Die nicht zuletzt von der biblischen Exegese inspirierten Analysen der von Johannes Janota herausgegebenen Spielkommentare dürften bereits im Wesentlichen ergeben haben, welche Verfahren der Textfaktur die betont antithetische Positionierung der Juden ausmachen – in der Hauptsache läuft diese über dreierlei Mittel:5 An erster Stelle steht eine selektive Evangelienmontage. Im Regelfall wird bei Parallelen der Evangelien jeweils die Version gewählt, die das größte antithetische Potential enthält. Zweitens werden fast regelmäßig konventionelle antijudaistische Stereo­ typen reproduziert – vom Wucherjuden bis zur Judensau. Und drittens operieren die Spiele mit einer partiellen Identifizierung der biblischen Opponenten Jesu mit aktuellen auf die jüdischen Gemeinden und ihre Vertreter bezogenen Konzepten – deutlich sichtbar schon an den zeitgenössischen Namen der Juden-Figuren. Die Betonung auf die Antijudaismen des Spiels zu legen, ist naheliegend und auch durchaus berechtigt – umgekehrt wäre eine Spielforschung unter Ausklammerung der Judenthematik bedenklich und mehr als beschämend. Aber vielleicht ist es doch legitim zu fragen, ob beim Spiel eine Betrachtung der Judenfiguren und der Rede über das Judentum, die nicht allein auf den Antijudaismus fokussiert ist, nicht doch verstärkt unternommen werden sollte. Es ginge dabei nicht um eine verharmlosende Nivellierung, sondern um eine größere Kontextualisierung im Gefüge des zwar spannungsreichen, aber sicherlich nicht völlig eindimensionalen Verhältnisses von Juden und Christen. Die Chancen, im Bereich des Spiels einem neueren Forschungsparadigma folgend gleich manifeste Zeugnisse eines jüdisch-christlichen Kulturtransfers ausmachen zu können,6 sind zwar vorläufig wohl als nicht zu hoch einzuschätzen. Dennoch: Für das geistliche Spiel, zumal in Form des breit ausgebauten und detailreichen biblischen Großdramas, besteht sujetgebunden die Notwendigkeit, auch jüdisch-christliche Kontinuitäten zumindest in einem bestimmten Grad

4 Exemplarisch zu nennen ist Verena Linseis, Aussendung  – Mission  – Migration. Zur Szene der Apostelaussendung im Geistlichen Spiel, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Lite­ ratur 134 (2012), S. 512–539. 5 Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck, hrsg. v. Johannes Janota, Tübingen 1996–2004 (bislang 3 Bde.). An Kommentarbänden (‚Ergänzungsbänden‘) liegt bisher vor: Klaus Wolf, Kommentar zur „Frankfurter Dirigierrolle“ und zum „Frankfurter Passionsspiel“ (Die Hessische Passionsspielgruppe 1), Tübingen 2002; Klaus Vogelgsang, Kommentar zum „Alsfelder Pas­sionsspiel“ und zu den zugehörigen kleineren Spielzeugnissen (Die Hessische Passionsspielgruppe 2), Tübingen 2008. Dem Muster der Reihe folgen wird ebenfalls ein Spielkommentar zum ‚Augsburger Passionsspiel‘, den Ulrike Schwarz (Augsburg) in Kürze vorlegt. 6 Man vergleiche zu diesem Forschungsparadigma Martin Przybilski, Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 61), Berlin 2010.



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zu thematisieren. Das Passionsspiel kann also nicht verzichten auf die Konstruktion eines (in der Regel freilich wenig geschlossenen) mehrschichtigen Bildes von iudei und von synagoga. Es kann hier nur eine Skizze gegeben und angedeutet werden, in welche Richtung Untersuchungen möglich und aus subjektiver Sicht erfolgversprechend erscheinen, aber es sind noch keine belastbaren Aussagen und fertige Ergebnisse vorzulegen. Als Beispiel diene die ‚Hessische Passionsspielgruppe‘: Sie zeigt im Gefüge ihrer Dramen breite Entfaltung und spezifizierenden Ausbau des ursprünglichen Szenenbestands über mehr als anderthalb Jahrhunderte (von der ersten Hälfte des 14.  bis ins erste Viertel des 16. Jahrhunderts) und bietet so der Analyse differenziertes Material. Seinen Sitz im Leben hat das Passionsspiel im Umfeld städtischer Frömmigkeit und städtischer Kirchlichkeit.7 Es sollte nicht primär als Teil eines wie auch immer gearteten literarischen Diskurses betrachtet werden. Auch was einzelne gelehrt-theologische Ideen von Patristik bis Scholastik angeht, wäre der Nachweis ihrer generellen Relevanz für das Spiel erst noch zu erbringen (auch da, wo für Spielleiter und -autoren akademische Bildung nachgewiesen oder wahrscheinlich gemacht werden kann).8 Gerecht wird man den Spielen in ihrer Spezifik wohl eher, wenn man sie zum Gegenstand interdisziplinärer Forschung macht, sie dabei als Phänomen einer nur teilweise gesteuerten und steuerbaren Massenkultur betrachtet und ihnen zugesteht, dass in ihnen eine Vermengung von heterogenem Traditionsgut Hand in Hand geht mit einer eher punktuellen theologischen Akzentsetzung, der das Postulat denkerischer Stringenz schlicht fremd ist – eher von unkontrolliert wuchernder Form als kunstgerecht organisiert. Daher ist wohl auch Vorsicht geboten, was die Tauglichkeit des Spiels als direktes Instrument der Demagogie angeht. Natürlich ist es unverkennbar, dass die Spiele fast sämtlich Antijudaismen übelster Sorte transportieren und es unverantwortlich wäre, dieses Faktum in irgendeiner Weise kleinzureden oder zu relativieren – die Darstellung einer Judensau bleibt die Darstellung einer Judensau, egal in welcher Kontextualisierung. Das Passionsspiel ist auch mit Sicherheit nicht geprägt von größerer projüdischer Akzeptanz und Wertschätzung als das Umfeld seiner Tradition und seiner Produktion. Doch wie dieses Umfeld in seiner Haltung zum Judentum und seinem Verhalten gegenüber den Juden nicht frei ist von Widersprüchlichkeiten verschiedener Art, so ist auch das Passionsspiel in seinem Judenbild nicht um Konsequenz bemüht.

7 Für Frankfurt herausgearbeitet von Wolf (Anm. 5); außerdem für Alsfeld und Friedberg von Doro­ thea Freise, Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt – Friedberg – Alsfeld (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 178), Göttingen 2002. 8 Ein solches Schema liegt etwa zugrunde bei Ulrich Barton, Heilsamer Schrecken. Die Angst im mittelalterlichen Weltgerichtsspiel, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 140 (2011), S. 476–500; ders, Vera icon und Schau-Spiel. Zur Medialität der Veronica-Szene im mittelalterlichen Passionsspiel, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 133 (2011), S. 451–469.





Jüdisch-christliche Kontinuitäten im Geistlichen Spiel  

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Was nun das Sujet der Passionsspiele angeht: Das Christentum ist bleibend auf das Judentum zurückverwiesen. Zwar mag dieser Gedanke nicht zwangsläufig zum Kernbestand des christlichen Selbstverständnisses zählen – im Credo kommt er nicht explizit vor, seine Erwähnung wäre vor der Ausgliederung des Christentums aus dem jüdischen Kontext unnötig gewesen, danach war er inopportun.9 Unausweichlich aber ist die Begegnung des Christentums mit seinem jüdischen Wurzelgrund dort, wo es sich mit der Person Jesu und dem Kreis seiner Jüngerinnen und Jünger befasst. Exemplarisch tritt diese Konstellation ein in der Passion – und zwar in besonderer Intensität und in besonderer Qualität, nämlich der einer spannungsreichen Simultaneität von jüdischer Identität Jesu und jüdischer Opposition gegen ihn. Vollends versagen die Mechanismen einer Ausblendung des Judentums Jesu und seines Jüngerkreises bei dem Grad von Konkretisierung, den die szenische Repräsentation des geistlichen Spiels vom Typus der spätmittelalterlichen Passionsspiele nötig macht. Auffälligerweise finden sich dann aber doch meist auch über die ‚jesusbedingte‘ Thematisierung des Judentums hinaus ‚theologiebedingte‘ Elemente. Fünf kurze Beispiele solcher jüdisch-christlicher Kontinuitäten, geordnet in Form einer Konkretheitsklimax, sollen dies hier illustrieren – dafür bleiben bewusst die Chronologie der Spiele und auch die im Interesse der persuasio stehenden Amplifikationsgesetze der Rhetorik unbeachtet – es soll hier mehr gefragt als behauptet werden.

Beispiel 1: Typologie im ‚Heidelberger Passionsspiel‘ Das ‚Heidelberger Passionsspiel‘10 (Sigle HP)11, benannt nach dem Aufbewahrungsort der Handschrift mit seiner Aufzeichnung von 1514, schaltet an 13 Stellen der Handlung alttestamentliche Präfigurationen ein, ebenfalls als dramatische Szenen, durchweg von größerem Umfang. Durch eine abschließende Prophetenrede ans Publikum werden diese alttestamentlichen typoi jeweils auf ihren antitypos, die nachfolgende Szene der Jesushandlung, bezogen.

9 Hierzu prägnant Clemens Thoma, Juden. VII: Juden und Christen, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl. Bd. 5 (1996), Sp. 1043–1049. 10 Heidelberger Passionsspiel, hrsg.  v. Johannes Janota (Die Hessische Passionsspielgruppe  3), ­Tübingen 2004; vgl. Anm. 5. 11 Die in der Spielforschung etablierten Siglen richten sich nach Rolf Bergmann, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters (Veröffentlichungen der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften), München 1986.



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 Klaus Vogelgsang

‚Heidelberger Passionsspiel‘ (HP), Szene 28 – Praefiguratio: Werbung um Rebekka (vv. 1343–1482) Dor noch stett vff der prophett Isaias vnnd sprichtt zcum volck: [1455] Horennt, ir herenn, vnnd schweigent still  | vnnd merckett, was ich sagenn will.  | ir habtt iczundt vernomen rechtt, wie komen ist Abrahams knechtt | zcu einem bron gegangen. | [1460] do ist er einn weyl gestannden. | dar noch ist komen einn magtt, zcu der hoitt der knechtt gesagtt: | „ivnckfrauw zartt, rein vnnd clug, | gieb mir drincken uß deinem krug.“ | [1465] do die meidt sein wortt hait entpfangenn, | do ist sie widder vmb heym gegangen | vnnd hoitt do die ding konth gethain. | als solichs findett clerlich stonn | geschriebenn in dem buch Genesy, | [1470] in dem xxiiij teyll also frey. | also wirtt auch Ihesus ghann | vnnd einn weyll bey einem bron stann. | dann wirtt komen einn freylein clug | vnnd schepffenn wasser inn einen krug. | [1475] zcu der wirtt sprechenn Ihesu Crist: | „weyp, gieb mir drincken zcu diesser frist.“ | auch redtt er ander wortt vill, | die sint offenbortt zcum selbigen zcyll. | als solichs Iohannes hoit geschrieben | [1480] ann dem vyrdenn teyll woll beklieben. | nu sweygennt stiell all gar | vnnd nementt diesser dingh war.

Man geht wohl nicht fehl, wenn man konstatiert, dass diese Prophetenreden nicht unbedingt den Höhepunkt subtilen typologischen Denkens darstellen, auch zeigt die Gestaltung der Präfigurationsszenen selbst wenig Profilierung auf den Vergleichspunkt hin. Dennoch bleibt es dabei, dass hier eine Denkform präsentiert wird, die Judentum und Christentum in einem Zusammenhang begreift, in welchem das neutestamentliche Geschehen erst durch die Voranstellung alttestamentlicher Szenen in einem bestimmten Sinn aufgeschlossen wird. Es geht, wenn man so will, um eine Verklammerung der Epochen durch non-kontingente strukturelle Parallelen, um die Annahme einer spezifischen Form von jüdischer Vorgeschichte des Christentums. In umgekehrter Perspektive: Der Blick in den Spiegel der Geschichte führt dem Christentum das Judentum vor Augen.

Beispiel 2: Prophetie im ‚Frankfurter Passionsspiel‘ Das ‚Frankfurter Passionspiel‘12 (Sigle FP, Spielhandschrift von 1493) wird eröffnet von einer revueartigen Prophetenszene. Augustinus, der als eine Art theologischer Conferencier durch das Spiel führt, ruft nacheinander fünf alttestamentliche Propheten auf, die ihre auf die Passion bezogenen Prophetien vortragen, worauf jeweils ein Vertreter des Judentums versucht, den Propheten in Misskredit zu bringen. ‚Frankfurter Passionsspiel‘ (FP), Szene 2 – Prophetenauftritte (vv. 1–332) […] Augu st inu s dicit: Her Daniel, sijt vnuertzaget, | wie yr die warheit auch anegesaget | [135] von vnserm herre Crist. | wan in welcher frist | ersterben solt der heilant, | das saget, was uch sij bekannt.

12 Frankfurter Dirigierrolle – Frankfurter Passionsspiel, hrsg.  v. Johannes Janota 1996 (Die Hessische Passionsspielgruppe 1), Tübingen 1996; vgl den Kommentar von Wolf (Anm. 5).





Jüdisch-christliche Kontinuitäten im Geistlichen Spiel  

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D aniel dicit: Nu horet, was ich uch sagen sol,  | [140] disz wort sult ir vornemen wol.  | der war heilant Crist, | der vns zu droste kunfftig ist, | sal sin benediet leben | vor vns setzen vnd geben | [145] in den bitterlichen dot. | susz will er dragen vnser not. Iospeh rabi: Swiga, dor, was claffestu, | du were uff hude so frue. | wer dinen warten neme gaum | [150] vnd dir beschiede diesen draum, | den du hast hie vorgeleit, | siech, der beginck ein arbeit, | die dir gar notze were. | doch lern besser mere, | [155] lijhe phennig vff phant als ich. | das mag rich machen dich. | so mag dir basz gelingen, | dan ob du soltest singen | allen diesen langen mey | [160] „baruch otta adoney“.13

Zwar wird hier das Motiv der Verstocktheit Israels, das die eigene prophetische Tradition verleugnend den Messias verkennt, in größter Deutlichkeit präsentiert. Gleiches gilt für die Szenen der Disputatio zwischen Ecclesia und Synagoga/Synagogus in der ‚Hessischen Passionsspielgruppe‘. Doch den Hintergrund dieses Motivs bildet wieder unleugbar eine Ableitung des Christentums aus dem Judentum. Als das eigentliche Problem des Judentums erscheint die angemessene Interpretation der eigenen Tradition – während das Christentum sich auf eine eigentlich fremde Tradition zu berufen hat. Wenn das Christentum die alttestamentliche Prophetie in Anspruch nehmen muss, erscheint es, um mit Paulus zu sprechen, als „Zweig vom wilden Ölbaum in den edlen Ölbaum eingepfropft“ (Röm 11,17), und damit gilt auch die Mahnung des Paulus: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ (Röm 11,18).14

Beispiel 3: Das mysterium Israel in der ‚Frankfurter Dirigierrolle‘ Die älteste greifbare Ausprägung der Hessischen Passionsspieltradition aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist in der ‚Frankfurter Dirigierrolle‘15 (Sigle FD) nur in reduzierter Form erhalten – es handelt sich um die Textform für die Hand des Spielleiters, von den Reden ist jeweils nur der erste Vers (sozusagen als Stichwort) ange­ geben. Korrespondierend zur einleitenden Prophetenszene (die in FP übernommen ist) steht hier am Ende eine Ecclesia-Synagoga-Disputation und durch die Taufe der Juden eine Wieder-Eingliederung Israels in das Heil. ‚Frankfurter Dirigierrolle‘ (FD), Szenen 81–83 – Disputation zwischen Ecclesia und Synagoga (1, vv. 359–367), Taufe der Juden (1, vv. 368–369), Disputation zwischen Ecclesia und Synagoga (2, vv. 270–373) [359] Hoc igitur conpleto incipiat Ecclesia cum Synagoga diputare clamans primo sic: […] [368] Hic Iudei octo uel decem eant pariter ad Augustinum petentes baptizari […] [372] Hic cadat Synagoga de humeris pallium et corona de capite.

13 Vgl. Wolf (Anm. 5), S. 512–536. 14 Bibelzitate nach Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg, Basel, Wien 1980. 15 ‚Frankfurter Dirigierrolle‘ (Anm. 12).



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Aus heutiger Sicht ist das fraglos eine extreme Provokation. Aber man sollte nicht vergessen: Die ‚Frankfurter Dirigierrolle‘ ist noch Jahrhunderte entfernt von Nostra Aetate. In dieser Rücksicht geht man wohl nicht völlig fehl, wenn man in dieser Szene einen Hinweis auf das eschatologische Geschick Israels und seine Vollendung sieht. Was hier inszeniert wird, ist immerhin keine finale Deportation der Juden in die Hölle. Demontiert wird Synagoga – die Personifikation einer in der Konzeption des Spiels völlig auf die Christusverweigerung reduzierten jüdischen Religion –, nicht die iudei. Das ist vielleicht doch nicht ganz dasselbe.16

Beispiel 4: Eucharistie als Pascha im ‚Alsfelder Passionsspiel‘ Das ‚Alsfelder Passionsspiel‘17 (Sigle AP, Spielhandschrift mit mehreren Schichten bis 1517) fällt durch besonders derbe und aggressive Antijudaismen aller Art auf. Doch zeigt es eine ganz besondere jüdisch-christliche Kontinuität im Kontext des Abendmahls und damit in der Thematisierung der Eucharistie. ‚Alsfelder Passionsspiel‘ (AP), Szene 40 – Abendmahl: Jesu Leib und Blut (1, vv. 3068–3077) Et dicit I h e s u s: […] myt flyß hon ich das begeret, | das ich byn gewert, | das ich das osterlamme essen thu | [3075] myt vch, […]18

Anders als in der Tradition der Hessischen Passionsspielgruppe vorgegeben, spricht Jesus in AP nicht vom osteryms (FP, v. 1964), das er mit seinen Jüngern einnehmen will, sondern vom osterlamme. Damit wird deutlich, dass das Abendmahl die Paschafeier ist. Und das Spiel wird noch weit deutlicher: Auch die iudei feiern ihr Pascha, und zwar simultan zum Abendmahl Jesu. Auf der Simultanbühne befindet sich der Versammlungsort der Juden gerade dem Abendmahlssaal gegenüber. So spricht Lendy­keil, der Iudeus quintus auch explizit vom Essen des Osterlammes: ‚Alsfelder Passionsspiel‘ (AP), Szene 45 –Ostermahl der Juden (vv. 3238–3273) Nu mercket, ir herren, wie iß lyt. | iß nehet sich der oisterlichen zyt, | [3240] das mer das osterlam sollen essen. | das soln mer nit vorgessen. | das Moises gebotten hoit, | das thun wir, das ist myn raid.

16 Michael Stolz (Bern) danke ich für den freundlichen Hinweis auf Christoph Gerhardt, Zur Spiel­ tradition von ‚Sündenfall und Erlösung‘. Mit textkritischen und kommentierenden Bemerkungen zum Text, in: Michael Embach u. a. (Hgg.), Sancta Treveris. Beiträge zu Kirchenbau und bildender Kunst im alten Erzbistum Trier. Festschrift für F. J. Ronig zum 70. Geburtstag, Trier 1999, S. 173–208. 17 Alsfelder Passionsspiel, hrsg. v. Johannes Janota (Die Hessische Passionsspielgruppe 2), Tübingen 2002; vgl. den Kommentar von Vogelgsang (Anm. 5). 18 Vgl. Vogelgsang (Anm. 5), S. 326f., 345–348.





Jüdisch-christliche Kontinuitäten im Geistlichen Spiel  

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Was folgt, ist eine völlig untendenziöse und genaue Wiedergabe (volle 30 Verse lang) der entsprechenden Vorschriften aus dem Buch ‚Exodus‘. Zwar entspricht das bekanntlich nicht dem zeitgenössischen Ritual des aschkenasischen Judentums, aber es ist doch unverkennbar, dass Interesse daran besteht, das jüdische Pascha korrekt wiederzugeben – und das in unmittelbarer Zusammenschau mit dem Abendmahl und der Einsetzung der Eucharistie. Nicht unterschlagen werden darf aber, dass die positive Wertung des jüdischen Pascha im Spiel zweifach erheblich gemindert wird: Erstens läuft Judas zum Verrat Jesu vom Abendmahl über zur Feier der Juden. Zweitens gerät dem ‚Alsfelder Spiel‘ abschließend die Feier doch zu einer unverkennbar antijudaistischen Inszenierung (Iudei bibunt ex culo vituli et comedunt agnum).19 Trotzdem: Eucharistie wird hier im Kontext der Paschafeier Israels gesehen, das ist keine theologische Selbstverständlichkeit. Abschließend noch eine Beobachtung am Rande: Dass die Spielautoren eine intensivere Lektüre der Schriften der jüdischen Kontroverstheologie betrieben hätten, ist unwahrscheinlich. Und aus den eigenen einschlägigen Schriften (Pseudoaugustinus etc.) wären nur wenige Residuen einer authentischen jüdischen Argumentation zu gewinnen.20 Aber vielleicht war es doch, womöglich aus eigener Beobachtung, möglich, dass die Spielautoren isolierte Redeformen kannten, mit denen die zeitgenössischen Juden sich über ihr christliches Umfeld verständigten. Auffällig jedenfalls ist, dass es im ‚Alsfelder Passionsspiel‘ in der Szene der Blindenheilung heißt: ‚Alsfelder Passionsspiel‘ (AP), Szene 18 – Heilung des Blindgeborenen (vv. 1413–1647) Natan Iudeus dicit (ceco): […] vnd enrufft den swarczen bart numme an.21

19 ‚Alsfelder Passionsspiel‘ (Anm. 17), Bühnenanweisung nach v. 3273. 20 Vgl. zum Kontext Manuela Niesner, „Wer mit juden well disputiren“. Deutschsprachige AdversusJudaeos-Literatur des 14. Jahrhunderts (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 128), Tübingen 2005. 21 Vgl. Vogelgsang (Anm. 5), S. 192–204.



Jörg Widmaier (Tübingen)

Simeon am Taufbecken von Beckum-Vellern. Mehrfachlesbarkeit und Intellektualisierung eines liturgischen Artefakts Abstract: Im Zentrum der Untersuchung steht ein Taufgefäß, das in seinem Bildprogramm Verweise auf das Judentum setzt. Ließe sich die gezeigte Gegenüberstellung von Ecclesia und Synagoga noch als Bildpolemik im Rahmen der Taufe verstehen, so bleibt im Gegensatz dazu die Darstellung des Propheten Simeon als Täufer in der Taufszene bemerkenswert. Denn hier wird entgegen einer Polemik das typologische Modell des Sakraments für den theologisch geschulten Betrachter präsentiert. Anhand des erleuchteten Vertreters des Alten Bundes wird darüber hinaus die Wirkung des Taufsakramentes metaphorisch ablesbar. Einem gelehrten Betrachter wird zudem am Objekt durch ein bestimmtes Text-Bild-Verhältnis der genealogische Bezug des Christentums auf das Judentum verdeutlicht. Diese Konzeption ist jedoch nicht allein als Intellektualisierung zu verstehen, sondern wird ebenso im liturgischen Gebrauchskontext und der historischen Entstehungszusammenhänge des Artefakts erklärbar.

1 Einleitung Ein heutiger Betrachter muss in die Hocke gehen, um das Schauspiel aus der Nähe beschauen zu können: Am Taufbecken der Pankratiuskirche von Beckum-Vellern (Kreis Warendorf) ist – wie auch an weiteren Taufbecken der Region und der Zeit um 1200 bis 1250 nach Christus – die Taufe Jesu im Jordan dargestellt worden (Abb. 1). Jesus steht mit zum Segen erhobener Hand im Jordan, in dem Fische durch die Wellen schwimmen. Über dem Gottessohn steigt die Taube des Heiligen Geistes herab, zu seiner Rechten trägt ein Engel ein ursprünglich rot gefasstes Gewand herbei.1 Die Taufszene wäre beinahe komplett, würde nicht ein wichtiges Detail fehlen: der Täufer Johannes. Dieser Umstand mag einem flüchtigen Betrachter entgehen, wenn er sich einzig einer Schau der Bilder hingibt, ohne dabei auch die ursprünglich mit roter Fassung hervorgehobenen romanischen Majuskel-Inschriften am Taufgefäß zu bemerken. Denn zur Linken Jesu steht ein zur Taufszene gewandter bärtiger

1 Ein erkennbar mehrphasiger Fassungsaufbau am Objekt macht wahrscheinlich, dass bereits zur Zeit seiner Entstehung eine Farbigkeit bestanden hat. Zudem ist die verwendete Farbpalette, da sie im Gros kaum der Farbigkeit des 19. Jhs. entspricht, durchaus als ein authentisches, wenn auch (wie die sicher überarbeiteten Heiligenscheine und Tituli zeigen) nicht völlig ungestörtes Farbspektrum mittelalterlicher Steinfassung anzusehen. Auf Basis einer rein optischen Untersuchung der Fassungsreste ist vor allem die Verwendung einer umfassenden Farbpalette festzustellen, die Ocker, Rot, Weiß, Gelb, Blau sowie Grün beinhaltet.



Simeon am Taufbecken von Beckum-Vellern 

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Abb. 1: Beckum-Vellern, Sankt Pankratius, Taufbecken, Sandstein mit Farbfassungsresten, um 1240; Aufnahme nach Restaurierung, 1954 (© Fotoarchiv LWL-Denkmalpflege, Landschaftsund Baukultur in Westfalen, Münster).

Mann mit Heiligenschein, der beide Hände erhoben hat um – dem Täufer gleich – die Taufspendung durch Auflegen der Hand auf den Kopf des Täuflings vorzunehmen. Erst durch die namensgebende Inschrift darüber wird diese Gestalt als der Prophet Simeon erkennbar, und das Fehlen des Täufers ersichtlich. Dieser Umstand zielt auf die Rezeption durch einen theologisch geschulten Betrachter ab, für den durch die Text-Bild-Zusammenhänge neue Sinnebenen erschließbar werden. Das Programm des Taufbeckens lässt so zum einen eine konzeptionelle Mehrfachlesbarkeit erkennen, in deren Folge Simeon als Täufer wahrgenommen werden konnte, zum anderen kann es als sakramentale Typologie gelesen werden. Davon ausgehend stellt sich im Folgenden die Frage nach den historisch-kulturellen und theologischen Voraussetzungen für das vorliegende Artefakt.

2 Kontext Das Taufbecken ist nach Ausweis seiner stilistischen Merkmale im zweiten Viertel des 13.  Jahrhunderts, wahrscheinlich um 1240, entstanden und befindet sich heute im Turmerdgeschoss der Pankratiuskirche von Vellern.2 Die Tatsache, dass am Artefakt

2 Als stilistische Vergleichsbeispiele dienen neben weiteren Taufbecken ebenso die Tympana von Wadersloh und Arnstadt. Zu bisherigen Datierungsansätzen vgl. Silvia Schlegel, Mittelalterliche Taufgefässe. Funktion und Ausstattung (Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst 3), Köln, Weimar,



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 Jörg Widmaier

der Kirchenpatron Pankratius verbildlicht worden ist, spricht für eine ursprüngliche Verortung in diesem Kirchenbau.3 Auch der verhältnismäßig gute Erhaltungszustand legt letztlich ebenso eine ununterbrochene – oder doch zumindest nur kurzzeitig für Bauarbeiten veränderte – witterungsgeschützte Aufstellung in dieser Pfarrkirche nahe. Direkt neben Pankratius ist der Prophet Simeon verbildlicht worden, welcher – darauf hat bereits Schneider hingewiesen – im nahegelegenen Kloster Liesborn auf Grund der dortigen Armreliquie verehrt worden ist.4 Da sich kaum Schriftquellen erhalten haben, die einen direkten geistigen Austausch zwischen Kloster und Dorfkirche belegen, stellt das Taufbecken selbst ein Zeugnis derartiger Verbindungen dar. Dennoch lassen sich auch darüber hinaus Kontaktfelder erschließen. Die Kirche von Vellern, die wohl bereits Ende des 12. Jahrhunderts Pfarrrechte besitzt, ist vermutlich als Stiftung eines ortsansässigen Adelsgeschlechts anzusehen. Eine adlige Einflussnahme am Kirchenbau kann ebenso aus der Wahl einer Rittergestalt als Patronatsheiligen geschlossen werden, wie aus der Rekonstruktion einer befestigten Steinbebauung auf dem Gut Steinhoff in direkter Nachbarschaft zur Kirche.5 Es handelt sich möglicherweise um den Sitz jenes Adelsgeschlechts, dessen Vertreter in den Schriftquellen ab dem beginnenden 13. Jahrhundert als dominus […] de Veleheren oder als militis de Veleren bezeichnet werden und als Ministerialen auftreten.6 Mehrfach sind in dieser Zeit Priester für die Vellerner Kirche nachweisbar, welche wohl jenem Geschlecht entstammen, und für die offensichtlich enge Bindungen zum Bischofssitz Münster anzunehmen sind. So scheint der Priester Laudolfus von St. Jacobi

Wien 2012, S. 517f. Unklar bleibt bislang der ursprüngliche Standort des Taufgefäßes im Kirchenbau. Statt einer Platzierung im Turm legen Vergleiche mit regionalen Grabungsbefunden eine zentrale Platzierung im Kirchenschiff nahe, vgl. hierzu Friedemann Winkler, Ein runder Kalk-Estrich in der Stadtkirche zu Trebsen. Der mittelalterliche Taufort, in: Michael Beyer (Hg.), Zur Kirche gehört mehr als ein Kruzifix. Studien zur mitteldeutschen Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte. Festgabe für Gerhard Graf zum 65. Geburtstag (Herbergen der Christenheit. Sonderbd. 13), Leipzig 2008, S. 112–124. 3 In der ursprünglichen mittelalterlichen Inszenierung vor Ort ist – vor dem Hintergrund derartiger Bau- und Grabungsbefunde – wahrscheinlich eine gestufte Podestanlage zu rekonstruieren. 4 Wilhelm M. Schneider, 800 Jahre Pfarrei Vellern. Zur Gründung der Pfarrei Vellern, in: Heimatverein Vellern (Hg.), Vellern. Geschichte und Leben eines Dorfes. Zum 800-jährigen Bestehen, Güters­loh 1993, S. 16–24, hier S. 20. 5 Vgl. zum Patrozinium Jürgen Kloosterhuis, Köln – Mark – und Sankt Pankratius. Die politischen Beziehungen zwischen den Kölner Erzbischöfen und den Grafen von der Mark aus sakraler Sicht, in: Ferdinand Seibt (Hg.), Vergessene Zeiten. Mittelalter im Ruhrgebiet. Katalog zur Ausstellung im Ruhrlandmuseum Essen, 26. September 1990 bis 6. Januar 1991, Bd. 1, Essen 1990, S. 44–50, hier S. 49f; zur Rekonstruktion des Siedlungsbezirks Willi Laukemper, Die Dorfgeschichte Vellern – Unser Dorf, in: Heimatverein Vellern (Anm. 4), S. 25–175, hier S. 168f.; Johannes Meier, 800 Jahre St. Pankratius Vellern. Zum Gründungsvorgang mittelalterlicher Pfarreien im Bistum Münster, in: Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte 88 (1994), S. 15–26, hier S. 24f. 6 Westfälisches Urkundenbuch, 11 Bde., hrsg. v. Vereine für Geschichte und Altertumskunde West­ falens, Münster 1871–2000, hier Bd. VI, S. 124, Nr. 434; Bd. III, S. 213, Nr. 395. (Im Folgenden zitiert als: WestfUB, mit Bd.-zahl, Seitenzahl und Nummer.)





Simeon am Taufbecken von Beckum-Vellern 

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in Münster, der bereits 1214 für eine eigene Memorialstiftung seinen Zehnten im Kirchspiel Vellern an das Kloster St.  Marien zu Münster verkaufte, derselbe Geist­liche zu sein, der mit seinem Verwandten als Landolfo et Ecberto de Veleren sacerdotibus im selben Jahr auf einer Synode in Vellern auftritt.7 Ebenso erscheint in einer Urkunde, welche die Schenkung eines Zehntes durch Bischof Ludolf von Münster an das Kloster Liesborn im Jahre 1241 bezeugt, der Priester Volcwinus plebanus de veleren.8 Dieser war zugleich Kanoniker des Luidgerstiftes in Münster und könnte – dem Wortlaut der Urkunde zu Folge – auch ein Angehöriger des Vellerner Rittergeschlechts gewesen sein.9 Möglicherweise ist Volcwinus dabei nicht nur in der Funktion des Kanonikus zu Münster an dritter Stelle bei der Beurkundung von 1241 genannt, sondern hat auch als Priester von Vellern eine Mittlerfunktion zwischen der Bischofsstadt Münster und der nahegelegenen Benediktinerabtei Liesborn eingenommen. Letzteres ließe sich aus der geographischen Lage seiner Pfarrei zwischen den beiden Orten erklären und würde – folgt man diesen Überlegungen – einen Hinweis auf jene Kontaktzonen liefern, durch die auch das vorliegende Taufbecken entstanden sein könnte. Ebenso lassen sich etwa auf Seiten Liesborns Besitzrechte an einzelnen Höfen innerhalb der Pfarrei Vellern feststellen, wenn auch ein Hinweis auf rechtliche Einflussnahme des Klosters auf die Pfarrkirche selbst durch Schriftquellen nicht nachweisbar ist. Das Kloster, und vor allem das in der dortigen Klosterbibliothek verfügbare Wissen, scheint für den Entstehungszusammenhang des Taufgefäßes jedenfalls nicht unerhebliche Impulse geliefert zu haben.10 Denn neben dem Vellerner Kirchenpatron Pankratius ist der Prophet Simeon als Patron der Pfarr- und Klosterkirche von Liesborn am Taufgefäß dargestellt und dort zum Ausgangspunkt eines theologisch anspruchsvollen Programms geworden. Dass so – für litterati – eine inhaltliche Hervorhebung Simeons gegenüber Pankratius ersichtlich wird, spricht für den Ursprung der Konzeption im Kloster Liesborn.11 Es bestanden demnach zwei inhaltliche Vor­ gaben für den Entwurf des Taufbeckenprogramms: Die beiden  – durch die historischen Zusammenhänge verständlichen – Patronatsheiligen Pankratius und Simeon.

7 WestfUB III, S. 44f., Nr. 86. 8 WestfUB III, S. 211, Nr. 390. 9 WestfUB III, S. 189, Nr. 348; vgl. hierzu Wilhelm Kohl, Das Bistum Münster, Bd. 7, 4: Die Diözese (Germania sacra 37), Berlin 2004, S. 186. 10 Dieses verfügte – wie Bestandskataloge der Klosterbibliothek ab 1219 nahelegen – über ein breites theologisches Wissen, das sicher auch in die Konzeption des Taufbeckens von Vellern miteingeflossen sein wird, vgl. Paula Väth, Kataloge der Handschriftenabteilung. Die illuminierten lateinischen Handschriften deutscher Provenienz der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz Berlin, Bd. 2: Abbildungen, Wiesbaden 2001, S. 32f. 11 Auch die stilistische Nähe des Taufbeckens zum Tympanon von Wadersloh im Kirchspiel Liesborns spricht letztlich für eine klosternahe Produktion des Artefaktes; vgl. zur Abb.: Friedrich Helmert, Wadersloh. Geschichte einer Gemeinde im Münsterland, Bd.  1: Kirchengeschichte, Münster 1976, S. 33.



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 Jörg Widmaier

2.1 Objekt Am Taufbecken wird in acht Arkadenbögen jeweils eine Standfigur gezeigt (Abb. 2).12 Immer zwei benachbarte Standfiguren können inhaltlich zum Paar zusammengeschlossen werden. Neben Szenen wie der Verkündigung aus Erzengel Gabriel und Maria mit Gesprächsgesten und der bereits beschriebenen Taufe aus assistierendem Taufengel und Jesus im Jordan bilden die Patronatsheiligen Pankratius und Simeon ebenso ein – vor allem im historischen Entstehungszusammenhang verständliches – Paar, wie auch die Personifikationen von Ecclesia und Synagoga als gegensätzliches Paar zusammen gehören. An einer Stelle wird diese Paarstruktur durch einen ikonographischen Zusatz ergänzt: Der Prophet Simeon wendet sich deutlich zur vorher­ gegangenen Taufe Jesu zurück und erscheint so auch diesem Szenenfeld zugeordnet zu sein. Dadurch ergibt sich die zu Beginn beschriebene Mehrfachlesbarkeit der Taufszene. Gleichzeitig besteht zwischen den Bildpaaren und den ihnen am Taufgefäß direkt gegenüberliegenden Szenen eine inhaltliche Verbindung (Abb. 3). Denn der Prophet Simeon ist als Vertreter des Alten Bundes der gegenüberstehenden Synagoga zugeordnet, während der Märtyrer Pankratius mit der personifizierten Kirche in Verbindung gesetzt ist. Gleichfalls lassen sich die Verkündigung und die Taufe inhaltlich sowie über das gezeigte Personal verknüpfen. In beiden Fällen handelt es sich um einen Offenbarungsmoment, in dem neben dem Wirken des Heiligen Geistes jeweils auch die gezeigten Engel miteinander verbunden erscheinen und nicht zuletzt die heilsgeschichtliche Genealogie zwischen Maria und Jesus vermittelt wird. Im Falle des personifizierten Judentums erscheint die szenische Gegenüberstellung am Taufbecken besonders bemerkenswert, da die in ikonographischer Tradition als blind dargestellte Synagoge mit dem erleuchteten Propheten Simeon konfrontiert worden ist. Nach Paulus bezieht sich die Blindheit sinnbildlich auf die Unkenntnis der göttlichen Weisheit, welche im Gesetz des Alten Bundes noch verhüllt, im Neuen Bund aber enthüllt ist.13 Als Sinnbild dient ihm dabei der Schleier auf dem Gesicht Mose und den Herzen der Israeliten (2  Kor  3,14–16). Im Römerbrief ergänzt Paulus das Sinnbild um die endzeitliche Entschleierung des blinden Volkes Israel, dessen Wiederaufnahme eschatologisch die Auferstehung der Toten bedeute (Röm  11,15). Das Nichterkennen des Messias, welches die blinde Synagoge versinnbildlicht, wird

12 Maße des Taufgefäßes: Höhe ca. 83 cm, Durchmesser 90 cm, Umfang 284 cm, Relieftiefe durchschnittlich 7 cm. Im Gegensatz zum monolithischen Zylinder ist die Basis aus fünf nach innen spitz zulaufenden Teilen zusammengesetzt. Die formale Entsprechung dieser Konstruktion mit dem Taufbecken von Freckenhorst ist augenfällig. 13 Die paulinische Exegese führt die revelatio moysis als die neutestamentliche Erfüllung des Gesetz­ empfangs Mose auf dem Sinai an, vgl. hierzu Siegfried Schulz, Die Decke des Moses. Untersuchungen zu einer vorpaulinischen Überlieferung, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 49 (1958), S. 1–30.





Simeon am Taufbecken von Beckum-Vellern 

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Abb. 2: Abrollung des Taufbeckens, von l. nach r.: GABRIEL & S(AN)C(T)A MARIA (Verkündigung), ECCLESIA & SYNAGOGA (Personifikationen des Neuen und Alten Bundes), ANGELVS & IHESVS CHRISTVS (Jordantaufe ohne Täufer Johannes), Prophet SIMEON & S(ANCTVS) PANCRACIVS (Patronatsheilige) (Aufnahmen und Gestaltung Widmaier/Gerhardt 2014).

Abb. 3: Beckum-Vellern, Schematische Darstellung des Taufbeckens, Szenenfelder mit einzelnen Standfiguren und Tituli, umlaufende Inschrift in Bildkombination sowie Gegenüberstellung bestimmter Bildinhalte, Startpunkte von Bilderzählung und Inschrift (Gestaltung Widmaier/Gerhardt 2014).



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 Jörg Widmaier

in Vellern also gerade mit jenem Propheten kontrastiert, der – obgleich ein Vertreter des Alten Bundes – den Messias im Offenbarungsmoment erkennt. Das Motiv, das die Synagoge mit Simeon verbindet, ist der – unterschiedliche – Zustand der Erkenntnis. Der visualisierte Prozess des Erkennens, der von der Synagoge in Richtung des erkennenden Simeon sequentiell verstanden werden kann, ist dabei durch die Darstellung der Taufe Jesu ergänzt. Es ist diese Taufe, die vom Nichterkennen des verblendeten Judentums zum erleuchteten Vertreter des Alten Bundes überleitet. In Nachfolge der paulinischen Theologie wird – so die hier geäußerte These – eine Abwandlung des Motivs der Entschleierung der Synagoge (revelatio synagogae) gezeigt, jener endzeitlichen Offenbarung, durch die das verblendete Judentum – hier vertreten durch den Propheten Simeon – den Messias erkennt (2 Kor 3,15–18).14 Dem Taufbecken von Vellern liegt demnach ein theologisches Programm zugrunde, das auf Basis historischer Verhältnisse konzipiert worden ist. Dass dieser Entwurf auch einer exegetischen Tradition folgt, zeigt ein Vergleich mit dem rund 100 Jahre älteren Taufgefäß von Sélincourt in Frankreich (Abb. 4.1 und 4.2).

Abb. 4.1 und 4.2: Sélincourt, Prämonstratenserabtei St. Larme, zwei sich gegenüberliegende Ansichtsseiten des Taufbeckens mit Taufe Jesu und Revelatio Synagogae sowie Auslösung der Erstgeburt und Simeons Offenbarung, um 1150 (© Bildarchiv Foto Marburg).

2.2 Theologisches Konzept Ohne einen gemeinsamen Entstehungszusammenhang annehmen zu wollen, bleibt die inhaltliche Übereinstimmung bemerkenswert, da in beiden Fällen Simeon direkt gegenüber dem Bildfeld der Synagoge platziert ist. Im Unterschied zum westfälischen

14 Zur ikonographischen Anwendung des Motivs der revelatio synagogae vgl. Konrad Hoffmann, Sugers „Anagogisches Fenster“ in St.  Denis, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch. Jahrbuch für Kunst­ geschichte 30 (1968), S. 57–88, hier u. a. S. 63; Stephan Waldhoff, Synagoga im Sakramentar. Zur ‚revelatio synagogae‘ in der Handschrift 193 der Bibliothèque municipale in Tours, in: Frühmittel­ alterliche Studien 43 (2009), S. 215–270.





Simeon am Taufbecken von Beckum-Vellern 

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Taufbecken ist der Prophet am nordfranzösischen Exemplar jedoch mit der zugehörigen Szene der nach jüdischem Recht vollzogenen Auslösung des Erstgeborenen gezeigt. Vor dem Hintergrund der hohen inhaltlichen Übereinstimmungen spricht einiges dafür, dass auch für Vellern diese Szene der Auslösung der Erstgeburt inhaltlich mitgedacht werden sollte. Denn die Darstellung des Simeon, der hier als Patronatsheiliger in Form einer einzelnen Standfigur erscheint, tritt sonst hauptsächlich in Kombination mit dieser ihm zugeordneten heilsgeschichtlichen Erzählung auf. Die Annahme einer szenischen Verkürzung der Simeonsgeschichte, die assoziativ eine Ergänzung zur Erleuchtung Simeons, der Offenbarung des Messias im Tempel, einfordert, wird dadurch gestützt, dass der Prophet nicht als frontale Standfigur gegeben ist, sondern als bewegte und in die Taufhandlung integrierte Gestalt verbildlicht wurde. Einem theologisch gebildeten Betrachter wird durch diese Kombination von Simeon – dem die Szene der Auslösung der Erstgeburt im Tempel (Lev 12,1–4) implizit ist – und der Taufszene eine typologische Verbindung zwischen den Ini­tiationsritualen des Alten und des Neuen Bundes vergegenwärtigt.15 Diese hier fassbare Typologie der Initiationssakramente des Alten und Neuen Bundes wird auf Basis augustinischer Lehre ebenso in der scholastischen Theologie begründet: Für Hugo von Sankt Viktor entfalten sich die Sakramente bereits aus dem Alten Testament heraus.16 Auch Rupert von Deutz spricht von der typologischen oder genealogischen Abfolge von Sakramenten, die besseren, nicht ihnen widersprechenden Sakramenten gewichen seien.17 Dass der Sakramentenspender in Vellern in diesen Sinnzusammenhängen offensichtlich austauschbar gewesen zu sein scheint, erklärt das Fehlen des Johannes und die Platzierung Simeons an dessen Stelle. Passend dazu liefert auch das Taufgefäß von Sélincourt die entsprechende Gegenüberstellung. Der Taufe Jesu ist das Taubenopfer innerhalb der Auslösung der Erstgeburt zugeordnet. Dem erkennenden Propheten Simeon gegenüber erscheint die revelatio synagogae, jene Szene, in der Jesus Ecclesia krönt und dem personifizierten Judentum – im endzeitlichen Akt – den Schleier der Blindheit vom Kopf entfernt. Darüber hinaus verweisen die Engel in den übrigen Seitenfeldern der Kuppa auf den Moment der Offenbarung, indem sie aus einer himmlischen Sphäre herabsteigen und dabei einen Vorhang – erneut ein Motiv

15 Eine ganz ähnliche im Bild fassbare Einheit von altem und neuem Ritus findet sich auch in einem Fensterbild in der Abteikirche Saint-Denis in Paris, welches die Bundeslade der Israeliten mit dem Kreuz zum Sinnbild des Altarsakramentes kombiniert, vgl. Martin Büchsel, Materialpracht und Kunst für Litterati. Suger gegen Bernhard von Clairvaux, in: ders. (Hg.), Intellektualisierung und ­Mystifizierung mittelalterlicher Kunst. „Kultbild“ – Revision eines Begriffs (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst 10), Berlin 2010, S. 155–181, hier S. 174f. 16 Hugo von Sankt Viktor, De sacramentis Christiane fidei, hrsg. v. Rainer Berndt (Corpus Victorinum. Textus historici 1), Münster 2008, S. 36f. 17 Rupert von Deutz, Liber de divinis officiis, 4 Bde., hrsg. u. übers. v. Helmut Deutz u. Ilse Deutz (Fontes Christiani 33), Freiburg u. a. 1999, Bd. 1, S. 321.



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 Jörg Widmaier

Abb. 5: Sélincourt, Prämonstratenserabtei St. Larme, Taufbecken, Detail der Ansichtsseite mit Engeln, Vorhängen und Kronen, um 1150 (© Bildarchiv Foto Marburg).

der veleficatio – als Sinnbild der endzeitlichen Verkündigung zur Seite schieben (Abb. 5).18 Auch die Kronen in den Händen der Engel weisen im Übrigen auf die endzeitliche Gemeinschaft aus den Gerechten des Alten und den Vertretern des Neuen Bundes hin. In Vellern scheint ebenfalls ein beinahe identisches inhaltliches Konzept umgesetzt worden zu sein, wobei Abwandlungen im Bildprogramm zu bemerken sind: Statt der Gegenüberstellung von Taufe und Auslösung als typologisches Motiv des Sakraments auf der einen Seite sowie der Gegenüberstellung von entschleierter Synagoge und erkennendem Propheten als Sinnbild für den Moment der Erkenntnis und der endzeitlichen Offenbarung auf der anderen Seite sind in Vellern diese beiden Hauptaussagen an einen Angelpunkt, der Figur Simeons, zusammengeführt. Am Propheten lässt sich durch seine Hinwendung zur Taufszene und die Stellvertreterposition für den Täufer zum einen die Typologie des Initiationssakraments ablesen; zum anderen wird durch die Gegenüberstellung von Simeon und Synagoge am dreidimensionalen Taufbecken die Thematik des Erkennens/Nichterkennens vergegenwärtigt. Letzteres kommt hier ohne die Darstellung der endzeitlichen Entschleierung der Synagoge aus, da Simeon – wie das Bildgleichnis von Sélincourt verdeutlicht – ebenso wie die Synagoge als Sinnbild für Offenbarung wahrgenommen werden konnte. Für eine Austauschbarkeit der zu erleuchtenden Bildperson spricht auch, dass sich analog zur revelatio synagogae beispielsweise auch das ältere Motiv der revelatio moysis in der mittelalterlichen Exegese nachweisen lässt.19 Die Chorfenster von der Abteikirche Saint-Denis in Paris beispielsweise zeigen beide Abwandlungen dieses Entschleierungsmotivs – die revelatio synagogae und die revelatio moysis – in capite

18 Vgl. Hoffmann (Anm. 14), S. 60. 19 Die revelatio moysis begegegnet beispielsweise bereits im Apokalypsekommentar des frühchristlichen Theologen Victorinus von Pettau, Scholia in Apocalypsin beati Joannis, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 5, Sp. 317–344, hier Sp. 327f.; vgl. Hoffmann (Anm. 14), S. 59, 63.





Simeon am Taufbecken von Beckum-Vellern 

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Abb. 6: Beckum-Vellern, Taufbecken, Inschrift am oberen Beckenrand: + VAS BABTIZALE GENERAT VAS SPIRITVALE DAT PATER HOC VERBVM QVOD COMPLET SP(IRITV)S ALMVS – „Das Taufgefäß erschafft das geistige Gefäß. Der Vater gibt dieses Wort, das der segenspendende Geist erfüllt“ (Aufnahme und Gestaltung Widmaier/Gerhardt 2014).

ecclesiae.20 Wittekind hat zudem darauf aufmerksam gemacht, dass auch die Art der Entschleierung in unterschiedlichen Formen verbildlicht werden konnte.21 Möglicherweise ist im Falle des Vellerner Beckens analog zum eben Ausgeführten eine Art revelatio simeonis gemeint. Das Motiv wäre die endzeitliche Offenbarung an das Judentum, vertreten durch jenen Repräsentanten des Alten Bundes, dem ein Offen­ barungsmoment zugesprochen werden kann, und der im historischen Umfeld des Klosters Liesborn verehrt wurde. Die Darstellung des Propheten referiert damit sowohl auf die typologische Verschränktheit der Initiationssakramente des Alten und Neuen Bundes sowie auf das Motiv der eschatologischen Erleuchtung oder Offenbarung. Letzteres ist dabei im Kontext der Funktionsmetaphorik der Taufe zu verstehen, welcher als am Menschen vollzogener sakramentaler Akt ebenfalls eine Erkenntnisfunktion für den Täufling zugeschrieben wird. Auch die gezeigte Typologie der Initiationsriten setzt letztlich

20 Zur Verteilung der Fenster im Chor der Abteikirche vgl. Hoffmann (Anm. 14), S. 76; zur Deutung der Baukonzeption s. Büchsel (Anm. 15); ders., Licht und Metaphysik in der Gotik. Noch einmal zu Suger von Saint-Denis, in: Ernst Badstübner u.  a. (Hgg.), Licht und Farbe in der mittelalterlichen Backsteinarchitektur des südlichen Ostseeraums (Studien zur Backsteinarchitektur 7), Berlin 2005, S. 24–37. 21 So finden sich auch Darstellungen, die zwar einen Schleier, gleichzeitig aber auch die Augen der Synagoge zeigen, vgl. Susanne Wittekind, Altar – Reliquiar – Retabel. Kunst und Liturgie bei Wibald von Stablo (Pictura et poesis 17), Köln 2004, S. 112f., 115, 119.



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am Funktionskontext des Artefaktes, dem Sakrament der Taufe an. An beiden Taufbecken lässt sich das vorliegende Programm als Metaphorisierung im funktionalen Zusammenhang der Taufe verstehen. In Vellern tritt noch die inschriftliche Ausgestaltung hinzu, die im Falle des Taufbeckens von Sélincourt ausbleibt (Abb. 6).22

2.3 Intermedialität Der erste Teil der Inschrift verweist auf das gestalterische Potential des Artefaktes, denn das Taufgefäß erzeugt ein ‚Gefäß des Geistes‘. Die im Taufakt vollzogene Einwohnung des Heiligen Geistes in das Gefäß des Täuflings (Joh  14,17–23) wird so nicht nur im Bild der Jordantaufe begreifbar, sondern auch auf der Inschriftenebene beschrieben (vgl. Abb.  1). Es ist bemerkenswert, dass durch bestimmte Text-BildVerhältnisse eine intermediale Lesbarkeit ermöglicht wird. Das Wort vas babtizale befindet sich beispielsweise direkt oberhalb der Ecclesia, welche einen Kelch in ihren Händen trägt. Letzterer ist nicht nur als Verweis auf die Eucharistie, sondern ebenso als Abbreviatur eines Taufbeckens lesbar.23 Die hier generierte Aussage lässt sich mit der Intention einer Darstellung aus dem ‚Liber Floridus‘ vergleichen, in der Christus zwischen Ecclesia und Synagoga dargestellt ist. Während in der pejorativen Ausgestaltung der Synagoge der Höllenschlund zugeordnet wird, ist der Ecclesia ein kelchförmiges Taufgefäß anbei gestellt (Abb. 7). Nicht nur findet auch im Codex dieses dargestellte Gefäß eine formale Entsprechung im Kelch in den Händen der gezeigten Ecclesia, sondern es wird dort gleichsam durch einen beigegebenen Schriftzug auf den inhaltlichen Zusammenhang zwischen Taufbecken und Kirche verwiesen: fons patens ecclesia. In ähnlicher Form verweist am Taufbecken von Vellern die räumliche Nähe der entsprechenden Text- und Bildstelle auf den inhaltlichen Zusammenhang von Taufe und Ecclesia sowie von Taufe und Eucharistie. Ebenso entspricht das inschriftlich präsentierte vas spirituale der direkt darunter gezeigten Geisteinwohnung der Taufszene (Abb.  1). Auf das gestalterische Potential des vas babtizale wird jedoch erst durch das zugeordnete Verb hingewiesen. Dass dieses generat dabei in räumlicher Nähe direkt oberhalb der Synagoge verortet ist, lässt auch an jener Stelle eine kombinatorische Lesbarkeit zu, welche die Text- sowie die Bildebene (ähnlich wie im ‚Liber Floridus‘) um einen weiteren Sinnzusammenhang ergänzt. Obgleich in der Handschrift die Gestalt der Synagoge in pejorativer Ausgestaltung erscheint, wird die Aussage des Bildes im Gesamtzusammenhang des Folioblattes

22 Für die Hinweise und Hilfestellungen danke ich Frau Jitka Ehlers M.A. sowie Frau Dr. Helga Giersiepen vom Projekt der Deutschen Inschriften, Arbeitsstelle Bonn. 23 Zum Zusammenhang von Taufbecken und Kelch vgl. Victor H. Elbern, Der eucharistische Kelch im frühen Mittelalter, Berlin 1964, S. 117.





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Abb.7: Gent, Universiteitsbibliotheek, ‚Liber Floridus‘ des Lambert von St. Omer, Ms. 92, fol. 253r: Christus zwischen Ecclesia und Synagoge, darunter Stammbaum Jesu, um 1121.

ergänzt. Dort ist unter der Darstellung jene christliche Stammlinie, die Generatio Christi, verschriftlicht, welche die Vorfahren Jesu aus dem Stamm Juda auflistet. In der Gesamtzusammenstellung wird so die pejorative Semantisierung der Synagogendarstellung durch die genealogische Sichtweise der christlichen Tradition relativiert, da diese gerade das Judentum als Ausgangspunkt Jesu impliziert. Es stellt sich hier die Frage, ob nicht auch in Vellern aufgrund des vorliegenden Text-Bild-Verhältnisses von der Synagogendarstellung und dem Schriftzug generat – in ganz ähnlicher Weise – diese genealogischen Sinnzusammenhänge vom theologisch geschulten Betrachter generiert werden sollten. Vor allem der inschriftlich vollzogene genealogische Bezug auf das Judentum ergänzt dabei das Motiv einer typologischen Verbindung der Initiationssakramente zwischen Altem und Neuem Bund. Auf der Verständnisebene einer reinen Bildrezeption bleibt die antithetische Anordnung von Ecclesia und Synagoga im Rahmen der Taufe bestehen.24 Auch der typologische Verweis Simeons wird – da er als Täufer Johannes verstanden wird  –

24 Eine ähnliche Bildkonzeption zeigt beispielweise das dritte aus dieser Zeit erhaltene Taufgefäß, das Taufbecken von Southrop (GB). Hier ist zwischen Ecclesia und Synagoge Moses gezeigt und als Gegenpaar mit einer Tugend-Laster-Reihe kombiniert worden, vgl. hierzu Colin Stuart Drake, The Romanesque fonts of northern Europe and Scandinavia, Woodbridge u. a. 2003, S. 18 u. Bildtafel 24.



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auf dieser Verständnisebene kaum rezipiert worden sein. Obgleich also auch der Verständnisebene der Bilder eine durchaus spezifische Deutungskompetenz des Artefaktes zugesprochen werden kann, bleibt die Inschrift Schlüssel zum typologischen Modell desselben. Während der erste Teil dieser Inschrift die beiden Doppelarkaden der Personifikationen sowie der Taufe überspannt, bleibt der zweite Teil der Inschrift räumlich den Doppelfeldern der Patronatsheiligen sowie der Verkündigung zugeordnet. Eine direkte Verbindung zwischen Inschrift und Bild ist dabei weniger eindeutig. Eine Auslegung der Inschrift im theologischen Zusammenhang scheint vonnöten. In diesem Sinne verstanden, liefert der Inschriftenabschnitt einen generelleren Hinweis auf die göttliche Offenbarung: Denn nur durch Christus, das fleischgewordene Wort, erlangt der Mensch im Heiligen Geist Zugang zu Gottvater und wird so der göttlichen Natur teilhaftig (vgl.  Eph  2,18; 2  Petr  1,4). In diesem Sinne gelesen, lässt sich die Offenbarungsthematik auch auf der Bildebene in den beiden gezeigten Offenbarungs­ momenten von Simeon und Maria anführen. Beide Szenen sind durch jene biblisch tradierten Worte verbunden, die Simeon selbst im Tempel Maria offenbart.25 Dass sich jener Hinweis auf die göttliche Offenbarung dabei inschriftlich auf einem Taufbecken eingetragen findet, bezeugt zudem die Verbindung von Taufe und Offenbarung des Getauften. Denn Letzterer wird mit Christus, dem fleischgewordenen Wort, im Heiligen Geist getauft und wird so der göttlichen Natur teilhaftig. Das theologische Programm des Vellerner Taufbeckens begründet eine inhaltlich schlüssige Zusammenstellung von Bildgruppen und Inschriftenabschnitten, die sowohl auf eschatologischen und auch sakramententheologischen Vorstellungen der Zeit beruhen. Zum einen handelt es sich um eine rein innerchristliche eschatologischdogmatische Auseinandersetzung mit dem Judentum, die jedoch als ethischen Belehrung auch auf jenen christlichen Sünder angewendet werden kann, für den die zum Heil zurückkehrende Synagoge – im Zuge der endzeitlichen revelatio-Meta­phorik  – als Exempel dient.26 Zugleich liefert das Taufbecken ein typologisches Verweis­system, welches das personifizierte Judentum als Antitypus aufgreift und in diesem Zusammenhang auch den Initiationsritus des Alten Bundes in Beziehung zum Taufsakrament selbst stellt. Ein wichtiger inhaltlicher Bezugspunkt ist dabei die Darstellung des Propheten Simeon, der sich anstelle des Johannes als Täufer zur Taufszene wendet.

25 Vgl. Lk 2, 34–35, zit. nach: Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel, hrsg. v. Alfons Deissler, Freiburg, Basel, Wien 2007, S. 1463: „Dieser ist bestimmt, daß in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird […]. Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen.“ 26 Im geistlichen Spiel des ‚Ludus de Antichristo‘, der wohl um die Mitte des 12. Jhs. verfasst wurde, sind Ecclesia und Synagoge beispielsweise den guten Gläubigen und den irrenden Sündern zugeordnet. Die Gestalt der Synagoge fungiert in diesem Zusammenhang für Letztere als positives Exempel, da sie den Prozess von Reue und Glaubensgewinnung vor Augen stellt, vgl. Wittekind (Anm. 21), S. 113.





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2.4 Liturgische Zusammenhänge Im Kontext der sowohl von der Inschrift betonten als auch durch die sakramentale Handlung realisierten Wirkung des Heiligen Geistes wird so ein Offenbarungs­ moment begreifbar. Die Erleuchtung des Vellerner Simeons entspricht der Wirkung des Taufaktes auf den Täufling. Die allegorische Interpretation des Taufbeckens setzt dessen Programm in den Kontext der sakramentalen Metaphorik, welche in den liturgischen Praktiken am Taufgefäß, in der Handlung und dem gesprochenen oder gesungenen Wort in Erscheinung tritt. Die liturgische Metapher der Erleuchtung, in deren Sprachgebrauch die Taufe als inluminatio und Christus als Erleuchtender erscheint, fußt auf biblischem Ursprung und findet sich bereits bei Ambrosius von Mailand.27 Gerade die liturgische Ausgestaltung des Pfingstfestes, die das Wirken des Heiligen Geistes vergegenwärtigt, scheint am Taufbecken in besonderer Form eingetragen worden zu sein. Nach der Evangelien­lesung der Pfingstvigil schließt sich das Offertorium zur Aussendung des Heiligen Geistes, das Emitte Spiritum tuum an.28 Rupert von Deutz bezieht sich in diesem Zusammenhang direkt auf den Geistempfang des Taufaktes. Dass der erleuchtete Simeon am Taufbecken nicht nur in Verbindung mit der Taufe, sondern ebenso mit der Personifikation Synagoge gestellt worden ist, verweist auf die eschatologische Wiedereingliederung von Heidentum und Judentum, wie sie die Liturgie in der Pfingstzeit ritualisiert.29 Im Zuge der Exegese der Sieben Gaben des Heiligen Geistes kommt Rupert auf die endzeitliche revelatio zu sprechen, wie sie als Allegorie auch am Taufbecken verbildlicht wurde. Es sind dabei vor allem das Offizium des sechsten Tages der Pfingstwoche sowie jenes des Quatembersamstages, die er explizit mit der eschatologischen Eingliederung von Judentum und Heidentum in Verbindung setzt.30 Es bleibt in diesem Zusammenhang anzumerken, dass die Kombination der ­Patronatsheiligen am Vellerner Taufbecken gerade diese Gruppen repräsentieren könnte. Denn während Simeon als Prophet ein Vertreter des Alten Bundes – und damit des Judentums – darstellt, könnte der Heilige Pankratius, ein römischer Edelmann, als ein zum Christentum konvertierter Heide angesehen worden sein. Bemerkenswert bleibt weiterhin, dass gemäß Ruperts Auslegung auch diese zur eschatologischen Wiederaufnahme bestimmten Völker im Gleichnis mit den beiden Blinden des

27 Alexander Zerfass, Mysterium mirabile. Poesie, Theologie und Liturgie in den Hymnen des Ambrosius von Mailand zu den Christusfesten des Kirchenjahres (Pietas liturgica. Studia 19), Tübingen 2008, S. 160f. 28 Rupert von Deutz (Anm. 17), Bd. 3, S. 1264: Hoc enim alio Paracleto dato, hoc Spiritu emisso ‚creatur‘ homines novi et sic renovatur facies terrae nostrae, quae maledicta est in peccato Adae […] usque dum in illa revelatione filiorum a baptismi gratia concepit. 29 Ebd., Bd. 3, S. 1352. 30 Ebd., Bd. 3, S. 1352, 1356.



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Evangeliums (Mt 20,29–34) beschrieben werden.31 Es findet sich also auch in Ruperts Auslegung der Wirkung des Heiligen Geistes am Pfingstfest das Motiv der Erkenntnis eingeschrieben.32 Dass am Taufbecken explizit die Erkenntniswirkung – im Sinne der baptismalen Erleuchtung – verbildlicht worden ist, könnte darüber hinaus auch in der Erleuchtungsmetaphorik Widerhall finden, welche die Laudes des Auferstehungsoffiziums zeigen. Ebenso ist auf die Zeit der Septuagesima zu verweisen, die Zeit der ursprünglichen präbaptismalen Skrutinien. Ruperts kurze Beschreibung des „Offiziums des vierten Wochentages“ greift bemerkenswerterweise sehr ähnliche Sinnbilder auf, wie sie auch das Taufbecken medialisiert. Sowohl das Motiv der Blindheit (caecus a navitate genus) als auch die Formel Christi als Wort Gottes mitsamt dem Bild der Einflößung des Heiligen Geistes in den jungfräulichen Schoß (Verbum suum eructavit cor eius in terrenum uterum Virginis) und die Taufe (Cum autem ita catechizatus idem caecus ad sacros fontes pervenit et lavatur fonte visibili purificaturque virtute invisibili) werden am Taufbecken visualisiert.33 Das Sinnbild vom Speichel auf den erblindeten Augen verweist dabei auf die priesterliche Salbung des Täuflings mit Speichel an Augen, Nase und Ohren im Zuge präbaptismaler Riten. Das Bildprogramm legt jedoch noch einen weiteren Schwerpunkt: Die Figur des Simeon und die mit ihm assoziativ verknüpfte Szene der Darbringung im Tempel ­verweist auf das Fest Maria Lichtmess. Gerade hier spielt die liturgische Lichtmetaphorik im Sinne der Erleuchtung und Offenbarung eine entscheidende Rolle. Am Beginn des bischöflichen Ordo wird daher das Gebet Domine Jesu Christe, lux vera angeführt, in welchem der Orant um die Erleuchtung durch den Heiligen Geist zur Befreiung von Sündenblindheit und um die Verleihung des Geistauges zur Erkenntnis des Heils bittet.34 Dies könnte ebenso eine prägende Rolle bei der Konzeption des Liturgiegerätes gespielt haben. Im Zuge der liturgischen Praktik versinnbildlicht das Tragen von Kerzen das Tragen des unverfügbaren Leibes Christi durch Simeon. Rupert von Deutz verweist in diesem Zusammenhang auf die Worte des greisen Propheten, dass „du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel“ (Lk 2,31–32).35 Gleich dem Propheten soll der Gläubige jenes Licht

31 Ebd., Bd. 3, S. 1357. 32 Ebd., Bd. 3, S. 1246f.: In quibusdam tamen evangeliis vel his, quae ad introitum officiorum vel qae dicuntur in offerendis, non adeo liquet in superficie litterae, quod personam vel propriam sancti Spiritus operationem praedicent, sed si perscrutemur et ut ad latentia grana perveniamus spicas minibus confricemus, cunta ad illius operationem atque ad baptizatorum competentem pertinere patebit ­instructionem. 33 Ebd., Bd. 2, S. 611f. 34 Vgl. Wittekind (Anm. 21), S. 115. 35 Zitiert nach ‚Neue Jerusalemer Bibel‘ (Anm. 25), S. 1463.





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mit den Armen des Herzens umschließen, für das die Kerze als sichtbares Zeichen fungiert.36 Die liturgische Inszenierung im Zuge von Mariä Lichtmess verweist zudem auf die an diesem Fest vollzogene Lichterprozession der Kanoniker und der Gemeinde, für welche die Erleuchtungsrhetorik in der Offenbarungsrede Simeons grundlegend gewesen ist. Im Kloster Liesborn ist eine solche Simeonsprozession für nachmittel­ alterliche Zeit nachweisbar, für die – vor dem Hintergrund des bereits hochmittelalterlichen Simeonskults – von einer langen Tradition ausgegangen werden könnte. Mag im Verlauf einer solchen Prozession, in der der Simeonsschrein durch das Liesborner Kirchspiel getragen und dabei auch – wie schon Müller bemerkte – bis an die Grenzen (Schnad) desselben geführt wurde, auch ein Besuch des Vellerner Tauf­ beckens begangen worden sein?37 Das Taufbecken von Vellern bleibt nach Ausweis seiner theologischen Konzeption einem intellektuellen Kreis von Experten geschuldet, wird aber, in der hier angenommenen Verortung in der Dorfkirche von Vellern, einem weiteren Rezipientenkreis zugänglich gewesen sein. Auch für jene Nicht-Experten kann zwar von einer Vermittlung bestimmter intermedialer Inhalte im Zuge der liturgischen Praktik und der Predigt ausgegangen werden, doch werden dabei sicher nicht alle in der Konzeption gesetzten Implikationen eine Betrachtung gefunden haben. Es zeigen sich also auf den verschiedenen Rezeptionsebenen je eigene und durchaus spezifische Deutungskompetenzen des Artefaktes, welche ganz unterschiedliche Zugriffe auf das Judentum aus innerchristlicher Perspektive ermöglichen.

36 Rupert von Deutz (Anm. 17), Bd. 2, S. 496: Hoc enim signo commoniti exterius ipsum verum lumen, quod illuminat omnem hominem venientem in hunc mundum, in mente nostra fidei ulnis arctius astringimus et absentiam eius corporalem sursum tendentibus desideriis gementes quaerimus, quaerentes gemimus […] Eius igitur visibile signum portamus omnes in manibus, quem iam visibiliter portare sicut Simeon nec necesse habemus nec possumus. 37 Zur Prozession vgl. Helmut Müller, Das Kanonissenstift und Benediktinerkloster Liesborn (Das Bistum Münster 5), Berlin u. a. 1987, u. a. S. 120f.



Tünde Radek (Budapest)

vor e sü [Ungern] cristen wurdent, do hiessent sü die Hünen. Zur Rolle von Abstammungstheorien im Ungarnbild volkssprachiger Chroniken des Mittelalters Abstract: In den genealogischen Darstellungen Christi versinnbildlicht zwar die Person des gemeinsamen Stammvaters Abraham eine friedliche Koexistenz von Muslimen, Juden und Christen, aber in den erzählenden historiographischen Texten überwiegen die (be)wertenden Unterscheidungen zwischen Christen, Juden und Heiden und ihre Mechanismen (besonders Christozentrismus). Im mitteleuropäischen Raum konnte die Begegnung von Kulturen, der Zusammenstoß der eurasiatischen Reiternomadenkultur mit den westeuropäischen, ansässigen, Ackerbau treibenden Kulturen im Laufe der Geschichte mehrmals beobachtet werden. In diesen Rahmen fügt sich auch die Geschichte der Ungarn ein. Unter den europäischen Völkern des Mittelalters nimmt dementsprechend die Beurteilung des Heidnischen/des Christ­ lichen der Ungarn einen besonderen Platz ein. Im vorliegenden Aufsatz wird gerade dieses ‚Besondere‘, der Blick auf das Andere und dessen mögliche Hintergründe mit besonderer Rücksicht auf die Darstellung der Abstammungstheorien der Ungarn ins Zentrum der Untersuchungen gestellt.

1 Einleitung Nicht nur das Judentum und der Islam halten Abraham für ihren Stammvater im Alten Testament, sondern auch im Neuen Testament erscheint Abraham im Stammbaum Christi, was auch in die Darstellungen über die Genealogie Christi der mittelalter­ lichen – sowohl der lateinischen als auch der volkssprachigen – Chronistik Eingang gefunden hat. Ein hochinteressantes Beispiel für die Darstellung der Genealogie Christi bieten unter anderen – anhand der lateinischen Vorlagen im Rotulus-Format – die deutschsprachigen Codices der ‚Weltchronik‘ von Johannes de Utino aus der Mitte des 15.  Jahrhunderts (um 1460).1 Im bibelgeschichtlichen Teil dieser Weltchronik,

1 Zum heute bekannten Handschriftenbestand siehe Tünde Radek, Johannes de Utino „Világkrónikájának“ kéziratai (14–15.  század) és a német nyelvű kéziratok provenienciája [Zu den Handschriften der „Weltchronik“ von Johannes de Utino (14.–15. Jh.) und zur Provenienz der deutschsprachigen Handschriften], in: Magyar Könyvszemle [Ungarische Bücherschau, Zeitschrift der Buch- und Pressegeschichte in Ungarn] 129 (2013), S. 1–22. Zum Stemma der Handschriften kann z. Zt. noch nicht viel ausgesagt werden. Die älteste bekannte lateinische Hs. des Johannes de Utino, ein Rotulus (dessen



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beim Blättern in den Codices – genauso als ob man einen Rotulus von oben nach unten bzw. von links nach rechts rollen würde2 – entfaltet sich in der Mitte der Blätter eine Stammlinie von Adam bis Christi Geburt zum Teil nach Lk 3,23–8, zum Teil nach Mt  1,1–17.3 Die genealogische Kontinuität zwischen Adam, Abraham und Christus wird durch die mit Linien erfolgende Verbindung der zentral platzierten Medaillons4 zum Ausdruck gebracht. Jedoch wird demonstrativ die Abstammung Christi aus dem königlichen Geschlecht (Haus David) hervorgehoben.5 Ebenfalls im bibelgeschichtlichen Teil bekamen heidnische Herrscher einen Platz und zeigen damit, wie sich Heilsgeschichtliches und Weltgeschichtliches zu einem Ganzen verweben können. Auf den bibelgeschichtlichen Teil der Chronik folgt eine Papst-Kaiser-Chronik, wobei sowohl den Päpsten als auch den Kaisern – genauso wie im bibelgeschichtlichen Teil – Medaillons zugeordnet werden. Auch wenn die Medaillons hier nicht mit Linien verbunden werden, so weist die zentrale Lage der Papstmedaillons doch eine Art Kontinuität auf zwischen diesen selbst und dem die Genealogie Christi abschließenden Bild, so dass die Päpste als Statthalter Christi erscheinen. In einigen der (sowohl lateinischen wie deutschsprachigen) Handschriften der JdU wurde ergänzend auch eine Chronik der ungarischen Könige aufgenommen, in der die Könige, wahrscheinlich als Fortsetzung der vorigen Teile der Weltchronik, ebenfalls Medaillons erhielten. Dass die Chronik der ungarischen Könige, die im Vergleich mit den anderen europäischen Königreichen hervorgehoben wird, als abschließender Teil der Weltchronik dienen konnte, kann mit der Bedeutung des ungarischen Königreiches unter der Herrschaft von Matthias Corvinus (1458–1490) in Zusammen-

eingehende Untersuchung schon im Gange ist), wurde mit der Jahreszahl 1338 versehen. Die Ausgabe von drei lateinischen und drei deutschsprachigen Handschriften der ‚Weltchronik‘ von Johannes de Utino, die außer dem bibelgeschichtlichen Teil und der Papst-Kaiser-Chronik auch die Ungarnchronik enthalten, wird aktuell vorbereitet. Im vorliegenden Beitrag beziehe ich mich auf die Leithandschrift der deutschsprachigen Texte, die Berliner Handschrift (Be1) Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 947 (im Folgenden: JdU Be1). 2 Siehe dazu ausführlicher Tünde Radek, Középkori történetírás és képi ábrázolás. Johannes de Utino „Világkrónikájának“ német nyelvű kéziratai (15. század) [Mittelalterliche Historiographie und bildliche Darstellung. Die deutschsprachigen Handschriften der Weltchronik von Johannes de Utino aus dem 15. Jh.], in: Ars Hungarica 39, 1–2 (2013; Liber decorum. Wehli Tünde köszöntése), S. 174–187. 3 Siehe dazu auch Gert Melville, Geschichte in graphischer Gestalt. Beobachtungen zu einer spätmittelalterlichen Darstellungsweise, in: Hans Patze (Hg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, S. 57–153; Norbert H. Ott, Text und Bild – Schrift und Zahl. Zum mehrdimensionalen Beziehungssystem zwischen Texten und Bildern in mittelalterlichen Handschriften, in: Ulrich Schmitz u. Horst Wenzel (Hgg.), Wissen und neue Medien, Berlin 2003, S. 57–91, hier S. 61–65. 4 Radek (Anm. 2), S. 179–182. 5 JdU Be1 (Anm. 1), fol. 19v; über dem Medaillon König Davids steht: Dauit Rex vnd bey dem Dauit heben sich an die kunig in Israhel von dem geslacht Juda.



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hang stehen, oder aber auch mit einer möglichen Entstehung der jeweiligen Handschriften in Ungarn.6 Die Hervorhebung der ungarischen Geschichte und die Beschäftigung mit den Geschehnissen im Königreich Ungarn im Mittelalter erfolgten aber nicht nur in diesem Korpus, sondern auch in anderen, sowohl lateinischen als auch deutschsprachigen Chroniken.7 Das Interesse der Historiographen für die Ungarn und für die ungarische Geschichte konnten – um nur einige Meilensteine zu nennen – zunächst einmal die Streifzüge der Ungarn nach Mittel- und Westeuropa im 9. und 10. Jahrhundert geweckt haben, die Christianisierung der Ungarn und ihr mehrmaliger Rückfall ins Heidentum, die dynastischen Beziehungen zu Familien des Westens (Stephan I. „der Heilige“ und seine bayerische Frau Gisela) oder die Rolle Matthias Corvinus’ (1458–1490) und seine Kämpfe gegen Kaiser Friedrich (1452–1493) sowie die Eroberung Wiens durch Matthias (1485); schließlich ist auf die Türkenkriege hinzuweisen und auf die Rolle Ungarns als „letztes Bollwerk des Christentums“.8 Auch wenn die oben erwähnte, bildliche Darstellung der Genealogie Christi in der Person des gemeinsamen Stammvaters Abramham eine friedliche Koexistenz von Muslimen, Juden und Christen versinnbildlicht, zeichnet sich zugleich eine Ambivalenz ab: Christen, Heiden und Juden werden eben doch voneinander unterschieden, und das kommt insbesondere in der Papst-Kaiser-Chronik bereits in der bildlichen Darstellung der einzelnen Herrscher zum Ausdruck. Während die christlichen Kaiser eine geschlossene, Mitra-ähnliche Krone mit einem Kreuz darauf tragen, erhalten die heidnischen Herrscher – wie eine Reminiszenz an die Kreuzzüge – unter einer ähn­ lichen Krone eine breite, turbanartig um die Stirn gelegte Wollbinde, an der oben eine stilisierte Perle oder Lilie zu finden ist. Außerdem bildet ein Harnisch die Kleidung der heidnischen Kaiser, während die christlichen Herrscher im Ornat abgebildet werden. Auch in anderen volkssprachigen Chroniken lassen sich nur noch blasse Spuren einer gemeinsamen Abstammung der drei Glaubensvorstellungen erkennen. In ge­wisser Hinsicht wäre Jans Enikel ein Beispiel dafür, der in seiner ‚Weltchronik‘ (im Folgenden: JEWchr)9 vor der Beschreibung seines Sprachenspiegels darauf hinweist, dass die Sprache der Christen, der Juden und der Heiden auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehe,10 auch wenn er anschließend mit der Unterscheidung der

6 Siehe dazu die Umstände der französischen Übersetzungen in Radek (Anm. 1), S. 10. 7 Tünde Radek, Das Ungarnbild in der deutschsprachigen Historiographie des Mittelalters (Budapester Beiträge zur Literaturwissenschaft 12), Diss. Frankfurt a. M. u. a. 2008. 8 Josef Turóczi-Trostler, Zum weltliterarischen Streit um den ungarischen Charakter, Budapest 1939. 9 Jansen Enikel, Weltchronik, in: Jansen Enikels Werke, hrsg.  v. Philipp Strauch (MGH Deutsche Chroniken 3), Hannover, Leipzig 1900, S. 1–596. 10 JEWchr (Anm. 9), S. 533–538, vv. 27376–27377, 27396–27652.





Zur Rolle von Abstammungstheorien im Ungarnbild volkssprachiger Chroniken 

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Sprache der Christen, Juden und Heiden fortfährt.11 Statt einer Betonung dieser Art von Gemeinsamkeit dominieren viel mehr die (be)wertenden Unterscheidungen und ihre Mechanismen zwischen Christen, Juden und Heiden. Auf der Grundlage der Belege in den deutschsprachigen Chroniken des Mittelalters kann festgestellt werden, dass Juden, Christen und Heiden in Bezug auf den Glauben voneinander abgegrenzt erscheinen.12 Den Heiden werden vor allem die Muslime zugerechnet, aber auch sonst alle, die noch nicht oder nicht mehr den christlichen Glauben pflegen, wie die Völker des klassischen Altertums oder die ‚christlichen Häretiker‘. Unter den europäischen Völkern des Mittelalters nimmt die Beurteilung der Ungarn diesbezüglich einen besonderen Platz ein: In meinem Beitrag will ich dieses ‚Besondere‘, den Blick auf das Andere und dessen mögliche Hintergründe mit einem besonderen Akzent auf die Darstellung der Abstammungstheorien der Ungarn in den Vordergrund rücken.

2 Der heidnische Aspekt und die Abstammungstheorien der Ungarn Was das Heidentum der Ungarn betrifft, so können diese der Kategorie jener ‚die den christlichen Glauben noch nicht pflegen‘ zugeordnet werden; darüber hinaus wird über ihre Glaubensvorstellungen, wie Schamanismus oder über die ungarische Ur­religion, kein Wort gesagt.13 Größere Bedeutung erhielt zunächst die Beschreibung des Bekehrungsprozesses der Ungarn zum christlichen Glauben: Geschichtliche Quellen zeugen davon, dass die ungarischen Anführer bei der Bekehrung des Landes die Möglichkeit hatten, zwischen der byzantinischen Kirche des Ostens und der römischen Kirche des Westens zu wählen. Wie bekannt, entschied sich Fürst Géza (971– 997) aus triftigen Gründen für die lateinische Kirche. Wenn wir aber die Etymologie des ungarischen Wortes kereszt14 (Kreuz) verfolgen, können wir einen nicht geringen Einfluss des Slawischen entdecken, während bei den deutschen Entsprechungen Entlehnungen15 aus dem Latein dominieren.16

11 Zu weiteren Ansichten über die 72 Sprachen und Geschlechter siehe Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Bd. 3, 1: Umbau, München 1995, insbes. S. 1015–1024. 12 Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16 Bde., Leipzig 1854–1961, Bd. 10, Sp. 799– 802. 13 Vilmos Diószegi, Samanizmus, Budapest 1962; ders., A honfoglaló magyarság hitvilágának történeti rétegei. A világfa, Budapest 1969. 14 Lóránd Benkő (Hg.), A magyar nyelv történeti-etimológiai szótára 2. k., Budapest 1970, S. 457f. 15 Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. von Elmar Seebold, 23. Aufl. Berlin, New York 1999, S. 486, 817, 154. 16 Dt. Kreuz < lat. crux, dt. taufen < got. daupjan, dt. Christ < lat. christianus.



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Die Bekehrung der Ungarn wird unterschiedlichsten Personen zugeschrieben, als ob es diesbezüglich um einen ‚edlen Wettstreit‘ gegangen wäre. Die erste ‚Bekehrungswelle‘ kann auf Karl den Großen zurückgeführt werden;17 in anderer Lesart wird Arnulf (Kaiser ab 896) der ‚Kaiserchronik‘ (im Folgenden: Kchr) zufolge deswegen des kaiserlichen Titels würdig.18 Nach der ‚Sächsischen Weltchronik‘ (im Folgenden: SW) wird Heinrich  I. (919–936) nach dem großen Sieg über die Ungarn van den vorsten unde van allen Dudischen herren keiser unde augustus [beropen] unde des landes vader geheten.19 In der Beschreibung der Taten Heinrichs II. (Kaiser von 1014–1024) gilt die Bekehrung der Slawen, danach jene der Ungarn, als eine seiner christlichen Bestrebungen, auf die er am meisten Mühen verwendete.20 Heinrich II. erscheint nicht nur in seiner Qualität als Herrscher, der den ungarischen König Stephan I. zum christlichen Glauben bekehrt,21 sondern auch als Bruder von Gisela, die Stephan I. zur Gemahlin erhielt.22 Selbst Gisela wird als Bekehrerin der Ungarn dargestellt.23 Die Bekehrung der Ungarn wird zuweilen auch auf Taten ungarischer Herrscher zurückgeführt: Nach der ‚Ungarnchronik‘ des Heinrich von Mügeln (im Folgenden: HvMUchr) tritt bereits der Fürst Géza als Bekehrer seines Volkes auf.24 Aber auch dem König von Böhmen konnte diese Rolle zukommen, wie etwa in der ‚Pehemi-

17 JEWchr (Anm.  9), S.  501, vv.  25  673–25  676, hier vv.  25  675f.; s.  a. ebd., S.  502, vv.  25685–25689. Vgl. zur sog. religiös fundierten Reichsideologie auch Wolfgang Haubrichs, Von den Anfängen zum hohen Mittelalter, Teil 1: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60) (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 1, 1), Tübingen 1995, S. 57. 18 Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hrsg.  v. Edward Schröder (MGH Deutsche Chroniken 1,1), Hannover 1892, ND 1964, S. 79–392, hier S. 362, vv. 15 552f. 19 Sächsische Weltchronik, hrsg. v. Ludwig Weiland, in: MGH Deutsche Chroniken 2, Hannover 1877, S. 1–384, hier S. 160, Z. 22f. 20 Kchr (Anm. 18), S. 373, vv. 16 173–16 177. 21 Johann Statwechs Prosa-Chronik, hrsg. v. Gottfried Wilhelm Leibniz (Scriptores Rerum Brunsvicensium 3), Hannover 1711, S. 263–276, hier S. 268 (im Folgenden: JS); s. a. Oberrheinische Chronik, älteste bis jetzt bekannte, in deutscher Prosa, aus einer gleichzeitigen Handschrift, hrsg. v. Franz Karl Grieshaber, Stuttgart 1850, S. 1–40, hier S. 21 (im Folgenden: OChr). 22 Jakob Twinger von Königshofen, Chronik (im Folgenden: JTvK), in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Bd. 8: Die Chroniken der oberrheinischen Städte. Straßburg 1 (S. 230–498); Bd. 9: Die Chroniken der oberrheinischen Städte, Straßburg 2 (S. 499–910), hrsg. v. Carl Hegel, Leipzig 1870–1871, hier Bd. 8, S. 427. 23 Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften, hrsg. v. Joseph Seemüller (MGH Deutsche Chroniken 6), Hannover 1909, S. 1–223, hier S. 87 (im Weiteren: LvW). Zur Rolle von Gisela bei der Bekehrung der Ungarn s. a. László Veszprémy, Német királylányból magyar szent, in: História 10 (2003), S. 33–35. 24 Chronicon Henrici de Mügeln Germanice conscriptum, hrsg.  v. Eugenius Travnik (Scriptores rerum Hungaricarum, tempore ducum regnumque stirpis Arpadianae gestarum 2, 3), Budapest 1938, S. 105–223, hier S. 135, Z. 8–13.





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schen Chronik‘ des Dalimil (im Folgenden: DalR und DalP).25 Es kommt aber auch vor, dass der ganze Christianisierungsprozess nur recht neutral erwähnt wird.26 Auch wenn die Ungarn zum christlichen Glauben bekehrt wurden und dies die Aufnahme in die ‚europäische‘ Christengemeinschaft oder in den ‚europäischen Kulturkreis‘ bedeutete, rief im Grunde das Schwanken der Ungarn zwischen ihrem Heidentum und dem Christentum immer wieder aufs Neue das Interesse der Chronisten hervor – so zum Beispiel in der DalR zur Herrschaft von Aba27 (1041–1044) oder bei Andreas und Levente,28 dann bei Béla I. (1060–1063) oder den Heidenauflehnungen unter Andreas I. (1047–1060).29 Zwar gingen auch aus den Reihen der Ungarn im Laufe der Zeit vorbildliche christliche Herrscher hervor (Stephan I., Ladislaus I. oder Béla II. und Béla IV.);30 hier sollen aber vor allem Stephan II. und Ladislaus IV. herausgestellt werden, welche die Kumanen den Ungarn vorzogen und zugleich eher die heidnische Lebensweise praktizierten. So wollte sich Stephan II. der ‚Ungarischen Chronik‘ von Hans Haug zum Freystein (im Folgenden: HHzF) zufolge nicht verheiraten, sonder begnuegt sich allein mit den ledigen weibern.31 Auch Ladislaus IV. verschmacht den eelichn stant und nahm der ‚Ungarnchronik‘32 des Jakob Unrest (im Folgenden: JUUChr) und der ‚Steirischen Reimchronik‘33 des Ottokar von der Gaal (im Folgenden: StRchr) zufolge heidnische Konkubinen zu sich. Im Mittelalter waren Theorien über die Abstammung der einzelnen Völker allgemein üblich, jedoch entwickelte sich auch die Vorstellung, dass die europäischen Völker gleicher Abstammung seien. Diese leitet sich von der Bibel her, vom Stammbaum der Söhne Noahs, über den in der Völkertafel in Genesis 9 und 10 berichtet

25 Dalimili Bohemiae chronicon. hrsg. v. Josef Jireček (Fontes rerum Bohemicarum 3), Prag 1878– 1882, S. 6–225 (Di tutsch kronik von Behem lant = DalR), S.  257–297 (Die pehemische Cronica dewcz = DalP), hier S. 105 (DalR). 26 SW (Anm. 19), S. 154, Kap. 141, Z. 16f. 27 DalR (Anm. 25), S. 105. 28 HvMUchr (Anm. 24), S. 163, Kap. 27, Z. 15–17. 29 JdU Be1 (Anm. 1), fol. 80ra; ähnlich in der HvMUchr (Anm. 24), S. 174, Kap. 33, Z. 2–5. 30 Einer der Vazul-Söhne, Levente (* um 1010, † 1046/1047), war aber heidnisch, s. HvMUchr (Anm. 24), S. 163, Kap. 27, Z. 15–17. 31 Hans Haug zum Freystein, Ungarische Chronik: Der Hungern Chronica inhaltend wie sie anfengk­lich ins land kommen sind | mit anzeygung aller irer Koenig | und was sie namhafftigs gethon haben. Angefangen von irem ersten Koenig Athila | und volfueret bis auff Koenig Ludwig | so um 1526 jar bey Mohatz vom Tuercken vmbkomen is. Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, Sig.: HSD: 4 H HUNG 4005 RARA. Da der Text nicht ediert ist, werde ich hier die Foliierung nach den Kustoden angeben; hier: fol. h v. 32 Jakob Unrest, Ungarische Chronik, hrsg.  v. Adolf Armbruster (Revue Roumaine d’histoire. Académie Roumaine, Section des Sciences Historiques et d’Archéologie 13, 3), Bukarest 1974, S. 473– 508, hier S. 497; ähnlich auch in der HvMUchr (Anm. 24), S. 209, Kap. 64, Z. 14–16. 33 Ottokars Österreichische Reimchronik. Nach den Abschriften Franz Lichtensteins hrsg. v. Joseph Seemüller (MGH Deutsche Chroniken 5, 1–2) Hannover 1890/1893, hier S. 322, vv. 24 408–24 425.



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wird. Die Dreiteilung der Erde entspricht eigentlich der biblischen Vorstellung, dass die Welt nach dem Tode Noahs unter dessen drei Söhnen aufgeteilt wurde. Das wurde aber erst in der Bibelexegese seit dem siebten Jahrhundert genauer ausgelegt: Noah habe seinen drei Söhnen die drei bekannten Erdteile zugewiesen.34 In der Chronik von Hans Ebran von Wildenberg (im Weiteren: HEvW)35 wird explizit ausgesagt, dass Europa mit der Christenheit gleichzusetzen sei,36 und die Ungarn werden im Rahmen der biblischen Genealogie unter den Nachkommen Japhets als ein in Europa ansässiges Volk erwähnt.37 HvMUchr zeugt auch davon, wie sich Elemente der biblischen Abstammung mit den solchen der Herkunftssage der Ungarn selbst vermischen können,38 wenn die Ungarn von Nemprot, Kana sun, aus dem samen Japhet und Oneth39 beziehungsweise aus den Ehen von Himor/Hunor und Magor40 sowie von den Töchtern des Fürsten Dule Alanorum hergeleitet werden.41 Die Linie Noah – Japhet – Kana – Nemprot steht aber im Widerspruch zur biblischen Abstammung Nemprots/Nimrods, die ihn als Nachkommen von Noah, Ham und Kusch ausweist. Diesen Widerspruch können wir nach unserem heutigen Wissen folgender-

34 Diese Zuordnung in der Bibelexegese schlägt sich auch in der volkssprachigen Chronistik nieder, s. z. B. Johann Rothe, Düringische Chronik, hrsg. v. Rochus von Liliencron (Thüringische Geschichtsquellen  3), Jena 1859, hier S.  27f., Kap.  23 (im Folgenden: JRWchr); Johannes Rothe, Thüringische Landeschronik und Eisenacher Chronik, hrsg. v. Sylvia Weigelt (Deutsche Texte des Mittelalters 87), Berlin 2007, hier S. 15f. (im Folgenden: JRLChr). Vgl. JdU Be1 (Anm. 1), fol. 7r–v; s. a. Borst (Anm. 11), S. 1957–1963. 35 Des Ritters Hans Ebran von Wildenberg Chronik von den Fürsten aus Bayern, hrsg. v. Friedrich Roth (Quellen und Erörterungen zur Bayerischen und Deutschen Geschichte, Neue Folge 2, 1), München 1905. 36 Ebd., S. 7, Z. 2f. 37 LvW (Anm. 23), S. 8, Kap. 15, Z. 12–15. 38 HvMUchr (Anm.  24), S. 106–109, Kap. 2. 39 Oneth ist in den lateinischen Texten wahrscheinlich mit Eneth/Enech/Enee (der Urmutter der Ungarn) zu identifizieren, die der Forschung zufolge mit dem Denotat ünő („Hinde“) in Verbindung zu bringen ist, s. György Győrffy, Krónikáink és a magyar őstörténet. Régi kérdések – új válaszok, Budapest 1993, S. 35–38, 204f. Die Hirschsage ist auch bei den Hunnen zu finden, s. Jordanes, Ge­ tica, hrsg. v. Theodor Mommsen (MGH Auctores antiquissimi 5, 1), Berlin 1882, S. 89–92, Kap. 24, wo der Hirsch als führendes heiliges Tier ebenfalls die Suche nach der neuen Heimat versinnbildlicht. Gyula Moravcsik, A csodaszarvas mondája a bizánci íróknál, in: Egyetemes Philológiai Közlöny 28 (1914), S. 280–292, 333–338, hier S. 282, hat darauf hingewiesen, dass in der hunnischen Hirschsage ein Hirsch (cervus) erscheint, während in der ungarischen eine Hinde (cerva) auftritt. In den deutschsprachigen Chroniken ist ebenfalls von einer hynden die Rede, siehe SW (Anm. 19), S. 129, Kap. 98, Z.  32–42; Die Weltchronik Heinrichs von München. Neue Ee, hrsg.  v. Frank Shaw, Johannes Fournier u. Kurt Gärtner (Deutsche Texte des Mittelalters 88), Berlin 2008 (im Folgenden: HvMWchr), S. 382–384, Kap. 76. 40 Ob die Hunnen von Hunor und die Ungarn von Magor abstammen, wird in der Chronik nicht thematisiert, s. Győrffy (Anm. 39), S. 11–17, 202–204, und Dezső Dümmert, Az Árpádok nyomában, Budapest 2003, S. 18–26. 41 Győrffy (Anm. 39), S. 202–204; Dümmerth (Anm. 40), S. 22f.





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maßen auflösen: Genauso wie Oneth (ung. Emese?) die Stammmutter der Ungarn sein könnte, so könnte Nemprot den Stammvater der Ungarn verkörpern. Dass dann Nemprot (ung. Ménrót?) doch dem biblischen Nimrod gleichgesetzt wurde oder ihn ersetzte,42 kann damit im Zusammenhang stehen, dass sich die Chronisten nach der Christianisierung der Ungarn gezwungen fühlten, auch die Ungarn – wie das auch bei anderen Völkern in Europa charakteristisch war – in die biblische Abstammungsordnung einzufügen. Einen anderen Weg können wir bei der Gründungserzählung der Stadt Trier be­obachten: Auch die Gründung der Stadt Trier wird auf Trebeta zurückgeführt, also auf einen Enkel des Nemroth/Nimrod, aber dieser erscheint hier schon als trojanischer Held.43 Ebenfalls von Nemroth/Nimrod wird der Hunnenherrscher Attila in der HHzF (fol. aij v) hergeleitet. Unmittelbar vom Hunnenherrscher Attila/Etzel44 oder von den als hunnisch bezeichneten Hauptleuten der Landnahme, Arpad (Árpád) und Almos (Álmos), wird die Abstammung des ungarischen Herrscherhauses abgeleitet.45 Aber auch wenn über eine direkte Abstammung von Attila nichts berichtet wird, avanciert dieser durch die Bezeichnung als „König der Ungarn“46 doch zu deren Stammvater. In JUUChr kommt die Kontinuität der Herrschaft der Hunnen/Ungarn auch durch die Benutzung des gleichen Feldzeichens47 auf Banner und Schild zum Ausdruck.48 Die Vorstellung von einer Verbundenheit der Ungarn mit Attila zeigt sich auch noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sowohl im Text als auch in einem Attila-Porträt mit der Aufschrift ATILLA FLAGELLVM DEI auf dem Frontispiz der HHzF. Die dem Attila zugewiesene heilsgeschichtliche Rolle und die ihm anhaftende Bezeichnung als flagellum Dei erscheinen auch bei den Ungarndarstellungen der Texte; sogar das Auserwähltheitsbewusstsein Attilas zeigt sich bei den Ungarn.49 Aber es finden sich auch darüber hinaus in den Darstellungen der ungarischen Könige weitere Eigen-

42 Siehe Győrffy (Anm. 39), bes. S. 11–34, 202–207. 43 JRLChr (Anm. 34), S. 15f.; JRWChr (Anm. 34), S. 46. 44 HHzF (Anm. 31), fol. aiij r; HvMUChr (Anm. 24), S. 107f., 127, 132, 137. HvMWchr (Anm. 39), S. 384, Kap. 76, Z. 51–55), lässt Etzel von Valleradez abstammen. Von Attila leiten sich sonst die Führungsschichten zahlreicher Steppen-Nomadenvölker bis zur Zeit von Dschingis Khan her, vgl. András RónaTas, A honfoglaló magyar nép, Budapest 1996, S. 21. 45 JUUChr (Anm. 32), S. 485. 46 LvW (Anm. 23), S. 67, Kap. 166, Z. 21f.; JUUChr (Anm. 32), S. 482; JdU Be1 (Anm. 1), fol. 51v. Für die Titel Attilas siehe HHzF (Anm. 31), fol. aij v; s. a. László Veszprémy, Attila, a magyar király?, in: História 27, 8 (2004), S. 18–22. 47 In der Bilderchronik sind Turul-Vogel-Darstellungen auf Schildern sowohl bei Attila (fol. 7r) als auch bei Árpád (fol. 12r) zu sehen, s. Képes Krónika. Hasonmás kiadás [Bilderchronik, Faksimile-Ausgabe], Budapest, 1987. 48 JUUChr (Anm. 32), S. 482. 49 HvMUChr (Anm. 24), S. 142, Kap. 16, Z. 22–24; HHzF (Anm. 31), fol. aij v.



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schaften, die ursprünglich Attila zugeschrieben wurden,50 wenn sie, wie der hoch­ mütige Attila, als unsaelig gelten (im Sinne von „gottlos“, etwa in Kchr, v. 15 691). Bei der sprachlichen Fassung des Ungarn-Namens in den deutschsprachigen erzählenden historiographischen Texten zeigt sich eine besondere Erscheinung, da die Völkernamen „Ungarn“ und „Hunnen“ oft gleichgesetzt und gleichwertig verwendet werden.51 Eine solche Gleichsetzung von Ungarn und Hunnen findet sich bereits in der Kchr (v. 15 544, 15 546, 15 711, 15 712, 15 962) und die Reihe könnte lange fort­gesetzt werden.52 Eine Art Begründung dafür bietet JTvK: vor e sü [die Ungarn] cristen wurdent, do hiessent sü die Hünen;53 HEvW gibt noch eine Erklärung: der [Kaiser Heinrich] pekert die zwai geschlecht, Henen und Götten, jetz genannt Unger und Winden.54 Auf Grund dessen kann also festgestellt werden, dass sich nicht nur das Herrscherhaus der Ungarn, also die Árpáden, vom Hunnenherrscher Attila/Etzel ableitet, sondern auch die beiden Völker der Hunnen und Ungarn miteinander gleichgesetzt werden. Wie verträgt sich aber die früher erwähnte Einfügung der Ungarn in die christliche Abstammungsordnung mit der Ableitung des ungarischen Herrscherhauses vom hunnischen Attila/Etzel? Andere Herrscherhäuser oder Völker leiten die eigene Herkunft oder die Gründung der eigenen Stadt ja direkt von Vorfahren wie den Trojanern55 als Vorfahren der Römer (die Troja- und die Aeneassage stehen zum Beispiel an erster Stelle der identitätsstiftenden Mythen),56 oder von Karl dem Großen ab.57 So führen die Franzosen ihren Ursprung auf Francio zurück, den Sohn Hektors, die Briten auf Brutus, den Urenkel des Aeneas. Das frühmittelhochdeutsche ‚Anno-

50 Siehe u.  a. HvMUchr (Anm.  24), S.  114f., Kap.  6, Z.  15f., 1–5; JUUChr (Anm.  32), S.  482; HEvW (Anm. 35), S. 39, Z. 6–10. 51 Zu einer möglichen These der Identifizierung von Hunnen und Ungarn in der Geschichtsschreibung s. Dümmerth (Anm. 40), S. 18–48. 52 Kchr (Anm. 18), S. 362, v. 15 544, 15 546; 365, v. 15 711f.; 369, v. 15 962; s. außerdem z. B. Jakob Unrest, Chronicon Carinthiacvm, hrsg. v. Simon Friedrich Hahn (Collectio monumentorum veterum et recentivm ineditorvm 1), Braunschweig 1724, S. 479–536, hier S. 486 (im Folgenden: JUKChr); JUUChr (Anm. 32), S. 482; HEvW (Anm. 35), S. 39, Z. 16–18; SW (Anm. 19), S. 147, Kap. 132, Z. 35; LvW (Anm. 23), S. 51, Kap. 129, Z. 15f.; 79, Kap. 188, Z. 31f.; im Titel von HvMUchr (Anm. 24), S. 105, Kap. 1, Z. 1f., und in der Vorrede von HvMUchr (Anm. 24), S. 105, Kap. 1, Z. 5–7; HHzF (Anm. 31), fol. aij r, dj v. 53 JTvK (Anm. 22), S. 715, Z. 25f. 54 HEvW (Anm. 35), S. 39, Z. 16f. 55 HHzF (Anm. 31), fol. c v: Aquileia und Padua wurden von einem Troyanischen Fuersten Anthenore gebaut. 56 HEvW (Anm. 35), S. 21. Zum Thema ‚gens‘, ‚origo gentis‘, zu den Elementen der Origo-Erzählungen und Entwicklungslinien des Genres anhand von Herkunftserzählungen u. a. in Britannien, bei den Franken und Langobarden s. Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen (Orbis mediaevalis  7), Berlin 2006, bes. S. 359–378. 57 Z. B. die Fürsten von Bayern, s. HEvW (Anm. 35), S. 1; s. a. Borst (Anm. 11), S. 1031.





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lied‘ lässt Franko mit seinen Leuten am Rhein siedeln und Xanten gründen, indem die lateinische Colonia Ulpia Traiana zu Troiana umgedeutet wird.58 Im Spätmittelalter gab es Bestrebungen der Habsburger, zur Untermauerung ihres Anspruches auf die römische Kaiserwürde ihre Herkunft von den spätrömischen Familien Colonna oder Pierleoni abzuleiten.59 Als Beispiel kann hier aber auch Maximilian I. (1508–1519) angeführt werden, der den Ruhm und die Legitimation des Herrscherhauses Habsburg mit dem ikonographischen Programm seiner Ehrenpforte zum Ausdruck bringen wollte, in deren Mittelpunkt drei symbolische Frauengestalten, Francia, Sycambria und Troia, die fiktiven Ahnen des Kaisers symbolisieren. Die Wurzeln seiner Familie werden bis nach Troia zurückgeführt, „aber nicht auf Aeneas, sondern auf Hektor, dessen Sohn Francio nach dem Fall Troias sein Volk nach dem Norden führte“60 – und damit wurde eine trojanisch-fränkische Genealogie konstruiert. Noch dazu wird durch diese Wegbeschreibung, also über Pannonien, das spätere Ungarn, das nach dem Sohn oder Enkel Francios Sicamber oder Sicambria61 genannt wird, der Anspruch von Maximilian  I. auch auf ungarische Gebiete zum Ausdruck gebracht. Es muss hier noch angemerkt werden, dass bereits der ungarische Renaissance-Herrscher Matthias Corvinus seine Herkunft von den Römern ableitete.62 Die Einfügung der Ungarn in die christliche Abstammungsordnung und die Ableitung des ungarischen Herrscherhauses von Attila/Etzel konnte wahrscheinlich gerade dadurch miteinander in Einklang gebracht werden, dass die Person Attilas in der Historiographie vom Feind der Christen zum flagellum Dei avancierte,63 also zu einem Mittel der göttlichen Strafe für die Sünden der Menschen.64 Die Auswahl Attilas

58 Das Annolied, hrsg. v. Eberhard Nellmann, 3. Ausg. Stuttgart 1986, S. 32. 59 Erich Zöllner, Ausztria története. Budapest 1998, S.  93; s.  a. Paul-Joachim Heinig, Habsburg, in: Werner Paravicini, Jan Hirschbiegel u. Jörg Wettlaufer (Hgg.), Höfe und Residenzen im spät­ mittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch, Bd. 1: Dynastien und Höfe (Residenzenforschung 15, 1), Ostfildern 2003, S. 85–96, hier S. 86–88. 60 Bodnár Szilvia u. Mathias F. Müller, Dürer és kortársai. Művészóriások óriásmetszetei. I. Miksa császár diadala [Dürer und seine Zeitgenossen. Riesenholzschnitte hervorragender Künstler. Der ­Triumph Kaiser Maximilians I.], Budapest 2005, S. 67. 61 Ebd., S.  70. In der ungarischen Geschichtswissenschaft wird unter Sicambria nicht das Land, sondern nur eine Stadt verstanden. 62 Emerich Schaffran, Ungarn im 15. Jahrhundert und die italienische Frührenaissance, in: Archiv für Kulturgeschichte 35 (1953), S. 52–84, hier S. 59. 63 Beim byzantinischen Geschichtsschreiber Philostorgios (ca.  368–440) erscheint das Motiv des flagellum Dei, das auf biblische Wurzeln zurückzuführen ist, in Bezug auf die Barbareneinfälle, s. Sándor Eckhardt, Attila a mondában, in: Gyula Németh (Hg.), Attila és hunjai (A magyar szemle könyvei 16), Budapest 1940, S. 143–216, hier S. 154: Der Prophet Jesaja verwendet diesen – im Laufe der Zeit zum Topos gewordenen – Ausdruck für Assur als Strafe Gottes: „Wehe Assur, der meines Zornes Rute und meines Grimmes Stecken ist!“ (Jes 10,5) Seine Verbreitung im Abendland ist wahrscheinlich mit Augustinus zu verbinden, der in seinem ,De civitate Dei‘ (I 8) die Rom verheerenden Goten von Alarich so bezeichnete. 64 HHzF (Anm. 31), fol. b v, ciij r.



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als Stammvater des ungarischen Herrscherhauses bot sich auch insofern an, als sein Sitz in Pannonien war. Mehrere Texte bezeichnen die Heimat der Ungarn nach der Landnahme65 als Pannonien.66 In einem Teil der Quellen findet man Reminiszenzen der früheren römischen Provinz Pannonia.67 In den Darstellungen über die römischen Kaiser der Antike stehen Ungarn und Pannonien schon selbstverständlich füreinander.68 Die Lage des Landes der Ungarn nach der Darstellung der Texte korrespondiert auch mit der Verortung der Hunorum Gens beziehungsweise der ehemaligen römischen Provinzen Pannonia superior und Pannonia inferior69 auf den lateinischen kartographischen Darstellungen (‚TO-Karten‘).70 Seit den Ungarneinfällen wurde die Übertragung des Namens Pannonien auf ganz Ungarn zur Regel. Unter den ‚Grenzen‘ nach der Landnahme finden sich unter anderem alle landschafft zwischen den wassern Thanais [Don] vnd der Dunaw [Donau], der Fluss Ens71 beziehungsweise das Ostland.72 Auch bei der Erwähnung des späteren Sitzes der ungarischen Könige kommt die hunnische Vergangenheit (Siccambria73/Buda Wara beziehungsweise Oven74/Etzelburg75) vor,76 genauso wie bei der sogenannten zweiten Landnahme77 in Pannonien.78 Als ein weiterer Aspekt der Abstammung kann hier noch die totemistische Abstammung des ungarischen Herrscherhauses genannt werden, die in den Quellen nur geringe Spuren hinterließ. Mit der Erwähnung des Traums79 von Enodbili (eigent-

65 HvMUchr (Anm. 24), S. 111, Kap. 3, Z. 3–11. 66 JUKChr (Anm. 52), S. 486. 67 HEvW (Anm. 35), S. 31, Z. 33–35. 68 In SW (Anm. 19), S. 89, Kap. 30, Z. 27–29; 107, Kap. 52, Z. 3; 107, Kap. 54, Z. 23f.; 112, Kap. 73, Z. 42f.; 128, Kap. 93, Z. 10; 128, Kap. 94, Z. 16; HEvW (Anm. 35), S. 17, Z. 24; JdU Be1 (Anm. 1), fol. 42v; HvMWchr (Anm. 39), S. 305, Kap. 35, Z. 27. Zu den späteren Zeiten siehe noch Tibor Klaniczay, Hungaria és Pannonia a reneszánsz-korban, in: Irodalomtudományi Közlemények 91/92, 1–2 (1987/1988), S. 1–19. 69 Also Oberpannonien mit dem Sitz Carnuntum und Unterpannonien mit dem Sitz Aquincum. 70 Siehe etwa die ‚Anglo-Saxon-Map‘ bei Lajos Stegena, Térképtörténet, Budapest 1985, S. 41; heute in London, British Library, Cotton MS. Tiberius b. v., fol. 58r. 71 Zum Fluss Ens s. HEvW (Anm. 35), S. 61, Z. 5–9; zum Ostland ebd., S. 61f. 72 HHzF (Anm. 31), fol. aiiij r. 73 HEvW (Anm. 35), S. 38, Z. 24f.; HHzF (Anm. 31), fol. aiij v. 74 Kchr (Anm. 18), S. 337, v. 14 179. 75 HvMUchr (Anm. 24), S. 119, Kap. 9, Z. 10–19, 120, Z. 1–6; HHzF (Anm. 31), fol. c r. 76 Bis zum heutigen Tage ist es strittig, wo Alt-Ofen wirklich lag, vgl. u. a. György Györffy, Pest-Buda kialakulása. Budapest története a honfoglalástól az Árpád-kor végi székvárossá alakulásig, Buda­pest 1997. Zur einschlägigen Stelle in der Vorauer Handschrift der Kchr (Anm. 18) s. Tünde Radek, Az információáramlás jellemzői a Magyar Királyságban a középkori német nyelvű krónikák alapján, in: Világtörténet 36, 1 (2014), S. 103–124, hier S. 104f. 77 Zur doppelten Landnahme siehe Gyula László, A „kettős honfoglalás“, 2. Aufl. Budapest 2004. 78 HvMUchr (Anm. 24), S. 130, Kap. 13, Z. 15–18; S. 131, Z. 11–14; JUUChr (Anm. 32), S. 485. 79 JUUChr (Anm. 32), S. 485.





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lich von Emese,80 deren Vater Enodbili war) und des Vogels in gestalt eines Habichs ist das Motiv einer Abstammung vom Turul-Vogel81 bei der Schilderung der Geburt von Almus in HHzF zu finden:82 Dann do sein muter [Enodbili in Scythia] sein schwanger was/sahe sie im schlaff einen vogel in gestalt eines Habichs/zu ir kommen/vnd sein haupt in ir schoß legen/vnd dz von irem pauch ein milter pach schn vnd lauter geflossen/von dannen in ein frembdes erdtrich gerunnen/vnd groß worden were. Welches auch geschach/dann nachmals von seinen kinden ein groß geschlecht/ lobwirdige knig geborn wurden/welche hernach in fremden landen/auch in Vngerland/vber ein vnmeßlich volck mit der hchsten glori geregiert haben.

In diesen Zeilen wird allerdings nicht so sehr die totemistische Abstammung akzentuiert, sondern vor allem kommt hier die transzendentale Kraft zum Vorschein, mit der die Legitimation des Herrscherhauses zusätzlich bestätigt wird – ganz ähnlich, wie wir das auch bei Abrahams Berufung und Wanderung nach Kanaan (Gn 12,1–7) lesen können. Die Abstammung von einem Hirsch (eigentlich von einer Hinde) als ein weiteres Beispiel für die totemistische Abstammung wird in den Quellen ebenfalls nur angedeutet.83 Es muss hier angemerkt werden, dass es weiterhin eine strittige Frage ist, ob der Hirsch/die Hinde im Fall der Ungarn als Totemtier oder nur als ‚führendes Tier‘ zu betrachten ist.84 Aus den Texten kann noch erschlossen werden, dass dem Merkmal des ‚Östlichen‘ neben dem Merkmal des ‚Heidnischen‘ eine wichtige Rolle zukommt. Die geographische Lokalisierung des Landes erfolgt nach den Quellen in zwei Etappen: Einerseits wird nämlich über die Urheimat, andererseits über den Ablauf der Landnahme berichtet. Die Urheimat der Ungarn, beziehungsweise der Weg ihrer Wanderung, wird in den einschlägigen Quellen in Mecioda/Meczioda85 (Asowsches Meer), Czittia/ Scythia/Schicia86 (Skythien) oder in Hünia,87 das heißt im Osten verortet – mithin in Asien. In HHzF (fol. aij r) werden explizit Scythia Asiatica und Europische Scythia aus-

80 Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Emese ist „Mütterchen“, siehe Győrffy (Anm.  39), S. 204. 81 Zur Turul-Sage siehe Dümmerth (Anm. 40), S. 49–55. Mit dem Turul-Vogel wird eine Falken- oder Adler-Art in Verbindung gebracht. Zu den ornithologischen Fragestellungen mit der Aufarbeitung von Quellenmaterialien siehe Jakab Vönöczky Schenk, Magyar solymászmadárnevek, in: Aquila 46/49 (1942), S. 5–145. 82 HHzF (Anm. 31), fol. d r. Der Stammvater wäre also der Turul-Vogel, die Stammmutter Emese. 83 SW (Anm. 19), S. 129, Kap. 98, Z. 32–42; HvMWchr (Anm. 39), S. 382–384, Kap. 76. 84 Siehe auch Anm. 39. 85 HvMUchr (Anm. 24), S. 108f., Kap. 2. 86 Ebd., sowie JUUChr (Anm. 32), S. 482; JUKChr (Anm. 52), S. 486. 87 JUUChr (Anm. 32), S. 482.



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einander gehalten.88 Die Ungarn werden also als ein aus dem Osten kommendes Volk mit den Skythen beziehungsweise mit den Hunnen identifiziert und unter weitere, ebenfalls aus dem Osten stammende Reiternomaden-Völker eingeordnet, wie Tataren und Kumanen.89 Wie bei diesen, bilden auch bei den Ungarn die Bogenschützen die wichtigste Heereseinheit, und auch ihre Taktik ist gleich.90 Das östliche ‚Wesen‘ der Ungarn kommt auch in ihrem Umgang mit den Gefangenen zum Ausdruck, die den Texten zufolge entweder ‚niedergemacht‘ oder am Strick geführt, wie Sklaven behandelt und verkauft werden.91 Überhaupt geht die östliche Verhaltensweise in den Quellentexten mit den Attributen wie „wild“92 und „grausam“93 ganz selbstverständlich einher. Das Bluttrinken unter den Ungarn wird in JTvK sowie in KB bei der Behandlung der geschilderten Streifzüge erwähnt.94 Der lange Bart und die langen Haare95 reihen die Ungarn ebenfalls unter die östlichen Völker ein.96 Selbst Attila trägt einen langen Bart und ungeordnete lange Haare auf den bildlichen Darstellungen in HHzF.97 Lange Bärte und lange Haare sind nach der DalR und DalP mit heidnischen Sitten verbunden.98 Die Rolle des Pferdes wird, wie das bei den Reiternomadenvölkern allgemein üblich ist,99 auch bei den Ungarn her-

88 HHzF (Anm. 31), fol. aij r–v. 89 Siehe auch András Vizkelety, „Du bist ein alter Hunne, unmäßig schlau…“. Das Ungarnbild im deutschen Mittelalter, in: Holger Fischer (Hg.), Das Ungarnbild in Deutschland und das Deutschlandbild in Ungarn (Aus der Südosteuropa-Forschung 6), München 1996, S. 11–21. 90 StRchr (Anm. 33), S. 335, vv. 25 463–25 466; Ungarn gegen Deutsche: ebd., S. 336, vv. 25 507–25 512; Tataren gegen Ungarn: HHzF (Anm. 31), fol. i r. 91 StRchr (Anm. 33), S. 227, vv. 17 168–17 172; 1101, vv. 84 246–84 250; 1101, vv. 84 266–84 281. 92 Z. B. JUUChr (Anm. 32), S. 482; Kchr (Anm. 18), S. 364, vv. 15 668–15 673; 369, vv. 15 925f.; JUKChr (Anm. 52), S. 482. 93 König Rudolf I. (1273–1291) beobachtet z. B. entsetzt, wie ein Erkundungstrupp der Kumanen (als Hilfstruppe der Ungarn) die abgeschlagenen Häupter ihrer besiegten Gegner mit den Helmen vor ihn und vor den ungarischen König bringt, als Beweis dafür, dass sie schon den Feind ‚gesehen‘ haben, s. StRchr (Anm. 33), S. 204f., vv. 15 466–15 476. Trotz der Bestürzung hält sich Rudolf an die ‚protokollarischen Regeln‘ und dankt den Kumanen für ihre Bemühungen. 94 JTvK (Anm. 22), S. 415f.; vgl. Konrad Bote, Cronecken der sassen, hrsg. v. Gottfried Wilhelm Leibniz (Scriptores Rerum Brunsvicensium 3), Hannover 1711, S. 277–423, bes. S. 202 (im Folgenden: KB); zum Blutvertrag und Hunde-Eid s. a. Radek (Anm. 7), S. 250–252. 95 StRchr (Anm. 33), S. 106, vv. 8005f.; s. a. Jansen Enikel, Fürstenbuch, in: ‚Jansen Enikels Werke‘ (Anm. 9), S.  598–679, hier S. 679, vv. 4235–4238 (im Folgenden: JEFb), sowie JEWchr (Anm. 9), S. 538, vv. 27 642–27 652. 96 Der Chronist assoziiert den Anblick der mit Edelsteinen und weißen kostbaren Perlen verzierten langen Bärte der Ungarn mit den Tataren, siehe StRchr (Anm. 33), S. 105, vv. 7981–7998. 97 HHzF (Anm. 31), fol. aiij r (Frontispiz). 98 DalR (Anm. 25), S. 18; DalP (Anm. 25), S. 260. 99 Es ist mir bewusst, dass das Pferd auch in der abendländischen Gesellschaft durch die mobile Herrschaftsform und im Heerwesen eine große Rolle spielte, vgl. z. B. Marc-André Wagner, Le cheval dans les croyances germaniques. Paganisme, christianisme et traditions, Paris 2005.





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vorgehoben.100 Schließlich spiegelt auch ihre sprachliche „Zugehörigkeit“ zur osterzungehn scare in BrRchr den östlichen Charakter der Ungarn.101 Auch noch im 13. Jahrhundert wirft es kein gutes Licht auf die schon christlichen Ungarn, dass sie in ihrem Heer Heiden als Hilfsvölker verwenden,102 beziehungsweise Heiden in ihrem Land leben.103

3 Zusammenfassung und Ausblick Im mitteleuropäischen Raum hat sich die Begegnung von Kulturen, der Zusammenstoß der eurasiatischen Reiternomadenkultur mit den westeuropäischen sässigen und Ackerbau treibenden Kulturen im Laufe der Geschichte mehrmals vollzogen. In diesen Zeitrahmen fügt sich auch die Geschichte der Ungarn ein. Zu einem der markantesten Gegenstände der Chronistik gehört die Darstellung des Kampfes zwischen der ‚christlichen‘ und der ‚heidnischen‘ Welt, wobei zu unterstreichen ist, dass der Gegensatz ‚christlich‘ und ‚heidnisch‘ keineswegs immer gleichbedeutend ist mit jenem zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘: Die vorstehenden Befunde zeugen nämlich davon, dass Christen und Heiden, Franzosen und ‚Deutsche‘,104 Franken und Steirer, Kaiser und Päpste, Könige und Fürsten, Erzbischöfe und Äbte, Bürgermeister und Rat­geber die Idee des Guten verkörpern und vertreten, aber alle auch gegen sie verstoßen können. In diesem Sinne konnten nicht nur die Christen, sondern auch die ‚Guten‘ – unabhängig von ihrem Glauben – mit ihren Taten den Sieg erfechten und Gottes Gnade erringen. Insbesondere heidnische Kaiser konnten demnach, wie zum Bei-

100 Siehe Gyula Kristó, A honfoglaló magyarok életmódjáról, in: Századok 130 (1995), S. 3–62; zum Pferd als Wertsache s. StRchr (Anm. 33), S. 104, vv. 7914–7916. Mit den Worten da [in Ungarn] man kleinat und meidem guot | gegen landen kann ebentiwern wird wahrscheinlich die Landnahme-Sage der Ungarn über das weiße Ross angedeutet, s. dazu Ildikó Kríza, Pannónia megvétele: A fehér ló monda történeti gyökerei, in: Ethnographia 107 (1996), S. 427–459. 101 Braunschweigische Reimchronik, in: ‚Deutsche Chroniken 2, 1‘ (Anm. 19), S. 459–574, hier S. 560, vv. 8130f. (im Folgenden: BrRchr). 102 StRchr (Anm. 33), S. 203, vv. 15 322–15 325; 558, v. 43 098; HvMUchr (Anm. 24), S. 203, 221. 103 Rudolf von Ems, Weltchronik, hrsg. v. Gustav Ehrismann (Deutsche Texte des Mittelalters 20), Berlin 1915, S. 36, vv. 2558–2561 (im Folgenden: RvE). 104 Die Problematik, im Mittelalter von ‚Deutschen‘ oder einem ‚deutschen Volk‘ zu sprechen, ist mir bewusst; vgl. die Beiträge in Hans Eggers (Hg.), Der Volksname Deutsch (Wege der Forschung 156), Darmstadt 1970, sowie Heinz Thomas, Das Identitätsproblem der Deutschen im Mittelalter, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), S. 135–156.



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spiel in Kchr, die ehrenvollsten Beinamen erhalten105 und sogar der Erlösung würdig erscheinen (wie etwa Kaiser Trajan).106 Aus den obigen Beispielen und Ausführungen geht deutlich hervor, dass das Ungarnbild in den untersuchten Texten besonders durch die östliche und hunnische Abstammungstheorie und damit auch durch das Heidnische geprägt wurde. Dabei kann den Spuren der totemistischen beziehungsweise der biblischen Abstammungstheorien bei der Ausprägung des Ungarnbildes keine eminente Rolle beigemessen werden. Die mittelalterlichen Chronisten behalten in ihren Darstellungen insbesondere christliche Prinzipien im Auge: Sie schildern und bewerten christozentrisch den Zusammenstoß verschiedener Kulturen. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die früher den Hunnen, den Ungarn (insbesondere in Bezug auf die Zeit der Landnahme und der Streifzüge) oder den ­Tataren zugeschriebenen Eigenschaften mit der Zeit, und zwar besonders während der Türkenbelagerungen, auch auf die Türken übertragen wurden; das heißt, dass die Quellentexte mit Wandertopoi operieren. Hierbei ist eine Verschiebung zugunsten der Ungarn und zum Nachteil der Türken zu beobachten: Es überwiegt dann die Bedeutung und die Rolle der Ungarn als ‚Verteidiger‘ der christlichen Länder und des Christentums überhaupt,107 während die Türken in ihrer geographischen Verortung und aufgrund ihrer islamischen Religion in die frühere ‚östliche und heidnische Position‘ der Ungarn ‚einrücken‘.108

105 Dies kann auch mit der Autorintention im Zusammenhang stehen, s. Kchr (Anm. 18), S. 79, vv. 18– 23; 183, vv. 5557–5682 (alle kunige sollen aus dem Schicksal des ‚bösen‘ Domitian lernen); 188–193, vv. 5839–6096 (Lernen vom ‚guten‘ Trajan). 106 Vgl. bes. Kchr (Anm. 18), S. 193, vv. 6083–6088. 107 Siehe auch György Walkó, Nemzetkarakterológia. Történeti vázlat a népjellemzés irodalmáról (Minerva-Könyvtár 159), Budapest 1944; Turóczi-Trostler (Anm. 8). 108 Ein prägnantes Beispiel dafür bietet ein Druck des Jahres 1532 aus Kőszeg/Güns: Hans Sachs, Ein Klag zu Gott | über die grawsam wüterey | des grawsamen Türgken | ob seinen viel kriegen und obsigen, s. Günser Stadtmuseum, Kőszeg, Inv.-Nr. 56.164.1. Vgl. Jakob Unrest, Österreichische Chronik, hrsg. v. Karl Grossmann (MGH Scriptores Rerum Germanicarum N. S. 11), Weimar 1957, S. 7, Kap. 9; 26f., Kap. 30; 236, Kap. 242; s. a. Kchr (Anm. 18), S. 369, vv. 15 925–15 931.



Lucia Raspe (Frankfurt a. M.)

Der Jude im Götzentempel. Christliche Heiligenverehrung aus jüdischer Sicht* Abstract: Der vorliegende Beitrag unterzieht drei Fassungen einer mittelalterlichen Dämonenerzählung einer vergleichenden Lektüre. Ausgangspunkt ist eine späte jiddische Variante, deren polemische Stoßrichtung sich erst aus dem Vergleich mit ihrer mittelalterlichen hebräischen Grundlage erschließt; diese wiederum hat auffällige Ähnlichkeit mit einer in lateinischen und volkssprachlichen Fassungen weit verbreiteten christlichen Erzählung. In allen drei Texten übernachtet ein Jude am Kultort einer fremden Religion und wird dort um Mitternacht Zeuge des Erscheinens von dämonischen Gestalten. Lässt die christliche Fassung den Juden in der Ruine eines Apollotempels miterleben, wie das Zeichen des Kreuzes vor den Machenschaften der dort versammelten Dämonen schützt, was ihn dazu veranlasst, die Taufe zu nehmen, so fungiert der Dämon in den jüdischen Versionen als Sprachrohr der eigenen Religion, der die Heilungen an christlichen Wallfahrtsorten als Augenwischerei entlarvt, welche die Beteiligten das ewige Leben kosten wird. Die vergleichende Analyse zeigt, wie die Aneignung der christlichen Erzählung der jüdischen Seite die Möglichkeit gab, das Christentum gewissermaßen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Die bis zur Unkenntlichkeit zensierte jiddische Fassung hingegen dokumentiert eine Überschreibung anderer Art; sie demonstriert die Grenzen solcher narrativen Selbstbehauptung im Zeitalter des Drucks.

Das ‚Mayse bukh‘, die populäre jiddische Sammlung von rund 250 kurzen Erzählungen (hebräisch ma‘asim, jiddisch mayses) aus der talmudischen ebenso wie aus der jüngeren – jüdischen wie nichtjüdischen – Überlieferung, erschien zuerst 1602 in Basel und wurde in rund 20 Ausgaben bis ins frühe 19. Jahrhundert nachgedruckt. Mit der kommentierten deutschen Übersetzung von Ulf Diederichs auf der Grundlage der Ausgabe Amsterdam 1723 ist es vor einigen Jahren auch einem breiteren Publikum zugänglich geworden.1

* Der vorliegende Beitrag hat durch den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus unterschied­ lichen Disziplinen sehr gewonnen. Für Anregungen und Hinweise danke ich insbesondere Christoph Cluse (Trier), Wiebke Rasumny (München), Olga Sixtová (Prag) und Günter Stemberger (Wien) sowie meiner Bochumer Studentin Katharina Selent, für ihre kritische Durchsicht des Manuskripts Christine MAGIN (Greifswald). Die bibliographischen Grundlagen konnte ich 2012 durch ein fellowship im Rahmen des ‚European Seminar on Advanced Jewish Studies‘ („Old Yiddish: Old Texts, New Contexts“) am Oxford Centre for Hebrew and Jewish Studies der University of Oxford erarbeiten; auch dafür bin ich sehr dankbar. 1 Das Ma’assebuch. Altjiddische Erzählkunst (dtv 13143), übers. v. Ulf Diederichs, 2. Aufl. München 2004. In der Bezugnahme auf diese, wie er im Vorwort schreibt, „maßgebliche“ Ausgabe folgt Diede-

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Unter Nummer 191 und der Überschrift „Verführt von einem bösen Geist in Gestalt eines Magiers“ lesen wir bei Diederichs von einem lahmen Juden, der sich von einem Magier (jiddisch mekhashef) verführen ließ. Diesem lahmen Juden hatte man nämlich gesagt, in einer bestimmten Stadt würden die Kranken geheilt. Da zog auch der Jude hin. Als er nun an den betreffenden Ort kam, sah er des Nachts, wie einer umging und die Kranken salbte. Als dieser aber zu ihm, dem Juden, kam, verweigerte er ihm die Heilung und erklärte stattdessen, er sei ein Dämon (shed), der sich lediglich als Arzt ausgebe, um die Leute ins Verderben zu stürzen, die sich mit Zauberei abgäben. Gerade jetzt hätte er, der Jude, wieder gesund werden sollen. Da er sich aber auf Magie eingelassen habe, müsse er sein Lebtag lahm bleiben. Derhalben, so schließt die Geschichte, lasse sich keiner von den Magiern verführen; man glaube vielmehr an den Heiligen, gepriesen sei Er.2 Lesen wir diese Geschichte in der bei Diederichs vorliegenden Form, wird nicht ganz deutlich, was sie eigentlich will, wovor sie warnt und wogegen sie sich richtet. Wer sind die Magier, mit denen man sich lieber nicht einlassen soll? Auch der Kommentar in Diederichs’ Ausgabe hilft nicht wesentlich weiter. „Seit jeher“, so lesen wir dort, werde „die ärztliche Kunst mit Magie in Verbindung gebracht. [...] Das in Märchen und Schwank oftmals der Erheiterung dienende Motiv“ der „Verkleidung als Arzt“ sei hier allerdings „keineswegs als schwankhaftes Element eingesetzt“, sondern diene „einzig als warnendes Exempel.“ Als solches aber stehe die Erzählung „ganz im Zeichen des zweiten Gebotes“3 – des zweiten Gebotes, das nach jüdischer Lesart das Verbot der Verehrung fremder Götter und das Bilderverbot (Ex 20, 3–6) in sich vereint: „Du sollst“ (nach der von Leopold Zunz herausgegebenen Übersetzung)4 „keine fremde Götter haben vor mir.“ Warnt die Geschichte also vor dem Halbgott in Weiß? Verstoßen wir, wenn wir zum Arzt gehen, gegen das zweite Gebot? Soll der fromme Jude auf den Arztbesuch lieber verzichten und sich stattdessen ganz dem göttlichen Heilsplan anvertrauen? Wie kommt hier überhaupt das zweite Gebot ins Spiel? Diese letzte Frage immerhin lässt sich unschwer beantworten. Diederichs’ Hin­ weis auf das zweite Gebot ergibt sich aus seiner Kenntnis der Quelle unserer Erzählung.

richs dem Vorbild zweier älterer Übersetzungen: Allerlei Geschichten, übers. v. Bertha Pappenheim, Frankfurt a. M. 1929; Ma’aseh Book. Book of Jewish Tales and Legends, 2 Bde., übers. v. Moses ­Gaster (The Schiff Library of Jewish Classics), Philadelphia 1934. Zur Druckgeschichte ins­gesamt Sara Zfatman, Yiddish Narrative Prose from its Beginnings to Shivhei ha-Besht (1504–1814). An Annotated ­Bibliography (hebr.), Jerusalem 1985, S. 188 (s. v. Mayse bukh). 2 ‚Ma’assebuch‘ (Anm.  1), S.  531f. Der jiddische Wortlaut der zugrundeliegenden Ausgabe Amsterdam 1723, fol.  63v, ist als Teil eines Sammelbandes verschiedener jiddischer Drucke der Universi­ tätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt a. M. online zugänglich unter URL http:// sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/jd/urn/urn:nbn:de:hebis:30:2-5443 (einges. 23.06.2014). 3 ‚Ma’assebuch‘ (Anm. 1), S. 532f. 4 Die vierundzwanzig Bücher der Heiligen Schrift, übers.  v. Leopold Zunz u. a., Berlin 1837, ND Tel Aviv 1997.





Der Jude im Götzentempel 

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Tatsächlich sind die Erzählungen im jiddischen ‚Mayse bukh‘ ja nur in seltenen Ausnahmefällen selbständig. Vielmehr liegt es in der Natur der Dynamik zwischen hebrä­ ischer und jiddischer Überlieferung, ‚heiliger‘ und Umgangssprache, dass die in der jiddischen Sammlung vertretenen Erzählungen – selbst dort, wo sie auf nichtjüdische Erzählstoffe zurückgehen – im Allgemeinen über hebräische Quellen rezipiert sind.5 Folgen wir nun den von Diederichs der älteren Literatur entnommenen Angaben, so finden wir uns auf den ‚Midrash ‘aseret hadibrot‘ verwiesen, den ‚Midrasch der Zehn Gebote‘. Anders als es der Titel vermuten lässt, handelt es sich bei diesem Werk keineswegs um einen Midrasch, der also tatsächlich um eine Auslegung des Dekalogs bemüht wäre, wie er in Ex 20 und Dtn 5 erscheint, sondern um eine der frühesten Sammlungen narrativer Kurzprosa in hebräischer Sprache. In ihren unterschiedlichen Rezensionen enthält sie zwischen 17 und etwa 50 Erzählungen aus rabbinischer Literatur und internationalem Erzählgut, für die die Zehn Gebote als Organisationsprinzip, um nicht zu sagen: als Aufhänger dienen. Die Entstehung der Sammlung wird zumeist in das 10. nachchristliche Jahrhundert und in den islamischen Kulturbereich gesetzt, die erste erhaltene Druckausgabe erschien 1554 im Rahmen des ‚Ḥibbur hama‘asiyyot wehamidrashot wehahaggadot‘ in Ferrara.6 Eine ganze Reihe der im ‚Mayse bukh‘ vertretenen Stücke werden auf diese Quelle zurückgeführt.7 Schauen wir im ‚Midrasch der Zehn Gebote‘ nach der eben paraphrasierten Erzählung, so werden wir unter dem zweiten Gebot in der Tat fündig. Die Erzählung liest sich dort allerdings etwas anders. Ein lahmer Jude hört von einem Götzentempel erzählen, in dem jeder Gelähmte, der dort Hilfe suche, gesunde. Daraufhin entschließt er sich, ebenfalls dorthin zu

5 Grundlegend Sara Zfatman, The Mayse-Bukh. An Old Yiddish Literary Genre (hebr.), in: HaSifrut 28 (1979), S. 126–152; Erika Timm, Zur Frühgeschichte der jiddischen Erzählprosa. Eine neuaufgefundene Maiśe-Handschrift, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 117 (1995), S.  243–280. Zum Verhältnis zwischen den beiden Sprachen in der jüdischen Vormoderne zuletzt Marion Aptroot u. Roland Gruschka, Jiddisch. Geschichte und Kultur einer Weltsprache (Beck’sche Reihe  1621), München 2010, S.  13f.; umfassend Max Weinreich, History of the Yiddish Language [1973], hrsg. v. Paul Glasser, übers. v. Shlomo Noble u. Joshua A. Fishman, New Haven 2008, S. 247–314. 6 Zu Entstehung und Überlieferung zuletzt: Midrash Aseret Ha-Dibrot (A Midrash on the Ten Commandments). Text, Sources and Interpretation (hebr.), hrsg. v. Anat Shapira, Jerusalem 2005, bes. S.  182–186; weitere Literatur bei Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, 9.  Aufl. München 2011, S. 370f. Ein älterer Druck (Venedig 1551?), den der Wortlaut des Titelblatts Ferrara 1554 vorauszusetzen scheint, ist bislang nicht nachgewiesen. Der Erstdruck der in Bestand und Wortlaut abweichenden polnischen Drucktradition erschien 1572 in Lublin; ND nach einer jüngeren Ausgabe: Bet ha-Midrasch (hebr.), hrsg. v. Adolph Jellinek, Leipzig 1853–1877, Bd. 1, S. 62–90, danach deutsch: Aus Israels Lehrhallen, übers. v. August Wünsche, Leipzig 1907–10, Bd. 4, S. 68–121. 7 Jakob Meitlis, Das Ma’assebuch. Seine Entstehung und Quellengeschichte, Berlin 1933, S. 122f.; vgl. die Quellenangaben im Anhang des ‚Ma’aseh Book‘ (Anm. 1), Bd. 2, S. 665–694.



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gehen; vielleicht werde auch er geheilt. Er begibt sich also dorthin und verbringt eine Nacht bei den übrigen Kranken. Um Mitternacht aber, als alle anderen schlafen, sieht er einen Dämon aus der Wand kommen, der in der Hand einen Krug mit Öl hält und damit die Kranken bestreicht; allein den Juden lässt er außer Acht. Als der Jude ihn fragt, warum er ihn nicht salbe, antwortet der Dämon: „Bist du nicht ein Jude? Warum kommst du hierher? Kommt ein Jude an einen Ort, wo Götzendienst getrieben wird? Weißt du denn nicht, dass daran nichts ist? Ich führe sie nur deshalb in die Irre, damit sie in ihrem Irrtum bestärkt werden und keinen Anteil an der kommenden Welt haben. Du aber, warum kommst du zu einem Götzentempel, statt vor dem Heiligen, gepriesen sei Er, zu stehen und zu beten, dass er dir hilft? So wisse nun, dass du morgen hättest gesund werden sollen. Weil du aber dies getan hast, wirst du dein Lebtag keine Heilung finden.“ Darum – so schließt die Erzählung – vertraue der Mensch auf niemanden als auf Gott, den Herrn und König, der ohne Entgelt Genesung schenkt.8 Diese Fassung der Erzählung im ‚Midrash ‘aseret hadibrot‘ beantwortet die Frage nach der Stoßrichtung der Warnung, welche in der eingangs zitierten jiddischen Fassung verwischt erscheint. Es geht weder um Ärzte noch um Magier, sondern um Heilung an einem Ort, den der hebräische Text mit einem terminus technicus der rabbinischen Literatur als ‘avoda zara charakterisiert, als „fremden Dienst“, als einen Ort also, an dem Götzendienst praktiziert wird. Insofern lässt sich die Erzählung zweifellos als Illustration des zweiten Gebots auffassen. Die Beziehungen zwischen dem jiddischen ‚Mayse bukh‘ und dem ‚Midrash ‘aseret hadibrot‘ in seinen unterschiedlichen Rezensionen sind im Einzelnen noch nicht untersucht. Dies gilt zumal für diejenigen Erzählungen, die zwar in der mittel­ alterlichen hebräischen Sammlung belegt sind, letzten Endes aber auf die rabbinische Literatur der Spätantike zurückgehen; hier ist nur durch detaillierten Textvergleich zu klären, welche Fassung der jiddischen Variante in der Baseler Erstausgabe jeweils zugrundeliegt. Im vorliegenden Fall sind die Dinge relativ überschaubar: Da unsere Erzählung außerhalb des ‚Midrasch der Zehn Gebote‘ nirgends nachzuweisen ist, liegt es trotz der genannten Unterschiede in der Tat nahe, eine Abhängigkeit der jiddischen Fassung von dieser Quelle anzunehmen. Wir kommen auf diese Unterschiede noch zurück. Zunächst wollen wir sehen, was sich über den hebräischen Text, seine Herkunft und Intention selbst sagen lässt. In der oben zitierten Fassung des ‚Midrash ‘aseret hadibrot‘ erinnert er an eine weit verbreitete Dämonengeschichte des christlichen

8 Zugrundegelegt wurde die Fassung der Ausgabe Ferrara 1554, fol.  [22]v–[23]r; vgl. die deutsche Übersetzung von Rahel Ramberg in: Micha J. bin Gorion (Hg.), Der Born Judas. Legenden, Märchen und Erzählungen, Leipzig 1916–22, Bd.  2, S.  202. Abweichende Varianten bieten ‚Bet ha-Midrasch‘ (Anm. 5), S. 71 = ‚Israels Lehrhallen‘ (Anm. 6), S. 86, sowie (auf der Grundlage einer Handschrift des 14. Jhs.) ‚Midrash‘ (Anm. 6), S. 47f.





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Mittelalters, die in lateinischen und volkssprachlichen Fassungen belegt und in ihrer klassischen Form auf den Papst und Kirchenlehrer Gregor den Großen (590–604) zurückzuführen ist. In dessen ‚Dialogen‘ lesen wir in Buch III 7 von Andreas, dem Bischof von Fondi (an der Via Appia gut 100 Kilometer südöstlich von Rom), welcher – im Vertrauen auf die beiderseitige Enthaltsamkeit – eine Nonne als Haushälterin bei sich aufgenommen habe, im Laufe der Zeit jedoch nicht ganz unempfänglich für deren Reize geblieben sei. Das merkt der böse Feind, der sogleich seine Chance wittert, den Geistlichen in Versuchung zu führen. Nun fügt es sich, dass eines Tages ein Jude in der Gegend unterwegs ist und in der Nähe von Fondi von der Dunkelheit überrascht wird. Er begibt sich deshalb in einen nahegelegenen Apollotempel und versieht sich, obschon er nicht an dasselbe glaubt, vorsorglich mit dem Zeichen des Kreuzes, verbringt die Nacht aber dennoch – oder vielleicht gerade deswegen? – schlaflos. Und siehe da: Um Mitternacht wird er Zeuge, wie eine Schar böser Geister hervorkommt und der oberste unter ihnen jeden Einzelnen Rede und Antwort stehen lässt, wie er das Werk Satans vorangebracht habe. Einer berichtet von seinen Fortschritten in der Versuchung des Bischofs Andreas: Gerade heute habe er ihn schon so weit gebracht, dass er seiner Haushälterin einen liebevollen Klaps auf den Rücken gegeben habe. Der Oberteufel lobt das Bemühen seines Untergebenen und stellt für den Fall der Vollendung des bösen Plans eine Belohnung in Aussicht. Unterdessen haben die Geister die Gegenwart des Juden bemerkt, können ihm aber – des Kreuzzeichens wegen – nichts anhaben und verschwinden. Der Jude wiederum eilt zum Bischof, nimmt ihn beiseite und erstattet ihm detaillierten Bericht. Der Bischof wird erst jetzt seiner Gefährdung gewahr, schickt die Nonne fort und macht aus dem Apollo­tempel eine Kirche des heiligen Andreas. Der Jude aber, dessen Bericht ihn gerettet hat, findet mit seiner Hilfe in den Schoß der Kirche.9 Die christliche Erzählung kombiniert eine Reihe unterschiedlicher Motive. Da ist zum einen dasjenige von der Verführbarkeit des hohen Geistlichen, den zum Straucheln zu bringen unter den Teufeln der unterschiedlichen Dienstgrade als die größtmögliche Leistung gilt, zum anderen das Motiv der Rettung eines Juden aus teuflischer Bedrohung durch das Kreuzzeichen, welche Tatsache diesen zum dritten so beeindruckt, dass er sich umgehend taufen lässt. Von diesen drei Elementen, die

9 Gregor der Große, Dialogues [Dialogi libri IV], 3 Bde., hrsg. v. Adalbert de Vogüé (Sources chrétiennes 251, 260, 265), Paris 1978–80, Bd. 2, S. 278–284; dt. bei: Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Großen vier Bücher Dialoge, übers. v. Joseph Funk (Bibliothek der Kirchenväter II 3), München 1933, S. 116–119. Zum Werk s. Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters  8–10,  12,  15), 5  Bde., Stuttgart 1986–2004, Bd.  1, S.  305–324; zur vorliegenden Erzählung s. Bernhard Blumenkranz, Les auteurs chrétiens latins du Moyen Age sur les juifs et le judaïsme (Études juives 4), Paris, Den Haag 1963, S. 84f., Nr. 91. Die Frage der Echtheit von Gregors ‚Dialogen‘ ist für unseren Zusammenhang nicht von Belang; vgl. hierzu Rudolf Schieffer, Gregor I., der Große, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl. Bd. 3 (2000), Sp. 1257f.



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auch jeweils für sich erscheinen können, zu trennen ist die zugrundeliegende Vorstellung, die einen Tempel der im Verschwinden begriffenen heidnischen Religion als Aufenthaltsort der bösen Geister imaginiert. Es ist die Kombination dieser letztgenannten Vorstellung mit der Figur eines jüdischen Handlungsträgers, welche Gregors Erzählung von ihren möglichen Quellen unterscheidet.10 Zugleich ist es genau dieser Sachverhalt, den sie mit der jüdischen Geschichte im ‚Midrasch der Zehn Gebote‘ gemeinsam hat: Ein Jude übernachtet am Kultort einer fremden Religion und wird dort um Mitternacht Zeuge des Erscheinens von dämonischen Gestalten, die ihr Bemühen kundtun, die Gläubigen ins Verderben zu stürzen. Diese Ähnlichkeit lässt die Frage gerechtfertigt erscheinen, ob hier ein Zusammenhang denkbar ist. Gregors ‚Dialoge‘, in den Jahren 593/94 in Italien entstanden, waren im lateinischen Westen weit verbreitet, sie gelten geradezu als „[e]ines der fundamentalen Werke der europ[äischen] Erzählliteratur, zugleich formales Modell und Motivarsenal“11 für die Exempelsammlungen des christlichen Mittelalters. Der ‚Midrash ‘aseret hadibrot‘ hingegen, das wurde oben bereits gesagt, wird gemeinhin als eine der klassischen hebräischen Erzählsammlungen aus dem islamischen Kulturbereich aufgefasst. Dass eine Erzählung aus Gregors ‚Dialogen‘ im 10. Jahrhundert von den Juden des Zweistromlandes oder Persiens rezipiert worden sein könnte, scheint – ungeachtet der „weite[n] Ausstrahlung“ einer Übersetzung in den griechischsprachigen Osten12 – nicht eben naheliegend. Nun besteht hinsichtlich dieser Datierung und Lokalisierung des ‚Midrasch der Zehn Gebote‘ insofern eine gewisse Schwierigkeit, als entsprechende Textzeugen nicht überliefert sind. Die übliche Einordnung beruht einzig auf inneren Kriterien sowie auf der Tatsache, dass andere Erzählsammlungen – wie das ‚Alphabet des Ben Sira‘ oder die arabische Kompilation des Rabbi Nissim von Kairouan aus dem 10. bzw. 11. Jahrhundert – den ‚Midrasch der Zehn Gebote‘ vorauszusetzen scheinen.13 Manuskripte entsprechenden Alters und entsprechender Provenienz sind für keines der genannten Werke erhalten, Aussagen über ihren narrativen Bestand in dieser Frühzeit daher nicht möglich. Die älteste Handschrift, die wir vom ‚Midrash ‘aseret hadibrot‘ überhaupt besitzen, damit zugleich auch der älteste Beleg für unsere hebräische Erzählung, befindet

10 Zu diesen Quellen s. die Hinweise des Herausgebers in: Gregor der Große (Anm. 9), Bd. 1, S. 129f., 132–134, sowie den zugehörigen Kommentar. 11 Fidel Rädle, Gregor der Große, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd.  6 (1990), Sp.  113–117, hier Sp. 113f. 12 Berschin (Anm. 9), Bd. 1, S. 306. 13 ‚Midrash‘ (Anm. 6), S. 182f. Die genannten Werke sind in Übersetzung zugänglich in: Das Alphabet des Ben Sira, hrsg. u. übers. v. Dagmar Börner-Klein, Wiesbaden 2007, bzw. in: An Elegant Composition Concerning Relief after Adversity by Nissim ben Jacob ibn Shāhīn, übers. v. William M. Brinner, New Haven 1977.





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sich heute in der Bodleian Library in Oxford.14 Von aschkenasischer Hand geschrieben, war diese Handschrift schon im 14.  Jahrhundert im Besitz des Bischofs von Exeter; angefertigt wurde sie wohl im zweiten Viertel des 13.  Jahrhunderts vermutlich in der Champagne.15 Es ist also nicht auszuschließen, dass unsere Erzählung nicht dem ursprünglichen Bestand des ‚Midrash ‘aseret hadibrot‘ angehört (falls es einen solchen ‚ursprünglichen Bestand‘ überhaupt gegeben hat), sondern der Sammlung erst im Zuge ihrer Rezeption unter den Juden des christlichen Abendlandes einverleibt wurde. Mithin liegt es im Rahmen des Möglichen, dass sie die Kenntnis der Erzählung bei Gregor dem Großen zur Voraussetzung hat, von deren Popularität unter den zeitgenössischen Christen Frankreichs die Belege bei Jacques de Vitry, Vincent de Beauvais oder Étienne de Bourbon beredtes Zeugnis ablegen.16 Damit soll keineswegs behauptet werden, dass französische Juden des 13.  Jahrhunderts die lateinischen Exempelsammlungen ihrer christlichen Zeitgenossen rezipiert hätten.17 Zu denken ist vielmehr wohl an mündliche Verbreitungswege, wie sie von der jüngeren Forschung zunehmend in Betracht gezogen werden.18 Insbesondere angesichts der Schlusspointe von der Taufe des Juden mag es für Christen durchaus naheliegend gewesen sein, ihren jüdischen Nachbarn davon zu erzählen. Wie geht nun der jüdische Erzähler mit der Motivik vom Versammlungsort der bösen Geister um? Zunächst einmal stellt sich die Frage, was in der hebräischen

14 Ms. Bodl. Or. 135, hier fol. 349r; vgl. Adolf Neubauer, Catalogue of the Hebrew Manuscripts in the Bodleian Library, Oxford 1886, Nr. 1466. Zum Stellenwert dieser Handschrift innerhalb der narrativen Überlieferung des jüdischen Mittelalters s. Israel Lévi, Un recueil des contes juifs inédits, in: Revue des études juives 33 (1896), S. 47–63, 233–254; 35 (1897), S. 65–83; 47 (1903), S. 205–213; Eli Yassif, Sepher ha-Ma’asim. Character, Origins and Influence of a Collection of Folktales from the Time of the Tosaphists (hebr.), in: Tarbiz 53 (1983/84), S. 409–429; ‚Midrash‘ (Anm. 6), S. 112–114; zuletzt Elisheva Baumgarten u. Rella Kushelevsky, From The Mother and Her Sons to The Mother of the Sons in Medieval Ashkenaz (hebr.), in: Zion 71 (2006), S. 301–342. 15 Malachi Beit-Arié, MS Oxford, Bodleian Library, Bodl. Or.  135 (hebr.), in: Tarbiz  54 (1984/85), S. 631–634. 16 Frederic C. Tubach, Index Exemplorum. A Handbook of Medieval Religious Tales (FF Communications 204), Helsinki 1969, Nr. 1663 („Devils render accounts“), mit über zwanzig Belegen; vgl. ebd., Nr. 2791 („Jew christened by bishop“). 17 Schon der Gebrauch der lateinischen Schrift war wegen ihrer Assoziation mit der Kirche bei den Juden unter christlicher Herrschaft verpönt; mit entsprechenden Kenntnissen ist vor der Aufklärung nur in Ausnahmefällen zu rechnen. Dazu Chone Shmeruk, Yiddish Literature. Aspects of its History (hebr.) (Literature, Meaning, Culture 5), Tel Aviv 1978, S. 25f., 32f. 18 So bereits Joseph Dan, Rabbi Judah the Pious and Caesarius of Heisterbach. Common Motifs in their Stories, in: Scripta Hierosolymitana 22 (1971), S. 18–27, ND in: Ders., Jewish Mysticism, Northvale, N. J., 1998–1999, Bd. 3, S. 297–309. Vgl. seither Lucia Raspe, Jüdische Hagiographie im mittel­ alterlichen Aschkenas (Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism 19), Tübingen 2006, S. 106–119; zuletzt Elisheva Baumgarten, Shared Stories and Religious Rhetoric. R. Judah the Pious, Peter the Chanter and a Drought, in: Medieval Encounters. Jewish, Christian and Muslim Culture in Confluence and Dialogue 18 (2012), S. 36–54.



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Erzählung mit der ‘avoda zara, der dem Götzendienst geweihten Kultstätte, eigentlich gemeint ist. Die deutsche Übersetzung des ‚Midrash ‘aseret hadibrot‘ von August Wünsche, 1909 erschienen, gibt den Begriff als „Götzentempel“ wieder, die englische Wiedergabe eines Auszugs von Joel Rosenberg optiert 1990 noch eindeutiger für „a heathen“ bzw. „a pagan shrine“.19 In welchem Maße diese Übersetzungen apologetisch motiviert sind, sei hier dahingestellt; klar scheint jedoch, dass der vorchristliche Götzendienst – anders als vielleicht noch für Gregor den Großen – für die Juden Nordfrankreichs im 13. Jahrhundert kaum mehr ein Thema gewesen sein dürfte. Viel wahrscheinlicher ist, dass der Begriff der ‘avoda zara hier auf die Kultpraxis der zeitgenössischen christlichen Umgebungskultur zielt, die nach jüdischem Verständnis – gerade das macht den hebräischen Begriff ‘avoda zara für die christliche Seite ja so problematisch – prinzipiell als Götzendienst gelten musste.20 In diesem Sinne hat Ephraim Shoham-Steiner unsere Erzählung unlängst im Zusammenhang seiner Arbeit über Krankheit und Behinderung in der jüdischen Gesellschaft des Mittelalters als eine vergleichsweise offene Polemik gegen die christliche Heiligenverehrung gewertet,21 und damit hat er sicherlich recht. Indem die Erzählung Wunderheilungen an christlichen Kultstätten, deren Realität sie keineswegs in Zweifel zieht, für Augenwischerei erklärt, die für die Heilungsuchenden überdies den Verlust des ewigen Lebens zur Folge hat, warnt sie vor einer Beteiligung von jüdischer Seite; zugleich zeugt sie von dem Bedürfnis, der Anziehung, die die christliche Heiligenverehrung auf Juden ausgeübt haben dürfte, etwas entgegenzusetzen. Dass die Möglichkeit, bei entsprechendem Bedarf dem Vorbild ihrer christ­ lichen Nachbarn zu folgen und Hilfe bei deren Heiligen zu suchen, für Juden naheliegend gewesen sein muss, leuchtet ein und lässt sich auch anderweitig belegen.22 Ein anschauliches Beispiel bietet das handschriftlich überlieferte Mirakelbuch der Benediktinerabtei St. Matthias in Trier aus dem 12. Jahrhundert, wo von einem Juden berichtet wird, der akut an Malaria erkrankt und schon völlig verzweifelt gewesen sei, als er eines Tages auf dem Markt einer Gruppe fremdartig gekleideter Menschen begegnete, die auf Nachfrage erklärten, zum Grab des heiligen Matthias unterwegs zu sein, denn wer diesen demütig anflehe, erlange Heilung der Seele und des Körpers. Darauf habe der Jude bei sich gedacht, er wolle ebenfalls das Grab des Apostels auf­suchen. Er habe dort auch tatsächlich Heilung gefunden; seine dem Heiligen im Gegenzug in Aussicht gestellte Taufe sei allerdings – zum Bedauern des Verfassers  – letzten

19 ,Israels Lehrhallen‘ (Anm. 6), S. 86; Midrash on the Ten Commandments, übers. v. Joel Rosenberg, in: David Stern u. Mark J. Mirsky (Hgg.), Rabbinic Fantasies. Imaginative Narratives from Classical Hebrew Literature, Philadelphia, New York 1990, ND New Haven, London 1998, S. 91–119, hier S. 97. 20 Dazu grundlegend Jacob Katz, Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times (Scripta Judaica 3), Oxford 1961, ND New York 1962. 21 Ephraim Shoham-Steiner, Jews and Healing at Medieval Saints’ Shrines. Participation, Polemics and Shared Culture, in: Harvard Theological Review 103 (2010), S. 111–129. 22 Raspe (Anm. 18), S. 126–129.





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Endes doch ausgeblieben.23 Der Bericht zielt primär auf den Aufweis eines weiteren Mirakels des Heiligen, bleibt dabei, was den Juden angeht, aber ganz unpolemisch. In der Schilderung der Art und Weise, wie diesem durch die Begegnung mit auswärtigen Pilgern die Kunde vom Wirken des Heiligen zu Ohren kommt, woraufhin er sich selbst zur Wallfahrt entschließt, bildet der christliche Bericht ein genaues Gegenstück zu unserer jüdischen Erzählung; beide dürften die mittelalterlichen Verhältnisse kaum völlig unrealistisch wiedergeben. Es ist genau diese so naheliegende jüdische Beteiligung an christlicher Heiligenverehrung, vor der die vorliegende Erzählung warnt. Sie geht aber noch um einiges darüber hinaus, indem sie einen Eindruck davon gibt, wie Juden im lateinischen Westen über die christliche Religion insgesamt gedacht haben mögen. Einen Ansatzpunkt für eine solche Interpretation bietet die Rolle des Dämons. Anders als bei Gregor dem Großen, aber ganz im Einklang mit anderen Zeugnissen mittelalterlicher jüdischer Dämonologie24 verkörpert diese nächtliche Erscheinung in der hebräischen Erzählung nämlich keineswegs eine Gottes Wirken entgegengesetzte böse Macht, deren Lebensinhalt darin bestünde, die Gläubigen der jeweils eigenen Religion vom rechten Pfad abzubringen. Im Gegenteil: Der Dämon selbst verweigert dem Juden die Teilhabe am fremden Kult und ermahnt ihn, sich auf die – ihm ja schließlich verfügbaren – tatsächlichen religiösen Wahrheiten zu besinnen. Damit fungiert er keineswegs als Gesandter Satans,25 sondern vielmehr geradezu als Sprachrohr der jüdischen Religion. „Glauben Juden denn an Götzen? Solltest du als Jude das nicht besser wissen?“ Wie der Dämon dem Lahmen mit diesen Worten die kurzfristige Milderung von dessen äußerlichem Leiden durch die Beteiligung an einer christlichen Kulthandlung versagt, um sein Seelenheil zu retten, so besteht umgekehrt für die Christen – als Christen – keinerlei Hoffnung. Die Warnung der Exempelerzählung richtet sich damit auch durchaus nicht an die Angehörigen beider Religionen,26 sie bleibt vielmehr vollständig der jüdischen Binnenperspektive verpflichtet. Die christlichen

23 Trier, Bischöfliches Priesterseminar, Hs.  98, fol.  105v–107r. Ein Digitalisat der noch unedierten Handschrift bietet das „Virtuelle Skriptorium St. Matthias“ unter URL http://stmatthias.uni-trier.de ­(einges. 23.06.2014). Den Hinweis auf diese Erzählung und eine Transkription des betreffenden Stücks verdanke ich Christoph Cluse und seinem Trierer Kollegen Gerd Mentgen; eine deutsche Übersetzung bietet: Aus dem Altmattheiser Wunderbuch, hrsg. v. Johannes Hau, Trier 1948, S. 208–211, Nr. 117. 24 Ein klassisches Beispiel ist die unter dem Titel ‚Ma‘ase Yerushalmi‘ bekannte Erzählung, in dem die Untertanen des Dämonenkönigs Ashmedai als explizit jüdische Dämonen vorgestellt sind, ­welche die Gebote halten und dreimal am Tag in der Synagoge beten. Dazu Joseph Dan, Five Versions of the Story of the Jerusalemite, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research 35 (1967), S. 99–111, ND in: ders., Jewish Mysticism (Anm. 18), Bd. 3, S. 283–296. Ein Textzeuge ist im hebrä­ ischen Original und in deutscher Übersetzung zugänglich in: Der Jude und die Tochter des Dämonenfürsten. Eine jüdische Geschichte aus dem Mittelalter, hrsg. u. übers. v. Michael Krupp, Ein Karem 2005. 25 Vgl. Shoham-Steiner (Anm. 21), S. 121 („an envoy of Satan“). 26 Ebd., S. 121f.



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Kranken werden gesalbt und damit geheilt. Gerade diese Tatsache aber, die die Erzählung überhaupt nicht bestreitet, impliziert keineswegs, dass Gott es besonders gut mit ihnen meinte. Im Gegenteil: Der Dämon nimmt die Heilungen einzig und allein deshalb vor, um den Betroffenen eine Wirkmächtigkeit ihrer religiösen Überzeugungen vorzugaukeln, die diese in Wahrheit nicht besitzen, und sie insofern in ihrem christlichen Irrglauben zu bestärken. Wenn er dabei nicht eine teuflische Gegenwelt repräsentiert, sondern die Grundsätze der jüdischen Religion, dann unterstellt die Erzählung, dass Gott selbst die Nichtjuden mit voller Absicht in ihr Verderben laufen lässt, weil er nicht sie liebt, sondern das alte Israel.27 Es geht in der jüdischen Variante damit nicht nur oder vielleicht nicht einmal in erster Linie um die christliche Heiligenverehrung, sondern im Grunde um das Christentum an sich. Die Salbung, die der Dämon dem Juden verweigert, erinnert nicht von ungefähr an das Chrisam der Taufe. Dies legt die Überlegung nahe, dass hier möglicherweise überhaupt vor der Konversion gewarnt wird28 – vor der Konversion als dem Heilmittel für die Realitäten eines bedrückenden Alltags, welcher die Zugehörigkeit zum Judentum als ein Gebrechen erscheinen lässt. Diejenigen, die angesichts dessen ihr Heil in der Kirche suchen, ahnen nicht, dass der äußere Anschein trügt und dass der scheinbare Erfolg der christlichen Religion einzig dem Zweck dient, ihre Anhänger umso erbarmungsloser ins Verderben zu stürzen. Der Erzähler unserer Geschichte weiß das – oder möchte es zumindest wissen. Der Jude, der in dieser Welt viel einzustecken hat, kann immer noch auf die kommende Welt rechnen. Verloren ist er erst dann, wenn er sich auf die Verlockungen des Christentums einlässt, was unser Dämon – und mit ihm der Erzähler – gerade zu verhindern sucht. Stattdessen rät die Erzählung, in Gottvertrauen auszuharren: Wenn die Zeit gekommen ist, und das mag schon morgen der Fall sein, wird das Leiden der Juden ein Ende haben. Damit gibt unser Text zu guter Letzt vielleicht auch eine angemessene Antwort auf die Zumu-

27 Die älteste handschriftliche Fassung der Erzählung in Ms. Bodl. Or. 135, fol. 349r, zitiert hier Hi 12, 23 (bei Zunz [Anm. 4]: „Hochwachsen läßt er Völker, und vernichtet sie; ausbreitet er Völker, und entrückt sie“) – einen Vers, der in der zeitgenössischen polemischen Literatur ebenfalls herangezogen wird, um die Wunderheilungen an christlichen Kultstätten als bewusste Irreführung durch Gott selbst zu erklären, indem der Vers als „er stellt ihnen Fallen und fängt sie darin“ wiedergegeben wird. Siehe dazu: The Jewish-Christian Debate in the High Middle Ages. A Critical Edition of the Niẓẓaḥon Vetus, hrsg. u. übers. v. David Berger (Judaica. Texts and Translations 4), Philadelphia 1979, S. 147f., Nr. 217 (hebr.) = S. 210f. (engl.); vgl. Shoham-Steiner (Anm. 21), S. 122–125, sowie zuletzt Judah Galinsky, Different Approaches towards the Miracles of Christian Saints in Medieval Rabbinic Literature, in: Avraham (Rami) Reiner u. a. (Hgg.), Ta Shma. Studies in Judaica in Memory of Israel M. Ta-Shma (hebr.), Alon Shevut 2011, Bd. 1, S. 195–219, hier S. 211f. 28 In diese Richtung geht auch die Schlusswendung („darum glaube der Mensch an den lebendigen und beständigen Gott“) der Variante in ‚Midrash‘ (Anm.  6), S.  48, auf deren polemischen Subtext Shoham-Steiner (Anm. 21), S. 119, Anm. 21, hingewiesen hat. In der Fassung in ‚Bet ha-Midrasch‘ (Anm. 6), S. 71, bzw. in ‚Israels Lehrhallen‘ (Anm. 6), S. 86 („selbst wenn sie kommen, ihm sein Leben zu nehmen“), klingt sogar das Motiv des Martyriums angesichts drohender Zwangstaufe an.





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tung, die aus jüdischer Sicht in der Funktionalisierung der Figur des Juden bei Gregor dem Großen liegt, auf seine Rolle als Zeuge christlicher Weltanschauung, die ganz selbstverständlich in die Taufe führt. Keine schöne Erzählung also; kein Wunder vielleicht, wenn die Übersetzer des 20. Jahrhunderts vor ihren Implikationen zurückschrecken. Es scheint allerdings, und damit kommen wir abschließend auf die jiddischen Fassungen zurück, dass solche Bedenken nicht erst im 20.  Jahrhundert wirksam werden. Schon die italienischen Drucke des hebräischen ‚Midrash ‘aseret hadibrot‘ lesen seit der Ausgabe Venedig 1599 nicht ‘avoda zara, sondern ‘avodat elilim, also wörtlich „Götzendienst“ – inhaltlich dasselbe, aber weit weniger stark mit antichristlichen Konnotationen befrachtet. Die Ausgabe Venedig 1605 hält es darüber hinaus für nötig, unsere Erzählung einleitend ausdrücklich in die Zeit „vor zweitausend Jahren“ zurückzuverlegen.29 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass beide Änderungen die Forderungen der kirchlichen Zensur reflektieren, wie sie in Italien seit der Talmudverbrennung von 1553 erhoben und 1596 im ‚Sefer haziqquq‘ des Konvertiten und Zensors Domenico Gerosolimitano formuliert worden waren.30 Sollten diese Entwicklungen die zeitgenössische jiddische Literatur ganz unberührt gelassen haben? Erst vor wenigen Jahren ist im Nachlass des christlichen Hebraisten Johannes Buxtorf d. Ä. (1564–1629) die Transkription einer Erzählung aufgetaucht, die keine Aufnahme in den Baseler ‚Mayse bukh‘-Erstdruck fand. Diese Entdeckung hat uns die Möglichkeit einer Einflussnahme christlicher Zensur – als deren Vertreter Buxtorf in Basel fungierte – auf die Drucklegung der großen jiddischen Sammlung eindringlich vor Augen geführt.31 Unsere Erzählung ließ Buxtorf durchgehen. Erst die Herausgeber des ‚Mayse bukh‘Nachdrucks, der um 1665 in Prag erschien,32 hielten es offenbar für angebracht, den

29 Darüber hinaus werden in diesen Drucken sowohl ‘avoda zara als auch ‘avodat elilim in diskreter Weise (als ‫ ע״ז‬bzw. ‫ )ע״א‬abgekürzt. Als Digitalisat verfügbar ist die Ausgabe Venedig 1599 in der ­Jerusalemer Nationalbibliothek unter URL http://aleph.nli.org.il/nnl/dig/books/bk001910549.html (einges. 23.06.2014). 30 Vgl. dessen Grundprinzipien bei Amnon Raz-Krakotzkin, The Censor, the Editor, and the Text. The Catholic Church and the Shaping of the Jewish Canon in the Sixteenth Century, übers. v. Jackie Feldman (Jewish Culture and Contexts), Philadelphia 2007, S. 121–123. 31 Erika Timm, Abraham ibn Ezra und das Maiśebuch, in: Marion Aptroot u. a. (Hgg.), Leket. Jiddistik heute (Jiddistik. Edition & Forschung 1), Düsseldorf 2012, S. 281–308. Zu Buxtorfs Tätigkeit als Zensor für den hebräischen Buchdruck in Basel auch Stephen G. Burnett, From Christian Hebraism to Jewish Studies. Johannes Buxtorf (1564–1629) and Hebrew Learning in the Seventeenth Century (Studies in the History of Christian Thought 68), Leiden, New York, Köln 1996, Kap. 2, bes. S. 37f. 32 Zu dieser Ausgabe Meitlis (Anm.  7), S.  32f., und Zfatman (Anm.  1), S.  45, Nr.  24. Im einzigen bekannten Exemplar in der National Library of Israel, Jerusalem, fehlt die entsprechende Lage. Der Nachdruck, der um 1674 in Wilhermsdorf erschien (zugänglich unter URL http://sammlungen.ub.unifrankfurt.de/jd/urn/urn:nbn:de:hebis:30:2-5934 [einges. 23.06.2014]) und der sich – ebenso wie die Ausgaben Amsterdam 1701 und 1723 – an der Prager Ausgabe orientiert, hat jedoch bereits den veränderten Text. Zur Rolle der Zensur in Prag zuletzt Alexandr Putík, The Censorship of Hebrew Books



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„Götzendienst“ (‘avoda zara) der Baseler Erstausgabe durch „Zauberei“ (kishuf bzw. mekhashfim) zu ersetzen; ähnlich übrigens erscheint in den Nachdrucken statt der Baseler „Nichtjuden“ (goyim) das neutralere „Leute“ (layt). Die Auswirkungen von Zensurrücksichten auf die narrative Überlieferung des jüdischen Mittelalters, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert in beiden Sprachen im Druck manifestierte, sind bislang noch kaum erforscht.33 Im vorliegenden Fall ist das Ergebnis ein eigenwilliger Text, dessen Pointe, um es milde auszudrücken, sich nicht unmittelbar erschließt; aus jiddistischer Perspektive ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit, den Wortlaut der Amsterdamer ‚Mayse bukh‘-Nachdrucke (und damit auch der Übersetzungen von Diederichs, Gaster oder Pappenheim) stets an der Baseler Erstausgabe zu überprüfen.34 In der Gesamtschau bieten die mittelalterlichen Fassungen unserer Erzählung ein aufschlussreiches Beispiel für die Art und Weise, wie es Juden unter christlicher Herrschaft gelingen konnte, sich gegen die Kultur der Umgebungsgesellschaft, ihre Zumutungen ebenso wie ihre unzweifelhaft große Anziehungskraft, zu behaupten, indem sie sich Elemente eben dieser Kultur aneigneten und sie zugleich polemisch überschrieben.35 Die späte jiddische Fassung hingegen dokumentiert eine Überschreibung anderer Art: Sie demonstriert die Grenzen solcher narrativen Selbstbehauptung im Zeitalter des Drucks.

in Prague 1512–1670 (1672), in: Olga Sixtová (Hg.), Hebrew Printing in Bohemia and Moravia, Prag 2012, S. 186–213. 33 Siehe jedoch Erika Timm, Beria und Simra. Eine jiddische Erzählung des 16. Jahrhunderts, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 14 (1973), S. 1–94, hier S. 55; Raspe (Anm. 18), S. 146, 257–259. 34 Vgl. Raspe (Anm.  18), S.  106f., 213f., 295f. Dies fällt umso leichter, als die editio princeps seit ­einigen Jahren bequem im Faksimile zugänglich ist: Un beau livre d’histoires. Eyn shön Mayse bukh, hrsg. u. übers. von Astrid Starck (Schriften der Universitätsbibliothek Basel 6), Basel 2004. Unverständlich bleibt in Anbetracht dessen die französische Übersetzung unserer Erzählung ebd., Bd. 2, S. 534, Nr. 190, welche ‘avoda zara wiederum mit „magie“ wiedergibt – eine Entscheidung, die den Übersetzungen von Gaster und Pappenheim verpflichtet erscheint, während sie die abweichende eigene Textgrundlage unberücksichtigt lässt. 35 Der Historiker Ivan G. Marcus hat für solche Phänomene den Begriff der „inward acculturation“ geprägt. Dazu ders., Rituals of Childhood. Jewish Acculturation in Medieval Europe, New Haven, London 1996, bes. S. 8–13.



Simone Loleit (Essen)

Gefangenschaft in der Fremde als inter- und intrakulturelles Herrschaftsund Beziehungsmodell Abstract: Der Beitrag untersucht am Beispiel der Romane ‚König Rother‘, ‚Salman und Morolf‘ und Rudolfs von Ems ‚Der Guote Gêrhart‘ sowie der Novellen V2 und X9 aus Giovanni Boccaccios ‚Decameron‘ das Motiv bzw. die Erzählsequenz der ‚Gefangenschaft in der Fremde‘ in Hinblick auf die Paradigmen Herrschaft und zwischenmenschliche Beziehung (Freundschaft, Liebe, Ehe).

Der vorliegende Beitrag zum Motiv oder besser: zur Erzählsequenz ‚Gefangenschaft in der Fremde‘ greift aus dem weiten Feld von Gefangenschaftsdarstellungen in mittelalterlicher Erzählliteratur1 eine Reihe von Beispielen heraus, in denen es um Gefangenschaft in interkulturellem Kontext geht. Die exemplarisch zu untersuchenden Erzählsequenzen entstammen den Romanen ‚König Rother‘, ‚Salman und Morolf‘ und Rudolfs von Ems ‚Der guote Gêrhart‘ sowie den Novellen V2 (‚Constanza und Martuccio‘) und X9 (‚Saladin und Herr Torello‘) aus Giovanni Boccaccios ‚Decameron‘.2 Ausgehend von der Frage nach der Funktionalisierung der ausgewählten Passagen im Kontext der jeweiligen Texte soll erörtert werden, inwiefern ‚Gefangenschaft in der Fremde‘ als allgemeineres imaginäres Versatzstück im Kontext mittelalterlicher Erzählkultur aufgefasst werden kann, das neben wiedererkennbaren Erzählmustern3

1 Das Motiv und Thema der Gefangenschaft wurde für die deutschsprachige mittelalterliche Literatur einschlägig, gattungsübergreifend und mit einem dezidiert kultur-, rechts- und sozialgeschichtlichen Ansatz untersucht von Elizabeth Lawn, Gefangenschaft. Aspekt und Symbol sozialer Bindung im Mittelalter – dargestellt an chronikalischen und poetischen Quellen, Frankfurt a. M. u. a. 1977. 2 Verwendete Ausgaben: König Rother, Mhd. Text u. nhd. Übersetzung von Peter K. Stein, hrsg. v. Ingrid Bennewitz, unter Mitarbeit von Beatrix Kroll u. Ruth Weichselbaumer, Stuttgart 2000 (im Folgenden kurz zitiert als Roth.); Salman und Morolf, hrsg. v. Alfred Karnein (Altdeutsche Textbibliothek 85), Tübingen 1979 (im Folgenden kurz zitiert als SuM); Rudolf von Ems, Der guote Gêrhart, hrsg. v. John A. Asher (Altdeutsche Textbibliothek  56), 3.  durchges. Aufl. Tübingen 1989 (im Folgenden kurz zitiert als GG); Giovanni Boccaccio, Il Decameron, 2 Bde., hrsg. v. Carlo Salinari, Bari 1979 (im Folgenden kurz zitiert als Decam.). 3 Die behandelten Erzählsequenzen umfassen neben Gefangennahme und Gefangensein/Gefangenhalten den Umgang mit den Gefangenen sowie den (aus Sicht der Gefangenen) günstigen Ausgang: Befreiung, Flucht bzw. Freilassung. Bezogen auf die Gesamthandlung der Texte ist festzustellen, dass in allen Texten – im ‚Rother‘ fast prototypisch, in ‚Salman und Morolf‘ stark modifiziert, im ‚Guoten Gêrhart‘ und in den Novellen Boccaccios anspielungs- und versatzstückweise – das so­genannte Brautwerbungsschema erkennbar ist, welches in Analogie zur Gefangenschaft die ambivalente Doppelstruktur von Einschließung und Befreiung/Ausbruch hat.

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auch ein Spektrum vergleichbarer Vorstellungen aufgreift. Hierzu gehört u. a., dass das der Gefangenschaft inhärente Prinzip von Inklusion und Exklusion durch den speziellen Aspekt des Kulturkontakts sozusagen wiederholt wird; damit wird eine weitere Grenze eingezogen, auf deren Wahrung bzw. Durchkreuzung/Aufhebung die Handlungen der Protagonistinnen und Protagonisten abzielen. Die ‚Fremde‘ kann somit u. a. als Spiegelung der ‚Gefangenschaft‘ aufgefasst werden (und umgekehrt); außerdem lassen sich, über die jeweilige Kernszene, also die fiktionale Darstellung einer Gefängnissituation hinausgehend, weitere (metaphorische) Spiegelungen des Gefangenseins/Gefangenhaltens beobachten, z. B. eheliche oder an einen Vormund gebundene Abhängigkeitsverhältnisse. Die vorliegende Untersuchung fokussiert die Figurenebene4 und dabei insbesondere die Figurenbeziehungen, -konstellationen und Handlungsspielräume. Laut Lawn steht Gefangenschaft in vielen Texten „als Symbol für Dienstbindungen“,5 eine Beobachtung, die auch auf die hier behandelten Texte zutrifft. Das eng mit dem ­triuwe-Begriff verbundene mittelalterlich-feudale Prinzip des dienest ist eine zentrale Grundlage von Herrschaft, wobei der Herrscher Teil eines hierarchisierten Personenverbands ist. Die in dem Beitrag verfolgten Teilfragen nach Gefangenschaft als (I.) Herrschafts- und (II.) als Beziehungsmodell sind somit letztlich untrennbar mit­ einander verbunden. Dementsprechend sind die in den behandelten Texten geschilderten zwischenmenschlichen Beziehungen durch den Stand der Protagonisten und das Setting der Texte in herrschaftliche Beziehungen eingebunden. Darüber hinaus, so die im Folgenden näher zu erörternde These, wird ‚Gefangenschaft in der Fremde‘ in den behandelten Texten zum Anlass genommen, Grundbedingungen von Herrschaft und Beziehung zu reflektieren.

1 Gefangenschaft als Herrschaftsmodell Auf der Ebene der Fiktion ist zwischen inter- und intrakulturellen Beziehungen zu unterscheiden, also solchen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturkreise und solchen zwischen Angehörigen desselben Kulturkreises. Der fiktive interkulturelle Kontakt verläuft in den behandelten Texten entlang der West-Ost-Achse,6 die in der

4 Untersucht werden sollen also die Figurenbeziehungen und -konstellationen, Handlungsspielräume und Charakterisierungen. Neben der Relation der gefangenen Person zu derjenigen, die sie gefangen genommen bzw. die Gefangennahme veranlasst hat, sind weitere Figurenbeziehungen festzustellen: die Beziehungen der Gefangenen untereinander, wenn es mehrere sind; Beziehungen zu Freunden, Verwandten, Ehepartner, Dienstherrn, Gefolgsleuten, Wächtern etc. 5 Lawn (Anm. 1), S. 357. 6 Folgende Länder/Gebiete kommen als Handlungsschauplätze vor: in ‚Salman und Morolf‘ (nur bezogen auf den ersten Rückeroberungszyklus): [Indien –] Jerusalem/Palästina – Ägypten; im ‚Rother‘: Bari/Rom – Konstantinopel/Byzanz – Babylon/Ägypten; im ‚Guoten Gêrhart‘: Köln/römisch-deut-





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Regel religiös konnotiert ist, überwiegend als Gegensatz von christlicher und heidnischer Welt. Die in den Texten geschilderten interkulturellen Beziehungen können zwar teilweise in Bezug zu einem außertextuellen historisch-geographischen Ereignisraum gesetzt werden, bleiben in ihrem Aussagegehalt jedoch gänzlich auf die westliche Perspektive beschränkt. Vermittelt wird, bezogen auf den anderen Kulturkreis, ein westlich geprägtes, überwiegend rein klischeehaftes Bild der fremden Kultur und eine ebenfalls westlich geprägte Vorstellung von dem, was Kulturkontakt bedeutet. Zu unterscheiden ist somit zwischen der Ebene der Fiktion und dem daran geknüpften, nur mit Hilfe einer historischen Kontextualisierung zu erschließenden, ideologischen Aussagegehalt. Dieser ist intrakulturell, d. h. über das Fremdbild der anderen Kultur wird ein Selbstbild entworfen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Ebenen: Fiktion interkultureller Beziehungen vs. intrakultureller ideologischer Aussagegehalt, soll zunächst am Beispiel des Umgangs mit den Gefangenen demonstriert werden. Das Gefangenschaftsmotiv wird mehrfach genutzt, um abweichende Standards im Umgang mit den Gefangenen zu demonstrieren: In ‚Salman und Morolf‘ wird zunächst der heidnische König Fore, als er einen Militärzug unternimmt, um Salme, die ursprünglich heidnische Braut des christlichen Königs Salman, zu erobern (bzw. für die heidnische Welt zurückzuerobern), gefangen genommen. Salman tötet den Gegner nicht, sondern hält Fore in Gefangenschaft und lässt ihn, gegen den ausdrücklichen Rat seines Bruders Morolf, durch seine Frau Salme bewachen. Fore erweckt, u. a. mit magischen Techniken, Salmes Liebe und erreicht, dass sie ihm zur Flucht verhilft und ihm später selbst nachfolgt. Diese Handlung findet sich später in gespiegelter Form am Hof Fores wieder: Salman ist zusammen mit Morolf und seinen Truppen vor Ort, um Salme zurückzuholen. Bei einem Alleingang in Fores Burg wird er trotz seiner Verkleidung als Pilger erkannt und gefangen genommen. Fore, der zunächst geneigt scheint, Salman gehen zu lassen, bestimmt schließlich unter dem Einfluss Salmes, dass Salman eine Nacht in Ketten gelegt und am nächsten Tag am Galgen hingerichtet werden soll. Ausschlaggebend hierfür ist eine List Salmans, der auf die Frage Fores, wie er im umgekehrten Fall verfahren würde, scheinbar auf naive Weise rachsüchtig eben die Hinrichtung am Galgen nennt – und damit Morolf zuarbeitet, der seine Truppen bereits in der Nähe des Galgens versammelt hat. Fores Schwester, die eine besondere Zuneigung zu Salman empfindet (und ihn zu einem späteren Zeitpunkt, nach der Ermordung Salmes, auch heiraten wird), erwirkt, dass er ohne Fesseln die Nacht in ihrer Bewachung verbringen kann. Ihr Angebot ihn heimlich freizulassen, wird von Salman ausgeschlagen, da sie dadurch ihr eigenes Leben gefährden würde – zudem verlässt er sich auf die Intervention seines Bruders Morolf und auf das heimlich unter dem Pilgergewand verborgene Schwert.7

sches Reich – England – Norwegen – Marokko; in ‚Decameron‘, V2: Lipari/Sizilien – Berberei/Tunis – Ort in der Nähe von Susa/Sarazenen; in ‚Decameron‘, X9: Babylon/Ägypten – Pavia/Lombardei. 7 Vgl. SuM (Anm. 2), Str. 76–147, 384–476.



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Indem das Verhalten der beiden Herrscher Fore und Morolf gegeneinander abgesetzt wird, werden in der ersten Erzählsequenz dem christlichen Herrscher höhere moralische Standards zugesprochen als dem heidnischen; als Merkmal, mit dem sich der christliche Herrscher vom heidnischen unterscheidet, wird das Fairnessgebot herausgestellt. Als Gefangener Fores handelt Salman hingegen vornehmlich strategisch, mit dem Ziel sich zu befreien, aber auch Fore zu besiegen und Salme zurückzuerobern. Salmans Handeln wird hier also nicht von Fairness bestimmt (er befindet sich ja auch nicht im eigenen Machtbereich), sondern von Klugheit und List – Verhaltensweisen, die zuvor Fore an den Tag gelegt hatte und in denen er nun von Salman übertrumpft wird. Hierbei erweist sich nun, dass das Zusammenspiel zwischen Herrscher und Berater im christlichen Lager letztlich besser funktioniert als im heidnischen. Bezüglich der Bewachung Fores hatte sich Salman, mit fatalen Konsequenzen, als beratungsresistent erwiesen. Am Hof Fores agiert Salman hingegen so, wie es der von Morolf klug ersonnene Plan vorsieht.8 Fore wird von Salme und seiner dieser gegenüber feindselig eingestellten Schwester in zwei völlig konträre Richtungen beraten. Im Unterschied zu Salme durchschaut er die Gefährlichkeit Salmans nicht9 und erkennt zudem nicht, dass seine Schwester mit Salman sympathisiert und zu dessen Parteigängerin geworden ist.10 An die Gefangenschaft werden im erzählerischen Kontext also drei Grundpfeiler von Herrschaft: Fairness, Klugheit und Beratung, geknüpft und der christliche Herrscher im Zusammenspiel dieser Eigenschaften als überlegen inszeniert. Desweiteren ist anzumerken, dass die Gefangenschaft als Konsequenz einer konfliktären intra­ kulturellen Beziehung betrachtet werden kann, wobei die Wurzel dieses Konflikts die gewaltsame Entführung Salmes ist, die eine Krise im Äußeren (Krieg), aber auch eine Krise im Inneren (temporäres Zerwürfnis zwischen Salman und Morolf)11 auslöst. Die an ‚Salman und Morolf‘ dargestellten Aspekte lassen sich auch am ‚Guoten Gêrhart‘ des Rudolf von Ems aufzeigen. Hier bildet, wie Wolfgang Walliczek ausführlich darlegt, die Perspektive auf die Gefangenen ein Distinktionsmerkmal zwi-

8 Vgl. ebd., Str. 444–445a, 494–517. 9 Vgl. ebd., Str.  425–427. Noch nachdem er das Todesurteil über Salman gesprochen hat, äußert er gegenüber seiner Schwester, dass er persönlich Salman lieber ziehen lassen würde, sich dies aber aus Angst vor der Reaktion Salmes nicht traue (vgl. ebd., Str. 458f.). Fatalerweise nimmt er schließlich Salmes Warnung, Salman nicht das Horn blasen zu lassen, nicht ernst (vgl. ebd., Str. 496–498) und ermöglicht seinem Gegner so, die rettenden Truppen herbeizurufen. 10 Sie hält Fore dazu an, Salme an Salman auszuliefern (vgl. ebd., Str. 428f.) und berät, als er dies ablehnt, heimlich Salman, wie er gegenüber Fore auftreten soll (vgl. ebd., Str. 432–437). Sie verbürgt sich gegenüber Fore, Salman nicht entfliehen zu lassen (vgl. ebd., Str. 456), bietet diesem dann aber an ihn freizulassen, weil sie weiß, dass ihr Bruder ihr nichts antun würde (vgl. ebd., Str. 471f.). 11 Vgl. Simone Loleit, Grenzgängerisch? Roland und Morolf in gefährlicher Mission, in: Ina Karg (Hg.), Europäisches Erbe des Mittelalters. Kulturelle Integration und Sinnvermittlung einst und jetzt. Ausgewählte Beiträge der Sektion II „Europäisches Erbe“ des Deutschen Germanistentages 2010 in Freiburg i. Br., Göttingen 2011, S. 51–65, hier S. 56–60.





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schen christlicher und heidnischer Welt: Die norwegische Königstochter Erene hat mit dem Gefolge ihres englischen Bräutigams Willehalm an der marokkanischen Küste Schiffbruch erlitten und ist in die Gefangenschaft des heidnischen Kaufmanns Strânmur geraten. Der Kölner Fernhandelskaufmann Gêrhart, der – mit reicher Ware an Bord seines Schiffs – ebenfalls strandet, aufgrund seines kaufmännischen Status aber einer Gefangennahme entgeht, bekommt die Gefangenen als Tauschgut gezeigt. Die menschliche ‚Ware‘ wird ihm von Strânmur ohne genauere Charakterisierung als koufschatz den ich hân12 angekündigt; entsprechend lässt sich Gêrhart mit der Erwartung, ‚normales‘ Handelsgut: „Gold und Silber“, gezeigt zu bekommen, durch die Kemenaten führen und findet dort „keine Schatzkammern, sondern Gefängnisse“ vor.13 Walliczek kommentiert dies folgendermaßen: Was für Stranmûr nach dem Strandrecht zunächst einmal ganz real materiellen Besitz bedeutet, über den er nach Belieben verfügen kann, ist für Gêrhart alles andere als gerade das, kein ‚Handelsgut‘, sondern ein Haufen armer Gefangener in ihrem Elend, sind keine gewinnverheißenden Wertobjekte, sondern Träger von Idealwerten einer höfisch-ritterlichen Kultur und in diesem tieferen metaphorischen Sinne ein einzigartiger koufschatz und süezer gewin.14

Es ist daher nicht der von Strânmur in Aussicht gestellte materielle Gewinn, der Gêrharts Entschluss begründet, die Gefangenen unter Einsatz seines gesamten Handelsgutes auszulösen.15 Den Entschluss zu dem Gefangenenfreikauf fasst Gêrhart in einem Gebet, in dem er von einem Engel verschiedene Handlungsperspektiven aufgezeigt bekommt. In dem vorliegenden Zusammenhang erscheint von besonderer Wichtigkeit, dass die Entscheidung zur Gewissensentscheidung16 wird und religiöse Argumentationsmuster zur Entscheidungsfindung beitragen. Dabei erscheint Walliczeks Hinweis bedeutsam, dass die „Konfliktsituation vor dem Gefangenenloskauf“17 insofern als

12 GG (Anm. 2), v. 1501. 13 Wolfgang Walliczek, Rudolf von Ems ‚Der guote Gêrhart‘ (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 46), München 1973, S. 18. 14 Ebd., S. 19. 15 Leider kann ich an dieser Stelle die kontroverse Forschungsdebatte zu Gêrharts Motiven nicht darstellen; ich würde mich jedoch denjenigen Forschungspositionen anschließen, die Gêrhart keine geschäftsmäßigen Absichten beim Gefangenenfreikauf unterstellen. Vgl. Dieter Kartschoke, Der Kaufmann und sein Gewissen, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), S. 666–691, hier S. 687f.; Walliczek (Anm. 13), S. 25f., 35f.; Sonja Zöller, Kaiser, Kaufmann und die Macht des Geldes. Gerhard Unmaze von Köln als Finanzier der Reichs­ politik und der Gute Gerhard des Rudolf von Ems (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 16), München 1993, S. 303, 305. 16 Siehe hierzu die Interpretation des ‚Guoten Gêrhart‘ als „epische Entfaltung eines ‚casus conscientiae‘“. Kartschoke (Anm. 15), S. 680. 17 Walliczek (Anm. 13), S. 13.



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Schlüsselszene zu verstehen sei, als es sich dabei um „Gêrharts erste Ratsuche“18 handele. Im Laufe des Romans durchlaufe Gêrhart einen „Rollenwechsel [...] vom rât-Suchenden zum rât-Vermittler“.19 Indem Gêrhart in der Binnenhandlung wie auch in der Rahmenhandlung Beraterfunktionen für Herrscher übernimmt,20 wird der Herrschaftsbezug des râts unterstrichen. Anders als in ‚Salman und Morolf‘ wird rât, deutet man Gêrharts Entscheidungsprozesse als vorbildhaft, als ein von dem Herrscher durch Befragung seines Gewissens selbst zu leistender Prozess dargestellt. Gleichzeitig erscheint das Gespräch mit denjenigen, die von der Entscheidung betroffen sind, als zentral – Gêrhart sucht das Einverständnis der Gefangenen, bevor er sie loskauft.21 Dies könnte in folgenden assoziativen Zusammenhang mit dem Gefängnismotiv gestellt werden, das in der Handlung unauflöslich an die Schlüsselszene der rât-Suche gebunden ist: Das Gefängnis als Ort der Isolation von der vertrauten Umgebung spiegelt die Einsamkeit der Entscheidungsfindung, wenn man die physisch-räumliche Situation der Gefangenen in Korrelation zu Gêrharts mentaler Situation sieht; demgegenüber spiegelt die soziale Komponente der Befreiung22 die Verantwortlichkeit des Herrschers für diejenigen, die von seinen Entscheidungen betroffen sind. Am Beispiel des Umgangs mit den Gefangenen konnte bereits verdeutlicht werden, dass es innerhalb des fiktiven interkulturellen Kontakts auch zur intrakulturellen Kommunikation zwischen den Angehörigen jeweils eines der beteiligten Kulturkreise kommt. Dabei spielen kulturelle Unterschiede zwischen den einzelnen christlichen bzw. heidnischen Ländern zwar eine gewisse Rolle, diese Unterschiede werden aber zugunsten der gemeinsamen Großgruppenzugehörigkeit nivelliert. Eine besondere Situation findet sich hier im Epos ‚König Rother‘, dessen politischgeographischer Raum durch eine Dreiteilung in Westrom, Ostrom und den heidnischen Machtbereich geprägt ist.23 Im zweifach vereinten Kampf gegen die Heiden wird die Zusammengehörigkeit und der notwendige Zusammenhalt der zerstrittenen christlich-abendländischen Parteien zum Ausdruck gebracht und schließlich durch die Vorherrschaft Rothers die Vorrangstellung des Westens bestätigt. Der fiktive ­Suprematsanspruch Westroms entspricht vom ideologischen Aussagegehalt einer „Korrektur zeitgenössischer Realität“.24 Der Text betreibe, so Monika Schulz, eine

18 Ebd., S. 110. 19 Ebd., S. 116. 20 Vgl. ebd., S. 113–115. 21 Vgl. GG (Anm. 2), vv. 1912–1916; vgl. Walliczek (Anm. 13), S. 34, 36. 22 Siehe bereits das Sichtbarwerden der zuvor in Dunkelheit gehaltenen Gefangenen füreinander, als Gêrhart sie sich ohne Fesseln vorführen lässt, s. GG (Anm. 2), vv. 1961–1976. 23 Vgl. Dagmar Neuendorff, Kaiser und Könige, Grafen und Herzöge im Epos von König Rother, in: Neuphilologische Mitteilungen 85 (1984), S. 45–58, hier S. 47f. 24 Monika Schulz, Eherechtsdiskurse. Studien zu König Rother, Partonopier und Meliur, Arabel, Der guote Gêrhart, Der Ring, Heidelberg 2005, S. 32.





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„konnotative Ausbeutung des topischen Byzanzbilds“, dem gemäß „die Byzantiner keine wirklichen Christen seien, sondern unzuverlässig und verräterisch“.25 Sowohl die große Grenzziehung christlich/heidnisch als auch die politisch-­ religiösen Feindifferenzierungen zwischen West- und Ostrom lassen sich in der Ausgestaltung des Gefangenen- und Gefängnismotivs wiederfinden: König Konstantin lässt die Boten Rothers, der um die Hand der byzantinischen Königstochter anhält, gemäß dem Schema der gefährlichen Brautwerbung26 ins Gefängnis werfen und dort verelenden.27 Er löst damit eine ereignisreiche Verwechslungshandlung aus, in der Rother inkognito mit seinem Gefolge in der Rolle des angeblich von Rother des Landes vertriebenen Dietrich nach Konstantinopel reist, um einen Weg zu finden, die Gefangenen zu befreien und womöglich die Königstochter doch noch als Braut zu gewinnen. Bezüglich des Umgangs mit den Gefangenen wird zunächst ein Gegensatz zwischen Konstantin und Rother herausgestellt: Konstantin degradiert die hochrangigen Adligen, wertvollen Gefolgsleute und erfahrenen Ritter zu Gefangenen, weil er in ihnen als Brautwerbungsboten eine Bedrohung sieht. Dies entspricht der generell als Zwangsherrschaft dargestellten Herrschaftsform Konstantins, die von Rothers herrschaftlichem Prinzip der freiwilligen Gefolgschaft abgesetzt wird.28 Durch den Umgang mit den Gefangenen isoliert er sich zudem im engsten Umfeld, denn er wird von seiner Frau dafür kritisiert, dass er andere Christen so schlecht behandle: waz wunderis wiltu an in began? | ir vader hiez Adam, | danne wir alle quamin. | du soldes ghotis schonin | an der vil armen diete | unde liezis sie uz der note.29 Damit wird auf die religiöse Grenzziehung zwischen Ost- und Westrom angespielt; die beklagenswerte Lage der Gefangenen wird dabei zum Anlass zur Rückbesinnung auf die gemein­ samen christlichen Wurzeln.

25 Ebd., S. 30f.; s. zum zwischen Bewunderung und Ablehnung changierenden westlichen Byzanzbild des 12.  Jhs. Peter Schreiner, Byzanz und der Westen, in: Alfred Haverkamp (Hg.), Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers (Vorträge und Forschungen  40), Sigmaringen 1992, S.  551–580, hier S.  555–562. Laut Schreiner gehe es im ‚Rother‘ darum, „inhaltlich ein Gegenbild zu Byzanz zu entwerfen und Rother als Person herauszustellen, die dem byzantinischen Kaiser in allem überlegen ist“ (ebd., S. 573), wobei insbesondere die byzantinische Eigenschaft der list in der Figur Rothers übertroffen und ins Positive gewendet werde (vgl. ebd). 26 Vgl. Christian Schmid-Cadalbert, Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur (Bibliotheca Germanica 28), Bern 1985, S. 91. 27 Vgl. Roth. (Anm. 2), vv. 342–351. 28 Vgl. Hubertus Fischer, Gewalt und ihre Alternativen. Erzähltes politisches Handeln im König ­Rother, in: Günther Mensching (Hg.), Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter. Symposium des Philosophischen Seminars der Universität Hannover vom 26. bis 28. Februar 2002 (Contradictio 1), Würzburg 2003, S.  204–234, hier S.  225. Dagegen argumentiert (in Anlehnung an Zimmermann) ­Thomas Kerth, King Rother and His Bride. Quest and Counter-Quests, Rochester, New York 2010, S. 111f. 29 Roth. (Anm. 2), vv. 1206–1211.



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Bereits die erste Gefängnisszene des ‚Rother‘ zeigt das Verhältnis von Rom und Byzanz auf der Ebene der Fiktion als ‚Zwischending‘ zwischen einer intra- und einer interkulturellen Beziehung. Dies wird auf der Figurenebene durch den Zerfall in die Parteien Konstantin einerseits und die Königin und die Königstochter (siehe unten) andererseits verkörpert. Die pro-westlich geprägte Haltung der letzteren beiden zeigt sich auch im Umgang mit den Gefangenen, wohingegen Konstantins anti-westliche Haltung in einer sich immer weiter verschärfenden Neigung zum Despotentum zum Ausdruck kommt. Dies wächst sich letztlich zur Bedrohung für die Christenheit aus, denn Konstantin wird durch seine Schwäche fast zu einem heidnischen Vasallen: Als Konstantins Reich von dem babylonischen König Ymelot angegriffen wird, trägt Dietrich/Rother mit seinen Gefolgsleuten30 den Sieg über die Heiden davon, nachdem er zunächst Ymelot in seine Gewalt gebracht hat.31 Im Umgang mit dem eigentlichen Erzfeind, dem Glaubensgegner, erweist sich Dietrich/Rother demnach als stark, Konstantin hingegen als schwach. Grund für diese Schwäche ist, wie das Ringen zwischen Konstantin und Rother um die byzantinische Prinzessin zeigt, die fehlende Allianz zwischen Ost- und Westrom: Zwar ist Konstantin dem vermeint­ lichen Vasallen Dietrich äußerst dankbar für seine Unterstützung, fällt aber in tiefen Kummer, als er merkt, dass dieser identisch mit Rother ist und seine Tochter mit deren Einverständnis entführt hat. Konstantin fällt vor Kummer über den Verlust der Tochter in Ohnmacht, was ein solches Klagegeschrei der Bürger bewirkt, dass Ymelots Wächter aus Neugier seinen Posten verlässt und Ymelot auf diese Weise die Flucht ermöglicht.32 Nachdem Konstantin die Rückentführung seiner Tochter aus Bari gelungen ist, wird Konstantinopel erneut von Ymelot angegriffen. Konstantin kann sich nur retten, indem er seine Tochter an Ymelot verpfändet;33 damit macht er sich selbst und vor allem die Tochter zu einer Art Gefangenen des Heidenkönigs. Sie soll Ymelots Sohn heiraten, obgleich sie bereits die Frau Rothers und von diesem schwanger ist mit Pippin, dem späteren Vater Karls des Großen.34 In einer Kombination von kühnem und listigem Handeln gelingt Rother, der wieder nach Byzanz fährt, um seine Frau zu befreien, und dort kurzfristig zum Gefangenen Ymelots wird, der endgültige Sieg über die Heiden.35 Hierbei zeigt sich noch einmal, dass Byzanz zwischen heidnischer und christlicher Welt steht, denn Konstantin unterstützt Ymelot opportunistisch in

30 Darunter befinden sich neben denjenigen, die er aus der Heimat mitgebracht hat, auch neu Gewonnene sowie die eigens für diesen Zweck aus der Haft Freigelassenen, vgl. ebd., vv.  1494–1522, 2601–2645. 31 Vgl. ebd., vv. 2725–2750. 32 Vgl. ebd., vv. 3013–3038. 33 Fischer (Anm. 28), S. 229: „Konstantin bedient sich der Tochter [...] als Tauschgut für das eigene Leben, und das gegenüber dem ärgsten Feind der Christenheit.“ 34 Vgl. Roth. (Anm. 2), vv. 2943–2946, 3480–3484. 35 Vgl. ebd., vv. 3862–4332.





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seinem Vorhaben, den gefangenen Rother zu töten.36 Dieses Bedrohungsszenario dient im Text dann als Legitimation nicht nur für die Befreiung Rothers, sondern auch für einen kreuzzugsähnlichen Vernichtungskampf gegen die Heiden. Dass Konstantins Schwäche zur Bedrohung für die Christenheit wird, zeigt sich schließlich im Schicksal Konstantinopels selbst. Der Riesenkönig Asprian und seine Gefolgsleute, die Rother bei allen Kämpfen als treue Vasallen zur Seite stehen, entscheiden am Ende über das Schicksal Konstantinopels. Der Riese Grimme schlägt vor, die byzantinische Königstochter zu befreien und Konstantin dann in seiner Stadt, die in Flammen gelegt werden soll, sterben zu lassen.37 Hier zeichnet sich nun mit einem Mal Asprian durch eine christliche Gesinnung aus, als er unter Berufung auf die zwölf Apostel und die Heilige Helena für den Erhalt Konstantinopels eintritt.38 Daraufhin bekehrt sich der Riese Witold und mit ihm die anderen Riesen zum christlichen Glauben:39 Ausgerechnet dieser gefährlichste und gewalttätigste aller Riesen, der – außer beim Kampfeinsatz – ständig in Ketten gehalten werden muss, erkennt die Sündhaftigkeit und Teuflischkeit des Vorhabens, Konstantinopel zu zerstören. Witold, temporär von seinen Fesseln befreit, hatte im ersten Heidenkampf maßgeblich die Gefangennahme Ymelots bewirkt, diesen Kampf gegen den Glaubensgegner aber aus einer ‚natürlichen‘ Brutalität40 heraus geführt, denn danach muss er sofort wieder in Fesseln gelegt werden.41 Wie Tina Boyer anmerkt, werden die Fesseln aber nach seiner Bekehrung nicht mehr erwähnt.42 Anhand der diskutierten Beispiele konnte verdeutlicht werden, dass mit dem Motiv bzw. der Handlungssequenz ‚Gefangenschaft in der Fremde‘ Aussagen zur Herrschaft gemacht werden, die z.  T. Anknüpfungspunkte an die zeitgenössische historisch-politische Situation bieten, darüber hinaus aber auch einen grundlegend modellhaften Charakter haben. Daneben eröffnet das Motiv bzw. die Handlungs­ sequenz ‚Gefangenschaft in der Fremde‘ auch die Option für konvergierende modellhafte Entwürfe zwischenmenschlicher Beziehungen wie Liebe, Ehe, Verwandtschaftsverhältnisse und Freundschaft, worauf im Folgenden einzugehen sein wird.

36  Vgl. ebd., vv. 3999–4016. 37 Vgl. ebd., vv. 4387–4396. 38 Vgl. ebd., vv. 4397–4422. 39 Vgl. ebd., vv.  4423–4458; s. zu dieser Stelle Tina Boyer, The Chained One. An Analysis of the Giant Witold in König Rother, in: Sibylle Jefferis (Hg.), Intertextuality, Reception, and Performance. Interpretations and Texts of Medieval German Literature, Kalamazoo Papers 2007–2009 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 758), Göppingen 2010, S. 77–94, hier S. 85f. 40 Vgl. ebd., S. 84. 41  Vgl. Roth. (Anm. 2), vv. 2751f. 42  Vgl. Boyer (Anm. 39), S. 86.



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2 Gefangenschaft als Beziehungsmodell Neben den zwei grundlegenden Handlungsmustern der Gefangenschaft (1.) als Isolation und Bewährung und (2.) als persönlichem Handlungsspielraum liegt ein besonderer Fokus der Texte zudem auf (3.) der Ausgestaltung der Frauenrollen und ihrer Beziehungen zu Männern (insbesondere Ehemännern und Vätern). 1.) Gefangenschaft als Isolation und Bewährung: Im ‚Guoten Gêrhârt‘ wird die Gefangenschaft Erenes, ebenso wie die damit korrelierende jahrelange Suche Willehalms nach seiner verschollenen Braut, zur Bewährungsprobe für die Liebenden und ist somit wohl gleichzeitig Ausdruck der engen Bindung dieser beiden. Die häufige Verwendung der Wörter bant, bande, binden (reale Fesseln)43 und bant bzw. stric (Minnebande, Bund der Ehe)44 legt nahe, die Gefangenschaft zugleich als Sinnbild der Minnegefangenschaft sowie der ehelichen Bindung zu lesen. Hierzu finden sich Parallelen in zwei Novellen aus dem ‚Decameron‘ (V 2; X 9), in denen die Liebenden bzw. Eheleute jeweils durch äußere Umstände getrennt werden und die Frau, weil der Mann in heidnische Gefangenschaft fällt, keine Nachricht von diesem erhält. In V 2 (‚Constanza und Martuccio‘) ist die Ausgangssituation, dass zwei Liebende durch ihre ungleichen Vermögensverhältnisse an einer Heirat gehindert werden. Constanzas sehr vermögender und angesehener Vater agiert, als er den Heiratsantrag des jungen Kaufmanns Martuccio ausschlägt, ein wenig wie der Brautvater in den Brautwerbungserzählungen. Martuccio begibt sich daraufhin gekränkt in die Fremde, um dort zu Reichtum zu gelangen, gerät aber zunächst in die Gefangenschaft des Königs von Tunis.45 Da er die Sprache der Berber beherrscht und sich zudem mit deren militärischen Strategien auskennt, gelingt es ihm, aus der Rolle des Gefangenen in die des königlichen Beraters zu wechseln und dadurch dessen Anerkennung zu gewinnen.46 Constanza, die sich aus Kummer über Martuccios vermeintlichen Tod in selbstmörderischer Absicht in einem Kahn aufs Meer treiben lässt und durch Zufall in der Nähe von Martuccios Aufenthaltsort an Land getrieben wird, bewährt sich gleichfalls in der Fremde; sie wird Mitarbeiterin einer von einer Dame geführten Werkstatt, erlernt dort feine Handarbeiten und auch die fremde Sprache.47 Als sich die Taten Martuccios im Land verbreiten, erfährt auch Constanza davon und begibt sich an den königlichen Hof, um ihren totgeglaubten Geliebten wiederzusehen. Das mit der Isolation der Liebenden verbundene Bewährungsmoment wird explizit von dem heidnischen Herrscher ausgesprochen, der dabei bemerkenswerterweise nicht nur den Brautvater ersetzt, sondern auch das Rollenverhältnis zwischen den Lieben-

43   Vgl. GG (Anm. 2), vv. 1783, 1927, 1933, 2717, 2728, 3295, 5365–5366, 5369. 44  Vgl. ebd., vv. 3017, 3041, 4350, 4616f. 45   Vgl. Decam. (Anm. 2), Bd. 1, S. 369f. 46 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 373f. 47   Vgl. ebd., Bd. 1, S. 370–373.





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den neu definiert: Constanza hat sich in seinen Augen den bei ihm ja mittlerweile hochangesehenen Martuccio verdient,48 der ursprünglich ausgezogen war, um sich die Geliebte zu verdienen. Die Novelle X 9 (‚Saladin und Herr Torello‘) weist bezüglich der Zeitkonstruktion gewisse Parallelen zur Handlung des ‚Guoten Gêrhart‘ auf: Herr Torello gerät auf einem Kreuzzug in heidnische Gefangenschaft; durch eine Verwechslung wird in der Heimat sein Tod verkündet und daraufhin seine Frau von ihren Verwandten unter Druck gesetzt, sich neu zu verheiraten, wogegen sie sich zu widersetzen versucht. Ihre Isolation in der Heimat kann in Korrelation zur Gefangenschaft ihres Mannes in der Fremde gesehen werden. Sie erweist ihre Treue, indem sie auf die Einhaltung der ihr von ihm gesetzten Jahresfrist besteht.49 Analog zum ‚Guoten Gêrhart‘ taucht der totgesagte Herr Torello im letzten Moment, am Tag der Hochzeit, wieder auf.50 2.) Gefangenschaft als persönlicher Handlungsspielraum: In ‚Salman und Morolf‘ und im ‚König Rother‘ eröffnet die reale Gefangenschaft anderer Personen den Protagonistinnen jeweils Handlungsspielräume: Für die Braut Rothers, die heimlich Kontakt zu Dietrich alias Rother aufgenommen hat,51 bieten die gefangenen Gefolgsleute Rothers vielfältige Handlungsoptionen, um die von ihr durchaus avisierte Eheschließung mit Rother zu befördern. Zunächst kann sie den unter dem Namen Dietrich agierenden Rother mit Hilfe der gefangenen Gefolgsleute sicher als diesen identifizieren.52 Die byzantinische Königstochter unterstützt Rother dann, indem sie dafür sorgt, dass die Gefangenen wieder zu Kräften kommen, ihre Haftbedingungen verbessert werden, und sie veranlasst, dass ein Gang aus dem Kerker gegraben wird, über den die Gefangenen stets Freigang haben können.53 Schwieriger ist die Rolle Salmes zu bewerten, die, schenkt man ihren Worten gegenüber Fore (unter dessen Einfluss sie zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits steht) Glauben, aus einer ungeliebten Ehe flieht.54 In jedem Fall ist festzustellen, dass

48 Ebd., Bd. 1, S. 375: Adunque l’hai tu per marito molto ben guadagnato. 49 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 748, 750f. 50 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 756. 51  Vgl. Roth. (Anm. 2), vv. 1925–2186. 52   Vgl. ebd., vv. 2291–2296, 2507–2229. Gemäß Schulz (Anm. 24), S. 43, besteht die erzählerische Funktion dieser Identitätsversicherung durch Zeugen darin, zu verdeutlichen, dass „die sich anschließende Flucht der beiden kein schnöder Frauenraub ist, sondern die Lustreise eines soeben verheirateten Paares.“ Laut Rita Zimmermann, Herrschaft und Ehe. Die Logik der Brautwerbung im ‚König Rother‘, Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 157, sollen die Boten als „Rechtshelfer fungieren, indem sie die Richtigkeit dessen, was Rother an Rang und Geltung beansprucht, bestätigen.“ 53   Vgl. Roth. (Anm. 2), vv. 2540–2562. 54 Vgl. SuM (Anm. 2), Str. 114, 4–5.



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Salme am Hof Fores wesentlich aktiver agiert55 als am Jerusalemer Hof, wo sie sich rein passiv verhält.56 In den Novellen aus dem ‚Decameron‘ wird das Bild von Gefangenen gezeichnet, die sich in der Fremde bewähren und Handlungsspielräume aktiv ausschöpfen: Ähnlich wie Martuccio und Constanza (s. o.) macht sich auch Herr Torello in der Fremde nützlich: er macht sich einen Namen als guter Falkenzüchter, wodurch Saladin auf ihn aufmerksam wird und ihn zu sich holen lässt. Hier erkennt er dann in Herrn Torello den Gastgeber, der ihn, als er inkognito durch Italien gezogen ist, so vortrefflich bewirtet, beherbergt und beschenkt hat.57 3.) Ausgestaltung der Frauenrollen: In ‚König Rother‘, ‚Salman und Morolf‘ und dem ‚Guoten Gêrhart‘ wird die Frauenrolle implizit als Gefangenschaft charakterisiert: Die byzantinische Königstochter ist eine Art Gefangene ihres Vaters Konstantin, der sie mit eifersüchtiger Liebe von möglichen Bewerbern abschirmt.58 Der Zusammenhang zwischen Frauenrolle und Gefangenschaft wird besonders deutlich, als Konstantin seine Tochter aus Not an den babylonischen König Ymelot verpfändet. Analog dazu wird in ‚Salman und Morolf‘ Salme als eine Art Gefangene ihres Ehemanns Salman dargestellt, denn dieser hat sie gegen den väterlichen Willen entführt und hält sie gewalticliche | uf der guten burge Jherusale59 fest.60 Sie lebt also durchaus nicht freiwillig in der Fremde, fern von ihrer heidnischen Heimat. Auch im ‚Guoten Gêrhart‘ Rudolfs von Ems korreliert die Situation Erenes, die von Gêrhart aus der heidnischen Gefangenschaft befreit wird, im Hause Gêrharts mit einer Gefangenschaft. Monika Schulz hat ausführlich dargestellt, dass die Lage Erenes mit dem Rechtsterminus der Schuldknechtschaft beschreibbar ist.61 Bezüg-

55 Sie wird zur Gegenspielerin Morolfs, etwa versinnbildlicht in der Schachpartie (vgl. ebd., Str. 225– 258) und zur Beraterin Fores, wie er mit Salman verfahren soll (vgl. ebd., Str. 426f.). 56 Sie wird von Salman entführt und im christlichen Glauben unterwiesen, von den Rittern während der Messe aufgrund ihrer Schönheit bewundernd angestarrt und von Salman als Wärterin Fores eingesetzt (vgl. ebd., Str. 3f., 16, 91). Zwar erinnert Salman sie später am Hof Fores, als er sie dazu bringen will, ihn ungeschoren davon kommen zu lassen, an ihre vermeintliche Machtfülle am Jerusalemer Hof: Er sprach: ‚edele kunigin her, | ir warent bi mir czu Jerusalem, | lant und lute warent uch under than. | edele kunigin, | das sollent ir mich geniessen lan.‘ (ebd., Str. 416). Da Salman hier in deutlich persuasiver Absicht spricht, ist der Wahrheitsgehalt dieser Aussage infrage zu stellen. 57 Decam. (Anm. 2), Bd. 2, S. 749f. 58 Dass Konstantin generell nicht die Absicht hat, seine Tochter zu verheiraten, wird an den Worten deutlich, mit denen er sich an die Boten Rothers wendet, s. Roth. (Anm. 2), vv. 328f.: were min siete so getan, daz ich sie gebe geheinen man. 59 SuM (Anm. 2), Str. 3, 4–5. 60 Vgl. Otto Neudeck, Grenzüberschreitung als erzählerisches Prinzip. Das Spiel mit der Fiktion in ‚Salman und Morolf‘, in: Wolfgang Frühwald u. a. (Hgg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4.–7. Januar 1996, Tübingen 1998, S. 87–114, hier S. 98f. 61 Vgl. Monika Schulz, Swaz dû wilt daz wil ouch ich. Loskauf, Schuldknechtschaft und rehte ê im Guoten Gêrhart Rudolfs von Ems. Zur Frage der Idealität des Protagonisten, in: Horst Brunner u. a. (Hgg.), helle döne schöne. Versammelte Arbeiten zur älteren und neueren deutschen Literatur. Fest-





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lich der Lage und des Verhaltens Erenes ist ein Vergleich mit den Novellen aus dem ‚De­cameron‘ aufschlussreich, verbindet sie doch sozusagen das arbeitsame Verhalten mit der eher passiven Widerstandsform des Aufschubs. Während Frau Torello durch die Ab­wesenheit ihres Mannes im Umkreis ihrer eigenen Verwandten isoliert und zunehmend machtlos ist, gewinnt Constanza durch ihre selbstmörderisch motivierte Flucht in die Fremde schließlich Handlungs- und Entscheidungsspielräume, die sie von ihrem Vater unabhängig machen. Neben den von Schulz für den ‚Rother‘ und den ‚Guoten Gêrhart‘ aufgezeigten Anknüpfungspunkten an den jeweiligen zeitgenössischen Eherechtsdiskurs,62 ist als allgemeinere Beobachtung festzuhalten, dass in den Texten weibliche Handlungsspielräume ausgelotet werden. Indem die Brautwerbungs- und Eheschließungshandlungen im ‚Rother‘ und in ‚Salman und Morolf‘ der Veranschaulichung von Herrschaftsbeziehungen und machtpolitischen Rangstreitigkeiten dienen, wird die Bewertung der persönlichen Beziehungsebene der Protagonisten den Vorgaben der Machtpolitik untergeordnet. Dies geht im ‚Rother‘ auf, da die byzantinische Königstochter in der Fiktion Mutter Pippins und somit Mitbegründerin der karolingischen Dynastie ist,63 als Braut auf der richtigen Seite steht und die Handlungsspielräume, die sie ausschöpft, aus weltlicher Sicht sozusagen political correct sind. Anders sieht dies in ‚Salman und Morolf‘ aus, wo Salme ihre Handlungsspielräume im heidnischen Lager und um ins heidnische Lager zurückzugelangen ausschöpft. Ihre Ehe mit Fore (und später Princian) wird, obgleich sie laut der Erzählerschilderung eindeutig Opfer eines raptus ist und das Handeln der beiden Fürsten somit als durchaus legitime Rückentführung erscheinen müsste, im Text gegenüber ihrer ersten Ehe mit Salman abgewertet, denn die Logik des Brautwerbungsschemas wird von dem übergeordneten Freund-Feind-Bild dominiert.64 Im ‚Guoten Gêrhart‘ hingegen gibt es keinen Konflikt zwischen Christen und Heiden,65 sondern die Situation der in der Fremde gefangen gehaltenen Christen ent-

schrift für Wolfgang Walliczek (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 668), Göppingen 1999, S. 1–28, hier S. 6–8. Auch wenn ich mich Walliczeks deutlich positiverer Wertung von Gêrharts Verhalten anschließen würde (vgl. Walliczek [Anm. 13], S. 46–48), ist nicht zu bestreiten, dass das Gefangenschaftsmotiv implizit auch nach der Befreiung weitergeführt wird. 62 Vgl. Schulz (Anm. 24), S. 32f., 151–155. 63 Vgl. Kerth (Anm. 28), S. 192–195. 64 Hans-Jürgen Bachorski, Serialität, Variation und Spiel. Narrative Experimente in ‚Salman und Morolf‘, in: Danielle Buschinger u. Wolfgang Spiewok (Hgg.), Heldensage – Heldenlied – Heldenepos. Ergebnisse der 2. Jahrestagung der Reineke-Gesellschaft Gotha. 16.–20. Mai 1991 (Wodan. Recherches en littérature médiévale 12), Amiens 1992, S. 7–29, hier S. 11: „[D]ie Perspektivierung aus der Sicht Salmans und Morolfs, die Überhöhung ihres besonderen Interesses zum allgemeinen Standpunkt der gesamten Christenheit, die gegen die Heiden steht und kämpfen muss, sowie der unglückliche Ausgang bilden einen negativen Bewertungsrahmen für das gemeinhin in der Logik vergleichbarer Geschichten übliche und akzeptierte Geschehen.“ 65 Vgl. Zöller (Anm. 15), S. 309.



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spricht einem infolge einer Verkettung ungünstiger Umstände zustande gekommenen Beziehungsverlust, der sich auf persönlicher und machtpolitischer Ebene auswirkt. Die Lösung der Probleme findet dann in einem nur noch moderat interkulturellen Raum, nämlich im einigermaßen homogenen Bereich ‚Europa‘ statt. Dabei wird insbesondere mit der Liebesgeschichte von Erene und Willehalm ein Raum für individuelles Handeln eröffnet, das phasenweise mit den herrschaftlich-politischen Anforderungen in Konflikt tritt, so dass Willehalm der Verlust seiner Herrschaft droht.66 In den bereits erwähnten Novellen Boccaccios wird die interkulturelle Ebene zu einer Kulisse, in der die Protagonisten ihre persönlichen Lebensziele ohne Rücksicht auf die auf politischer Ebene existierenden Feindbilder verfolgen können. In Bezug auf die Novelle X  9, in der das Thema Freundschaft67 eine zentrale Rolle spielt, ist zudem zu vermerken, dass die auf politisch-militärischer Ebene existierenden Konflikte (Kreuzzug) auf der persönlichen Ebene durch den freundschaftlichen Kontakt überwunden werden. In allen behandelten Texten werden die Paradigmen der Herrschaft und der zwischenmenschlichen Beziehung, u. a. über das Gefangenschaftsmotiv, in Verbindung gesetzt. Die Wertung und die Hierarchisierung hängen dabei jeweils auch von der ideologischen Ausrichtung des Textes ab. Als deutlicher Unterschied zu dem in der Kreuzzugsideologie verhafteten Denken in Freund- und Feinbildern der Epen ‚König Rother‘ und ‚Salman und Morolf‘ ist bezüglich des ‚Guoten Gêrhart‘ wie auch der beiden Novellen aus dem ‚Decameron‘ festzuhalten, dass Herrschaft hier nicht hierarchisch den zwischenmenschlichen Beziehungen übergeordnet wird, sondern zwischenmenschliche Beziehungen zum Maßstab für vorbildliches herrschaftliches Handeln werden. Dies gelingt durch die Einführung einer gemeinsamen Ebene, an die sich die Angehörigen beider Kulturkreise gebunden fühlen, im Fall des ‚Guoten Gêrharts‘ ist dies der Handel, im Fall der Novellen Boccaccios allgemeine, die politisch-militärischen Grenzen überwindende Verhaltensmaximen.68 Dass herrscher­ liches Handeln allgemeinen ethischen Kriterien verpflichtet sein sollte, wird auch im ‚Guoten Gêrhart‘ deutlich, wo es an einer Figur vorgeführt wird, die kein Herrscher ist: Durch den Kontakt mit den in der Fremde gefangenen Christen erhält Gêrhart Verantwortung und Verfügungsgewalt über Menschen und muss sich in dieser Situation bewähren.

66 Siehe hierzu ausführlicher Armin Schulz, Erzählungen in der Erzählung. Zur Poetologie im ­Guoten Gêrhart Rudolfs von Ems, in: Brunner (Anm. 61), S. 29–59, hier S. 39. 67 Vgl. Decam. (Anm. 2), Bd. 2, S. 751, 753. 68 Letzteres lässt sich mit dem ausgeprägten Interesse der Humanisten an der Moralistik in Einklang bringen; vgl. zur humanistischen Moralistik August Buck, Studien zu Humanismus und Renaissance. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1981–1990, hrsg. v. Bodo Guthmüller, Karl Kohut u. Oskar Roth (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 11), Wiesbaden 1991, S. 278–282; Gregor Müller, Mensch und Bildung im italienischen Renaissance-Humanismus. Vittorino da Feltre und die humanistischen Erziehungsdenker (Saecula Spiritalia 9), Baden-Baden 1984, S. 45f., 48f.



Rabea Kohnen (Bochum)

durch den abrahamischen garten. Interreligiösität in den mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen am Beispiel des ‚Münchener Oswald‘ Abstract: Die Begegnung zwischen Christen und den Angehörigen anderer Religions­ gemeinschaften spielt eine zentrale Rolle in den mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen. Dabei gestalten die jeweiligen Texte sowohl die christliche Identität als auch das Bild der ‚Anderen‘ sowie die Beziehungen, Kontakte und Konflikte zwischen ihnen unter intertextuellen Bezugnahmen aufeinander sowie auf volkssprachige und lateinische Literatur, Historiographie und Theologie ihrer Zeit immer wieder neu und anders. Im vorliegenden Aufsatz wird am Beispiel des ‚Münchener Oswald‘ gezeigt, wie die interreligiösen Aushandlungsprozesse mit dem narrativen Modell der gefähr­ lichen Brautwerbung interagieren, wodurch diskursive Inhalte in literarisch attrak­ tiver Art und Weise erzählbar werden. Ein Teil der Attraktivität dieser Textgruppe liegt sicherlich in der Verschränkung des Ausagierens interreligiöser Konflikte mit unterschiedlichen Konfigurationen der Brautwerbungshandlung begründet.

Einleitung In der Erzählung von König Orendel liegt der Garten Abrahams zwischen dem christlichen Jerusalem und der babylonischen Wüste,1 in der die Andersgläubigen leben. Obwohl sich die Handlung des ‚Orendel‘ entscheidend über die Konflikte zwischen Christen und Sarazenen etabliert, erscheint das Verhältnis zwischen den Angehörigen beider Religionsgruppen nicht als determiniertes, festgeschriebenes, sondern als ein immer wieder neu auszuhandelndes. Dieses Erzählen zwischen Religionen, das sich hier in der räumlichen Metapher des abrahamischen Gartens verdichtet, ist eine zentrale inhaltliche und diskursive Linie, die wie ein roter Faden durch die mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen führt.

1 Die Editionslage dieses auch als ‚Grauer Rock‘ bezeichneten Werks ist problematisch. Deshalb wird hier der Versdruck D aus dem Jahr 1512 (V  D  16  O  898) im Digitalisat der Bayerischen Staats­ bibliothek (Sigel 16) zitiert. Nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit König Orendel wird der ­Sarazene Merzian zunächst gefangen genommen, dann aber auf Orendels Wunsch wieder freigelassen. Anschließend reist er durch den Garten Abrahams in das sarazenische Territorium, s. ebd., fol. 32r: Do er sein gut roß ergrayff | Wie bald er für die porten reydt | Wie wunderlich vnd auch harte | Durch den Abrahamischen garten | In ain landt das hieß die wusten.

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Dass die interreligiöse Dynamik in den Werken ‚König Rother‘, ‚Kudrun‘, ‚St.  Os­wald‘, ‚Orendel‘, ‚Ortnit‘ und ‚Salman und Morolf‘2 in der germanistischen Forschung noch kaum diskutiert wurde, hängt sicherlich mit dem zumeist negativen Urteil über diese Textgruppe zusammen.3 Dieses Urteil resultiert zum einen daraus, dass die Brautwerbungserzählungen vor der Folie der höfischen ‚Klassiker‘ gelesen und an deren poetischen Ansprüchen gemessen worden sind. Dabei erschienen sie zumeist als eine unterentwickelte Vorstufe, ein in der Mündlichkeit verankertes ‚noch nicht‘, als ‚Literatur vor der Literatur‘.4 Andererseits sperren sich die Werke gegen die in dieser Ordnung implizierte Datierung ins 12. Jahrhundert oder in eine noch frühere Zeit, so dass die Forschung in den überlieferten Texten überarbeitete, verfälschte und kontaminierte Formen gesehen hat, deren originales Wesen nur durch erhebliche Bemühungen rekonstruierbar sei.5

2 Die Zusammenstellung dieser Textgruppe unter dem Oberbegriff ‚Brautwerbung‘ hat Christian Schmid-Cadalbert in seiner zentralen Studie zum ,Ortnit‘ geleistet: Christian Schmid-Cadalbert, Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schema­literatur, Bern 1985. Diese Zusammenstellung und Benennung löst den höchst problematischen Begriff der ‚Spielmannsepik‘ ab. Zur Diskussion der Textgruppe und des Begriffs der Spielmannsdichtung s. zuletzt Rüdiger Brandt, Spielmannsepik: Literaturwissenschaft zwischen Edition, Überlieferung und Literaturgeschichte. Ein nicht immer unproblematisches Verhältnis, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 37 (2005), S. 9–49. 3 Stellvertretend für die Repetition einer bestimmten Vorstellung von der Qualität der Brautwerbungserzählungen sei hier nur zitiert Hermann Schneider, Heldendichtung, Geistlichendichtung, Ritterdichtung. Neugestaltete und vermehrte Ausgabe (Geschichte der deutschen Literatur 1), Heidelberg 1943, S. 243: „Unsere Dichtungen sind nicht höfisch und nicht geistlich; sie möchten von beidem etwas sein, statt des Höfischen trifft man aber ein leeres Großtun mit Macht und Pracht und statt des Geistlichen Frömmelei. Im Ganzen steht die Spielmannsdichtung künstlerisch gesehen niedrig, sie trägt dick auf und unterstreicht überstark, sie zeigt den Gesichtskreis des neugierigen, abergläubischen, leichtgläubigen, aufreizungshungrigen kleinen Mannes.“ 4 Diese Perspektive wird auch in den ansonsten richtungsweisenden Untersuchungen von Chris­tian Kiening und Michael Curschmann deutlich, s. Christian Kiening, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a.  M. 2003, S.  130–156; Michael Curschmann, Der Münchener Oswald und die deutsche spielmännische Epik. Mit einem Exkurs zur Kultgeschichte und Dichtungstradition (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittel­ alters  6), München 1964, hier bes. S.  156. Lorenz Deutsch hat hingegen deutlich auf die methodischen Probleme einer solchen Konstruktion einer (durch Mündlichkeit bestimmten) ‚Literatur vor der Literatur‘ aufmerksam gemacht, s. Lorenz Deutsch, Die Einführung der Schrift als Literarisierungsschwelle. Kritik eines mediävistischen Forschungsfaszinosums am Beispiel des ,König Rother‘, in: Poetica 35 (2003), S. 69–90. 5 Die Datierung der Brautwerbungserzählungen als einzelne Werke oder auch ganze Gruppe schwankt zwischen dem frühen 12. und dem 15. Jahrhundert. Rüdiger Brandt hat eindringlich dafür geworben, die Texte in ihren tatsächlich überlieferten Formen ernst zu nehmen, die klar in das 15. oder 16. Jahrhundert verweisen, s. Brandt (Anm. 2), S. 41: „Die fünf Epen sind in den Textformen, in denen sie überliefert sind, literaturgeschichtlich in funktionaler, literatursoziologischer, mentalitätsgeschichtlicher, stilgeschichtlicher und manch anderer Hinsicht ausschließlich den Zeiträumen zugehörig, in welche die einzelnen Überlieferungsträger verweisen. Lediglich stoffgeschichtlich kann bzw. muss





Interreligiösität in den mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen  

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Dieses Bemühen des 19. Jahrhunderts, Echtes von Falschem und Ursprüngliches von Nachträglichem zu scheiden, fließt im 20.  Jahrhundert in die strukturalistisch orientierten Untersuchungen zu dieser Textgruppe ein. Das Ansetzen eines normativen Strukturmodells, des sogenannten Brautwerbungsschemas, behält die Vorstellung ursprünglicher mündlicher Reinheit und nachträglicher schriftlicher Depravation im Grunde bei und verschiebt sie von der Ebene philologischer Text­ rekonstruktion auf die der Interpretation, anstatt die zugrunde liegende Vorannahme kritisch zu hinterfragen. Indem das von Christian Schmid-Cadalbert in erster Linie am ‚König Rother‘ entwickelte Schema zum Maßstab für alle Texte wird, gerät zudem die individuelle Gestaltung der einzelnen Werke oftmals aus dem Blick.6 Sogar Armin Schulz, der überzeugend festgestellt hat, dass sich in der tatsäch­ lichen Überlieferung nur Abweichungen vom Idealtypus finden und das Braut­wer­­bungsschema keinen Rückhalt in der Überlieferung habe, hält weiter am heuristischen Wert dieses normativen Modells fest.7 Doch es ist nicht nur der strukturalisZirkelschluss, der das Brautwerbungsschema als zentrales interpretatives tische ­

man von dieser Zuordnung eine Ausnahme machen. Dass es sich jedoch um ältere, zum Teil sehr alte Stoffe handelt, kann nicht dazu führen, dass man weiter mit fiktiven Vorformen operiert und diese zum Bestandteil einer deutschen Literaturgeschichte zwischen (ungefähr) 1150 und 1190 macht.“ In diesem Sinn lehnt auch Christian Kiening das „germanistische Fantasma einer ‚Spielmannsepik‘ des 12. Jahrhunderts“ insgesamt ab, s. Christian Kiening, Hybriden des Heils. Reliquie und Text des ‚Grauen Rocks‘ um 1512, in: Peter Strohschneider (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2009, S. 371–410, hier S. 389. 6 Das von Christian Schmid-Cadalbert (Anm.  2) so benannte ‚Brautwerbungsschema‘ ist aus der Forschungstradition heraus entwickelt, die sich an die Arbeiten des russischen Formalisten Vladimir Propps zum Zaubermärchen anschließt. Es ist durch eine dreiteilige räumliche Struktur, ein festes Set an Handlungsrollen sowie zehn Handlungsfixpunkte bestimmt, die durchlaufen werden müssen. Jede Abweichung von diesen Fixpunkten gilt als intendierter und sinnstiftender Schemabruch. Dieses Vorgehen ist methodisch jedoch höchst problematisch, wird doch zunächst unter Absehung aller ­individuellen Momente eine Kernstruktur aus den Texten abstrahiert. In einem zweiten Schritt werden dann alle Texte an der so gewonnenen Grundstruktur gemessen und alle individuellen ­Aspekte als nachträgliche Abweichungen oder als bewusste Brüche mit einem interpretativ erarbeiteten ­Schema gewertet, dass nicht (nur) als heuristisches Konstrukt, sondern als normatives, sogar textgenerierendes Moment gesehen wird. Die (notwendige) Zirkelhaftigkeit eines solchen Vorgehens kritisiert auch Christian Kiening, Versuchte Frauen. Narrative Muster und kulturelle Konfigurationen, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), München 2007, S. 77–98, hier S. 78. 7 Armin Schulz, Morolfs Ende. Zur Dekonstruktion des feudalen Brautwerbungsschemas in der sogenannten ‚Spielmannsepik‘, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur  124 (2002), S.  233–249, hier S.  249: „Die mündliche Erzähltradition, in der die Ursprünge des feudalen Brautwerbungsschemas zu suchen sind, ist uns nicht mehr zugänglich. In der schriftlichen Überlieferung jedoch finden wir so gut wie nie die narrative und ideologische Norm, wie sie vor allem Christian Schmid-Cadalbert mit beeindruckender Klarheit aus dem vorhandenen Material rekonstruiert hat. Im Gegenteil: Wir finden beinahe überall nur Abweichungen vom Idealtypus. Das feudale Brautwer-



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 Rabea Kohnen

Modell für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Textgruppe problematisch macht, sondern auch seine Aufladung mit kulturellen Erwartungen. Oftmals wird diesem Erzählmodell ein bestimmter inhaltlich-kulturell geprägter Zielpunkt unterstellt: das ‚feudale Brautwerbungsschema‘ ziele auf die Sicherung einer Dynastie durch die Zeugung eines Erben.8 Durch diese Übertragung des normativen Anspruches des Brautwerbungsschemas für die strukturelle Organisation der Texte auf ihre inhaltliche Ebene müssen besonders diejenigen Werke problematisch werden, in denen die Zeugung eines Nachkommen durch das keusche Leben der Protagonisten explizit verhindert wird.9 Geht man aber mit Lorenz Deutsch davon aus, dass das narrative Modell der gefährlichen Brautwerbung kein normatives Relikt aus einer nicht mehr fassbaren Zeit mündlichen Erzählens ist, sondern vielmehr einen flexiblen Ermöglichungsrahmen für unterschiedliche Erzählziele darstelle,10 und folgt man weiterhin Stephan Müller und Christian Kiening darin, dass kulturelle Logiken nicht notwendigerweise auch literarische Logiken determinieren müssen,11 können die Brautwerbungserzählungen in ihrer individuellen Gestalt und ihrer Verbindung von narrativen und diskursiven Strategien neu in den Blick geraten. Unter diesen Prämissen kann sichtbar werden, dass alle vollständig überlieferten Brautwerbungserzählungen auf inhaltlicher Ebene durch einen roten Faden verbunden sind, der bislang kaum diskutiert wurde: Sie alle erzählen von der Begegnung zwischen Religionen, von einer Auseinandersetzung zwischen Christen und Sara-

bungsschema ist somit nichts als ein heuristisch wertvolles Konstrukt. Es hat keinen Rückhalt in der Realität der Überlieferung.“ 8 So z. B. vertreten von Walter Kofler, Der Held im Heidenkrieg und Exil. Zwei Beiträge zur deutschen Spielmanns- und Heldendichtung (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 625), Göppingen 1996, S. 53; Schulz (Anm. 7), S. 234, oder Monika Schulz, Eherechtsdiskurse. Studien zu König Rother, Partonopier und Meliur, Arabel, Der guote Gêrhart, Der Ring (Beiträge zur älteren Literaturge­schichte), Heidelberg 2005, S. 15. 9 Zu der sich daran anknüpfenden Forschungsdiskussion siehe Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik um 1200, Tübingen 2007, S. 125. 10 Deutsch (Anm. 4), S. 85. 11 Stephan Müller, Das Ende der Werbung. Erzählkerne, Erzählschemata und deren kultu­relle Logik in Brautwerbungsgeschichten zwischen Herrschaft und Heiligkeit, in: Jan-Dirk Müller u. Peter Strohschneider (Hgg.), Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 42), Heidelberg 2010, S. 181–196, hier S. 193: „Die Narration als Ganzes läuft der Logik der darin eingelassenen Narrative entgegen. Oder – in der oben aufgegriffenen Terminologie gesagt – das Erzählschema greift nicht die Logiken der Erzählkerne, die in es eingelassen sind, auf, sondern eröffnet die Möglichkeit, diese kulturellen Logiken zu transgredieren; gerade darin könnte das literarische Kapital, die spezifische Literarizität des Schemas liegen.“ Vgl. Christian Kiening, Heilige Brautwerbung. Überlegungen zum Wiener Oswald, in: Christine Pfau (Hg.), Deutsche Literatur im Donauraum. Internationale mediävistische Konferenz, Olmütz 05.05.–07.05.2005 (Olmützer Schriften zur Deutschen Sprache und Literaturgeschichte 2), Olomouc 2006, S. 87–99, bes. S. 91f.





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zenen. Sie alle entwerfen das christlich Eigene auf unterschiedliche Art und Weise, setzen dazu ein religiös Anderes in Beziehung und spekulieren Möglichkeiten des Umgangs miteinander, Möglichkeiten der Beseitigung der Differenz, aus. Dabei vernetzten sie sich thematisch und intertextuell mit historiographischen, hagiographischen, theologischen, philosophischen und anderen literarischen Quellen und positionieren sich so im überzeitlichen Diskurs der interreligiösen Herausforderung.12 Im Folgenden soll der ‚Münchener Oswald‘ unter dieser Perspektive beleuchtet werden.

Sankt Oswald als Missionar Die Erzählungen von Sankt Oswalds Brautwerbung sind ausgesprochen produktiv und in mehreren Fassungen überliefert. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die längste, den sogenannten ‚Münchener Oswald‘.13 In der Forschung wurde die Mischung der ‚feudalen Brautwerbung‘, die auf die dynastische Sicherung von Macht durch einen Erben ziele, mit der geistlichen Thematik der Weltabkehr von jeher als Problem wahrgenommen. Im 19.  Jahrhundert versuchte Georg Baesecke, die reli­ giöse Kontamination der germanischen Erzählung aufzudecken und ihre ursprüng­ liche Gestalt zu rekonstruieren.14 Auch wenn sich die heutige Forschung von einem

12 Die umfangreiche transdisziplinäre Forschung zu Begegnungen und Konfrontationen zwischen Christen, Muslimen und Juden im Mittelalter kann hier nicht einmal ansatzweise wiedergegeben werden. Die im Folgenden genannten Titel können daher nur exemplarisch für das Interesse an der interdiskursiven Vernetzung interreligiöser Imaginationen stehen: John V. Tolan, Saracens. Islam in the Medieval European Imagination, New York 2002; Rüdiger Schnell, Die Christen und die Anderen. Mittelalterliche Positionen und germanistische Perspektiven, in: Odilo Engels u. Peter Schreiner (Hgg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4.  Symposiums des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlaß des 1000. Todesjahres der Kaiserin Theophanu, Sigmaringen 1993, S. 185–202; Ines Hensler, Ritter und Sarrazin. Zur Beziehung von Fremd und Eigen in der hochmittelalterlichen Tradition der Chansons de geste (Archiv für Kulturgeschichte. Beiheft 62), Köln, Weimar, Wien 2006. 13 ‚Münchener Oswald‘, ‚Wiener Oswald‘, der nur fragmentarisch erhaltene ‚Linzer Oswald‘, die Prosafassungen ‚Budapester Oswald‘ und ‚Berliner Oswald‘ sowie die Kurzfassungen in ‚Der Heiligen Leben‘ bieten zum Teil sehr ähnliche, zum Teil aber auch deutlich voneinander abweichende Geschichten über das Leben des Heiligen Oswald und seiner Werbung um eine sarazenische Prinzessin. Der ‚Münchener Oswald‘ wird hier zitiert nach: Der Münchener Oswald. Mit einem Anhang: Die ostschwäbische Prosabearbeitung des 15. Jahrhunderts, hrsg. v. Michael Curschmann (Altdeutsche Textbibliothek 76), Tübingen 1974. 14 Georg Baesecke, Der Münchener Oswald. Text und Abhandlung (Germanistische Abhandlungen 28), Breslau 1907, ND Hildesheim 1977, S. v: „Fand man […] Altes und Neues gar zu eng in einander verschlungen? Aber doch nicht so, dass nicht wenigstens die Enden der Fäden sichtbar wären und die Art ihrer Verknüpfung das Entwirren lockte und lohnte! […] König Oswald aber, über dessen Gestalt sich greifbar deutlich wie nirgends sonst in der Heimat Geschichte, Legende, Sage und Dichtung die Hände reichen, ist ein Stiefkind der Forschung geblieben, und statt dass jetzt die Kenner aller Fein-



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solchen Vorgehen distanziert, beschäftigt der angebliche Widerspruch, den der „religiöse Überwurf“ hervorbringt, auch noch die heutigen Interpreten.15 In seinen ‚höfischen Kompromissen‘ hat Jan-Dirk Müller jüngst zu zeigen versucht, wie durch das Hintereinanderschalten von feudalem Prokreationsinteresse und geist­lichem Virginitätsideal ein produktives, aber eben doch nicht ganz geglücktes Spannungsfeld entstehe.16 In der jüngsten Forschung beginnt sich durch Christian Kiening und besonders Stephan Müller die Einschätzung zu etablieren, dass der angebliche Widerspruch, der in der Forschung so intensiv diskutiert wird, im Text selber nicht zu begründen ist.17 Hier entspricht, so meine an diese Position anschließende These, die rein geistige, keusche Ehe sehr genau dem von Oswald erhobenen Machtanspruch, der nicht in einer territorialen Eroberung oder physischen Vernichtung, sondern in der rein geistigen Bekehrung der Andersgläubigen durch Mission liegt. Die Bedeutung der Mission für dieses Werk zeigt sich schon in der Wahl des Protagonisten. Zu Beginn des Werkes ist sand Oswalt aus Engellant (v. 5) ein junger Herrscher, der früh seine Eltern verloren hat und jetzt auf der Suche nach einer passenden Ehefrau ist, wenn die Ehe ohne sund (v. 40) geführt werden könne. Kurz darauf erhält Oswald im Traum von einem Engel den Auftrag, eine sarazenische Königin zur Frau zu nehmen und zugleich den christlichen Glauben zu verbreiten.18 Der heilige Oswald von Nordhumbrien, der hier als Referenz auf historiographische und hagiographische Prätexte aufgerufen wird, ist nicht zufällig eine der Schlüsselfiguren in der Christianisierung Englands im Frühmittelalter. Verschiedene Forschungsbeiträge haben bereits aufgezeigt, wie viele Einzelheiten aus der hagiographischen Oswaldtradition in die Gestaltung der Brautwerbungserzählung eingeflossen sind.19 Für das Verständnis der

heiten der Sprache und Technik gegeneinander abwägen und die klar aufgeteilten Motive hin- und herwenden können, um jedes an seinen Platz zu stellen, stattdessen muss erst die gröbste Sonderung vorgenommen und die Grundlage für eine Rekonstruktion hergerichtet werden.“ 15 Achim Masser, Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 19), Berlin 1976, S. 162: „[W]enn zu allem noch ein religiös getönter Überwurf kommt [...], so ändert das im Grunde nichts am Wesen dieser Dichtungen.“ Schulz (Anm. 7), S. 235, spricht von der „Dekonstruktion des Brautwerbungsschemas von seinen inneren Prämissen her“ durch eine „Hybridisierung profaner und legendarischer Erzählmuster“. 16 Müller (Anm. 9), S. 123–129. 17 Siehe Anm. 11. 18 ‚Münchener Oswald‘ (Anm. 13), vv.  60–70: Ich will dir raten, furst guot: | nim dir dhain frauen in den landen dein. | ich will dir ez raten auf die treuen mein: | du muost varen uber mer | mit ainem kreftigen heer | nach ainer haidnischer kuniginne | die soltu uber mer her pringen | du muost in die haidenschaft cheren | und kristenleichen glauben meren. | nim dir ein haidmische kunigin, | daz ist gots will und der lieben muoter sein! 19 Siehe dazu Robert Folz, Saint Oswald roi de Northumbrie. Étude d’hagiographie royale, in: Analecta Bollandiana 98 (1980), S. 49–74; Karl Heinz Göller, König Oswald von Nordhumbrien. Von der Historia Ecclesiastica bis zur Regensburger Stadtsage, in: Ernst S. Dick u. Kurt R. Jankowsky (Hgg.), Festschrift für Karl Schneider zum 70. Geburtstag am 18. April 1982, Amsterdam, Philadelphia 1982, S. 305–323; Annemieck Jansen, The Development of the St Oswald Legends on the Continent, in: Clare





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Gesamtanlage des Werkes besonders bedeutsam erscheint über punktuelle Bezüge hinaus, dass die in der germanistischen Forschung voneinander geschiedenen weltlichen und geistlichen Aspekte der Figur Oswalds – seine Rolle als aktiver Herrscher und furchtloser Krieger auf der einen Seite und seine Weltabsage auf der anderen – beide bereits fest in der hagiographischen Tradition verankert sind. John E. Damon hat den hier vertretenen Typ des Heiligen als „martyred warrior king“ beschrieben. Im Gegensatz zum „roi souffrant“ bezeichnet er damit Könige, die durch ihren aktiven Kampf für den christlichen Glauben die Heiligkeit erreichen. In der Darstellung Oswalds durch Beda Venerabilis in seiner ‚Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum‘ sieht Damon diesen Typ beispielhaft erfüllt.20 Im ‚Münchener Oswald‘ werden also nicht der weltliche Typ ‚heroischer König‘ und der geistliche Typ ‚keuscher Konverse‘ miteinander in zeitlicher Hintereinanderschaltung ‚hybridisiert‘,21 sondern es verdichten sich kompatible, aus der hagiographischen Tradition bekannte Konzepte der Heiligkeit in einem neuen narrativen Zusammenhang. In der Gestaltung der Missions-Szene schreibt sich der Text in die Diskussion des Umgangs mit Andersgläubigen auf hohem Niveau ein. Nachdem Oswald seine sarazenische Prinzessin Paug aus dem Land ihres Vaters entführt hat, setzt dieser dem Paar mit seiner Flotte nach. Auf einer einsamen Insel kommt es zur militärischen Begegnung zwischen Christen und Sarazenen. Bereits die Situierung des Kampfes auf neutralem Boden macht klar, dass es nicht um einen territorialen Konflikt geht und auch nicht um die Befreiung des Heiligen Landes. Damit entfernt sich der ‚Oswald‘ von frühen Positionen zum Kreuzzug und ordnet sich in die Debatte um die Legi­ timität von Gewalt zu Missionszwecken ein, die durch die systematischen Missions­ bestrebungen der Mendikantenorden im 13. Jahrhundert entfacht wird und im Diktum Innozenz’ IV. einen ersten Abschluss findet.22 Demnach ist Gewaltanwendung als Wegbereiter zur Mission legitim, die Entscheidung zum Glaubensübertritt aber muss aus freien Stücken erfolgen. Dieses

E. Stancliffe u. Eric Cambridge (Hgg.), Oswald. Northumbrian King to European Saint, Stanford 1995, S. 230–240. 20 John E. Damon, Soldier Saints and Holy Warriors. Warfare and Sanctity in the Literature of Early England, Aldershot 2003, S.  22: „Among the earliest native English saints appeared a unique subclass: martyred warrior kings. The best representative of this group, Oswald of Northumbria, came to the throne by defeating pagan enemies in a battle preceded by his raising of a cross as a sign of the holiness and justice of his mission. As a king, he lived an exemplary (though hardly peaceful) life, and his death in battle earned him the title of King and Martyr.“ 21 Müller (Anm. 9), S. 129. 22 Zum Zusammenhang bzw. gerade zu den Divergenzen von Kreuzzug und Mission ist immer noch zentral Benjamin Kedar, Crusade and Mission. European Approaches toward the Muslims, New York 1984. Zum missionarischen Desinteresse in der Frühzeit der Kreuzzüge siehe bes. S. 4–12, zum Aufkommen von Missionsgedanken und Missionstätigkeit unter dem Einfluss der Mendikanten S. 136– 150, zum Einfluss Innozenz’ IV. siehe S.  159–170. Zum Bekehrungsoptimismus im 13.  Jahrhundert siehe auch Tolan (Anm. 12), S. 204.



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Zusammenspiel führt der ‚Oswald‘ eindringlich und auf spezifisch literarische Art und Weise vor. Nachdem alle sarazenischen Kämpfer bis auf ihren Anführer König Aron im Kampf getötet wurden, entspinnt sich ein längeres Gespräch zwischen Oswald und Aron,23 während dessen der christliche König Gott wiederholt erfolgreich um Wunderzeichen bittet. Auf Arons Wunsch hin lässt er die gefallenen Sarazenen wieder auferstehen. Diese weigern sich jedoch vehement, erneut gegen die Christen anzutreten: Sie seien in der Hölle gewesen und begehren jetzt eindringlich die Taufe. Nicht Angst vor dem Tod, sondern Furcht vor der ewigen Verdammnis beflügelt die Sarazenen zur Konversion. Diese Einsicht wird aber gerade erst durch ihren Tod auf dem Schlachtfeld ermöglicht, so dass diese Szene die härteste Fügung von Tod oder Taufe als Tod und Taufe oder vielleicht sogar noch besser als Taufe aufgrund des Todes vorführt.24 Damit arbeitet sich der ‚Oswald‘ an dem gleichen Thema ab, das auch den Dominikaner Robert Holcot im 14. Jahrhundert umtreibt, wenn er fragt, ob es einem Christen erlaubt sei, einen Andersgläubigen zu töten. Er verneint dies, weil Gott nicht den Tod des Sünders wolle, sondern dass er sich bekehrt und lebt. Nach dem Tod sei dies aber nicht möglich, „wenn der Körper nicht auf wundersame Weise wiederhergestellt und wiedererweckt wird.“25 Genau dies ist im Modus fiktionalen Erzählens möglich und so erscheint der ‚Oswald‘, ohne hier einen direkten intertextuellen Bezug in die eine oder andere Richtung zu behaupten, als Antwort auf theologische und philo-

23 Zu dieser Szene siehe zuletzt auch Simone Loleit, Erklärte Bekehrung. Die conversio der Heiden im ‚Oswald‘, in: Nine R. Miedema, Angela Schrott u. Monika Unzeitig (Hgg.), Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende (Historische Dialogforschung 2), Berlin 2012, S. 351–369. 24 ‚Münchener Oswald‘ (Anm. 13), vv. 2747–3200: Als König Oswald mit seiner Braut aus dem Land Aron nach England flieht, verfolgt ihn sein zukünftiger Schwiegervater auf See. Nach einer Verfolgungsjagd durch Stürme, treffen die beiden Heere schlussendlich auf einer einsamen Insel aufeinander. Nachdem die Christen alle Sarazenen bis auf König Aron getötet haben, ohne selber signifikanten Schaden zu nehmen, entspinnt sich ein Religionsgespräch zwischen Oswald und Aron, in dem der Christ seinen Gegenüber durch mehrere Wunder von der Macht seines Gottes und dem berechtigten Wahrheitsanspruch seiner Religion überzeugt. Als Gott auf Oswalds Bitten hin alle gefallenen Sarazenen wieder zum Leben erweckt, wünschen diese sich nichts sehnlicher als sofort getauft zu werden, um den soeben geschauten Qualen der Hölle zu entgehen. Nach erfolgter Taufe bitten sie kollektiv um einen schnellen Tod, um ihr gewonnenes Seelenheil nicht wieder verspielen zu können. Gott gewährt auch diesen Wunsch, so dass nur Paug, ihr Vater Aron und ihre Damen mit Oswald und seinen Kriegern weiter nach England reisen. 25 Das Werk wurde vielfach gedruckt (Basel 1481, 1488, 1489, 1506, 1586, Hagenau 1494, Köln 1479, Paris 1486, 1489, Reutlingen 1489, Speyer 1483, Venedig 1483) hat aber meines Wissens noch keine ­moderne Edition erfahren. Ich zitiere daher nach Kedar (Anm.  22), S.  177: Movetur questio utrum ­licitum sit et meritorium alicui christiano aliquem infidelem sicut paganum invadendo per vim occidere. Quod non, quia deus non vult mortem peccatoris sed ut convertatur et vivat. Sed post mortem corporis nequit converti, nisi corpus esset miraculose restitutum et rescitatum. Ergo talem morti tradere non est consonum divine bonitati (Übersetzung R. K.).





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sophische Fragen in prozessualer Erzählung, womit gelehrte diskursive Inhalte im narrativen Spielraum auf unterhaltsame Art erfahrbar werden. Diese rein geistige, auf das Heil im Jenseits abzielende Eroberung der religiös Anderen spiegelt sich in der Form der Ehe zwischen Oswald und Paug, die von Anfang an dem christlichem Liebesideal der caritas folgt: Gegenseitiger Beistand und die Vereinigung zweier Seelen. Dass diese Aspekte der Ehe im Mittelalter die aus geistlicher Perspektive zentralen und besonders hoch geschätzten waren, kann Rüdiger Schnell in seiner Studie zu Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe zeigen.26 Die hohe Wertschätzung keuscher und zugleich zärtlicher, nur unter großen Mühen enthaltsamer Verbindungen, hat Stephen Jaeger, unter anderem in Auseinandersetzung mit Abaelard, herausgearbeitet.27 Im ‚Münchener Oswald‘ wird eine solche starke gegenseitige Zuneigung, ein mit Anstrengung unterdrücktes sexuelles Interesse ohne Verlust der gegenseitigen Zugewandtheit, deutlich, als Oswald und Paug endlich heiraten können. Ihnen erscheint Christus, der beiden ankündigt, nach zwei Jahren zu sterben und in den Himmel zu kommen, wo Oswald einer der Nothelfer sein soll. Bis dahin erlegt er Ihnen auf, keusch miteinander zu leben, und gibt Ihnen den guten Rat, einen Bottich mit kaltem Wasser neben ihrem Ehebett aufzustellen. Genauso machen sie es: si begunden liebleich pei einander ligen, | aber weltleicher lieb si sich gar verzigen | wenn sie der werlt freud betwang, | ietweders in daz wasser sprang (vv. 3531–3534.). Liebevolle Zuneigung und Nähe bei gleichzeitigem bewussten Verzicht auf den ‚weltlichen‘ Teil der Liebe erscheint hier als Ideal. Schon vorher im Text hatte sich eine solche Form zärtlicher, aber rein geistiger Zuneigung verdichtet in dem Brief gezeigt, den Paug an Oswald schreibt, bevor sie sich das erste Mal begegnen: sand Oswalt daz insigel aufprach:  | der auserwelte degen  | begund den prief schauen eben.  | do vand er geschriben inne | die himlisch kuniginne; | sand Johannes, der werd man, | was auch geschriben daran; | sant Oswald sich selber vant, | erst ward im grosseu freud bechant. | sich und die kuniginne | vand er geschriben mitten inne: | si het in umbvangen, | gedrucht an ire wange, | chust in an den mund sein. | den prief het geschriben ain edleu chunigin.28

26 Rüdiger Schnell, Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe, Köln, Weimar, Wien 2002, S.  136: „Wenn Theologen und Kanonisten (positiv) von ehelicher Liebe sprechen (maritalis affectus, dilectio...), meinen sie fast ausschließlich eine moralisch-karitative Disposition, die innere Bereitschaft, dem Ehegefährten in allen Nöten beizustehen. Ihrer Meinung nach hat Liebe als spontanes, leidenschaftliches, auf sexuelle Vereinigung zielendes Verlangen nichts mit der geforderten inneren Einstellung der Eheleute zu tun.“ 27 Charles S. Jaeger, Ennobling Love. In Search of a Lost Sensibility (The Middle Ages Series), Philadelphia 1999, S. 117: „Abaelard argues that the virtue in chastity varies directly with the strength of the desire it resists. Chastity in a cold and frigid person has no value. [...] ‚I am chaste; therefore I do not love‘ is something very different from ‚I love, but chastely‘.“ 28 ‚Münchener Oswald‘ (Anm. 13), vv. 1416–1430.



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Im Medium der Schrift erreicht Oswald ein visionsartiges Bild, das ihn und Paug in liebevoller Umarmung zwischen Maria und dem Heiligen Johannes zeigt. Die Liebe wird interessanterweise nicht in die Zukunft projiziert, sondern eher in einen transzendenten Zustand, in dem das gegenseitige Umfangen und Küssen zeit- und körperlos erscheint. Mit diesem Brief erreicht Oswald die Bitte, seine Braut aus der haidenschaft zu retten und ihr die Taufe zu ermöglichen. Hier wird deutlich, wie sehr sich die Erzählungen von der missionarischen Errettung des Orients und von der rettenden Entführung der taufwilligen Braut gegenseitig motivieren, erhellen und durchdringen. So wie Oswald Paug in die Christenheit führt, bringt er auch ihre sarazenischen Landsleute zum Christentum und so wie Oswalds Machtanspruch im Lande Arons ein rein geistlicher der Mission ist, so ist auch die Ehe zwischen Oswald und Paug rein in tiefer spiritueller Liebe begründet. In der Figur Paugs wird der zu umwerbende, zu überzeugende und zu errettende Orient verleiblicht.29 Das Muster der gefährlichen Brautwerbung macht also nicht nur den Austrag des interreligiösen Konfliktes auf attraktive Art und Weise erzählbar, sondern andersherum verdichtet sich die diskursiv geprägte Thematik auch in der interreligiösen Ehe und der Geschichte ihres Zustandekommens.

Ausblick und Schlussfolgerungen Vor dem Hintergrund dieser Analyse ist es umso auffälliger, dass auch alle anderen Brautwerbungserzählungen (‚König Rother‘, ‚Kudrun‘, ‚Orendel‘, ‚Ortnit‘, ‚Salman und Morolf‘)30 von Begegnungen zwischen Christen und Anderen erzählen, wobei beide Seiten mit Bezug aufeinander in jedem Werk unterschiedlich gestaltet sind. Dementsprechend kann auch der Konflikt zwischen beiden Parteien, der sich immer

29 Burkhard Krause, er enpfienc diu lant unt ouch die magt. Die Frau, der Leib, das Land. Herrschaft und body politic im Mittelalter, in: ders. u. Ulrich Scheck (Hgg.), Verleiblichungen. Literatur- und kulturgeschichtliche Studien über Strategien, Formen und Funktionen der Verleiblichung in Texten von der Frühzeit bis zum Cyberspace (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 7), St. Ingbert 1996, S. 31–82, hier S. 72: „In den mittelalterlichen höfischen Epen fällt eine bemerkenswert häufig verwendete sprachliche ‚Formel‘ auf, in der sich ein oft aggressiv vorgetragener männlicher Anspruch auf die Übernahme politischer Herrschaft (oder zumindest der Gelegenheit, sie für sich zu erwerben) und unverhohlenes erotisches Begehren (minne) in merkwürdiger Identifizierung des einen mit dem anderen zusammenschließen. Beide Antriebe finden in der erotisch-politischen Paarformel lîp unde lant bzw. lîp unde guot (gewinnen) ihren so auffälligen wie doch den gemeinten Sachverhalt sehr gut treffenden Ausdruck.“ 30 Zu der Gruppe der Brautwerbungserzählungen gehört neben den genannten Werken noch der nur fragmentarisch erhaltene ‚Dukus Horant‘, der in seinen überlieferten Passagen keine Begegnung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionen enthält und daher im aktuellen Zusammenhang nicht bedacht wird. Aufgrund seiner besonderen Überlieferungssituation im jüdischen Kontext ist der Verlust weiter Teile der Erzählung umso bedauerlicher, verspräche sie doch für die aktuelle Frage­ stellung höchst interessantes Untersuchungsmaterial.





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im Streit um eine Frau verdichtet, in sehr unterschiedlichem Maß als religiöser Konflikt gestaltet sein. Wenn man vereinfachend grobe Linien durch die Texte ziehen wollte, könnte man sagen, dass ‚Kudrun‘ und ‚König Rother‘ eher (bündnis-)politische Fragen behandeln,31 wo ‚St. Oswald‘ und ‚Orendel‘ die Religionsgrenze verstärkt als Problem diskutieren.32 Im ‚Ortnit‘ und dem ‚Salman‘ gerät die klare Aufteilung der Rollen, die religiöse Hierarchie zwischen Christen und Ungetauften, die Zuordnung von Gut und Böse, in Bewegung.33 Mit dem gleichen Erzählinventar der gefährlichen Brautwerbung, mit dem im ‚Münchener Oswald‘ die Erfolgsgeschichte christlicher Mission erzählbar wird, wird im ‚König Rother‘ der politische Schulterschluss zwischen West- und Ostrom literarisch gestaltet und im ‚Salman‘ eine Welt entworfen, in der die Religionszugehörigkeit zwar eine große Rolle spielt, aber keinen großen Unterschied macht – und das höchst flexible Erzählmodell der gefährlichen Brautwerbung bietet in jedem Fall die Möglichkeit dazu, wie ich versucht habe, an anderer Stelle zu zeigen.34 In dieser Diskussion religiöser Differenzen und den diskursiven und literarischen Möglichkeiten des Umgangs mit ihr liegt meiner Meinung nach ein produktiver Weg zur Konturierung der Brautwerbungserzählungen als Gruppe individueller Werke, die ein bekanntes Erzählinventar für ihre Absichten und Zwecke zu nutzen wissen und es

31 König Rother wirbt als Protagonist um die Hand der byzantinischen Prinzessin. Die Sarazenen begegnen in diesem Text als direkte Konkurrenten in der Brautwerbung. Am Ende steht eine bündnispolitische Vereinigung der beiden christlichen Gebiete im Osten und Westen der totalen Exklusion der sarazenischen Partei gegenüber, die in ihre Heimat (die babylonische Wüste) zurückgedrängt wird. In ‚Kudrun‘ ist Siegfried von Mohrland einer der Konkurrenten, die um Kudruns Hand werben. Er wird über seine dunkle Hautfarbe, arabische Musik und seine Herkunft als Sarazene gezeichnet, wird aber nach einigen militärischen Auseinandersetzungen schnell zum Verbündeten der Partei Herwigs und Hetels gegen Hartmut. Am Ende des Werkes wird Siegfried ganz selbstverständlich in das welt­ umspannende Ehebündnisnetz eingewoben, das Kudrun um sich und die übrigen Figuren spinnt. 32 In beiden Texten werden mehrere Modelle hintereinandergeschaltet. Im ‚Orendel‘ sind sie außerdem an verschiedene Figuren gebunden: Während Königin Bride als Christin friedlich über sarazenische Untertanen herrschen kann, sucht der Fischerherzog Ise immer wieder die maximale militärische Konfrontation, wohingegen Orendel als dritte Hauptfigur immer wieder den Religionsübertritt seines Gegenübers anstrebt. Im ‚Oswald‘ verdichtet sich die Begegnung zwischen Christen und Sarazenen auf eine Missionsthematik hin. 33 Im ‚Ortnit‘ zeigt sich dies unter anderem daran, dass die umworbene sarazenische Prinzessin nur durch harte Erpressung zu einer Ehe mit dem christlichen Helden zu bewegen ist, dessen Legitima­tion sich hauptsächlich aus gefälschten Wundern seines Vaters Alberichs speist. Das Versagen Ortnits am Ende des Werkes gegen die aus Rache für den Raub der Prinzessin in sein Land gesendeten D ­ rachen, macht die Vorläufigkeit seiner Brautwerbung offenbar. Im ‚Salman und Morolf‘ wird sowohl das narrative Modell als auch das Referenzsystem religiöser Identität in einem Vexierspiel dynamisiert. 34 Dieser Aufsatz bündelt einige Ergebnisse meiner Dissertation, die sich intensiv mit der inter­ religiösen Dynamik der Brautwerbungserzählungen beschäftigt, s. Rabea Kohnen, Die Braut des Königs. Zur interreligiösen Dynamik der mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen (Hermaea N. F. 133), Berlin, New York 2013.



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damit zugleich immer wieder aktualisieren, weiter entwickeln und lebendig halten. In der Interaktion von narrativem Modell und diskursivem Gehalt läge dann ein guter Teil ihrer literarischen Attraktivität begründet.



Anhang

Register (von Friederike Pfister und Jakob Odenwald) Die Register erfassen vorrangig die Personen-, Gruppen- und Institutionsnamen bzw. Orte, geographische und politische Einheiten, die im Haupttext der Beiträge genannt sind. Nennungen in den Anmerkungen wurden nur in substantiell scheinenden Fällen aufgenommen, die über reine Nachweise hinausgehen. Personen der Zeit vor 1500 sind nach Vornamen sortiert, solche der Zeit nach 1500 nach Nachnamen. Zur besseren Benutzbarkeit wurden stellenweise knappe Erläuterungen angefügt. Neben Amtsbezeichnungen wie Kaiser (Ks.), König (Kg.) oder Bischof (Bf.) wurde auch die Unterscheidung von biblischen (bibl. Fig.) und literarischen Figuren (lit. Fig.) markiert. In Fällen, in denen die Forschung unterschiedliche Schreibungen kennt, wird auf alternative Aufnahmen verwiesen (→). Von Gruppen abgeleitete Adjektivbildungen sind im Personenregister erfasst („Franzosen/ französisch“), auf räumliche oder politische Einheiten bezogene Nennungen im folgenden Ortsregister („Frankreich“). Nicht aufgenommen wurden die Begriffe „Christen/christlich“, „Juden/jüdisch“ und „Muslime/muslimisch“.

Register der Personen, Gruppen und Institutionen Aaron (bibl. Fig.) 81, 211, 506 Aba (Sámuel Aba), Kg. von Ungarn 563 Abaelard → Petrus Abaelardus Abbasiden 117 Abel (bibl. Fig.) 81f., 85, 243 Abramus Sechelus 479 Abrech (Jude aus Friesach) 451 Abu Zayd, Nasr Hamid 227 Abū l-Barakāt (Abū l-Barakāt Hibat Allāh b. Malkā al-Baġdādī) 247 Abū l-Faraǧ al-Iṣfahānī (Abū l-Faraǧ ʿAlī b. al-Ḥusain al-Qurašī al-Iṣfahānī) 248, 255 Abū l-Faraǧ → Barhebräus Abū l-Ḥakam (Arzt) 490 Achisch von Gad (bibl. Fig.) 406 Adam (bibl. Fig.) 57, 59, 72, 74, 93, 118, 129, 132, 179f., 559, 591 Aeneas (lit. Fig.) 566f. Aetios von Amida (Arzt) 487 Agnellus von Ravenna 487 Agobard von Lyon 191 Aḥmad b. Tamīm 478 Ahrun, Presbyter 488 Aimery de Nabinaux, Bf. von Paphos 336 Alarich (Gotenherrscher) 567 Alcuin 7 al-Biṭrīq → Patrikios al-Fārābī (Abū Naṣr Muḥammad al-Fārābī) 254

al-Ġazālī (Abū Hāmid Muḥammad b. Muḥammad al-Ġazālī) 54, 237 al-Ḥakam II., Umayyaden-Kalif von Spanien (al-Ḥakam b. ʿAbd ar-Raḥmān Abū l-Muṭarrif al-Mustanṣir) 473 al-Kindī (Abū Yaʿqūb b. Isḥāq al-Kindī) 248f. al-Manṣūr, Abbasiden-Kalif (Abū Ǧaʿfar al-Manṣūr ʿAbd Allāh b. Muḥammad al-Imām)  490 al-Muʿtaṣim, Abbasiden-Kalif (Abū Isḥāq al-Muʿtaṣim Muḥammad b. ar-Rašīd) 490 al-Qalqašandī (Aḥmad b. ʿAlī l-Qalqašandī)  476f. Alan von Lille 12, 26 Albaner 47, 382 Alberich (lit. Fig.) 609 Albero von Streitwiesen 428 Albero Stuchs 428 Albrecht II., Bf. von Passau 429 Albrecht II., Hz. von Österreich 421, 429f., 433 Albrecht III., Hz. von Österreich 428, 433, 440, 442, 444, 451 Albrecht V., Hz. von Österreich 435, 452 Albrecht von Scharfenberg 158–160 Alemannen/alemannisch 94, 398 Alexander III., Papst 456 Alexander IV., Papst 328 Alexander, Kg. (lit. Fig.) 75f. Alexander von Tralleis (Arzt) 487

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 Register der Personen, Gruppen und Institutionen

Alexios I. Komnenos, Ks. von Trapezunt 401 Alexios III. Angelos, byz. Ks. 398–400, 403 Alexios Branas Komnenos 399 Alfons III. „der Große“, Kg. von Asturien 278 Alfons VI., Kg. von Kastilien 285 Alfons VII., Kg. von Kastilien 288 Alfons VIII., Kg. von Kastilien 287 Alfons X. „der Weise“, Kg. von Kastilien 475, 477 ‘Alī b. Yaḥyā 486 Alice de Champagne, Kgin. von Zypern 328, 334 Almohaden 46, 287, 476 Almus/Almos/Álmos (lit. Fig.) 565, 569 Althoff, Gerd 22 Amalarius von Metz 191, 510, 512, 514, 517, 519 Amalekiter 404 Ambrosius von Mailand 14, 51, 148, 153, 201, 555 Amelius (lit. Fig.) 158, 161f., 165 Amicus (lit. Fig.) 158, 161f., 165 Andreas (Heiliger) 577 Andreas, Bf. von Fondi 577 Andreas I., Kg. von Ungarn 563 Andreas II., Kg. von Ungarn 447 Andreas III., Kg. von Ungarn 343 Andreas von Ungarn (Sohn Karls I. Robert von Ungarn) 344 Andreas Zane 390 Andrews, Justine 331 Andronikos II. Palaiologos, byz. Ks. 363, 367, 377f., 384f., 410f. Andronikos III. Palaiologos, byz. Ks. 416 Angeleo Sophista 487 Angeloi (byz. Herrscherfamilie) 398 Anna (Mutter des Klerikers Grisandus) 309 Anna (Frau von Heinrich Luchs) 426 Annas, Hohepriester (bibl. Fig.) 98f. Anjou (Dynastie) 340, 343, 345–347, 349, 352, 356, 378, 381f., 389f., 413 Anselm von Canterbury 54, 58 Ansgerius, Bf. von Catania 317 Antonius (Eremit) 314 Appian (Appianos von Alexandria) 393, 396 Appolonius von Tyrland (lit. Fig.) 75f. Araber/arabisch 29, 31, 50, 54f., 58–60, 112, 117f., 121, 247f., 320, 403, 485, 488 Archipoeta 26 Arianer 124, 395 Aristoteles 12, 29, 54, 60, 253f., 256, 502



Armenier/armenisch 325f., 328, 334, 380 „Armer Heinrich“ → Heinrich Arnulf von Kärnten, röm.-dt. Kg., Ks. 562 Aron, Kg. (lit. Fig.) 606, 608 Arpad (Árpád) 565 Arpaden (Dynastie) 343, 345f., 382, 388, 566 Arsenios, Patriarch von Konstantinopel 404 Arseniten 404, 406 Ashmedai (Dämonenkönig, lit. Fig.) 581 Asprian (Riesenkönig, lit. Fig.) 593 Assmann, Jan XVI, 62, 193, 381 Athanasios I., Patriarch von Konstantinopel  385 Attila/Etzel 563, 565–568, 570 Augustiner-Eremiten 325f. Augustinus (Aurelius Augustinus), Bf. von Hippo → Pseudo-Augustinus 10–12, 14, 17–20, 22, 24, 27, 58, 89, 148, 153, 164, 173, 177, 189, 366, 458, 527, 538f., 567 Augustinus Kažotić, Bf. von Zagreb 346 Austin, John L. 239 Averroes (Abū l-Walīd Muḥammad b. Aḥmad b. Muḥammad b. Rušd) 54, 60, 502 Avicenna (Abū ʿAlī al-Ḥusain b. ʿAbdullāh b. Sīnā) 54, 254, 475 Awaren 396 Awroham (Schreiber) 103 Ayyubiden XIII, 476 Azar (Vater Abrahams) 78, 115 Baesecke, Georg 603 Balaam (Prophet, bibl. Fig.) 134 Balai 247 Balduin II., lat. Ks. von Byzanz 378 Balīṭyān, Patriarch von Alexandria 490 Bandmann, Günter 273f. Bani (Familie) 352 Barhebräus, Gregorius (Abū l-Faraǧ) 242, 247 Barlaam (lit. Fig.) 76, 158f. Barlaam Kalabros 367 Barley, Nigel 258f. Bartholomäus → Partholón Bartholomäus, Abt von S. Maria del Partir 318, 321 Bartholomäus von Alverna 353f., 357 Bartholomäus Anglicus 379f. Bartomu Ferades 480 Baschet, Jérôme 146, 150 Basileios I., byz. Ks. 397



Register der Personen, Gruppen und Institutionen 

Basileios von Caesarea („der Große“) 131, 136 Bauer, Thomas 4 Bäuml, Franz 194 Baumstark, Anton 242 Beatus von Liébana 14 Beda „Venerabilis“ 7f., 73, 173, 177, 182, 605 Bekkos → Johannes XI. Bekkos Béla I., Kg. von Ungarn 563 Béla II., Kg. von Ungarn 563 Béla IV., Kg. von Ungarn 341, 347, 388, 563 Belus (bibl. Fig.) 180 Ben Sira/Jesus Sirach 211, 578 Benedetto I. Zaccaria 408–411, 414, 416 Benedetto II. Palaiologos Zaccaria 411 Benediktiner 207, 346, 361f. Benedikt XI., Papst 383 Benedikt XII., Papst 268f. Benedikt XVI./Joseph Ratzinger, Papst 48, 62, 239 Benedikt von Nursia 198 Benedikt, Bf. von Herakleia 362 Berard, Bf. von Limassol 332f. Berber 37, 40f., 287, 594 Bergmann, Rolf 86 Bernardus de Pulcro-Vicino 480 Berend, Nora 341 Bernardus Silvestris 26 Bernhard von Breidenbach 532f. Bernhard von Clairvaux 16, 21, 30, 201 Bernhard Gui 368 Berno von der Reichenau, Abt 512 Bernold von Konstanz 512 Beyliks 411f., 414, 416 Bezalel (bibl. Fig.) 302 Bezner, Frank 22 Birnbaum, Solomon 102 Bith (lit. Fig.) 179 Blanca von Kastilien 152 Bobzin, Hartmut 229 Boccaccio, Giovanni → Giovanni Boccaccio Boerner, Bruno 146 Boethius (Anicius Manlius Severinus Boethius)  366 Bogomilen 351 Bonaiunta de Cascina 478, 480 Bonaventura (Giovanni di Fidanza) 54 Bonifatius VIII., Papst 333 Bosnier/bosnisch 341, 350–355 Boyer, Tina 593

 615

Brandt, Rüdiger 600 Brague, Rémi 253 Bride, Kgin. (lit. Fig.) 609 Briten/britisch 173, 470, 566 Bruno von Köln 322 Brutus (lit. Fig.) 566 Buc, Phillippe 22 Budde, Elmar 256 Bulgaren 354, 382f., 397–399 Bulst, Neidhart 460, 468 Burchard von Worms 455 Buresi, Pascal 470 Bynum, Caroline Walker 207 Byzantiner/byzantinisch 62, 122, 124, 126f., 130–132, 134, 145, 147, 246–249, 256, 314f., 318f., 321, 325, 328, 335, 341, 359–369, 375–379, 392f., 395f., 399–401, 405–408, 410f., 413f., 416, 487, 489, 493, 561, 567, 591–593, 595–597, 609 Caelius Aurelianus 487 Carey, John 172 Carnavabus (Diener in Nikosia) 336 Caroberto → Karl I. Robert, Kg. von Ungarn Cassian (Johannes Cassianus) 8 Cassiodor (Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator) 9, 13, 20, 173 Cassius Dio 393 Cayphas (bibl. Fig.) 98f. Cessair (lit. Fig.) 179f., 183 Chalcidius 255 Chatschim (Jude aus Cilli) 443, 450f. Chosrau I., pers. Kg. 491 Christensen, Arne S. 173 Christophorus (Heiliger) 108 Cicero (Marcus Tullius Cicero) 12 Clemens V., Papst 383f. Clemens VI., Papst 344, 348 Cohen, Jeremy 533 Colonna (spätröm. Familie) 567 Constantinus Africanus 474 Constanza (lit. Fig.) 594–596 Contarini (venezian. Familie) 42 Coureas, Nicholas 331 Cyprian von Karthago (Thascius Caecilius Cyprianus) 129 Dagon (Gott, bibl. Fig.) 394 D’Alessio, Daleggio E. 361



616 

 Register der Personen, Gruppen und Institutionen

Dalida (bibl. Fig.) 405 Dalimil 563, 570 Damon, John E. 605 Daniel (Prophet, bibl. Fig.) 16, 82, 538f. Dankhart (Bürger von Preßburg) 428f. Dante Alighieri 27 Datus (aus Rouerge) 472 David, Kg. (bibl. Fig.) 30, 74, 82, 85, 94, 188, 392f., 395–402, 404–406, 559 David Steuss (Jude aus Wien) 444f., 451 Demetrios Kydones 365, 368 Dénes Lackfi 344 Deutsch, Lorenz 602 Deutsche/deutsch XV, 36, 51, 66, 93, 109f., 429, 433, 451, 519, 561, 571 Deutsches Historisches Institut in Rom 35 Didymos „der Blinde“ 402 Diederichs, Ulf 573–575, 584 Diego Gelmírez, Ebf. von Santiago di Com­postela 282–284 Dieterich (lit. Fig.) 158, 162–166, 169 Dietrich (lit. Fig.) → Rother Dilcher, Gerhard 459 Dios (koptischer Arzt) 491, 493 Dioscorides/Dioskurides (Pedanios Dioskurides) 474, 487 Dionysius Areopagita → Pseudo-Dionysius Areopagita Djoker (Arzt) 491 Dodds, Jerrilynn D. 286, 287 Domenico Gerosolimitano 583 Dominikaner 7, 39, 53f., 206f., 310, 325–328, 332f., 335–338, 340, 342, 345f., 351f., 361f., 364, 367–369, 375, 381, 476, 522–524, 530, 606 Donat (Aelius Donatus) 12 Dreessen, Wulf-Otto 104, 109 Dschurhum/Ğurhum (arab. Stamm) 118 Dule Alanorum (lit. Fig.) 564 Eggebrecht, Hans Heinrich 251–255, 258 Einstein, Albert 498 Eisenhardt, Ulrich 468 Ekkehart IV. von St. Gallen 204 El’azar, Rabbi 212 Eleonore von Portugal, röm.-dt. Ksin. 44 Elias de Nabinaux, Ebf. von Nikosia 333f. Eliezer Ben Joel ha-Levi 266 Elija (Prophet, bibl. Fig.) 293, 298



Elisabeth, Kgin. von Ungarn (Frau Karls I. Robert) 344–349, 356 Elisabeth Kotromanić, Kgin. von Ungarn (Frau Ludwigs I.) 353, 355 Elisabeth von Schönau 206 Elisabeth von Ungarn (Tochter Kg. Stephans V.)  388 Elisaios, Bf. in Ktesiphon/Seleukia 493 Elze, Reinhard 297, 299 Emese (lit. Fig.) → Oneth 565, 569 Emmerich, Kg. von Ungarn 346 Empson, William 32 Engel, Pál 344, 349 Engelhard (lit. Fig.) 158, 162–165, 169 Enodbili (lit. Fig., Vater von Emese) 568f. Eochaid ua Flainn 180 Ephraem Syrus 145 Erasmus von Rotterdam (Desiderius Erasmus) 15 Eremiten 59, 314f. Erene (lit. Fig.) 589, 594, 596–598 Ernst, Hz. der Steiermark 435 Ester (Wiener Jüdin, Frau des Schalaun) 421 Étienne de Bourbon 579 Étienne Tempier, Bf. von Paris 502f., 507 Etzel → Attila Euphemia, Hzin. von Görz 452 Eusebius von Caesarea 173, 177f., 181f., 302 Eutropios 393 Eva (bibl. Fig.) 93, 132 Ezechiel (Prophet, bibl. Fig.) 88, 296, 303 Ezechiel, Bf. in Ktesiphon/Seleukia 493 Falkenhausen, Vera von 319 Felix Fabri 337f., 522f., 524, 525–533 Ferdinand von Mallorca 327, 333 Fintan (lit. Fig.) 179f., 183 Flavius Josephus/Flavios Josephos 120, 393 Fore (lit. Fig.) 587f., 595–597 Francesco Pegolotti 409 Francesco Petrarca 28 Francio (Sohn Hektors, lit. Fig.) 566f. Francischus de Seguembaldo 478f. Franken/fränkisch 320, 325, 328, 334, 375, 379, 385, 392, 413, 468, 476, 481, 511, 517, 566f., 571 Franko (lit. Fig.) 567 Franziskaner 7, 39, 310, 324–327, 329, 331–336, 340, 342–345, 347–356, 361f., 364, 367, 380, 476, 525, 532



Register der Personen, Gruppen und Institutionen 

Franziskus von Assisi (Heiliger) 53, 348, 349 Franzosen/französisch 36, 42, 48, 145, 149, 325, 329, 334f., 346, 356, 375–378, 381, 389, 549, 566, 571, 579 Frey, Winfried 529 Friedrich I. „Barbarossa“, röm.-dt. Kg., Ks. 26, 147, 267, 398f. Friedrich II., röm.-dt. Kg., Ks. XII, 323f., 433, 457 Friedrich III., röm.-dt. Kg., Ks. 44, 560 Friedrich II., Hz. von Österreich 439 Friedrich von Liechtenstein 452 Friedrich von Monte Vico 335 Gabriel (Erzengel, bibl. Fig.) 108, 546f. Gabriel (Ǧibrīl b. Buḫtīšūʿ) 490 Galen 486f., 490, 493 Gälen (Volk)/gälisch 44, 181 Galilei, Galileo 499 Gallier 381f. Ganz, Georg F. 106 Geiger, Abraham 120 Genuesen/genuesisch 41–43, 47, 409, 411f., 479–482 Georg Kastriota → Skanderbeg Georg von Ungarn 48 Georgios Pachymeres 366 Gerard von Eudes, franzisk. Ordensgeneral 350, 353 Gerhard, Bf. von Csanád (Heiliger) 346 Gêrhart (lit. Fig.) 589f., 596, 598 Gertrud von Helfta 206 Géza, Großfürst von Ungarn 561f. Gilla Cóemáin 176 Giovanni (Händler) 42 Giovanni Battista Orsini  47 Giovanni Boccaccio XI, 27, 585, 598 Gisela, Kgin. von Ungarn (Frau Stephans I. „des Heiligen“) 560, 562 Goetz, Hans-Werner 523 Goffiné, Leonhard 515 Goliath (bibl. Fig.) 85, 395, 399–402 Górka, Olgierd 380f. Goten/gotisch/westgotisch 272, 277, 282, 567 Gottesmutter → Maria Graesser, Carl F. 293 Gregor I. „der Große“, Papst 9, 14f., 141, 148, 195, 577–581, 583 Gregor IX., Papst 324, 328

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Gregorios Palamas 405 Gregor, Bf. von Tours 173 Gregor von Nazianz 142 Gregor/Gregorios von Nyssa 124, 128, 401 Gregorios II., Patriarch von Konstantinopel 366 Griechen/griechisch XIX, 6f., 20, 29, 120, 122, 127, 129f., 136, 170, 190, 211, 242f., 253f., 309, 314–324, 326, 328–339, 354, 362–370, 375–379, 382–386, 389–391, 394, 408f., 413f., 416f., 472–475, 486, 488f., 578 Grimme (Riese, lit. Fig.) 593 Grisandus (Kleriker) 309 Guaiferius von Salerno 472 Guido von Lusignan, Kg. von Jerusalem 325 Guillaume Bernard von Gaillac 363, 367f. Guillelmus Adae 384, 408 Guillelmus de Bonastre 479 Guillelmus Durandus 30f., 513, 518, 520 Gumbrecht, Hans Ulrich 193 Ǧurhum → Dschurhum Gushee, Lawrence 258 Haas, Max 194f. Habsburger/habsburgisch 430, 434, 440, 567 Ḥafṣ b. Albar 472 Ḥafṣiden 478–481 Hagar (bibl. Fig.) XVII, 73, 117, 119f., 133, 403 Hagariten 74 Haimo von Geroldsdorf 428 Ham (bibl. Fig.) 73, 564 Hans Ebran von Wildenberg 564, 566 Hans Haug zum Freystein 563, 565, 569f. Hardenberg, Friedrich von → Novalis Hartmann von Aue 158, 165–169 Hartmut (lit. Fig.) 609 Hārūn ar-Rašīd, Kalif 490 Ḫaṣīb (Arzt) 490 Haubel (Jude aus Hainburg) 435 Häusler (Familie) 440 Häussling, Angelus 203, 521 Hayton/Hethum von Korykos 380 Hebel (Jude aus Wien) 441 Heblein (Jude aus Lengbach) 428 Hedwig von Kalisch 344 Heinrich I., ostfränk. Kg. 562 Heinrich II., röm.-dt. Kg., Ks. 562, 566 Heinrich IV., röm.-dt. Kg., Ks. 267, 449, 456, 463



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 Register der Personen, Gruppen und Institutionen

Heinrich VI., röm.-dt. Kg., Ks. 500 Heinrich II., Kg. von Zypern 327, 332, 338 Heinrich „der Seefahrer“, Kg. von Portugal 43 („Armer“) Heinrich (lit. Fig.) 158, 166–169 Heinrich (christl. Baumeister) 270 Heinrich Luchs (Bürger der Wiener Neustadt)  426 Heinrich von Mügeln 562, 564 Heinrich von Neustadt 76 Heinrich von Wallsee-Enns (österr. Hauptmann)  440 Heinz, Andreas 511 Hektor (lit. Fig.) 566f. Helena (Heilige) 593 Helmholt, Hans F. 499 Heloise, Äbtissin des Klosters Paraklet 30 Hennig, John 511f. Herder, Johann Gottfried 101, 109–111 Hermann von Kärnten/Dalmatien 475, 484 Herodes, Kg. (bibl. Fig.) 99 Herrad von Landsberg 149, 152 Herwig (lit. Fig.) 609 Herzeloide, Ksin. (lit. Fig.) 75 Hesbert, René-Jean 299 Hetel (lit. Fig.) 609 Hethum → Hayton Hieromonachos Sophronias 385 Hieronymus (Sophronius Eusebius Hieronymus)  7, 14, 16, 19f., 177, 242, 472 Hildegard von Bingen 9f. Hilpisch, Stephanus 207f. Hincmar von Reims 19f. Himor/Hunor 564 Hiob/Iob (bibl. Fig.) 15, 81, 158, 164–169, 240 Hippokrates 493 Honorius Augustodunensis 13, 518 Horovitz, Josef 227 Houben, Hubert 321 Hrabanus Maurus 305 Hrotsvit von Gandersheim 25 Hübner, Ernst W. E. 492 Hugo II. (oder III.), Kg. von Zypern 326 Hugo IV., Kg. von Zypern 327, 333f. Hugo, Bf. von Lincoln 272 Hugo von Duino 429 Hugo von St. Viktor 55, 291, 306, 549 Ḥunain b. Isḥāq/Johannitius 486–489, 491–494 Hunnen/hunnisch 564–566, 568, 570, 572



Hunor → Himor  Husmann, Heinrich 246 Iacob → Jakob Ibn Aṭāl 490 Ibn ʿAbdūn 474 Ibn Isḥāq 118 Ibn Hišām 118 Ibn Misǧaḥ 247 Ibn Rušd → Averroes Ibn Sīnā → Avicenna Ibn Ṭūlūn 490 Idelsohn, Abraham Z. 240 Ihesu → Jesus Christus Ikonoklasten 395 Immessen, Arnold 89f., 92 Inder 326 Innozenz III., Papst 456 Innozenz IV., Papst 323, 605 Innozenz VI., Papst 330, 450 Innozenz VIII., Papst 340 Ioannes II. Komnenos, byz. Ks. 403 Ioannes IV. Laskaris, byz. Ks. 404 Ioannes I. Dukas, Fürst von Thessalien 406 Ioannes Apokaukos, Metropolit von Naupaktos 401f. Ioannes Kaminiates 396 Ioannes Syropulos 399f. Iob → Hiob Ioseph, Bf. in Ktesiphon/Seleukia 491f. Iren/irisch 171–173, 175, 177f., 181–183 Irenäus von Lyon 64, 128f. Īsā → Jesus Christus Isaak/Isac/Isḥāq/Ysaac (bibl. Fig.) 52, 71, 73–79, 81f., 85–92, 98f., 103, 106, 108, 112, 122–135, 146–150, 158–161, 163f., 166, 298, 299 Isaakios II. Angelos, byz. Ks. 399f. Isabella von Aragón 388 Isaias → Jesaja Isḥāq → Isaak Isḥāq al-Mauṣilī 248 Ise (lit. Fig.) 609 Isidor von Sevilla 19, 173, 175, 177, 257f., 487 Isidorus (Heiliger, Patron von Chios) 411 Ismael/Ismāʿīl (bibl. Fig.) 73f., 76, 83, 112, 117–120, 133, 146 Ismaeliten 74 Israel Isserlein (Jude aus Wien) 452



Register der Personen, Gruppen und Institutionen 

Israeliten 76, 134, 140, 211, 393f., 400, 505, 546, 549 Isserl (Jude aus Neunkirchen) 428 Isserl (Jude aus Bruck) 435 Isserlein (Jude aus Marburg) 439, 442, 451 Ivo von Chartres 455 Jachomo Dapetori 480 Jacob al-Qirqisani 213 Jacobiten → Jakobiten Jacob → Jakob Jacobus → Jakobus Jacobus Faber Stapulensis 67f. Jacoby, David 363 Jacques de Vitry 579 Jakob/Jacob/Iacob (bibl. Fig.; auch Name, Patronat) 52, 76, 81, 98, 117, 125, 131f., 134, 146–150, 293, 298–301, 303f., 544 Jakob OFM 367 Jakob von Edessa 242 Jakob der Normanne 335 Jakob Quirino 390 Jakob von St. Prospero 334 Jakob von Sarūq 247 Jakob Twinger von Königshofen 566, 570 Jakob Unrest 563, 565f., 568–570 Jakobiten/Jacobiten 325f., 328, 331, 334 Jakobus (Apostel, Heiliger) 252, 282–284 Jaeger, Stephen 607 Jafet → Japhet Janin, Raymond 361 János Hunyadi, Wojwode von Siebenbürgen 47f. Janota, Johannes 535 Jans(en) Enikel XI, 158, 160f., 560 Japhet/Jafet (bibl. Fig.) 73, 174, 564 Jacqueline de la Roche 413 Jaume I. „der Eroberer“, Kg. von Aragón 52 Jāusep Ḥūsājā 241 Jeannin, Jules C. 246 Jebusiter (bibl. Volk) 400f. Jeremias (Prophet, bibl. Fig.) 516 Jesaja/Isaias (Prophet, bibl. Fig.) 16, 93, 199, 538, 567 Jesse 135 Jesuiten 310 Jesus Christus/Ihesu Kristis/Isa 7, 52, 57, 59, 63, 66, 72, 82, 84, 86–88, 91–93, 95f., 98f., 118, 122, 127–132, 134f., 145, 147, 200f., 206f., 224, 234, 236, 294–296, 364,

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377, 457, 484, 509–515, 517f., 525, 529f., 532, 535, 537–542, 546f., 549, 552–556, 558–560, 607 Jesus Sirach → Ben Sira Joachim von Fiore 9, 21 Johann II. Ribi von Platzheim-Lenzburg, Bf. von Gurk 450f. Johann III. von Töckheim, Bf. von Gurk 451 Johann von Buch (Jurist) 464 Johann von Gravina 413 Johannes → Ioannes Johannes (Apostel, Evangelist, bibl. Fig.) 141, 144, 206, 283, 296, 534, 538, 607f. Johannes „der Täufer” (bibl. Fig.) 93, 542f., 547, 549, 553f. Johannes XXII., Papst 329–331, 333f., 343, 345, 347, 352, 384, 414 Johannes XXIII. (Papst) 516 Johannes V. Palaiologos, byz. Ks. 354 Johannes XI. Bekkos, Patriarch von Konstantinopel 367 Johannes von Ancona, Ebf. von Nikosia (Franziskaner) 332f., 338 Johannes Beleth 518 Johannes Busch 15f. Johannes Buxtorf d. Ä. 583 Johannes Chrysostomos 127, 130f., 148 Johannes von Dalberg 67 Johannes von Damaskus 247 Johannes „der Deutsche“ 335 Johannes Duns Scotus 57 Johannes Egidius 480 Johannes de Fontibus 368 Johannes von Hauvilla 26 Johannes Kantakuzenos 414 Johannes Monomachos 385 Johannes Parastron 367 Johannes Quirino 390 Johannes Rothe 77–79, 82, 564 Johannes von Salisbury 14 Johannes Scotus Eriugena 12f., 16f., 199 Johannes Serrano (Händler) 39 Johannes von Thurócz 356 Johannes de Utino 558f. Johannes Paul II., Papst 65 Johanniter 47f., 286, 412 Johannitius → Ḥunain ibn Isḥāq Jonas, Bf. von Orleans 302 Josaphat (lit. Fig.) 158



620 

 Register der Personen, Gruppen und Institutionen

Joseph (bibl. Fig.) 85, 103, 114 Joseph (Jude aus Wien) 449, 452 Joseph ben Moses 272 Josephiten 404 Josephos I. Galesiotes, Patriarch von Konstantinopel 404 Josua 293f. Juan (Dolmetscher, lit. Fig.) 470 Juda (Stamm) 400, 553, 559 Judah ben Nathan 266 Judas (bibl. Fig.) 132, 517–520, 541 Julian „Apostata“, röm. Ks. 527 Justinian (Flavius Petrus Sabbatius Iustinianus), röm. Ks. 528 Kahle, Paul 241 Kain (bibl. Fig.) 85 Kalman (lit. Fig.) 98 Kana (bibl. Fig.) 564 Karäer 213f. Karl I. „der Große“, fränk. Kg., Ks. 202, 562, 566, 592 Karl II. „der Kahle“, fränk. Kg. 19 Karl II., Kg. von Sizilien-Neapel 347, 388 Karl I. Robert/Caroberto, Kg. von Ungarn 340, 342–344, 346–349, 352, 355, 357, 388f., 406, 433 Karl von Valois 375, 377–381, 383–390 Karolinger/karolingisch XII, 20, 191, 195, 198, 257, 306, 597 Karmeliter 325–327, 329–331, 336 Karp, Hans Jürgen 499 Kartäuser 311, 322 Katharer 351 Katharina von Courtenay 375, 378, 380, 385 Katholiken/katholisch 10, 50f., 62–65, 331, 337, 340–342, 344, 350f., 353f., 382, 391, 407f., 502, 515 Keating, Geoffrey 182 Kedor-Laomer, Kg. (bibl. Fig.) 80 Kellermann, Andreas 249 Kepler, Johannes 499 Kermani, Navid 236 Keynes, John Maynard 257 Khoury, Adel Theodor 51 Kidonopoulos, Vassilios 361 Kiening, Christian 601f., 604 Kisch, Guido 468 Klarissen 344f., 434



Königin von Saba → Saba Konrad von Ammenhausen (Leutpriester) 79f. Konrad Grünemberg 532 Konrad von Würzburg 158, 162f., 165f., 169 Konstantin I. „der Große“ (Flavius Valerius Constantinus), röm. Ks. 165f. Konstantin II. (Flavius Claudius Constantinus), röm. Ks. 190 Konstantin, Kg. (lit. Fig.) 591–593, 596 Konstantinos → Kyrill  Konstantinos Limpidaris 385 Kopernikus 499 Kopten/koptisch 244, 247, 326, 491, 493 Krasner Balbale, Abigail 286f. Krauss, Samuel 264f. Kuckertz, Josef 246 Kudrun (lit. Fig.) 105, 600, 608f. Kugel, James 233 Kumanen 341f., 398f., 563, 570 Kurie (päpstliche) 44, 60, 312, 323, 329f., 340–342, 345, 351, 355, 379, 414f., 513 Kusch (bibl. Fig.) 564 Kuschel, Karl-Josef 51 Kyrill 397 Kyrill von Alexandreia 127f., 135 Ladislaus I., Kg. von Ungarn 346, 563 Ladislaus IV., Kg. von Ungarn 563 Ladislaus von Jank, Ebf. von Kalocsa 343 Ladislaus Kán 348 Lambert von St. Omer 553 Lamberto del Vernaccio 478 Langobarden/langobardisch 315, 322, 566 Laskariden (Dynastie) 401, 404 Lateiner/lateinisch (nicht: Sprache) XIX, 8, 14, 122, 127f., 129f., 170, 197, 254–256, 313–323, 325–329, 332, 334–339, 354, 359–362, 364–367, 370f., 375–378, 381–383, 386f., 390–393, 397f., 400–406, 408, 413, 415–417, 473, 475, 481, 484, 502, 523, 561, 567, 578, 581 Laudolfus, Priester von St. Jacobi in Münster  544 Lawn, Elizabeth 586 Lazaros (Mönch) 405 Lazarus (bibl. Fig.) 74, 76, 140–146, 148, 150, 153 Lazarus von Bethanien 141 Lebman (Wiener Jude) 427, 434



Register der Personen, Gruppen und Institutionen 

Leclercq, Jean 205 Leibniz, Gottfried Wilhelm 253, 499 Lentes, Thomas 200 Leon VI., byz. Ks. 396 Leonardus de Sigembaldo 479 Leontios Makhairas 329–331 Leopold III., Hz. von Österreich 444 Lessing, Gotthold Ephraim XI, XIII, 61 Levente (Bruder von Andreas I., Kg. von Ungarn)  563 Levi, Rabbi 212 Lewy, Wilhelm 264f. Leyen, Nikolaus SJ 520 Libanios 393 Lieberman (Jude, lit. Fig.) 98 Lienhard Pfarrkircher 93 Listenius, Nicolaus 252 Liuthar (Mönch) 142f. Loredan (venezianische Familie) 42 Lot (bibl. Fig.) 73, 80 Lothar II., fränk. Kg. 19 Lowin, Shari L. 120 Lublin (Jude aus Eisenburg) 450 Ludolf von Münster 545 Ludwig I. „der Fromme“, fränk. Kg., Ks. 191 Ludwig II. „der Deutsche“, ostfränk. Kg. 19 Ludwig I., Kg. von Ungarn 341f., 344, 349f., 353–357 Ludwig II., Kg. von Ungarn 563 Ludwig von Toulouse (Heiliger) 347–349 Lukas (Evangelist, bibl. Fig.) 144f. Lusignan (Familie) 325–327, 330, 335, 338 Macalister, Stewart 172, 175 Mach, Ludwig 499 MacNeill, John 181f. Madigan, Daniel 235 Magog (bibl. Fig.) 174 Magor (lit. Fig.) 564 Mahometh → Mohammed Mahumetus (Muslim) 475 Mamluken/mamlukisch 407–409, 411–414, 476, 481, 532 Maneschin (jüd. Baumeister) 270 Mansi Mansi 479 Manuel I. Komnenos, byz. Ks. 404 Manuel II. Palaiologos, byz. Ks. 62 Manuel Holobolos 366 Manuel Moschopoulos 368

 621

Manuel Sarantenos, Patriarch von Konstantinopel 402 Manuel Zaccaria 408–410, 416 Mann, Vivian 273 Mar Simson 270 Marchand, James 109 Marchus de Luquari 390 Marcus, Ivan G. 584 Marcus Minotto 390 Margarethe von Ungarn 346 Markschies, Christoph 205 Maria (Mutter Jesu, auch: Gottesmutter) 40, 89, 128, 206, 235f., 386, 395, 401, 529f., 546f., 554, 608 Maria (Tochter von Stephan V., Kg. von Ungarn)  347f. Maria Magdalena 141 Marías, Javier 470 Marinus Badoer 390 Markus von Famagusta und Tortosa 333 Maroniten 325f., 328, 331, 334 Marsilius von Padua 29 Martha (bibl. Fig.) 141 Martianus Capella 491 Martino Zaccaria 408, 411, 413–416 Martuccio (lit. Fig.) 594, 595, 596 Marwān I., Kalif 488 Māsarǧawaih (Arzt) 488, 490 Masoreten/masoretisch 209f., 214–216, 220 Matthäus, Bf. von Lefkara 332f. Matthäus Csák 348 Matthias (Heiliger) 580f. Matthias „Corvinus“, Kg. von Ungarn 340, 559f., 567 Mauren 45, 283–285 Maurus (lit. Fig.) 472 Maximilian I., röm.-dt. Kg., Ks. 567 Maximos Planudes 366 Mayer (Meraner Jude) 452 Mayerlein (Jude, Sohn des Sluemlein) 426 McKinnon, James 188 Mechthild von Magdeburg 206 Mehmed II., osman. Sultan 47 Meierstochter (lit. Fig.) 158, 166–169 Meisterlein (Rabbi in der Wiener Neustadt) 442 Melchisedek/Melchisedech (bibl./lit. Figur) XI, 80f., 85, 91f., 128 Meliton von Sardes 510 Ménager, Léon-Robert 317



622 

 Register der Personen, Gruppen und Institutionen

Menocal, María Rosa 286f. Merchlein (Jude) 428 Merzian (lit. Fig.) 599 Meyer, Kuno 175 Michael (Erzengel) 108, 129, 149 Michael III., byz. Ks. 397 Michael VIII. Palaiologos, byz. Ks. 363, 392, 404, 406, 409–411 Michael III. von Anchialos, Patriarch von Konstantinopel 404 Michael Choniates, Metropolit von Athen 400, 402, 405 Michael de Viali 479 Michilman (lit. Fig.) 98 Míl (lit. Fig.) 181 Mistachiel (Familie) 335 Moabiter/moabitisch 134 Mohammed/Muḥammad/Mahometh 57, 62, 113–117, 120f., 222f., 226f., 229–231, 233–238, 285, 488 Mongolen/mongolisch 59, 341, 346, 351, 380 Montgomery, James 225f. Moore, Richard I. XVI Morent, Stefan 257 Morolf (lit. Fig.) 587f., 596f. Mosche (Jude aus Klosterneuburg) 431 Mosche (Jude aus Marburg) 450f. Mosche (Jude aus Perchtoldsdorf) 443 Mosche (Jude aus Voitsberg) 426 Mose/Moyses/Mūsā (bibl. Fig.) 17, 75, 77, 81, 94, 98, 113, 118, 120f., 141, 145, 211, 213, 231, 236, 292f., 300, 400, 504–506, 540, 546, 548, 550, 553 Moses Nachmanides 53 Moser, Hans 519 Mozart, Wolfgang Amadeus XI Muʿāwiya, Kalif 490 Muḥammad → Mohammed Muḥammad al-Ġazālī → al-Ġazālī Müller, Helmut 557 Müller, Jan-Dirk 604 Müller, Stephan 602, 604 Mūsā → Mose Mutter Gottes → Maria Nachim (Jude aus Windischgrätz) 429 Nebukadnezar (bibl. Fig.) 75 Nektarios, Abt von Casole → Nikolaus von Otranto



Nemed (lit. Fig.) 180–182 Nemroth → Nimrod Nestorianer 325f., 328, 331, 334, 490 Neuwirth, Angelika 188, 194, 197, 199, 239, 249f. Newton, Isaac 499 Niceta, Bf. von Remesiana 188f. Nicolaus Rustego 479 Nicolaus Cusanus SJ → Leyen, Nikolaus SJ Nikephoros Blemmydes 405 Nikephoros Gregoras 403 Niketas Choniates 398–400, 402f. Nikolaos Mesarites 401f. Nikolaos von Otranto 319, 367 Nikolaus, Bf. von Myra (Heiliger) 353 Nikolaus I., Papst 397 Nikolaus IV., Papst 351, 409 Nikolaus von Kues/Cusanus 31, 57, 61, 499, 520 Nimrod/Namrud/Nemprot/Nemroth (bibl. Fig.)  101, 108, 110, 119, 564f. Ninias (lit. Fig.) 180 Ninus (lit. Fig.) 180, 182 Nirenberg, David XV Nissim von Kairouan, Rabbi 578 Noah (bibl. Fig.) 57, 72, 74, 94, 174, 179, 293, 563f. Noehles-Doerk, Gisela 286 Norman, Frederik 106 Normannen/normannisch 309, 315–323, 398, 475f. Notker Balbulus 257 Novalis (Friedrich von Hardenberg) XII Noys (lit. Fig.) 26 Ogerio Boccanegra 367 Omar (lit. Fig.) 59 Oneth (lit. Fig.) → Emese 564f., 569 Onofrio (Mann aus Trapani) 40, 42 Orendel, Kg. (lit. Fig.) 599f., 608f. Origenes 7f., 14, 19, 128, 131, 133, 148 Ortnit (lit. Fig.) 609 Orosius 173 Oswald (Heiliger, lit. Fig.) 603–608 Oswald von Nordhumbrien (Heiliger) 604f. Otto III., röm.-dt. Kg., Ks. 143 Ottokar von der Gaal 563 Ovid (Publius Ovidius Naso) 28



Register der Personen, Gruppen und Institutionen 

Palaiologen (Dynastie) → Namen der einzelnen Herrscher 378, 410 Pankratius (Heiliger) 544–547, 554f. Pappenheim, Bertha 584 Parther 175 Partholón/Partholomus/Bartholomäus 170f., 173–182 Patrikios/al-Biṭrīq 487f. Paug (lit. Fig.) 605–609 Paul VI., Papst 64 Paul von Jägerndorf, Bf. von Gurk 450f. Paulus (Apostel) 16f., 73, 135, 166, 298, 457, 539, 546 Paulus Christiani OP 53 Penitenzieria Apostolica →Pönitentiarie Peregrinus von Sachsen 353 Perna (Frau aus Trapani) 40 Perser/persisch 54, 247f., 396, 398, 528 Persius (Aulus Persius Flaccus) 201 Peter I., Kg. von Zypern 327, 329–331, 338 Peter Abaelard → Petrus Abaelardus Peter de Castro 333, 336 Peter Fassbender 532 Peter de Palude 333 Peter von Pleine Chassaigne, OFM 329 Peter Püchler (Wiener Bürger) 444 Peter Thomas (päpstl. Legat) 327, 329–331, 336, 338 Petit, Joseph 384 Petrus (Apostel) 166, 283 Petrus, Bf. von Terracina 269 Petrus Abaelardus 14, 16f., 21–23, 27, 30, 303, 607 Petrus Berchorius 24, 28 Petrus Capuanus 401f. Petrus Comestor 77, 81 Petrus de Ebulo 475f. Petrus Quirino 389f. Petrus Ransanus 340–342 Petrus Venerabilis 475 Petrus von Toledo 475 Philipp III., Kg. von Frankreich 267 Philipp IV. „der Schöne“, Kg. von Frankreich  378, 388 Philipp de Bindo Incontri → Philipp von Pera  Philipp von Courtenay, lat. Titular-Ks. von Konstantinopel 378, 386 Philipp von Pera 368f.

 623

Philipp von Tarent, lat. Titular-Ks. von Konstantinopel 389, 413f. Philippe de Mézières 327, 329f. Philister 392, 394, 396 Philon von Alexandria 8 Philostorgios 567 Photios 395, 397f. Physis (lit. Fig.) 26 Pierleoni (spätröm. Familie) 567 Pilcher, Rosamunde 253 Pippin der Jüngere (lit. Figur) 592, 597 Pisaner/pisanisch 478–483, 485 Pius XII., Papst 516 Platon 54, 255 Plutarch 393 Pönitentiarie/Penitenzieria Apostolica 34f., 37, 39–47 Polybios 393 Pontius Pilatus 525, 529 Poppo von Peggau 447 Prämonstratenser 380, 515, 548, 550 Přemysl Otakar II., Kg. von Böhmen 440 Preiser-Kapeller, Johannes 369 Princian (lit. Fig.) 597 Propp, Vladimir 601 Prosper von Aquitanien 20 Pseudo-Augustinus/pseudo-augustinisch 96, 541 Pseudo-Dionysius Areopagita/pseudodionysisch 12, 199 Ptolemäus 499 Puyade, Julien 246 Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 10 Quirini (venezianische Adelsfamilie) 390 Qusṭā b. Lūqā 488f. Raimundus Lullus → Ramon Lull Rainald von Dassel 26 Rainerius Scorcialupi 478, 480 Raizman, David 286f. Ramon Lull/Raimundus Lullus/Raymundus Llullus (auch: doctor illuminatus) 50–62, 64, 66–68, 331, 338 Ramon Muntaner 409, 416 Rankin, Susan 204 Raschi (Rabbi Schlomo ben Jizchak) 210 Rastislav, Fs. von Mähren 397 Raszier/raszisch 380, 383, 385, 390



624 

 Register der Personen, Gruppen und Institutionen

Raymond Bequini, Patriarch von Jerusalem 333 Raymund von Albaterra 335 Raymundus Llullus → Ramon Lull Rebecca/Rebekka (bibl. Fig.) 86, 92, 538 Reccaredus (Arzt) 492 Redlich, Oswald 422 Reinprecht Laher (Wiener Neustädter Bürger)  449 Rhomäer 395f., 400 Richard I. „Löwenherz“, Kg. von England 325 Richard von St. Viktor 303 Rippell, Anton Gregor 515 Robert Holcot 606 Robert von Ketton 475, 484 Roger II., Kg. von Sizilien 318, 320, 322 Röll, Walter 105 Romanos „der Melode“ (byz. Dichter) 133 Römer/römisch 35, 43f., 62–65, 135, 143, 145, 147, 170, 190, 198, 200, 323, 325f., 330, 337f., 340, 342, 350f., 386f., 393, 410, 455–458, 471, 491–494, 500f., 513f., 517, 521, 527, 529, 555, 561, 566–558 Rosenberg, Joel 580 Roslein (Jüdin, Frau von Heblein) 428 Rothe, Johannes → Johannes Rothe Rother/Dietrich, Kg. (lit. Fig.) 590–593, 595, 609 Rudolf I., röm.-dt. Kg. 570 Rudolf IV., Hz. von Österreich 444, 450f. Rudolf Agricola 67 Rudolf von Ems 75f., 78, 82, 158, 162, 588, 596 Rudolf von Sachsengang 427 Ruh, Kurt 24 Rupert von Deutz 21, 513f., 517, 549, 555f. Ruthenen 382f. Saba, Königin von (bibl. Fig.) 89 Sabba (Jude, lit. Fig.) 96 Sachsen 468 Said, Edward W. XI, 531 Saʿīd b. Taufīl 490 Saladin, Kalif (Ṣalāḥ ad-Dīn Yūsuf b. Naǧm ad-Dīn Ayyūb b. Šāḏī) XI, XIII, 325, 596 Salman, Kg. (lit. Fig.) 587f., 596f. Salmawaih b. Bunān 490 Salme (lit. Fig.) 587f., 595–597 Salomo/Salomon, Kg. (bibl. Fig.) 89, 98, 293f., 298, 302 Salvator (lit. Fig.) 93



Samson (bibl. Fig.) 392, 405 Samuel (Prophet, bibl. Fig.) 98, 293, 404 Sámuel Aba → Aba Sarah/Sarai/Sara (bibl. Fig.) 73, 75, 119, 132f. Sarazenen/Saraceni 37, 40f., 43f., 46, 49, 52–54, 57, 59, 282–284, 288, 314, 332, 475, 479, 527f., 532, 587, 599, 602, 605f., 609 Sassaniden 528 Saul, Kg. (bibl. Fig.) 394f., 402, 404, 406 Schalaun (Wiener Jude, Sohn des Gutman) 421 Schlechter, Solomon 102 Schlomo ben Jizchak → Raschi Schlottmann, Anke 498 Schmid-Cadalbert, Christian 601 Schmugge, Ludwig 35 Schneider, Hermann 600 Schneider, Reinhard 499 Schneider, Wilhelm M. 544 Schnell, Rüdiger 607 Schöttgen, Johann Christian 110 Schröder, Stefan 523, 527 Schulz, Armin 601 Schulz, Monika 590, 596f. Schwab, Heike E. 523 Schwarz, Werner 106 Scowcroft, Richard 172, 181f. Secklin (lit. Fig.) 98 Seldschuken 398f., 401, 405 Selegman (lit. Fig.) 98 Sem (bibl. Fig.) 72f. Sera (lit. Fig.) 174 Seraphim (bibl. Figuren) 16 Serapion von Thmuis 148 Serben/serbisch 354, 375, 380, 382f., 386–390 Sergios, Patriarch von Konstantinopel 396 Sergios von Rēšʿainā/Theodosiopolis (Archiatros) 486–489, 491–494 Seth (bibl. Fig.) 93 Sextus Placitus 487 Seyyed Nasr, Hossein 235f. Shefatya, Rabbi 211 Shoham-Steiner, Ephraim 580 Sicamber (lit. Fig.) 567 Sicardus, Bf. von Cremona 141, 513, 517f. Siegfried von Mohrland (lit. Fig.) 609 Sigismund, Kg. von Ungarn, röm.-dt. Kg., Ks.  435



Register der Personen, Gruppen und Institutionen 

Simeon (Heiliger) 542–551, 553–557 Simon (Heiliger) 529 Simon von Konstantinopel 368, 370 Simone, Martini 347 Sinai, Nicolai 232 Sixtus V., Papst 5, 6 Skanderbeg/Georg Kastriota 47 Skythen 398, 570 Slawen/slawisch 354, 356, 396f., 562 Smoiel (Jude aus Voitsberg) 432 Sophonias OP 368 Sosanna (Ärztin) 493 Sru (lit. Fig.) 174 Stephan I., Kg. von Ungarn (Heiliger) 346–348, 560, 562f. Stephan II., Kg. von Ungarn 563 Stephan V., Kg. von Ungarn 388 Stephan Dragutin, Kg. von Serbien 389 Stephan Uroš II. Milutin, Kg. von Raszien 375, 380, 382, 385–390 Stephan II. Kotromanić, Ban von Bosnien 352f. Stephan von Antiochien 474 Stephan von Bourbon → Étienne de Bourbon Steirer/steirisch 435, 437, 440, 442, 452, 563, 571 Stetkevych, Suzanne 226 Stock, Brian 221 Strânmur (lit. Fig.) 589 Stricker (Dichter) 497f., 503–508 Stroumsa, Guy 189f. Strunk, Oliver 258 Süßel (Jüdin, Witwe von Merchlein) 428f. Sylvester (lit. Fig.) 158, 165f. Syncliticos (griech.-orth. Adelsfamilie) 336 Syrer 8, 211, 239–242, 244–250, 254, 297, 326, 328, 335f., 486, 488, 490, 493f., 521 Tataren/Tartaren 77, 570, 572 Taylor, Charles 102 Tedisio Zaccaria 416 Teka (Jude aus Wien) 447 Tempier, Étienne → Étienne Tempier Templer von Tyrus (anon. Autor) 411 (Meister) Tenichel (Wiener Jude) 430f., 434 Terach (bibl. Fig.) 101, 106–108, 110, 115 Terenz (Publius Terentius Afer) 25 Tertullian (Quintus Septimius Florens Tertullianus) 148 Thanatos (lit. Fig.) 129

 625

Tharah (bibl. Fig.) 72 Theodoros I. Laskaris, byz. Ks. 400f. Theodoros I. Angelos Dukas, byz. (Gegen-)Ks.  401 Theodoros II., byz. Ks. 364 Theodoros Balsamon 135 Theodoros Mankaphas 399 Theodoros Synkellos 396 Theodorus Priscianus 487 Theodulf von Orléans 7 Theoktist von Adrianopel 385 Thomas von Aquin/Aquinas 16–18, 54, 63f., 326, 365, 368, 458 Thomas Gallus von Vercelli 24 Thomasin von Zerclaere 81f., 158 Thukydides 393 Titus (Titus Flavius Vespasianus), röm. Ks. 190, 525 Toch, Michael 452 (Herr) Torello (lit. Fig.) 595f. (Frau) Torello (lit. Fig.) 597 Trajan (Marcus Ulpius Traianus), röm. Ks. 572 Trebeta (lit. Figur) 565 Treitler, Leo 193 Triphon Michaelis 390 Tröstlein (Jude aus Wolfsberg) 452 Trojaner/trojanisch 565–567 Türken/türkisch XI, 34, 37f., 46–49, 375–377, 385, 407f., 410–417, 560, 563, 572 Tvrtko I. Kotromanić, Ban von Bosnien 353, 355 Üzel, Abuna Murat 247 Ulrich von Etzenbach 75 Ulrich von Pergau 433 Ulrich V., Gf. von Pfannberg 437, 439, 441 Umur, Emir von Aydin 416 Ungarn (Volk)/ungarisch 47, 340–352, 354–357, 382, 388f., 435, 450, 558–572 Urania (lit. Figur) 26 Urban V., Papst 353 Urban VI., Papst 355 Vanni Buscetus 479 Vega y Verdugo (Kanoniker in Santiago de Compostela) 278 Venezianer/venezianisch 41f., 49, 346, 362, 390, 412, 479, 482 Vespasian (Titus Flavius Vespasianus), röm. Ks.  525



626 

 Register der Personen, Gruppen und Institutionen

Victorinus von Pettau 550 Viktoriner 54 Vinzenz von Beauvais/Vincent de Beauvais 379, 579 Vitus von Monteferro, Bf. von Nyitra 343f. Vlachen → Walachen 398f. Vogel, Cyrille 297, 299 Volcwinus (Priester in Vellern) 545 Vose, Robin 338 Walafrid Strabo 303 Walachen → Vlachen 354 Walliczek, Wolfgang 588f. Wasserstrom, Steven 120 Weber, Annette 273 Weber, Max 252 Weichsel (Witwe des Juden Lebman) 427 Welsch, Wolfgang 359f., 370 Wenden 468 Werner, Eric 240 Westeuropäer 71, 258, 359, 393, 408, 559, 571 Westgoten/westgotisch → Goten Wichmann von Arnstein 206 Wiegandt, Herbert 523 Wilhelm, Ebf. von Otranto 319 Wilhelm von Montferrat OPM 328 Wilhelm von Ockham 29 Willehalm (lit. Fig.) 589, 594, 598



Wisent auf dem Anger (Bürger aus Klosterneuburg) 431f., 434 Wittekind, Susanne 551 Władysław I. „Ellenlang“, Kg. von Polen 344 Wolfson, Harry 234 Wünsche, August 580 Wulff, Christian, dt. Bundespräs. a. D. XV Yehuda, Rabbi 212 Ymelot, Kg. (lit. Figur) 592f., 596 Yochanan, Rabbi 211 Yose, Rabbi 212 Ysaak → Isaak Zaccaria (Familie) 336, 407f., 410–412, 414–416 Zariza, Arpadenprinzessin 388 Zeno von Verona 129 Ziriden (Dynastie) 279 Zisterzienser 269, 311, 324, 361f., 425 Zoroastrier 116 Zorobabel (bibl. Fig.) 302, 400 Zuhayr (Zuhair b. Abī Sulmā) 225 Zumthor, Paul 192 Zunz, Leopold 574 Zyprioten/zypriotisch/zyprisch 326–330, 332–335, 337f.

Register der Orte, politischen und geographischen Einheiten Aachen 143, 191, 500, 511f. Abendland XI, 251–253, 255, 258, 579 Abrahams Garten → Mambre Achaia 328, 330 Adria 314, 389 Adrianopel 385 Aegyptus (röm. Provinz) 471 Afghanistan 62 Afrika → Ifrīqiyā 7, 34, 36–44, 46, 58f., 73, 188, 258, 531 Ägäis 360, 375f., 407f., 410, 412f., 416 Agora 363 Ägypten 34, 36f., 73, 76, 102, 114, 148, 181, 314, 331, 400, 409, 413f., 481, 490–492, 494, 524, 527, 586f. Ainau (bei Gneisenfeld, Oberbayern) 151, 157 al-Andalus → Andalusien Alanya → Candelore Alarcos 287 Albanien 46, 379, 381f. Alexandria/Alexandrien 8, 36, 41, 327, 409–411, 486, 490, 493 Algier 59 al-Hīra 486 Alspach 151 Alt-Kairo → Fustat Altona 267 Amalfi 315 Amsterdam 573 Anatolien 411, 413 Andalusien/Al-Andalus → Iberische Halbinsel  XII, 285, 287, 310 Antivari 382 Apulien 314–316, 318f., 321 ‘Āqil 225 Aquincum 568 Aquitanien 472 Arabia Petraea (röm. Provinz) 471 Arabische Halbinsel 117, 119, 225, 524, 528 Arad (heute Rumänien) 348 Aragón → Iberische Halbinsel 52, 338, 411, 478 Arilje 126, 134f., 139 Arles 147, 150, 155 Arnstadt 543 ar-Rass 225 ar-Rusays 225 Asien 73, 380, 569

Asowsches Meer → Mecioda/Meczioda Assisi 53, 65, 125, 131f., 138, 347 Assur 567 Assyrisches Weltreich 182 Athen 126, 134, 400, 493 Athos (Berg) 318 Atlantik 488 Avignon 28 Aydin 412, 414, 416 Babylon/Babilon/Babel 72, 586f. Bagdad 486, 490 Balearen 67 Balkan 46f., 314, 352, 354f., 378f., 381, 386, 389, 399 Bamberg 150f., 157 Barcelona 37, 39, 53 Bari 586, 592 Barrameda 39 Basel 80, 152, 268, 511, 523, 573, 583, 606 Basilikata 315, 319 (Beckum-)Vellern (Kreis Warendorf) 542–545, 547–552, 557 Belgrad 48 Benevent 320 Bergamo 37, 47 Berlin 247 Beth-El/Bet-El 73, 293 Bethlehem 134 Blanga (Gebiet in Konstantinopel) 363 Bodensee 143 Böhmen 379, 441, 562 Bologna 60, 331 Boppard 500 Bosnia (Kustodie in Bosnien) 354 Bosnien 342f., 350–357 Bosporus 375 Bougie 59 Bourges 150, 156 Bratislava/Preßburg 268, 428f. Brescia 47 Breslau 268, 271, 442 Brindisi 381 Britannien 566 Brixen 451 Bruck a. d. Leitha 272, 435 Buda 354

628 

 Register der Orte, politischen und geographischen Einheiten

Buda Wara → Siccambria Budapest 274 Bulgaria (Kustodie in Bosnien) 354 Bulgarien 354–357, 377, 379 Bury Saint Edmunds 145 Byzanz/Byzantinisches Reich → Konstantinopel  122, 124, 131, 136, 318f., 325, 328, 369, 375f., 378, 391, 398f., 414, 488f., 493, 586, 591f. Cambridge 101f., 104f. Candelore/Alanya 409 Capua 320 Carlet (bei Valencia) 41 Carnuntum 568 Cartagena (Diözese) 45 Catania 317 Ceuta 43f., 46 Chalandritsa 413 Chaldäa 73 Champagne 579 Chevin (Kustodie) 354 Chios 407f., 410–412, 414–416 Cilli 450 Coimbra 283 Colmar 151, 206 Concordia Sagittaria (bei Portogruaro) 125 Conques (Sainte-Foy) 146, 154 Córdoba 271, 279, 473 Crotone (Bistum) 324 Csanád 346, 348 Csatár 450 Cseri 355 Đakovo 351 Damalâ 413 Damaskus 490 Deutschland XV, 3, 31, 47, 112 Diessenhofen 523 Djerba 41 Dodekanes 383 Don 568 Donau 568 Donaueschingen 94 Dulma (Kustodie in Bosnien) 354 Durazzo 381 Eben-Ezer 394 Edessa (heute Urfa, Türkei) 246



Edfu 491 Eger (Cheb) 88–90, 99f., 274 Eibelstadt 520 Eisenburg/Vasvár 449 Elsass 149, 515 Engeltal 206f. England 587, 604, 606 Ens 568 Ephesus/Ephesos 328, 401 Epiros 401 Erfurt 270–273, 452 Esztergom → Gran Etzelburg → Oven Euböa 328 Europa (auch Komposita) XII, XIVf., 3, 5, 32, 73, 120, 170, 173, 188, 190, 195, 251, 266, 309f., 323, 327, 340, 342, 350, 352, 355, 357, 364f., 375, 377, 379f., 382, 408f., 454, 533, 560, 564, 598 Exeter 579 Famagusta 326, 332f., 336 Ferrara 575 Ferentillo (San Pietro in Valle) 125, 137 Fondi 577 Franken(reich)/Fränkisches Reich 325, 516f. Frankfurt am Main XVI, 95f., 98–100, 266, 269f., 272, 500, 536, 538–540 Frankreich 31, 325, 335, 380, 386, 390, 548, 579f. Freckenhorst 546 Freiburg im Breisgau 89 Freising 450 Friesach 451 Fustat (Alt-Kairo) 102 Galata 409 Gallien 7 Garizim (Berg, bibl. Ort) 295 Gaza 394 Geisenfeld 151 Gelnhausen 500 Gelobtes Land → Heiliges Land 73 Genf 124 Genua 39, 58, 335, 407f., 416f., 478, 480f. Georgien 377 Gerace (Bistum) 324 Göttingen 269, 393 Golgatha 99



Register der Orte, politischen und geographischen Einheiten 

Goslar 269 Gračanica 126 Gran (Esztergom) 268, 352 Granada 34, 45f., 279 Greben (Kustodie in Bosnien) 354 Griechenland → Byzanz/Morea 338, 375, 379, 383, 389, 413, 416 Grissian (Norditalien) 125, 131f. Guadalquivir 39 Gurk 450f. Hagenau 500, 606 Hainburg 435 Halberstadt 132 Hamburg 267 Hameln 269 Haram 355 Haßloch 500 Hattin 325 Hebriden 43 Hebron 116 Heidelberg 62, 66f., 86, 88, 92, 95f., 187, 291, 376, 537, 538 Heiliges Land → Gelobtes Land 39, 41f., 60, 326, 333, 337f., 380, 384, 523f., 526, 528, 605 Heiliges Römisches Reich → Rom 441, 456f., 469, 500f. Herakleia Hildesheim 143, 269 Horeb (Berg, bibl. Ort) 292 Iberische Halbinsel → Spanien/Andalusien/ Aragón/Kastilien/Katalonien/Léon 39f., 43, 45, 277f., 280, 282–284, 288, 472 Ifrīqiyā → Afrika 279 Ikonion 399 Indien 586 Indus 488 Ingolstadt 92 Irland 170–183, 511 Israel → Gelobtes Land/Heiliges Land 83, 117, 172, 266, 293, 300, 392–395, 397, 400f., 457, 513, 516, 521, 539–541, 546, 554, 556, 559, 582 Istanbul → Konstantinopel/Byzanz 124 Italien/italienische Halbinsel → Süditalien/ Norditalien 48, 122, 125, 131, 313f., 335, 347, 402, 578, 596

 629

Jerusalem 16, 41, 59, 118f., 131, 133, 146, 213, 282–284, 293–296, 303, 325, 329, 332f., 396, 399–401, 522–525, 527–530, 532, 583, 586, 596, 599 Jordan 542, 546f., 552 Josaphat (Tal) 531 Judaea 471 Kaaba → Mekka 114f., 117f., 120 Kärnten 434, 440, 451 Kairo → Fustat Kairouan 279f., 284, 289 Kaiserslautern 500 Kaiserswerth 500 Kalabrien 315f., 319–321, 323, 450 Kalabrien-Sizilien (Grafschaft) 318 Kalocsa 343f., 352 Kampanien 315f., 321 Kanaan 73, 77, 149, 569 Kapharnaum 95 Kappadokien 145 Karánsebes 355 Karthago 129 Kastilien → Iberische Halbinsel 152 Kastilien-León → Iberische Halbinsel 285 Katalonien → Iberische Halbinsel 36, 42, 55, 56, 58, 64 Kleinasien → Türkei 59, 188, 380, 399, 409, 414 Kleinochsenfurt 520 Klosterneuburg 430, 445, 452 Koblenz 500, 532 Köln 266, 270, 586, 589, 606 Königstal (bibl. Ort) 80 Konstantinopel → Byzanz/Istanbul XVI, 46–48, 142, 315f., 323, 330, 359–363, 367, 369–371, 375, 377–379, 381, 383f., 386f., 389f., 392, 396, 399–404, 406, 410f., 413, 416, 586, 591–593 Korçula (Insel) 46 Korykos 493 Korneuburg 272, 446 Korsika 314 Kotor 390 Krakau 272, 274 Krems 432f., 441 Kreta 328, 330, 412 Krisis (Gebiet in Konstantinopel) 363 Kroatien 47, 352, 354 Ktesiphon (Seleukia) 491



630 

 Register der Orte, politischen und geographischen Einheiten

Kues 520 Künzelsau 88–91, 97 Kyburg 523 Larissa 405 Lateinisches Kaiserreich → Byzanz 323, 360, 377f. Lefkara (Bistum) 332 Lengbach 428 León → Iberische Halbinsel/Kastilien-Leon 132, 283f. Levante 37 Libanon 19f. Libyen 38 Liesborn 544f., 551, 557 Limassol 326, 332 Limbus (myth. Ort) 86 Lincoln 272 Lipari 587 Lippa 347–349, 356 Lissabon 44 Löbau 91 Lombardei 587 Lusitanien 492 Luzern 88–90, 94 Lyon 30, 365, 385, 404 Machovia (Kustodie in Bosnien) 354 Macsó (Banat) 352, 355 Mähren 397f., 441 Magdeburg 454, 459–462, 464–469 Maghreb 37, 41–44, 46 Mailand 28, 30, 46f. Mainz 86, 266, 297, 514 Málaga 278 Mali 62 Mallorca 41, 52f., 60, 331 Mambre/Mamre, Hain (Abrahams Garten, bibl. Ort) 51, 97f. Mangana (Gebiet in Konstantinopel) 361, 363, 371 Marburg (Slowenien) → Maribor Maribor 437, 439f., 442f., 450 Marokko 34, 37, 43, 587, 589 Marrakesch 287 Marseille 8, 347 Matera (Provinz) 322 Mecioda/Meczioda (Asowsches Meer) 569 Medina/Yaṯrib 114, 233



Mekka → Kaaba 114f., 117–119, 231 Mesopotamia (röm. Provinz) 471 Mesopotamien 77, 79, 119 Mile 353 Milet 405 Mistra 126, 413 Mittelmeer XIII, 34, 36–38, 42, 45f., 59, 102, 113, 121, 314f., 326f., 329, 338, 359, 411, 415, 472f. Mödling 273 Moissac 143–145, 154 Monreale 322 Montecassino 315, 320f., 474 Monza 202 Mor Gabriel 247 Morea → Peloponnes/Griechenland 413 Morgenland → Orient 110 Morija (Berg, bibl. Ort) 126f. Mosbach 500 Münster 51, 393, 544f. Mureştal 348 Naher Osten → Arabische Halbinsel/Israel/ Palästina 471, 531 Naumburg 270 Naupaktos 401 Neapel 315, 344, 375, 378, 413 Neunkirchen 428 Nikaia (Kaiserreich) → Byzanz/Griechenland  378 Nikosia 326–330, 332–337 Nil 314 Nisibis 241 Nordafrika → Afrika Nordeuropa → Europa Nordhausen 269 Norditalien → Italien 125, 528 Normandie 321 Norwegen 587 Nürnberg 47f., 151, 207, 270, 514 Nyitra 343 Oberbayern 151 Óbuda 345 Ödenburg → Sopron  Oels 274 Österreich 421–424, 428f., 433–435, 439, 441, 447f. Ohrid 126, 138



Register der Orte, politischen und geographischen Einheiten 

Okzident → Abendland Oreibasios 487 Orient → Morgenland 102, 380, 531, 608 Orvieto 386 Osnabrück 94 Osteuropa → Europa Ostrom → Rom Otranto 48, 319, 324 Oven/Etzelburg 568 Oxford 60, 331, 579 Palästina → Heiliges Land/Israel/Naher Osten  117, 134, 335, 524, 526f., 586 Palermo 39, 309, 411 Palma (Mallorca) 53, 55, 60 Pamplona (Diözese) 40 Pannonien → Ungarn 567f. Paphos 326, 333 Paraklet (Kloster) 30 Paris 52, 54, 58, 60f., 67, 149, 156, 331, 333, 378, 502, 549f., 606 Pavia 587 Peloponnes → Morea 375, 413 Pera 361f., 364, 367, 368 Perama-Gebiet (Gebiet in Konstantinopel)  363 Perchtoldsdorf 443 Pergamon 487 Persien 493, 578 Pfannberg 437, 441 Philadelphia 399 Phokaia (Alt-Phokaia/Neu-Phokaia) 409, 412, 416 Pisa 478 Poitiers 390 Polen 379 Portogruaro 125 Portugal 43f. Prag 271f., 274, 583 Preßburg → Bratislava  Priene 405 Princeton 142 Prüm (Benediktinerabtei) 202 Ragusa 351, 382, 389f. Randa (Berg bei Palma, Mallorca) 55 Raszien 379, 382f. Ravenna 124, 130, 137, 491f. Regensburg 62, 266, 270, 274, 440, 500

 631

Reichenau (Bodensee) 143 Reichersberg 447 Reutlingen 606 Rhodos 48, 330, 412 Rom/Ostrom/Westrom XVI, 30, 35, 37, 39, 43f., 46f., 49, 125, 130f., 172, 204, 282, 315f., 331, 487, 489, 523, 528, 567, 577, 586, 590–592, 609 (Ost-)Römisches Reich → Heiliges Römisches Reich 471, 491–494, 567f. Rhein 567 Romania 390 Rossano 318, 321 Rouen 514 Rouerge 472 Rumänien 348, 354, 357 Ruthenien 377, 379 Saba (bibl. Reich) 89 Saint-Denis 147, 149, 156, 548–550 Salamanca 60, 331 Salem (bibl. Reich) 80f. Salerno 321, 474f. San Pietro in Valle → Ferentillo St. Gallen 193, 204, 257, 301 St. Katharinenthal 206 St. Pölten 429 Santiago de Compostela 42, 277–280, 282–284, 288–290 Sardinien 314 Sarukhan 412 Schaffhausen 270 Schwarzes Meer 354, 410, 412 Schweinfurt 271 Sclavonia 350–352 Scythia/Czittia/Schicia → Skythien Segovia (Diözese) 41 Seleukia → Ktesiphon Seleukia-Piera (bei Antiochien) 142 Sélincourt 548–550, 552 Senlis 151 Sens 269, 271 Serbien 46f., 126, 377, 379, 382f., 387, 390 Sevilla 39f., 474 Sharfeh (Libanon) 246 Siccambria/Buda Wara 568 Siebenbürgen 47, 348 Sinai 124, 133, 137, 211, 546 Sinzig 500



632 

 Register der Orte, politischen und geographischen Einheiten

Sizilien XII, 39f., 309, 313–320, 322f., 347f., 378, 388f., 411, 475, 587 Skythien 175, 569 Slawonien → Sclavonia Slowenien 48, 437 Smyrna 409, 412 Sodom (bibl. Ort/Reich) 73, 80 Soldanum 331 Sopron/Ödenburg 272, 433 Southrop (GB) 553 Spandau 269 Spanien → Iberische Halbinsel 277, 279, 282, 288, 335 Speyer 267, 270f., 273, 456f., 463, 500 Stary Sącz (Polen) 344 Steiermark 48, 434, 440f. Steinhoff (Gut) 544 Stein am Rhein 80 Stendal 465 Sterzing 93, 94 Straßburg 149, 500 Sudan 43 Südeuropa → Europa Süditalien → Italien 309f., 313–315, 317–319, 321, 323, 344, 347, 367, 472 Susa 587 Syrakus 38 Syria (röm. Provinz) 471 Syrien 117, 119, 242, 246, 278, 325, 331, 335, 410, 476 Temeswar 348f. Terracina 40, 269 Thessaloniki 380, 387, 396, 398, 401 Thmuis (heute Tell El-Timai) 148 Tirol 93 Töss 206 Tochni 334 Toledo 277, 285–288, 290, 474 Toulouse 347 Trapani 40 Trapezunt 401 Trient 5, 528–530 Trier 266, 270, 276, 510, 565, 580 Tripoli/Tripolis (Libyen) 38, 41, 479 Tripoli (Libanon) 409 Troia/Troja 565–567 Tunesien 279, 480, 482 Tunis 39, 58, 60, 478–480, 482f., 485, 587, 594



Ṭūr ʿAbdīn (Türkei) 247 Turchia 412 Türkei → Kleinasien 47, 246f. Tusey an der Maas 19 Tyrus 302, 411 Ulm 337, 522–527, 530 Ungarn → Pannonien 47f., 340, 341–347, 350–357, 379, 381–383, 388f., 429, 433, 447, 560f., 567 Ur 73 USA 120, 266 Ussera (Kustodie in Bosnien) 354 Vasvár → Eisenburg Vatikan 34, 37, 62, 65 Vellern → (Beckum-)Vellern Veligosti 413 Venedig 42, 125, 362, 378, 386, 389f., 478f., 481, 528, 583 Veneto 48 Verona 129 Vienne 60f., 331 Villareal Almeida 43 Villingen 94 Visegrád 348 Visoko 353 Voitsberg 426, 432 Wadersloh 543, 545 Weißenfels 270 Werdenberg (Grafschaft) 526 Westeuropa → Europa Westgotisches Reich 285 Westrom → Rom Wetzlar 269 Wien XI, 266, 274, 421, 427, 430, 433f., 441f., 444–447, 451f., 560 Wiener Neustadt 44, 426, 433, 442, 445, 449, 452 Windischgrätz 429 Worms 66f., 266f., 270, 273, 276, 456f., 500 Würzburg 271, 500 Xanten 567 Yaṯrib → Medina Zagreb 346



Register der Orte, politischen und geographischen Einheiten 

Zalavár 450 Zamzam (Quelle, bibl. Ort) 119 ‚Zehnte Region‘ (Konstantinopel) 363 Zerbst 90

 633

Zürich 269, 523 Zweistromland → Persien 578 Zwettl 425f. Zypern 59, 325–339, 366, 409